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]]> Sorgenvoll heftet sich der Blick des Deutschen und Preußen auf die
Wolken, welche finster um das aufgehende Licht des neuen Jahres lagern.
Vieles Biedre und Schmerzliche haben die letzten Wochen gebracht, den
Verlust der Amazone, den nicht zu verdeckenden Gegensatz, in welchen die Krone
von Preußen zu dem erwachenden politischen Leben eines treuen und loyalen
Volkes getreten ist, zuletzt den Tod des Fürsten, welcher wie kein anderer ge¬
eignet war. den Plänen Frankreichs mit vorsichtiger Ruhe entgegenzu¬
treten.
Dem Kaiser Napoleon war das letzte Jahr eine Zeit des besorgten Schwan-
kens und Abwägens. Seine Stellung zur italienischen Frage, sein Verhältniß
zu England, die Beziehungen zu Preußen schwebten unklar in mehrfachem Wechsel;
dazu kam, was ihn stärker als die auswärtige Politik beschäftigte, eine Mißernte
in Frankreich, und durch den amerikanischen Conflict ernste Verlegenheiten der
Industrie und des Handels.
Nach längerem Experimentiren hat er sich in die Politik zurückgefunden,
welche ihm der Zug seines ganzen Lebens vorzuschreiben scheint. Die Wun¬
den Italiens offen halten, die Freundschaft mit England bis zu der Stunde
conserviren, in welcher er unzweifelhaft der Stärkere ist; die unfertigen Zu¬
stände Deutschlands ohne Parteinahme lauernd beobachten, den Geldsorgen
Frankreichs und einer möglichen Geschäftskrisis dadurch zuvorkommen, daß er
große Finanzreformen in Aussicht stellte, bei denen der gute Schein ihm nach
seiner Art wichtiger war als die Sache selbst; das war das Resultat vielfacher
Ueberlegung. und sehr entgegengesetzter Einflüsse seiner Umgebung.
Bis zum letzten Monat durfte der Kaiser ohne besondere Freude auf die
politischen Erfolge des Jahres 1861 zurücksehen. Er hatte bis zum Herbst
die Italiener nicht gefügig genug gefunden, ihm für eine zweite Hilfe weitere
Gebictsvergröszerungen einzuräumen, sein Kampf mit Rom blieb resultatlos,
er mußte, nicht als Sieger, mit der Kirche seinen Frieden machen. Es
gelang ihm trotz aller Selbstverläugnung nur unvollkommen. Mißtrauen und
Abneigung, welche in England gegen ihn aufbäumten, zu beruhigen. Auch
sein Versuch, sich Preußen zu nähern, hatte nicht den gehofften Erfolg.
Erst jetzt, im letzten Monat des Jahres, versetzt der drohende Krieg zwi-
schen England und Amerika, so wie der Tod eines kühlen Freundes und nicht
zu täuschenden Gegners den Kaiser wieder in die Stellung, welche ihm besonders
angenehm sein mag, in den Beginn einer allgemeinen politischen Unsicherheit,
welche seiner Freude an großen Combinationen neuen Spielraum gewährt.
Wieder ist er in der Lage, eine Anzahl fertiger Pläne aus dem geheimen Fach
seiner Gedanken herauszuziehen und prüfend zu durchblättern. Es war einen
Augenblick lockend, mit England gegen die Unionsstaaten zusammen zu gehen
und als Schiedsrichter der Erde auch in dem vierten Welttheil zu beruhigen
und zu reguliren; es erschien zuletzt lockender, das wahrscheinliche Engagement
Englands zu benutzen und in Europa mit freier Hand zu schalten. Er
konnte den zweiten Schlag in Italien ausführen, in diesem Falle wurde seine
Aufgabe, Preußen und Deutschland von Oestreich fern zu halten und durch
Concessionen beim Handelsvertrage nachbarliche Geneigtheit zu erweisen, oder
er konnte gar das unfertige Aussehen, welches grade jetzt Preußen darbietet,
dazu benutzen, um der deutschen Frage und einer Grenzregulirung am Rhein
nachzusinnen.
Allgemein ist die Empfindung, daß ein Krieg zwischen England und der
amerikanischen Union in der gegenwärtigen Weltlage ein Unglück sür Europa
wäre. Aber auch eine unpolitische und zweideutige That Englands. Wenn
die plumpe Taktlosigkeit amerikanischer Blätter und Behörden, wenn die Rück¬
sicht auf englische Handels- und Fabrikinteressen schon in dem vergangenen
Sommer das englische Volk den Separatisten geneigter machte, als seine Stel¬
lung zu der Sclavenfrage anständiger Weise erlaubte, so durfte man diese
Inconsequenz als Folge einer vorübergehenden Verstimmung betrachten, welche
den Völkern ebenso das Urtheil verwirrt, wie den Individuen. Wenn aber
die Regierung Englands die Trent-Affaire ausbeuten könnte, über einen alten
Verwandten, dem jetzt die Hände gebunden sind, herzufallen, so würde solcher
Krieg das strengste Urtheil herausfordern. Es ist männlich. einem Starken
gegenüber in dem nationalen Ehrenpunkt eifrig und strenge zu sein, vor einem
geschwächten Gegner, der bereits mit einem anderen Feinde ringt, ist große
Nachsicht und Geduld nicht Schwache, sondern Loyalität. Wir durften, so
lange der Prinz-Gemahl lebte, überzeugt sein, daß hinter dem officiellen Drängen
sich die besonnenste Auffassung des Streitpunktes geltend machen würde; jetzt
in den ersten Wochen nach seinem Tode muß man von Herzen wünschen, daß
die Traditionen seines unbefangenen Urtheils sich in der Regierung gegen
Wind und Wetten der Tagesstimmung erhalten.
Freilich, auch dem Kaiser Napoleon sind, soweit aus der Ferne eine Ansicht
erlaubt ist, die letzten Jahre nicht ohne Einwirkung über das Haupt gezogen.
Er ist vorsichtiger geworden, dre Siege und die Beute des italienischen
Krieges haben ihn in Frankreich fester gestellt, er hat Erfolge zu conserviren
und wird wahrscheinlich wenig geneigt sein, Alles um neuen Gewinn auf das
Spiel zu setzen. Auch haben einzelne Personen seines Hauses und seiner Um¬
gebung größeren Einfluß auf ihn gewonnen, bereits machen die Parteien den
Hofes Geräusch, und ihre Auffassung neuer Fragen findet in den Berichten der
Gesandtschaften ernste Beachtung.
Von allen großen Dynastien Europas war die preußische die letzte, mit
welcher er in das Verhältniß freundlicher -Courtoisie und eines regelmäßigen
Austausches persönlicher Artigketten trat. Dem Besuch von Baden antwor¬
teten die Tage von Compiegne. Dort hatte das ritterliche Wesen der Majestät
von Preußen eine freundliche Annäherung bewirkt, welche, wie dies bei fürst¬
lichen Besuchen der Fall zu sein pflegt, etwa so lange aushielt, als der Hof
von den fremden Gästen zu plaudern für reizvoll fand. Der Kaiser hat darauf
-wieder mit der Artigkeit, welche ihn auszeichnet, durch die Krönungsbotschaft
und ihr Fest zu Berlin die Aufmerksamkeiten gesteigert. Unterdeß hatte er
/Gelegenheit, das preußische Wesen noch von anderer Seite kennen zu lernen. Die
Rheinmanöver. Hie Krönungsfeierlichkeiten, die Reden des Königs, das Ver¬
halten des Volkes gaben ihm eine Anzahl -Eindrücke, lebendiger und wirksamer,
als die-Berichte seiner-Gesandten. Er erkannte, daß es gegenwärtig hoffnungs¬
los war, auf Preußen bei Regulirung seiner Westgrenze zu rechnen, er konnte sich
nicht versagen,-der königlichen Betonung der Krone von Gottes Gnaden mit einer
nachdrücklichen Betonung seiner Stellung als Erwählter des Volkes zu ant¬
worten, sein Commissär für Abschluß des Handelsvertrages begann die For¬
derungen-höher zu spannen. Etwa vier Wochen nach dem Besuch des Königs
war.der bunte Staub von den Schmetterlingsflügeln der jungen Wärme für
Preußen abgestreift. Und wieder griff er in das geheime Schubfach alter Pläne
und begann prüfend drunter zu wählen.
In der That gibt es wenige Nachbarvölker, welche in wichtigen Grund¬
lagen ihrer politischen Existenz so grundverschieden sind als Preußen und
.das kaiserliche Frankreich, denn verschieden ist der Charakter der Fürsten, des
Heeres, der Finanzen, der beiderseitigen Volkskraft. Die Preußen sind viel¬
leicht das loyalste Volk Europas, selbst England nicht ausgenommen. Sie
sind im vorigen Jahrhundert durch die Hohenzollern zu einem Volke und Staat
zusammengeschlossen, sie haben im Beginn dieses Jahrhunderts den Hohen¬
zollern die verlorene Stellung in Europa zurück erobert, sie haben in den
alten und, neuen Provinzen das lebendige Gefühl, daß ihr Herrschergeschlecht
das älteste und erste Band ist. welches sie zusammenhält. So sitzen die
Könige von Preußen sicher und mit dem Volk verwachsen auf ihrer Väter
.Thron. Sre haben nicht gelernt für sich selbst zu sorgen; so oft sie gespart
haben, sie Haben's nicht für sich gethan; wenn heut eine Sturmfluth ihnen
den -Thron und ihre Schlösser wegführte, sie würden den Stolz behalten,
die ärmsten aller Fürsten zu sein; sie haben auch noch niemals für ihre
Familie und ihre Verwandtschaft, gearbeitet, geduldet und gewagt, sondern
Alles für ihren Staat; die Apanagen ihrer Prinzen sind knapp, die Ausstat¬
tungen ihrer Töchter galten in früherer Zeit sogar für dürftig, sie sind jetzt
nur grade so, wie es für Königstöchter schicklich ist. Sie haben bis auf die
neue Zeit auch keinen Unterschied gemacht zwischen der Ergebenheit für ihren
Staat und der Ergebenheit für sie selbst. Erst Friedrich Wilhelm der Vierte
erfand in Preußen den Unterschied, als sein Selbstgefühl gebrochen war. und
das war kurz bevor sein Geist sich verdüsterte. Denn es ist die erste Tugend
und der alte Grundzug ihres Hauses gewesen, daß sie sich sämmtlich als Ar¬
beiter im Staate betrachtet, Vortheil. Ruhm und Ehre des Staates für höher
als ihren eigenen gehalten haben.
Nie auch, bis in die neue Zeit, haben die Hohenzollern einen Antheil
von der Mystik der Krone von Gottes Gnaden gehabt, es war in der
ganzen Periode des 13. Jahrhunderts, in welcher ihr Geschlecht groß wurde,
ihr Stolz und Vorzug, daß sie nicht wie andere europäische Dynastien
gekrönt wurden, sondern ohne Krönung und Salböl als Männer und Krie¬
ger an die Spitze der Geschäfte traten. Schon im Tabcikscollegium Fried¬
rich Wilhelm des Ersten wußte man sich damit zu rühmen. Erst unter Fried¬
rich Wilhelm dem Vierten begann der alte legitimistische Wahn in ihrem
Hause zu spuken, und auch das geschah erst kurze Zeit bevor der unglück¬
liche Fürst die Herrschaft über sich selbst verlor. Denn die Hohenzollern
sind die Nachkommen der Königin Sophie Charlotte, welche vor 161 Jahren
in dem Moment, als der Gemahl ihr die Königskrone aufsetzte, in die Tasche
griff und zum Schrecken des Hofes eine Prise Tabak nahm. Die Prise zwar
war unschicklich, aber der große und freie Sinn, der anstatt sich, schwärme¬
risch zu versenken, mit nüchterner Kraft das reale Leben erfaßt, ist ein ste¬
hender Zug in ihrem Fürstenhause geblieben. Die Krone ist den Hohenzollern
durch 140 Jahre ein Stück hübsche Goldschmiedsarbeit, weiter nichts, gewesen;
dieser Auffassung hat Gott sichtbarlich seine Gnade ertheilt, denn sie sind in
dieser Zeit große Könige geworden. Sie haben durch 140 Jahre zu ihrem und
des Volkes Heil die verständige Ueberzeugung gehegt, daß Gott den Königen
keine besondere und höhere Gnade ertheile, als jedem andern Sterblichen. Sie
haben, seit die Seelen der Deutschen aufgeklärt und ihre Herzen durch reinere
Auffassung der Pflicht gehoben wurden, sehr gut das begriffen, worauf unsere ge-
sammte Sittlichkeit und Tugend ruht, daß nämlich Gott überhaupt nicht durch
einzelne Acte der Heiligung und Erleuchtung das Leben des Menschen weihe und
aus irgend einer Bedingung irdischer Verantwortlichkeit heraushebe, sondern daß
Gott jedem Augenblick des Lebens, und dem Bettler ebenso wie dem König gleiche
Gnade ertheile, und daß wir Alle, der Bettler wie der König, in jedem An-
genblick unseres Lebens darnach zu ringen haben, ihm wohlgefällig zu han¬
deln, keiner vor dem Herrn mit einem Vorzug höherer und privilegirter Stel¬
lung. Das ist alter preußischer Glaube und der alte stolz der Hohenzollern.
Und wenn in der Seele des theuren Herrn, der jetzt die Geschicke Preußens
lenkt, seit einigen Monaten wieder eine mystische Stimmung von der Königs¬
weihe Raum gewonnen hat, so hofft und weiß sein treues Volk, daß sein gesun¬
des Leben eine Täuschung überwinden wird, welche erhebenden Eindrücken eines
hochgespannter Augenblicks zu große Bedeutung beimißt.
Freilich wird es dem Herrengeschlcchte Preußens nicht leicht, sich in das
Verfassungsleben zu gewöhnen. Leichter und schneller hat,'so scheint es, das
Volk sich in dem neuen Bau eingelebt, und es sieht bereits und Theilnahme
und mit zarter Schonung auf die Conflicte zwischen einst und jetzt, welche
seinen milden und warmherzigen Herrn noch heut verstimmen.
Das Volk aber Hai in den letzten Monaten eine vortreffliche Haltung bewie¬
sen. Es hat seinem geliebten Fürsten die rührendsten Zeichen persönlicher Liebe und
Verehrung entgegen getragen, und es hat beim Geschäft der Wahlen sein
Recht. Vertreter freier Ueberzeugungen und Boten seines Willens zu senden,
männlich ausgeübt. Was hat doch den französischen Berichterstattern und dem
Herzog von Magenta während der zahlreichen Festlichkeiten der Krönungszeit
so imponirt, daß alle Berichte an den Kaiser mit vorsichtigem Staunen erfüllt
waren? Durchaus nicht der neue und ungewohnte Glanz des preußischen
Hofes, der sonst so einfach war, auch nicht das Ceremoniell der Krönung,
welche zu theatralisch war. um vornehm zu sein; sondern die herzliche, innige,
ungesuchte und unbefohlene Freude, mit welcher das Volk in Dorf und
Stadt sein Herrscherpaar begrüßte. Die lange Reise nach Königsberg war
ein ununterbrochenes Familienfest, so etwas war. etwa mit Ausnahme Eng¬
lands, sonst nirgend auf der Erde möglich. Das allein bewunderten die Frem¬
den; sie werden grade jetzt, wo der Ausfall der Wahlen in den Regierungs¬
kreisen Berlins so viel Befremden verursacht, ihren Regierungen zu berichten
haben, daß auch die Empfindung für das. was Preußen nach langem Siech-
thum zur Kraft und Genesung helfen kann, im Volke sehr lebendig geworden ist.
Denn nicht mehr in dem Herrscher Preußens, wie gut. geliebt, nmaßvoll
dieser sei, auch nicht in den Räthen der Krone, wie wohlthuend diese zu ver>
Mitteln und versöhnen bemüht sind, sondern in dem preußischen Volk liegt
der Schwerpunkt der preußischen Politik. Mit jedem Jahre wächst ihm das
Verständniß für die große Aufgabe seines Staates, die Einsicht in die Mängel
und Vorzüge seiner Organisation, Sehnsucht und Bedürfniß, auf den preußischen
Namen stolz zu sein. Freilich ist auch seine Kraft noch ungeübt und in po¬
litischer Agitation wenig erprobt, noch fehlen ihm Führer und Vertreter; aber
seine Fortschritte in den letzten Jahren sind doch groß und Vertrauen erweckend.
Und wenn der Kaiser von Frankreich sich veranlaßt sehen sollte, die Kräfte >der
preußische» Regierung, Heer und Finanzen prüfend.zu wägen, so wird er Lei¬
nen Rechnungsfehler begehen, wenn er die Gescheitheit, Opferfähigkeit und
den stolz -des preußischen Volks als eine schwer abzuschätzende Größe betrach¬
tet, welche den besten Ealcul über den Hausen -werfen mag.
Der Deutsche ist dem Franzosen gegenüber seit Jahrhunderten in d^r
unbequemen Lage, auf der Defensive zu stehen. Die vielgotheitte Nation, mit
kräftigerem Gefüge des Geistes, aber geringerer Energie .des Momentes, gegen¬
über ejner an Land und Menschenzahl nicht umfangreichern, aber stark.concen-
tnrten, fest geschlossenen, durch eine große Hauptstadt und einen einheitlichen
Willen beherrschten. Nicht nur in der Politik, sondern eben so sehr in Literatur,
Kunst, socialen Fragen gibt es dem Deutschen keinen genaueren Gradmesser seiner
steigenden und sinkenden Kraft, als den französischen Einfluß. -Sobald.in -irgend
einem Gehler geistiger und materieller Interessen das eigene.Leben/Störungen
erfährt'.und die kräftige Produktion -gehemmt wird, steigt der .Einfluß der ent¬
sprechenden französischen Lebensäußerungen. Diese.eigenthümliche Einwirkung
ist überall und zu jeder Zeit sichtbar, von der Lectüre unserer Liechbibtiotheken.
-den Stücken unserer -Bühne un-d dem Interesse-an dem Pariser-Salon.bi.s
-zu.den Fnbrikwaaren und den Beziehungen der Staaten unter einander. Mir
Deutsche sind durchaus nicht ungerecht gegen die hohen Leistungen -franzö-
.stscher Wissenschaft und .die süchtige .rührige,,Kraft 'des französischen Volkes,
.aber für uns ist ein massenhaftes Eindringen irgend einer französischen Le-
bensfunction bis jetzt so ost schädlich , gewesen, und so viele.unserer größten
Fortschritte sind -durch Siege über eine zeitweilige französische Einwilkung.bezeichnst.
daß w>r seit zwe'hundert Jahren, seit wir un.s aus einem Chaos von Blut und
Verderben heraufgearbeitet haben, gewöhnt sind, Alles, was uns von Paris
aus geboten wird, sobald sich ihm unsere Tagesstimmung .mit .gewohnter
Empfänglichkeit hingibt, mißtrauisch zu betrachten.
Schon aus diesem Grunde ist, ganz abgesehen von-der unruhigen, ver¬
suchenden Politik des Kaisers, das erwachende, nationale.Leben .der-,Deut.sah,en
sich seines Gegensatzes zu der französischen Politik wohl bewußt, .und, nicht >dör
Kaiser allein, jede kräftige Regierung -Frankreichs wird Mühe haben, den
Argwohn der deutschen Nation gegen ihre Pläne-zu beschwichtigen.
Es ist natürlich, daß dieser Gegensatz von den-Preußen am lebhaftesten
- empfunden wird, weil bei> ihnen das politische Selbstgefühl verhältnißmäßig
am meisten ausgebildet »se. W>r sind keine Gegner>des Kaisers, wir lieben ihn nicht,
wir hassen ihn auch nicht; wir sind geneigt, seinen-klugen Sinn mit-Achtung zu
betrachten, wir sind ebenfalls geneigt, seinemnufregenden,Egoismus zu.mißtrauen.
Er vermag schwerlich unsere Zuneigung für sich zu.gewinnen,, er vermag, schwer¬
lich unsere Furcht zu erregen. Er ist uns aber sehr-lehrreich geworden.
Die Kriegsmarine Oestreichs, so ansehnlich sie auch gegen ihren früheren
Stand — etwa jenen vor 1848. — oder gegen die Seemacht Preußens er¬
scheinen mag, steht gleichwohl noch immer weit unter jenem Verhältniß, wel¬
ches die Leistungsfähigkeit und die zu beschützenden Interessen dieses Staates
angeben, und dürste selbst den einfachsten und dringendsten Aufgaben, z. B.
der Beschützung der Küsten oder auch nur deren Bewachung, kaum genügen
können.
Norddeufschland konnte Anfang 1848 den Angriffen des kleinen Däne¬
mark freilich weder Kriegsschiffe noch starke Strandbatterieu entgegenstellen.
Aber man zeigte wenigstens den aufrichtigen Willen, das bisher Versäumte
nachzuholen.
Gleichzeitig wurden Oestreichs Küsten von den Sardiniern bedioht. und
es lag nur an der Unentschlossenheit der letzteren, daß keine Landung und die
Wegnahme auch nicht eines Küstcnplatzes gelang.
Oestreich war zu Anfang des Jahres 1848 im Besitze mehrerer Küsten¬
festungen und einer kleinen Marine. Daß die letztere nicht genügte und vor
der eben nicht anselmluden, nur für kurze Zeit auch durch einige neapolita¬
nische Schiffe ventättim sarduuschcn Escadre in die Häfen von.Pola und
Trieft flüchten mußte, war lediglich die Schuld Oestreichs. In diesem
Staate hatte man es nicht nur unterlassen, den Anfang zur Erreichung größe¬
rer maritimer Bedeutung zu machen und auf den hiezu bereits vorhandenen
Elementen weiter zu bauen, sondern man hatte sogar diese letzteren geschwächt
und verringert. Denn die Befestigung der meisten Seeplätze stammte noch
von den frühern Besitzern derselben her. Ihre Werke waren theils verfalle»,
theils von jeher ohne besondern Werth, und die von den Franzosen begonne¬
nen Bauten hatte man unvollendet gelassen.*) Selbst bei Poln, dessen Wich¬
tigkeit Napoleon I. sehr wohl erkannt hatte, war nur Unvollständiges und
Ungenügendes geleistet worden. Nur Venedig, das merkwürdiger Weise zu¬
erst verloren ging und mit so großen Opfern wieder gewonnen werden mußte,
war zu wirklicher Festigkeit gebracht worden.
Noch größer waren die bei der Marine selbst gemachten Fehler und Rück¬
schritte.
Von der französisch-italienischen Regierung hatte Oestreich eine nicht
unbedeutende Anzahl Kriegsfahrzeuge, darunter sogar mehre Linienschiffe,
rcichgefüllte Arsenale und Schiffsbaumagazine übernommen. Aber der In¬
halt der letzteren verschwand, ohne daß ein sichtbarer Aufschwung der öst¬
reichischen Marine erzielt wurde, und die größeren Schiffe wurden eben nur
nothdürftig reparirt, so lange es gehn mochte, bei ihrer endlich eintretenden
gänzlichen Secuntüchtigkeit aber keineswegs durch Fahrzeuge von gleichem,
oder wenigstens annähernden Range ersetzt, so daß schon lange vor 1843
kein östreichisches Linienschiff mehr existirte.
Dafür aber hatte man mehrere'Dutzend Perlchen (Penitschen) angeschafft.
Dieselben, fast ausschließlich nur in der östreichischen Marine üblich, waren
kleine Briggs mit geraden Masten, von welchen der vordere bloß ein Spreit-
segcl führte, und gewöhnlich mit einem Achtzehn- oder Zwölfpfünder, zwei
Acht- oder Sechspfündern, zwei leichten Karonaden und einer oder zwei Dreh-
bassen armirt. Sie konnten zu nichts Anderem, als etwa zur Dienstleistung
bei der Douane verwendet werde» und waren auch wahrscheinlich nur zu
diesem Zwecke erbaut worden.
Auch mißachtete oder vergeudete man die im Besitze des Staates befind¬
lichen zahlreichen Hilfsquellen, welche zur Schaffung einer imposanten Marine
hätten dienen können. So wurde die eigene Handelsmarine nur wenig unter¬
stützt, die für die Kriegsmarine nöthigen Gegenstände kaufte man im Aus¬
lande oder ließ sie schlecht und um den doppelten Preis in eigener Regie' er¬
zeugen, statt die Einlieferung derselben inländischen Industriellen zu über¬
lassen. Besonders aber waren es die herrlichen Schiffsbauholzwaldungcn.
mit welchen man wahrhaft leichtsinnig umging. Die Wälder in Steiermark,
Kärnthen und Krain wurden fast nur zu Nutz und Frommen des Auslandes
ausgeholzt, und bis in die neueste Zeit bezog sogar England große Lieferun¬
gen von Schiffsbauholz aus Oestreich. Noch ärger aber stand es mit den
Montanwaldungen in Jstrien. Die Franzosen hatten hier allerdings in der
Zeit, während welcher Jllyrien in ihrem Besitze war, beträchtlichen Schaden
verübt; aber der Reichthum war zu groß, um ganz ausgebeutet zu werden.
Englische Seeoffiziere hatten den unschätzbaren Werth dieser Wälder kennen
gelernt, und fortan war es das eifrigste Bestreben sowohl der britischen Re¬
gierung als auch einzelner englischer Privatunternehmer, dielen Schatz durch
Kauf oder Pacht in die Hände zu bekommen. Doch vergebens, und selbst
das bereits geschlagene Holz wurde nur selten und in kleinen Partien zur
Ausfuhr zugelassen. Aber auch die östreichische Marine zog hieraus nicht
den mögliche» Gewinn. Wasser und Stürme verwüsteten alle Jahre einen
guten Theil des schlagbaren Holzes. Einige zur Ableitung der fast in jedem
Herbste und Frühjahr wiederkehrenden Überschwemmungen angelegte Kanäle,
großartige Dammbauten und dergl. verschlangen zwar enorme Summen,
steuerten aber dem Uebel kaum in fühlbarer Weise, während der erübrigte
Gewinn zuletzt noch durch Defraudationen geschmälert zu werden pflegte.
Endlich aber fehlte man von allem Anfang on dadurch, daß man die
Marine zu keiner östreichischen, sondern zu einer specifisch italienischen, im
engeren Sinne zu einer venetianischen heranbildete. Die Übeln Folgen dieses
fehlerhaften Verfahrens konnten nicht ausbleiben. Denn nicht nur sank die
östreichische Flotte nach und nach zu einem Wesen ohne Geist und Kraft
herab, sondern sie gab zuerst das Beispiel des Abfalles und Verrathes.
Einige Acte der Thätigkeit, z. B. 1828 der Zug gegen Marokko, einige
Kämpfe mit den griechischen Seeräubern und die Expedition gegen Saidak
(1840). sowie die Ernennung des hoffnungsvollen Erzherzogs Friedrich zum
Chef des Marinewesens, konnten den Verfall und die drohende Gefahr nickt
beseitigen, ja nickt einmal aufhalten; es waren aber nur momentane Licht¬
blicke in einer finstern Nacht.
Bei der Marine faßten die Lehren der italienischen Propaganda die ersten
Wurzeln. Einzelne Desertionen und Subordinationsverletzungen möchten gleich-
giltig betrachtet werden; aber das bekannte, von mehr als zwanzig jungen
Offizieren und Kadetten angezettelte und ausgeführte Complott sprach nur zu
deutlich für den antiöstreichischcn Geist, welcher schon damals in der öst¬
reichischen Marine herrschte. Die Hinrichtung der Betreffenden, unter denen
sich zwei Söhne des alten Admirals Bcmdiera befanden, trug natürlich auch
nicht zur Beruhigung der Gemüther bei. Kurz vor dem Ausbruche der ita¬
lienischen Erhebung wurde auch der Erzherzog Friedrich eine Beute des Todes
und zwar auf eine noch immer nicht völlig enthüllte Weise.
Die Nachricht von den Vorgängen in Wien war das Signal zur Er¬
hebung. Zuerst brachen die Arbeiter im Marine-Arsenal los. und der unbe¬
liebte Oberst Mnrinovich siel, auf entsetzliche Weise ermordet, als das erste
Opfer ihrer Wuth.*)
Wenige Stunden später war der entschiedene Abfall aller in Venedig
befindlichen Marinetruppen, sowie der Verlust des Arsenals und der gerade
vor Anker liegenden Kriegsschiffe zur Thatsache geworden. Wohl mochte nur
der Verlust der Vorräthe ins Gewicht fallen, indem es gelang, die an andern
Orten stationirten Kriegsschiffe — in Allem 47 Segel — zu retten. Eine
Fregatte und ein Dampfer wurden von ihren Bemannungen, welche hier ein
seltenes Beispiel der Pflichttreue gaben, von Neapel nach Pokal geführt, an
welchem Orte sich nach und nach der ganze Ueberrest der östreichischen Ma^
rire versammelte, und wo man im Stande war, die Bemannungen — frei¬
lich nur durch aufgefahrene Kanonen, in der Treue zu erhalten, d. h. sie we¬
nigstens an der Desertion und an der Mitnahme der Schiffe zu hindern.
Endlich aber mochte man das Gefährliche des Besitzes einer solchen unzuver¬
lässigen Truppe erkannt haben und schaffte sich dieselbe mit einem Male vom
Halse, indem man den Offizieren und der Mannschaft Urlaub oder Abschied
anbot, von welcher Erlaubniß denn auch sofort die Mehrheit Gebrauch machte.
So wurde der Verlust einiger Schiffe durch die Entfernung einer von jeher
sehr zweifelhaft gesinnten Truppe ausgeglichen und mochte darum die öst¬
reichische Marine eher beglückwünscht als beklagt werden.
Die entlassenen Matrosen, Schiffssoldaten und Kanoniere wurden durch
istrianische, dalmatinische und kroatische Seeleute, zum Theil auch durch neu
ausgehobene Recruten aus den andern Provinzen, besonders aber durch Sol¬
daten des Pioniercorps und der Tschail'ihter, die Offiziere. Cadetten und Ma¬
schinisten durch hinzu befähigte Offiziere der Landarmee, Individuen der Han¬
delsmarine und des östreichischen Lloyd und Seeoffiziere fremder Staaten
Asetzt,, si,k),öff liditjull.y »t-M'A.'^l:
Nie warder Zeitpunkt günstiger, die östreichische Marine in eine deutsche
zu verwandeln. Wirklich wurde auch zu jener Zeit von östreichischen Schissen die
schwarz-roth-goldene Flagge mehrmals aufgehißt, aber allerdings wohl nur, weil
man für einen Moment die Hoffnung hegte. Sardinien werde von einem Angriffe
gegen das Gebiet und die Schiffe des deutschen Bundes abstehen! Eine Täu¬
schung, die sich eilf Jahre später in noch höherem Grade wiederholte.
Aber die auf solche Weise gerettete östreichische Marine mußte beim
ersten Anblicke des Feindes den Rückzug antreten und sich in den Schutz der
Hafenbatterien von Polo, und Trieft begeben, welche Städte hinwieder nicht
wenig vor einem feindlichen Angriff besorgt waren. Daß dreser Angriff gar
nicht, oder ohne alle Energie und darum ohne Erfolg unternommen wurde,
lag eben in der Nachlässigkeit und moralischen Sckwüche der Gegner Oest¬
reichs und in der guten Haltung der die Küstengebiete besetzt haltenden öst¬
reichischen Landtruppen.
Auch nach der Heimfahrt der neapolitanischen Schiffe wagte die öst¬
reichische Escadre noch nicht, es mit der sardinischen aufzunehmen, sowie auch
ihre spätere Thätigkeit bei der Belagerung Venedigs und gegen die armseli¬
gen Barken Garibaldis kaum der Erwähnung werth ist.
Erst von 1850 an schien das östreichische Marinewesen einen höhern
Ausschwung zu nehmen. Einige Ra->dampfer wurden gebaut oder gekauft
und der Kiel zu einigen größeren Schiffen (darunter eine Fregatte von co
Kanonen) gelegt. Aber bei dem Baue dieses Schiffes, des „Schwarzenberg".
zeigte sich abermals die gewohnte Nachlässigkeit und Unbeliolfeuheit. Denn
der Oberbau des Schiffes war, um dasselbe nur ja recht solid und dauerhaft
zu machen, so schwer angefertigt worden, daß die Stückpforten auch bei »och nicht
voller Armirung und Bemannung des Schiffes sich kaum über den Wasser¬
spiegel erhoben. Man mußte also einen großen Theil des Oberdecks abtra¬
gen und, wo dieses nicht anging, die Stärke der Rippen und Planken durch
BeHauen und Abhobeln zu schwächen suchen, um auf diese Art das Gewicht
des Schiffes zu vermindern und dessen Tragfähigkeit zu vergrößern. Daß
nunmehr das ganze Schiff dock nur ein armsel'ges Stückwerk blieb, ist leicht
begreiflich. Und als dasselbe aus dem Hafen von Venedig bugsirt wurde,
entging es mit genauer Noth dem Schiffbrücke, kam in Pola. wäh¬
rend fast die ganze Equipage einem aus dem Festlande veranstalteten Fest-
mahle beiwohnte, durch nachlässige Ankerung in ähnliche Gefahr und wäre,
wie man erzählt, bald darauf beinahe ein Opfer des Feuers geworden. Ein
wahrhaft ominöses Schiff!
Ein anerkennenswerther Fortschritt aber war es. daß man nicht nur keine
neuen Perlchen mehr erbaute, sondern auch die vorhandenen baldmöglichst
aus dem Gebrauch zu setzen sich bemühte. Leider ließ nur die Leitung der
östreichischen Marine zu dieser Zeit Vieles zu wünschen übrig. Auf mehrere,
nur ganz kurze Zeit fungirende provisorische Befehlshaber (unter welchen auch
Gyulai!) wurde Dahlerup und nach diesem der General Wimpfen zu Ober-
commandanten ernannt. Ueber beide wurde schon früher in dem Artikel:
„Die östreichische Armeeverwaltung" abgeurtheilt. Ersterer war ein ziemlich
verschollener dänischer Hasenadmiral, und seine kurze Dienstleistung in Oest¬
reich wurde nur durch die dörrenden Betrügereien, welche während dieser Zeit
vorfielen, bezeichnet. Wimpfen aber war ein Mann ohne alle seemännische
Kenntniß und Erfahrung.
War die Marine früher eine rein italienische gewesen, so suchte man sie
jetzt zu einer östreichischen, wenn auch.zu keiner deutschen umzugestalten. Das
Kommando der Offiziere war deutsch. — jenes der Unteroffiziere italienisch.
Der Wahlspruch des Kaisers „Viridus nati8" wurde auch hier in der unge¬
schicktesten Weise zur Geltung gebracht. Aus allen Provinzen und aus allen
Nationalitüten des Reiches wurde für die Marine recrutirt. und namentlich
die. Marine-Infanterie, weiche man auf die Stärke eines Regiments brachte,
war der Polyglotteste Truppenkörper, den man sich denken kann. Hätte man
wenigstens die Unterabtheilungen nur aus einer oder zwei Nationalitüten zu¬
sammengesetzt, so Hütte es noch hingehen mögen, aber man würfelte selbst
die kleinsten Abtheilungen auf das Buntscheckigste zusammen, und es kam
dem Verfasser eine Compagnie vor, in welcher nicht weniger als dreizehn
verschiedene Nationalitäten vertreten waren.
Das Matrosencorps und die Marineartillerie waren in dieser Hinsicht
etwas besser daran, indem bei ersteren vorwiegend das slavisch-italienische Element
und nur hin und wieder auch einige Deutsche aufgenommen wurden, letztere
aber fast nur aus Slaven und Deutschen bestand.
Den Offizieren wurde die baldige Erlernung der deutschen Sprache zur
Pflicht gemacht, und man ging hiebei so weit, daß man auch jene erfahrenen
italienischen Offiziere, welche 1848 ihre Treue bewährt Kalten, ohne ihr An¬
suchen in den Ruhestand versetzte, weil sie eben nicht Deutsch lernen konnten.
Später ging man allerdings von dem Gebrauche, nach welchem jede
Nationalität ihr Contingent zur Marine stellen mußte, wieder ab und rccru-
tirte fortan für die Marine nur in den Küstenländern sowie den angrenzen¬
den deutsch-slavischen Provinzen.
Daß übrigens in den entferntesten Theilen des Staats die Nothwendig¬
keit der Vergrößerung der östreichischen Marine erkannt wurde und Liebe zum
Seedienste vorhanden war, zeigte der nicht ungünstige Erfolg der Samm¬
lung zur Erbauung der Fregatte „Radetzky" und andrerseits der freiwillige
Eintritt vieler Knaben und Jünglinge aus allen Ständen und aus dem Jn-
und Auslande in den Dienst der Marine. — Freilich wurde dieser Zudrang
durch das Verlockende eines beispiellos günstigen Avancements erklärbar.
Die Uebernahme des Marineobercommando's durch den Erzherzog Maxi¬
milian war, wenn sie auch dem Unterschleifswescn und manchen andern Uebel-
ständen nicht abhelfen konnte, wenigstens auf die Vermehrung der Marine
unstreitig von günstigem Einfluß. Denn die von dem Bruder des Kaisers
gemachicn Vorschläge zur Vergrößerung der Marine fanden, obgleich sie viel¬
leicht nur dem Wunsche, einen größeren Wirkungskreis zu erlangen, entsprun¬
gen waren, selbstverständlich eine we.it günstigere Aufnahme als die begrün¬
detsten Anträge eines gewöhnlichen Admirals.
So wurden denn in den folgenden Jahren ansehnliche Summen theils
auf den Bau und Ankauf von Schiffen, theils auf die Anlage von Schiffswerften.
Docks, Arsenälen u. tgi. verwendet. Die Fregatte Radetzky und einige kleinere
Dampfer wurden in England oder von der Gesellschaft des östreichischen Lloyd
gekauft, das Linienschiff Kaiser, die Fregatten Donau und Adria. die Corvetten
Dandvlo. Friedrich u, a, in, auf den Werften von Pola, Trieft und Venedig
gehyut. Auch führte man nach dem Beispiele Frankreichs den Dreißigpfünder
als einziges Kaliber ein und setzte alle feineren Geschütze sofort außer Gebrauch.
Außer den Kriegsschiffen auf dem adriatischen Meere hatte man noch
auf der Donau, dem Po, den Lgguncn bei Venedig und auf den oberitalie-
Nischen Landseen eine namhafte Anzahl kleinerer Kricgsfahrzeuge erbaut, welche
von dem 1850 errichteten Flottillencorps besetzt und bedient wurden. Dieses
Flotiilencorps zählte zu — den Landtruppen. Nach Beendigung des letzten
Kriegs wurden jedoch die Marinctruppen und dieses Corps in einen einzigen
Körper vereinigt, was wenigstens in Bezug auf die Flottille in Oberitalien
zweckmäßig genannt werden konnte.
Im Anfänge des gegenwärtigen Jahres besaß Oestreich folgende Kriegs-
schiffe, und zwar Propeller: das Linienschiff Kaiser mit 91 Kanonen, die Fre-
gatten Radetzky. Donau und Adria mit je 31 Kanonen, die Corvetten Erzherzog
Friedrich, und Dandolo. mit 20—24 Kanonen. 3Schooner und 18 Kanonenboote,
von denen ein Theil der Donau- und Lagunenflottille angehörte. Raddampfer:
Elisabeth, Voila. Lucca mit je 12 Kanonen und 250-400 Pferdekrafi;
17 kleinere Dampfer mit 6—10 Kanonen und 100—250 Pferdekraft; ein Theil
dieser Fahrzeuge gehörte der Flottille an. 1 Dampfyacht, I Dampfaviso
und 8 Kcmonenvoote.
Segelschiffe und zwar Fregatten: Schwarzenberg 60 Kanonen. Novara 54
Kanonen, Bellona 44 Kanonen, Venus 42 Kanonen, Corvetten: Karolina,
Diana und Minerva mit 20 — 28 Kanonen; 4 Briggs, 3 Goeielten.
4 Schooncrbriggs, 4 Kanonenschaluppen, 4 Perlchen. 7 Transportschiffe und
außerdem auf den Lagunen mehrere Ruderfahrzeugc.
Diese Schiffe sind durchgehends seesühig, wogegen eine Fregatte sowie
mehrere Briggs und Perlchen nur als Kasernen benutzt werden können.
Hiezu müssen noch mehrere Schiffe gezählt werden, welche in diesem Jahre
gebaut wurden, und es gelang den energischen Anforderungen des Erzherzogs,
die Bewilligung zu noch umfassenderen Bergrößerungen zu erhalten. So
wurden denn die beiden Panzerfregatten Drache und Salamander, das eiserne
Dampf-Kanonenboot Grille und einige kleinere Fahrzeuge vollendet oder we¬
nigstens der Bollenduug nahe gebracht, der Bau zweier anderen Panzerschiffe,
eines zweiten Linienschiffes und mehrerer kleiner Fahrzeuge begonnen und
gleichzeitig die Schiffswerften und > Werkstätten verbessert und vermehrt. Ein
weiterer Fortschritt war die definitiv ausgesprochene Einführung der gezoge-
nen Kanonen, für welche man das preußische System wählte, wiewohl demselben,
nachdem sich die Landartillerie für das Schießwollgeschütz des General Lenk
entschieden hat, vielleicht abermals eine Aenderung bevorsteht.
An und für sich ist also die östreichische Marine gegenwärtig ziemlich be¬
deutend und hinsichtlich ihrer Schiffskanonen- und Pferdetrastanzahl einer sce-
na.ehe dritten Ranges weit überlegen. Dem Sardinien von 1858 stände sie
jetzt voran, — mit der Flotte des vereinigten Königreichs Italien aber könnte
sie es nicht aufnehmen.
So ist denn diese kostspielige und mit großer Mühe ins Leben gerufene
Marine grade im jetzigen Augenblicke von höchst geringem Nutzen. Gezwungen
beim ersten Beginne des Krieges sich in die Knegshäfcn der istrianischen und
dalmatinischen Küste zurückzuziehen, würde die östreichische Marine die feind¬
liche nicht nur nicht zurückschlagen, sondern auch weder den östreichischen Seehandel
beschützen, noch selbst die eigenen Küsten vor einer Landung bewahren können.
Dagegen könnte allerdings die Flottille auf dem Po, den Landseen und be¬
sonders den Lagunen erhebliche Dienste leisten.
Was die Erhaltungskosten des Personals der östreichischen Marine an¬
belangt, so sind dieselben verhältnismäßig sehr bedeutend. Nicht nur ist die
Löhnung der Matrosen 'weit höher als jene der Landsoldaten und die Zahl
der Unteroffiziere viel größer, sondern es ist auch der Stand der Offiziere,
insbesondere aber der höhern Befehlshaber fast außer allem Verhältniß zu
der Zahl und Größe der vorhandenen Schiffe. Ein solch günstiges Avance¬
ment, wie es seit 13 Jahren in der östreichischen Marine stattgefunden hat.
dürfte wohl nicht leicht seines Gleichen finden. Leute, die 1848 als Cabeltau
eintraten, sind seitdem, ohne besondere Protection zu besitzen und ohne sich
etwa durch Tapferkeit oder Geschicklichkeit sehr ausgezeichnet zu haben, blos
in der gewöhnlichen Rangstour zu Fregattencapitänen (Oberstlieutenants)
avancirt! Freilich trugen hierzu nebst der fortwährenden Vermehrung der
Stellen die zahlreichen Besetzungen und P.'nsioninmgen bei. Aber da
letztere so leichthin und oft ungerechtfertigt erfolgten, wutden nicht nur viele
noch ganz brauchbare Männer dem Dienste entzogen, sondern auch der Staats¬
schatz um ein Bedeutendes belastet.
Ohne Küstenland ist keine Marine möglich, und der gesicherte Besitz des
ersteren wirkt wieder auf die Kraft und Lebensfähigkeit der letzteren zurück.
Denn sowie die Marine die Küsten und den Handel ihres Staates beschütze»
muß, so wird auch umgekehrt die Marine — besonders bei einem unerwarte-
ten feindlichen Angriffe — hinter den Befestigungen ihrer Küste Schutz suchen
und sich zur Ergreifung der Offensive vorbereiten und sammeln.- Auch müssen
die Arsenale und Werften der Flotte, sowie die Vorrathsspeicher des Handels,
der ja die Grundbedingung einer lebenskräftigen Marine ist, vor der Gewalt
des Gegners auch dann gesichert sein, wenn die eigene Seemacht zu schwach
oder an einem andern Punkte festgehalten ist. Und daher sind, wenn über
die Marine eines Staates ein umfassendes und eingehendes Urtheil gefüllt
werden soll, auch die Beschaffenheit der Küstenvertheidigung desselben und
überhaupt die Verhältnisse seiner Küstenprovinzen in Erwägung zu ziehen.
Die östreichischen Küstenprovinzen bestehen bekanntlich aus Venedig, den
Gebieten von Görz und Triest, Jstrien. dem ungarisch-kroatischen Littorale
und Dalmatien.
Die venetianische Küste bietet der geringen Tiefe des sie bespülenden
Meeres, ihrer Gestaltung und ihrer ziemlich vollständigen Befestigung wegen
einer feindlichen Landung ziemliche Schwierigkeiten dar. Nur an wenigen Stellen
können selbst Fregatten sich dem Ufer auf Kanonenschußweite nähern, und die
Flußmündungen, an andern Küsten oft die einem feindlichen Angriffe günstigsten
Punkte, sind hier ihrer zahlreichen und sich in ihrer Gestaltung stets ändern¬
den Anschwemmungen wegen, grade die gefährlichsten Stellen. Auch ist der Um¬
riß der Küste, die einen vom Po bis zum Jsonzo sich erstreckenden flachen Bogen
bildet und weder bedeutende Vorsprünge noch tiefe Einschnitte besitzt, dem Verthei¬
diger überaus günstig. Denn Letzterer kann dem auf was immer für einen Punkt
gerichteten Angriffe concentrisch entgegenwirken und den etwa ausgeschifften feind¬
lichen Truppen mit voller Front begegnen. Nirgends kann hier der Angreifer einen
Punkt isoliren oder den Vertheidiger in der Flanke fassen, und nirgends fin¬
det er einen gesicherten Stützpunkt; ja es fehlt ihm selbst nach bewirkter Lan¬
dung ein dem nöthigen Raume zur Entwicklung und sogar zur Ausschiffung
größerer Truppenmnssen. Denn die fast drei Viertheile der ganzen Küsten¬
strecke einnehmenden Lagunen erschweren das Vordringen gegen das Innere
der Provinz und auch da, wo sich keine Lagunen befinden, ist die auf den
sandigen, wegelosen Dünen nur mühsam sich vorwärts bewegende Truppe der
steten Gefahr ausgesetzt, durch den ersten Anprall des Feindes fast widerstands¬
los in das Meer geworfen zu werden. Nur der Besitz der Stadt Venedig
selbst könnte ein gelandetes feindliches Armeecorps vor dem Untergange oder
schleunigen Rückzüge retten. Die Befestigungen dieser Stadt sind aber keines¬
wegs der Art, daß sie einem Handstreich oder einem kurzen Forceangriff ir¬
gend eine Aussicht auf Erfolg bieten, denn sie sind wirklich solid und zweck¬
entsprechend angelegt, wohl unterhalten, tüchtig arnurt und — ein bei Küsten¬
befestigungen seltener Fall — auch gegen die Landseite durch Natur und Kunst
gleich stark. Das wenigstens hatte ore östreichische Regierung gleich von allem
Anfang anerkannt, daß sich diese Provinz gegen einen äußern Feind eben nur
so lange behaupten läßt, als es gelingt, auch die Bewohner im Zaume zu
halten oder wenigstens ihre Bestrebungen unschädlich zu machen. Endlich
würde der Angreifer — selbst in dem Besitze Venedigs — solange das Festungs-
vicrcck noch in östreichischer Gewalt wäre, sich fortwährend in einer höchst
unsichern Lage befinden und bei dem Versuche weiter vorzurücken im gleichen
Maße sowohl den Angriffen der über den Jsonzo herabkommenden östreichischen
Reserven als auch der im Fcstungsviereck befindlichen Armee ausgesetzt sein.
Die Landung an der venetianischen Küste und der Angriff auf Venedig,
wovon 1359 die Anhänger Frankreichs mit so außerordentlicher Zuversicht
sprachen, womit selbst Napoleon den Kaiser von Oestreich einzuschüchtern versuchte
und womit er auch wirklich zum Abschlüsse des Friedens beigetragen zu haben
scheint, gehörten also zu jenen Gasconnaden und aufs Gerathewohl abgefeuer-
ten Schreckschüssen, womit die französische Politik von jeher die augenblickliche
eigene Unschlüssigkeit und Schwäche zu verdecken und auf die> Leichtgläubigkeit
und Furcht d.'s Gegners einzuwirken sich bestrebt bat.
Und diese mit so besonderer Mühe und Sorgfalt geschützte Küste hat
vergleichsweise für Oestreich den geringsten Werth. Der Hafen von Venedig,
von Jahr zu Jahr mehr verhärtend, wird endlich trotz der größten Anstren¬
gungen dem Schicksale des gänzlichen Unbrauchbarwerdens nicht entgehen;
das Arsenal mit seinen Werkstätten und Vorrathshäusern ist. so imposant sich
das Ganze ausnimmt, bereits längst zu klein geworden, die Schiffe sind in
den Häfen gegen den Sturm schlecht geschützt und erleiden leicht Havarien,
und endlich ist auch der venetianische Seehandel ohne besondere Bedeutung
und eher im Ab- als im Zunehmen. Die Rhederei steht ebenfalls nicht besser,
und der Schiffsbau könnte auch in größerer Ausdehnung betrieben werden.
Die Schiffe, welche den Bewohnern der venetianischen Küste angehören, sind
zumeist Fischerbarken, Lichterschiffe und Küstenfahrer. Auch wenn Venedig an
das Königreich Italien fiele, würden sich seine Verhältnisse nicht verbessern,
da die italienische Negierung weder Neigung noch Ursache haben möchte, eine
Stadt oder Provinz auf Kosten der übrigen so zu bevorzugen, wie solches
seither von Oestreich geschehen ist. und weil alles Bevorzugen den aus natur¬
gemäßer Nothwendigkeit erfolgenden Verfall einer Sache nicht aufzuhalten
vermag.
Was endlich die maritime Tauglichkeit der Bewohner dieses Küstengebietes
anbelangt, so sind denselben manche gute maritime Eigenschaften nicht abzu-
sprechen. Sie sind unter Anderm gewandte und wagehalsige Bootsführer.
Allein es fehlt ihnen die Befähigung zum Dienste auf größeren Schiffen,
namentlich Kaltblütigkeit, ausdauernder Muth und vor Allem Disciplin. Es
ist bekannt, daß schon die Republik Venedig in den Tagen des höchsten Glan¬
zes ihre besten Seeleute aus Dalmatien, Jstrien und den jonischen Inseln
erhielt.
Die nur wenige Meilen lang sich ausdehnende Küste des Görz'schen ist
allerdings durch einige alte Kastelle und in der Eile aufgeworfene Batterien
bei Duino, Grado, Caorlc, Monfalcone und Aquileja nur schwach vertheidigt,
allein theils durch die Beschaffenheit ihrer Ufer, noch mehr aber durch die
Gestaltung des Umrisses gegen einen feindlichen Angriff geschützt; ein solcher
würde sich übrigens hier weder der Mühe noch der Kosten verlohnen.
Die wichtigste Küstenstrecke Oestreichs ist aber jene von Trieft. In die-
sem Punkte concentrirt sich der größte Theil des deutsch-östreichischen, ja über¬
haupt des gesammtöstreichischen Seehandels Und die Eigentümer der drei-
mastigen östreichischen Kauffahrer sind fast durchgehends Trichter und, Fiumaner
Rheder. Neben mehreren Privatschiffswerften sind die Arsenale und Werften
des östreichischen Lloyd zu erwähnen, auf welchen auch bereits mehrere statt¬
liche Kriegsschiffe gebaut wurden.
Die Befestigung dieser Küstenstrecke und insbesondere der Stadt Trieft
selbst läßt aber noch Vieles zu wünschen übrig. Zwar hat der Versuch einer
Landung aus dem sogenannten Territorium der Stadt nur wenig Aussicht
auf Erfolg, und es würde ein solches Unternehmen selbst in dem Falle des
Gelingens dem Feinde nur geringen Nutzen gewähren, da derselbe keinen Platz
zur Entwicklung finden, Mangel an Lebensmitteln haben und mit leichter
Mühe von den über den Karst herabsteigenden östreichischen Truppen zur
Flucht auf seine Schiffe gezwungen werden würde. Aber die auf der Rhede
von Trieft und in den anliegenden Buchten von Serpvla und Muggia vor
Anker liegenden Schiffe und die Stadt selbst mit allen ihren Vorräthen und
Waarenspeichnn sind einem feindlichen Handstreiche oder wenigstens einem Bom¬
bardement nur zu sehr ausgesetzt.
Die Bevölkerung dieses Gebietes zerfällt in zwei wesentlich verschiedene
Theile, in die slawischen Landbewohner im Territorium und die aus Ita¬
lienern, Slaven, Deutschen, Griechen und Juden gemischte Bevölkerung der
Stadt. Erstere steht im Rufe einer großen Opferwilligkeit und Treue, und
es hat die sogenannte Territorialmiliz sich bisher immer von gutem Geiste
beseelt gezeigt. Allein die im letzten Sommer vorgefallenen Ereignisse haben
bewiesen, daß auch diese Bereitwilligkeit aufhören könne. Die Stadtbewohner
sind im Allgemeinen ^— einige Italiener abgerechnet — der östreichischen Ne¬
gierung so ziemlich ergeben und haben auch alle Ursache dazu, da sie recht
gut einsehen, daß Trieft unter einer andern Regierung Vieles von seiner ge¬
genwärtigen Wichtigkeit, zum Mindesten aber einige seiner Privilegien ver¬
lieren würde; doch ist diese Ergebenheit nur von geringem reellen Werthe,
sie ist eben nur die Ergebenheit conservativer Geldmänner, welche des ruhi¬
gen Besitzes ihrer Reichthümer willen zwar jede Revolution verabscheuen,
aber auch im gerechtesten Kriege die Sache ihres Landes nur lau und zag-
haft unterstützen.
Ehemals war Triest von der Recrutirung gänzlich befreit und hatte da¬
für nur das erwähnte Territorialmilizbataillon aufzustellen. Die Mannschaft
dieser Truppe bezieht — außer im strengsten Kriegsdienste — keinen Sold,
sondern nur Waffen und Munition. steht außer Dienst unter den bürgerlichen
Gesetzen, ist aber trotz der Nichtablegung des Fahneneides zur steten Be¬
reitschaft sowohl für den innern Dienst als gegen äußere Feinde verpflichtet.
Mit der Zunahme der Bevölkerung verringerte man auch nach und nach die
Recrutirungsbesteiung, und in letzter Zeit wurde die Miliz mir dem halben
auf die Stadt entfallenden Recrutencontingente gleichgeachtet.
Der Magistrat der Stadt, in der echten Weise mittelalterlicher Patrizier,
wußte es sich indessen leicht zu machen. indem das zu stellende Recrutencontin-
gcnt möglichst dem Territorium zugemessen, demselben wie früher auch die Stel¬
lung der Miliz (nur die Offiziere waren geborne Trichter) aufgebürdet, dagegen
aber einige Erleichterungen an den städtischen Abgaben und an dem Pachtzinse der
städtischen Grundstücke zugestanden wurden. In der Iüngstzcit aber stellten
die Väter der Stadt Triest diese Begünstigungen ganz oder theilweise ein,
während andrerseits die Militärbehörde die Miliz reorganisiren und zur Ei¬
desleistung zwingen wollte. Dieses führte zu höchst stürmischen Auftritten,
wobei die Milizen jede weitere Dienstleistung verweigerten und durch das
vollständige Nachgeben der Regierung nur mit Mühe zur Ruhe gebracht
wurden.
Durch die Vollendung der Eisenbahn hat übrigens die Vertheidigungs¬
fähigkeit der Stadt und ihres Gebietes wenigstens gegen Landungen ge¬
wonnen , indem die Garnison zu jeder Stunde um ein Beträchtliches verstärkt
werden kann. Leider nur ist diese Eisenbahn an mehreren Punkten dem
Feuer der außer dem Bereiche der Hasenbatterien vor Anker liegenden Schiffe
schutzlos ausgesetzt.
Mit Ausnahme von Polo, und einigen unbedeutenden Batterien bei Pi-
rano. Capodistria und Novigno, sowie auf den Quarnerischen Jseln ist die
Küste Jstriens gar nicht befestigt. An und für sich wären die Küsten dieses
armen Landes auch kaum der dadurch erwachsenden Kosten werth; aber die
zahlreichen und guten Häfen und Rheden und die Lage des Landes, welches
zur Operationsbasis für einen von der Seeseite gegen das Innere Oestreichs
vorrückenden Gegner wie geschaffen ist, machen den gesicherten Besitz Jstriens
wünschenswerth.
Pola, dessen Wichtigkeit nicht zu bestreiten ist, und welches nunmehr auch
wirklich einen besondern Grad von Festigkeit erreicht hat, dürfte im nächsten
Kriege wahrscheinlich eine bedeutende Rolle spielen und der Zufluchtsort der
östreichischen Kriegsmarine, zugleich aber eines der ersten Objecte eines feind¬
lichen Angriffes werden. Gegen einen Flottenangriff ist Pola allerdings ge¬
sichert, ebenso aus der Landseite gegen einen Sturmversuch, — dagegen würde
eine förmliche Belagerung den Fall des Platzes in früherer oder späterer Zeit
herbeiführen, da der Entsatz nur spät und nicht in genügender Stärke heran¬
kommen kann. Denn die Vertheidigung des Landes, fast nur den sogenannten
mobilen Coloiincn — aus Infanterie und leichten Geschützen bestehenden
Streifcorps — zugewiesen, ist wegen der schlechten Beschaffenheit der Wege
und aus andern Ursachen schon höchst schwierig. Der Gegner kann Jstrien
auf beiden Seiten bedrohen, dadurch des Vertheidigers Kräfte und Aufmerk¬
samkeit theilen, nach bewirkter Landung aber sogleich festen Fuß fassen, sich
rasch ausbreiten und bis an den Monte Maggiore vordringend, von hier aus
.„/in^si'it/I»Vlll7»/hioNZK^lik)Il>l>um
den Zuzug der östreichischen Truppen und mithin auch den Entsatzversuch ver¬
eiteln. Während nun die von der See abgeschnittenen Oestreicher in dem
unwegsamen und unwirthbaren Lande größere Truppenmassen und alle Heeres¬
bedürfnisse nur mit Mühe erhalten und fortbringen können, hat der Angreifer
die offene See zu seiner Verfügung und besitzt überdem in den nahen Inseln
die herrlichsten Depotplütze und Schiffsstationen. — Bei diesen Inseln zeigte
es sich übrigens 1859 recht deutlich, was von der zugesicherten Nichtverletzung
des deutschen Bundesgebietes zu halten sei. Bekanntlich wurde damals die
zu Jstrien gehörige Insel Cherso feindlich besetzt. In ganz Deutschland er¬
hob sich aber auch nicht eine Stimme gegen die Verletzung des Bundesge¬
bietes. Ein solches Vergessen der politische» Geographie konnte wohl bei den
Franzosen, nicht aber den Deutschen vorausgesetzt werden. Oder fühlte man
vielleicht das Jnconsequente. wo nicht Absurde des Maßstabes, nach welchem
seinerzeit die Grenzen des deutschen Bundes ausgesteckt wurden? -
Die Küste des ungarisch-kroatischen Littorale, an und für sich leicht zu¬
gänglich, nur mit wenigen und unbedeutenden. Befestigungen versehen, bietet
dem Angreifer wenig Hindernisse. Zudem dürfte die Stimmung der Bevöl¬
kerung einem feindlichen Unternehmen hier nicht geringeren Vorschub leisten,
als in Venedig. Das so oft besprochene Project einer Landung der italienisch¬
ungarischen Legion unter Türr ist also keineswegs unausführbar, könnte aber
zuletzt doch, sobald Oestreich'eine genügende Truppenzahl in diese Gegend zu
werfen vermag, mit dem eiligen Rückzüge des Angreifers enden.
Dalmatien ist den officiellen Ausweisen zufolge allerdings mit Festungen
gespickt; aber es sind dieselben — mit Ausnahme von Zara, Ragusa und
Cattaro — alt, verfallen oder nur auf die Abwehr eines Seeangriffes berechnet,
daher die widerstandslose Beute eines gekanteten Gegners. Betrachtet man
ferner die Unwegsamkeit und Armuth, sowie die große Längenausdehnung
und geringe Breite des Landes, so kann man leicht erkennen, wie schwierig
es Oestreich werden würde, einen ernstlichen Angriff auf diese Provinz abzu¬
wehren. Dazu bieten die zahlreichen Inseln dem Angreifer die besten Stütz¬
punkte, auf welchen er seine Truppen und Vorräthe sammeln und selbst nach
mehrfachem Mißlingen sich zu ^neuen Unternehmungen gegen das Festland
vorbereiten kann. Man legte früher ein besonderes Gewicht auf die gefähr¬
liche Schifffahrt in diesen, dem Gegner nicht genügend bekannten Gewässern.
Nun gegenwärtig dürfte es daselbst wohl kaum eine Stelle geben, welche die
Sardinier unter den verschiedensten Masken nicht genau sondirt hätten, und
endlich würde es ihnen im schlimmsten Falle gewiß nicht an kundigen Lootsen
fehlen. Denn die aus slavischen und italienischen Elementen gemischte Bevöl¬
kerung sympathisirt theils mit den Südslaven, theils mit ihren Brüdern jen¬
seits der Adria, oder ist selbst bei der günstigsten Gesinnung ihrer ge-
ringen Zahl wegen unvermögend, irgend einen erfolgreichen Widerstand zu
leisten.
Die Einwohner aus der Gegend von Pastrovich (Kreis Cattaro), ein
rauher kriegerischer Menschenschlag nach Art der Montenegriner, waren früher
ob ihrer warmen Anhänglichkeit an das Kaiserhaus bekannt. Aber die Ccn-
tralisationsmaßregeln des Ministers Bach, welcher die bedeutenden Privilegien
dieses armen Gebirgsvölkchens mit dem Schleier der Vergessenheit bedeckte,
scheinen diese Ergebenheit sehr abgekühlt zu haben.
Man hat zur Besetzung des Landes in neuester Zeit auch viele Grenz-
truppen, weil sie eben die nächsten waren, verwendet. Wie man sich auf
diese sonst tapfern Truppen verlassen könnte, im Falle zur Unterstützung eines
Seeangriffes der Italiener ein Einfall der Montenegriner und der böhmischen
Insurgenten erfolgen sollte/ zeigt ein Vorfall, weicher sich nach den verbürg¬
testen Angaben vor einigen Monaten unweit Ragusa ereignet hat. Omer
Pascha stellte an die östreichischen Behörden die Bitte, seine Pferde und sein
Gepäck durch Dalmatien führen zu dürfen. Man kam diesem Ansuchen be¬
reitwilligst nach und bestimmte zur Escortnung einen Grenzerossizter mit 40
Mann. Als nun der Offizier das türkische Gebiet betrat, wurde er von
mehreren Montenegrinern angehalten und zur Herausgabe der Pferde aufge¬
fordert. Aber gegen seine Stammverwandten mochte er nicht kämpfen und,
ohne einen Schuß zu thun, überließ er das ihm Anvertraute den Montene¬
grinern und kehrte mit seiner Mannschaft ganz gemächlich nach Ragusy
zurück! —
Nach dem Gesagten müßte also Oestreich schon bei naher Voraussicht
eines Krieges zur Deckung seiner Seeprovinzen in dieselben eine solche Trup¬
penmasse schicken, daß es, wenn gleichzeitig ein Angriff in Italien oder eine
Erhebung in den ungarischen und südslavischcn Provinzen zu erwarten wäre,
kaum noch einige tausend Mann für die Verwendung auf einem andern
Kriegsschauplatze erübrigen könnte.
Deutschland könnte also aus keinen Fall am Rhein aus eine Unterstützung
von Seiten Oestreichs zählen, ja es könnte sich selbst ereignen, daß letzterer
Staat bei seinen deutschen Nachbaren um Beistand zu bitten versuchen würde,
zum Schutze seiner eigenen Provinzen und zur Unterdrückung des Aufstandes.
Sollten aber auch die günstigsten Umstände eintreten, und sollte es
Oestreich sogar gelingen, alle seine Provinzen zu beruhigen, so würde es
demungeachtet riesiger Anstrengungen und Opfer bedürfen, ehe Oestreichs Ma¬
rine auf einen Stand käme, welcher mit den bisher dafür aufgewandten
Kosten nur in einigem Verhältniß stände und ehe die Küsten die genügende
Sicherheit gegen feindliche Angriffe selbst schwächerer Gegner erlangen
-.-! -Am 25. Mai des Jahres 180K schwur ich Sr. Majestät dem Könige >den
Eid der Treue, nicht zur Fahne, weil der TruppentlieU. du welchem ich als
gefreiter Corpora! eingetreten war. keine Fahne hatte; sondern auf den Säbel
des Offiziers. Lieutenant von Rudorf, der mir die Kriegs-Artikel vorgelesen
hatte, und den Eid abnahm. Ich war vor einer Menge von Perbrechen
gewarnt worden, deren Begehen mit Spiesruthenlnufen und Todtschießen bestraN
wurde, wovon ich in meiner, kindlichen UnerfahrenbeU keinen Begriff lMte.
Es war die Leibcompagnic des Füsilier-Bataillons v. Pelee in der nie-
derschlesischen Füsilierbrigade, in welche ich als gefreiter Korporal von dem
General angenommen war, die Compagnie wurde vom Bruder meines Ba¬
ders commandirt. der als Premierlieutenant bei dem Bataillon stand — ein
Borzug für rhu, da die Compagnien der Stabsoffiziere sonst nur von Stabs-
Capitäns commandirt wurden. Ick war vierzehn Jahre acht Monate alt
und maß 4 Fuß 8 Zo i, war' also sehr klein und außerdem so schwächlich,
daß mir ein eigenes kleines Gewehr gegeben wurde, um damit das Exerciren
zu erlernen. Nach sechs Wochen, wo ich ausexcercirt war, mußte ich , ehe
ich zum wirkliche» Dienst herannezogen wurde, dem General vorexercimn
und, mich selbst connnnndnend, nicht nur alle Griffe mit dem Gewehr, son¬
dern auch alle Wendungen und Marscharten machen. Diese Lorstellung ging
so glücklich von Statten, daß ich belobt wurde und von meinem Compagnie-
Chef, dem General selbst, eine Gratifikation von..einem doppelten Friedrichs-
d'M tivhtvlt^lÜ sszill, II«'iM „iki-M!!^ /^I >,,^.lo'^NI?
Nun that ich die erste Wache als Genreiner auf der Hauptwache, .die ein
Offizier bezog, und hatte den Posten vor dem Gewehr, um fortwährend unter
Aufsicht des Wachtcommandanten zu sein. So klein mein Gewehr auch war.
wurde n mir doch dasselbe bei dem zweistündigen Schildwachtstehn kein schwer,
so daß meine Kameraden, die dies längst überstanden und alle älter und
größer waren , sich auf meine .Nosken gehörig belustigten. Drei solcher Wa¬
chen wurden nebst den damit verbundenen nächtlichen Patrouillen ganz glück-
'lich überstanden, so daß ich für würdig befunden wurde, deu Unteroffizier¬
dienst zu versehen,
'Kaum waren so drei Monate verflossen, als plötzlich die Ordre >>u Mo¬
bilmachung eintraf. Bon, 16. August an waren wir mobil, und am 80.
marschirten wir gleich nach Thiemendorf bei Lauban in der Lausitz. 3'/,
Meilen von Bunzlau, unserer Garnison, entfernt. Mein Oheim blieb leider
beim Depot zurück, was mich sehr unglücklich machte, weil ich wohl fühlte,
wie sehr ich nun verlassen sein würde. Der neue Compagnie-Commandeur
war der Stabs-Capitän von Luck, welcher, obgleich noch gar nicht lange
zum Bataillon als Einschub gekommen, doch schon durch sein edles Wesen,
seine feine und gelehrte Bildung sich die hohe Achtung der Offiziere und die
Freundschaft der ältern erworben hatte, er versprach meinem Oheim väterlich
für mich zu sorgen und hat dies redlich gethan. Der treffliche Mann ist
vor einigen Jahren als General der Infanterie in sehr hohem Alter, ich
glaube 87 Jahr alt. gestorben.
Ich bin nie ein sehr, starker Fußgänger gewesen und denke noch mit Schrecken
an die Beschwerden dieses ersten Marsches mit gepackten Tornister, Gewehr
und 20 Patronen zurück, einer um so unerträglichem Last, als der Tornister
damals an einem Bandelier über einer Schulter und nicht so bequem als
heut zu Tage getragen wurde. Ohne die Freundlichkeit der Offiziere, welche
mich öfter reiten ließen, würde ich diesen Marsch wohl nicht Überstande» haben.
Dafür war aber das erreichte Quartier, das bei einem armen Häusler Bequem¬
lichkeit die Fülle bot — z. B, ein Gericht vortrefflicher Kartoffeln in der Schaale
und eine gute Streu — eine wahre Glückseligkeit, welche ich 14 Tage, so lange
dauerte die Ccmtonirung. ohne alle Störung genoß. Ein alter ehrlicher Fü¬
silier war mir zur Bedienung, respective Aufsicht gegeben, damit der „Jun¬
ker" nickt gar zu kindische Streiche mache. Er sorgte für mich, wie ein
braver Diener nur kann, und führte meine Kasse, die, da ich nur ein monat¬
liches Gehalt von 3 Thlr. 15 Sgr. und 3 Thaler Zulage hatte, eben nicht
sehr gefüllt war. Endlich ging der Marsch weiter fort über Dresden, Frei¬
berg, Chemnitz, Altenburg, Gera, Blankenburg. Dem alten Feldwebel, —
er hieß Kretschmer, — war ich von meinem guten Onkel ganz besonders
empfohlen, er, ohnehin mein Vorgesetzter, unterrichtete mich über mein Be¬
nehmen in und außer dem Dienste und that dies stets auf eine Weise, daß
ich ihm nur dankbar sein und mich nie verletzt fühlen konnte. Wo es irgend
möglich war. kam ich zu ihm ins Quartier; auch über das Verhalten den
Wirthsleuten gegenüber belehrte er mich. So war ich eines Tags erschöpft
vor Durst ins Quartier mit ihm gekommen. Als ich ein Glas frisches
Wasser verlangte, belehrteer mich, daß es unpolitisch sei, Wasser zum Trinken
zu fordern, man müsse um etwas zu trinken bitten; aus dem, was gebracht
würde, könne man gleich die gastfreundlichen Gesinnungen des Wirthes be¬
urtheilen. Ich habe mir das gemerkt und häufig bewährt gefunden. Die
Gastfreiheit in dem schönen Sachsen werde ich nie vergessen; besonders an¬
genehm war der Aufenthalt in Chemnitz und in Gera. An beiden Orten hatten
wir Ruhetag, am letztern hatte ich den Compagniedienst des Visitirens und
mußte des Abends dem Hauptmann Rapport abstatten. Ich hatte mir Mühe
gegeben, den dienstlichen militärischen Anstand mir anzueignen, uird dazu ge¬
hörte mit Anstand die Thüre des Zimmers, in welchem der Vorgesetzte sich
befand, auf und wieder zu zumachen, auf drei Schritt mit angezogenem
Stock an ihn heran zu treten, die Meldung im ruhigen Ernst auszusprechen,
nachdem er sie angehört und mit: es ist gut! mich abgefertigt, wenn er sonst
nicht etwa was zu fragen oder zu befehlen hatte, stramm Kehrt mit hörbarem
Beitritt zu machen und wieder hinaus zu marschiren. So geschah es auch in
Gera, wo mein Hauptmann im Zimmer seiner Wirthsleute sich befand, in
das ich gewiesen war; ich wurde zurückgerufen, machte wieder Front mit hör¬
barem Beitritt und marschirte auf, den Capitän zu. Hier wurde ich von
einer liebenswürdigen nicht ganz jungen F>an gefragt, wo ich un Quartier
läge? Ich sagte es und wurde bedauert, so schlecht untergekommen zu sein;
dem widersprach ich, die Freundlichkeit meiner Wirthsleute anerkennend, die
mich trotz des sichtbaren Mangels recht gut aufgenommen hätten. Die
Dame bat nun meinen Hauptmann , daß er, da sie noch hinlänglichen Raum
habe, erlaube, daß der kleine Mann mit zu ihm in's Quartier käme; er ge-
nehmigte es sehr freundlich und ich lief gleich nach Haufe, um durch meinen
Burschen mein weniges Gepäck hinbringen zu lassen. Ich erhielt ein nieo-
liches Zimmer neben dem meines Hauptmanns, aß noch sehr gut zu Abend
und frühstückte des andern Morgens mit ihm in seinem Zimmer. Hierbei
passirte mir ein Unglück; denn der erste Schluck Kaffee kam mir in die Luft¬
röhre und unwiderstehlich sprudelte ich denselben aus. so daß Alles bespritzt
wurde. Ich war sehr unglücklich. Der Hauptmann aber sagte ruhig: „Sie
müssen Sich mehr in Acht nehmen." Mittags aßen wir zusammen und
tranken dazu rothen Wein, da widerfuhr meinem lieben Hauptmann dasselbe,
was mir beim Kaffee geschehen war, nur in viel schlimmeren Maß. Nachdem
er sich erholt, sagte er: nun sind,w>r quitt. — Im Erzgebirge dicht bei
Freiberg lag ich bei einem Bergmann im Quartier, der einen Sohn »reines
Alters und von meiner Größe hatte, es war wieder Ruhetag, ich kam auf
die Idee, seinen Sonntags-Anzug anzulegen, mich als verunglückten jungen
Bergmann, der durch einen Sturz in den Schacht lahm geworden, »reinem
Hauptmann vorzustellen und ihn um eine milde Gabe zu bitten. Theil-
nehmend griff er nach seiner Börse, um mir ein Geldgeschenk zu verabreichen,
da platzte ich lachend heraus: „kennen Sie mich wirklich nicht. Herr Haupt¬
mann?" ^- „Eulenspiegel." sagte er. „nein." Ich bat ihn nicht böse zu sein
und empfahl mich. Ich erzähle diese kleinen Züge nur, um den liebenswür¬
digen Charakter desselben erkennen zu lassen.
So ging der Marsch fort bis nach Llankenburg bei Rudolstadt. wo wir
etwa am 9, October ankamen. Das Bataillon hatte unter dem General
Pelee, welchem noch das sächsische Husaren-Regiment beigegeben war, die
Bestimmung eines Seiten-Detachements der Avantgarde des Hohenlohschcn
Corps erhalten. Daß wir aber so nahe vor dem Feinde standen/ wußte
keiner, ich bezweifle, daß es unser Führer gewußt, sonst würden wohl die
Offiziere, unter denen ich mich viel befand/ etwas erwähnt haben. Am
U). October wurde mit einem Male Alarm geblasen. In wenigen Minuten
war das Bataillon beisammen/ es rückte vor der Stadt eine Höhe hi'Nan,
ÄnK es hieß, der Feind sei da, gleich winde das Gefecht angehn. Die vor
uns liegende Höhe entzog uns jede Aussicht. Die Schützen wurden vorge¬
nommen, das Bataillon marschirte in Linie auf. ich stand auf dem rechten
Flügel. MerkwArtzig W'ar mir, daß ich unsere schützen nicht sah. die doch
vor uns sein mußten, wie ich beim Exerciren stets gesehen hatte. Ich hörte
eigne pfeifende Töne, die ich mir nicht erklären konnte, und wurde a-uf Meine
Frage von einem älteren Soldaten, einem Ausländer, der von den Oestreichern
zu uns gekommen und dort schon mit gefochten, belehrt, daß dies die
feindlichen Kugeln seien. Ich wollte das nicht glauben, er meinte aber , ich
würde 'es zeitig genug gewahr werden; zu meinem Troste setzte er hinzu:
,,d>e'Kugeln, die man pfeifen hört, sind vorbei, die. welche treffen, hört man
nicht." In demselben Augenblick blutete mein Nebenmann, der Flügelmann,
im Gesicht und liai zuviel, er war verwundet. Nun sing mir das Herz ge¬
waltig an zu klopfen, doch hatte ich keine Zeit zu langem Ueberlegcri; denn
wir finge« an zu schießen, indem eine Salve gegeben wurde. Noch hatte ich
keinen Feind gesehen, schoß aber tapfer mit. als auf einmal der Befehl zum
Rückzüge gegeben wurde. Dieser wurde etwas wild angetreten, nicht durch
die Stadt, sondern um dieselbe herum. Plötzlich hemmte ein ziemlich breites
Gewässer unsern Rückzug. „Wir müssen durch." rief em Hauptmann von
Gall, Chef der 3. Compagnie, und sprang zuerst ins Wasser, ich ihm nach,
und die übrigen folgte». Die ersten drei bis vier Sprünge ging es ganz
gut. aber mit einem Male schlug das Wasser über mir zusammen. Glücklicher¬
weise bemerkte dies einer und faßte mich beim Kragen, und da ihm das Wasser
nur bis an den Hals ging, so trug er, mich so fest haltend, den kleinen Ka-
- Meradcn glücklich bis ans andere Ufer. Hier sammelte sich das Bataillon
vom Feinde unverfolgt, und es ging im raschen Schritt weiter. Triefend
naß. die Kleider dreimal, so schwer als gewöhnlich, ermüdete ich bald, den
Tornister warf ich weg und schleppte n»es so gut es gehen wollte soll. Unter
den sächsischen Husaren, die sich zu uns gefunden hatte», erregte ich die.
Theilnahme eines Offiziers Namens von Selchvw wegen meine» Kleinheit
und sichtlichen Erschöpfung im hohen Grade; er forderte mich auf. ihm mein
Gewehr zu geben, das mir zu schwer wurde, ich verweigerte es. indem ich
sagte: „Nachher reiten Sie weg. wenn es los geht, und ich verliere mein'
Gewehr." Er versicherte, es nur wieder geben zu wollen, stieg ab, ließ mich reiten
und ging zu Fuß und trug mein Gewehr. Nachdem ich mich ausgeruht, gab
ich ihm das Pferd zurück, er bestieg es, bestand aber darauf, mein Gewehr
noch weiter zu tragen. Auf das Zureden eines unserer Offiziere, die, da sie
ihre Pferde beim Beginn des Gefechts zurückgeschickt hatten, ebenfalls zu Fuß
gehen mußten, ließ ich dem Lieutenant die Muskete. Ich habe aber weder
ihn noch mein Gewehr je wieder gesehn.
Der Rückzug wurde nach Stadt Ilm fortgesetzt, welches wir gegen 2 Uhr
des Morgens erreichten. Das für mich Merkwürdige war. daß meine Kiel,
der ganz trocken geworden waren. Wir bivouakirten in den Stadtgraben von
Ilm. blieben diesen Tag und den folgenden dort liegen und ruhten ordentlich
aus. Wir hörten von dem unglücklichen Gefecht von Saalfeld und dem Tode
des Prinzen Louis Ferdinand, der die Avantgarde befehligt hatte, und diese
Nachrichten hoben unsern Muth keinesweges. Am 13. October des Morgens
brach das Bataillon wieder auf. Als wir den Marsch angetreten hatten,
sah ich den Chef unserer Füsillerbngade, den General Pelee. wieder an unse¬
rer Spitze, der sich seit dem 10. nicht Halle blicken lassen, wo die letzten Worte,
welche ick von ihm gehört halte, die gewesen waren, „was zu halten war, haben
wir gehalten." Ich marschiru als Flügelunterofsizier ebenfalls an der Tete
und konnte Alles hören, was er zu unserem würdigen Cotnmandeur. dem
alten Obersten Schuler von Senden sagte. Wir hatten die Bestimmung er«
halten nach Jserstädt und Bierzehn heiligen uns zu dirigiren. um da aufgestellt
zu werden. Merkwürdig ist mir die immerwährende Wiederholung dieser bei¬
den Namen geblieben. Wir hatten keine hundert Schritte zurückgelegt, als
der General sagte: „Jserstädt und VierzehnheUigcn". nach ein paar Minuten
wieder: „Jserstädt und Bierzehnheiligcn," und so ging es fast zwei Stunden
fort, bis wir angekommen waren. Ich fand das so komisch, daß ich es nie
vergessen habe.
Wir standen auf dem äußersten Vorposten dem Feinde gegenüber, den ich
hier zum ersten Male sah. Der ganze Tag ging mit Herumschießen auf die
einzelnen Posten der Franzosen hin, indem einige Offiziere, die Jäger und
gute Schützen waren, sich bemühten, die etwa 5—600 Schritt uns gegenüber¬
stehenden einzelnen Posten zu treffen. Des Abends verließen wir unsere
Stellung, und die Compagnie besetzte ein Gebüsch, in welchem wir bivoua-
klltcn.
Beim Anbruch des verhängnißvollen 14. Octobers standen mehrere Offi¬
ziere. unter denen mein Capitän und auch ich mich befand, am Wachfeuer,
um sich zu wärmen. Die Offiziere unterhielten sich von den Begebenheiten
des vergangenen Tages und stellten die Frage: ob es heute etwas Ernstliches
>-<>.^.
geben würde? Einige vermutheten es. andere waren der entgegengesetzten
Meinung. Der Hauptmann von Luck. ein sehr unterrichteter Offizier, sagte,
er glaube, daß heute etwas Entscheidendes geschehen würde. In dem Augen¬
blicke kam ein Füsilier Namens Kowalsky und brachte etwas Brot und Knack¬
wurst, die er aus einem Sacke nahm und den Offizieren und dem Hauptmann
davon anbot. Als dies theils angenommen, theils abgeschlagen und mock
darüber gesprochen wurde , wo er die Lebensmittel her habe, fuhren Kugeln
in das Feuer, im selben Moment dröhnte ein Kanonenschuß (dies waren kleine
Kartätschen) und bald nachher folgte Schuß auf Schuß. Alles wich zurück,
um sich in Reih und Glied zu stellen. Dies konnte nicht einmal ausgeführt
werden; denn Kanonenkugeln sausten in das Gehölz, große Aeste sielen von
den Bäumen, und Jeder suchte so schnell als möglich in entgegengesetzter Rich¬
tung das Wäldchen zu verlassen. Als dies auch mir gelungen war und ick
aufs freie Feld kam. verdeckte ein undurchdringlicher Nebel die Gegend, so
daß man nicht zehn Schritte weit sehen konnte. Ich hörte eine Stimme,
welche rief: „Füsiliere hierher, hierher Füsiliere!" Ich folgte dem Schalle und
erreichte einen Offizier, den Lieutenant von Rudorf von unserm Bataillon,
der sich bemühte, die Fliehenden zu sammeln. Da sank der 'Nebel, man
konnte um sich sehen, und ich befand mich beim Lieutenant von Rudorf, dem
es gelungen war, 60—80 Mann des zerstreuten Bataillons zu sammeln, wobei
ihn ein anderer Offizier, der Lieutenant von Gerresheun, unterstützte. Nach¬
dem die Leute geordnet waren, sahen wir vor uns auf einige Hunden Schritt
Entfernung eine lange Linie unserer Truppen aufmarschirt, wir gingen darauf
zu un fanden, daß es das Infanterie-Regiment von Grawert war. dieser
General, oder vielleicht der Fürst von Hohenlohe selbst ritt vor der Front hin
und her- Der Lieutenant von Nudorf girig an ihn heran und meldete ihnr. das
Bataillon habe auf Vorposten gestanden und sei auseinander gesprengt wor¬
den; er habe diese Leute gesammelt und bäte nun um Erlaubniß, sich dem
Regiment anschließen zu dürfen. Dies wurde gewährt und ihm befohlen, sich
auf dem linken Flügel der Truppe aufzustellen.
Kaum hatten wir diesen Posten eingenommen, so wurde mit der ganzen
mir nach rechts unabsehbar scheinenden Linie avancirt. Wir waren ungefähr
200 Schritt vorgerückt, als Halt gemacht wurde und das Pelotonfeuer be¬
gann, begleitet von den Schüssen der Regimentskanonen, die in den
Zwischenräumen der Bataillone standen. Das Feuer war sehr ruhig, dauerte
eine ganze Weile, und ich vernahm deutlich das Commando der zugsührenden
Offiziere. Dann wurde es plötzlich still, und ich hörte einen vorüberreitenden
Offizier sagen: „der Fürst will jetzt mit der CavaUerie den Feind zu werfen
suchen." Mit einem Male kam hinter uns eine Menge Reiterei angetrabt,
welche durch die Lücken der Bataillone ging und sich vor der Front zum An-
,
griff formirte, der auch stattfand. a'>er wohl mißlungen sein muß; denn
das Feuer der Infanterie sing wieder an. Doch schoß man nicht mehr Pe-
lotonweise. sondern es war das sogenannte Heckenfeuer. Dies dauerte ge-
raume Zeit, wohl eine Stunde lang. Ich sah jetzt Verwundete und Todte am
Boden liegen. Da wurde der Befehl zum Rückzug gegeben, aber das war
auch das Signal, daß Alles in wilder Flucht davonlief. Viele Stimmen
schrien „Halt! Halt! Halt!" aber es war kein Sta d mehr. Ich war unter
unsern Füsilieren. Vergebens rief auch ich mit meiner Knabenstimme, da dachte
ich: man muß den Vordersten zum Stehen bringen. Ohne Tornister, ohne
Gewehr, leichtfüßiger als All»', gelang es mir. den vordersten Mann zu über¬
holen, und da er nicht stehen bleiben wollte, gab ich ihm mit meinem Stock
mit aller Kraft, deren ich fähig war. einen Schlag vor den Bauch, daß er
zusammensank — (der Mann hieß Tckwedarsky). ES sammelten sich jetzt
einige zwanzig Mann um uns. dock sah ich keinen Offizier dabei. Plötzlich
ergriff mich ein großer Füsilier Namens Feldmann beim Arm und rief wü¬
thend aus: „Herr Junker! hier schlägt man nicht mehr. Unterstehen Sie Sich
das noch einmal, so schlage ich Sie hier mit der Kolbe todt." Ich erschrak
zum Tode und sagte nur: „Warum wollte er nicht stehen?" —
Mit einem Male singen die Leute wieder um zu laufen, ich lief natürlich
mit, und sieh da. plötzlich befand ich mich mitten unter französischen Ehasseurs.
Wo sie hergekommen waren, weiß der liebe Gott, sie waren da wie aus der
«5rde gewachsen, ritten neben, hinter und vor mir her. bald hier bald da einem
Füsilier eins mit dem Pallasch versetzend, mich aber gar nicht beachtend, so
daß ich einen Augenblick dachte: wenn mir Einer so einen kleinen Schmiß in's
Gesicht gäbe, daß man es nachher sehen könnte, so ginge das schon an; doch
kam ich von dieser knabenhaften Eitelkeit im selben Augenblick zurück und
dachte nur noch an meine Rettung. Ich befand mich am Rande eines tiefen
Ravins mit lehr steilen Böschungen, das vielleicht fünfzig Schritte breit, und
hundert Schritt tief war. und begreifend, daß keine Cavallerie hier nachkomme,
stürzte ich mich hinunter, kletterte mit Mühe an der andern Seite hinauf und
drehte mich dann um, um in ziemlicher Sicherheit zu verschnaufen und dem
Gefecht auf der andern Seite der Vertiefung ruhig zuzuschauen. Indem ich
mir dann überlege, wohin ich mich wenden soll, sehe ich zu meiner Freude
auf die Entfernung von etwa zweitausend Schritt eine unabsehbare Linie von
frischen Truppen; es war, wie ich nachher erfuhr, das Armee. CorD des
Generals von Runde!.. Als ich. ganz allein, auf diese Truppe zuschritt,
wurde ich angerufen und sah vor mir einen Offizier, den Lieutenant von G..
der sich niedergelegt hatte, um auszuruhen. Ich legte mich zu ihm und sagte:
„Mein Gott. Herr Lieutenant, was soll aus uns werden?" — „Das weiß
Gott," erwiderte er. In dem Augenblick bemerkte ich auf etwa hundert
>qni.!.
Schritt von uns einen Dragoner vom Regiment? Prittwitz. welcher ein Beute¬
pferd an der Hand hatte. Ich strengte meine Stimme, so sehr ich konnte, an
und rief ihn herbei. Zu meiner Freude, hörte er mich und kam heran; als
er nur noch ein paar Schritt von mir war, sprang ich auf und sagte zu ihm:
„Lieber Dragoner, nehm' Er mich mit." Da erhob sich auch der Herr Lieu¬
tenant und befahl: „Dragoner, nehm' Er mich mit!" „Nein." sagte der Reiter,
„ich werde lieber das Kind mitnehmen, Sie haben lange Beine, Herr Lieute¬
nant, und kommen schon noch fort." damit faßte er mich hinten beim Kragen
und hob mich in die Hohe, weil ich die Bügel nicht erreichen konnte. Kaum
saß ich im Sattel und hatte meine Füße in die Steigriemen gestellt, weil die
Bügel für mich viel zu lang waren, so ging es fort im Galopp eine ganze
Strecke lang. Der Dragoner führte das Pferd an der Kandare, mir die
Trense überlassend. Dann singen wir an zu traben; das incommodirte mich
sehr, ich trieb mein Pferd Galopp zu gehen; aber der Dragoner litt das nicht,
mich belehrend, das hielten die Pferde nicht lange aus. Es wurde also ge¬
kräht. Davon aber bekam ich Milzstechen, so daß ich um Gottes willen bat,
ein wenig Schritt zu reiten. Mein Führer hielt aber Eile für nöthig, und
das unglückselige Traben sing wieder an und damit auch das fürchterlichste
Seitenstechen.
So jagten wir geraume Zeit fort. Wenn die Schmerzen bei mir gar zu
arg wurden, ging es wieder ein Stückchen im Schritt, dann wieder scharfer
Trab, bis wir auf diese Weise Weimar glücklich erreichten. Am ri. hatten
wir noch Tractament empfangen. 14 Groschen auf fünf Tage, davon hatte
,es noch 8; ich kaufte mir eine Semmel und ein paar Aepfel und fand die
Bagage unseres Bataillons, welche »n vollen Rückzüge war. Der Lapitain
et'g.renes der Compagnie nahm mich auf den Wagen und gab mir em Com-
misbrot, von dem ich gemüthlich zehrte. Eine Stimme rief plötzlich-. „Ach
Herr Junker, geben Sie mir doch etwas Brot." Ich blickte auf und sah in
dem Bittenden einen hübschen jungen Unteroffizier vom Regiment Gettkand-
Husaren. Ich gab, ihm das halbe Brot, und da ich bemerkte, daß er ein
schönes französisches Ofsizierspferd. das er erbeutet, bei sich führte, bat ich
ihn, mich auf demselben mitzunehmen. Er zeigte sich sogleich bereit dazu,
stieg ab, schnallte mir die Bügel kurz, half mir hinauf und bewies in allen
Stücken, daß er ein junger Mann von Erziehung war; rund überließ er mir
das Pferd allein. So war ich denn wieder im Sattel trotz der früher aus-
gestandenen Höllcnschmcrzen. Dazu hatte mich eine kurze Reflexion bestimmt,
als ich so auf dem Compagnicwngen saß und mein Commisbrot verzehrte,
und die Unmasse von Fuhrwerken aller Art sah. welche die Chaussee anfüllte.
Mein Gott! hatte ich gedacht, wie wird das werden? wenn diese Wagen
mit einem Male anfangen schnell zu fahren und jeder suchen wird vor dem
,.
andern vorbei zu kommen, wenn hiev der Feind kommt? Dann bin ich auf
dem Wagen verloren! — So ritten wir denn ganz gemüthlich im Schritt auf
Erfurt zu. als mit einem Male hinter uns der Ruf erscholl: die Franzosen,
die Franzosen kommen! — Nun hätte man dies Fahren, dies Umwerfen,
dies Strängcabsckncidcn, dies Plündern der umgeworfenen Wagen :c. sehen
sollen. Keine Feder vermag dies Wirrsal. diesen allgemeinen Schrecken zu
schildern, ich bekam damals einen Vorgeschmack von dem mir später deutlich
gewordenen sg-nos qui xeut der Franzosen. Wie glücklich fühlte ich mich zu
Pferde! — Mein Brauner ging einen prächtigen Galopp, aber das litt mein
artiger Unteroffizier nicht lange; er nahm das Pferd am Zügel, das gräfliche
Traben sing von Neuem'an. und mit diesem stellten sich bald die schrecklichsten
Milzstiche wieder ein. Er belehrte mich, ich solle Geduld haben, man stürbe
nickt daran, und wenn ich es nur eine Weile aushielte, würde es aufhören
und nie wieder kehren. Mein Persuch bewies, daß er Recht hatte, es wurde
abwechselnd Schritt und Trab geritten, das Milzstechen ließ nach, und die
sechs Stunden bis nach Erfurt wurden von uns in zweien zurückgelegt. Hier
noch vor Anbruch der Finsternis! angekommen, verließ ich mit herzlichem Dank
meinen Husnrcnunteroisizier. dessen Namen ich nicht einmal weiß, und suchte
auf dem nachhause ein Quartierbillet. Auf dem Wege dahin ging ich vor
dem römischen Kaiser, einem großen Gasthofe, vorbei und sah vor demselben
einen Offizier des Bataillons, den noch jetzt lebenden Generallieutenant von
B...e, der sich meiner freundlich annahm und, als er erfuhr, daß ich
den Tag über nichts als etwas Semmel, Aepfel und Brot gegessen hatte,
mir im Gasthof zu essen geben und auch ein Quartierbillet besorgen ließ. Er
war in einem Arm verwundet und trug ihn in der Binde. Nie habe ich
seine Freundlichkeit vergessen und bin ihm heut als 70jähriger Greis noch
dankbar dafür. Ich suchte dann bald mein Quartier auf, das bei armen,
aber freundlichen Bürgersleuten war, wo ich in einem kleinen Stübchen vorn
heraus ein reinliches gutes Bett fand und mit der Sorglosigkeit der Jugend,
mich in einer Festung vollkommen sicher wissend, bis an den hellen Morgen
schlief. Ich hörte Geräusch auf der Straße, sah zum Fenster hinaus und
erfuhr, daß befohlen. Alles, was nicht zur Garnison gehöre, müsse die Stadt
verlassen. Nachdem ich ein kleines Frühstück eingenommen, verließ ich Er¬
furt auf der Straße nach Langensalza zu.
Ich mochte etwa eine halbe Meile fortgewandert sein, als ich auf Offi-
ziers-Packkucchte vom Regiment Kalkstein mit den Pferden ihrer Herrn traf.
Ich bat sie, mich auf einem derselben mitzunehmen, wozu sich einer entschloß,
nachdem ich ihm den Nest meiner kleinen Baarschaft der in 8 Groschen bestand
gegeben hatte; für 4, die ich ihm bot, wollte er sich nicht dazu verstehen.
So kam ich nach Langensalza sechs Stunden von Erfurt, weiter wollten mich
die Leute nicht mehr mitnehmen, wenn ich nicht mehr Geld gäbe, und da
ick keins mehr hatte, ging ich wieder zu Fuß. Hinter Langensalza holte mich
ein alter Unteroffizier vom Regiment Holzendorf-Cuirassiere ein, der auch ein
Beutcpferd mit sich führte. Ich hatte nicht den Muth, ihn um das Mit¬
nehmen anzusprechen, aber so grimmig er aussah, er bot es mir an. So
kamen wir in die Nähe von Nordhausen, vor welcher Stadt mehrere große
Wassermühlen mit stattlichen Wohnhäusern sich befanden. In eine dieser
Mühlen, welche sich besonders auszeichnete, ritt mein Unteroffizier hinein,
forderte ohne Umstände Futter für seine Pferde und zu essen für uus. Bei-
des wurde mit der die Thüringer auszeichnenden Gastfreundschaft von der
Frau des Hauses, die allein zu sein schien, freundlich verheißen, und wäh¬
rend der Unteroffizier seine Pferde besorgte, führte mich die Frau aufs Zuvor¬
kommendste in ein schön möblirtes Zimmer, welches die Putzstube zu sein
schien, und brachte bald einen Imbiß nebst einem guten Nordhäuser Schnaps.
Wir aßen tüchtig, und nachdem die Pferde gefüttert und wir gesättigt waren,
führte der Unteroffizier jene vor und trieb zur Eile, indem der Tag sich zu
neigen begann.
Ich war bereits zu Pferde, und der Unteroffizier schwang sich in den
Sattel, als die gütige Wirthin eilig in die Thüre trat und eine Uhr zurück¬
verlangte, die aus der Stube verschwunden wäre und unter dem Spiegel ge-
hangen hätte. Ich glaube, ich hatte die Uhr. eine goldene, selbst hängen
sehen. Empört, forderte ich meinen Begleiter auf. sie herauszugeben, denn
er habe sie gewiß — da zog der Mensch seinen Pallasch und sagte: „Herr,
ich haue Sie zu Kraut und Rüben, wenn Sie nicht machen, daß Sie fort
kommen." Ich sing an zu weinen und folgte seinem Befehl, ihn um Scho¬
nung bittend. Wir ritten davon. Verwünschungen begleiteten uns. Als wir
die Stadt erreichten, war es finster geworden, in allen Fenstern war Licht, ich
benutzte eine enge Gasse, wo zwei Pferde kaum durchkommen konnten, sprang
von dem meinigen, ließ es lausen und sagte: „Ich danke für das Mitneh-
men. mit so einem Schurcken mag ich weiter nichts zu thun haben" und lief
davon.
Ich fragte nun nach dem Rathhause, um ein Quartierbillet zu erlangen,
aber es war für mich kleinen Menschen keine Möglichkeit, durch das große
Gedränge durchzukommen, da die Stadt bereits voll von Flüchtlingen gleich
mir war; ich verließ also das Rathhaus, indem ich mir vornahm, im ersten
besten großen Hause, dessen Besitzer mir wohlhabend schien. Um Aufnahme
für die Nacht zu bitten. Da faßte mich Jemand an und rief: „Ach, Herr
Junker, sind Sie es?" und ich erkannte meinen treuen Burschen, Namens
Nißmann, er siel mir um den Hals und weinte vor Freude, daß ich glücklich
davon gekommen. Ich bat ihn. bei mir zu bleiben und mich nicht mehr zu
verlassen, was er versprach. Dann sagte ich ihm meine Idee wegen des
Unterkommens für die Nacht, und er fand sie klug. ^
In dem Moment befanden wir uns vor einem schönen großen Eckhause,
worin ein Kaufladen war; wir traten hinein, und nachdem ich erfahren, daß
der Kaufmann der Besitzer des Hauses sei. erkundigte ich mich, ob ich nicht
die Ehre haben könne, den Herrn zu sprechen? Einer der Diener ging ihn zu
rufen, und er erschien alsbald. Es war ein kleiner freundlicher alter Herr,
dem ich meine Lage schilderte und um Ausnahme für die Nacht bat. Mit
großer Herzlichkeit gewährte er meinen Wunsch und bat mich einzutreten, fügte
aber hinzu: „Sie allein, für den Mann habe ich keinen Raum, da ich schon
einen Hauptmann mit mehrern Lenien im Quartier habe/' Darauf erwi¬
derte ich: ich könne dann von seiner Güte keinen Gebrauch machen, indem
dies mein Bursche sei, den ich eben erst wieder gefunden habe. Aber der
treue Mensch nahm das nicht an. sagte, er würde schon unterkommen, er sei
froh, mich so untergebracht zu wissen, des andern Morgens früh wolle er
mich abholen, das Haus werde er schon wieder finden. So trat ich denn in
ein hübsches Znumer, in welchem sich zwei junge Damen und ein Hauptmann
vom Grenadier-Bataillon FaHeck besand, die Mich freundlich zum Sitzen und
Essen nöthigten, bei van sie gerade waren. Nachdem ich Bescheid gegeben,
wer ich se, und wie ick vom Schlachtfelde glücklich weggekommen, fing ich
an zu essen, schlief aber nach den .ersten paar Bissen ein; ich wurde geweckt
und auf's Sopha genöthigt, woraus ich bald wieder einschlief. Man ließ
mich schlafen und weckte mich erst gegen zehn Uhr. wo die eine von den jun¬
gen Damen, Braut eines H"errn von Bila von den Anspach'schen Husaren,
mich aus ein hübsches kleines Zimmer führte, indem sie sagte: ich trete
Ihnen mein Stübchen ab, weil wir keinen Platz haben, ich werde bei meiner
sorgen, was ,r versprach. Mein Bursche hatte sich nicht sehen lassen, wahr¬
scheinlich war er. sewe Flucht wener fortsetzend, sehr früh aufgebrochen.
Kaum hatte, ich gefrühstückt, als Alarm geschlagen wurde. Ich ging »ut
dein Capitcun zu dessen Compagnie, die alsbald zur Stadt hinaus abmar-
schirte. Der Hauptmann bekümmerte sich nicht um mich, ick s»b bei den
lich mit fortkommen würde. Indeß blieb ich bis über eine halbe Meile bei
ihnen, da stand das Regiment „Prittwitz-Dragoner aufmarschirt. war abge¬
sessen und fütterte ans Beuteln, Bei diesem Regiment, das in Haman in
Garnison gestanden, kannte ich einen Herrn von A..... n, einen Freund
meines Onkels, den suchte ich auf und bat ihn. mich mitzunehmen, was er
ohne große Umstände that. Er war von Herzen ein sehr guter Mensch, gab
mir ein frommes Pferd und sorgte auf dem Marsche für mich, indem er mich
mit in sein Quartier nahm. Letzteres geschah aber nur ein Mal auf ein
paar Stunden; denn die Renrade wurde ununterbrochen fortgesetzt 2 Tage und
2 Nächte hindurch bis nach Magdeburg. Mein Pferd, eine Schenke, verließ
seinen Platz nicht, und wenn ich gar zu müde wurde, schlang ich meine Arme
um seinen Hals, legte mich auf denselben und schlief, ohne herunterzufallen,
manche Meile, was bei dem beschwerlichen Marsche über den Harz gewiß sehr
viel war.
In Magdeburg angekommen, erfuhr ich, daß «nein Bataillon eine halbe
Stunde von da auf einem Dorfe stünde. Ich ging sogleich dahin und wurde
mit großer Freundlichkeit von meinem Hauptman» empfangen, der mich schon
aufgegeben Halle. Unser Bataillon halte Ruhetag, es war nicht mehr allein,
das BalaiUon von Rüste, dessen Commandeur der Saalfeld gefangen wor¬
den, hatte sich angeschlossen, und von dem 3. Bataillon von Nabenau, dessen
Führer, wenn ich nicht irre, geblieben war. hatten sich etwa 200 Mann ein-
gefunden. Alle zusammen standen nun unter dem Kommando des Obersten
Schuler von Senden. Vom General v. Pelel wußte man seit Iserstädt und
Bierzehnheiligen nichts.
Anderen Tages, den 19. oder 20. October. marschirten wir durch Mag¬
deburg, um Munition und Brot zu empfangen. Wir lagen von Morgens
bis Nachmittags 2 Uhr in der Vorstadt an der Straße nach Berlin bei zu¬
sammengesetzten Gewehren und hungerten im wahren Sinne des Worts.
Mein Hauptmann und ich hatten unsern Standort vor einem kleinen, aber
hübschen Hause; aus diesem kam ein sehr anständig gekleideter Mann, wandte
sich an den.Capitän und fragte ihn schüchtern, ob er sich erlauben dürfe, ihm
ein frugales Mittagsessen, freilich nur in etwas Suppe und wenig Fleisch
bestehend, anzubieten. Es wurde dankbarst angenommen und ich aufgefor¬
dert mir hineinzukommen; wir setzten uns zu vier an den gedeckten Tisch,
aber als vorgelegt wurde, machte ich die furchtbare Entdeckung, daß es
eine Kalbfleischsuppe mit Reis und Kartoffeln war. ein Wen, das ich bis
dahin nie im Stande gewesen war hinunter zu bringen. Diesem Widerwillen
jetzt nachzugeben, wäre aber eine Undankbarkeit gegen unsern freundlichen
Wirth gewesen, ich überwand mich, was um so leichter wurde, als ich ge¬
waltig ausgehungert war, und siehe da, nach dem ersten Löffel schmeckte mirs
fogstr vortrefflich. Seit dieser Zeit konnte ich Alles essen, was mir in der
Folge sehr zu Statten kam. Endlich kam draußen Brot an . das kochend heiß
war. aber Munition war vom Gouverneur verweigert worden, weil er sie
nicht entbehren könne. Unser Munitionswagen so wie unsere Bagage war
bei Weimar verloren gegangen, und so mußte der weitere Rückzug ohne Pa-
tM-n angetreten werden.
Der Marsch ging zunächst nach Burg. 3V, Meile von Magdeburg, wo
damals meine Eltern lebten. Gern hätte ich meinen Hauptmann um Urlaub
yebet^ z^r, einern kurzen Besuch , allein ich fürchtete seine Drohung, er werde,
wenn ich in die Rasse meines Vaters käme, mich bei ihm zurücklassen, und
so suchte ich meine Absicht auf einem anderen Wege zu erreichen. Da das
Bataillon noch weiter marschirte. bis nach Rehen. einem Dorfe eine kleine
Meile hinter Burg auf der Straße nach Genthin. so blieb ich schon vor der
A«d.l in einem Dorfe Deters.ha.gen, zurück, ruhte mich dort beim Prediger,
dessen Sohn mein intimster Jugendfreund war. aus. aß zu Abend und kam
Abends rin.H 1! Uhr bei meinen. Eltern an. Die Ueberraschung meines Va-
unh, jrjglejch die ängstliche Sorge desselben , wie ich meinem Truppentheil
nachkommen solle, zu schildern. vermag ich nicht. Zuletzt gelang es mir,
ihn zu beruhigen, indem ich ihm vorstellte, es würde am andern Morgen
gewiß gelingen Pferde zu erhalten, um mich dem Bataillon nachzubringen.
Darin täuschte ich mich jedoch. Umsonst waren alle unsere Bemühungen,
Herde zu bekommen, und ich mußte mich endlich zu dem Versuch entschließen,
zu. Fuß dem Bataillon nachzugehn. Da wurde an das Fenster des im Erd¬
geschoß liegenden Wohnzimmers geklopft und gefragt: ob hier nicht Hr. v.
C-........ z wohne? ich erkannte die Stimme, sie gehörte dem alten
treuen Bedienten unsers Reguncntsquartiermeisters Löper, welcher ein Freund
u>eines Onkels und dem ich besonders empfohlen war. Ich rief sogleich:
„Ja. Puff (so hieß er), kommt nur herein." Er war es mit dem Wagen
seines Herrn und in Begleitung unsers Büchsenmachers und dessen Frau.
Die Leute kamen herein, es wurde ehren ein tüchtiges Frühstück vorgesetzt,
und da e,s inzwischen Heller Tag geworden war. brachen wir auf. Jede
fernere Sorge meines, Vaters um mich beseitigte ich, indem ich ihn auf
diesen neuen Beweis des allmächtigen Schutzes, der über mir waltete, auf¬
merksam, machte und mit. Zuversicht dies auch für die Folge erwarten zu
dürfen behauptete. Mein Glaube hat mich nicht getäuscht, denn in den fol¬
genden Kriegen bin ich vielen Lebensgefahren glücklich entgangen. Der Ab¬
schied von meinem Vater war mir viel schwerer, als wie ich das erste Mal
das väterliche Haus verließ.
Das Bataillon erreichten wir des Abends in einem Dorfe 4'/- Meilen
von Burg, eine Meile hinter Genthin. Folgenden Tages marschirte ich mit
dem Bataillon, das sich auf Zebdc.mal dnignto. wo wir den 2^ Tag daraus
gegen Abend einrückten. Wir waren kaum angelangt, als sich mit einem
Male die Nachricht verbreitete, daß französische Cavalerie unsern Wettermarsch
hinderte. Man machte Halt, und es war die Rede davon, daß wir vorrücken
sollten; da wir aber keine Patronen hatten, so wurde nichts daraus. Zu
uns hatte sich noch das Regiment Königin-Dragoner unter Führung des
Obersten von Schäffer gefunden, sowie das braune Husaren-Regiment unter
dem General Schimmclpfenig v. d. Oye. Die Dragoner rückten vor nebst
den Husaren, es entspann sich ein blutiges Gefecht, in welchem vorzüglich die
Dragoner viel litten; ich hörte nachher, sie hätten an 500 Pferde und eine
Menge Offiziere verloren; indeß hatten sie uns freie Bahn gemacht, wir
kamen in einen Wald, es wurde finster und die Truppe setzte ihren Marsch
ununterbrochen die Nacht hindurch fort. Die Husaren trennten sich von uns
und haben später bei Prenzlau capttulirt, unsere Füsiliere schlössen sich an
die Dragoner an.
Es mochte gegen 1 Uhr nach Mitternacht Sinn, da konnte ich acht weiter.
Wagen waren nicht da, und so blieb ich ganz erschöpft dicht am Wege liegen,
um etwas auszuruhen. Ich war sogleich eingeschlafen, und als ich Erwachte,
war der Tag eben angebrochen. Ganz steif von der im Freien im October
schlafend zugebrachten Nacht, machte ich mich auf den Weg und schleppte mich
mühsam vorwärts, etwas zum Frühstück wünschend. Der Wald hatte bald
ein Ende, ich mochte etwa eine Stunde gegangen sein, und es war nun
Heller Tag geworden, als ich Wagengeräusch hinter mir hörte. Es war ein
Bagagewagen in Begleitung von zwee braunen Husaren, die mich aus meine
Bitte mitnahmen. Sie wußten nicht wohin? Ich sagte ihnen, daß ich ge-
hört, der Rückzug ginge nach Schwebt. Im ersten Dorfe kehrten wir auf
einem Edelhofe ein, um uns nach dem Wege und der Entfernung bis Schwebt
zu erkundigen, auch um etwas zu Essen zu bitten. Dies wurde für Roß und
Mann sehr gastfrei und reichlich gegeben, aber zugleich erfuhren wir, die
Brücke bei Schwedt set abgebrannt und wir könnten dort nicht mehr über die
Oder, doch hätten wir nicht viel weiter nach Stettin, das wir noch zeitig
bei Tage erreichen würden. Nachdem wir alle gehörig ausgeruht und gesättigt
waren, ging es munter vorwärts, und so kamen wir schon des Nachmittags
nach Stettin. Aus der Commandantur erfuhr ich, daß unser Chef, der Ge.
neral von Pelee, in Stettin sei, worauf ich mich zu ihm begab, um mich zu
melden. Als ich kaum in das Zimmer getreten war und meine Meldung
ausgesprochen hatte, trat der Lieutenannt von B. . . e. den Arm noch in der
Binde, ein und meldete dem General: Der Oberst von Schuler ließe dem
Herrn General melden, daß sich die Bngo.de in Damm, eine Meile von
Stettin, befände und seine Befehle erwarte. Der General erwiederte: „Sagen
Sie dem Oberst von Schuler, daß ich mich freue, diese Nachricht zuhören, er
möge morgen Ruhetag machen, ich werde morgen hinauskommen." Der
Lieutenant v. B . . . e empfahl sich und sagte beim Hinausgehen: „Kommen
Sie mit, Junkcrchen, ich werde Sie mitnehmen." Das geschah, und ich war
glücklich, wieder beim Truppentheil zu sein, verschmerzte gern den wohlver¬
dienten Verweis wegen Meiner wiederholten Absentirung und nahm mir fest
vor. einen solchen mir nie mehr zuzuziehen und lieber bis zum Tode zu mar¬
sch iren.
Dies muß am 28. October gewesen sein, denn des andern Morgens er¬
fuhren wir, daß Stettin an diesemselbigcn Morgen übergeben worden sei und
unser braver General von Jserstädt und Vierzchnhe>ligen capitulirt habe!
Wir brachen sofort nach dieser Nachricht aus und setzten unsern Rückzug
über Stargard und Stolpe nach Danzig fort. Der letzte Verweis meines
Hauptmanns war so ernstlich gewesen (denn er hatte mir, wenn ich noch
einmal zurückbliebe, ohne Erbarmen 20 Fuchtel versprochen), daß ich die Com-
pagnie nicht mehr verlassen habe: aber ich wäre dennoch dieser Strafe ver¬
fallen, wenn mein braver Hauptmann nicht gar so gutherzig gewesen wäre.
Hinter Stolpe in Kassuben erhielt ich ein furchtbar schlechtes Quartier, so daß
ich dort nichts genießen konnte, wenn mein blutarmer Wirth auch etwas zu bieten
gehabt hätte. Ich besuchte einen Kameraden, der in einer Mühle in Vergleich zu mir
prächtig aufgenommen war und so freundliche Wirthsleute hatte, daß sie mir an¬
boten, auch noch zu ihrem Junker ins Quartier zu kommen, >mis ich dankbar an¬
nahm. Da mein Bursche in dem alten Quartier zurückgeblieben war und
des andern Morgens nicht dafür sorgen konnte, daß ich zeitig genug aufstand,
um zur rechten Zeit zur Compagnie zu kommen, so erschien ich bei derselben erst,
als ich schon vermißt und gemeldet war. Der Hauptmann ließ mich vor¬
treten, zog den Säbel und sagte: „nun muß ich doch einmal ein Exempel
statuiren." Ich trat vor, sing aber an zu weinen und sagte: „ach. Herr
Hauptmann. Sie hauen mich ja entzwei." Ob ihm dies und meine
ganze zerknirschte Figur so komisch vorkam, oder er überhaupt nur die Ab¬
sicht gehabt, mich zu schrecken, lasse ich dahin gestellt. Genug, er sing un¬
geheuer an zu lachen und steckte den Säbel ein, meinte aber, es sei dies das
letzte Mal. daß ich so wegkäme, und so entging ich, Gott sei Dank! einer
Strafe, zu der man damals ohne großes Verschulden leicht kommen konnte,
bin auch niemals derselben verfallen.
.»»-l«i<ii' Al»'inet..ijs»! >,i'!ki>inn'!,
7,,iiA ,F i^ZlliliM »i? 6is l
Etwa am 22. oder 23. November rückten wir in Danzig ein. womit die
große Retirade für uns ein End? hatte. Wir glaubten in der Festung bleiben
zu können, aber es wurde uns nur ein Ruhetag gestattet, weil uns der Com¬
mandant General v. Manstein nicht behalten wollte. Wir traten also den
Marsch nach Graudenz an. waren indeß kaum eine Meile marschirt. als wir
Befehl erhielten, nach Danzig zurückzukeh^ Wir
machten infolge dessen Kehrt Und wurden in den Borstädten Stolzettberg Md
Schicdlitz einquartiert. Kaum eine W'vede reich Mserm Eintreffet! N DMzi^
wurde uns mittels Parole-Befehl bekannt 'gemacht, daß unser 'Chef, der Ge¬
neral v. Pelee wegen Mitunttrzeichnurig M Ciipitttlatiön von Stettin M'e
Abschied aus dem Dienst entlassen. resMiv'e casfltt sei.
-'-
Bekanntlich ist es in England Sitte, daß, wenn die verantwortlichen Räthe
der Krone wechseln, zugleich ein Wechsel in der nächsten persönlichen Umgebung deS
Monarchen eintritt. Obgleich scheinbar eine Härte, liegt diese Einrichtung doch im
Interesse des Königthums selbst. Denn sie macht den König weniger seicht zugäng¬
lich für eine Masse von Intriguen, welche immer geneigt sind, den höchsten entschei¬
denden Willen mit einem Netz zu umspinnen und sich zwischen den König üird
seine Rathgeber zu drängen. Die volle Wahrheit zu erfahren, ist für Niematkden
schwieriger, als wer auf den höchsten Spitzen der Gesellschaft steht. Der König ist
weder allgegenwärtig, noch allwissend. Er kann nicht Alles mit eigenen Augen
sehen noch mit eigenen Ohren hören. Von seinem Urtheil aber hängen die höch¬
sten Interessen ab; kein Wunder daher, daß sich immer die Versuche wiederholen,
sein Urtheil zu trüben und ihn über die Thatsachen zu täuschen. Die Minister aber,
welche dafür verantwortlich sind, daß der König die Wahrheit erfahre, müssen da¬
für auch verlangen können,'daß aus der Umgebung des Monarchen solche Personen
entfernt werden, die ein Interesse daran haben, daß er die Unwahrheit glaube.
Zu solchen Betrachtungen haben die Ereignisse der letzten Woche uns reichlichen
Stoff gegeben. Wolmirstcdt und Setzlingen mit der sich daran hängenden scheinbaren
Ministcrkrisis waren in diesen Tagen der Mittelpunkt aller politischen Discussion.
Machen wir uns zuerst die Thatsache klar. Am 6. d. M. sind die Wahlen gewesen.
Am 8. fährt der König zur Jagd nach Setzlingen. Unterwegs, auf dem Bahnhofe
in Wolmirstcdt haben sich die Gewerke und die Mitglieder des Krieger- und Land-
wehrvcreins zum festlichen Empfänge aufgestellt. Der König beauftragt den Bürger¬
meister, den Leuten seinen Dank auszusprechen, und äußert sodann seine Unzufrieden¬
heit mit den Wahlen - des'Kreises, „indem die "hier gewählten Abgeordneten und
vorzugsweise der eine derselben -zu den extremen sogenannten 'Fortschrittsntknttcrn.
die jetzt wieder als Demokraten bezeichnet würden, zu zählen wären; böß solch«
Wahlen'bei'Sr. MOSt^ewe Frevdt. sondern Unzufriedenheit erregt hätten, sei
Wohl sehr "erklärlich." So sind die Worte des Königs in einer officiellen Vckannt-
MächUng des Bürgermeisters Strumpf angegeben, und sind seitdem nicht 'berichtigt.
ÄUU aber paßt dieses Urtheil in Wirklichkeit auf die beiden von dem Wahlkreise
MhlmiMdt-Neuhaldenslc'ben gewählten Abgeordneten nicht. Diese sind der Regie-
rMgsMh Zordan uiid her Kreisrichter Hölzkc. Der Erstere war schon bisher Mit¬
glied ^der Kammer und gehörte zur Fraction Vincke. und zwar innerhalb dieser
Hractivn zu der mehr nach rechts gehenden, sich unbedingt dem Ministerium an-
schließenden Seite. Der zweite Abgeordnete. Hölzkc, ist bis jetzt politisch unbekannt;
n'ach seinen Wahlreden ist er ein Gesinnungsgenosse seines Collegen Jordan und also
Ministeriell. Ihn zu den Demokraten zu rechnen, liegt nicht der leiseste Grund vor.
Dieser Wahlkreis hat also recht eigentlich im Sinne des Ministeriums zu wählen
gedacht. Wenn dennoch dem Könige das Gegentheil vorgespiegelt ist, so früge sich:
wer waren die Berichterstatter? Wer hat dem König über eine so einfache und
offenkundige Thafiachc eine lügenhafte Darstellung gemacht? Die Frage ist von
großer Wichtigkeit, weil eine solche Täuschung sich nur aus der Absicht erklären
läßt, das Verhältniß zwischen König und Volk zu vergiften.
Wir müssen das Lügengewebe weiter verfolgen. Der König kommt nach
Setzlingen. Er empfängt hier die Geistlichkeit der Diöcese Gardelegen und hält an
dieselbe eine Äiirede, welche ein ernstes Wort in Betreff mancher Wahlergebnisse
enthielt Und namentlich auf das vor beiden Extremen warnende Circular des
MiUistets des Jnnetn hinwies. Soviel ist durch eine officiösc Mittheilung über den
Inhalt dieser Anrede zuverlässig begänne. Die Kreuzzeitung aber wußte viel mehr;
sie brachte einen angeblichen Wortlaut, wonach der König im Allgemeinen gesagt
hätte, die Wahlen hätten nicht schlechter ausfallen können, und worin auch der Satz
vorkam- „Man schickt Menschen nach Berlin, welche als politische Verbrecher vervr-
thcilt Md. und welche nur durch die Amnestie die Erlaubniß erhalten haben, zurück«
zukommen." Es erschien von Anfang an unglaublich, daß der König diese Worte
gesprochen habe. Denn es ist kein einziger Abgeordneter gewählt, der durch die
letzte Amnestie berührt worden wäre. Die nothwendige Berichtigung ließ nicht
lange -auf sich warten. Die ministerielle Sternzeitung wurde „von Höchster Stelle"
eMSchtigt, zu erklären, daß der Inhalt jener Anrede in tendenziöser Weise übertrie¬
ben Und-en-tstellt sei und daß namentlich der König den angeführten Satz in keiner
Weise, weder dem Wortlaut noch dem Sinne nach, gesprochen habe. Gleichzeitig mit dieser
Berichtigung laber 'erhalten wir noch zwei andere Versionen der königlichen Anrede, eine im
Gttrvelegener KreisäNzeigcr, und eine zweite in der Magdeburger Zeitung. Diese beiden
Vdrsiönen sollen ans einer gemeinschaftlichen Redaction mehreicr Geistlichen beruhen.
In beiden kommt. Wenn auch in verschiedener Fassung, so doch dem Sinne Aaas
übereinstimmend, der Satz vör. welchen die ministerielle Zeitung .,c>Uf 'Ermächtigung
von Höchster Stelle" -als nicht gesprochen bezeichnet hat. Also das Resultat ist: erstens
VtM König ist über den'Ausfall'der Wahlen ein ganz falscher Bericht erstattet. Und
zweitens, nachdem Man dadurch >dem König einige Aeußerungen der Unzufriedenheit
entlockt hat, wird-mit großer Hartnäckigkeit ein lügenhafter Bericht über die Worte
de« Königs verbreitet.
Viehe ThätsaHen liegen öffentlich vor. Wenn aber so viel an die Oeffentlich-
keit dringt, so ist das ein Beweis, daß im Geheimen hinter den Coulissen noch ganz
andere Ohrenbläscreieu vorkommen. Was wir sehen, ist für uns ein Symptom,.,der
Krankheit, die man anderswo Camarilla nennt. Durch die Wahlen hat die feu¬
dale Partei erfahren, daß sie in dem Kern der Bevölkerung ganz ohne allen Rück¬
halt ist. Da also die Partei jede Hoffnung aufgeben muß, auf geradem Wege
wieder zur Macht zu gelangen, so versucht sie es auf krummen. Die gesellschaft¬
liche Stellung einer Coterie am Hofe wird dazu ausgebeutet, um einen Zwiespalt
zwischen Krone und Volk hervorzurufen, wobei denn ihrer Partei das beliebte Netter-
gcschäft zufallen soll. Für eine gewissenlose und in Jesuitenkniffen geübte Klasse
von Leuten ist die Aufgabe nicht schwierig. Zunächst gilt es, das Volk beim KKf
nig zu verleumden. Also werden dem Volke Absichten beigelegt, welche den König
verletzen müssen. Daß dieser über den Ausfall der Wahlen etwas verstimmt war,
ist leicht zu begreifen. Denn er hat das jetzige Ministerium berufen, nicht etwa,
weil es liberale Neigungen hätte, sondern weil er aus Pflichtgefühl vcrfassungsgc-
treu ist. Aber er fürchtet jede Ueberstürzung nach der liberalen Seite hin und mchx
als Alles sonst ist seit 1848 bei ihm die „Demokratie" stigmatisirt. Ans diesem
Grunde wird die Fortschrittsvartci in den reactiouciren Organen einfach als „Demo¬
kratie" bezeichnet; das ist die leichteste Art sie zu verdächtigen. Ferner erklärt man,
die Majorität der nächsten Kammer bestehe aus Demokraten; man brauchte nur
außer den Fvrtsckvittsmänncrn auch »och die Anhänger, des Ministeriums, ganz
conservative Leute, wie z. B. Präsident Leite, unter den Demokraten aufzuführen.
Dann wird die Kammer nicht blos röthlich. sondern schon ganz roth erscheinen.
Obgleich der nächste Kammerpräsident ohne Zweifel Gravow sein wird, so spricht
die Kreuzzeitung, als wäre Waldeck dazu designirt. Mit etwas Geschicklichkeit und
Gewissenlosigkeit ist es nicht schwer, das nächste Abgeordnetenhaus als den Convent
mit Waldeck an der Spitze erscheinen zu lassen.
Die nächste Ausgabe der Partei ist, den König beim Volke zu verleumden.
Deshalb wird jedes Wort, das etwa im Unmuth dem König entfällt, geschäftig wei-
ter getragen. Aber außerdem scheut man sich nicht, dem König geradezu Worte
anzudichten, welche, wenn sie wirklich gesagt wären, eine Verstimmung im Volke
erzeugen müßten. Dies ist offenbar die Absicht der Lügen, die über die Letzlinger
Rede verbreitet wurden. Nichts wäre dieser vorzugsweise „königsgetreuen" Partei
willkommener, als wenn durch solche Künste das Volk sich aus seiner verzweifelt
loyalen Haltung heraustreiben ließe.
Die Sache des Königthums kann dabei gewiß nicht gewinnen ; aber was küm¬
mern die Herren sich darum, wenn sie nur im Trüben fischen können? — Neben-«
her werden die liberalen Minister bald nach oben, bald nach unten denuncirt und
verdächtigt. Einmal heißt es, die demokratischen Blätter, welche die schlechten Wah¬
len gemacht hätten, würden insgeheim subvcntionirt; oder Herr von Patow wühle
unter der Decke mit der Demokratie zusammen gegen die dreijährige Dienstzeit.
Ein andermal, wird ausführlich nachgewiesen, daß die liberalen Minister bisher in
drei Jahren so gut wie gar nichts geleistet haben und daß die Manteuffel-Westpha-
lcnsche Wirthschaft ohne Verlegenheit wieder da anknüpfen könnte, wo sie aufge¬
hört hat.
Das Hauptwerkzeug in diesem schmutzigen Treiben der Partei ist die Kreuzzei -
tung, Sie hat noch immer ihre alte Liebhaberei für „Bubenstücke". Sie ist wie
eine große giftgcschwbllene Pestbeule, wie ein Kanal, durch welchen der Eiter ihrer
in 'Fäulniß übergegangenen Partei sich absondert. Nichts ist ekelhafter, als der
sittliche und geistige Kant gout, von welchem dieses Blatt duftet. Wenn es noch
irgend eines Beweises für die Verkommenheit unserer Junkerpartei bedürfte, so liegt
er darin, daß dieselbe Jahre lang ihre politische Nahrung ausschließlich aus dieser
Kloake schöpfen konnte. Da die Denunciationen des Zuschauers jetzt ungefährlich
find, so würde das Blatt außerhalb der Junkerkreise gar nicht beachtet werden,
wenn es nicht zuweilen eine gefährliche Waffe in den Händen seiner Partei wäre.
Wenn die schamlose Verlogenheit dieser Zeitung mehr Ungeziefer als gewöhnlich aus'
brütet, so ist das immer ein Symptom, daß die Partei etwas im Schilde führt.
Das war auch in dieser Woche der Fall. Mit der Veröffentlichung der Be¬
richte aus Wolmirstedt und Setzlingen sollte die Bombe platzen. Darauf folgten
während der letzten vier Tage tägliche Ministerconseils unter dem Vorsitz des Königs.
Die Folge war, daß man im Publicum allgemein von einer Ministerkrisis zu er¬
zählen wußte. Es schwirrte förmlich von den mannigfachsten Gerüchten. Als nun
vollends, wie es scheint zufällig. Graf Arnim-Boytzenburg in diesen Tagen hier
eintraf, da ließen selbst die Ungläubigsten ihre Zweifel fallen. Und doch wäre dies
ein eben so sonderbarer als trauriger Vorgang gewesen. Das Volk wählte eine
Kammer, in welcher die Majorität etwas mehr als bisher nach links verschoben ist;
als Antwort darauf sollte das Ministerium entlassen und ein neues mehr nach rechts
gehendes gebildet werden, noch ehe einmal die Volksvertretung beisammen war und
irgend etwas beschlossen hatte. Im Interesse der feudalen Partei wäre ein solches
Verhalten vielleicht gewesen: das Interesse der Krone und des Landes konnte gewiß
nicht dadurch gefördert werden, wenn man die Stimme der Volksvertretung
verdammte, ohne sie gehört zu haben.
- . Indeß, wie es scheint, hat die Kreuzzeitung auch diesmal, wie schon öfter, ihre
Bolzen zu früh verschossen und ihr Triumphgeschrei zu früh angestimmt. Sie ge-
berdete sich bereits, als wäre sie der verantwortliche Nctthgeber der Krone. Die neue
Kammer, meinte sie, müsse der König nicht sofort und schon vor dem Zusammen-
tritt auflösen, sondern müsse sie erst beinfarben, nachdem sie sich compromittirt und
abgenutzt habe; das gegenwärtige Ministerium aber müsse sofort abgethan werden,
damit es nicht noch Zeit gewinne, „als demokratischer Märtyrer die Bühne zu ver¬
lassen." Die Frechheit, mit der solche Rathschläge öffentlich ertheilt werden, schein,
denn doch den nothwendigen und heilsamen Rückschlag hervorgerufen zu Haber.
Wenn es wirklich zu einer förmlichen Ministerkrisis gekommen ist, so ist dieselbe f> ^
jetzt wieder beseitigt; ob auch für die Dauer, das ist eine andere Frage. Die L.>-
tung der Negierung brauchte gar nicht viel liberaler zu sein; aber einheitlichem,
fester, systematischer müßte sie sein, so daß die mittleren Parteien ein klares Pro-
gramm und einen festen Halt hätten, um den sie sich zusammenschließen könnten.
Wenn aber die wichtigsten Fragen auch in dem Sinne offen bleiben, daß nicht ein¬
mal die Richtung, in der man sie zu lösen gedenkt, erkennbar ist, so werden die
extremen Parteien verstärkt, und die mittlere Partei muß allmälig zerbröckeln. Vor
allen Dingen meinen wir hiermit die deutsche Frage. Kein Verständiger wird ver¬
langen, daß unsere Regierung ohne Weiteres die Einheit Deutschlands herstellen soll.
Aber das Ziel, dem wir zusteuern sollen, muß sie sich do.es klar qem^acht hahen;
wenn ein solches Ziel erst erkennbar vorliegt, werden auch schrittweise Erfi^ge HM
^-^ ^in,'^. ^. »...^ ».
Kinder- und Jugend - M ahrchcn, erzählt von A u <
relic. 2. Aufl. Berlin, Springer. — Das Buch ist der Redaction zu.sHt'j^««
Zangen, um dasselbe den Lesern als Weihnachtsgabe empfehlen zu können/ ^er'^
Blatt will sich doch nicht die Freude versagen, darauf aufmerksam zu machet,,
Es ist ein warmes Frauenherz von freier und schöner Bildung, welches hier zu un¬
serer Jugend spricht. In den kleinen Geschichten wechselt drollige Laune und
Gemüth anmuthig ab, die alten Traditionen unserer Mährchenwelt sind ge¬
schickt zu Arabesken benutzt und in das Seelenleben unserer modernen Zugend zu«
weilen und besonderer Grazie hineingcflochtcn. Namentlich unter den kleinen Mähr¬
chen sind mehre von linea poetischen Gehalt. AIs Vorzug des KuHs».,' W
trachten wir, daß keine Spur von frömmelndem Pietismus sichtbar ist. wohl
aber eine gesunde, recht kräftige Auffassung des Erdenlebens und seiner Pflichten.
— Aus Süd und Nord. Briefe junger Mädchen von 12 bis 15 Jahren von
Aurelie. Berlin, Springer. — Es ist, so scheint uns dankenswerth, bei,
unsern jungen Mädchen die Fähigkeit herauszubilden, daß sie anspruchslos auf
dem Papier erzählen und beschreiben, denn auffallend häufig überrascht 'auch
bei mundsertigen Kindern, welche herangewachsen sind, die große Unfreiheit und/
Armuth im Zusammenreihen von Anschauungen, wie im Bericht über d.ürchge^
lebte Empfindungen. Das Buch enthält Neisebriefe einiger Freundinnen, in denen
Eindrücke und Stimmungen der Reise. Erlebtes und Geschautes in lebendiger und
doch einfacher Darstellung geboten werden. Es belehrt zugleich über deutsche Städte
und Landschaften und versteht durch Wechsel der Stimmungen und eingestreute cha¬
rakteristische Züge zu unterhalten. Vorzüglich hübsch ist die Schilderung eines
Weinbergs zu Wachwitz bei Dresden. — Erzähl u n gen für Mädchen von 12 bis
15 Jahren. Von Aurelie. Berlin. Springer. Enthält sieben Geschichten, von de-
nen die erste, „Wer ist reich?" am meisten ansgeführt und eine unterhaltende Kinder-
Novelle ist. Das kleine Buch wird auch die Ansprüche älterer Mädchen befriedigen.
.....
Als wir unlängst (Ur. 49 v. Jhrg.) die Denkschrift des Finanzministers Fould
und den Entschluß ^>es Kaisers Napoleon des Dritten, über die öffentlichen
Gelder nicht mehr ohne Bewilligung des gesetzgebenden Körpers verfügen zu
wollen, besprachen, da behielten wir uns vor. nach den Verhandlungen des
Senats auf diese wichtige Angelegenheit zurückzukommen. Wir glaubten, daß
der Senat, welcher die kaiserliche Entschließung in die Verfassung hineinzutragen
hatte, bei dieser Gelegenheit um Auskunft über die Mittel bitten werde, durch
welche Herr Fould das Deficit von 1000 Millionen Franken, welches sich seit
1852 neben der neuen consolidirten Schuld von 2000 Millionen Franken an¬
gesammelt hat, zu decken und das Entstehen neuer Deficits zu verhindern ge¬
denke. Wir glaubten, der Senat würde über diesen nicht ganz unerheblichen
Punkt .etwas zu hören wünschen und der Minister werde diesem Wunsche ent¬
sprechen.
Wir haben uns geirrt. Herr Fould hat am 20. December im Senate
selbst das Wort ergriffen, was sonst den Inhabern von Portefeuilles in Pa¬
ris nicht mehr gestattet wird, seitdem für das Redegeschäft besondere Minister-
Redner oder Rede-Minister (miriistre oratizur) ernannt sind. Aber was hat
Herr Fould gesagt? Nichts Anderes, als was in seiner Denkschrift aus Tar-
bes vom 29. September steht, mit dem Zusätze, seine Ansicht habe sich seither
nicht geändert. — Das Vcrfassungsgesetz, welches der Senat gegen die Eine
Stimme des Cardinals Matthieu angenommen hat. bestimmt: daß der gesetz¬
gebende Körper künftig über das Budget nicht mehr nach Ministerien, sondern
nach großen Abschnitten poliren wird; serner. daß der Kaiser keine ergänzenden
und außerordentlichen Credite ohne Mitwirkung der Kammer künftig decretiren
wird; drittens, daß ein Minister Ausgaben von einem Kapitel seines Bud¬
gets auf ein anderes übertragen darf. In unvorgesehenen Fällen endlich
soll der gesetzgebende Körper berufen werden, um die erforderlichen Mittel zu
bewilligen.
Der angegebene Zweck dieser Bestimmungen ist, der -Verschwendung Ein¬
halt zu thun und die Controle der Volksvertretung über die öffentlichen Gel-
der zu verstärken. Wird aber dieser Zweck erreicht werden, wenn die Minister
der Volksvertretung nicht verantwortlich, wenn die Wahlen und die Presse nicht
frei sind? Diese Fragen wurden zwar nicht im Senate aufgeworfen. Dort
zeigten sich, und zwar zunächst schon in dem nllzulangen Berichte des Herrn
Troplong, Bedenken ganz anderer Art. Die Verfassung von 1852 ward als
das Meisterwerk menschlicher Staatsweisheit gepriesen, jede Abweichung als
ein gefährliches Zugeständnis; an das verderbliche System der parlamentarischen
Regierung gefürchtet. Solche Besorgnisse zu beschwichtigen, die Aenderungen
nicht als nützlich, sondern als unschädlich zu empfehlen, bemühte sich der Be¬
richt. Herr Fould trat dieser Auffassung entgegen und suchte, nicht sowohl dem
Senate als vielmehr der öffentlichen Meinung darzuthun, daß die Aenderungen
nicht bedeutungslos, sondern für den angegebenen Zweck wirksam und aus¬
reichend sein würden. Die unbeschränkte Befugniß des Kaisers, über Staats,
gelber zu verfügen, äußerte er, hat Besorgnisse erregt, welche der Kaiser durch
Selbstbeschränkung heben will. „Er hielt es nicht für staatsklug, sich auf einen
Weg zu begeben, welcher gewisse Staaten in die finanziellen Verlegenheiten
hineingeführt hat, in denen wir sie gegenwärtig erblicken." Solchen Ansichten,
wie sie hier im Senate gegen die Beschränkung der Befugnisse des Staats¬
oberhaupts geäußert worden, meinte Herr Fould, haben Oestreich und Ru߬
land es vielleicht zu verdanken, daß sie sich jetzt in einer Lage befinden,
welche sie schwächt und später möglicher Weise in ernste Verlegenheit stürzen
wird. In Frankreich habe Großes geschehen müssen, und es sei Großes ge¬
schehen; aber nun sei es Zeit, auf den Weg der Sparsamkeit ein¬
zulenken. Man sieht, Hr. Fould kennt die Lage und will zunächst sorgen
daß sie nicht schlimmer werde. Werden aber seine Mittel helfen? Werden die
Minister, welche dem gesetzgebenden Körper nicht verantwortlich sind, mit den
Uevertragungen nicht eben solchen Mißbrauch treiben, wie es bisher mit
den außerordentlichen Credner geschehen ist? Hierauf bemerkt Hr. Fould: die
Übertragungen seien in dem System von 1852 einhalten; sie seien nichts
Neues, aber nicht so gefährlich wie die außerordentlichen Credite. Es gebe
zweierlei Arten. Einfache Übertragung ejncr Ausgabe von einem Kapitel
des Budgets auf ein anderes, eine Nechnungs-Manipulation, von welcher hier
nicht die Rede sei. Die andere Art entziehe die Mittel dem Zwecke, für den
sie bewilligt, und verwende sie für einen andern Zweck, für den sie nicht
bestimmt seien. Dies seien allerdings wirkliche außerordentliche Credite, sie
würden aber nur in Nothfällen gebraucht werden. Man könne die Noth¬
fälle nicht abschaffen, folglich auch nicht die Mittel, um sich zu helfen. So
habe man die Rüstungen für den italienischen Krieg in aller Eile gemacht,
aber außer den Pferden nichts bezahlt, bis die Anleihen das Geld geliefert.
So rüste gegenwärtig England gegen Amerika, ohne Credite, ohne Uebertra-
aungen, ohne Parlement. Die Vorräthe seien da, das Uebrige werde sich spä¬
ter finden. Es dürfe keine ungedeckte Ausgabe mehr vorkommen; das Bud¬
get müsse wirklich im Gleichgewicht sein; in außerordentlichen Fällen berufe
man dann die Kammer. Table diese einen Minister, weil er Uebertragungen
vorgenommen, die sich nicht rechtfertigen lassen, so müsse derselbe abtreten;
der Kaiser werde ihn nicht behalten. Kurz, Herr Fould rst überzeugt, daß
alle wünschenswerthen Garantien gegeben sind, „wenn man die Kraft hat, die
Gesetze zu halten, die man gibt."
Einstweilen also glaubt der Finanzminister gesorgt zu haben, daß die
Verlegenheiten nicht größer werden als sie sind. Was er thun will, um die
vorhandenen zu beseitigen, das wird er dem gesetzgebenden Körper sagen,
welcher gegen Ende Januar zusammentritt. Aber schon über die Festigkeit
des Dammes, den er aufgeführt zu haben glaubt, steigen ihm selbst so viele
„Wenn" und „Aber" auf, daß bescheidene Zweifel Anderen plebe zu verar-
gen sind.
Unheimlich aber sind die Maßregeln gegen Artikel, welche ungefähr das¬
selbe sagen, was Hr. Fould. Der Leser erinnert sich, daß kurz vor dem
Abdrucke seiner Denkschrift im Moniteur die Revue clef äeux Uoiräes eine
Verwarnung erhalten hatte wegen einer Abhandlung, in welcher die „Krise."
die der Finanzminister geschildert, in vorsichtigeren Ausdrücken angedeutet
war. Und kaum ist die Rede des Finanzministers im Senate verklungen und
in den Zeitungen verbreitet, so wird dem -kourn-U ach vedats, zum ersten
Male, eine Verwarnung ertheilt wegen eines Artikels aus der Feder des alten,
besonnenen Se. Meire Girardin über den Bericht des Herrn Troplong, worin
lange nicht so starke Dinge gesagt waren, wie in der Rede des Herrn Fould
die Andeutung, daß Rathschläge, wie der Bericht sie enthalte, Staaten in
das Verderben stürzen. Se. Marc Girardin ein Unruhestifter, und Fould
Finanzminister I — woher soll da der Glaube an den Ernst der rettenden
Maßregeln kommen?
Wenn wir uns noch einen Monat gedulden müssen, bevor wir erfahren,
wie Hr. Fould das französische Budget in ein ernstliches Gleichgewicht (6qui,-
Udre serieux) zu bringen und die schwebende Schuld von 1000 Millionen
Franken aus eine mäßigere Ziffer herabzumindern gedenkt, so ist es uns in¬
zwischen vergönnt, auf die Vorlagen des östreichischen Finanzministers Hr. v.
Pierer an den Reichsrath einen Blick zu werfen,, und nachzusehen, in welchen
Beziehungen die Finanzlage in Wien der in Paris ähnlich sieht, und worin
beide sich von einander unterscheiden.
Wie in Frankreich so schließen in Oestreich seit einer Reihe von Jahren
die Staatsrechnungen mit einem Ueberschuß der Ausgaben über die Einnah¬
men, und die Folge ist eine stetige Vermehrung der Staatsschuld. Hier wie
dort haben die Kaiser ihren Willen erklärt, daß dies künftig nicht mehr sein
soll. Hier wie dort soll die Vertretung der Nation zur Abhilfe mitwirken.
Aber im Uebrigen stehen dem kaiserlichen Willen in Wien größere Hin¬
dernisse entgegen als in Paris. Der Reichsrath vertritt kaum die Hälfte des
Kaiserstaats, der gesetzgebende Körper in Paris vertritt ganz Frankreich. Die
französische Staatskasse bezahlt die Zinsen der öffentlichen Schuld pünktlich in
gutem Gelde, in Oestreich ist dies weniger der Fall. Frankreich kann noch
Schulden machen. Oestreich vorerst nicht mehr, sein öffentlicher Credit ist auf¬
gebraucht. Leichthin urtheilen Mitarbeiter der Tagespresse, Hr. v. Pierer
sei seiner Aufgabe nicht gewachsen. Wir möchten doch den Mann sehen, der
unter den obwaltenden Umständen die östreichischen Finanzen in Ordnung zu
bringen vermöchtel Die Vorlagen des Herrn v. Pierer an den Reichsrath be¬
weisen, daß er sich dazu nicht im Stande fühlt. Darum sucht er Hilfe bei
dem'^ Reichsrath, dessen Abgeordnetenhaus dazu eine Commission von acht¬
un dvierzig Mitgliedern ernannt hat, welche wieder einen engern Ausschuß
von 12 Mitgliedern bestellt hat. Wenn vor diesen Rathern und Helfern die
Vorschläge des Herrn v. Pierer, wie zum Voraus behauptet wird, keine
Gnade finden, nun so wird er nicht ungern dem Geschicktesten unter ihnen
sein Portefeuille übergeben.
Am 17. December, nur wenige Tage vor den Verhandlungen des Se¬
nats in Paris, erschienen die Minister v. Schmerling und v. Pierer im Hause
der Abgeordneten zu Wien mit den Finanzvorlagen, welchen die gespannteste
Erwartung entgegenkani. Hr. v. Schmerling, seit neun Monaten bemüht, die
Vertreter der deutsch-slavischen Provinzen nützlich zu beschäftigen und angenehm
zu unterhalten , bis — auf Weiteres, stellte die unumstößliche Behauptung
voran: daß die Feststellung des Staatsvoranschlags für 1862 schon ihrer Natur
nach geeignet wäre, den Vorrang vor anderen Gegenständen der Verhandlung
einzunehmen. Aber — der Reichsrath ist nicht vollständig. es sind noch ein
paar kleine Anstünde in Siebenbürgen zu beseitigen, mithin liegt der im
K. 13 des Grundgesetzes vorgesehene Fall vor, woraus für die Regierung
das Recht entspringt, den Staatsvoranschlag für 1862 im Verwaltungswege
festzustellen. Jedoch — die constitutionelle Bahn ist nun einmal betreten,
und S. Majestät legen Werth daraus, daß eine öffentliche freie Prüfung
stattfinde. Man erwartet davon unter anderen guten Früchten einen „Zu¬
wachs an Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Absichten und Bestre¬
bungen der Regierung." Aber — das Zugeständnis; enthält eine frei¬
willige Einschränkung der Machtbefugnisse des Kaisers nur für den
vorliegenden Fall, und das Ministerium übernimmt die Verantwortlichkeit
für die Abweichung nach links von dem §. 13 des Grundgesetzes vor dem voll¬
ständig constituirten Reichsrathe — der Zukunft. Die res g,ng'ULts> äomi ver-
anlaßt zwei Kaiser, ihre Macht freiwillig zu beschränken. Der Kaiser von Oest¬
reich verzichtet für diesmal aus sein Recht, das Budget im Verwaltungswege
festzustellen. um zu versuchen, ob der Reichsrath zu Stande bringen könne,
was die Regierung nicht vermag; Napoleon der Dritte entsagt überhaupt
der Befugniß, über Staatsgelder durch Decrete zu verfügen. Hr. v. Schmerling
bekennt sich zum constitutionellen System und nimmt leichten Herzens die Ver¬
antwortlichkeit, das Budget vorgelegt zu haben, gegen eine künftige Reichs¬
vertretung auf sich. Herr Fould verwahrt sich gegen den Verdacht einer
Annäherung an die parlamentarische Regierung, aber er deutet an, daß die
Verantwortlichkeit gegen den Kaiser nicht weniger zu bedeuten habe, als gegen
Kammern. Inzwischen sind Concessionen der Regierungen an die Volksver¬
tretung in Finanzschwierigkeiten unter Umständen lästige Wohlthaten. Auf
die Staats- und verfassungsrechtliche Seite kommt es dabei weniger an als auf
die praktische Aufgabe, den zerrütteten Staatshaushalt zu ordnen. Nach dieser
Richtung bedeutet das Zugeständniß, welches Herr von Schmerling so hoch
anschlägt, nichts Anderes, als daß dem Reichsrathe, obschon er nicht vollstän¬
dig ist, gestattet werden soll. Hilfsnuttel ausfindig zu machen, welche die
Regierung nicht mehr zu schaffen weiß. Das Material, welches Hr. v. Pierer
zu diesem Zwecke liefert, beginnt mit der „Darstellung der Gebarungsresultate
der Staatseinnahmen und Ausgaben un Verwaltungsjahre 1860", welche
von der Hauptstaatskasse zusammengestellt,, aber noch nicht von der obersten
Rechnungsbehörde geprüft ist. Hiernach hat der Gesammt-Abgang (das De¬
ficit) 65 Millionen Gulden betragen, und wurde gedeckt durch außergewöhn¬
liche Zuflüsse — die Entschädigung für Abtretung der Lombardei, eine Raten¬
zahlung von 21 Millionen; durch Vermehrung der Staatsschuld — Einzahlungen
auf die Nationalanleihe, auf die lombardisch-venetianische Anleihe von 1859,
auf das Lotto-Anlehen von 1860 und durch Ausgabe von Hypothekar-An¬
weisungen. Diese Gebarung soll der Reichsrath prüfen, damit alsdann der
Kaiser sie genehmige. Ferner macht der Finanzminister Mittheilungen über
die Gebarung des Finanzjahres 1861, welche als annähernd richtig gelten
können. Vor einem Jahre hatte er den Gesammtabgang auf 40'/» Millionen
Gulden angeschlagen; es zeigt sich aber jeht nicht nur das „präliminirte
Von diesem Gesammtabgange werden gedeckt: Abermals durch
Die fehlenden 4 Millionen wurden den Kassenbeständen entnommen, mit¬
hin die Betriebsmittel der Finanzverwaltung um ebenso viel geschwächt.
Ueber die Operationen, welche der Finanzminister im Jahre 1861 vorgenom¬
men hat, ohne den Reichsrath zu fragen, legt er eine ausführliche Rechtferti¬
gungsschrift vor. im „vollen Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit." Hr. v. Pierer
nimmt dabei für seine Gebarung „mindestens das negative Verdienst unter¬
bliebener siatmwidrigcr Anspruchnahme der Nationalbank und Nichtemission
von Staatspapiergcld" in Anspruch. Die 12 Millionen Münzscheine sieht
Hr. v. Pierer nicht als Staatspapiergcld an, sondern als Scheidemünze aus
Papier, welche „den drängendsten Bedürfnissen des Kleinverkehrs die unerlä߬
liche Abhilfe" schafften.
Man kann es auf diesem Wege weit bringen, namentlich wenn man die
Deckung des Deficits so versteht, wie die Gebarung es thut. Wir finden
in zwei Romanen von Boz die Figuren der Herren Micawber (in David
Copperfield) und Skinpole (in Bleakhouse), welche glauben, ihre Schulden be¬
zahlt zu haben, wenn sie schriftliche Zahlungsversprechungen, etwa Wechsel
ausstellen. In ernsthaften Finanzgebarungen begegnen wir dieser Auffassung
hier zum ersten Male.
Die unbezahlte Rechnung ist die primitive Form der schwebenden Schuld.
Indem man an die Stelle dieser primitiven eine andere Form setzt, hat man
seine Schuld nicht abgetragen, sondern höchstens gestundet. Die Papiere der
schwebenden Schuld stellen das Deficit dar. welches erst dann gedeckt wird,
wenn die Finanzverwaltung diese Papiere einlöst. — Das Deficit für 1861
aber zeigt, daß die Finanzverwaltung, nachdem selbst das Steucrcmlehen von
30 Millionen, ungeachtet der vortheilhaften Bedingungen, der kurzen Heim-
zahlungssrist von fünf Jahren und des sanften Druckes auf die Geldbesitzer
nicht vollständig eingegangen war, zu dem kleinen Borg greifen mußte, indem
sie Staatspapiere an Banquiers in Wien, Frankfurt, Stuttgart u. s. w. aus
sechs Monate verpfändete. Dies sind die zehn Millionen Depötgeschäfte,
welche als Deckung des Deficits mit aufgeführt werden, während sie, sobald
die Darleiher nicht mehr prolongiren wollen, der Finanzverwaltung kleine
Verlegenheiten, die peinlichsten von allen, bereiten. Die Darstellung des De¬
ficits für 1861 zeigt, daß alle Hilfsquellen des Credits erschöpft sind, und er¬
klärt ausreichend die Vorlage an den Reichsrath. Die Gebarungen von
1860 und 1861 bilden die würdige Einleitung zu dem Voranschlage für 1862.
Gegen den ausdrücklich erklärten kaiserlichen Willen zeigt derselbe einen Ge-
sammtabgang von 110 Millionen Gulden bei einem Bedarf von 354.586.000
Gulden.
Wenn die offene Darlegung des Standes der Finanzen das Hauptver-
dienst der Vorlagen des Hr. v. Pierer ist. so erscheinen seine Vorschläge zur
Abhilfe allerdings als die schwächere Seite derselben. Der kleinere Theil des
Deficits soll durch Steuern, der größere durch ein Arrangement mit der Bank
gedeckt werden, welches im besten Falle nur vorübergehend, nicht dauernd
helfen könnte. Da aus den Berathungen des Reichsrathes bessere Vorschläge
zu erwarten sind, so unterlassen wir es. auf die des Hrn. v. Pierer einzugehen,
welche überhaupt nur die Bestimmung zu haben scheinen, die sehr begreifliche
Rathlosigkeit zu maskiren.
Um den furchtbaren Ernst der Lage zu erkennen, muß man den Staats¬
haushalt in seiner Entwickelung seit einer Reihe von 10 bis 14 Jahren be¬
obachten. Es ergibt sich, daß die Ausgaben sich verdreifacht haben, und
daß Land- und Seemacht, obgleich (ohne den außerordentlichen Aufwand) von
52 auf 108, und die Lasten der Staats - Schuld, obgleich von 45 auf 120
Millionen angewachsen, doch im Verhältnisse noch mäßiger gestiegen sind als
andere Lasten, welche durch die versuchte Centralisation dem Staate aufge-
bürdet wurden. *) — Man muß ferner erwägen, daß durch die gefährliche
Ueberspannung der Steuer-Kräfte seit 1859 und durch die äußerste Erschöpfung
des Credits Oestreich an Macht und Einfluß nicht gewonnen, sondern bei ver¬
kehrter Verwendung beträchtlich eingebüßt hat, und daß die Entwickelung seiner
immerhin reichen Hilfsquellen in ihren Ergebnissen für den Staatshaushalt
unmöglich mit den Anforderungen, die an sie gestellt werden, Schritt halten
kann,,,.,, - ,,,,,, s.iji„eine k/i,ii,x,r.'l^ „4 ^„'ikZrcn -/et^<<i.!i<» - .-'' .
Für Frankreich handelt es sich darum, auf dem Wege der Verschwendung
Halt zu machen, und Hr. Fould darf auf die Verlegenheiten Oestreichs als
an^ ein warnendes Beispiel hinweisen. Das französische Budget wird nicht
wie das östreichische mit einem Deficit abschließen, und die schwebende Schuld
kann ohne übermäßige Opfer in eine ständige Schuld umgewandelt werden.
Die Aufgabe des östreichischen Reichstags ist eine unendlich schwierigere als
die der französischen Nationalvertretung. Wie sie gelöst werden soll, ohne
ernstliches Verzichten auf die straffe Centralisation, ohne Heranziehen der todten
Hand zu den Staatslasten, ohne namhafte Verminderung des/Aufwandes für
das Heer, ist nicht abzusehen. Gelingt dies nicht, erlaubt die Politik keine
Einschränkung. so ist die offene Erklärung des Staatsbankerotts
unvermeidlich!
Die Rechnung ist einfach. Vor 1848 belief sich der gesammte Staatsauf-
wand auf 160 bis 170 Millionen Gulden, darunter für Heer und Schuld zu¬
sammen ungefähr 95 Millionen. Im Jahre 1860 kosteten Heer und Schuld
zusammen 260 Millionen; der Voranschlag für 1862 beträgt gegen 230 Mil¬
lionen, ungerechnet 11V- Millionen Agioverlust für Silberzahlungen. Die or¬
dentlichen Einnahmen betragen nicht viel über 240 Millionen. Die Ausgaben
für Verzinsung und Tilgung der Staatsschuld lassen sich nicht wesentlich ver¬
mindern, wenn der Staat seine Verbindlichkeiten gegen die Gläubiger er¬
füllen will.
Es bleibt daher nur die Wahl: entweder den Aufwand für das Heer zu
vermindern, oder die Zinsen der Staatsschuld etwa auf die Hülste herabzu¬
setzen, d. h. den Bankerott zu erklären. Die Regierung hielt es nicht für-
ihre Aufgabe, diese Alternative öffentlich hinzustellen. Ob es der Reichsrath
thun und demgemäß seine Anträge stellen wird — das wird sich zeigen.
Die Tage der Ruhe in Danzig waren uns .körperlich nicht nur höchst
nöthig, sondern auch zur Instandsetzung unserer sehr defect gewordenen Klei¬
dung und Bewaffnung unentbehrlich. Mit meiner Montur sah es äußerst
trübselig aus, das einzige Paar sehr grober weißer Tuchbeinkleider hielt kaum
noch so weit zusammen, daß es die Blöße bedeckte, meine übrige, vollkommen
ausreichende eigne Equipnung war mit unsrer Bagage verloren gegangen;
und aus eigner Tasche mich neu zu versehen, fehlte es an Mitteln. Ich hatte
zwar 3 Thlr. monatliche Zulage, für die damalige Zeit eine mit dem Gehalt
von 3 Thlr. 15 Sgr. hinreichende Einnahme; daß sich aber davon Montirungs«
stücke nicht anschaffen ließen, ist wohl ohne besondere Versicherung zu glauben.
Mein Quartier war bei einem Gärtner, welcher, im Dienste eines wohlhaben,
den Kaufmanns stehend, ein sehr nettes Gartenhaus bewohnte, in welchem
mir ein Zimmer angewiesen wurde. Ich aß mit meinen Wirthsleuten ihre
bescheidene Kost, die mir darum besonders mundete, weil es häufig Fische
und zwar Seefische, mir etwas Neues gab, auch war das Kostgeld meinen
Verhältnissen angemessen.
Als ich erfuhr, daß das Infanterie-Regiment von Courbiere in Danzig
stand, bei welchem ein Bruder meines Vaters Hauptmann war, begab ich
mich in die Stadt und machte bald seine Wohnung ausfindig, fand ihn aber
nicht zu Hause. Betrübt trat ich den Rückweg an und sah mir jeden Offizier,
dem ich ohnehin die Honneurs machen mußte, genau an. Da kam denn auch
ein kleiner Mann in der Uniform des Regiments von Courbiere, welcher
meinem Vater so frappant ähnlich sah, daß ich sofort an ihn herantrat und
ihn fragte: ob er nicht der Hauptmann v. C. sei. Verwundert sah er mich
an, dann bejahte er meine Frage und wollte wissen, woher ich ihn kenne.
Ich sagte ihm, wer ich sei und daß ich eben bei ihm gewesen, ihn zu besuchen.
Fremd war ich ihm nicht, obwohl wir uns nie gesehen, aber vor dem Aus¬
marsch aus der Garnison hatte ich ihm geschrieben und er mir in seiner freund¬
lichen Antwort die nie vergessene Lehre gegeben: ich solle im Fall eines Krieges
treu meine Pflicht erfüllen und bedenken, daß die Kugel in der Brust nicht
weher thäte als die im Rücken; erstere bürge Ehre, letztere bedecke oft mit Schmach.
Er nahm mich mit in sein Quartier, wo ich ihm dann viel, besonders aber meine
Erlebnisse auf der Retirade erzählen mußte. Als ich mich empfahl, versprach er für
meine dringendsten Bedürfnisse zu sorgen. Nach zwei Tagen ging.ich wieder zu
ihm, da war er fort; .denn er hatte ein Commando so plötzlich erhalten, daß
er mich nicht einmal davon benachrichtigen konnte. Indeß hatte er mich seinen
Schwägern, dem damaligen Lieutenant und Adjutant im Regiment v. Diericke,
von H....., und dessen Brüdern, den Lieutenants v. H. im Regiment von
Courbiere, warm empfohlen, und diese nahmen sich metner mit seltener ver¬
wandtschaftlicher Liebe an, so lange ich in Danzig blieb. Einer von ihnen
lebt noch in Breslau als pensionirter Oberstlieutenant; dieser sorgte im Auf¬
trage meines Onkels für meine neue Bekleidung, und ich wäre nun ganz
glücklich gewesen, wenn nicht eine andere Sorge mein Herz bedrückt Hütte, die
so schwer auf mir lastete, als hätte ich wer weiß was begangen. Ich hatte
aber auch wirklich kein gutes Gewissen.
Aus meiner früheren Mittheilung wird sich der Leser erinnern, daß ich
in Nordhausen meinen Zopf abgeschnitten hatte, und das war ein beinahe
todeswürdiges Verbrechen zu damaliger Zeit, obwohl selbst mein Hauptmann
und viele junge Offiziere keinen mehr trugen. Nun war das in der Hast und
Aufregung des Rückzugs nicht beachtet worden, aber ich mußte der Entdeckung
Seitens unseres Commandeurs, des Obersten von Schuler, jederzeit gewärtig
sein, und für diesen Fall mußte ich mich, wenn der alte Herr es streng nehmen
wollte, auf ein Dutzend Fuchtel gefaßt machen. Alle Tage wurde die Parole
in unsrer Vorstadt Schiedlitz ausgegeben. Bei dieser hatte ich stets propre und
wohlgepudert zu erscheinen, und so konnte es nicht fehlen, daß man von
allen Seiten gesehen wurde. Allerdings verwendete ich die größte Aufmerk¬
samkeit darauf, meinem hohen Vorgesetzten niemals meine Kehrseite zu präsen-
tiren, und wenn ich bei ihm vorbeigehn mußte, gab mir stets der Gedanke:
jetzt wird er es sehen, die zweckmäßige Haltung. Allein Niemand entkommt
seinem Schicksal. Eines schönen Tages mußte ich dicht bei dem Obersten vor¬
bei, und jetzt traf die längst gehegte Befürchtung ein. Ich war kaum vor¬
über, als ich ihn: „Junker!" rufen hörte. Ich machte sogleich Front, trat
den Stock fest anziehend an ihn heran und erwartete seine Befehle. „Wo
hat Er seinen Zopf?" (wenn er böse war nannte er uns immer Er.) „Herr
Oberst", sagte ich demüthig, „auf der Retirade hatte ich keinen Burschen, der
ihn mir machen konnte, da habe ich ihn abgeschnitten." „Lasse er die Wind¬
beuteleien, bis er Offizier ist (das galt den jüngern Offizieren) und morgen
hat er einen Zopf und sollt er ihn sich mit Vogelleim ankleben. Es ist gut."
Somit war ich entlassen, ich machte nach allen Regeln Kehrt und dankte Gott,
so mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein, denn ich war nur am
Geldbeutel gestraft, freilich bei meinen Verhältnissen eine empfindliche Strafe,
aber doch viel besser als Fuchtel. Nachmittags begab ich mich zu einem Fri¬
seur, deren ich mehrere aufsuchen mußte, weil sie alle zu theuer waren; es
wurde 1 Thlr. und mehr gefordert. Nach vieler Mühe gelang es mir einen
zu finden, der zwar zu meinem ganz dunkeln Haar nicht recht genau paßte
und den ich nur des billigen Preises von 10 Sgr. wegen nahm, der aber
doch zur Noth zu brauchen war, da wir, wie bemerkt, gepudert gingen. Der
Zopf wurde hinten an den Tschacko genäht, tüchtig eingepudert, und nun war
mein Anzug wieder ganz dienstmäßig. Außer Dienst steckte ich den Zopf in
den Tschacko, und dann war ich wieder modern. Eines Morgens aber, als
ich aus der Stadt kam, mußte ich vor dem Quartier des Obersten vorbei, der
parterre wohnte. Er lag im Fenster und rauchte gemüthlich seine Pfeife.
Ich zog den Stock an, sah ihn an und schritt vorbei, da rief er mir nach:
„Junker!" Ich machte Front, ging auf ihn zu, und blieb auf 2 Schritte stehen.
„Wo ist der Zopf?" fuhr er mich an. Ganz verwundert greife ich nach
hinten, und nichts findend nehme ich den Tschacko ab und zeige ihm den an¬
genähten Zopf. „Es ist Sein Glück!" sagte er, und damit hatte die Zopf¬
geschichte für immer ein Ende.
So blieben wir ruhig in unserer Vorstadt bis zum 24. Dec. stehen, wo
auf Befehl des Gouvernements plötzlich mit dem Abbrechen der Vorstädte bis
auf 800 Schritt von der Contreescarpe begonnen wurde und wir in die
Stadt umquartiert wurden. Der Jammer der armen Leute über das Nieder¬
reißen ihrer Häuser war herzzerreißend, auch wurde für jetzt dieses Dcmoliren
nur auf 400 Schritt vom Thore ab executire, den übrigen Hausbesitzern aber
angedeutet, daß man sich bei Ankunft des Feindes, wo zum Abbrechen nicht
mehr Zeit sein würde, auf das Abbrennen gefaßt machen müsse, was denn
auch später in der Nacht vom 10. zum 11. März 1807 geschah.
Von den Franzosen war in den beiden ersten Monaten des Jahres 1807
nichts zu merken, dagegen sprach man von dem Aufstande der Polen, und
bald hieß es, daß wir bestimmt seien, gegen diese Insurgenten verwendet zu
werden. Das neue Jahr hatte erst einige Tage begonnen, als wir unter
dem Befehl des Obersten von Schäfer mit dem 2. Bataillon des Regiments
Königin Dragoner nach Mewe, pr. Stargard, Neuenburg gegen Schwetz als
fliegendes Corps marschirten. Diese Märsche waren gräßlich, das Wetter
kalt und naß, der Boden schmutzig, oft fast grundlos, am Tage ein paar
Stunden Ruhe, des Nachts Marschiren bei Regen und Schneegestöber bald
hierhin, bald dorthin, je nachdem Nachrichten über den Aufenthalt der
Insurgenten eingegangen waren. Bisweilen wurden wir des Nachts, wenn
wir gar zu erschöpft waren, auf einige Stunden in den Dörfern einquartiert.
Bei einer dieser seltenen Gelegenheiten kam ich mit einigen Mann, wobei mein
Bursche, der immer für mich sorgte (mein alter Rißmann), zu einem polnischen
Bauer ins Quartier, den wir aus dem Bette gejagt hatten. Ich war todt,
müde und konnte kaum stehen, sodaß mein Diener mich rasch auszog und in
das noch warme Bett des Bauern legte, in dem ich sofort einschlief. Nach¬
dem ich einige Stunden geschlafen, wurde ich geweckt, weil wir in kurzer Zeit
den Marsch fortsetzen sollten. Es sing an hell zu werden und als ich mich
angekleidet, machte ich die Entdeckung, daß ich über und über voll Ungeziefer
war. Ich erstarrte damals fast darüber; später aber habe ich mich daran
gewöhnen müssen, und da es Andern auch so ging, überzeugte ich mich, daß
man auch so leben und sogar seine gute Laune behalten könne.
Nachdem wir mehrere Tage so hin und her marschirt waren und uns
vergebens bemüht hatten die Aufständischen zu treffen, ertappten wir sie endlich am
27. Januar in Dirschau. Sie hatten des Morgens den Lieutenant von B.
mit 50 Füsilieren und den Lieutenant von S. mit co Blücherschen Husaren
gefangen genommen und nach Dirschau geführt, nachdem diese beiden Offiziere am
26. Januar in der Nacht 150 Insurgenten in pr. Stargard überfallen, eine Menge
niedergemacht und ihnen 2 kleine Kanonen und 30 Gefangene abgenommen hat«
ten. Die gelungene Rache gegen diese beiden Offiziere hatte sie siegestrunken
gemacht und sie verleitet in zu großer Sicherheit alle Vorsichtsmaßregeln bei
Besetzung der Stadt außer Acht zu lassen, so daß es dem Oberst von Schäfer
gelang unter dem Schutze des hohen Weichseldammes bis dicht an die Stadt
zu kommen, worauf die Dragoner in die Stadt sprengten. Die Polen waren
vollständig überfallen. Alles, was sich widersetzte, wurde niedergehauen, wir
marschirten dicht vor der Stadt auf einer kleinen Anhöhe in Linie auf, und
haben nur zweimal gefeuert. Ueber hundert Mann blieben auf dem Platze
der Insurgentenobcrst Ominsky, zwei Offiziere und 93 Mann wurden gefangen
genommen, die Lieutenants v. B. und v. S. nebst ihren Füsilieren und
Husaren befreit, die beiden Kanonen zurückerobert und eine kleine Kriegs-
kasse mit 1000 Thalern erbeutet. Das war eine Freude, ein Jubel und eine
Herzlichkeit gegen die befreiten Kameraden! Ich sah einen jungen hübschen
polnischen Offizier, der 22 Wunden hatte, darunter einen Hieb vorn auf dem
Schädel, durch den ein Stück wie ein Thaler groß aus demselben gehauen
war. Der arme Mensch machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mich, und
ich hielt seinen Tod für gewiß. Ich habe nicht aufgehört, mich nach ihm zu
erkundigen, und in Erfahrung gebracht, daß er ganz wieder hergestellt worden
ist. Es war im ganzen Kriege die erste glückliche Expedition, wobei es auch
geblieben ist; eine zweite solche habe ich in dieser Campagne nicht erlebt.
Von nun an trieben wir uns immerfort in der Gegend von Dirschau,
Stargard und Schöneck herum, und zwar so rastlos und bei so üblem Wetter,
daß die Strapazen für mich kleinen Menschen fast unerträglich wurden, mich
ganz nieder zu werfen drohten, und ich oft während des Marschirens
einschlief. Nur meiner zwar schwächlichen, aber zähen und festen Konstitution
hatte ich es neben der Pflege und Sorgfalt meines treuen Rißmann zu dan¬
ken, daß ich nicht erlag.
Der Feind drängte uns näher an die Stadt heran, unter steten kleinen
Gefechten mußten wir uns zurückziehen. Dirschau, der Schlüssel zum Dan-
ziger Werber, ging verloren, wir besetzten Praust, das Gouvernement ließ
800 Schritt von den Festungswerken ab, von Schiedlitz, Stolzenverg und
Alt-Schottland eine Linie durchbrechen, um die Distance zu bezeichnen, wie
weit Alles niedergebrannt werden sollte, wenn der Feind näher heranrücken
und die Festung bercnnen würde. Am 7. März wurden wir angegriffen und
nach der Festung zurückgeworfen. In der Nacht vom 10. zum 11. März
wurden Stolzenverg und die andern Vorstädte mittelst Pechkränzen angesteckt
und niedergebrannt; dies Niederbrennen einer so bedeutenden Häusermasse gab
einen fürchterlich schönen Anblick, den ich so wenig jemals vergessen werde,
wie das Jammergeschrei der Unglücklichen, die ihre Habe nicht einmal voll¬
ständig retten konnten. Da habe ich so recht die Greuel des Krieges kennen
gelernt.
In dieser Nacht war der neue Gouverneur, der General von Kalkreuth,
angekommen, mit welchem neue Hoffnung und frischer Muth alle Herzen er¬
füllten. Das Erste, was er that, betraf die Verpflegung der Truppen; wir
erhielten täglich aus den Magazinen V- Pfd. Rind- oder V° Pfd. Schweine¬
fleisch. Kartoffeln V- Metze. Erbsen V. Metze und so fort verhältnißmäßig
— Branntwein V« Pr. Quart, Tabak auf 8 Tage V« Pfd., Bier wöchentlich 2
Quart; die Offiziere statt dessen so viel Wein und statt des Branntweins
Rum. Fleisch wurde alte Tage gegeben, Häring 4 mal die Woche, und mit
den übrigen Victualien wurde Abends gewechselt. Die Offiziere erhielten dop¬
pelte Nationen, die Stabsoffiziere 3. Diese reichliche Verpflegung übte auf
die Truppen einen vorzüglichen Einfluß aus, so daß es ihnen weder an gu¬
tem Willen noch an Muth fehlte.
Danzig war nun vollkommen eingeschlossen. Wir erfuhren, daß der fran¬
zösische Marschall Lefevre das Belagerungscorps befehligte, es bestand aus
dem neuformirten 10. Corps, größtentheils aus Badensern, Sachsen und Po¬
len, die wenigsten waren Franzosen, im Ganzen 20,000 Mann, die zur letz¬
ten Zeit der Belagerung auf etwa 50,000 Mann stiegen. Die Garnison war
nicht 22.000 Mann stark. Unser Bataillon versah den Vorpostendienst und
war die erste Feldwache, zu der ich mit geHorte, in der Kalkschanze; eine an¬
dere kleine Feldwache stand etwa 500 Schritt vor uns links im Freien. Hier
machten sich die Offiziere mit mir den Scherz, daß sie mich, während ich, von
einer Patrouille in der Vorpostenkette sehr ermüdet zurückgekehrt, gegen Mitter¬
nacht im tiefen Schlafe lag. von unserer Feldwache nach der im Freien vom
Bataillon Richte besetzten tragen ließen, was so gut gelang, daß ich dort,
ohne zu erwachen, ankam und ruhig bis zum Morgen ausschlief. Meine
Ueberrcischung war beim Erwachen keine geringe und ich in Verzweif¬
lung, die nicht eher endete, als bis ich durch den Offizier der Feldwache mit
einer Begleitung (da ich den Weg nicht kannte), zu meiner Feldwache zurück¬
geschickt wurde. Man lachte mich tüchtig aus, und ich mußte später noch viel
davon leiden.
Hier muß ich auch eines Vorfalls gedenken, durch den ich um mein junges
Leben hätte kommen können. Es war mir eingeprägt worden, ja das Feldgeschrei
nicht zu vergessen, und^ ich wußte, daß in Folge solches Vergessens in der pol¬
nischen Compagnie ein kleiner Junker bei einer Patrouille in sehr finstrer
Nacht todtgeschossen worden war. Ich hatte mir also die höchste Aufmerksam¬
keit und Kaltblütigkeit vorgenommen. Allein als ich zur Patrouille comman-
dirt wurde und der erste Posten mich anrief, zugleich fertig machte und den
Kahn knacken ließ, konnte ich bloß: „Patrouille" antworten, und statt des
Feldgeschreis rief ich in der Angst: „Herr Jesus! ich bin ja der Junker, schieß
nicht". Der Mann lachte, sagte „Patrouille vorbei." und die Gefahr war
vorüber. Bei den übrigen Posten war ich ruhiger und machte meine Sache bes¬
ser. Später im Jahr 1812 wurde von unserer Compagnie ein Gefreiter, der
noch dazu verheirathet war und dessen Frau ihn als Marketenderin begleitet
hatte, auf dieselbe Weise wie jener arme Junker erschossen. Außer den un¬
geheuren Strapazen hatte ich noch mit einem körperlichen Leiden zu kämpfen,
von welchem in Folge des schlechten Wassers der größte Theil unserer Mann-
schaft befallen wurde. Ich meine eine bekannte Hautkrankheit, mit der ich in¬
deß damals so wenig bekannt war, daß ich mich lange Zeit plagen mußte,
ehe ich merkte, was mir fehle. Erst als ich mich bitter beklagt, und auch
dann nur aus Rücksicht auf meine Jugend und meinen Stand, wurde ich ärzt¬
lich behandelt, doch gewiß nur oberflächlich hergestellt; denn ich erinnere mich
nur 3—10 Tage zu Hause geblieben zu sein.
Vom 12. bis zum 26. März, dem grünen Donnerstage, fanden fast täg¬
lich Ausfälle statt, an welchen nicht das ganze Bataillon, sondern nur die
Theil nahmen, die sich gerade auf Vorposten befanden. Der Ausfall am 26.
Mürz war der bedeutendste und hatte auf das Bataillon einen ganz besondern Ein¬
fluß; denn unser Oberst wurde zum Commandanten von Neusahrwasser er,
nannt, wohin er mein Bataillon mitnahm, das er sich besonders ausgebeten
hatte, weil er sich auf seine treuen Schlesier verlassen konnte. Die Leute der
andern Regimenter waren nicht so zuverlässig, es waren viele Polen darunter,
es fanden zahlreiche Desertionen statt, namentlich vom Regiment Nouquette-Drago-
ner. so daß da, wo Infanterie- und Cavallerie-Vedetten zusammenstanden, erstere
den Befehl erhalten hatten, die Dragoner sorgfältig mit zu bewachen und wenn
einer sich über die Gebühr entfernte, ohne alle Umstände Feuer auf ihn zu geben.
An jenem 26. März waren d>e ersten Truppen zur Verstärkung der Gar¬
nison zur See in Neusahrwasser angekommen, es waren 2 Compagnien Rus¬
sen, von 2 Bataillonen, die später, bis zum ^28. März, ganz dort ausgeschifft
wurden. Die Landverbindung mit Pillau. von wo auf der frischen Neh¬
rung Perstärkungen ankommen konnten, war durch den in der Nacht vom 19.
zum 20. März erfolgten Verlust der Nehrung abgebrochen. Der grüne
Donnerstag hatte uns auch um einen braven Offizier gebracht, welcher in
der Kalkschanze, wo er aus Feldwache war, gefangen wurde. Es ist der noch
jetzt lebende pensionirte Major von Molitor in Breslau. Die Besatzung von
Neufahrwasser hatte an diesem Tage auch einen Ausfall gemacht, war jedoch
mit Verlust zurückgeschlagen worden und hatte den Major von Krockow als
Gefangenen verloren. Dieser hatte theils auf eigene Kosten, theils mit Hilfe
der pommerschen Stände ein Freicorps errichtet, das seinen Namen führte.
Dasselbe bestand aus einem Bataillon Infanterie und einer Escadron Ca-
vallerie, sie hießen Jäger — die Infanterie hatte Büchsen; ihre Uniform war
grün mit Schwarz wie die unsere; nur mit einem andern Schnitt; als Kopf¬
bedeckung trugen sie eiserne schwarzlackirte Pickelhauben mit schwarzen Ro߬
haaren im Kamm, auf welche vorn Todtenköpfe gemacht waren. Sie sahen
sehr gut aus und hielten sich ungemein brav; denn sie waren aus Freiwilligen
und ranzionirten Soldaten errichtet. Nach der Gefangennahme ihres Com¬
mandeurs befehligte sie ein Hauptmann von Luck, ein Namensvetter, aber,
so viel ich weiß, kein Verwandter meines Hauptmanns. Am 28. oder 29.
März marschirten wir nach Neufahrwasser über den Holm, die Besatzung war
beinah 1300 Mann stark, bestand aus unsern Füsilierbataillon, dem Krockow-
schen Freicorps, einem neu errichteten Neservebatcnllon und 1 oder 2 russischen
Bataillonen, auch Kosaken, unter denen sich Kalmücken befanoen, die durch
ihre eigenthümliche Gesichtsbildung mehr noch als die Kosuken meine Auf¬
merksamkeit erregten. Sie luden mich bisweilen zu einem Gericht Pferde¬
braten ein, das ihnen gewiß ein leckeres Mal war. Ich kostete aus Neu¬
gier davon, vermochte ihm aber keinen Geschmack abzugewinnen. Ueberhaupt
gab es in Neufahrwasser viel Neues für mich, die Ostsee, drei englische Fre¬
gatten, jede mit 22 ispfündigen Kanonen, die englischen Matrosen mit ihren
rothen wollenen Hemden, der Strand mit seinen Massen von Bernstein, den
ich fleißig suchte, von dem ich aber nie ein besonders großes Stück gefunden
habe. Alle Zeit, die ich vom Dienst frei hatte, brachte ich am Strande und
auf den Schiffen zu. Der Dienst war schwer, einen Tag um den andern
auf Wache und von der Wache des Abends aus Piket. Vier Wochen lang
war Msere Compagnie auf einer der Fregatten des Nachts die Besatzung,
um diese gegen einen nächtlichen Angriff auf Kähnen zu schützen, es ist aber
nie einer unternommen worden. An Geld fehlte es mir nicht, um meine klei¬
nen Bedürfnisse zu bestreiten; denn da ich meine Nationen nicht verzehren
konnte, ja mit sammt meinem Burschen an einer vollkommen genug hatte, so
wurde das Ersparte verkauft. Für ein Brod bekamen wir V- THIr.. für eine
Metze Erbsen 10 Sgr. Angegriffen wurden wir nicht, und wenn des Nachts
der Kanonendonner unaufhörlich rollte, so gewöhnten wir uns allmnlig so
daran, daß^ wenn er einmal nachließ, weil der Feind von Zeit zu Zeit seine
Munition sparen mußte, man nicht so gut schlief, weil es zu ruhig war. Wie
oft habe ich in den schönen Mai-Nächten dem Fliegen der Bomben und Gra¬
naten zugesehen, die sich begegneten, was man an den Zündern, die glühten,
ganz deutlich wahrnehmen konnte. Ich machte die Bekanntschaft eines Ober¬
feuerwerkers Namens Köhlhorn. eines gebildeten Mannes, der sich meiner.sehr
annahm und unter dessen Schutz und Aufsicht ich Alles sehen konnte, was
mich interessirte. Eine gräßliche Plage war das Ungeziefer in unsern Klei¬
dern, womit uns die Russen so reichlich beschenkt hatten und von welchem
ihren Ueberfluß sie uns noch täglich mittheilten, weil wir sehr häufig die
Wachen bezogen, die sie verließen; wir konnten uns desselben nicht erwehren.
Auch dem Exerciren eines russischen Bataillons sah ich mehremale zu. Nach¬
dem ich aber eines Tages Zeuge gewesen war, wie der Commandeur, ein
Major, auf einen Offizier, der als Point vorgetreten war und sich wahr¬
scheinlich nicht genau genug gerichtet hatte, zuritt und ihn vom Pferde herab
so ohrfeigte, daß ihm der Tschacko herunterfiel, ging ich empört weg. und sah
dem Exerciren der Russen nie mehr zu.
Noch war die Communication mit der Stadt frei, aber jn der Nacht vom
7. Mai wollten die Franzosen den Holm abgreifen, was der Gouverneur
erfahren und deswegen eine Verstärkung hingeschickt hatte. Der Angriff ge¬
schah wirklich. Russen, unter einem Major v. Aelter, 1500 Mann stark mit
15 Geschützen, vertheidigten ihn. Er ging in dieser Nacht verloren — wie?
ist bis heute nicht genügend aufgeklärt worden. Die Bestürzung der Be¬
satzung von Neufahrwasscr war außerordentlich, und so wenig ich auch davon
verstand, sah ich doch ein, daß es ein großes Unglück für uns war, von der
Festung ganz abgeschnitten zu sein. Ich erinnere mich, daß ein einziger Fi¬
scher aus Neufahrwasser es einige Male wagte, unterm Schutze der Nacht, die
zu dieser Jahreszeit nur kurz und gar nicht finster ist, nach Danzig hin und
zurück zu fahren, um Nachricht zu bringen, das glückte noch ein Mal, aber eines
Morgens kam der Nachen mit der Leiche des braven Schiffers angeschwommen,
und nun hörte alle directe Communication auf. Man hatte das gefürchtet,
und deshalb war unter der Anleitung eines Kaufmannes Gibson schon am
4. Mai ein Telegraph errichtet worden, mittels dessen die Nachrichten, welche
von Pillau und Königsberg einliefen, nach Danzig mitgetheilt wurden. Uns
hatte es an Lebensmitteln und frischem Fleisch nie gefehlt, und auch jetzt man¬
gelte es nie daran, da sie durch Handelsschiffe gebracht wurden, die aber weit
draußen auf der^Rhede bleiben mußten, weil es wegen der französischen Bat¬
terien, von wo aus auf die Schiffe geschossen werden konnte, gefährlich war
in den Hafen einzulaufen.
Eines Tages erfuhren wir, daß ein solches Fahrzeug, ich glaube ein
dänisches, mit Delicatessen auf der Rhede liege. Der Oberfeuerwerker Köhl-
horn forderte mich auf, mit ihm eine Partie dahin zu machen; wir mietheten
ein kleines Boot mit 2 tüchtigen Schiffern und erreichten das fragliche Schiff,
obschon es eine Meile vom Strande ankert«?, in kurzer Zeit, da wir bei dem
günstigen frischen Landwinde das Segel benutzen konnten. Wir amüsirten
uns dort sehr gut, aßen und tranken prächtig und dachten nicht an den Auf¬
bruch, als mit einem Male der Capitain in die Cajüte trat und uns auf¬
forderte, so bald als möglich ans Land zu eilen, weil sich ein Sturm erhöbe
und er nicht wisse, ob er nicht gar die Anker kappen müsse, in welchem Fall
wir mit ihm fahren müßten. Wir eilten aufs Verdeck, und da schwankte das
Schiff bereits so, daß unser Boot immer so lang die Leine war, womit man
es befestigt, vom Schiffe abstand und dann wieder hinangeworfen wurde. Man
mußte den Moment abpassen, wo das Boot an das Schiff schlug, und sich
vom Ende der Strickleiter hineinfallen lassen. Dies wurde denn glücklich
ausgeführt, und wir waren mit unsern Schiffern im Boote. Aber jetzt war
guter Rath theuer. Die Nuder wurden eingesetzt, die See ging sehr hoch, Wind
und Wellen gegen uns. wir wurden bespritzt, dann naß wie die Katzen und
? v .l.'i^ni SIU »!>iM!NiIUI,lV> ItNY
standen bald' bis an die Knöchel im Wasser Die Schiffer riefen uns zu, das
Wasser auszuschöpfen, es blieb uns nichts übrig, als daß .Köhlhorn seinen
Hut und ich meinen Tschacko als Eimer benutzten, und dennoch konnten wir
des Wassers nur Mit der größten Mühe und angestrengtesten Arbeit Herr
werden. Zwei ganze Stunden dauerte es, ehe wir das Land erreichten, und
dann mußten wir noch in einem kleinen aus einem Baumstamm gemachten
Nacken über die Weichsel, die ungeheure Wellen schlug. Endlich waren wir
aus dem Trocknen, und nun von Angst und Arbeit erschöpft, sank ich auf
meine Knie nieder und dankte Gott inbrünstig für meine Rettung. Nie
werde ich diese Fahrt vergessen, was war diese für ein Desert auf die im
dänischen Schiff genossene Mahlzeit! — Glücklicher Weise hatte Niemand den
Zweck meines nachgesuchten Urlaubs erfahren, und so war ich wenigstens vor
den Nachwehen, den Verweisen, gesichert.
Anfangs Mai hatte sich das Gerücht verbreitet, es würde ein bedeutendes
russisches Corps zur See ankommen, um uns Entsatz zu bringen; dies bestä¬
tigte sich; den 11. Mai kam eine große Flotte an, es waren über dreißig
Schiffe, und wir dachten Wunder wie viel 20,000 Mann da ankamen, konnten
das auch beim Ausschiffen nicht beurtheilen, wenigstens ich nicht, denn es
wimmelte von Menschen und Pferden. Es waren aber nur 5000 Mann unter
dem russischen General Kaminskow.
Am 16. Mai, so lange brauchte man zur Ausschiffung und zum Ueber¬
setzen nach Weichselmünde, wurde von hier ans mit diesen Truppen der Ver¬
such gemacht, l^en Holm wieder zu nehmen; wenn dies gelänge, sollten sie
nach Danzig zur Verstärkung der Garnison marschiren. Früh um 4 Uhr wurden
die Franzosen angegriffen, aber nach einem sechsstündigen sehr blutigen Ge-
fecht mußte der Rückzug, der übrigens in der besten Ordnung erfolgte, ange¬
treten werden. Die Russen hatten einen Verlust von 55 Offizieren und 1317
Mann an Todten und Verwundeten, die Preußen von 6 Offizieren und 152
Mann. So war denn auch diese Hoffnung vernichtet!
Jetzt kam man aus die Idee, da es in der Festung an Pulver und
Hafer fehlte, den Versuch zu machen, mit einer von den englischen Fregatten
die Weichsel hinauf nach der Stadt zu segeln und Munition in dieselbe zu
bringen. Das kleinste Schiff, eine Korvette, der Dountleß, wurde dazu be¬
stimmt, die Gegenvorstellungen des Capitän Chatam wurden durch die russischen
Generale zurückgewiesen und die Vorbereitungen getroffen. Die Corvette, mit
22 achtzehnpfündigen Caronaden armirt. ging 18 Fuß im Wasser, die
Schleuße, die sie passiren mußte, hatte nur eine Tiefe von 14 Fuß, es mußte
also ausgeladen und jenseits der Schleuße wieder eingeladen werden, wobei
die Garnison half. Endlich war um 4 Uhr Nachmittags Alles bereit, der
Wind war günstig. Es war ein prächtiger Anblick, das schöne Schiff mit
vollen Segeln und mit der englischen Flagge geschmückt so dahin fliegen zu
sehen. Aller Zuschauer Segenswünsche begleiteten es. Es waren ein Offizier
und 40 Jäger vom Krockowschen Freicorps als Besatzung und ein aus Kö¬
nigsberg angekommener Courier darauf, ein Offizier von der Artillerie, der
bei dieser Gelegenheit dem Gouverneur Depeschen bringen sollte. Das Schiff
war mit 300 Centnern Pulver und 500 Scheffeln Hafer beladen. Anfangs
ging Alles gut, aber als die Corvette in die Biegung der Weichsel beim Holm
einbog, schien es mit einem Male, als ob sie still stände. Die Sonne stand
uns entgegen und blendete. Es wurde hin und her geredet, es steht, sagten
die Einen, es geht, die Andern, und da auch ich mit der größten Spannung
dem Schauspiel zusah und ebenfalls von der Sonne geblendet war. die
mein Urtheil zweifelhaft machte, entfuhr mir der unbesonnene Ausdruck: „ach.
die verdammte Sonne!" — Das hörte unser alter Regimentsarzt or. Mayer,
der mich ungeheuer herunter machte über meine Gotteslästerung, wie er es
nannte, ich hätte wohl noch nie über die größte Wohlthat Gottes gegen die
Menschen nachgedacht, sonst würde ich nicht so unvernünftig sprechen. Der
alte Mann hatte Recht, ich schämte mich, und er hat es mir später, als ich
ihm sagte, daß ich mir gar nichts dabei gedacht, und um Verzeihung bat.
verziehen. Unter der Zeit dauerte der Streit über das Gehen oder Stehen
des Schiffes fort, bis plötzlich dem Zweifel durch das Herunterlassen der eng¬
lischen Flagge ein Ende gemacht wurde. „Ach. und die Depeschen," hieß
es, „wenn der Offizier nur die in's Wasser würfe!" Er hatte das vergessen,
und so wurden sie dem Marschall Lefevre übergeben. Wie man so etwas
außer Acht lassen, so den Kopf verlieren kann, begreife ich heute so wenig
wie damals, als ich noch ein Kind war. Aus den Depeschen erfuhr der
Marschall, und durch Zusendung derselben bald auch der Gouverneur, daß
Danzig Seitens der Armee gar nichts zu hoffen habe und unser guter, da¬
mals so unglücklicher König die Festung ihrem Schicksal überlassen müsse.
So war denn nun die letzte Hoffnung vernichtet, und am 24. Mai trat der
Gouverneur in Capitulations-Verhandlungen. Am 25. Mai wurde die Ca.
pitulntwn abgeschlossen. Es war. wie ich gehört, dieselbe Capitulation, die
General Kaikrcutd demselben Marschall Lefevre bei der Uebergabe von Mainz
in der Nheincampagne bewilligt halte; damals standen sie sich im umgekehrten
Verhältniß gegenüber. Die Truppen durften mit klingendem Spiel, fliegenden
Fahnen, Waffen und den Regiments - Kanonen mit brennender Lunte nebst
Pulverwagen nbmarschiren und wurden bis an unsere Vorposten in 5 Tage-
Märschen durch die frische Nehrung gebracht. Die Garnison verpflichtete sich,
ein Jahr lang nicht gegen Frankreich zu dienen.
Die beiden Forts Fahrwasser und Weichselmünde waren nicht in der
Capitulation eingeschlossen, die Commandanten derselben mußten daher eine
eigene Capitulation abschließen, was auch geschah. Ein französischer Parla¬
mentair kam deshalb nach Weichselmünde, von Fahrwasser war der Haupt¬
mann von N...... . vom Obersten von Schuler damit beauftragt, der,
wie ich nachher erfuhr, den Befehl hatte, die Capitulation in die Länge zu
ziehen und darauf zu bestehen, daß die Besatzung nicht der Verpflichtung un¬
terliegen solle, ein Jahr gegen Frankreich nicht zu dienen.'
Am 26. Mai begannen diese Unterhandlungen und dader königliche Be¬
fehl eingetroffen war, daß die Besatzung eingeschifft werden sollte, so war
damit gleich begonnen und gegen Abend diese Einschiffung beendet worden.
Von den Transportschiffen, welche die Russen gebracht hatten, waren noch
genug übrig, um uns aufzunehmen; denn es waren ja bei dem Versuch, den
Holm wieder zu nehmen, eine Menge derselben geblieben. Alles war nun
zum Abfahren bereit, die Anker gelichtet, und immer noch kam unser Parla¬
mentair nicht zurück. Da nun nicht länger gezaudert werden konnte, so
wurde der Befehl zum Absegeln gegeben, die Schiffe verließen den Hafen.
Das Schiff, auf welchem der Oberst von Schuler sich befand und auf dem
auch ich war, blieb das letzte, es war bereits nahe an der Mündung des
Hafens, als auf dem Hafendamm ein Offizier, den man an dem weißen
Federbusch als solchen erkannte, gelaufen kam, ein Papier in der Hand, mit
welchem er winkte. Man hielt ihn für unsern Parlemcntair-Hauptmann,
und es wurde ein Boot ausgesetzt ihn aufzunehmen. Dies Letztere geschah,
und das Boot erreichte das Schiff am Ausgang des Hafens. Der Haupt-
mann war ganz athemlos; als er auf's Verdeck kam, wandte er sich voller
Entrüstung an den Obersten und machte ihm Vorwürfe, daß er ihn um Stich
gelassen. Der Oberst erwiederte : „Sie blieben auch gar zu lange, ich konnte
nicht länger warten." — „Aber wenn Sie nun fortgewesen wären, so war es
um mich geschehen, hier ist die Capitulation." — Der Oberst: „die gilt nicht;
denn ich habe sie noch nicht unterzeichnet." „Das schadet nichts, ich war
verloren," indem er an seinen Hals wies, „und habe Frau und Kinder." —
„Nun für die wäre gesorgt worden; Einer für Alle!" — damit mußte sich der
Hauptmann zufrieden geben, indem der Oberst hinzufügte: „glücklicher Weise
sind Sie da!"
So wurde denn die Nacht hindurch die Reise nach Pillau fortgesetzt, wo wir
des Morgens ankamen. Ich weiß nicht mehr gewiß, ob wir in Pillau ausgeschifft
wurden, nur dessen erinnere ich mich, daß einige Offiziere an's Land gingen
und mich mitnahmen, so daß ich fast den ganzen Tag in Pillau war, und
viele mir ganz neue Eigenthümlichkeiten dieser kleinen Seestadt und Festung
zu bewundern hatte, so daß mir die Zeit nur zu geschwind verging. Abends
wurden wir auf die frische Nehrung übergesetzt und bezogen die Vorposten
den Franzosen gegenüber. Unser Oberst war nach Königsberg zum König
'
gegangen, um Meldung über sein glückliches Entkommen mit seinen Truppen
aus Neufahrwasser zu machen. Er kam nach 2 oder 3 Tagen zurück, aber
in seinem Aeußern so verändert, daß er kaum zu erkennen war; er hatte eine
ganz neue Uniform an, ohne Rabatten, mit 2 Reihen Knöpfen, wie sie die
russischen Offiziere trugen, wattirt mit hoher Brust, und der Zopf, der Ge¬
genstand meiner Sorge, war abgeschnitten! Denselben Tag noch oder den
nächsten wurde bekannt gemacht, daß Zöpfe hinfort nicht mehr getragen wer¬
den sollten. Es war ein trauriger Aufenthalt, einige große alte Kiefern
waren das einzige Grün, das wir sahen, die Verpflegung war schlecht und
hätte sehr gut sein können, wenn die Habsucht der-Engländer sie nicht zu der
Nichtswürdigkeit verleitet gehabt hätte, das schöne Schweinefleisch mit Hand-
hohem Speck dadurch ungenießbar zu machen, daß sie Fischthran-Tonnen,,zum
Einpökeln genommen hatten. Zu essen war es gar nicht, nur das ausge¬
bratene Fett war einigermaßen genießbar, so daß es zum Schnalzen des
Essens verwandt werden konnte. Auf den großen Kiefern nisteten viele Krähen,
es gelang mir ein paar Mal mit Hilfe meines Burschen Krähennester mit flüggen
Jungen auszmrehmen, die gekocht wie junge Tauben schmeckten, nachdem ih¬
nen die Hallt mit sammt den Federn abgezogen worden. Wenn man so
Monate lang nichts als gesalznes Fleisch zu essen hat. ist eine solche Ab¬
wechselung, und wenn es auch nur junge Krähen sind, eine wahre Er-
fMM'. . '.. ..,..-.',:.'-i,is, Mi! Z,p'„Kdu» z<,0<5 UI-1 s-Z'iitVl 51 nette
Wir blieben vom 27. Mai bis 14. Juni auf der frischen Nehrung
stehen, also bis einige Tage nach der Schlacht von Friedland, der letzten in
diesem unglücklichen Kriege, die leider auch verloren ging, und wurden nun
wieder eingeschifft und nach Memel transportirt. Es war wunderschönes
Wetter, aber der Wind nicht ganz günstig, so daß wir laviren mußten. Da
konnte ich der Lust nicht widerstehen, in den Mastkorb zu klettern, was ich
in Neufahrwasscr bereits fleißig eingeübt hatte, freilich aber bei stehenden
Schiffen. Die Bewegung macht nun zwar einen Unterschied, doch war er
bei der ruhigen See nicht groß, für mich gar keiner; die größte Schwierig,
den ist die. daß man. um auf den Mastkorb zu kommen, mit dem Rücken
nach unten schwebend, die Leiter ersteigen muß; herunter war die Sache viel
schwieriger noch. Ich, war kaum oben und schaute mich behaglich um, als
mein Hauptmann aus der Kajüte trat und mit Schrecken mich da oben be¬
merkte. Er befahl mir herunter zu kommen; des sagte, ich fürchtete mich, er
würde mich fuchteln. So fing eine Kapitulation an, und erst dann, als
er mir versprochen, mir nichts zu thun, wobei einige Offiziere, welche die
Sache im hohen Grade amüsirte. sich für mich verwendeten, kletterte ich wie¬
der herunter. Er empfing mich, nahm mich beim Arm, hörte nicht darauf,
als ich ihm sagte, ich habe das in Neusahrwasser eingeübt, und sprach:
„thun will ich Ihnen nichts, aber einsperren will ich Sie," und so führte er
mich in die Kajüte, mit dem Befehl, sie nicht eher zu verlassen, als bis wir
in Memel angekommen seien. „Ihr Onkel hat Sie mir auf die Seele gebunden,
und nun machen Sie mir solche Streiche, wobei Sie den Hals brechen oder
ertrinken können." Ich mußte mich fügen, indeß nach ein paar Stunden ließ
er mich auf mein Versprechen los, daß ich dergleichen halsbrechende Sachen
nicht mehr unternehmen wollte, was ich auch gehalten habe.
Ohne Unfall kamen wir vor Memel an. mußten diesen und den andern
Tag auf der Rhede bleiben und wurden dann auf der curischen Nehrung
bei Schwarzort, einem kleinen Fischerdorfe, 3 Meilen von Memel ausgeschifft,
wo wir ein Zeltlager bezogen und daselbst bis nach dem Tilsiter Friedens¬
schluß, den 9. Juli, blieben.
Das Leben in diesem Lager war ein beschwerliches, die Verpflegung
schlecht, anstatt unseres Brotes bekamen wir russische Zochari, einen aus
Commisbrot gemachten Zwieback, der oft verschimmelt war. Es fehlte so¬
gar an Salz, und die Suppen, die aus diesen Zochari gekocht wurden,
mußten öfter mit Pulver gesalzen werden, das schmeckte sehr schlecht und sah
wegen der Schwärze höchst unappetitlich aus. Die einzige Abwechselung boten
Fische, die wir manchmal bekamen. Unsere Unbequemlichkeit wurde durch die
Russen vermehrt, die mit uns Vorpostendienst gegen Königsberg versahen, sie
schlichen in unsrem Lager herum und stahlen wie die Raben, was sie erwischen
konnten, und man konnte sich ihrer' nicht erwehren. Mehrmals wurden
die ertappten Diebe durch unsere Füsiliere jämmerlich geprügelt, aber
immer kamen sie wieder. Die Nehrung besteht aus lauter flüchtigem Sand,
der ganz fein ist. und durch welchen bei den häusigen Marken Winden
unsere Zelte manchmal so verweht wurden, daß wir des Morgens kaum
heraus konnten; auch mußte das Schanzen zum Schutz unsers Lagers endlich
ganz ausgegeben werden, weil in einer einzigen Nacht tagelange Arbeiten
ganz verweht waren; dabei verdarb dieser feine Sand, der wie Staub durch
Alles drang, unsere ohnehin nicht sehr schmackhaften Lebensmittel. Ich wurde
krank, zwar nicht bedeutend, denn ich weiß nicht mehr, was mir fehlte, aber
doch genug, daß der Arzt verordnete, mich nach dem Dorfe Schwarzort zu
bringen. Das war aber ein so entsetzlicher Aufenthalt, daß ich mich aufs
Höchste anstrengte, um wieder ins Lager zurückkehren zu dürfen, denn die
zwee Nächte, die ich dort schlief, wurde ich auf die abscheulichste Weise von
den Schwaben geplagt, von welchen die Häuser der Fischer wimmelten. Sie
fraßen die Haut von den Füßen und Händen, was mehrere Stunden wie
Feuer brannte. Hierauf, ins Lager zurückgekehrt, hatten wir die Freude, von
des hochseligen Königs Majestät als kleiner Prinz in der Uniform des ersten
Garde-Regiments zu Fuß und dem Prinzen Friedrich von Preußen, der nur
ein klein wenig größer war, besucht zu werden. Beide waren kleiner als
ich. und das wollte viel sagen.
Endlich schlug die Stunde der Erlösung, wir wurden in großen flachen
Kähnen über das Haff gesetzt und betraten das schöne Lithauen, wo wir auf
vierzehn Tage Erholungsquartiere bezogen. Das Entzücken, als wir das
prächtige Wiesengrün erblickten, vermag ich nicht zu schildern, es war so groß
und so allgemein, daß viele von unsern Füsilieren sich an die Erde warfen
und den Boden küßten. Hiermit endet der Feldzug von 1807 sür wich.
"'''
Die Zusammenkunft in Compiegne und die sie begleitende famose" Brochüre
„is liliill et, 1a, Vistnlo" — hat die Aufmerksamkeit mehr als jemals auf
jenen vorgeschobenen Posten in Rheinpreußcn gelenkt, welchen Frankreich
gütlich in Anspruch nehmen will, weil es ihn gebaut, neben Landau. das
es befestigt hat. Jener erstere, Saarlouis, ist daher gegenwärtig ein Punkt
von ganz besonderem Interesse, und eine kurze'Schilderung aus eigener An¬
schauung in jüngster Zeit wird vielleicht willkommen geheißen werden. '
Saarlouis ist eine sehr junge Stadt, eine Schöpfung Ludwig's 14.,
dessen Namen sie auch trägt. Ursprünglich blos als Festung und Garnisons¬
ort angelegt, steht sie heute noch bis auf wenige Aenderungen ganz in der¬
selben regelmäßigen Beschränkung, welche ihr berühmter Erbauer hier für
geboten erachtete. Denn kein anderer als Vauban, der Bater der neueren
Befestigungskunst, war im Jahre 1680 mit der Ehre betraut worden, dies
Bollwerk zum Schutz des errungenen Lothringen zu errichten. Es gelang iher
vortrefflich; die Lage war damals eine fast unüberwindliche zu nennen; die
Feste selbst galt als ein Meisterstück der Fortification und wird theilweise
noch heute als solches bewundert. Um so mehr lag Frankreich am sicheren Besitz,
der ihm durch den Frieden zu Ryswik im Jahre 1697 garantirt wurde. Mittler¬
weile war im Ring der Wälle auch allmälig die Stadt entstanden; Anfangs
eine Art Departemeutsstation; ihre ersten Bürger waren internirte Sträflinge,
welchen die Regierung Wohnung und Arbeit gab. Aber bald bildete sich
reicher Verkehr aus der stark bevölkerten Umgegend, welcher die Städte fehlen,
und Saarlrmis ward ein- Centralpunkt für den Binnenhandel des Kreises.
Eine Härte Probe hatte die Festung zu bestehen, als nach der Schlacht bei
Höchstädt und der Einnahme von Landau im Jahre 1705 das holländisch-
englische Heer sie belagerte. Aber an Vauban's Redouten brach sich das
Glück der Briten; Saarlouis capitulirte nicht. Es blieb im ruhigen Besitz
Frankreichs, während der großen Revolution, die alle Erinnerungen an die
Bourbonen vertilgte, in „Sarreiibre" umgetauft, wenig belästigt und beachtet
in den Napoleonischen Kriegen bis- zum Jahr 1815. wo es zum letzten Mal
ein kleines Bombardement ohne Schaden zu bestehen holte, als die Preußen
es einnahmen, welche dem Entscheid des Pariser Vertrags zuvorgekommen
waren. Seitdem ist es eine preußische Festung und Kreisstadt.
Wenn man mit der Eisenbahn von Saarbrücken kommt, so hat man
von dem Bahnhof aus noch fast eine halbe Stunde bis zur Stadt. Es führt
dahin eine Pappelallee, und man passirt ein anscheinend unbedeutendes Vor¬
werk auf dem rechten Ufer der Saar, ehe man die Brücke dieses hier ziem¬
lich ansehnlichen Flusses überschreitet und die am linken Ufer gelegene Stadt
selbst betritt. Auch dem Laien wird während dieses Ganges alsbald klar,
daß hier sehr bedeutende Werke sich rings um ihn erheben. Seine Einsicht
steigt, sobald rhin freundliche Belehrung von Sachverständigen zu Hilfe
kommt. Es wird ihm deutlich, daß der Schwerpunkt der Feste und
ihrer Vertheidigung in dem Flusse liegt; dieser kann, vermittelst der Brücken-
schleußen, geschwellt werden, eine Arbeit, welche keine längere Dauer, als
etwa drei Stunden erfordert; je nach der Höhe des Wasserstandes verwandelt
sich alsdann die ganze Umgegend binnen zweimal bis dreimal 24 Stunden
in einen weiten See, der. durch die tiefen Festungsgräben soutenirt. eine
größere Annäherung von Heeresmassen und Geschütz mindestens außerordent¬
lich schwierig macht. Leider erreicht oft auch ohne künstliche Anschwellung
der Wasserstand der Saar eine fast unglaubliche Höhe; so zeigte in den Jahren
1-784 und 1804 der Fortifications - Pegel 28 Fuß und darüber; dabei stand
das Wasser fast 2 Fuß hoch in den Straßen der Stadt, verlief sich aber
glücklicherweise wieder rasch, ohne besonderen Schaden angerichtet haben.
Indessen mühte doch auf diesen Umstand bei der Anlage der Werke, VorraM-
Häuser und Kasematten vielfach Rücksicht genommen werden- So sehr aber
Saarlouis durch seinen Fluß geschützt erscheint, so hat doch der kluge Ban-
da-n nicht auf die ungeheueren Fortschritte gerechnet, welche das 19. Jahr¬
hundert in der Herstellung von Geschützen und Geschossen zu machen bestimmt
war. Die nächste Höhe, welche die Stadt beherrscht, ist der Limberg. ein
Bergrücken von etwa^ 800 Fuß über dem Flußspiegel, dessen Abdachung bis
zur französischen Grenze reicht, von welcher aus also sein geräumiges Plateau
leicht und schnell zu erreichen ist, sogar für schwere Geschütze. Die Entfer-
mung des Limbergs von der Festung beträgt 3500 Schritte. Dies war mehr
als genug zur Zeit der alten Kanonen und Mörser, aber es genügt nicht
mehr für die gezogenen Geschütze, welche bekanntlich bis auf 4000 Schritt
Entfernung noch ganz sicher schießen — obgleich die Erfahrung über ihre
Wirkung aus solcher Entfernung aus Festungswerke eigentlich noch wenig
festgestellt ist. Jedenfalls aber war es für Preußen die nächste Pflicht nach
der theilweisen Armirung der Festung mit gezogenen Kanonen, sie vöriMr
Wirkung der feindlichen zu schützen durch Befestigung des Limbergs. Diese
ist denn auch in Angriff genommen worden, es genügen dazu Erdwerke, und
deren Auswerfung erleichtern die dort oben befindlichen Neste von« Schwedcn-
schanzen aus dem dreißigjährigen Krieg. Außerdem vertheidigen noch ver¬
verschiedene Außenwerke den Kern der Festung. Die Besatzung derselben be¬
steht gegenwärtig außer Artillerie, Pionieren und Genie, wenn wir! nicht
irren, aus 2 Bataillonen Infanterie und 2 Schwadronen Uhlanen; sie wird
aber natürlich im Kriegsfall bedeutend verstärkt.
Kommt der Krieg einst, wie voraussichtlich, von Westen nach Deutsch¬
land, so kann man wohl sagen, daß alsdann Saarlouis der gefährdetste
Platz des letzteren sein wird. Es ist die, der französischen Grenze zu¬
nächst gelegene deutsche Feste, binnen einer Stunde von jener aus zu er¬
reichen . zugleich nach Landau das begehrenswertheste Object deutscher
Besitzungen, ja, in den Sympathieen der Franzosen sogar jedem anderen
voranstehend. Vermittelst der Eisenbahn kann ein französisches Heer gleich¬
zeitig mit dem Eintreffen der Kriegserklärung in Berlin die Stadt Saarlouis
cerniren. Dies hat man bei dem Bau der Bahn vorausgesehn; nur aus
diesem Grunde ist die Station der Stadt so weit entlegen, und sticht der nur
aus Fachwerk errichtete Bahnhof so sehr ab von den anderen Prachtbauten
aus Sandstein auf dieser ganzen Linie; er soll eben so rasch, wie möglich,
und ohne großen Verlust, demolirt werden können; sein Niederbrennen würde
eine der ersten Thaten bei hereinbrechenden Franzosenknege sein. Früher ist
häufig, sogar in den preußischen Kammern, von der Schleifung dieser kleinen
Festung die Rede gewesen, deren Nutzen man für sehr problematisch zu halten
geneigt war. Allein sie vertheidigt jedenfalls eine der frequentesten Heerwege
aus Frankreich nach Deutschland. Daher denkt man denn auch heutzutage
an nichts Weiteres mehr, wie an ihre mögliche Verstärkung. Ueberall erblickt
man neue Werke vollendet oder im Bau. Sämmtliche Schanzen wurden oder
werden erhöht, ein neues, vollkommen bombenfestes Kriegslazareth ist am
französischen Thore auferbaut worden, hier auch ist eine Reihe neuer Kase¬
matten eingerichtet. Steigt man auf einen der Cavaliere, so überschaut der
Rundblick eine Tiefebene, welche in dem nächsten Umkreis nirgends coupirt
erscheint; auffallend ist nur der junge üppige Baumwuchs weit und breite
Derselbe ist aber blos ein Nachkömmling des Jahres 1348, in welchem der
vorsichtige Commandant rasch und prompt die ganze Gegend rasiren ließ.
Dies kann auch jetzt, bei dem ersten Nothzeichen, in kürzester Frist geschehen,
dazu liegt Alles bereit und geordnet, bis auf das kleinste Handwerkzeug; binnen
einer Stunde können mehrere hundert Mann an der Arbeit des Fallens sein.
Ebenso herrscht die bewundernswürdigste Vorsorge und Accurateste hinsichtlich
des Proviants und der Munition; da man stets auf eine Ueberraschung ge¬
saßt ist, so will man eben nicht überrascht werden, und wird es hoffentlich "
auch nicht. Die Armirung der Wälle ist schon jetzt beinahe vollständig und
kann in einigen Stunden völlig completirt werden; das Zeughaus ist wohl ver¬
sehen und in musterhafter Ordnung; das Laboratorium der Artillerie steht unter
vortrefflicher Leitung. Die gesammten Anlagen und Dependenzen der Festungs¬
werke machen den Eindruck der Solidität und Sicherheit; derselbe wird ge¬
kräftigt durch das mannhafte Selbstgefühl der Besatzung und die Furchtlosigkeit
der Offiziere, die natürlich nichts sehnlicher herbeiwünschen, als die praktische
Probe für ihre Theorie.
Die Stadt Saarlouis hat genau das Ansehen der allerhöchst befohlenen
Städte mit ihrer langweiligen Regelmäßigkeit. Sie bildet so ziemlich ein
Quadrat, die Mitte ein großer, freier Platz, rings mit Alleen eingefaßt, an
welchem alle einigermaßen bedeutende Gebäude liegen. Kirche, Gouvernements-
Palast, Hauptmacht u. s. w. Dieser äußerst geräumige Platz dient zu den
Wachtparaden, außerdem als Marktort, zu Schaustellungen; er macht einen
guten Eindruck. Steht man in seiner Mitte, so sieht man recht deutlich,
wie klein die Stadt ist, denn durch ihre beiden einzigen Thore, das deutsche
und das französische (es gibt noch einige Ausfallpsorten) blickt man hinaus
in's Freie. Der Nebenstraßen sind außerdem so wenige, daß man sich fragt,
wo die 5000 Einwohner, das Militär ungezählt, wohnen. In der Haupt¬
straße, welche die beiden Hauptthore verbindet, so wie im ganzen Centrum
der Stadt, bestehen sämmtliche Erdgeschosse nur aus Verkaufsladen, Boutiquen,
Schenken; Beweis für den Verkehr, der an den Wochenmarkttagen wirklich ein
ganz außerordentlicher ist; von weit und breit holt das Landvolk, selbst fran¬
zösisches, seine Bedürfnisse in Saarlouis. Es fällt aus, wenn man auf den
Firmenschildern gar nicht viele französische Namen liest; mehr aber noch, wenn
man die Aussprache der ächt deutschen vernimmt, so z. B. Hautz---Mr. Oos!
In der dem großen Platz parallelen Bierstraße, einem Quartiere, das der
Fremdenlegion in Algerien die meisten Recruten liefern soll, steht das Haus,
in welchem der Mann geboren ward, aus den Saarlouis stolz ist; eine ein¬
fache Tafel bezeichnet es mit der Inschrift: lei tut u«e nar6eKg.1 Usz^. —
Als im vergangenen Jahr in Metz die Statue des Bravsten der Braven auf¬
gestellt wurde — beiläufig gesagt, ein ebenso wirksames, als theatralisch ge-
halteres Kunstwerk, das den Marschall darstellt, wie er in der Schlacht bei
Ulm-Elchingcn das Gewehr eines Grenadiers ergreift, um damit voranzu¬
stürmen — da war halb Saarlouis ausgewandert, um der Feier beizuwoh¬
nen. Wer nicht in Metz war. der hielt Festtag, viele Läden blieben ge¬
schlossen, die von der Monumententhüllung Zurückkehrenden wurden auf
dem Bahnhof mit einem grenzenlosen Enthusiasmus empfangen, es war als
hielten sie einen Triumphzug. sie wurden mit Kränzen überschüttet — Fahnen
aber wallten nickt, besonders keine preußischen.
Denn Saarlouis ist eine durch und durch französische Stadt, in dieser
Beziehung vielleicht und zum Glück die einzige in ganz Deutschland. Es ist
dies im Grunde nicht zu verwundern. Die Einwohner sind zum größten Theil frau
zösischer Abstammung — die lothringische Zeit ist begraben — ihre Verwandten
wohnen in Frankreich, ihre intimsten Beziehungen wurzeln jenseits der Grenze.
Dies suchen sie mit ängstlicher Sorge auch aufrecht zu erhalten für die Zu>
kunst. Die Söhne der bemittelten Familien wandern, um der preußischen
Militärpflicht zu entgehen, frühzeitig aus und treten dann gewöhnlich in
französischen Kriegsdienst; diejenigen der Aermeren flüchten und ertragen
lieber die unsäglichen Strapazen der Fremdenlegion, als das mildere Joch
des deutschen Staates. Mädchen mit Vermögen heirathen fast durchweg
Franzosen, meistens Offiziere; auf Bällen, wie überall, geben sie diesen stets
sichtbaren Lorzug vor den preußischen Fähnrichs, Lieutenants und Hauptleuten.
Gegen diese steht Jedermann auf dem Fuß strenger Reserve, aber auch Höflich¬
keit. Hotels und Restaurationen, in welchen die Preußen verkehren, werden
von den Bürgern möglichst gemieden. Letztere verstehen und sprechen alle
vortrefflich deutsch, allein sogar wenn sie dies unter sich thun, beginnen sie
sofort eine französische Conversation, sobald ein Fremder naht. Redet dieser-
Einen aus ihrer Mitte deutsch an, so stellt sich der letztere harthörig und ant¬
wortet französisch; wer aber mit dergleichen Komödie schon vertraut ist, der
läßt sich nicht irre machen, denn er ist sicher, verstanden zu werden. Der
Bürgermeister der Stadt nennt sich und wird genannt Ur. Je Ug.ii-s. Und
sie halten gar nicht hinterm Berg mit ihren Sympathieen für Frankreich, die
guten Leute. „Wir sind mit Preußen, mit seiner Regierung, mit der Garnison,
völlig zufrieden." sagen sie; „aber sie zu lieben können wir uns nicht zwingen.
Es sind durchaus keine politischen, sondern reine Gründe der Familie,
wenn man so sagen kann, welche die Einwohner von Saarlouis so durch und
durch französisch gesinnt erhalten. Und sie sind dies fast ohne Ausnahme, selbst
diejenigen, welche ihren Unterhalt vorzugsweise der preußischen Besatzung ver¬
danken. Nur diese selbst und die Beamten, welche von anderswo dahin
versetzt worden sind, bilden den deutschen Kern dieser deutschen Grenzstadt.
Die Bauern aus dem Lande ringsum sind dagegen sammt und sonders gut
preußisch gesinnt und contrastiren in dieser Hinsicht auf das Merkwürdigste
mit den Städtern; ihre Söhne dienen gern in der preußischen Armee und
wollen von Frankreich nichts wissen.
Einsender dieses befand sich gerade an dem Tage zu Saarlouis, an
welchem das Rendezvous der Monarchen in 'Comviegne stattfand. „Heute
wird unser Schicksal entschieden!" flüsterten sich die Bürger zu. „Heute
kann der Grund gelegt werden zu einem reißenden Avancement!" sag¬
ten die preußischen Offiziere an der Tafel des Hötöl ein Min. — „Und zur
Probe, wie lange wir uns hier werden halten können!" fügten Andere hin¬
zu. „Ein paar Wochen lang soll sich selbst die beste Armee die Zähne
an uns ausbeißen. Unser Commandant*) ist nicht der Mann, der einen
preußischen Stein an Frankreich kommen läßt, so lang das lichte Körnlein
Pulver nicht verschossen ist!" — In fröhlicher Zuversicht auf deutschen Muth
und gerechte Sache erklangen die Gläser.
Voraussichtlich würde die Festung Saarlouis sich keine acht Tage halten
können, wenn der in der Bevölkerung glimmende Zündstoff nicht bei Zeiten
gedämpft wird. Kommt es einmal so weit, so muß wahrscheinlich die Stadt
sehr energisch geräumt werden. Aber wir wollen vorläufig hoffen, daß es
bleibt, wie es ist, und die Herren Preußen in der steten Spannung erhalten
werden, ohne welche, wie das einstimmige Urtheil lautet, „Saarlouis die
langweiligste Garnison ist in der ganzen preußischen Monarchie!"
'
Geschichte der deutschen Schauspielkunst.
(4. Bd. Leipzig, I. I. Weber. 1861.) *
Der langersehnte vierte Band des bedeutenden Werkes umfaßt die Ent¬
wickelung der darstellenden Kunst und ihrer Institute vom Pariser Frieden
bis über Immermann's Direction des Düsseldorfer Theaters, die Periode der
sinkenden deutschen Schaubühne, in welcher die Hoftheater in den Vorder¬
grund treten, unter Intendanten, d.h. unter Hofchargen welchen eine technische
künstlerische Bildung fehlt.
Ausführlich dargestellt sind die' Verhältnisse des Berliner Hoftheaters
unter Leitung des Grafen Brühl, weiche maßgebend für andere Hofbühnen
wurden, darauf das Leben anderer Hofbühnen, zumal der Wiener Burg.
Dort wurde zuerst die Trennung der Oper und Posse vom Drama durchge¬
führt, und der Segen solcher Einrichtung hat bis zur Gegenwart diesem Theater
eine bevorzugte Stellung erhalten. — Dann folgt ein Bericht über die städ¬
tischen und Privatunternehmungen, unter denen die des wunderlicheGrafen
Hahn nicht vergessen wird. Ueberall sind die bedeutendsten Schauspieler, ein¬
flußreiche Bühnenleiter charakterisirt, lehrreich und dankenswerth sind diese
Bemerkungen, wie kurz sie zuweilen behandelt sind. Und wir dürfen im In¬
teresse einer späteren Generation den Wunsch nicht zurückhalten, daß es dem
Verfasser gefallen möge, die künstlerische Persönlichkeit der Talente, welche er
noch aus eigner Anschauung kennt, entweder in einer späteren Ausgabe, oder in
einem besondern Werke mit breiterer Ausführung und dem Detail, welches nur
ein darstellender Künstler geben kann, für unsere Literatur zu conserviren.
Denn wie ungenügend der schriftliche Bericht über die Wirkungen eines
Schauspielers und seine Besonderheiten auch sein mag, er ist doch das ein¬
zige Mittel, der Folgezeit Vorstellungen von der Eigenthümlichkeit zu geben,
welche die schöne Kunst des Momentes in jeder vergangenen Zeit gehabt
hat. Es war ein Verdienst des Verfassers, daß er die Bilder großer Künstler
aus älterer Zeit: der Neuberin, Eckhofs. Schröters so gut gezeichnet hat;
für die Gestalten, welche ihm eigene Erinnerung und lebendige Tradition der
nächsten Vergangenheit verständlich macht, würde noch reicheres Detail möglich sein.
Seine sorgfältige und getreue Schilderung, wie sie ihre Rollen und einzelne
charakteristische Momente derselben zur Geltung gebracht haben, würde den
Nachkommen ein Abbild ihres Wesens und einiger Besonderheiten ihrer Zeit
geben. Und Niemand ist mehr befähigt, und deshalb vielleicht verpflichtet,
solche Arbeit zu übernehmen, als der Verfasser des vorliegenden Buches.
Selbst bei seiner ausführlichen Besprechung Seydclmanns würde es uns
wohlthun, eine gewisse reichliche Anzahl bedeutsamer Momente, welche beson¬
ders bezeichnend für sein Spiel waren, z. B. die Scene am Schreibtisch im
Clavigo, ausführlich beschrieben und beurtheilt zu sehen. — Sehr schön ist das
folgende Kapitel, welches den Einfluß der seichten Tagesliteratur und des Bücher-
drama's auf die Schauspielkunst schildert, ebenso die Betrachtungen über die Demo¬
ralisation der Künstler. Als eine Episode in dieser Zeit der Verschlechterung
sind die wenigen Jahre hervorgehoben, in denen Immermann unter sehr
beschränkten Verhältnissen versuchte, der darstellenden Kunst in Düsseldorf eine
Heimath zu bereiten. Dies Unternehmen ging zum Theil daran unter, daß
Immermann selbst nicht alle Lebensbedingungen der Schauspielkunst würdigte,
zumeist aber, weil die Kräfte der Stadt nicht groß genug .waren, eine stehende
Bühne zu erhalten.
Der Versasser schließt seine Darstellung des Düsseldorfer Unternehmens
mit folgenden beherzigenswerthen Worten: „Diese traurige Geschichte des
Immermann'schen Theaters enthält die ganze Misöre der herrschenden Zu¬
stünde. Einer der edelsten und tüchtigsten Männer Deutschlands richtet sich
mitten in dem Taumel des brillanten Kunstruins plötzlich auf, schlägt in
.energischer Begeisterung Amt und bürgerliche Stellung in die Schanze, achtet
des Achselzuckens und Kopfschüttclns der soliden Leute nicht, und legt alt kräf¬
tigem Willen und schnell entwickelter Fähigkeit Hand an zur Wiedernufrich-
tnng der Kunst. Und da er seine Kraft bewährt, da er die Mittel tara>
than. mit denen schnell geholfen werden kann, sieht er sich im Stich gelassc!,.
den Werth seines Bemühens verkannt, die Resultate geringschätzig aufgege¬
ben. — Auch einer der vielen deutschen Anfänge ohne Dauer."
Der vorliegende vierte Theil umfaßt keinen abgeschlossenen Zeitraum;
denn dieselben Uebelstände lasten noch heut auf der Schauspielkunst. > Aber in
den letzten fünfundzwanzig Jahren hat sich außerdem noch ein anderes Leiden
massenhaft entwickelt, welches unserem Theaterleben eine besondere Physio¬
gnomie giebt, das Virtuosenthum und die viel reisenden Gäste. Wenn der ge¬
ehrte Verfasser einem letzten Bande die Darstellung dieser auflösenden Ver¬
hältnisse vorbehalten hat, so wollen wir von Herzen wünschen, daß ihm die
Freude daran nicht verdorben werden möge. Denn schon das Spiegelbild
einer kurz vergangenen Zeit, welches in dem vorliegenden Bande zu finden
ist, wird lebhaften Gegensatz hervorrufen, der allerdings geringe Berech¬
tigung hat. Wer es aber mit deutscher Kunst ernst meint, ist dem Verfasser
zu großem Danke verpflichtet, daß er rücksichtslos die Wahrheit ausgesprochen hat.
Unter den Leitern deutscher Bühnen nimmt Eduard Devrient eine be¬
sonders interessante Stellung ein.. Selbst ein tüchtiger darstellender Künstler,
selbst dramatischer Schriftsteller mit origineller Persönlichkeit, ein feingebildeter
Kenner auch alter und fremder Bühnenzustände und guter Beurtheiler von
Kunstleistungen, hat er als Leiter eines Hoftheaters gegen die Strömung des
Tages, auch gegen die. Gewöhnungen seines Publikums, seit beinahe zehn
Jahren einen ehrenwerthen und nicht resultatlosen Kampf gekämpft. Er hat
gezeigt, wie viel in der Gegenwart unter mäßigen Verhältnissen von einem
tüchtigen Dirigenten geleistet werden kann, wenn demselben von oben freie
Hand gelassen wird. Es ist eine Freude, in Karlsruhe Darstellungen anzu¬
sehen, denen die Talente der Spielenden irgend gewachsen sind, überall wird
der segensreiche Einfluß umsichtiger, gewissenhafter Leitung eines Künstlers
deutlich. Der Dichter wird ihm dankbar sein für liebevolles und höchst sorg,
faltiges Einstudiren, der Schauspieler für den warmen Antheil, welchen er
jeder Rolle desselben schenkt. Die besseren Vorstellungen dort haben eine
Abrundung und ein Zusammenspiel erreicht, wie dasselbe jetzt kaum bei einem
andern deutschen Theater möglich wird. Auch das mäßige Talent arbeitet im
Zusammenhange mit seinen Genossen gute Wirkungen heraus, die stärkere
Kraft wird durch das Ensemble gehoben ohne sich aus dem Rahmen heraus¬
zudrängen; vortrefflich ist die Vertheilung von Licht und Schatten, sehr sorg¬
sam auch das Herausheben der Hauptmomente. und dem einzelnen Darsteller die
gebührende Gelegenheit, zu wirken, durchaus nicht beschränkt. Dazu kommt
ein kunstverständiges technisches Arrangement und eine gewissenhafte Verwal¬
tung. So bietet sein Institut in einer zerfahrenen Zeit gewissenloser Routine
das erfreuliche Bild einer gedeihenden Kunstanstalt. Besondere Virtuosität sei¬
ner Bühne sind die Ensemble-Scenen, zumal im feinern Lustspiel und Schau¬
spiel, gerade der Theil dramatischer Production, welcher auf andern Theatern
am meisten vernachlässigt wird, allerdings auch der, bei welchem unablässige
Einwirkung des Dirigenten am meisten fördern mag. Es ist dem Duector
dabei die Freude geworden, durch einige sehr tüchtige Talente, z. B. Herrn
und Frau Lange, unterstützt zu werden.
Sehr viel ist über den Verfall der deutschen Schauspielkunst geklagt wor-
den, Keiner hat mit so kundiger Hand ihren geschichtlichen Lauf und ihre
Leiden geschildert, als Devrient selbst. Nicht wenige ehrenwerthe Schauspieler
sind so weit gekommen, daß sie mit Resignation den unkünstlerischen
Schlendrian der Bühnen erdulden und den Untergang ihrer schönen Kunst
erwartend
Deshalb erfreut nicht weniger, als die Leistungen der Bühne, die dauer¬
hafte Wärme, mit welcher Devrient für die Interessen seiner Kunst kämpft, um
die Hebung des Schauspielerstandes sorgt. Nach vielen vereitelten Hoffnungen und
einem langjährigen Kampf gegen die Uebelstände unseres Bühnenlebens hat
er sich die volle Frische eines schaffenden Künstlers bewahrt. Auch das ist wohl
etwas Großes und soll in einer Zeit, welche dem Ringen gegen das bequeme
Schlechte in der Kunst keine freudige Anerkennung entgegenträgt, besonders gerühmt
werden.
Der Zweck des Kampfes, welchen Devrient in seinen Schriften führt, die
Ideen, wonach er in der Praxis seines Theaters arbeitet, ist: Würde und Eman¬
cipation der Schauspielkunst und der Künstler zu vertreten gegenüber Hofein¬
flüssen. Intendanten und leitenden Comites, gegenüber den Dichtern, gegen¬
über den Tageskritikern, endlich gegenüber dem Verderb unter den Künstlern
selbst, dem speculirenden Virtuosenthum. Es sind viele Gegner und wenige
Bundesgenossen, welche er bei diesem stillen Streite hat, und doch hat seine
Arbeit gerade jetzt die höchste Berechtigung, denn wie die Sachen bei uns in
Deutschland liegen, ist die Schauspielkunst trotz den zahlreichen Theatern und
der Theilnahme eines großen Publicums immer noch von allen Künsten die,
deren Lebensbedingungen am wenigsten verstanden werden, und für deren
Gedeihen die gesammte Strömung des geistigen Lebens in Deutschland seit
dem Anfang dieses Jahrhunderts besonders ungünstig war. Und wenn ihm,
dem reformirenden Künstler, ziemt, das Widerwärtige der einzelnen Erschei¬
nungen hervorzuheben, so wird uns verziehen werden, daß wir das Un¬
genügende des gegenwärtigen Kunstlebens aus den Fortschritten der deutschen
Bildung zu erklären suchen.
Wenn wir die Kunst der großen Schauspieler des vorigen Jahrhunderts,
der Eckhof, Schröder, rühmen, so denken wir selten daran, wie abweichend
die Verhältnisse, unter denen sie schufen, von dem Leben unserer Zeit waren.
Devrient hat in den frühern Bänden feines Werkes gut hervorgehoben, daß die
höchste Blüthe der Schauspielkunst mit der höchsten Blüthe deutscher Poesie
nicht zusammenfällt, sondern ihr vorausgeht. Sie liegt in der Zeit, in welcher
die besten Mitglieder der damaligen Wandertruppen von dem Segen der jun¬
gen Aufklärung ihren Theil erhielten, wo sich in Opposition gegen die wüste
Wirthschaft der alten Stegreifkomödie Bedürfniß nach Ordnung, Zucht, ern¬
stem Studium entwickelte. Als Eckhof herauf kam, gab es noch keine dra¬
matische Poesie und keine Herrschaft der Dichter, welche die Schauspielkunst
eingeengt hätte. Die flache Zeichnung und der unbedeutende poetische Werth
in den Lustspielen, so wie die tönenden Phrasen der Alexandriner-Tragödie
gewährten dem Darsteller gegenüber der Arbeit des Schriftstellers eine große
Freiheit und das erhebende Gefühl, daß erst er es war. welcher dem Leb¬
losen Farbe. Leben und Reiz gab. Für uns wären die alten Stücke in der
Mehrzahl nicht mehr anzusehen, und unsere Schauspieler vermöchte« sie nicht
mehr zu spielen, denn das Interesse, welches Publicum und Schauspieler an
der darzustellenden Handlung nahmen, war damals ein anderes, als es jetzt
zu sein pflegt.
Um das zu verstellen, muß man sich einige Eigenthümlichkeiten jener alten
Bildung in das Gedächtniß zurückrufen. In Eckhof's Jugend, vor etwa Huri-
dert Jahren, waren die Menschen auch im täglichen Leben weit mehr Schau¬
spieler, als uns erträglich fein würde. Sie waren gewöhnt, die eigene äußere
Erscheinung und die anderer Menschen in allen Momenten der Geselligkeit
weit sorgfältiger und skrupulöser zu beobachten, als wir. Kleidung und Hal¬
tung, der Fall der Rede, die kleinen Bewegungen des Körpers wurden mit
Sorgfalt gewählt und erst nach einem gewissen stillen Studium vor anoeren
Menschen geltend gemacht. Geringer war der Reichthum des inneren Lebens.
Wo wir den Ausdruck individueller Empfindung erwarten, befriedigte eine
Variation der zahlreichen stehenden Phrasen; während wir zumeist erfreut werden
durch die Aeußerungen origineller Kraft und am liebsten tüchtige Eigenthümlich¬
keit bewundern, sobald sie durch gute Sitte und humane Bildung geadelt ist, war
es vor hundert Jahren das studirte Einschmiegen der Persönlichkeit in die gegebene
Situation, was man von dem Gebildeten förderte. Selbst der ernste Gelehrte, der
würdevolle Geistliche überlegten sich in stiller Arbeitsstube die Bewegungen
ihrer Hand, den Tonfall ihrer Stimme, womit sie bei einem wichtigen Besuch
Wirkungen hervorbringen wollten. Und wie die Tracht, Schuhe, Strümpfe,
Kniehosen, das gestickte Kleid, das Spitzenband. der niedrige Hut, vor Allem
die Kvpftracht, Perücke und Puder, feine kleine Zierlichkeit, kurze Bewegun¬
gen, ein zierliches Andenken begünstigte, so wirkte auch die vorsichtige rücksichts¬
volle Sprache, ein reicher Fluß von artigen Redensarten, die feststehenden
vorgeschriebenen Formen des Lebens dahin, den Einzelnen dem Gesetze einer
kunstvollen Höflichkeit zu unterwerfen. Genau hielt man auf alle Formen,
jede Abweichung von dem Hergebrachten hatte Mühe, sich zu motiviren
und zu rechtfertigen. Es ist offenbar, daß solche Volksbildung der Kunst des
Schauspielers ein Interesse entgegenbrachte, welches unserem Publicum fehlt,
aber auch eine Vorschule gewährte, welche wir in dieser Art nicht mehr be-
bcsitzen. Bei jeder Scene, welche auf der Bühne dargestellt wurde, war der
dramatische Inhalt, vollends der poetische Kunstwerth, gar nicht die Haupt-
sache, sondern das gesellschaftliche Gebühren der Personen gegen einander.
Auch in gleichgültiger Situation mußte das Talent des Darstellers eine reiche
Fülle von interessantem Detail hineinzutragen. Seine Aufgabe war, charak¬
teristische Züge seiner Rollen unter dem Zwange der Convenienz und der festen
Tradition liebevoll anzudeuten, und mit Dankbarkeit und einem im Ganzen
sehr guten Verständniß erfaßte Mich .das gewöhnliche Publicum die feinen
Schattirungen. Ein Bewegen der Fußspitze, das Erheben eines Fingers, ein un¬
gewöhnlicher Tonfall der Stimme vermochten die größte Wirkung hervorzubnngen
und wie un Leben die Scheu vor dem Lächerlichen und Unschicklichen, d. h. Nicht-
Conventionellen, fast krankhaft ausgebildet war, so war auch der Sinn sür
das Komische und das Behagen an dem Unfertigen der Erscheinung vor der
Bühne lebhaft entwickelt.
Dazu kam ein anderer Umstand, der die alte Kunst der Darsteller von
der neuen fast noch mehr unterscheidet. Der Schauspieler stellte damals in
einem Raume dar, der so Nein war. daß die zartesten Accente seiner Sprache,
die leisesten Nuancen in Stellung und Geberde auch in dem entferntesten
Theile des Hauses vollständig verstanden wurden. Auch er war in der Lage,
sein Organ kunstmäßig ausbilden zu müssen, zur deutlichen und dialektfreien
Sprache — die besseren Schauspieler wären damals wahrscheinlich die einzigen
Deutschen, bei denen die Dialekt-Klänge ihrer Heimath kräftig gebändigt
waren. Aber wir dürfen annehmen, daß ihre Sprache weit weniger auf
Stärke und Energie des Tons, als auf zarte Schattirungen desselben gebil¬
det wurde, das Sprechen mit halber Stimme, die Laute weicher Empfin¬
dung. bezwungencrRührung. einen Wechsel zwischen Piano und Crescendo, zwischen
Andante und Allegro, den unsere Darsteller in dem großen Raume hervorzu¬
bringen gar nicht mehr im Stande sind. In dem Schlosse von Gotha ist
die Bühne erhalten, auf welcher Eckhof das erste deutsche Hoftheater leitete;
der Raum umfaßt etwa ein Drittel des cubischen Inhalts, welchen das Leip¬
ziger Theater hat. und er galt damals für groß und schwer durch eine Men-
schenstimme auszufüllen. Es ist kein Zweifel, daß sowohl Eckhof als Schröder
für unmöglich erklärt haben würden, in einem Raume, wie das gegenwärtige
Berliner Schauspielhaus, zuspielen. In solchem kleinen Saale war der Schauspieler,
ähnlich wie im modernen Salon, dem Publicum nahe, als wenn er unter
ihm stände. Schneller drang der Ton auch in die entlegenen Ecken, schärfer
war die Beobachtung jeder Einzelheit, behender das Verständniß auch der
kleinsten Andeutung.
Es ist klar, daß bei solcher Methode der Darstellung sich trotz der ver¬
schiedenen Genre, welche damals auf derselben Bühne neben einander liefen,
das ausbilden mußte, was wir in der Kunst Stil nennen, eine Methode,
zu wirken, welche fest auf der entsprechenden Methode des Publicums. zu em¬
pfinden und sich darzustellen, beruhte. Aber ebenso klar ist, daß diese immerhin
nationale Kunst sich nicht erhalten konnte, als die alten Formen des Lebens
gebrochen wurden und seit der Werther-Zeit und dem Eindringen Shake¬
speare's, vollends seit dem Beginne der französischen Revolution, an die
Stelle der alten festgebundenen Einheit des deutschen Lebens eine Periode
großartiger und massenhafter Aufnahme fremden Büdungsstoffes trat. Schrö¬
der wußte sehr gut, was er that, als er die ungeheuren Wirkungen Shake¬
speare's nur in prosaischer Bearbeitung seinen Zuhörern vorführen wollte.
Schon in dieser Umformung war es ihm ein kühnes Unternehmen. Und in
der That reichte dafür die alte Methode der Darstellung schwerlich mehr aus,
deren Wesen doch vorzugsweise schöne Detailschilderung, fein ausgeführte Ueber-
gänge, denerees Andenken, ein voller und reicher Ausdruck vielleicht nur bei
den Klängen weicher Empfindung war. Und als vollends das Mittelnlter,
das spanische Theater, die nicht französirte Antike eindrangen, als das alte
Costüm fallen mußte, die Ritterrüstung rasselte, der große Spornstiefel klirrte
als derbe Ungeheuerlichkeit das Modegelüst wurde, da ging es schnell mit
dem alten festen Siyl zu Ende. Es war ein großer Verlust, aber ein nothwendiger.
Jetzt wurde die junge Dichtkunst der Deutschen Gebieterin der Bühne, eine
rücksichtslose, zuweilen übermüthige Herrin. Die Blüthe der Poesie unter
Goethe und Schiller drückte aber die Schauspielkunst nicht nur deshalb,
weil die Dichter, die immerhin nur halbe Sachverständige waren, jetzt Rath¬
geber und Leiter der Bühnen wurden und das natürliche Bestreben hatten,
den Schauspieler zum Instrument herabzusetzen, welches recitirend und decla-
mirend die poetischen Schönheiten des Dichters dem Publicum vortragen
sollte. Noch mehr schadete die seltsame weltbürgerliche Zerfahrenheit, welche
sich in der poetischen Bildung der Zeit ausdrückte. Daß die Poesie an dem
Uebelstand litt, ihre Formen und Maße, ihre Gestalten und ihre Me¬
thode der Darstellung aus den verschiedensten Zeiten menschlicher Cultur
zusammenzusetzen, das vorzugsweise hat die Schauspielkunst beeinträchtigt.
Denn diese war gegenüber dem Eindringen neuer Welten schwankend und
hilflos geworden.
Seitdem hat die Schauspielkunst eine Fülle der schönsten Talente auf
die deutschen Bühnen geführt, und ist doch unrettbar herabgesunken. Denn
weniger als jede andere Kunst verträgt sie die Styllofigkeit, und das
Verarbeiten disparater Bildungsmomente.
Wir sind nicht ungerecht gegen die Leistungen der lebenden Künst¬
ler, Wir wissen sehr wohl, daß der ungeheure Vertiefungsproceß, wel¬
chen das deutsche Volk seit Mitte des vorigen Jahrhunderts durchgemacht,
auch vielfach der Darstellung menschlicher Leidenschaft zu Gute gekommen ist.
Nicht nur der Umfang der künstlerischen Aufgaben hat seit dem Eindringen
der Shakespeare'schen Gestalten und der Ausbildung des historischen Dramas,
sehr zugenommen, auch das Verständniß und die Auffassung menschlicher Cha¬
raktere ist tiefer und großartiger geworden. Freier und umfangreicher sind
auch die Kunstivittel, durch welche Wirkungen hervorgebracht werden, als in
der Zeit, in welcher der Schauspieler noch für unanständig hielt, dem Pu-
blicum den Rücken zu kehren. Es ist wahrscheinlich, daß für Eckhof die
Rolle des Wallenstein einige unüberwindliche Schwierigkeiten gehabt hätte,
daß Frau Hensel eine sehr mittelmüßige Darstellerin der Maria Stuart ge¬
wesen wäre, daß selbst Charlotte Ackermann als Gretchen, Klürchen. Käthchen
bei aller Liebenswürdigkeit zu spießbürgerlich geziert erschienen wäre, und daß
Brockmann als Hamlet einem modernen Publicum in nicht wenigen Momenten ein
Lächeln abgenöthigt hätte. Wir wissen sehr wohl, daß jetzt auch das mäßige
Talent im Stande ist. einem Heldencharakter große und imponirende Wirkungen
zu geben, welche zu Lessing's Zeit auch die stärkste Kraft schwerlich durchgesetzt
hätte. Und es ist uns durchaus nicht verborgen, das, die Anforderung, welche
wir jetzt an einen großen Darsteller menschlicher Charaktere machen, höher
sind, als sie zu der Zeit sein konnten, wo Lessing das Spiel Eckhof's als
mustergiltig aufstellte. Aber dieselben Jahrzehnte, welche uns höhere An-
,p,und. «.b.,,, s°in.„ >b.°s° «.„ Duft». in d-„ S..,.d h°d„. h°h-,-
Anforderungen zu erfüllen. Und daß wir jetzt auch in den Rollen berühm¬
ter Darsteller encyklopädisches, stylloscs Zusammentragen einzelner wirksamer
Momente beobachten, neben alten Erinnerungen aus der Zeit Flecks und Jff-
land's, gelehrten Rath von Goethe und Tieck, daneben Effecte des ^lieg-er«
krg.n9g.is, ja der Melodramen, und wieder Gewohnheiten der Porstadttheater,
der niedrigen Komödie und Posse; zwischen dem Allen freilich geistvolle
eigene Erfindung und dicht daneben wieder Augenblicke völlig unkünstleri¬
scher Rohheit, daß wir dergleichen an unseren Schauspielern zu ertragen
haben, das ist für uns ein charakteristisches Kennzeichen einer unruhigen Zeit,
in welcher das Schöne und Reizvolle so massenhaft aus der Fremde einströmte,
daß es die Originalität des einheimischen Schaffens der Poesie wie der
Schauspielkunst auf mehrere Jahrzehnte beeinträchtigt hat.
Aber dieser Uebelstand ist nicht unüberwindlich, und grade jetzt ist unsere
Nation in eifrigem Kampf, auch ihm abzuhelfen. Freilich nicht zunächst
auf dem Gebiet der darstellenden Kunst. Wenn sie in ihrem politischen
Leben ihre Nationalität ausgeprägt und Styl erlangt haben wird, soll auch
die Schauspielkunst ihn erhalten. — Und zum Trost für junge Talente sei
gesagt, daß die Uebelstände moderner Bildung zwar unleugbar im Ganzen
die Blüthe der darstellenden Kunst aufhalten. daß sie aber für eine einzelne
starke und gesunde Kraft gar nicht unüberwindlich sind. Ein großer Schau¬
spieler. Freude und Stolz der Kunst, kann man immer noch werden. Frei¬
lich wird in ungünstiger Zeit dem Künstler außer dem Talent eine frische un¬
verwüstliche Kraft und ein männlicher Charakter vor Allem Noth thun.
Das zu Ende gehende Jahr ladet uns ein, den Blick zugleich rückwärts und
vorwärts zu lenken. Eben deshalb wurde bei den alten Römern der an der Schwelle
des neuen Jahres stehende Gott zugleich vorwärts und rückwärts schauend ge¬
bildet, weil er zu gleicher Zeit der Pförtner des Ausgangs und des Untergangs,
der Schließer des alten und der Oeffner des neuen Jahres war. Der älteste Janus
Geminus in Rom, der an der Grenze des Forums stand und den die Sage auf Numa
Pompilius zurückführte, war so ausgestellt, daß der eine Kopf gegen Osten, der
andere gegen Westen schaute; — ein eben so einfaches wie sinnvolles Symbol
der Betrachtungen/ zu denen ein bedeutungsvoller Zeitabschnitt auffordert.
Den Blick rückwärts auf das verflossene Jahr zu werfen, ist uns diesmal dop¬
pelt nahe gelegt, weil der Anfang desselben durch ein Ereignis; bezeichnet ist, das
im Leben eines monarchischen Volkes jedesmal eine große Epoche bildet. Das Jahr
18K1 begann in Preußen mit einem Thronwechsel; — aber unter wie eigenthüm¬
lichen Verhältnissen! Bei der Thronbesteigung des Königs Wilhelm lag der außer¬
ordentliche Fall vor, daß der Vorgänger seit länger als drei Jahren nur noch dem
Namen nach König war, aber nicht mehr regiert hatte, und daß der Nachfolger be¬
reits seit geraumer Zeit als Regent die dem Könige zustehende Gewalt ausübte. Die
höchste Regierungsgewalt blieb also in derselben Hand, in welcher sie schon seit
mehreren Jahren war. Wer aber deshalb meinen wollte, es habe sich am 2. Jan.
1861 in Preußen nichts weiter geändert, als daß der Prinz-Regent fortan König
Wilhelm heiße, der würde in einem großen Irrthum befangen sein.
Zwar ist es richtig, daß die Uebernahme der Regentschaft einen stärkeren Abschnitt
bezeichnet, als die Thronbesteigung des Königs Wilhelm. Denn mit dem Eintritt
der Regentschaft endete die traurigste Periode in der ganzen neueren Geschichte Preu¬
ßens. An die Stelle der Unredlichkeit, Heuchelei und Korruption trat damals wie¬
der Ehrlichkeit, Achtung vor dem Gesetz, ein verfassungstreues Regiment. Im Rathe
der Völker gewann Preußen wieder an Ansehen, sobald man nur wußte, daß an
seiner Spitze nicht länger eine Regierung stand, an welche ein tüchtiges Volt nur
mit Scham denken konnte. Aus freiem Entschluß hatte der Prinzrcgent in
der Zeit der tiefsten Reaction das bisherige System geändert und seine Räthe sich
aus den Reihen der bisherigen verfassungstreuen Opposition gewählt. Dennoch war
der Umschwung nicht so vollständig, wie man erwarten mußte, wenn man bei den
neuen Leitern der Regierung einen consequenten Gedanken voraussetzen wollte. An
vielen Stellen wurden die alten Einrichtungen geschont, auch wenn sie durchaus
den Charakter des Abgelebten trugen. Die Folge war, daß auch die neuen Schöp¬
fungen nicht überall recht fröhlich gedeihen wollten; — die Organe, welche zur Aus¬
führung dienen sollten, waren oft unwillig und arbeiteten den Ministern mehr ent¬
gegen als in die Hände; kein neuer Gedanke trat voll und ganz ins Leben, sondern
überall war trümmerhaft und hindernd das Alte, obgleich es durchaus den Stempel
einer abgeschlossenen Vergangenheit trug, mit dem Neuen in eine unnatürliche Ver¬
bindung gebracht.
Man erkannte diese Uebelstände schon damals sehr wohl; aber die allgemeine
Parole war, daß man die Regierung nickt drängen dürfe. Man sah die hauptsäch.
liebste Ursache >des schwankenden Ganges und der halben Maßregeln in der Pietät,
mit welcher der Prinz-Regent auf den noch lebenden König Rücksicht nahm. Mit
je freierem Entschluß der Regent in die neue Bahn eingelenkt hatte, desto mehr
mußte man diese menschlich edle Empfindung respectiren. Allerdings war der Prinz-
Regent unbedingt Souverän und konnte frei entscheiden, soweit die verfassungsmä¬
ßigen'Rechte des Thrones reichen. Aber man nahm allgemein an, daß er bei Leb¬
zeiten seines Vorgängers sich selbst die Freiheit der Bewegung bis zu einem gewissen
Grade versagt und sich nicht durchweg die Verhältnisse mit der subjectiven Freiheit
bereitet habe, die einem Könige zukommt.
Mit dem Beginne des vorigen Jahres lag die Sache anders. Friedrich Wil¬
helm der Vierte starb, und der Prinz-Regent ward König aus eigenem Rechte. Jetzt
hörten die Rücksichten auf, welche hie und da den festen systematischen Gang der
Regierung gehemmt hatten. Jetzt begann man, alle Verhältnisse des Staats zu
dem Geiste des neuen Königs in unmittelbare Beziehung zu setzen. Unter dem
Eindruck solcher Stimmungen trat im vorigen Jahre der Landtag zusammen. Hier
liegt der tiefere Grund, weshalb man von da an sich zu größerer Ungeduld berech¬
tigt glaubte. Auf die Periode der Regentschaft blickte man zurück mit einem auf¬
richtigen Dankgefühl, daß sie Recht und Gesetz zur Geltung gebracht, daß sie Hu¬
manität und Liberalität in die Verwaltung zurückgeführt hatte. Aber damit konnte
doch der Umschwung nicht beendigt sein. Eine bessere Handhabung der laufenden
Geschäfte genügt nicht in dem drängenden Ernst dieser Zeit. Es mußte nun doch
endlich Ernst gemacht werden milder Beseitigung der Hemmnisse unserer innern Entwick¬
lung, mit der Anbahnung einer Reform der deutschen Verhältnisse.
In beiden Beziehungen ist im Laufe des Jahres wenig oder nichts geschehen.
Während des letzten Landtages machte die Haltung der Regierung vielmehr den
Eindruck, daß es ihr an einem festen Plan und durchgreifenden Gedanken fehle.
Mit Ausnahme der Grundstcucrreform, in welcher man schließlich der feudalen
Partei noch die erheblichsten Zugeständnisse gemacht hatte, war jeder Gesetzentwurf
von irgend einer Bedeutung an dem Widerstand des Herrenhauses gescheitert. Die
Regierung aber sah dem ruhig zu, als ob wir Zeit hätten, mit der gesammten
Tntwickelung unserer Gesetzgebung zu warten, bis in die dicken Köpfe unserer Junker
etwas mehr Licht eingedrungen sein wird. Die im November verfügte Veränderung
in der Vertretung des alten und befestigten Grundbesitzes im Herrenhause kann
uns nur wenig verschlagen. Das ist eine Reform, die höchstens unseren Kindem
zu Gute kommt. Denn sie tritt erst in Kraft, nachdem etwa 50 Mitglieder des
Herrenhauses gestorben sein werden. Außerdem aber ist diese homöopathische Dosis
gradezu vom Uebel ; denn es ist damit eine neue Anerkennung der Verordnung vom
12. October 1854 verbunden, deren Legalität im höchsten Grade zweifelhaft ist und
auf welcher die unglückselige Zusammensetzung des Herrenhauses zum größten Theil
beruht.
Man hatte also beim Schluß des letzten Landtages die Aussicht vor sich, daß
noch für geraume Zeit jeder Fortschritt im Inneren durch das Herrenhaus werde
vernichtet werden. Und wenn im Innern, dann nothwendig auch in der deutschen
Frage. Denn wie soll Preußen seine Attractionskraft gegen die übrigen deutschen
Staaten üben können, wenn im Innern der Sammelort feudaler Institutionen
sorgfältig conservirt wird? Daraus erklärt sich das allgemeine Unbefriedigtscin, das
Mißbehagen, welches man in allen Kreisen der liberalen Partei, nicht blos i» den
fortgeschrittenen empfand. Diese Stimmung ging hervor aus dem Mangel an
Entschiedenheit und Sicherheit in dem Gang der inneren und äußeren Politik unserer
Regierung, aus dem damit zusammenhängenden Mangel an Erfolgen in der aus¬
wärtigen Politik.
In diese Stimmung schlug das Programm der Fortschrittspartei ein. Sein
Erfolg erklärt sich einfach daraus, daß es der herrschenden Stimmung vollkommen
entsprach. Man war mit dem Gang der Negierung nicht ganz einverstanden; aber
man fand die Ursache der Uebelstände mehr in der Schwäche, als in dem Willen
der Regierung; man wollte diese deshalb eher stärken als schwächen, aber nur in
dem Sinne stärken, daß sie besser im Stande sei. den von der reactionären Seite
kommenden Einflüssen Widerstand zu leisten. Wenn wir die Handlungen und Unter¬
lassungen mehrerer der jetzigen Minister mit den Reden und Bestrebungen vergleichen,
durch welche dieselben Männer, als sie auf den Bänken der Opposition saßen, sich
ihre Popularität erworben haben, so müssen wir annehmen, daß sie von der Linie,
die anfangs ihre Richtschnur bilden sollte, weit abgedrängt sind, — abgedrängt
durch einen Druck, dem der Gegendruck einer festen Volksvertretung fehlte. Weil
es zu ministeriell war, war unser bisheriges Abgeordnetenhaus dem Ministerium
nur eine schwache Stütze gewesen. Mit einem Willensschwächen Abgeordnetenhaus
wird die Regierung nie das Herrenhaus zu der Erkenntniß bringen, daß es im
Geiste der Verfassung mitwirken muß, wenn es als ein Hauptglied in unseren öffent¬
lichen Einrichtungen fortleben will. Und wenn, wie wahrscheinlich ist, das
Herrenhaus sich hartnäckig dieser Einsicht verschließt, so wird die Regierung nur
im Bunde mit einem Willensstärken Abgeordnetenhaus die Kraft haben, das Messer
tief genug an die Wurzel des Uebels zu setzen. Wollen wir das Ministerium nicht
nur erhalten, sondern auch starken und befestigen, so müssen wir durch unser
Drängen dem Drange von entgegengesetzter Seite das Gleichgewicht halten.
Dies ist in der That der Sinn der letzten Wahlen gewesen. Leider ist dieser
Sinn vielfach und grade an den entscheidenden Stellen mißverstanden, oder auch
absichtlich falsch dargestellt. So ist eine gewisse Spannung entstanden, die sich im
Laufe der vorigen Woche bis zu einer Ministerkrisis gesteigert hatte. Jetzt ist die¬
selbe wieder beseitigt, nachdem über die wichtigsten Vorlagen, welche dem neuen
Landtag gemacht werden sollen, eine Einigung zu Stande gekommen ist. Dennoch
beginnt man das neue Jahr mit einem gewissen allgemeinen Gefühl der Unsicher¬
heit. Mimsterwechscl — Kammerauflösung — das sind die Dinge, die in der
Luft liegen. Fragt man aber aufrichtig nach dem Grund, so liegt er nur zum
geringsten Theil im Abgeordnetenhaus, vielmehr im Herrenhaus, und noch weit
mehr darin, daß es der Regierung in sich selbst an Zusammenhalt fehlt. Sehr zu
beklagen ist es, daß grade jetzt der Fürst Hohenzollern abwesend ist. Kümmerte er
sich auch nicht um das Detail der Geschäfte, so war er doch durch seine hervor¬
ragende Stellung mehr als irgend ein Anderer im Stande, manche Differenz schon
im Entstehen zu beseitigen. Noch wichtiger war, daß, wenn in der Seele unseres
Königs ein Mißverständnis; Wurzel fassen wollte, der Fürst und Vetter leichter das
rechte Wort und den rechten Augenblick fand, als ein auch noch so sehr mit
dem allerhöchsten Vertrauen beehrter Minister. Wie die Regierung jetzt vor den
nächsten Landtag tritt, stehen auf der einen Seite Auerswald, Patow. Schwerin
und Bernuth-, — diese vier mögen in einer gemäßigt liberalen Richtung zusammen¬
gehen. Ihnen gegenüber stehen die Herren v. Roon, v. d. Heydt, v. Bethmann-Hvll-
wcg und v. Bernstorff; aber jeder von diesen ist wieder besonders nüancirt. Herr
v. Roon wenigstens gehört der Kreuzzeitung an — Leng xdiAKö —; thäte er es
nicht, so würde die Armeereform weniger unpopulär sein.
In solchem Zustande tritt das Ministerium vor den nächsten Landtag; — und
mit welchen Aussichten? So weit man bis jetzt erkennen kann, mit der Aussicht,
daß alle Vorlagen scheitern werden. In erster Linie steht die Armecreform. Wir
haben uns wiederholt darüber ausgesprochen. Wenn nicht eine umfassende Reform
des Herrenhauses zugestanden, oder in der deutschen Frage eine Aussicht auf ein
rasches Vorwärtsschreiten eröffnet wird, so wird das Abgeordnetenhaus diese Sust
dem Lande nicht aufbürden wollen. Außerdem werden die bedeutenderen Notlagen
eine Krcisordnung, eine ländliche Polizciordnung und eine Reform der Oberrecb-
nungskammcr sein. Diese Gesetzentwürfe werden alle im Herrenhause fallen, so
lange dasselbe so zusammengesetzt ist, wie es jetzt ist. Das jetzige Herrenhaus wird
nie zugeben, daß die KrciSvcrtrctung auch nur in so gemäßigter Weise, wie es
Graf Schwerin beabsichtigt, reformirt werde: eben so wenig wird es dafür stim¬
men, daß die gutsherrliche Polizei aufgehoben und damit der Nest der Feudalität
aus der Polizciverwaltung entfernt werde. Noch entschiedener wird das Herrenhaus
dem Gesetz über die Obcrrcchnungskammcr widerstreben- denn die Tendenz dieser
Reform geht dahin, daß der Landtag in den Stand gesetzt werde, über die Ein¬
nahmen und Ausgaben des Staats nicht mehr wie bisher eine blos scheinbare,
sondern eine wirksame Controle zu üben. Es soll also eine bedeutende Lücke der,
Verfassung dadurch ausgefüllt, es soll ein im Artikel 104 der Verfassung selbst ge¬
gebenes Versprechen gehalten werden. Grund genug für das Herrenbnus, ein sol¬
ches Gesetz zu verwerfen.
Also leben wir vor uns die Wahrscheinlichkeit, daß ein Ministerium, welches
Wir in seinen wesentlichsten Bestandtheilen gerne erhalten möchten, nicht im Stande
sein wirt, für seine Vorlagen die Genehmigung des Landtags zu erlangen. So er¬
scheint die Lage in diesem Augenblick. Aber wer möchte gerade jetzt es unternehmen,
nur für kurze Zeit den Lauf der öffentlichen Dinge vorherzusagen? Auf dem atlan¬
tischen Ocean schwimmt bereits das Schiff, welches die Nachricht nach Europa bringt,
ob innerhalb der nächsten Wochen Krieg oder Frieden zwischen England und Ame¬
rika sein wird. Kommt zu Neujahr Lord Lyons oder kommen die Herren Mason
Mit Slidcll in England an? Frankreich, Oestreich und Preußen haben sich in
der völkerrechtlichen Frage bereits für die englische, gegen die amerikanische Auf-
fassung ausgesprochen. Der Norden der Union ist nicht im Stande, den Süden
zu bezwingen; gleichwohl sollte er sich leichtsinnig in einen von ganz Europa gc-
mißbilligten Krieg mit der ersten Seemacht der Welt stürzen? Thäte er es dennoch,
so ließe sich dafür nur eine Erklärung denken. Wir müßten annehmen, daß der
Norden der Union seinen jetzigen Kampf als hoffnungslos aufgeben und für den
sklavenhaltcnden Süden einen Ersatz in dem sklnvenfrcien Canada suchen will. Hat
Nordamerika aus einem solchen Grunde den Krieg absichtlich gesucht, so ist voraus¬
zusehen, daß, wenn auch die Entscheidung hauptsächlich von Canada selbst abhängen
wird, doch der Kampf ein langer und erbitterter werden muß. Zugleich aber würde
ein solcher Kampf mit einem Schlage die ganze europäische Lage verändern. Nicht
daß etwa europäische Mächte unmittelbar iuterveniren sollten. Das wird Niemand
erwarten. Aber der kranke Mann am Bosporus und die „unterdrückten Nationa¬
litäten" würden dann wahrscheinlich wieder sehr viel von sich reden machen. In
einer solchen europäischen Spannung würden auch unsere inneren Angelegenheiten
ein anderes Aussehn gewinnen. Die Nothwendigkeit einer starken, einheitlichen, li¬
beralen Regierung würde lebhafter gefühlt werden. Die Losung der deutschen Frage
würde dringender werden, damit die Ereignisse uns nicht wieder, wie 18S9, in einem
Völlig desorganisirten Zustande überraschen. Andererseits würde auch das Aogeord-
nctenhaus der Armccresorm ganz anders gegenüberstehen; die Verwerfung der Kriegs¬
bereitschaft würde viel verantwortlicher sein, als bei friedlichen Aussichten.
Verhehlen dürfen wir uns nicht, daß beim Eintritt in das neue Jahr der
Horizont umwölkt ist. Doch lassen wir den Muth nicht sinken. Wir vertrauen auf
den gesunden und redlichen Sinn des Königs, der, wenn zwischen mystischen Nei¬
gungen und den realen Interessen des Staats die entscheidende Wahl getroffen wer¬
den muß, noch jedesmal sich auf die Seite gestellt hat, wo die lebendigen Kräfte der
Gegenwart stehen. Wir vertrauen nicht minder auf die in ihrem innersten Kern ge¬
s
Ein „Versuch zur Klärung der Verhältnisse Schleswigs zu Dänemark und
Holstein, bestimmt für jenes große Publikum Deutschlands und des Auslandes,
welches für seinen lebhaften Antheil an der Sache Schleswigs im deutschen oder
auch im dänischen Sinne einen jedenfalls verlässigen, dann auch bequemen histori¬
schen Führer sucht." Das Bequeme möchte die Hauptsache sein, das Verlässige
liegt darin, daß der Verfasser sich in Betreff der historischen Daten an die Arbeit
von Waitz hält. Eignes Quellenstudium verräth sich in dieser ersten Abthei¬
lung nicht.
Behandelt mit der bekannten, in Betreff der Hauptsachen dankenswerthen
Gründlichkeit die Oden Klopstocks. Als Einleitung geht eine Abhandlung über Klop-
stock als lyrischen Dichter voraus. Wenn der Excget seine gewöhnliche Methode,
auch Selbstverständliches zu erklären und Gleichgiltiges zu erörtern, etwas einschränken
wollte, würden seine Arbeiten beträchtlich an Lesbarkeit gewinnen.
Abmmemlltsanzcige zum neue» Znhr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den ^XI. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeration auf denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im Januar 1862. Fr. Ludw. Herbig.
- Fünf volle Wochen sind seit der Wegnahme der südlichen Emissäre vom
„Trent" verflossen, und noch immer läßt sich nicht mit Bestimmtheit angeben,
ob dieser Act zum Krieg zwischen England und Amerika führen wird oder
nicht. Das Schiff, mit dem man die entscheidende Antwort erwartete, hat
eine Vertagung der Frage gebracht und nebenher die Nachricht, daß die Aus-
sichten, soweit es auf die Stimmung der Massen jenseits des Oceans ankommt,
sich beträchtlich friedlicher gestaltet haben. Wir haben mit den Verständigen w
England alle Ursache uns dazu Glück zu wünschen, aber nicht weniger Ursache,
die Meldung mit Vorsicht aufzunehmen. Präsident Jackson würde vermuthlich
<mis Englands Verlangen nach Genugthuung mit der brüsten Weigerung ge.
antwortet haben, die Manche mit der letzten Post zu erhalten fürchteten.' Prä¬
sident Lincoln hat dies nicht gethan, und so darf der Freund des Friedens
noch hoffen. Der gegenwärtige Träger der vollziehenden Gemalt in Amerika
ist ein schwacher Charakter, aber ehrlich und gleich den meiste» ehrlichen Leu¬
ten überlegsam. Seit seinem Amtsantritt zeigte er bei jeder Gelegenheit die
Neigung, schwierige Fragen so lange als möglich offen zu halten, und dieser-
Politik ist er auch jetzt treu geblieben. Nach dein Wonlaut der Verfassung
konnte er, ohne sich zu Ja oder Nein von irgend Jemand Rath oder Zustim¬
mung zu holen, seineu Minister des Auswärtigen sofort beauftragen. Lord
Rüssels Note zu beantworten. Nach seiner unentschlossenen Natur hat er es'
vorgezogen, sich diese Zustimmung zu verschaffen und so die Verant¬
wortlichkeit für einen Entschluß mit Andern zu theilen. Für diesen Zweck bo¬
ten sich ihm drei Körperschaften dar. die wir im Folgenden nach dem Grade,
in welchem sie eine für uns wünschenswerthe Lösung versprechen, kurz betrach¬
ten wollen.
Lincoln ist Advocat. er könnte geneigt sein, die in Rede stehende Ange-
legenheit als juristische Frage aufzufassen, und so wäre nicht unwahrscheinlich,
daß er dieselbe dem obersten Gerichtshof der Ver. Staaten zur Meinungs¬
äußerung vorlegte. Wie letztere ausfallen würde, läßt sich mit Sicherheit nicht
sagen. Doch genießt dieses Tribunal eines guten Rufes, und man darf an-
nehmen, daß von ihm auf alle Fülle ein wohlüberlegtes und billiges Urtheil
abgegeben werden würde.
Faßt der Präsident den Streit als rein politische Frage auf. so wird er
sich in der Verlegenheit, in der er sich offenbar befindet, aller Wahrscheinlich¬
keit nach an den Senat wenden. Durch den ersten Artikel der Unionsver¬
fassung ist das amerikanische Oberhaus der Executive als Rath für den
Abschluß von Verträgen und die Ernennung von Gesandten beigesellt'. In
Folge davon hat sich dasselbe eine Art von Oberaufsicht über diplomatische
Angelegenheiten erworben. Der Senat hat einen stündigen Ausschuß zur Be¬
gutachtung solcher Angelegenheiten, der zwar nicht beschließende Befugniß be¬
sitzt, aber indirect großen Einfluß übt. Es ist daher,,sehr möglich, daß der
Präsident sich an dieses diplomatische Comite wendet und, indem er. wie bis¬
her, immer, seine persönliche Verantwortlichkeit auf ein Minimum vermindert,
nach dessen Ausspruch seine Schritte bemißt. Wie dieser Ausspruch lauten
würde, ist nicht wohl zu errathen, da wir nicht genau wissen, welcher Geist
im Senat regiert, seit die Vertreter des Südens ausgeschieden sind. Eins
aber Pissen wir mit Sicherheit, und das ist dem Frieden günstig. Der Se¬
nat bewies bisher von den beiden Hälften des Congresses stets die meiste
Einsicht, er enthielt bisher die gewiegtesten Politiker des Landes, und kein
aus solchen Politikern zusammengesetzter Ausschuß kann im jetzigen Augenblick
Krieg mit England wünschen. . ' ,> , >,> um.immr.
Die wenigsten Aussichten auf gütliche Beilegung des Zwistes gewährt
dje dritte Möglichkeit, die nämlich, daß der Präsident sich nach der Ansicht des
Repräsentantenhauses richtet, welches bereits durch eine Resolution das Ver¬
fahren des Capitän Wildes, gutgeheißen hat. In England wäre eine der¬
artige Erklärung des Unterhauses Richtschnur sür das Ministerium gewesen.
In Amerika ist dies nicht der Fall. Indeß hat die Kundgebung doch eine
sehr beachtenswerthe Seite. Das Repräsentantenhaus ist der Ausdruck der
öffentlichen Meinung, allerdings nicht der Meinung des gebildeten und in¬
telligenten Theils der Bevölkerung, sondern der des rohen, rein aus das, was
füx, die unmittelbare Gegenwart praktisch scheint, gerichteten Haufens, der in
Amerika herrscht oder doch die Herrschenden vielfach bestimmt. Der Prüsident
braucht sich an die Ansicht der Vertretung dieser Masse nicht zu kehren, da er
nickte,wie. M Minister in parlamentarischen Staaten genöthigt ist. ivor deren
Willen zurückzutreten. Aber die Frage ist. ob Lincoln die Unpopiilantüt nicht
mehr fürchtet als den Zorn Englands,, ja ob er von einem Eingehen auf die
Forderung des letztern nicht mehr ^zu fürchten hat, als bloße Unbeliebtheit bei'
dem lautesten und lebhaftesten Theil seiner Mitbürger..
Man sollte meinen, daß Niemand in Amerika unter den jetzigen Umstün¬
den den Wunsch hegen könnte, mit England in Krieg verwickelt zu we.rderr.!
Der Norden der Union ist mit dem Süden in einem Bürgerkrieg begriffen,
der mit unnöthigen Großthun begonnen wurde, in dem der Norden bisher
keinen großen Erfolg errungen, in dem er mehre schmachvolle Niederlagen er¬
litten hat. Man versprach sich und der Welt eine Unterwerfung der Rebellion
so zu sagen im Handumdrehen, aber das Ergebniß des Versuchs ist ein völlig
anderes gewesen, und bis jetzt hatte die Befürchtung, daß die Jnsurgenicu-
armee Washington- einnehmen werde, bei Weitem mehr für sich als die Hoff¬
nung,- daß-das Bundesheer die Golfstaatcn in seine Gewalt bringen werde.
Nur.die neueste Geschichte Neapels zeigte eine gleich klägliche Enttäuschung über
den Werth des militärischen-Systems wie in der Union, und unter solchen
Verhältnissen an einen Krieg mit einer großen europäischen Nation zu denken,
scheint eine Thorheit ohne Gleichen. Derselbe würde die bleibende Unabhängig¬
keit des Südens sickern und zugleich den Verlust der ungeheuern streitigen
Länderstrecken nach sich ziehen, um die sich der gegenwärtige Streit in der
Hauptsache dreht. Ein gewöhnliches Volk würde bei dieser Sachlage eher ans
alles Andere als auf Krieg sinnen. Aber die Amerikaner sind kein gewöhnliches
Volk, und die Zeit ist ebenfalls keine gewöhnliche. Einer in Revolution be¬
griffenen Demokratie ist nichts unmöglich. Der Präsident ist der-Lage, in der
er sich befindet, nicht gewachsen. Zum Sachwalter in einer Landstadt gebildet,
ist er durch zufälliges Zusammentreffen von Wahlergebnissen an die Spitze einer
Nation gestellt worden. Seine Minister, seine Generale sind verschiedener Mei¬
nung. Die Politik der Regierung ist selbst in der Lebensfiage der Sklaverei,
im Zwiespalt mit sich selbst. Sogar sehr sanguinische Amerikaner geben zu,
daß in Washington kein Haupt ist.
Fragen wir uns, was in diesem Nebelgewirr sich etwa für unsre Erörte¬
rung entdecken läßt, so sehen wir noch immer mehr Elemente zu Befürchtungen
als zu Hoffnungen.- Wir hören, d^ß'-die Massen »i Neuyork und andern östlichen
Städten sich verständiger und weniger zuversichtlich zeigen. Aber diese Stimmung
kann >n einer Demokratie sehr bald- wieder umschlagen. Jedenfalls ist die
große Massiv vollkommen überzeugt, daß die Verhaftung der Herren Mason
und.Slidell in- der Ordnung-gewesen, sie würde dies sein, auch wenn die Sache
weniger unklar und zweifelhaft mare, und sie ist nur für den Augenblick
unsicher, ob sie die Macht besitzt, es mit England aufzunehmen. Durch
eine.Reihe glücklicher Unternehmungen, durch fortwährende Schmeicheleien ihrer
Volksredner verwöhnt, seit langen Jahren nicht besiegt, weil seit langen Jahren
nicht ernstlich angegriffen, glauben die Amerikaner überhaupt unbesiegbar zu
sem, Sie träumen von einer großen Flotte, die sie im Nu aus ihren Häfen
gegen den britischen Handel loslassen könnten, träumen von der Eroberung
Canadas. Mr wissen> daß solche. Einbildungen geringen Werth haben, und
die leitenden-Politiker der Union sind-sich dessen ebenfalls bewußt. Sie ar-
Heller aber doch vielleicht auf den Krieg hin. Sie haben die Unterwerfung des
Südens versprochen, und es ist so sicher als die Existenz von Ancula. daß
das System, weiches sie geschaffen, und die Maßregeln, welche sie ergriffen
haben, den Süden nicht unterwerfen werden. Sie befinden sich in der unbe¬
haglichen Lage von Propheten, die sich nach einem Ereigniß umsehen, welches
das Nichteintreffen ihrer Weissagungen entschuldigen soll. Ein Krieg mit Eng¬
land ist die beste Entschuldigung, welche sie haben können oder zu haben
hoffen. Sollte es zum Bruch kommen, so konnten sie sagen: wir würden
die Rebellenstaaten besiegt und niedergeworfen haben, aber England, wel¬
ches uns in frühern Zeiten zu tyrannisiren strebte, sucht jetzt die Union
zu zerstören, die gegen seinen Willen zu Stande gekommen ist, ihm den
Rang abgewonnen hat. und ihm künftig die Weltherrschaft streitig machen
wird. Diese Reden würden nicht wahr, aber zweckmäßig sein. Die Pro¬
pheten würden sich damit salviren. Das selbstsüchtige Interesse des gegen¬
wärtigen Ministers des Auswärtigen in Washington, des gescheidtesten. mäch¬
tigsten und gewissenlosesten Politikers in der jetzigen Regierung, des einflu߬
reichsten der Staatsmänner der Partei, von welcher Lincoln der nominelle
Vertreter ist, drängt wohl ebenso lebhaft auf den Krieg hin, als die wilde ver¬
blendete Leidenschaft der „Mobokratie" in den großen Städten des Nordens.
Ein Krieg sollte nur geführt werden, wenn damit ein wesentliches Inter¬
esse gefördert, ein großes Ziel erreicht werden kann. Kriege um eine Ehren-
frage sind ebenso verwerflich als Zweikämpfe um diesen Zweck. Indem wir
diese Sätze auf den Gegenstand dieser Betrachtung anwenden, sehn w>r uns
die hier in Frage kommenden Verhältnisse und Thatsachen an und schließen
daraus auf den Gang, den der Krieg nach einigen wichtigen Seiten hin
nehmen würde.
Erstens, Niemand kann blind sein gegen das furchtbare Elend, welches
Lancashire, Cheshire und Lanarkshire für nächstes Frühjahr bedroht, wenn die
amerikanische Baumwolle den Spinnern und Webern dieser Grafschaften vor¬
enthalten bleibt, und es gereicht den dortigen Fabrikanten sehr zur Ehre, daß
sie im Angesicht einer solchen Calamuät die Blockade mit so viel Geduld er¬
tragen und die Aussicht auf einen Krieg, der ihr ein Ende machen würde, mit
so wenig Befriedigung begrüßen. Natürlich würde die erste Wirkung dieses
Kriegs die Eröffnung aller Hasen des Südens sein, England würde keine sehr
reichliche, aber immerhin eine ziemlich ausreichende Zufuhr des drei Millionen seiner
Bewohner so nothwendigen Rohmaterials erhalten und sich über die Schrecken des
Kriegs mit der Rettung von den Schrecken des Verhungcrns trösten können.
Zweitens, zu allen Zeiten und unter allen Umständen bringt der Krieg
großes Unheil ülier den Handel und Verkehr; aber im vorliegenden Fall ist
die Hälfte des Unheils bereits eingetreten. ^Der Ausfuhrhandel Großbritanniens
nach dem Süden ist durch die Blockade gehemmt, sein Handel mit dem Nor¬
den durch die Einwirkung der kriegerischen Zeit, die Geldwirren und den
Morrill-Tarif so gestört worden, daß er weit weniger als die Hälfte des
gewöhnlichen Betrags ausmacht. D>e englischen Kaufleute können im Fall
eines Kriegs kaum weniger Geschäfte mit Amerika machen, als jetzt, und sie
werden vermuthlich sogar mehr machen. Die nördlichen Häfen, die jetzt den
Schiffen Englands offen sind, werden sich schließen, aber die geschlossenen süd¬
lichen werden sich öffnen. Der durchschnittliche Werth der Waaren, welche
England aus den Südstaaten einführt, d. h. der Artikel, welche diese Staaten
erzeugen, Baumwolle, Tabak und Reis, erreichte letztes Jahr (1860) sast 32
Millionen Pfd. Se.; von den Artikeln, die England ihnen sendet, d. h. welche
schließlich ihren Weg in diejelben nehmen, können wir den Betrag nicht an¬
geben, da sehr viel davon bisher durch die nördlichen Kanäle gegangen ist,
doch kann er kaum weniger als 13 Millionen sein, und so würde den briti¬
schen Geschäftsleuten durch den Krieg ein jetzt völlig unterbrochner Handel
von einem jährlichen Betrag von 45 Millionen wieder geöffnet werden. Der
Handel, der ihnen geschlossen werden würde, läßt sich mit Genauigkeit nicht
angeben. Aber der Werth des gesammten englischen Ein- und Ausfuhrhandels
mit dem Ganzen der Staaten, Bereinigten und Conföderirten, im Jahr 1860
bezifferte sich mit 67 Millionen Pfd. Se. — ein Betrag ohne allen Vorgang.
So möchte scheinen, daß England durch Oeffnung der südlichen Hasen mehr
gewinnen würde, als es durch Verschluß der nördlichen verlieren könnte.
Es ist wahr, daß im gegenwärtigen Augenblick und in den letzten bei¬
den Monaten in Folge der ungeheuren Ausgaben der Föderalregierung die
Londoner und Liverpooler Kaufleute einen sehr lebhaften Ausfuhrhandel mit
Boston und Neuyork getrieben und von jedem Geschäft fast beispiellose Ge¬
winne erzielt haben, und daß dieser zeitweilige Erfolg mit dem Ausbruch
von Feindseligkeiten sofort aufhören würde. Allein auf der andern Seite
müssen wir uns erinnern, daß dieser Handel hauptsächlich in solchen Dingen
bestand, welche den Nordstaaten bei einem Zusammenstoß mit England, wenn sie
Lord Russell Forderung Trotz bieten, und bei ihrem Zusammenstoß mit dein
Süden, wenn sie England nachgeben, zu Statten kommen würde, daß Vieles
davon seiner Natur nach blos zufällig und vorübergehend ist, und o.iß die
Absicht der Schutzzöllner-Partei im Norden, die bisher fast allmächtig war,
dahin geht, diesen Handel in möglichst enge Grenzen einzuschränken. Auf
jeden Fall bleibt die Thatsache bestehen, daß der Süden den Engländern weit
mehr von seinen Erzeugnissen spendet, als der Norden, und daß er diejenigen
britischen Producte, die ihm als Gegengabe zugeschickt werden, herzlich will¬
kommen heißt, während andrerseits der Norden dem englischen Verbrauch
vergleichsweise wenig vom seinen daheim erwachsenen Gegenständen abgibt, so
wenig als irgend thunlich von-den englischen bezieht und dieses Wenige mit
Murren empfängt. Der Norden ist abgeneigt, die englischen Producte selbst
zu consumiren. und ängstlich bedacht, sie vom Süden fern zu halten, aus
dem einfachen.Grunde, .weil er seine eignen Erzeugnisse zu gebrauchen und
zu verbrauchen wünscht. Der Erfolg der Schutzzöllner-Politik ist gewesen,
daß bis jetzt die Hauptmasse der englischen Einfuhr von Amerika nicht in briti¬
schen Waaren , sondern in fremden mit britischen Gelde erkauften Waaren,
nicht in Kattunen von Manchester und Eisenwaaren vo.n Sheffield, sondern
in Thee und Seide von China, Zucker von Cuba u,ut Brasilien und Sal¬
peter von Indien bezahlt worden ist.
Es ist indeß zu fürchten, daß das Publicum geneigt ist. die Gefahr,
welcher der Handel Englands durch die amerikanische Kriegsmarine und die
Kaperschiffe ausgesetzt sein würde, zu unterschätzen.
Die regelmäßige Flotte der Vereinigten -Staaten ist ohne Zweifel verglichen
mit der britischen lächerlich klein, und es steht zu hoffen, daß die Kreuzer
der letztern rasA) Bericht über die meiste«! der^r erstatten werden, die sich jetzt
in See befinde», und daß man die. meisten andern verhindern wird, in See
zu stechen. Es ist ferner wahr, daß Kriegsschiffe, .die nicht Dampfer sind,
viel weniger Erfolg >n der Jagd auf Kauffahrer haben werden, als in frühern
Kriegen, und daß die Herrschaft Englands.über die Meere und den Kohleuhgudel
der Welt es denjenigen von ihnen, die Dampfer sind, sehr erschweren wird,
sich mit der erforderlichen Feuerung zu. versehen. England kann endlich hoffen,
daß neutrale Nationen in der Regel. .wo-nicht ausnahnislos, wie England
und Frankreich neulich allen Kaperschiffen verbieten werden. Prisen in ihre
Häfen zu führen und sich dort ausbessern zu lassen.
Allein die Schwierigkeit mit den Kapern kau» dadurch beseitigt werden, daß
man in Washington keine „Kaperbriefe," sondern „Bestallungen" in der Unions-
flotte ausgibt und dieselben jede», raschen Klipperschiffe ertheilt, welches ein oder
zwei Geschütze führen kann, und diese könnte» zwar den Postdampfer» und große»
Kaufsnhrern nicht gefährlich sein, wohl aber unter de» kleinen Schiffen.eine reich¬
liche Ernte halten. Dann hat Amerika so gut Kohle» wie England, obwohl
es nicht wie dieses Niederlagen dieses Bedürfnisses auf dem ganzen Erdball
besitzt, und kleine Schraubendampfer könnten zwar nicht für weite Reisen,
wohl aber für kurze Raubzüge genug davon mit sich führen. Endlich, und
djes ist ein Punkt, der ohne Zweifel die volle Aufmerksamkeit der britischen
Admiralität auf sich lenken wi d, ist eine vollkommene Blockade der nördlichen
Küsten, ein wirkliches Versiegeln derselben, eine äußerst schwierige Sache.
Ein starker Ostflnrm, namentlich wenn er lange anhielte, oder.im Winter,
würde fast unausbleiblich das Blockadegeschwader nöthigen.sich nach der hohen
See .zu wenden, und selbst eine nur vierundzwanzig Stunden währende Ab-
Wesenheit desselben würde Schwärmen kleiner gefährlicher Schiffe gestatten, auszu¬
laufen und sich unter der,gegnerischen Handelsmarine Beute zu suchen, die innen
um so leichter werden müßte, als jene sich vielleicht unter dem Schutz der Blockade
sicher fühlen würde. Wir fürchten. England würde finden, daß die einzig
sichere Methode, die Häfen von Boston und Neuyork. die Bucht des Delaware und
die Chesapeake-Bai zu blockiren. die ist, sich nicht vor, sondern in sie zu legen.
Ein anderer Punkt von Wichtigkeit, der nicht zu übersehen ist , obwohl
seine Wirkung nur eine zeitweilige sein würde, ist der, daß zu Anfang deS
Kriegs die Amerikaner alle Vortheile für sich haben werden, welche dem zu-
fallen, der zuerst erfährt, daß ein Kampf ausbrechen wird. Diese Vortheile
sind oft groß, und die Engländer können sich versichert halten, daß ihre
Gegner sich durch keine Rücksichten des Zartgefühls bestimmen lassen werden,
sich derselben nicht im vollsten Umfang zu bedienen. Bestehen sie auf einem
Krieg oder auf dem, was nothwendig eine Kriegserklärung von englischer
Seite zur Folge haben muß. so werden sie dies zehn oder zwölf Tage eher
als die Engländer wissen, und vermittelst ihres ^Telegra'phen nach San Fran¬
cisco können sie dann ihre Schiffe im Stillen Ocean und den chinesischen
Meeren wahrscheinlich mehre Wochen früher mit den nöthigen Weisungen ver¬
sehen, als die britische Regierung ans dem Wege über Indien Nachricht dort¬
hin gelangen lassen kaun. Viel Schaden ist hiervon zu fürchten, falls der
Streit sich rasch ziür Kriege umwandelt, aber dieser Umstand liegt so auf der
Hand, daß man sicher sein kann, daß die englische Regierung sich durch In-
structionen an Admiral Milne und Lord Lyons sowie durch andere Vorsichts¬
maßregeln gegen das Uebel so gut als möglich gesichert haben wird. '
Wir kommen zum Schluß. Es scheint nach manchen englischen Zeitungen,
daß man sich dort dem Conflict mit der Hoffnung nähert, der Kampf werde
ein kurzer sein und es werde nothwendiger Weise die Bestimmung, ob er
laiig oder kurz dauern sollte. ganz in der Hand des Londoner Cabinets liegen.
Dies wäre eine arge Täuschung. Ohne alle Frage ist Englands Macht bei
Weitem größer als die seines Gegners. Ohne alle Frage wird die englische
Kriegsflotte dem amerikanischen Handel harte Verluste zufügen, ihn der Ver¬
nichtung nahe bringen und auf diesem Wege nickt allein der handeltreiben¬
de», sondern gleichzeitig auch der ackerbauenden Klasse in, den Vereinigten
Staaten sehr fühlbaren Schaoeu thun. Ohne Zwnsel ferner ist ein sehr
großer Theil der amerikanische» Bevölkerung mit Einschluß der besten und
nüchternsten Menschen und Bezirke vielleicht geneigt, den Vettern jenseits des.
Oceans gelegentlich eine Faust zu macheu, uicht aber sich mit ihnen herum
zu schlagen. Aber man sollte sich in England erinnern, daß die Nordameri¬
kaner in sehr vielen und gerade in den Dingen, welche beim Kampf in Frage
kommen, den Briten vollkommen ähnlich sind. Sie verstehen nicht im Min-
besten besser als die letzteren, nachzugeben, wenn sie eine Niederlage erlitten
haben. Sie würden mit jedem Monat, den der Kampf währt, nur steifnacki-
gerund verbissene, winden. Die. welche jetzt nach dem Kriege schreien, würden
täglich lauter ihren Ruf erheben, sobald die Nachricht von einer Schlappe
eintrifft, welche Amerika erlitten hat. Die. welche jetzt noch gegen den Krieg
sprechen, würden sich nach und nach' den zur Fortsetzung Entschlossenen bei¬
gesellen, wenn der Kampf einmal losgebrochen wäre. Die Hemmung ihrer
Handelsthäi ^teil würde sie mit Massen der besten Matrosen versehen. Die
Versperrung rhrer besten Märkte würde einen großen Theil ihrer Producenten
gleichsam mit Gewalt zu Kriegsleuten machen. Die Amerikaner sind sehr
kühn, sehr erfinderisch, sehr wagehalsig und außerordentlich rücksichtslos, wenn
ihre Leidenschaften einmal entflammt sind, sehr hartnäckig und ausdauernd,
ein Volk mit neun Leben, wie die Katze, die, selbst von einem Thurm geworfen,
immer auf die Füße zu steheu kommt.
Schließlich ist sehr leicht zu sagen, warum England kämpft (wenn es
wirklich kämpfen muß), aber keineswegs soileicht zu definiren, was das eigent¬
liche Object und Ziel ist, wonach es im Kriege zu trachten hat und nach
dessen Erreichung es den Kampf aufgeben müßte. Es würde gut sein, wenn
man sich in London vor dem Ausholen zum ersten Schlag eine recht klare
und genaue Vorstellung über jenes Ziel bilden wollte. Beabsichtigt man le¬
diglich den Amerikanern eine starke Züchtigung für die Ungebühr, die der
San Jacinto verübt, angedeihen zu lassen, um ihnen für künftige Fälle der Art
mehr Achtung vor dem Völkerrecht, wie es England jetzt versteht, einzuschärfen,
so ist das sehr bald gethan. Dieser Zweck würde >in Lauf der ersten drei
Monate des Kriegs erreicht sein; denn es leidet keinen Zweifel, daß binnen
drei Monaten die große Mehrzahl der nördlichen Kaufleute ruinirt und die
Südstaaten vollkommen unabhängig sein würden. Wäre die Absicht in Eng¬
land aber die. so lange Krieg zu führen, bis Amerika sein Unrecht eingestanden,
um Entschuldigung gebeten und die gefangnen Emissäre des Südens freige¬
geben hätte, so kann Niemand wissen, wann ein Abschluß des Friedens zu
hoffen ist. und noch weniger wird Jemand dann zu sagen vermögen, wann
die secundären Ursachen des Kriegs sich werden verwischen lassen.
Ein Rückblick auf das Gesagte zeigt, daß beide Theile bei einem Kriege
nur zu verlieren, nichts zu gewinnen haben. Einige Bemerkungen, die wir
dem Briefe eines Liverpooler Kaufmanns an den Herausgeber des „Eco-,
nomist" entnehmen, werden darthun, daß sich die Rechnung für England sogar
noch übler stellen kann, als wir annehmen. Es heißt dort:
„Die Lecticm. die man den Aankees zu geben beabsichtigt, kann ihnen
nur mit ungeheuren Kosten für uns ertheilt werden. Die Amerikaner werden
im Stande sein, uns unverhältnißmäßig größere pecuniäre Verluste zuzufügen.
als wir ihnen. Nur wenige amerikanische Kauffartheischiffe sind seit 1857
gebaut. Sie haben bekanntermaßen ein kurzes Leben, und die meisten von
denen, die wir erbeuten können, werden alt und halbverfault sein. Was aber
ihre Ladungen betrifft, so ist Folgendes in Betracht zu ziehen. Der Bürger¬
krieg hat die amerikanische Handelsmacht stark vermindert. Ein großer Theil
ihres Handels, soweit er durch lange Seereisen vermittelt wird, wird im gegen¬
wärtigen Augenblick von englischen Kaufleuten und mit englischen Schiffen
betrieben. So sind jetzt verhältnißmüßig wenige Ladungen für amerikanische
Rechnung von Indien und China nach den Bereinigten Staaten unterwegs,
und selbst diese sind großentheils englischen Häusern in London und Liverpool
verpfändet. Das wohlbekannte Verfahren bei diesen Unternehmungen ist,
solche Ladungen mittelst Credits in England zu kaufen und die Frachtbriefe
als Sicherheit an die Agenten der betreffenden englischen Firmen in der Union
zu senden, so daß der amerikanische Importeur weder für die von rhin be¬
stellten Waaren bezahlt, noch in den Besitz derselben gelangt, bevor das Schiff
mit denselben in Amerika eintrifft. Das Ergebniß eines Fanges wird folglich
sein, daß denen, die ihn machen, das halbverfaulte Schiff überliefert, die vcr-
Küllnißmäßig weit kostbarere Ladung aber von irgend einem englischen Hause,
welches den Beweis führt, daß sie mit seinem Geld bezahlt worden, bean¬
sprucht und demselben zurückerstattet werden wird. Ja, die Gewohnheit der
Amerikaner, mit britischen Capital Schiffe zu bauen und Handel zu treiben,
ist so allgemein, daß man mit gutem Grunde annehmen kann, eine Be-
schießung von Neuyork und Boston würde den Engländern beinahe eben so
schweren Schaden zufügen, als den Amerikanern."
„Ferner werden unsre Kaufleute und Rheder durch einen Krieg mit Ame¬
rika den werthvollen Handel zwischen entfernten Ländern und den Ber. Staa¬
ten einbüßen, der ihnen, wie bemerkt, für jetzt in die Hände gefallen ist.
Dagegen werden die Amerikaner gerade jetzt wenig werthvollen Handel als den
in Getreide und Mehl verlieren, und unsre eigne Bevölkerung wird von der
Verhinderung, diese Dinge kaufen zu können, mehr leiden, als die Amerikaner
von der Verhinderuirg, sie verkaufen zu können. Allerdings wird ein Krieg
uns über kurz oder lang mit mehr oder weniger Baumwolle versorgen. Aber
vielleicht würde uns die Erschöpfung einer oder beider kümpfenden Parteien
in Amerika diese Zufuhr ebenso bald gewähren, als sie uns ein Krieg mitten
in der Verwirrung und Störung von Ackerbau und Handel des Südens ver¬
schaffen kann. Niemand wird den Krieg blos deshalb empfehlen wollen,
weil, er uns Baumwolle liefern würde. Wir könnten sämmtliche vaumwoll-
spinnende Bezirke drei Jahre lang mit weniger Kosten ernähren, als ein ein¬
ziges Jahr Krieg mit Amerika erfordern würde."
„Will das Unglück, daß wir in den Krieg treiben, so hüten wir uns vor
dem! Glauben, daß er von kürzn Dauer sein werde. Was kommt auf den
Ursprung des Streites an? In Eifer gerathne Völker sind so wenig im Stande
logisch zu urtheilen, wie erzürnte Menschen. Der tiefe, und bleibende Eindruck
im Gemüth, der Amerikaner wird der sein, daß wir auf niedrige Weise ihre
Bedrängniß für unsern, Vortheil ausgebeutet haben. Das angestrengte Be°.
streben des Nordens, den Süden zu seiner Pflicht zurückzubringen, ist, so wird
agil sagen, lediglich durch britischen Antagonismus vereitelt worden, England
trägt die Schuld und Schande, daß die Union zu Grunde gegangen ist. Jahre
voll Kampf, vielleicht mehr als ein Krieg, werden kaum hinreichen, den hier¬
durch erzeugten Haß abzukühlen. Inzwischen wird unser,Volk sich des „Ruhms"
erfreuen, ein paar Seesiege über eine Nation erfochten zu haben, die bereits
halb zum Krüppel geworden ist." —
Wir fügen hinzu, die aber noch nicht so weit heruntergekommen ist, das^
sie an dem Wiederaufkommen zu, verzweifeln Ursache hätte. Gewiß scheint, daß
die Union sich nicht wieder herstellen läßt. Aber der Norden mit seinen un¬
geheuren Hilfsquellen, seinen weiten Gebieten, seiner Anziehungskraft für den
besten Theil der europäischen Auswanderung wird auch allein, wenn er sich
erholt hat und noch einige Jahrzehnte gewachsen ist, ein nicht, zu. verachten-
der Gegner sür England sein. Er wird gegenwärtig gewiß nicht im Stande sein,
Canada zu erobern. Aber wie, wenn ein mehrjähriger Krieg aus den Mili¬
zen und Freiwilligen, die bei Bull Rum so schmählich liefen, geschickte, stand¬
hafte Soldaten-oder aus einem und dem andern Advocaten, die im Lager am
Potomac jetzt den General spielen, einen wirklichen Feldherrn gemacht hat?
Wie wenn die orientalische Frage, wieder auftaucht und Englands Geschwader
und Heere nach dem Osten ruft, wenn in Ostindien die Meuterei sich wieder
erhebt, wenn Rußland sich aus, seiner Agonie aufrichtet, Rußland, der ge«
borne Gegner der. britischen Politik im Orient, der alte Freund und^Nachbar
Amerikas? Wie wenn etwa im Laufe des Krieges schon der Allurte jenseits
des Kanals endlich den Zeitpunkt gekommen glaubte, seine Pläne in Betreff
des Mittelmeeres zu verwirklichen?
Die demokratische Strömung, welche die Neuzeit durchzieht, führt in ihren
Consequenzen auch immer wieder auf die Verwirklichung der Idee einer na¬
tionalen Wchrbarnmchung und allgemeinen Erziehung zum Kriege. Gelingt
es dem deutschen Volke, diese große Aufgabe zu lösen, auf welche die bereits
mehrfach eingeführte, nur noch sehr lückenhafte allgemeine Wehrpflicht und
der endliche Sieg der Turnerei vorzubereiten scheinen, und übernimmt es, sich
ermannend und seiner Stärke und Pflicht sich bewußt werdend, im Großen
und Ganzen seine Selbstvertheidigung, so kann man sich wohl auch der
Hoffnung hingeben, daß die Periode seiner Altersschwäche noch nicht einge¬
treten, und daß ,anch noch Kraft zu einem sittlichen Verjüngungsprocesse in
ihm vorhanden sei. Denn die Geschichte lehrt, daß sonst überall dem Auf¬
geben des Kriegsdienstes und dem Verwerfen der Wehrpflicht von Seiten der
Nationen absolutistischer Druck und endlich der Verfall und Untergang der
Selbständigkeit nicht ferne lag. Auch im römischen Staate zogen sich schon
enge vor den Bürgerkriegen die besseren Klassen vom Kriegsdienste zurück,
den sie früher als ein Ehrenrecht für sich allein beansprucht hatten; die an¬
wachsende Menge der ärmeren Bevölkerung fand dagegen in demselben eine
Nahrungsquelle, und bald gestaltete sich das Bürgerheer zu Söldnerhaufen um,
die unbekümmert um die Interessen des Vaterlandes dem zahlenden Führer
blind gehorchten, bis unter dem Kaiserregimente ein zahlreiches stehendes
Heer zur Nothwendigkeit wurde, das wohl aus Bürgern bestand, bei dessen
Aushebung aber eine Unmasse von Exceptionen und die Erlaubniß, Stellver¬
treter zu stellen, die gesetzlich fortbestehende allgemeine Verpflichtung zum
Dienste paralysirten. Kurz, die Nation faßte nie wieder ihre Kraft in sich
zusammen und unterlag den einbrechenden Barbaren trotz der wohldisciplinn-
ten kaiserlichen Soldaten.
In den hellenischen Staaten kann man im Ganzen ähnliche Erscheinun¬
gen wahrnehmen, wenn man die letzte Phase der römischen Geschichte ab¬
rechnet. Das heroische Zeitalter zeigt nach den homerischen Gedichten bereits
eine ziemlich hohe Ausbildung des Kriegswesens. Der Mann trotzte damals
auf seine Waffen und betheiligte sich gern bei den oft genug vorkommenden
Rache- und Raubkriegen. Dem Könige Heerfolge zu leisten, wird als eine
unweigerliche Verpflichtung dargestellt, der man aus Furcht vor öffentlicher
Schande und schwerer Strafe sich nie entzog. Jedes Haus scheint wenigstens
einen Mann gestellt zu haben, und in Familien, wo mehrere Söhne waren,
entschied das Loos, wer mit in den Kampf ziehen mußte. So sagt Hermes,
als er sich für einen Sohn des Myrmidonen Polykton ausgibt, daß ihn
unter seinen sieben Brüdern das Loos getroffen habe, dem Achilles nach Troja
zu folgen. Doch muß man beinahe glauben, daß man sich auch von der
Verpflichtung loskaufen konnte, wenn man an einer anderen Stelle der Jliade
liest, daß ein reicher Sikyonier dem Agamemnon eine Stute geschenkt habe,
um nicht an der Heerfahrt Theil nehmen zu müssen. Plutarch freilich sieht
darin blos einen Beweis für die Klugheit des Anführers einem Feigling
gegenüber. — In der historischen Zeit, nachdem die Vergewaltigung vieler
Staaten durch übermächtige Tyrannen überwunden war. findet man überall
gleiche Bestandtheile der Kriegsmacht vor: das Heer war die Nation und die
Nation das Heer. Stehende Heere in Friedenszeiten, die in unseren Tagen
bei den künstlichst organisirten Steuersystemen die Staaten aussaugen, wür¬
den nicht blos die Finanzkrüste der griechischen Republiken überstiegen haben,
sondern auch als leicht zur Tyrannis führende und deshalb verfassungsgefähr¬
liche Einrichtung angesehen worden sein. Auch wurde die heimische Bevölke¬
rung, mit Ausnahme der zu jeder Zeit gleichsam im Feldlager lebenden Spar¬
taner, durch ihre bestimmten täglichen Beschäftigungen abgehalten, eine längere
Zeit sich dem Kriege zu widmen: sie betrachtete den Kriegsdienst nicht als'
Hauptsache und war gewohnt, be,i Einbruch der kälteren Jahreszeit vom Feld-
Herrn nach Hause entlassen zu werden. Ein Heer aber aus Fremden oder
gar Sklaven zu bilden, das verabscheuten in der guten Zeit alle Hellenen
ohne Ausnahme; und wenn die Noth unausweichlich zu diesem Auskunfts¬
mittel drängte, so enthob man dieselben nach Beendigung des Krieges ihres
verachteten Standes, sowie z. B. die Spartaner im peloponnesischen Kriege
viele Heloten, die Athener nach den Schlachten bei den Arginusen und bei
Charonea den mitausgezogenen Sklaven die Freiheit schenkten. Diese Aus¬
schließung aller Nichtbürger vom Waffendienste wird durch die Stellung des
Bürgers zum Staate gerechtfertigt. Bei dem innigen Zusammenhange des
Heerwesens mit dem gesammten Staatsorganismus war der Kriegsdienst
einestheils wohl eine Pflicht des freien Bürgers, der keineswegs wieder
Miethling um Geld jund Lohn sein Leben für Andere wagte und deren
Hab und Gut zu schützen sich verpflichtete, sondkru die Bewahrung und Ver¬
theidigung der heiligsten Güter selbstbewußt übernahm, anderntheils aber
auch ein Recht, das Jeder als eine Ehre für sich beanspruchte. Vom Nicht-
bürger und Unfreien setzte man voraus, daß er ein geringeres Interesse am
Staate habe, ja daß er sich deshalb wohl gar gegen des Staates Vortheil
gebrauchen lassen könne, und vermied es daher, ihm die Waffen in die Hände
zu geben. Sogar die Gewerbtreibenden waren in manchen Staaten, wie
auch in Athen, zum regelmäßigen Dienste nicht verbunden, da sie unmöglich
für ihre Ausrüstung und Verpflegung sorgen konnten, und außerdem wegen
der durck die sitzende Lebensart herbeigeführten Vernachlässigung der Körper-
bildung für untauglich zur Erfüllung der Militärpflicht gehalten wurden.
Deshalb sagt auch Aristoteles: „Wo es eine große Menge Handwerker gibt,
da kann der Staat volkreich und doch seine Kriegsmacht schwach sein"; und
das Handwerk ist deswegen auch verachtet und in einigen Staaten den Bür¬
gern geradezu verboten. In Rom herrschte ja dieselbe Ansicht, und noch Livius
schreibt, der Konsul Aemilius Mamercinus habe im Jahre 329 v. Chr. auch
„den Handwerkerpöbel und die Stuhlbocker ausgehoben. Menschen, die sich
gar nicht zum Kriegsdienste eignen." Hinsichtlich der Marine dagegen räth
Aristoteles — und in der Praxis geschah es auch schon in früher Zeit so —
das Matrosenvolk unbedenklich aus Angehörigen fremder Staaten bestehen zu
lassen, die Seesoldaten aber stets aus der Bürgerschaft zu nehmen. — In
Athen wurde der junge Bürger schon bei seiner im achtzehnten Jahre erfol¬
genden Münoigsprechung an seine Verpflichtung zum Waffendienste erinnert,
indem er dabei nicht nur einer körperlichen Prüfung unterworfen, sondern
auch nach seiner Einschreibung in das Verzeichnis^ seiner Gaugenossen dem
Volke im Theater vorgestellt und dann mit Schild und Speer bewehrt wurde,
worauf er einen Eid schwören mußte, durch den er sich der Vertheidigung des
Vaterlandes weihte. Ihre Vorbereitung zum Dienst erhielt die Jugend in
den Palästren und Gymnasien durch einen vernünftigen Turnunterricht, ver¬
bunden mit der Unterweisung im Gebrauche der Waffen aller Art, also durch
eine wirkliche Erziehung zum Kriege, ohne welche freilich die Leistungen von
Bürgermilizen keine anderen sein können, als die der amerikanischen Ochsen¬
bachhelden. Uebrigens folgte auf die Wehrhaftmachung der jungen Leute zu¬
erst ein zweijähriger Dienst im Lande, indem sie als Sicherheitswächter die
Wachthäuser zu beziehen und das Land zu durchstreifen hatten. Bedurfte der
Staat einer Militärmacht, so erfolgte, wenn nicht die ganze dienstpflichtige
Mannschaft erforderlich war. ein Aufgebot nach Altersklassen, entweder nach
den einzelnen Jahrgängen bis zu den sechzigjährigen, oder in wechselnder
Reihenfolge, je nach dem Beschlusse des Volks. Es wurde dabei eine für
jeden Stamm und Gau genau geführte Musterrolle zu Grunde gelegt, die zu
Jedermanns Einsicht öffentlick auflag. Nur Wenige außer den Gebrechlichen
waren vom Kriegsdienste befreit: die Senatoren, die Pächter gewisser Zölle,
die Großhändler und Rheder, welche durch ihr Geschäft von der Heimath
fern gehalten wurden. Entzog sich ein Verpflichteter dem Dienste, so traf ihn
der.Verlust aller bürgerlichen und politischen Rechte. Die ätherische Armee
bestand nach der Zahl der Volksstämme aus zehn Bataillonen, die wieder in
Löcher oder Compagnieen und kleinere Abtheilungen zerfielen. Den größten
Theil dieser Truppen bildete die in früherer Zeit fast ausschließlich zur An¬
wendung kommende schwergepanzerte Infanterie. Aus Bürgern der ersten
Vermögensklasse bestehend, war diese Waffengattung zu allen Zeiten die ge¬
einteste; es hatte auch jeder Hoplit seinen Diener, der ihm Gepäck. Proviant
und Schild auf dem Marsche nachzutragen hatte, und Thukydides erwähnt
deshalb besonders, daß nach der unglücklichen Belagerung von Syrakus die
Schwerbewaffneten und Reiter aus Mißtrauen oder Mangel an Knechten
ihre Rüstung und Lebensmittel selbst getragen hätten. Diesem schweren Trup¬
penkörper zur Seite kämpfte nun wohl auch leichteres Fußvolk und Reiterei;
aber die Anwendung des ersten fällt meist erst in die Zeit, wo die Söldner¬
heere aufkamen, und wo es früher vorkam, bestand es aus Fremden und
aus den minder geachteten untersten Vermögensklassen, und mit der griechischen
Eavallerie war es überhaupt, mit Ausnahme der thessalischen. übel bestellt.
Schon die Bodenbeschaffenheit des Landes begünstigte die Pferdezucht nicht,
und da auch der Unterhalt der Pferde ziemlich kostspielig war (zu Aristopha-
nes Zeit wurde ein edleres Exemplar auf 300 Thlr. geschätzt), so wurde der
Reiterdienst nur den reichen Bürgern aufgebürdet, die dann, zur Entschädigung,
auch in Friedenszeiten eine Art Ehrengarde bildeten und bei feierlichen Aus¬
zügen in vollem Glänze paradirten. Jeder Stamm stellte 100 Reiter und
das ganze Corps, welches fleißig im Manveuvriren geübt wurde und eine
jährliche Musterung vor dem Rathe der Fünfhundert Passiren mußte, zerfiel
in zwei Abtheilungen von je 500 Mann. Die mittlere Gesammtstärke der
schweren Infanterie in der Pcrikleischen Zeit betrug 13,000 Mann, hiezu kam
aber noch eine aus den jüngsten und aus den älteren Milizen bestehende
Landwehr von 16,000 Mann. — Die Kosten der Ausrüstung wurden von
den Bürgern selbst getragen, und von Löhnung war zuerst keine Rede. Als
aber im peloponnesischen Kriege die Feldzüge sich häuften und von längerer
Dauer wurden, erachtete Penkles die Einführung des Solds für eine noth¬
wendige Maßregel, zu deren Ausführung auch die nach Athen verlegte Bun¬
deskasse die Mittel darbot. Auch sahen die Athener im Solde nicht, wie in
jedem anderen Lohne, eine Erniedrigung, sondern sie betrachteten denselben
als eine Art von natürlicher Entschädigung. Die Zahlung beschränkte sich
blos auf die Feldzüge und war nicht immer von gleicher Höhe. Gewöhn¬
lich bekam der Infanterist täglich zwei Obolen Sold und, da an Einquartie¬
rung noch nicht gedacht wurde, ebensoviel für die Verpflegung (ungefähr 5 Sgr.
im Ganzen), der Hauptmann das Doppelte, der General das Vierfache: eine
Steigerung, die unseren Offizieren nicht behagen dürfte, aber mit dem demo¬
kratischen Gleichheitsprincip im Einklang stand. Als die Athener im pelopon-
nesischen Kriege Potidäa belagerten, empfing wegen der Größe der Entfernung
der Schwerbewaffnete zwei Drachmen täglich (15 Sgr), eine für ihn und
eine zweite für den Diener. Die Kosten der Reiterei im Frieden schlägt Xe-
nophon jährlich auf 60,000 Thlr. an. was. wenn man die Verschiedenheit
des Geldwerthes mit in Anschlag bringt, den Unterhaltungskosten eines Ka¬
vallerieregiments in jetziger Zeit beinahe gleichkommen mag. Wiewohl der
ätherische Staat durch seinen Handel und seine Industrie schon früh auf das
Seewejen hingewiesen war und bald den Schwerpunkt seiner ganzen Macht
in die Flotte legte, so lehrt doch die Geschichte, mit welchem Enthusiasmus
und weicher Tapferkeit die athenischen Milizen sich stets geschlagen haben, und
selbst das Schlachtfeld von Charonea, über dem die Sonne der griechischen
Freiheit unterging, bezeugt, daß die athenischen Bürger jener gesunkenen Zeit
fürs Vaterland zu fechten und zu sterben verstanden. Freilich läßt es sich
nicht leugnen, das, die Verfassung des Staats selbst in manchen Stücken einer
strengen, auf unbedingte Subordination gebauten Disciplin hinderlich war.
Vorzüglich störte die Mehrzahl von zehn Feldherrn (Strategen), die jährlich
vom Volke gewählt wurden und die in den Perserkriegen sogar täglich den
Oberbefehl unter sich wechseln ließen, die militärische Einheit der Führung.
Und wen» auch später die Generale selten sämmtlich in den Krieg gesandt
wurden, wenn auch zuweilen ein bewährter Kriegsmann, der gar nicht zum
Kollegium der Strategen gehörte, mit dem Obercommando auf längere Zeit
betraut wurde, so ist doch das Bedenken gegen die Zweckmäßigkeit der Wahl
nicht nur der Generale, sondern auch der Obersten und Stabsoffiziere durch
Volksabstimmung gerechtfertigt genug, und was half den Feldherrn die un¬
umschränkteste Vollmacht, wenn sie nach beendigter Amtsführung zur Rechen¬
schaft vor die Volksgerichte gezogen und selbst mit dem Tode bestraft wer¬
den konnten? Timotheus und Iphikrates z. B. wurden im Bundesgenossen¬
krieg von ihrem College» Chares, dem sie sich im Kriegsrathe hinsichtlich
eines zu liefernde» Treffens widersetzt hatten, vor dem Volke angeklagt, der
Feldherrnwürde entsetzt und zu bedeutender Geldbuße verurtheilt. Auch ihr
Zeitgenosse Cephisodotus wurde abgesetzt, um 7500 Thlr. gestraft und bei¬
nahe zum Tode verurtheilt, weil er einen ungünstigen Vertrag geschlossen
hatte. Am verüchiigisten aber ist das Schicksal jener sechs Generale, die im
Jahre 406 nach einem großen Sachlage in der Nähe von Lesbos den Gift¬
becher leeren mußten, weil sie nach der Schlacht durch einen Sturm verhin¬
dert gewesen waren, die Leichen und Schiffstrümmc» zu sammeln. Demosthe-
nes rügte diese Unsitte mit treffenden Worten: „Es ist jetzt schimpflicher Weise
dahin gekommen, daß jeder eurer Feldherrn zwei- oder dreimal vor euch auf
den Tod angeklagt wird, gegen die Feinde aber keiner von ihnen auch nur
einmal auf den Tod zu kämpfen wagt, sondern den Tod der Menfchenräuber und
Meiderdiebe dem rühmlichen vorzieht; denn nur der Uebelthäter soll verurtheilt
sterben, der Feldherr aber im Kampfe gegen die Feinde." Außerdem war aber
auch im athenischen Bürger das Gefühl der politischen Gleichberechtigung zu
stark, als dah er sich leicht in blinder Unterwürfigkeit der strengen Ordnung der
Kriegszucht gefügt hätte. „Die größte Schwierigkeit liegt darin," schreibt
General Niklas von Syrakus aus seinen Landsleuten, „daß ich als Feldherr
solchen Unordnungen nicht steuern kann . weil eure Gemüther so schwer zu
lenken sind." Auch Xenophon legt einem Redner, der im thebanischen Kriege
zum Bündniß mit Sparta räth, die Worte in den Mund: „In Hinsicht auf
etwas sehr Wichtiges, auf den Gehorsam gegen die Befehlenden, sind jene
am stärksten zu Lande, ihr zur See." Besonders strafbare Bergehen, wie Feig¬
heit, Verlassen des angewiesenen Postens, Wegwerfen der Waffe», wurden von
besonderen Gerichten bestraft, wenn der Oberfeldherr nicht bereits Strafe ver¬
hängt hatte. Dagegen, belohnte man die Tapfern durch öffentliche Bekrän¬
zung, Errichtung von Standbildern und Austheilung von eroberten Land¬
strecken, und ehrte die Gefallenen durch feierliche Bestattung, wobei die besten
Redner die Lobrede hielten.
Das spartanische Heerwesen übertraf das der übrigen Staaten durch
eine sorgfältigere Gliederung, ausgezeichnete Einschulung und seltene Präcision
in allen. Zweigen des Kriegsdienstes. Jeder spartanische Vollbürger war Sol¬
dat bis zum sechzigsten Jahre und weiter nichts als Soldat. Die friedlichen
Gewerbe, welche für die Krieger anderer Staaten doch die Hauptsache waren,
kannten sie nicht und überließen sie ihren Schutzgenossen und Heloten. Nach
Plutarch ließ einst der König Agesilaos, als die Bundesgenossen sich über die
Last der Heerfolge beschwert hatten, dieselben zusammen an einem Orte den
Spartanern gegenüber sich niedersetzen und befahl sodann durch den Herold
allen Töpfern und Schneidern und Zimmerleuten und Maurern und endlich
allen übrigen Handwerkern aufzustehn. So standen zuletzt fast alle Bundes¬
genossen da, während kein Spartaner sich vom Platze gerührt hatte, und Age-
silaos sagte lachend: „Seht ihr nun ein, wie viel Soldaten wir mehr ins Feld
schicken als ihr?" Xenophon nennt die Lacedämonier Künstler im Kriegshand¬
werk, während die übrigen Hellenen sich demselben nur aus dem Stegreife
oder als Dilettanten hinzugeben pflegten. Und deshalb urtheilt schon Platon
über die spartanische Verfassung sehr richtig: sie bilde zwar zu militärischer
Tüchtigkeit aus. aber nicht zur wahren sittlichen und geistigen Trefflichkeit, in
welcher jene Tüchtigkeit auch, und zwar noch in höherem Grade, aber doch
nur als ein einzelner Bestandtheil enthalten sei. In der Eintheilung des
Heers waren in Sparta ähnliche Beziehungen zu den politisch-localen Abthei¬
lungen des Volks vorherrschend, wie i» Athen. Die Grundlage derselben
bildeten die von Lykurg gestifteten Verbrüderungen und Kameradschaften.
Vier Enomoticen, Rotten von 25—36 Mann bildeten einen Lochos, und aus
4 solchen Compagnien bestand eine Division oder Mora, die ein Polemarch.
Kriegsoberster, befehligte und deren das Land sechs besaß. Es gibt dies
blos eine Gesammtzahl von 2400 Soldaten. Jedoch wechselt theils die Stärke
der Moren bedeutend, theils sind ihnen stets so viel Periöken oder Unterthanen
beigemischt, die ebenfalls als Schwerbewaffnete Jnfanteristen dienten, daß sich
bestimmte Zahlen gar nicht ermitteln lassen. Zum Vorpostendienst im Lager,
als Avant- und Arrieregarde auf dem Marsche wurden die Stinten gebraucht,
ein aus den Bewohnern des Distrikts Skiros formirtes leichtes Fußvolk. Un¬
ausgesetzte Uebungen im Maischiren, in Wendungen und Evolutionen aller
Art, die selbst im Lager zweimal des Tages stattfinden mußten. erzeugten
jene vielbewunderte tattische Virtuosität, vermöge welcher ein spartanisches
Heer blitzschnell sich aufstellte und bewegte. Hiezu kam aber auch noch der
bereits erwähnte unbedingteste Gehorsam gegen die Befehle der Oberen.
„Wenn der König das Heer anführt." schreibt Thukydides, „so ist er es.
der über das Ganze befiehlt; und er ertheilt den Polemarchen seine Austräge,
diese den Lochagen, diese den Pentekontateren, diese den Enomotarchen und
diese endlich ihren Soldaten. Alle Befehle, die sie dem Heere ertheilen wollen,
werden auf diese Art und mit Schnelligkeit verbreitet. Denn beinahe das
ganze laccdcimonische Heer besteht aus Anführern, und die Sorge der Ausfüh¬
rung dessen, was geschehen soll, sällt Vielen anheim." Eine Menge uns über¬
lieferter Anekdoten lehren, wie streng jeder Subordinationsfehler gerügt wurde
und wie den Feigen bis ans Ende des Lebens die Schande folgte. Viel
schlechter freilich als mit dem Fußvolke, selbst mit der athenischen Reiterei,
sah es mit der spartanischen aus. Die Peloponnester waren überhaupt schlechte
Reiter, und nach Xenophon dienten die Reichen, welche, wie in Athen, die Pferde
unterhielten, nicht einmal selbst damit, sondern, wenn das Aufgebot erging,
kamen andere und gewöhnlich die schwächlichsten und untüchtigsten Leute,
nahmen Pferde und Waffen in Empfang und zogen ohne Vorbereitung und
Uebung zu Felde. Die Schlacht bei Leuktra ging blos durch die erbärmliche
Haltung der vor der Front der Spartaner ausgestellten Reiterei verloren. Sie
war im peloponnesischen Kriege 600 Mann stark.
Die Nationalhecre der Hellenen behaupteten nur so lange ihren Ruhm, als
die aufopfernde Liebe zum Varerlande alle Bürger beseelte, als das öffentliche
Leben und der sittliche Charakter der Nation auf seinem Höhepunkte beharrte.
Als aber während des peloponnesischen Kriegs, besonders in Athen, mit der
wachsenden Entfesselung und Schrankenlosigkeit aller Leidenschaften und An¬
maßungen Genußsucht und Egoismus alle Stände ergriff und der Gemein¬
sinn und Patriotismus schwand, da verschmähten es die griechischen Bürger¬
schaften auch die Waffen ferner zu führen, die Palästren und Gymnasien wurden
spärlich besucht, und die Sitte, durch fremde Miethlinge die Kriege ausfechten
zu lassen, nahm überHand. Die frühesten Spuren solcher Söldnerdienste, wenn
man zuerst auf die Nationalität der Dienenden sieht, finden sich außerhalb
Griechenlands bei dem halbgriechischen Volke der Karier in Kleinasien. Durch
ihre Hilfe soll schon der ägyptische König Psammetich sich die Herrschaft über
ganz Griechenland gewonnen haben, und später „schweiften sie", wee Strabo
sagt, „durch ganz Griechenland, für Sold Kriegsdienste leistend." Besonders
darum haftete auch an ihrem Namen die Schmach heller und sklavischer Ge¬
sinnung. Ebensogern verdingten sich die Kreter als Bogenschützen und Schleu¬
derer. und sie standen gleichfalls wegen Unzuverlässigkeit und Unredlichkeit in
schlechtem Rufe. Neben ihnen, die man später überall, auch bei den römi¬
schen Heeren als stehende Heerestheile trifft, wird später am häufigsten der
Arkadier Erwähnung gethan. Ihr Land, von Gebirgen ganz durchzogen, be¬
stimmte durch seine Natur die Bewohner zu Hirten und Jägern. Doch glich
das Leben derselben keineswegs den idyllischen Schilderungen alter und neuer
Dichter; sondern außer Mangel an Intelligenz zeigte dieses Völkchen eine
große Liebe zum Kriegshandwerk, und da ihre Heimath sie nur kärglich nähren
mochte, so suchten sie, gleich den Schweizern, fleißig auswärtige Solddienste.
Dem Xerxes sollen sie. wie Herodot berichtet, bereits ihre Dienste angeboten
haben. Ueber die Hälfte der 10000 Söldner des jungen Cyrus bestand nach
Ztenophons Zeugniß aus Arkadiern und Achäern.
Auch Thukydides sagt, indem er die Bundesgenossen der Athener und
Syrakusaner aufzählt: „Die Mantineer aber und die übrigen arkadischen
Söldner, die gewohnt sind, gegen jeden Feind, den man ihnen anweist,
zu fechten, achteten auch jetzt, durch den Gewinn bewogen, ihre Lands¬
leute, die mit den Korinthiern gekommen waren, ohne Berücksichtigung
der Verwandtschaft, für ihre Feinde." So heißt es auch in einem Frag-
mente des Lustspieldichters Antiphanes, wo derselbe die Hauptproducte
der einzelnen griechische» Länder und Städte demeure: „Sklaven aus
Phrygien; aus Arkadien aber Lanzknechte." In der griechischen Geschichte
findet man solche gedungene Söldner zuerst als Trabanten und Leibwachter
der Tyrannen, die, wie auch Xenophon sagt, keine Freude daran fanden,
waffentüchtige und wohlbewehrte Bürger zu haben, sondern fremde Truppen
für geeigneter erachteten, um ihre Herrschaft zu stützen. Der berühmte Glücks¬
pilz Polykrates von Samos gewann und erhielt seine nur auf Gewalt ge-
baute Herrschaft nur durch Miethstruppen. Auch Piststratus bemächtigte sich
mit Hilfe der ihm vom unvorsichtigen Volke selbst bewilligten 50 Keulenträger
der athenischen Burg und der Oberherrschaft, und sein Sohn Hippias behaup-
tetete sich lange Zeit, selbst den Spartanern gegenüber, durch thessalische
Reiter. Große Heere endlich aus allerlei fremdem Kriegsvolk zusammengesetzt
stellten die Syrakusanischcn Könige in ihren vielen bürgerlichen und auswär¬
tigen Kriegen ins Feld, und die Republik Karthago bediente sich, wie die
Handelsstaaten des Mittelalters, ausschließlich der Söldner, da ihre Bürger
wegen ihrer mercantilischen Interessen dem Waffendienst stets fremd blieben.
Der ältere Dionys sandte im thebanischen Kriege seinen Freunden, den Lace-
dämoniern, mehrmals Hilssheere, deren celtiberische Reiterei den Feinden
großen Respect einflößte. In Griechenland selbst kam bereits zu Anfang des
peloponnesischen Kriege das Söldnerwesen auf. Zur Belagerung von Potidäa
schickten die Korinthier eine Abtheilung Freiwilliger und gemiethete Pelopon-
nesier. Sowohl Kleon. der Athener, als sein Gegner Brasidas nahmen Thra¬
ker in Sold, und bei der sicilianischen Expedition der Athener befanden sich
80 Kreter und 700 vhodische Schleudern. Auch spater miethete Athen 1300
thrazische Barbaren, entließ sie aber bald wieder, da ihm die Kosten, täglich
«in Viertelthaler für den Mann, zu groß waren und benutzte sie dann dazu
auf dem Heimwege die Küsten Böotiens grausam verheeren zu lassen. Die
jährlich fühlbarer werdenden Folgen des langjährigen Kriegs wirkten aber
rasch befördernd auf die Entwicklung des Soldnerthums. Eine Masse Men¬
schen wurde durch den Krieg ihres Unterhalts und Vermögens beraubt und
griff gern in der Noth zu jedem Erwerbszweig. Außerdem weckte der Krieg
selbst die Rauflust und die Sucht nach Abentheuern. Am meisten aber Wohl
strömten zu den Fahnen der Condottieri jene Unzahl Heimathloser, die durch
die blinde Parteiwuth der siegenden Oligarchen oder Demokraten vertrieben
worden waren. Man kann sich kaum einen richtigen Begriff davon bilden,
in welchem Umfange dergleichen Verbannungen damals stattgefunden haben.
Schon lange vor dem peloponnesischen Kriege, im Jahre 510 v. Chr.,
hatte der spartanische König Kleomenes der Erste auf einmal 700 Familien aus
Athen vertrieben. Gleich bei Beginn des Kriegs zwangen die Athener die
wehrlosen Einwohner Aegiuas, ihre Heimath zu verlassen. Lysander nöthigte
nach Eroberung Athens die ganze Demokratie der Insel Samos zum Aus¬
wandern, und Jsokrates behauptet von seiner Zeit, daß es mehr Verbannte
und Flüchtlinge aus einer einzelnen Stadt gegeben habe, als in alten Zeiten
aus dem ganzen Peloponnes. Es war ihm leichter, damals aus den Heimaths-
losen und'Vagabunden ein großes Heer zusammenzubringen als aus Bürgern.
„Keiner bedauert es", sagt er, „daß Viele vom Hunger gezwungen für Feinde
gegen Freunde fechtend sterben; aber über das Unglück, welches die Dichter
ersinnen, werden Thränen vergossen." Dem macedomschen Könige Philipp
schlägt er vor, an der kleinasiatischen Küste des Hellesvonts und Pontus Städte
zu erbauen und die wegen Mangels der täglichen Nahrung Herumstreifenden
und Schaden jeder Art Anrichtenden anzusiedeln. „Wenn wir sie nicht hin¬
dern werden, sich zusammenzurollen, dadurch, das wir ihnen Unterhalt ver¬
schaffen, werden sie zu solcher Menge anwachsen, daß sie den Hellenen nicht
weniger furchtbar werden, als den Barbaren." Auch seine Mitbürger warnte
derselbe Redner aus das Ernsteste, und seine in der Rede „vom Frieden" be¬
findlichen Worte sind charakteristisch genug für das ganze Verhältniß: „Wir
verlangen, über alle Welt zu herrschen, und wollen doch nicht zu Felde ziehen;
wir nehmen den Krieg beinahe gegen Jedermann auf, und üben uns doch
nicht zu demselben, sondern Menschen, die theils Heimathlose, theils Ueber¬
läufer, theils Verbrecher sind, die, wenn ihnen Jemand mehr Sold bietet, so¬
fort demselben folgen. Ja so weit in unserer Thorheit sind wir gekommen,
daß. während wir selbst kaum genug zum täglichen Leben haben, wir Sold¬
truppen zu unterhalten wagen und unsere Bundesgenossen schädigen und be¬
steuern, um nur jenen gemeinschaftlichen Feinden Aller den Lohn zu verschaffen.
Unsere Vorfahren setzten ihre Leiber bei der Kriegsgefahr ein, während in der
Burg Schätze von Gold und Silber lagen; wir,.dagegen. die wir so arm sind
und doch so viele, halten uns, wie der Grohkönig von Persien, gemiethete Heere!"
Auch Demosthenes drang später bei den Athenern darauf, daß unter
den 2000 Jnfanteristen, die er zum Schutze der chalcidischen Städte aus¬
zusenden vorschlug, 500 Bürger wären, gleichsam als Aufseher der Söld¬
ner, die sonst nur diejenigen Kriege liebten, die ihnen Gewinn brächten und
am liebsten mit reichen Bundesgenossen anbauten. Deshalb glauben wir
gern, was Plutarch erzählt, daß nämlich beim Heransegeln ätherischer Flotten
in jener Zeit die Bundesgenossen Mauern und Häfen bewehrt und Heerden,
Sklaven, Weiber und Kinder vom Lande in die Städte geschafft hätten. War
es anders bei uns noch während des dreißigjährigen Kriegs? Wie schnell
übrigens noch die Zahl der Lanzknechte in den sechzig Jahren zwischen dem
Ende des peloponnesischen Krieges und der Regierungszeit Philipps von Mace-
donien zugenommen haben muß. erhellt aus des Jsokrates Behauptung, daß
noch zur Zeit des jüngern Cyrus diejenigen, welche in den Städten werben
ließen, mehr Geld auf die Geschenke zu verwenden gehabt hätten, die sie den
Werbern geben mußten, als auf den Sold für die Soldaten, während zu
seiner Zeit sogleich ganze Schaaren von Söldnern angeworben wurden.
Später sahen sich die kriegführenden Parteien sogar genöthigt, Soldaten
anzuwerben, da die verbündeten Städte ganz gewöhnlich Geld anstatt der Truppen
sendeten. So beschlossen nach dem Antalkidischen Fneden die peloponnesischen Ver¬
bündeten, daß jede Stadt anstatt der Soldaten Geld geben könnte und zwar
5 Sgr. täglich für den Schwerbewaffneten und das Vierfache für den Reiter.
Auch der spartanische Admiral Mnasippus, der im Jahre 374 mit 60 Schiffen
einen Zug nach Korfu unternahm, hatte 1500 Söldner bei sich, weil sich die
Bundesgenossen fast alle mit Geld abgefunden hatten, was auch Agesilaos
den kleinasiatischen Griechen gestattete. Da die Sucht nach Beute und Gold
jede andere Rücksicht vergessen ließ, so verdingten sich diese griechischen Sold-
nerhaufen am häufigsten mit Verleugnung alles Nationalstolzes den sonst tief
verachteten Barbaren. Stellte ja noch der letzte persische König Darius Kodo-
mannus 30000 ausgesuchte griechische Söldner dem gleichfalls zu einem gro-
ßer Theile aus Griechen bestehenden Heere Alexanders des Großen entgegen!
Mit 12000 Mann zog der berühmte Condottiere Jphikrates im Dienste Arta-
xerxes des Zweiten gegen- den ägyptischen Rebellen Nektanebus den Ersten zu
Felde. Der 80jährige ruhmbedeckte Agesilaos half umgekehrt mit 10000 grie-
chischen Miethlingen dem folgenden ägyptischen Könige gegen Persien. Plutarch
sagt darüber: „Es schien dem greisen Feldherrn, der für den ersten in
Griechenland galt, nicht wohl anzustehen, daß er sich einem Barbaren, einem
Rebellen verkaufte." Auch die macedonischen Diadochen bildeten ihre stehen¬
den Heere aus Söldnern, und bis auf die Zeiten des ätolischen und achajischen
Bundes finden wir ihre Benutzung. Sie haben mehr, als man gewöhnlich
glaubt, dazu beigetragen, den Untergang der griechischen Freiheit und Selbst,
Ständigkeit zu beschleunigen, indem sie die finanziellen Kräfte aller Staaten er¬
schöpften und die Sorglosigkeit und Unthätigkeit der Bürgerschaften vermehr¬
ten, bis dieselben endlich im Zustande der Verweichlichung und Unmännlichkeit
nicht mehr im Stande waren, sich zu wehren.
Aber auf der andern Seite muß man zugestehen, daß die eigentliche Kriegs¬
kunst die Taktik und Strategie durch das Söldnerwesen entschiedene Fortschritte
machte. Aus Leuten, die den Krieg als Handwerk betrachteten, liehen sich natürlich
viel länglichere Werkzeuge für die Zwecke des Kriegs heranziehen. ,Das meiste Der-
dienst in Benutzung dieses Vortheils erwarben sich die beiden Athener Jphikrates
und Chabrias. Jener schuf die schwere Bürgermiliz in eine leichtere Truppen¬
gattung um. welcher er anstatt des großen Ovalschildes die kleine halbmondförmige
Pella der Thraker, anstatt des metallenen Kürasses oder des Lederkollers den
linnenen mit Erz plattirten Panzer, außerdem aber längere Spieße und Schwer¬
ter zuertheilte und so eine größere Beweglichkeit und Schnelligkeit ermöglichte.
Chabrias erfand dagegen eine unserer Quarreeformirung ähnliche Aufstellung, um
den Angriff eines überlegenen Feindes abzuhalten. Von der Bildung eines
aus Lanzknechten bestehenden Heeres, seiner Einrichtung und der Schwierigkeit,
es zu regieren und in Gehorsam zu erhalten, gibt die Anabasis Tenophons
die beste Vorstellung, wenn man die Kriegslisten Polyäns zur Ergänzung
herbeizieht. Der jüngere Cyrus gab erprobten Offizieren, wie dem spartanischen
Flüchtling Klearch und dem Böotier Proxenos. Auftrag und Geld, Werbungen
zu veranstalten. Diese erlangten dadurch zugleich den Anspruch auf die obersten
Bcfehlshaberstellen und sandten nun wieder ihre Unteroffiziere aus. die einzelne
Compagnien zu 100 Mann zusammen zu bringen hatten. Natürlich fand auch
da-mals schon ein besonderer Zudrang zu den Offizierstellen statt, und von
Jphikrates wird erzählt, daß er. um die Tüchtigsten ohne Fähndrichsexamen
herauszufinden, einen panischen Schrecken gleich Anfangs verbreiten ließ
und dann beobachtete, wer das Hasenpanier ergriff oder nicht. Bei der
Werbung schlichen sich manche Sklaven mit ein. wie Tenophon erwähnt; ja
sogar von den Hauptleuten wurden einzelne später fortgejagt, weil sie
sich als Barbaren herausgestellt hatten. Dem Hauptmann Episthenes rühmt
er nach, daß er nur schöne Leute angeworben habe. Eine besondere Eigen¬
thümlichkeit det Söldnerheere war es. daß in ihnen, wie bei den Bür-
gerwilizen die Stamme, so hier die Landsleute. Verwandte, Freunde und
Nachbarn zusammenhielten und besondere Heeresabtheilungen bildeten, wodurch
wohl die gegenseitige Aufmunterung und der Zusammenhalt befördert, aber
schwerlich für die Disciplin ein Nutzen gestiftet wurde. Was den Sold an¬
langt, so zahlte der persische Prinz nicht mehr, als damals und auch später
in Griechenland selbst üblich gewesen zu sein scheint, nämlich manatlich einen
Dariusd'or 5 Thlr. dem Gemeinen. 10 Thlr. dem Hauptmann. 20 Thlr.
dem General. Die Hälfte dieser Summe galt, wie in Griechenland, als
Verpflegungsgeld, weil sich der Soldat seine Lebensmittel selbst kaufen mußte.
Durch diesen Umstand litten die Soldaten zuweilen große Einbuße; in Lydien
z. B. fand das griechische Heer so hohe Getreidepreise, daß der Mann täg¬
lich siebenmal 'mehr für Brod hätte ausgeben müssen, als er Eisatz dafür
l^kam. während ihm in Athen zu derselben Zeit seine Ration 3—ö Pfennige
gekostet Hütte. Als Cyrus endlich seine» eigentlichen Plan dem Heere nicht
mehr verheimlichen konnte. versprach er ana> den Soldaten Erhöhung des
Soldes um die Hälfte. Ein Handgeld beim Anwerben wird zwar nicht er¬
wähnt; es scheint aber, als habe die Vorauszahlung eines Theils vom Lohn
dafür gegolten, wenn in dem von Menander entlehnten „bramarbasirenden
Soldaten" des Plautus der Söldnerhauptmann sagt'
„Mich dünkt, nun ist die Stunde da, zum Markt zu gehn,
Daß den Recruten, die ich gestern einrollirt,
Ich die bedungne Löhnung nun auszahlen kann.
König Seleukus dringt in mich mit Freundlichkeit,
Daß ich Recruten ihm werben und bedingen soll."
Die Beschaffung des Solds, als des Hauptnervs für d,e Thätigkeit der Lanz-
knechte aller Zeiten, machte den griechischen Heerführern oft ebenso viel Mühe
und Sorge als den italienischen und deutschen Condottieri des 15., 16. und
17. Jahrhunderts. Wenn Jphikrates seinen Kriegern den Lohn nicht zahlen
konnte, führte er sie in öde Gegenden, damit sie so wenig als möglich ver¬
zehrten; hatte er aber Ueberfluß an Geld, so brachte er sie in Städte, wo
sie leicht und schnell ihren Verdienst los werden konnten, damit sie dann gern
wieder an neue Unternehmungen gingen. Auch pflegte er den vierten Theil
des Soldes inne zu behalten, um sich vor Desertion zu schützen. Als einst
bei Geldmangel seine Soldaten in Aufruhr waren, ließ er Männer, als
Perser verkleidet, in die Versammlung treten und melden, daß sie voraus¬
geschickt wären, um die Ankunft eines persischen Goldtransportes anzuzeigen.
worauf die Empörer auseinanderginge». Recht erfinderisch war auch der
ätherische Feldherr Timotheus in Geldverlegenheiten, indem er nicht nur seine»
Siegelabdruck als Münze ausgab, um ihn spater wieder einzulösen, sondern
auch Silberdrachmen mit 3 Vertheilen Kupfergehalt schlagen ließ. Vom
macedonischen Philipp erzählt Polyän, daß er, um den ungestümen Mah¬
nungen seiner Söldner zu entgehen, einst so lange beim Baden schwamm,
untertauchte und sich mit seinen Gefährten im Wasser herumtummelte, bis
die Manichäer sich verlaufen hatten. Viel Klugheit. Energie. auch ein im-
ponirendes Aeußere gehörte dazu, als Feldherr die zügellosen Söldnerschaaren
zu dressiren und Gehorsam. Pünktlichkeit und Ehrgefühl wach zu rufen.
Außer Jphikrates soll diese Kunst in hohem Grade der thessalische Fürst Jason
von Pherä verstanden haben. Natürlich Hütte eine solche Schule für die
Milizen nicht gepaßt, und wo die Einheit der Führung fehlte, erreichte auch
bei den Söldnern die Kriegszucht nie diese Höhe der Ausbildung. Im grie¬
chischen Heere des Cyrus wollen die Soldaten um alle Pläne wissen und in
berathenden Versammlungen dafür gewonnen werden. Ja sie versagen offen
den Gehorsam; weigern sich, weiter zu marschiren; drohen, sich andere An-
führer wählen zu wollen; kurz wollen fein säuberlich behandelt sein. Wenn
es ihnen bei einem Führer nicht gefiel, liefen sie mit Sack und Pack zum
andern über. Zuweilen nahm wohl auch ein Strateg den Stock in die Hand;
aber, wenn er zuschlug, mußte er gewärtig sein, sich, wie Tenophon selbst,
später der Menge gegenüber öffentlich verantworten zu müssen; züchtigte er aber
gar den Söldner einer fremden Truppenabtheilung, so konnte es ihm noch
übler bekommen, wie Klearchs Beispiel lehrt, dem eine Holzaxt und viele
Steine nachflogen, als er nach der That so unvorsichtig war. durch das La¬
ger desselben Regiments zu reiten. Der rohe spartanische General Mnasippus
freilich wagte es sogar, seine Hauptleute zu schlagen, die ihm vorgehalten
hatten, wie schwer es sei, die Leute in Gehorsam zu halten, wenn dieselben
nicht den schuldigen Sold bekämen. Steine aufzuheben und damit zu werfen
scheint übrigens allenthalben bei den Lanzknechten Mode gewesen zu sein, um
dem Zorn und Haß Lust zu machen. Denn auch von den karthagischen
Söldnern, die ihren unvorsichtigen Herrn einen so langwierigen und gefähr¬
lichen Krieg bereiteten, erzählt Polybius, daß sie, von versah^ednerlei Ration und
Sprache, doch alle das einzige Wort: „Wirf" verstanden. „Wenn daher
Jemand dieses Wort zu rusen begann, so warfen sie von allen Seiten so ge¬
schwind mit Steinen, daß Niemand entfliehen konnte, der sich einmal genähert
hatte." Das Feldlager bot einen bunten, belebten Anblick nicht nur durch
eine Menge von Dienern aller Art, Herolden. Trompetern. Schildträgern.
Priestern, Aerzten und Handwerkern, sondern auch durch die Kaufleute und
Marketender, die auf Wagen und Lastthieren den Proviant anführten. Die
Truppen wurden von besonderen Fechtmeistern unterwiesen und einexercirt,
beschäftigten sich außerdem mit der Zubereitung der Mahlzeiten, mit Opfern
und Spielen zur Feier heimischer Feste und hatten bei lustigen Gelagen ,hre
Freude an Spaßmachern und mimischen Tänzern. — Die Beute, besonders
der Erlös aus den Gefangenen, wurde nach Abzug der allgemeinen Ausgaben
nach Beendigung des Kriegs an die Soldaten vertheilt. Die Griechen thaten
dies, als sie das Schwarze Meer erreicht hatten. Manchen, die aus Beutegier
und Abentheueilust ausgezogen waren, glückte es. viel Geld zusammenzuraffen.
Sie kamen dann in ihre Heimath zurück und verpraßten gewöhnlich den Ge¬
winn schneller, als er ihnen zugefallen war. Durch ihr Gebühren wurden
sie eine stehende Charakterfigur der Bühne. Sie renommiren gewaltig mit
ihren Heldenthaten, sind tölpelhaft und bilden sich ein, beim schönen Ge-
schlecht Furore machen zu müssen. Sie fallen den Parasiten als leichte Beute
zu, haben meist Unglück in der Liebe und werden überhaupt, wie auch der
glorreiche Hauptmann Pyrgopolinikes des Plautus. gefoppt, gerupft und end¬
Die Wissenschaft von der deutschen Mythologie, d. h. die kritische, me¬
thodische und systematische Erforschung des mythologischen Stoffes der germa¬
nischen Ueberlieferung ist bekanntlich von allen historischen Wissenschaften die
jüngste: erst wenige Jahrzehnte ist es her. seit Jakob Grimm den großartigen
Grundbau derselben entworfen hat. Schon diese Jugend unserer Disciplin
macht es rathsam. vorerst noch immer Stoff zu sammeln, und die freilich
viel mehr glänzende und verlockende Thätigkeit des Erklärens und Construirens
noch auszusetzen. Aber mehr noch als die Neuheit der Disciplin drängt hiezu
die eigenthümliche Beschaffenheit ihrer Quellen. Diese bsstehen nämlich zum
allergeringsten Theil aus festen schriftlichen Aufzeichnungen, zum allergrößten
Theil in lebendigen Sitten, Sagen, Aberglauben, Gebräuchen, welche erst
gesammelt, abgelauscht, beobachtet sein wollen. Schriftliche Aufzeichnungen
in größerem Umfang haben wir nur in der Edda und den nordischen Sagen,
und dieselben beziehen sich lediglich auf die nordische Mythologie, deren
unbedingte Uebertragbarkeit auf die Sudgermanen, die Deutschen immer mehr
Problematisch wird, je reichere Kenntniß wir von der deutschen Götterwelt im
engeren Sinne gewinnen. Für diese letztere aber haben wir an schriftlichen
Quellen fast nur einzelne, abgerissene Notizen in den Heiligenleben, den Be-
kehrungslegenden und hier und da in einer Geschichtsquelle. Der bei weitem
größere Theil des Materials steckt in jenen erwähnten lebendigen Quellen und
muß erst mühsam zusammen getragen werden. Es ist aber siedet die größte
Gefahr im Verzüge. Denn überall sind diese lebendigen Quellen im Begriff
zu versiegen, abzusterben: die alten Lieder und Sagen, die Sprüche, Spiele
und abergläubischen Gebräuche werden allenthalben vergessen, und gerade
unsere Zeit, welche die Sommerfrischler. die^Curgäste in alle Winkel unserer
Berge, auf alle Inseln unserer Meere führt, trägt zum Erlöschen dieser Un¬
mittelbarkeiten mehr als irgend eine frühere bei. Dies ist zu beklagen, aber
nicht zu ändern: jedenfalls sind unsere Tage die letzte Nachlcsezeit auf den
Stoppelfeldern dieses ganzen Gebiets. Es ist richtig, daß, Gott sei Dank!
noch so viel Anschauung. Poesie, Phantasie in unsrem Volke steckt, daß es
auch heute noch neue Sagen erzeugt, wenn ihm bedeutende Persönlichkeiten
oder überraschende Erfindungen einen mächtigen Eindruck machen, wie wir
denn in unsern Tagen Napoleons-Sagen, Elsenbahnsagen u. s. w., haben
neu entstehen sehen. Aber natürlich kann uns diese moderne Sagenbildung
über alte Mythologie gar nicht oder doch nur sehr mittelbar dadurch belehren,
daß sie uns in die Gesetze der Sagenbildung selbst einen Blick werfen läßt.
Deshalb thut fleißiges Sammeln des Stoffes noth, der heute noch reichlich
zu finden ist und in der nächsten Generation schon unvergleichlich seltner zu
treffen sein wird. Auch hat das allzurasche Erklären und Construiren die Ge¬
fahr der willkürlichen Erklärung zur unvermeidlichen Begleiterin.
Gleichwohl läßt sich auch hier das construirende von dem sammelnden
Denken nicht absolut scheiden, ja zum richtigen Sammeln selbst wird ein
gewisses Schichten und Scheiden des Stoffes, ein gewisses Streben nach lei¬
tenden Gesichtspunkten unentbehrlich sein, und nur in diesem Sinne, nicht im
Sinne einer Detaildeutung, sondern in der Absicht, einen der wichtigsten Ge¬
sichtspunkte für die Gruppirung des Stoffes hervorzuheben, soll im Nachste¬
henden das symbolische Element in der deutschen Mythologie untersucht
lMlM^,^ , , . , t'->, jr.N?I?M"l!^ ^, i>
Dabei bedarf es vor Allem einer Definition von „Symbolik." Denn
leicht könnte diesem Wort eine zu weit greifende Bedeutung beigelegt werden:
man könnte etwa alle bildliche, umschreibende, figürliche Ausdrucksweise eine
symbolische nennen. In diesem ungebührlich weiten Sinn wäre aber die
ganze Mythologie nichts als eitel Symbolik. Denn das Medium bei der
Bildung aller mythologischen Vorstellungen ist die Phantasie; also dasselbe,
wie bei der Bildung der ästhetischen Vorstellungen (womit natürlich nicht ge¬
leugnet wird, daß bei den mythologischen Vorstellungen-neben der Phantasie
auch noch andere Seelenkräfte, wie der Religionstrieb u. s. w.. thätig sind).
Die Phantasie nun bewegt sich immer in bildlichen indirecten Ausdrucksweisen,
aber nicht alle indirecte Ausdrucksweise, nicht alle Formgebung ist symbolisch,
sonst mühte am Ende die Sprache selbst symbolisch sein: wenn ich die Vor¬
stellung von Christus mit dem Wort Christus bezeichne , so ist'dieses Wort
nicht Christus selbst und doch gewiß nicht symbolisch. Ebenso wenig ist es
Symbolik, wenn der Maler ein Christusbild malt, wohl aber wenn et-'ein
Lamm malt, das Christus vorstellen soll. Also ist Symbolik diejenige um¬
schreibende, indirecte Ausdrucksweise, in welcher das Zeichen den gemeinten
Gegenstand nur andeutet, ihm in irgend einer Hinsicht ähnlich ist, nicht aber
denselben als Porträt darstellt. Aber noch ein Anderes muß zum Begriff des
symbolischen hinzutreten: es muß ein mehr oder wemgerj klares Bewußtsein
darüber vorhanden sein, daß das Zeichen nur Zeichen, nicht Abbild, nicht
directer wahrer Ausdruck ist. Wenn ein modewer Dichter das Rollen des
Donners von dem rasselnden Wagen des Donar ableitet, so ist das Sym¬
bolik, wenn aber die Germarien dies thaten, so war es keine Symbolik, son¬
dern Volksglaube. Wenn die oberbairischen Bauern bei Gewitter sagen.
Christus und die Apostel schieben Kegel, so ist das eine humoristische Sym¬
bolik, weil sie sich der Unwahrheit des Ausdrucks bewußt sind.
Die Symbolik ist also eine Unterart des Tropus und kann ihrer Natur
nach in Worten, Geberden, und Handlungen sich darstellen. Es ist Symbolik
in Worten, wenn der Liebende die Geliebte statt sie sein sanftes, stilles,
schönes Mädchen zu nennen, seine Blume nennt. Es ist Symbolik in Ge¬
berden, wenn der Betende die Hände faltet und so wehrlos, nicht der
eignen freien Arme Kraft vertrauend, sondern allem Schutz, den er sich selbst
geben könnte, entsagend, sich einzig dem Schutz Gottes übergibt. Es ist end¬
lich Symbolik in Handlungen, wenn die Hexe oder das alte Bauernweib einen
„Tattermann" von Wachs bildet nach der Gestalt ihres Feindes und dieses
Bild mit glühenden Nadeln durchsticht. .
Alte diese Arten von Symbolik und jede in unerschöpflich mannigfaltigen
Anwendungen kommen nun in der deutschen Mythologie vor: hier sollen aus
dem überreichen Material nur einige Beispiele, zunächst aus dem Gebiet des
Aberglaubens vom Angang, von Krankheit und Heilung herausgegriffen wer¬
den, an ihnen das Wesen dieser Symbolik darzuthun.
Es ist nämlich keineswegs immer leicht, in einem Mythologen. dessen
symbolische Natur sofort in- die Augen füllt, nun such den Sir» desselben
zu deuten und, wo mehrere Beziehungen möglich, die richtige zu treffen: wenn
z. B. gegen alle Arten von Erkrankung Mühlradwasser prophylaktische Kraft
hat. so fühlen wir sofort/ daß hier ein symbolischer Sinn zu Grunde liegt,
aber wir wissen nicht sofort) welcher. Da mögen uns denn den Weg zur
richtigen Deutung der dunkeln und schwierigen mythologischen Symbole die
Symbole der Rechtsalterthümer bahnen; denn diese sind in den meisten Füllen
aus dem juristische Zweck des Geschäfts leichter zu deuten. Bei diesen Rechts¬
symbolen ergibt sich aberl die interessante Wahrnehmung des Uebergangs des
Symbols in die bloße formale Handlung. Es zeigt sich hier, daß der mensch¬
liche Geist und Wille, um erkennbar zu sein, immer an äußere Formen der
Sprache, der Bewegung, der Handlung gebunden ist. und es ist ein feiner,
kaum merklicher Uebergang von der Form zum Symbol, Kein Me»sah wird
den Rechtsgedanken symbolisch nennen, daß zur Ergreifung und Darstellung
des Besitzes eben eine thatsächliche Beziehung zu der zu occupuenden Sache
gehört: wenn Mir der Schenker das geschenkte Buch in die Hund gibt, so ist
daran gewiß nichts Symbolisches. Auch darin nicht, wenn der Verkäufer den
Käufer eines Gutes überall auf demselben herumführt. und ihm dadurch
Haus und Hof und Wald und Wiese übergibt. Aber es ist schon entschiedn«
Ansatz zrtt Symbolik, wenn dem Käufer oder der einheirathenden Ehefrau die
Schlüssel des Hauses überreicht werden, oder wenn die Wittwe auf das
Grab.ihres in Concurs verstorbnen Gatten die Schlüssel des Ehehauses nie¬
derlegt. In vielen Fällen nöthigt eben die Unbeweglichkeit oder Quantität
des Objects zu einer Stellvertretung des Ganzen durch eine» Theil, wo mög¬
lich einen recht charakteristischen Theil, und eine große Menge von symbolischen
Beziehungen findet ihre Erklärung durch solche Stellvertretung, durch ein
Mr8 Pro t.ot.0. Wenn dingliche Rechte an einem Haus durch einen spähn
aus den Thürpfosten, an einem Wald oder Obstgarten durch einen Ast. an
Acker und Wiese durch eine Erd- oder Rasenscholle, an einem Weinberg durch
einen Rebschößling übertragen werden, so ist diese einfachste Symbolik auf
den Gedanken „der Theil fürs Ganze" zurückzuführen. Schon viel schwieriger
ist .die Deutung, wenn das Zeichen gewählt wurde nicht wegen seines Theil-
Verhältnisses zu dem Bezeichneten, sondern wegen irgend einer der zahllosen
andern möglichen Beziehungen der Aehnlichkeit in irgend einem Punkt. Zum
Beispiel das germanische Ting wird gehegt, indem rothe Seidenfäden um den
Kreis der Versammelten gespannt werden. Warum rothe? Man hat an
Donar gedacht, dem die rothe Farbe heilig, und ihm nun aufs Gerathewohl
der»! Lorsitz der Gerichtsversammlung beigelegt, sowenig dies zu dem jähzor-
nig-en Gewittergott paßt. Wenn man aber nun findet, daß die rothen Fäden
nur bei den Gerichten mit Blutbann vorkommen, bei denen ohne Blutbann
nicht, so werden wir diese simple Farbensymbolik verstehen, ohne den Donner¬
gott mit juristischer Präsidentschaft zu incommodiren.
Wie in diesem Fall hat man auch sonst häufig falsche Deutungen aus
der Ferne herbeigezogen, wo die richtige ganz nahe lag. So bei der Frei¬
lassung eines Knechts durch den Dcnarins (ins-numissio per äemai-inen). welche
darin besteht, daß dem freilassenden Herrn von einem andern Freien eine
Münze, ein äermrius, aus der offnen Hand geschlagen wird: hier ist die all¬
gemeine Deutung die, daß der Knecht so frei und ledig wie der Denar aus
der Hand des Herrn entspringe, eine Symbolik, die jeden mit dem Geist dieser
Dinge einigermaßen Bertrauten sehr, befremdlich anmuthen wird. Symbolik
ist wohl im, Spiel, aber eine ganz andere. Es ist nämlich die marmmissio
per äeng.rinn nichts Anderes als ein Scheinvcrtauf des Knechts durch den
bisherige» Herrn an den andern Freien als Scheinkäufer, der dann erst die
Freilassung vornehmen soll, ganz wie im römischen Recht bei der fa.milia.iz
sentio und der miillumissio eines sun8. Das Band zwischen Herrn und Knecht
ist ein so enges, das; es nur durch Verkauf gelockert werden kann (zugleich
wird dabei ein Zeuge gewonnen), zum Zeichen aber, daß der Kauf eben doch
nur ein Scheinkauf, verzichtet der Verkäufer auf das prstium. er läßt es sich
dereiinquirend ans der Hand schlagen.
Wenden wir uns von den Symbolen des Rechts zu den Symbolen des
Aberglaubens, so sind auf diesem Gebiet vor Allem die beiden großen Gruppen
des activen und passiven Aberglaubens zu unterscheiden. Bei dem activen
Aberglauben sucht der Mensch durch eigne Thätigkeit entweder ein drohendes
Uebel abzuwenden oder ein schon hercingebrochnes Uebel zu beseitigen oder
ein gewünschtes Glück herbeizuführen oder endlich einen bestehenden Glücks¬
zustand dauernd zu erhalten; aber auch das ist schon activer Aberglaube,
wenn zur Erforschung der Zukunft diensame Handlungen absichtlich vorge¬
nommen werden. In diese letzte Kategorie des activen Aberglaubens gehören
also alle Arten von Augurien, Auspielen. Sortilegien u. a.; zu der ersten Ab¬
theilung zählen alle die Sprüche, Geberden, Ceremonien, mit welchen Krank¬
heiten geheilt oder fern gehalten, Hcigelschiag oder Wetterstrahl verscheucht.
Gedeihe» der Saat, gute Erntetage herbeigeführt werden, und hier ist das
Walten der symbolischen Vorstellungen so mächtig, daß man sich hat verleiten
lassen, die Symbolik geradezu auf dies Gebiet, auf den activen Aberglauben,
zu beschränken. Aber ich bin der Ueberzeugung, daß in der Untersuchung der
Symbolik auch für das Gebiet des passiven Aberglaubens der Schlüssel
zur richtigen Deutung einer großen Menge von räthselhaften und bisher
unerklärten Mythologemen liegt. Der passive Aberglaube ist identisch mit
dem Kreis der Omma im weitesten Sinn d. h. aller Vorgänge, welche
dem Menschen, ohne daß er durch seine Thätigkeit, durch seine Absicht sie
wach gerufen, ja manchmal auch sehr gegen seinen Willen, die Zukunft ent¬
hüllen, ihn warnen, mahnen, bedrohen oder auch ermuthigen und zuversicht¬
lich machen. Sehr viele dieser Omma haben ihre Erklärung in symbolische
Beziehungen und Auffassungen des ominösen Vorgangs; zwar lassen sich
keineswegs alle Probleme dieser Art mit jenem einzigen Schlüssel lösen, allein
ich fürchte sehr, wo keine symbolische, wird meist gar keine Erklärung möglich
sein. — In dem praktischen Aberglauben, wo es gilt Erwünschtes herbeizu¬
führen, Unerwünschtes fern zu halten, glaube ick eine Hanptanwendnng des
symbolischen in Folgendem gefunden zu haben: der Mensch wählt ein Stell¬
vertretendes für das Object, um dessen Wohl oder Wehe es sich dabei han¬
delt, und nimmt nun selbst mit diesem stellvertretenden nach bestem Vermögen
dasjenige vor. was er dem eigeniliehen Object seiner Theilnahme zugewen¬
det wissen will: er zeigt den Kollern pantomimisch, eindringlicher, als er
durch bloße Gebetesworte könnte, was er von ihnen gethan wünscht. Ein
ganz schlagendes Beispiel für die Richtigkeit dieser Auffassung ist die Symbo¬
lik iss den Gebräuchen, mit welchen fast olle bekannten Völker — keines¬
wegs etwa blos Germanen — nach langer Trockenheit Regen vom Himmel
erflehen. Es wird nämlich bei Indern, Arabern.' Hellenen. Kelten, Germanen
und Slaven, wenn nach langer Dürre die Götter Regen auf die Erde nieder-
sendcn sollen, ein Mädchen oder ein Knabe entkleidet, daraus über und über'
in grüne Gräser und Kräuter gehüllt an den Brunnen, den Bach oder die
Meeresküste geführt und hier vollauf Mit Wasser bespritzt, begossen, beschüttet,
wohl auch schließlich hinein getaucht. Bei uns in Oberdeutschland ist die ur¬
sprüngliche Bedeutung des Festes durch die Verbindung mit dem Winteraus¬
treiben getrübt und verwischt. Der bairisch-schwäbische Psingstl oder Wasservogel
hat vielfach die überwiegende Bedeutung des Sieges des Sommers über den
Winter, welcher ausgetrieben und zuletzt ersäuft wird, angenommen. Aber
manche locale Variationen, «in denen das Bekleiden mit grünen Kräutern und
das Anspritzen — ein Tauchen findet oft gar nicht statt — die Hauptsache
ausmachen, zeigen auch bei uns deutlich den ursprünglichen Sinn des Spin
bois, welches in andern Gegenden Deutschlands, z. B. in Schlesien, in West¬
falen, in Holstein, noch ganz in der echten Weise mit dem ausgesprochenen
Zweck, Regen zu erbitten, geübt wird. Hier ist das mit Blättern grün beklei¬
dete Mädchen das stellvertretende Zeichen für die grün bekleidete Erde und
durch das Bespritzen und Beschütten wird den Göttern recht drastisch vorge¬
macht, was man von ihnen erwartet: sie sollen in Wirklichkeit thun an dem
Vertretnen. an der Erde, was die Menschen symbolisch an dem Vertretenden,
an dem Mädchen vornehmen.
Auf einer ähnlichen Symbolik beruht nun eine unübersehbare Menge von
sympathetischen Mitteln, von Aberglauben der Krankheit und der Heilung.
Wenn z. B. nach kymrischen wie nach semitischem, nach böhmischen wie nach
altbairischen Aberglauben Kranke, insbesondre Hautkranke, durch enge, kaum
für den Menschenleib zu passirende Spalten und Löcher, in Felsen. Höhlen
und Bäumen schlüpfen müssen oder gezogen werden, so soll die Krankheit
an den schürfenden Kanten des spätes hängen bleiben, an sie hin abgestreift
werden: man will den Göttern handgreiflich vormachen, w<rs man von ihnen
erwartet. Es versteht sich, daß mit dem Untergang der Götterwelt, der diese
Bräuche angehören, auch das Bewußtsein einer Beziehung zu helfenden Göt¬
ter» erlischt und daß heut zu Tage die Sitte nicht mehr als Symbol, sondern
nur als Sympathie gilt. Nicht anders ist es mit der i/tzt nur noch sympa¬
thetisch, kaum noch symbolisch gemeinten Uebung, Körpertheilchen des Kran¬
ken. Haare, Nägelschnitzel, Blutstropfen in die Erde zu verscharren: mit die¬
sen Zeichen und wie diese Zeichen s^ni die Krankheit abgethan, gelöst, begra¬
ben sein. Eine complicirtere Symbolik liegt der Sitte des niederbairischen
Bauern zu Grunde, um chronisches Kopfweh zu heilen, eine gebrannte Tbon-
kugel, kopfähnlich gebildet, mit einem eingebrannten Gerstenkorn oder Schrot-
kügelchen zu opfern, und zwar einem Heiligen, der mittelst Enthauptung zum
Märtyrer geworden. Hier sind die symbolischen Beziehungen mannigfach: der
enthauptete Heilige ist der Specialsachverständige für Kopfweh, durch eigne
Erfahrung aä es-usam legitimirt, und mit dem fremden Körper in dem Thon-^
kopf wird der fremde Krankheitsstoff aus dem Bauernkopf in den geopferten
übertragen. Ganz charakteristisch ist die Symbolik des schon erwähnten Aber¬
glaubens bezüglich des Mühlradwasiers, das prophylaktisch wider alle Anfälle
von Krankheiten hilft; so sicher und kräftig soll die anspringende Krankheit —
alle Krankheiten werden als uns überfallende Elben und Dämonen gedacht
— vom Körper abprallen als die Wassertropfen von den Schaufel» des Mühl¬
rads, und so allgemein germanisch ist diese Borstellung, daß man an den
Mühlrädern am sächsischen Teviot und Hunrber^wie an den alemannischen
Mühlen in Baden und den bajuvarischen im Jnnthal geradezu die gleichen
Borrichtungen findet, das heilbringende Trvpfenwasser an den Schaufeln auf¬
zufangen. Uebrigens kann sich auch die Homöopathie — sie hat meines Wis¬
sens von diesem Argument noch keinen Gebrauch gemocht — auf uralte
Symbolik berufen und sich als eine schon in-den germanischen Urwäldern herr¬
schende Heilmethode darthun. Denn eine dem homöopathischen Princip ent-
sprungne Symbolik ist es doch, wenn rothe Exantheme geheilt werden durch
Berührung mit eurem noch intensiverer Noth: wenn Masern, Scharlach, Gesichts¬
rose geheilt werden durch Auflegen von Schalen gekochter Krebse oder von
Hagebutten oder von Fuchshaaren oder der Feder des Rothschwänzchens..
Hier wird der Teufel ausgetrieben durch der Teufel Obersten: dem feind¬
lichen rothen Stoff wird mit einem mächtigeren und befreundeten Roth be>
gSWkt-<jm dei'ich''in,'!5'l »i u n>'i?dftN!!i>s cdr»s, ?im i ' ' ^ '
Eine dagegen arr das allopathische Princip streifende Borstellung ist es.
wenn ein schiefer Hals, der etwa nach rechts gedreht ist, geheilt wird, indem
der Kranke Weidenbündel. Faschinen u. a. von rechts nach links dreht: hier
wird wieder mit dem Zeichen vorgenommen, was an den, Bezeichneten ge¬
schehen soll. Dieser Aberglaube vom Weidendrehen begegnet aber auch noch
unter einer andern Kategorie, nämlich bei jenem Heilaberglauben, welcher die
Beschäftigung des Kranken oder seiner Umgebung oder sogar die Beschaffen¬
heit des Geräthes in der Krankenstube auf die Krankheit bezieht. Wenn in
Gegenwart eines an Bauchgrimmen Erkrankten Weiden gedreht. Faschinen
geflochten werden, so wird dadurch das Leiden aufs Höchste gesteigert; es müs¬
set» vielmehr alle Dinge, Geräthe und Beschäftigungen um den Kranken mög¬
lichst seinein Leiden entgegengesetzt eingerichtet werden; daher erklärt sich, daß
die Entbindung einer Kreisenden erschwert wird, wenn irgend ein Band an
ihrem Anzug gebunden, irgend ein Knopf, eine Oese zugeknöpft ist: erleichtert
wird die auf Oeffnung, Lösung, Losgebung zielende Krisis, wenn alle Ka¬
sten und Kisten im Zimmer geöffnet und ausgezogen, alle Nägel gelockert, alle
gebundenen Dinge aufgebunden werden. Hier ist theils allopathische Sym¬
bolik wirksam, theils jene häufigste Beziehung von dem Zeichen auf das Be¬
zeichnete. Ganz analog gedacht ist der vcrhHrWiißvolle Zauber des Nestel-
knüpsens und Schloß-Schlagens d. l). die feindseligen Hexereien, wodurch
Neuvermählte um der Vollziehung der Ehe behindert werden. Das Nestel¬
knüpfen ist zunächst gegen den Mann (häufig gegen beide Gatten) gerichtet
und besteht in einer äußerst kunstvollen Berschlingung und Verflechtung eines
Knäuels von Bindfaden: das Princip der Schürzung ist dabei, daß der eine
starke durchlaufende Faden durch eine Unmasse von Knoten unterbunden und
behindert wird: bei jedem Knoten wird ein besondrer Spruch gemurmelt, und
der Zauber ist nur lösbar, wenn die Knoten von derselben Hand in derselben
umgekehrten Reihenfolge und jeder Knoten mit seinem „Gegenspruch" aufge¬
schürzt wird. Das Schloßschlagen, welches die Empfänglich des Weibes
hindert, besteht darin, daß man während der Trauung öder wenn die Braut¬
leute sich vom Mahl zurückziehen, ein Vorlegeschloß mit einem bezüglichen
Spruch zuschnappen läßt und Schloß und Schlüssel in zwei nach entgegenge¬
setzter Richtung rinnende Wasser wirst : nicht eher wird der Schooß der Braut
geöffnet, bis derselbe Schlüssel dasselbe Schloß aufthut.
Den Uebergang vom praktischen activen Aberglauben der Heilkunde zu
dem passiven, theoretischen, des Umgangs bildet die Vorstellung, daß ein
Gelbsüchtiger unheilbar wird, wenn eine gelbe Henne über seinen Weg fliegt :
die gelbe Farbe der Krankheit wird fortan so unauslöschlich an ihm haften,
wie'an dem Huhn dessen Naturfarbe. Es wird' also hrer das begegnende
Thier symbolisch identificirt mit dem 'Menschen. Diese Art von Symbolik ist
nun aber eines der besten Erklärungsrmttel für einen großen Theil der Alrer-
glaubenssülle des Umgangs. Der Grundgedanke des Umgangs ist, daß es bei
jedem wichtigen Unternehmen, Auszug zu Krieg, Jagd, Reise, Gericht, Fisch¬
fang, Ackerbau, Hochzeit von großer Bedeutung ist, unter welchen Modalitäten
der Ausziehende das Haus verläßt und welche Pflanzen. Thiere, Menschen
und in welchen Situationen ihm diese begegnen. Wer mit dem linken Fuß
voran die Schwelle überschreitet, beim Ausgang stolpert oder fällt, dem wird
es im entscheidenden Augenblick seines Unternehmens ebenso ungeschickt und
mißlich gehen.
Der Angang im engsten Sinn bezeichnet die Glück oder Unglück verhei¬
ßenden Begegnungen von Menschen oder Thieren, ein Aberglaube, der sich
bei fast allen bekannten Völkern, bei Indern, Persern, Aegyptern, Juden, Hel¬
lenen, Römern. Kelten, Germanen und Slaven findet. Man hat bisher ge¬
wöhnlich die Unmasse dieser Omma und Vorzeichen als bloße Spiele willkür¬
licher Phantasie für völlig unerklärlich gehalten. Ich glaube, daß die An¬
wendung symbolischer Erklärung auf diesen passiven Aberglauben sehr vieles
scheinbar Unerklärliche zu erklären, von sehr vielem scheinbar Sinnlosen den
Sinn zu enthüllen vermag. Eine Kategorie solcher Symbolik haben wir
schon angedeutet; es wird das begegnende Wesen identificirt mit dem zu dein
Unternehmen ausziehenden, die Eigenschaften, welche das fragliche Thier hat,
Furchtsamkeit oder Muth, Kraft oder Schwäche, wird der Begegnende in sei¬
nem Vorhaben bewähren: es gehen die Eigenschaften des Thiers auf ihn
über. So erklärt es sich denn ganz einfach, daß alle feigen, scheuen, un¬
vollkommenen Menschen und Thiere bei der Begegnung Unglück, alle stol¬
zen, muthigen, hervorragenden Glück bringen. Unglück bedeutet dem zum
Kampf Ausziehende» ein Hase, der über den Weg springt; denn feig wie ein
Hase wird er sich benehmen. Unglück bedeutet dem Bräutigam aus dem Kirch¬
gang der Maulesel, der unvollkommne, zeugungsunfähige Bastard. Unglück
bringt dem Krieger oder Jäger der Blinde, Taube, Lahme, der ihm begeg¬
net: Auge. Ohr, Hand und Fuß werden ihm gegenüber dem Feind oder dem
Wild versagen. Dagegen alle starken muthigen Thiere verheißen Sieg und
Erfolg: Adler, Löwe, Bär, Wolf, Eber, Roß, Stier sind dem Helden er¬
wünschte Omma, stark und tapfer wie sie wird er kämpfen.
Neben dieser Symbolik, welche das Begegnende in>t dem Subject des
Aberglaubens identificirt, gibt es nun aber natürlich bei andern Fällen des
Umgangs andre Formen symbolischer Beziehungen. Sehr oft, wird das be¬
gegnende Thier als Symbol, Begleiter, Zeichen, Verkleidung eines Gottes oder
Dämon angesehen, der sich anschickt, je nach seiner Sinnesart dem Ausziehen¬
den zu nützen oder zu schaden. Daher bringt ein altes Weib dem Jäger,
dem Fuhrmann, dem Soldaten Unheil: sie ist die Hexe, die sein Gewehr ver¬
zaubern, sein Rad zerbrechen, sein Schwert zersplittern wird. Daher ist Bock
und Ziege ein böser Angang; denn seit die alten Götter zu Dämonen.ge-,
.
worden, ist der gehörnte, bärtige, zottige Bock die Lieblingsverkleidung des
Teufels und der Teufel wird also dem Wanderer sein Werk verderben. Ganz
besonders charakteristisch aber ist. daß Schwäne, die eines Wegs mit dem
germanischen Kriegsheer fliegen oder schwimmen, Glück und Sieg, daß aber
dieselben Schwäne, wenn sie ihm entgegenkommen, Unglück und Niederlage
bedeuten; denn die Schwäne sind nichts Andres als die Schwanjungfrauen,
die Walküren in Schwanenhemden, welche die Loose der Schlachten lenken:
ziehen sie mit uns, dann wehe den Feinden, ziehen sie wider uns heran, so
werden sie gegen uns entscheiden.
Sehr eigenthümlich erscheint, daß es bei gewissen Thieren wesentlich
darauf ankommt, in welcher Beschäftigung, in welchem Verhalten, an wel¬
chem Ort wir sie antreffen: ob wachend oder schlafend (Hund. Katze), im
Wald oder auf dem Felde (Fuchs, Hase), fliegend oder sitzend (Reiher, Möve),
im Wasser oder auf dem Land (Ente. Frosch). In manchen dieser Fälle fin¬
det die oben besprochne Jdentisicnung statt, z. B. wenn der gefangne Fisch
Unglück, der Fisch im Wasser und besonders der Raubfisch (Lachs, Hecht, Fo¬
relle) Glück bedeutet. In viel zahlreicheren anderen Fällen aber ist eine Deu¬
tung gar acht oder doch wenigstens unsrer dem Naturleben entfremdeten
Stubenweisheit nicht mehr möglich. Ich glaube nämlich, daß sehr viele die¬
ser Omma auf Wetter- und Naturbeobachtungen des Jäger-, Fischer- und
Bauernlebens beruhen, welche, wie die sogenannten Bauernregeln im Ka¬
lender, uns nicht mehr zugänglich, in ihren Entstehungsgründen unfaßlich sind.
Sehr oft wird also hier gar keine Symbolik, sondern eine Wetter- oder
Naturbeobachtung zu Grunde liegen; daher denn auch die unendliche locale
Verschiedenheit gerade dieser Omma. Ein Beispiel für viele: wenn die Fl-
ieder am Südende des schilfigen Ammersees bei Tagesgrauen ausfahren und sie
finden die Reiher- und Mövenschwärme, welche sehr zahlreich die Ufer des
versumpfenden Sees bevölkern, schon im Wasser, so bedeutet das Unglück
wenn noch arn Lande, ist es ein gutes Zeichen für den Fischfang. Auf meine
Frage warum, zuckten die meisten die Achseln und meinten, die Vögel seien
halt manchmal r echt, manchmal „schiech" (mali vains, ii'g,ti, ille'ausel, inimiei);
aber ein alter Fischer lachte und sagte: die Vögel seien nie schiech, aber wenn
sie schon früh im Wasser seien, gäbe es, das habe er jetzt seit vierzig Jahren
beobachtet, immer bald Südwind und fehlendes Wetter. Hier sieht man. wie
ein und derselbe Glaube bei verschiedenen Leuten derselben Gegend bald als
Aberglaube, bald als bloße Wetterregel lebt. Und wie in diesem einen kla¬
ren Fall, wird es in zahllosen unklaren Fällen sein. Unsere heidnischen Vor-
fahren, in ihren unmittelbaren Zuständen fortwährend im innigsten Zusammen¬
hang mit dem ganzen Leben der Natur, hatten offenbar eine Feinheit und
Sicherheit der Naturbeobachtung, welche wir mit unsern abgestumpften Sin-
nen uns gar nicht vorstellen können: so werden also z. B. Wetterverände¬
rungen, günstige oder ungünstige Aussichten für Jagd und Fischfang, Reise.
Ackerbau und Viehzucht von ihnen aus Zeichen des Thierlebens vorausgesehen
worden sein, die uns freilich nichts bedeuten. Bedenkt man nun, daß ihr
Leben, ihr Wohl und Wehe in diesen Beschäftigungen beschlossen war. so be-
greift sich, daß Zeichen, welche für eine solche Verrichtung Gedeihen oder Mi߬
lingen verkündeten, bald schon an sich als Omma von Glück und Unglück be¬
trachtet wurden.
Ja, man kann noch einen Schritt weiter gehen und einräumen, daß ge¬
wisse Ereignisse wie ohne symbolischen so ohne natürlichen Grund den Cha¬
rakter von Omma wenigstens für bestimmte Kreise angenommen haben nach
dem bekannten Trugschluß: xost. Koe, orgo xi'vptör Koe. Wenn sich wiederholt
bei einem Individuum oder in einer Familie Unglück ereignet hat, so oft das
Individuum eine bestimmte Stadt betreten, einem bestimmten Nachbarn be¬
gegnet, ein bestimmtes Kleid getragen hat. so wird für dies Individuum, für
diese Familie die betreffende Stadt ein Ungiücksort, der Nachbar ein Unglücks¬
mann, das Kleid ein Unglücksgewand: zahlreiche Beispiele aus Familientra¬
ditionen sind allbekannt; ich wähle einige weniger bekannte: so oft die Herrn
von Woringen in Soest einreiten, stirbt das jüngste Glied ihres Hauses; so
oft die Raubgrafen »von Marbach jenseits des Neckar jagen, erlahmt ihnen
ein Roß; so oft ein Fürst von Schwarzburg einen blauen Mantel trägt, hat
er Glück in der Liebe. Und dergleichen. In solchen Fällen liegen gewiß sehr
oft zufällige Wiederholungen, durch Famiiientiaditionen ausgeschmückt, zu
Grunde und sind symbolische oder auf Naturbeobachtungen gestützte Erklärungen
unberechtigt und unnöthig.
Weiter aber darf man nicht gehen; mit Nichten darf man jener banalen
Weisheit, des Achselzuckens Concessionen machen, welche da allen Aberglauben
als unerklärlich, weil sinnlos, weil einer logischen Grundlage ermangelnd, be¬
zeichnet! Im Gegentheil ohne Grund schafft das menschliche Vorstellungsver¬
mögen gar kein Gebilde: eine causa. suNcienö, wie man sich vor hundert
Jahren ausgedrückt hätte, muß immer vorhanden sein zur Erzeugung eines
Denkproducts, und wo ein Aberglaube, eine Sitte, eine Uebung auch lediglich
Spiel der ästhetischen Phantasie ist, auch da hat diese Phantasie nicht ohne An¬
haltepunkte geschaffen: und die Aufgabe der Mythologen wird nicht sein, den
Unsinn seiner Objecte zu proclamiren, sondern mit Liebe und Hingebung ih¬
Als im September 1860 auf Befehl unseres Gesandten in Neapel, des Grasen
Perporcher, die Lorelei) dazu benutzt worden war, Botendienste sür den König Franz
den Zweiten zu thun, und einen Brief von Gaeta nach Messina befördert hatte,
wurde unser auswärtiges Ministerium in der Presse sehr lebhaft interpellirt. Man
fragte, wie es möglich sei, daß ein preußisches Kriegsschiff, welches zum Schutz preußi¬
scher Interessen in die italienischen Gewässer geschickt war, durch eine augenscheinliche
Intervention in den inneren Streit Italiens die Interessen preußischer Unterthanen
in hohem Grade gefährdete. Man fragte, was denn hätte geschehen sollen, wenn
es Garibaldi eingefallen wäre, die bourbonische Feldpost einzufangen. Aus solche
Weise, meinte man, werde unsere junge Marine zum Spott der seefahrenden Nationen
gemacht. Zum Mindesten erwartete man irgend eine Aufklärung, wenn nicht um
der öffentlichen Meinung willen, so doch wenigstens wegen der Interessen unseres
Handelsstandes, der doch wissen mußte, in welcher Stellung unsere Negierung Ita¬
lien gegenüber sich befand. Aber das auswärtige Ministerium blieb stumm. Erst
im Februar des folgenden Jahres bei den Adreßvcrhandlungen machte Herr v. Schlei¬
me) einige Eröffnungen. Man erfuhr damals, daß Graf Perporcher aus eigene
Verantwortung gehandelt hatte, weil unglücklicher Weise die Telegraphendrähte zwi¬
schen Gaeta und Berlin abgerissen waren. Auf die Frage aber, weshalb denn auf
die Interpellationen der Presse gar keine Rücksicht genommen und diese Aufklärung
nicht sogleich gegeben worden sei, antwortete der Herr Minister: es wäre keine Aus¬
klärung gegeben worden, weil die Presse eine solche zu bestimmt und peremtorisch
gefordert hätte. Mit einer solchen Theorie kam denn allerdings die Presse in eine
schlimme Alternative; es wurde ihr fast unmöglich gemacht, die richtige Tonart zu
treffen. Spricht sie einen Wunsch recht lebhast und dringend aus, so heißt es: auf
eine so dringende Bitte dürfen wir nicht antworten, das würde ja das Ansehen
der Regierung compromittiren, das würde aussehen, als ob sie je einem Drängen
von außen nachgeben könnte. Ist dagegen die Bitte um Aufklärung in aller Be¬
scheidenheit gehalten, dann wird gesagt: ja, sehr lebhaft interessirt sich Niemand
dafür, wir haben also keine Veranlassung zu antworten.
Dies ist die berühmte Loreley-Theorie: das Nichtige gerade deshalb nicht zu
thun, weil die öffentliche Meinung es, verlangt. Diese Theorie soll jetzt, wenn wir
unserer ministeriellen Sternzeitung glauben dürfen, noch verallgemeinert und auf
die gesammte Leitung der öffentlichen Angelegenheiten angewendet werden. Nach
der Sternzeitung soll nämlich jetzt in Folge der Wahlen folgende Alternative vor
uns liegen: „Hat das Land die gereifte Besonnenheit und Mäßigung an den Tag
gelegt, welche eine weitere Durchführung der verfassungsmäßigen Freiheiten rathsam er¬
scheinen läßt; oder zeigt im Gegentheil die' Stimmung des Landes Symptome einer
Erregung, die uns dringend die Sorge für eine verstärkte Befestigung der gesetzlichen
Schranken und für eine kräftigere Handhabung der obrigkeitlichen Autorität alten-
pfiehlt?" Bon der Beantwortung dieser Frage würde dann auch weiter, wie wir
belehrt werden, die Entscheidung über den Fortgang oder die Sistirung der Reform¬
politik abhängen. Offenbar haben wir es hier mit der vervollkommneten Lorclcy-
Theorie zu thun. Denn entweder, wir machen es wie bisher, und wählen Abge¬
ordnete, welche, um Conflicte zu vermeiden, leicht geneigt sind, jedem Druck nachzu¬
geben; — dann stemmt sich, wie wir aus Erfahrung wissen, das Herrenhaus nur
um so hartnäckiger jedem Fortschritt entgegen, und wir kommen nicht aus der Stelle.
Oder wir machen es wie diesmal und wählen Abgeordnete, von welchen wir ver¬
muthen, daß sie ihre Forderungen etwas lauter und dringender vorbringen werden;
— dann soll zur Strafe mit einer „Sistirung der Reformpolitik" geantwortet werden,
als ob die Neformpolitik nicht ohnehin schon längst durch das Herrenhaus sistirt
wäre. Wir müssen den Erfolg eines solchen Systems bezweifeln. Pädagogisch mag
dasselbe zuweilen gerechtfertigt sein. Aber man hat es hier doch nicht mit Tertianern,
sondern mit verständigen Männern zu thun. Zum Ueberfluß gibt die Sternzeitung
selbst zu, daß im Lande keineswegs eine Erregung herrscht, welche die weitere Durch¬
führung verfassungsmäßiger Freiheit bedenklich machen könnte. Allein weil „sich für
die entgegengesetzte Auffassung manche Scheingründe geltend machen lassen", soll der
bisherige langsame Gang unserer Entwickelung vollends ganz in's Stocken gerathen.
Mit einer solchen Theorie treibt man selbst die besten Freunde der Regierung
in die Opposition. Wenn man uns sagt, daß Wünsche, deren Berechtigung nicht
bestritten wird, gerade deshalb nicht erfüllt werden sollen, weil sie von der Volks-
stimme getragen werden, so fragt man sich, wozu denn überhaupt eine Volksver¬
tretung vorhanden ist. Offenbar doch nur, um der Stimme des Landes ihren
verfassungsmäßigen Ausdruck zu geben. Und wenn sie dies in einer Tonart thut, die
nicht ganz gefällt, so soll das Land dafür bestraft werden? Hoffentlich haben wir
diese ganze Theorie nur einem übertriebenen und blinden Diensteifer zu verdanken.
Wollte aber das Ministerium selbst die nächste Kammer mit einer solchen pädago¬
gischen Elle messen, so würden wir den Erfolg sehr bald in der Fractionsbildung
spüren. Die Majorität würde um ein Bedeutendes weiter nach links geschoben werden.
Uebrigens hat man sich während der letzten Woche bereits mit den Vorberei¬
tungen zur Fractionsbildung beschäftigt. Interessant ist dabei im Grunde nur die
Frage, wie sich die constitutionelle Partei in sich gestalten und von der Fortschritts¬
partei abgrenzen wird. Denn die Fractionen der Polen und der Ultrcunontanen
ergeben sich von selbst. Auch die wenigen Anhänger der feudalen Reaction werden
sich ganz natürlich von den übrigen Parteien absondern. ES gibt keinen größern
Feind der wahrhaft conservativen Interessen in Preußen, als die feudale Reaction.
Denn diese pseudo-conservative Partei, welche sich nur von ihren haltlosen .Nei¬
gungen leiten läßt, compromittirt und überwuchert die wahrhaft conservative
Partei, welche sich dem Fortschritt an und für sich nicht verschließt — nur daß sie
ihn in einer ruhigen Entwickelung und Anknüpfung an die historisch gegebenen
Momente zu verwirklichen sucht. Der wahrhafte Konservatismus muß also vor
allen Dingen sich von der reactionären Demagogie loslösen, wenn er sich nicht selbst
den Boden unter den Füßen fortziehen will. Die Kreuzzeitung meinte in ihrer Neu¬
jahrsbetrachtung, „wir hätten mit Friedrich Wilhelm dem Vierten nicht blos ein
Stück der ruhmreichen Geschichte Preußens, sondern das alte königliche Preußen
selbst in's Grab versenkt;" und von der Regierung stellte sie den Satz auf. daß
„wer als Freibeuter beginnt, auch als Freibeuter enden wird." Das, meinen wir,
ist die Spracht von schlechten Demagogen. Wenn daher auch Versuche gemacht
werden, Männer von aufrichtiger conservativer Gesinnung mit einer gewissen Furcht
vor Ueberstürzung zu erfüllen und sie dadurch in das feudale Lager zu treiben, so
wird das keinen Erfolg haben. Die 15 Feudalen werden hoffentlich ungestört
fortfaliren können, ihre „innerlichen Siege" zu erkämpfen.
Wichtiger ist die Frage, wie die constitutionelle Partei sich gestalten wird.
Wir fassen unter dieser Benennung alle diejenigen zusammen, welche, aufrichtig
aus dem Boden unserer Verfassung stehend, in Gemeinschaft mit der gegenwärtigen
Regierung an dem Ausbau unserer verfassungsmäßigen Institutionen zu arbeiten
wünschen; welche deshalb namentlich die liberalen Elemente des Ministeriums zu
kräftigen bemüht sind; welche also in dem, was sie fordern, und in dem, was sie
bewilligen oder ablehnen, sich stets die eigenthümliche Lage des Ministeriums gegen¬
wärtig halten und so viel als möglich Alles vermeiden, was einen Sturz deS Mi¬
nisteriums herbeiführen könnte. Hierbei aber gibt es immer eine Grenze; und diese
Grenze ist rein subjectiv. Dem Einen erlaubt es sein Gewissen weiter zu gehen als
dem Anderen. Es fragt sich also: werden die einzelnen Mitglieder der constitutio-
nellen Partei in der Grenze, welche sie sich für ihre Nachgiebigkeit stecken, so weit
von einander differiren, daß sie sich in zwei Fractionen spalten müssen, oder wird
die ganze Partei ungetheilt beisammen bleiben können? Nach verschiedenen An¬
zeichen, welche bereits vorliegen, ist es wahrscheinlich, daß wir in der nächsten
Kammer zwei konstitutionelle Fractionen haben werden. Einerseits hat Grabow
seine politischen Freunde eingeladen, sich zur Constituirung einer Partei mit ihm
zu vereinigen. Andererseits wird von Einladungen zu einer besonderen Fractions-
dildung berichtet, an deren Spitze Männer wie Hnrkort, Stavenhagen, Bockum-
Dolffs stehen werden. Schwerlich wird sich die Spaltung, die hier bereits angebahnt
ist, noch vermeiden lassen. Vielmehr darf man annehmen, daß sich unter Leitung
von Grabow und Lette ein rechtes Centrum, unter Leitung von Harkvrt und
Stavenhagen ein linkes Centrum bilden wird.
Wer Aufrichtigkeit und Einsicht genug hat, darf gar nicht wünschen, daß diese
Spaltung noch wieder verkleistert werde; vielmehr liegt dieselbe im Interesse der
constitutionellen Partei selbst. Nur darf die Scheidung nicht auf Grundlage früherer
Abstimmungen, wie z. B. über das Vincke'sche und Kühne'sche Amendement, vorge¬
nommen werden. Es wäre thöricht, sich nach dem Verhältniß zu einer Frage son¬
dern zu wollen, die gar keine praktische Bedeutung mehr hat, oder die wenigstens
in einer ganz anderen Gestalt, als im vorigen Jahre, an da« Abgeordnetenhaus
herantreten wird. Wenn aber die Scheidung aus Grundlage der jetzt vorliegenden
Fragen und ohne Rücksicht auf alte Zerwürfnisse erfolgt, so ist sie im Interesse der
Sache und im Interesse der constitutionellen Partei selbst; — und zwar aus einem
doppelten Grunde.
Erstlich, die constitutionelle Partei, wenn sie in Einer Fraction beisammen
bliebe. würde an derselben Krankheit leiden und zu Grunde gehen, wie in der
vorigen Kammer die große Vincke'schen Fraction. Unter dem Namen der Konstitu¬
tionellen waren hier die disparatestcn Elemente vereinigt; bei jeder großen princi-
Piellen Frage zerfiel die Fraction in fich selbst und zum Schluß war sie in vollem
Auflösungsproceß begriffen. Nur ein so energischer Parteiführer wie Vincke ver¬
mochte die Fraction noch so lange zusammen zu halten. Zur constitutionellen oder
altliberalen Partei zählen sich im nächsten Hause etwa 150 Abgeordnete. Bei kri¬
tischen Fragen grade von der Natur, wie sie vorherzusehen sind, würde ihre große
Zahl eher eine Schwäche als eine Stärke der Partei sein. Denn es würde dabei
jedesmal zu einer Uneinigkeit innerhalb der Partei kommen. Die Principien, um
welche es sich handelt, würden nicht gelöst, sondern verwaschen. Besser also man
trennt sich im Voraus, wenn man doch vorherfieht, daß man nicht lange wird zu¬
sammengehen können.
Zweitens, die Bildung eines linken Centrums wird vielleicht einen vortheil-
haften Einfluß auf die Gestaltung der Fortschrittspartei oder der eigentlichen Linken
haben. Denn unter der allgemeinen Benennung der Fortschrittspartei sind gleich¬
falls zwei ganz verschiedene Elemente vereinigt. Die Einen find in ihren Zielen
von der constitutionellen Partei gar nicht verschieden; sie find nur etwas verdrießlich
über den bisherigen langsamen Gang und wünschen deshalb etwas energischere
Mittel für den Fortschritt anzuwenden. Für die Andern ist das Ziel der constitu¬
tionellen Entwickelung nur eine Station, von der. aus sie weiter streben wollen,
um ihr demokratisches Princip durchzuführen. Man thut daher Unrecht, die Fort¬
schrittspartei ganz im' Allgemeinen als demokratisch zu bezeichnen; fie besteht aus
einer Koalition von fortgeschrittenen Liberalen und gemäßigten Demokraten. So
lange man sich in der Theorie bewegt, geht es mit dieser Coalition recht gut; so¬
bald man aber an praktische Fragen herantritt, wird fich der große principielle
Unterschied sehr bald zeigen. Es wird fich zeigen, daß z. B. Tochter und Waldeck
nicht sehr weit mit einander gehen können, daß Tochter und die ihm gleichgesinnten
Fortschrittsmänncr der constitutionellen Partei viel näher stehen als der demokrati¬
schen. Wenn es also zu einer Scheidung zwischen diesen beiden Elementen der
Fortschrittspartei kommt, so wird fich der demokratische Theil derselben ganz
naturgemäß als eigentliche Linke constituiren; diese Fraction wird dann einen nütz¬
lichen Sauerteig der Versammlung bilden. Dagegen die constitutionellen Be¬
standtheile der Fortschrittspartei werden sich einer eigentlichen ministeriellen Fraction
gewiß nicht leicht anschließen können; besteht aber ein vollständig unabhängiges
linkes Centrum, so wird sich ohne Schwierigkeit die Brücke finden, welche den
Uebergang zu dieser Fraction vermittelt.
Dies scheint der naturgemäße Gang der Dinge, und die constitutionelle Partei
würde alle Ursache haben, mit demselben zufrieden zu sein. Denn sie würde auf
diese Weise die absolute Majorität in der Versammlung erlangen, und die Schei¬
dung in zwei verwandte und befreundete Fractionen würde ihr nicht zur Schwä¬
chung gereichen. Das Weitere muß dann von der Haltung des Ministeriums
abhängen; eine liberale Politik wird in dieser Kammer eine sichere Stütze finden,
— um so sicherer, je mehr fich Graf Bernstorff in der deutschen Politik der badi-
schen Auffassung annähert. Vorläufig haben wir jetzt einige Kenntniß erhalten
von der Art, wie unser auswärtiger Minister die deutsche Frage ansieht. Aus seiner
Antwort an Herrn von Reuse ist zunächst der negative, der kritische Theil von keinem
großen Interesse. Denn daß da« Beust'sche Resormproject unannehmbar und todtge-
boren war, wußte Jedermann von vornherein. So lange man von dem ganzen
Komplex des gegenwärtigen Bundesgebiets spricht, kann die Aufgabe immer nur darin
bestehen, daß der völkerrechtliche Charakter des Bundes in seiner Reinheit wiederhergestellt
und die Kompetenz des Bundes, auf die inneren Angelegenheiten der einzelnen
Bundesstaaten einzuwirken, möglichst beschränkt werde. Erst nachdem man sich klar
gemacht, daß Oestreich nur dies weitere Bundcsverhältniß erträgt und in den enge-
ren Bund gar nicht mit hineingezogen werden kann, ohne auf seine eigenste Natur
zu verzichten; — erst dann beginnt die Möglichkeit, an eine Bundesreform zu den¬
ken. Wichtiger und interessanter ist die Frage, wie diese Bundesreform beschaffen
sein, und wie sie durchgeführt werden soll. Graf Bernstorff will einen Bundesstaat
innerhalb des Staatenbundes gründen, und will dies auf dem Wege freier Verein¬
barungen erreichen, für welche Artikel 1t der Bundesacte eine Handhabe gewährt;
für den so zu begründenden engeren Verband soll das militärische Obercommando so
wie die diplomatische Vertretung in Einer Hand vereinigt werden. Mit Vergnügen
wird man hieraus ersehen, daß Graf Bernstorff von dem Dualismus, auf welchen
Herr von Schleinitz sich in der Frage des Oberbefehls über die Bundesarmee bereits
zurückgezogen hatte, wieder abgegangen ist. Im Allgemeinen stimmen die positiven
Vorschläge des Grafen Bernstorff ziemlich genau mit dem Unionsproject überein.
dessen Durchführung Herr von Radowitz im Jahre 1850 vergeblich versuchte. Gras
Bernstorff hat damals die vollkommenste Gelegenheit gehabt, sich die Ursachen des
Scheiterns klar zu machen. Er wird deshalb hoffentlich nicht in die alten Fehler
zurückfallen.
Ein Fortschritt in der deutschen Reformpolitik ist nur möglich in Ver¬
bindung mit einer liberalen innern Politik. Das gilt heute fo gut wie 1850.
Damals schlossen sich die Mittclstaaten an die preußische Unionspolitik an, weil sie
der preußischen Hilfe bedurften ; als sie wieder glaubten auf eigenen Füßen stehen
zu können, da hatte der Mohr seine Dienste gethan. Durch die Bevölkerungen aber
wurden die Regierungen der Mittelstaaten nicht bei dem Bündniß mit Preußen fest¬
gehalten; denn Herr von Manteuffel hatte keine Attractionskraft. Ohne die Sym¬
pathie der Bevölkerungen wird Graf Bernstorff jetzt nicht einmal so weit kommen,
wie 1850 Herr v. Radowitz. Denn die Regierungen der Mittclstaaten werden frei¬
willig sich nie zur preußischen Hegemonie bekennen. Bei der völligen Ohnmacht des
Bundes gelten die Kleinen nicht viel weniger als die Großen, weil sie alle zusammen
nicht viel gelten. Bei einer festen einheitlichen Centralgewalt müßten die Kleinen
sich dem Einen Großen unterordnen. Da hierzu die Regierungen der Mittelstaaten
nie die Hand reichen werden und doch der Wog der freien Vereinbarung nicht ver¬
lassen werden soll, so müssen wir, falls nicht durch außerordentliche Ereignisse die
Krisis beschleunigt wird, warten, bis die Volksvertretungen der Mittclstaaten einen
genügenden Druck ausüben. Das aber werden sie nicht thun, so lange nicht eine
liberale Strömung mit größerer Entschiedenheit in Preußen die Oberhand gewinnt.
Also: eine durchgreifende Reform des Herrnhauses wäre nicht allein der größte Fort¬
schritt, den Preußen jetzt in seiner innern Entwicklung machen kann; sie würde zu
.^.,
In Hamburg ist unter dem Namen „Flotten.Verein der Hamburgischen Ju¬
gend" ein Verein zusammengetreten, der folgende Organisation hat:
.-,
dz. 1. Der Flotten-Verein ist begründet in der patriotischen Ueberzeugung seiner
Mitglieder, daß die Ehre, die Macht und die allseitigen Interessen des deut¬
schen Vaterlandes den Beistand einer nationalen Flotte gebieterisch er¬
heischen.'''-'
.'.'
§. 2. Zweck des Vereins ist die Förderung der Sammlungen für die deutsche
Flotte unter Preußens Führung. Der Verein verfolgt diesen Zweck
ez. 3. Mitglied ist Jeder, der sich zu einem dauernden Beitrage verpflichtet. Die
Mitglieder übernehmen ferner die Verpflichtung, für Ausbreitung des Vereins
zu wirken und den Zweck desselben nach Kräften zu fördern.
§. 4. Die Angelegenheiten des Vereins leitet ein Comite, das denselben auch nach
Außen vertritt. — Zusammensetzung, Wahl und Amtsdauer des Comits's,
Rechnungslage u. s. w. bleiben einer spätern Versammlung der Vereinsmit¬
glieder vorbehalten. Bis dahin übernehmen die Unterzeichneten die Verwaltung
als proviforisches Conn«.
Wenn man den bisherigen Gang des amerikanischen Bürgerkriegs ober¬
flächlich ins Auge fühl, sollte man meinen, daß der Friede nicht fern sein
könne, und in der That sind schon wiederholt Gerüchte aufgetaucht, nach de¬
nen sich die Führer des Nordens von der Hoffnungslosigkeit ihrer Sache über-
zeugt haben sollten, während andere, etwas weniger zuversichtliche, wissen woll¬
ten, der Süden beginne Angesichts der Noth, welche die Blockade hervorge¬
rufen, und der gewaltigen Anstalten, welche die Centralregieruug am Missis¬
sippi wie am Potomac zum Einbruch in sein Gebiet trifft, einzusehen, daß
von Widerstand auf die Dauer nicht die Rede sein könne.
Keines von diesen beiden Gerüchten hat irgendwelche Begründung in den
Thatsachen. Weder der Norden noch der Süden denkt in diesem Augenblick
daran, nachzugeben. Der Norden hofft durch einen großen Sieg am Poto¬
mac. durch Einrücken in Tennessee, durch eine gepanzerte Flotte von Mississippi-
Dampfern, durch ein halb Dutzend Landungen in Südcarolina, Georgia und
Florida und vor Allem durch die Blockade aller südlichen Häfen mit ihrem
Gefolge von Theenoth, Kaffeenoth und Noth an allen Luxusgegenständen über¬
haupt den Willen des Südens zu brechen und ihm die Union von Neuem
aufzunöthigen. Wir behaupten, nach der Gestalt, welche die Dinge ^jetzt an¬
genommen haben, daß er sich in dieser Erwartung täuscht, daß es, wenn
überhaupt, sicher erst nach mehr als einem für ihn durchaus glücklichen Feld¬
zug gelingen wird, die Revolution niederzuwerfen, und daß es bei dem
tiefen Haß, den sie erzeugt, und der Ausdehnung des Landes, das sie ergriffen
hat, niemals gelingen wird, sie niederzuhalten.
Wir bitten, uns nicht mißzuverstehen. Wir rechtfertigen die Art, auf
welche die Secession bewirkt wurde, so wenig wie früher. So wenig wie
früher mißbilligen wir. daß Präsident Lincoln die Herausforderung der In¬
surgenten annahm und seine Autorität zu wahren suchte. Und so stark wie
früher verdammen und verabscheuen wir das schmachvolle Institut der Skla¬
verei, auf welche die südliche Conföderation basirt ist. Wohl aber haben wir
aus der Entwickelung, welche die Dinge genommen haben, und aus den De-
dans, die dabei zu Tage gekommen sind. Dreierlei gelernt: 1) nämlich, daß der
Volkswille sich in den Südstaaten in demselben Grade für die Trennung er¬
klärt hat, wie in Italien für die Vereinigung*); 2) daß die Südländer, wo nickt
nach Sprache und Abstammung, doch unzweifelhaft nach ihrer Denkart, ihren
Sitten und vor Allem nach ihren Interessen eine von den Nordländern ebenso
verschiedene Nation sind, wie etwa die Deutschen von den Oestreichern; 3)
daß der Norden die Sympathien, die wir ihm als einem Feinde der Sklaverei
zuwendeten, nicht verdient.
Wir begreifen nicht, daß es der Billigkeit, daß es dem republikanischen
Princip, daß es den Interessen auch nur eines der beiden Theile gemäß ist.
wenn man einem großen Lande oder einer großen Abtheilung eines Landes
eine Regierung aufzwingen will, welche der ungeheuren Mehrzahl von dessen
Bewohnern von Grund aus zuwider ist. Wir sehen nicht ein, daß es abso¬
lut nothwendig und nützlich ist. ein Volk, welches einerseits als vorwiegend
ackerbauendes auf Freihandel angewiesen ist, andrerseits der aristokratischen
Staatsverfassung zustrebt, mit einem Volke zusammengeschweißt zu halten,
welches den Schutzzoll vorzieht und durchaus demokratisch empfindet. Die
Anhänger der Union machen einen großen Unterschied zwischen dieser und al¬
len frühern Revolutionen, indem sie behaupten, die Regierung der Conföde-
rirten werde, wenn sie endgültig festgestellt sei, auf die Sklaverei gegründet
sein. Dies, so versichern sie. rechtfertige einen Widerstand gegen die Pläne
der Aufständischen, de-r selbst vor deren Untergang und Ausrottung nicht zurück¬
schrecke. Nun geben wir zu, daß dies ein sehr hörbarer Grund für eine Na¬
tion sein würde, welche die Sklaverei überhaupt nicht anerkennte; wenn er
aber von Leuten vorgebracht wird, die für eine die Sklaverei als zu Recht
bestehend erklärende Verfassung und für eine Regierung kämpfen, welche noch
keinen Finger zur Abänderung der Verfassung in diesem Punkt gerührt hat,
so nimmt er sich, wo nicht wie Heuchelei, doch sicher sehr unlogisch aus.
Aber, sagen die Gegner der Sklaverei, zunächst zu England, dann zur
öffentlichen Meinung überhaupt, der Krieg wird die Sklaverei wegschaffen,
darum tretet auf unsre Seite. Wir entgegnen: Das ist abermals unlogisch;
es sollte vielmehr heißen: darum sorgt, daß der Krieg fortdauert, was wiede¬
rum die Bedeutung hat: deshalb tretet auf die Seite der schwächeren Par¬
tei, denn sicher ist. je länger diese schwächere Partei sich zu halten vermag,
desto mehr reift die Hoffnung zur Gewißheit, daß die Sklaverei durch den
Kampf aufgehoben werden wird. Aber ob die Aufhebung derselben durch
den Norden erfolgen wird, dessen Heere und Schiffe nur den Saum des Ge-
biets der Sklavenhalter in ihre Gewalt bringen konnten, und der deshalb
wenig Macht hat. selbst wenn er den guten Willen besäße, oder von den
Pflanzern selbst, die entschieden die Macht dazu haben und vielleicht bald be¬
greifen, daß darin allein ihr Heil und ihre Rettung liegt, ist schwer zu sagen.
Wir lesen in einer Korrespondenz des „Economist", daß ein virginischer
Pflanzer bereits allen seinen Negern Freischeine und zugleich einen Contract
zugestellt, in dem ihnen ein mäßiger Lohn zugesagt war, falls sie bei ihm
blieben, und daß nicht einer ihn verlassen habe. Die Schwarzen thun ihre
Arbeit nach wie vor, und statt daß die Plantage gleich den meisten benach¬
barten dem Ruin entgegengeht, befindet sich der Besitzer derselben kaum viel
übler als vor dem Kriege.
Der Schreiber jenes Briefes, ni beiden Lagern zu Hause, hörte vom Sü¬
den sowohl wie vom Norden den festen Entschluß aussprechen, eher werde
man sich zur Emancipation der Sklaven entschließen, als zur Nachgiebigkeit,
aber er hegt starke Zweifel, ob der Norden dies vermögen werde. „Der Sü¬
den", so fährt er fort. ..könnte durch das scheinbar ungeheure pecuniäre Opfer
von der Maßregel abgeschreckt werden. Aber man muß sich erinnern, daß
diese Art Eigenthum bereits auf ein Drittel ihres frühern Werthes reducirt
ist. Ohne freie Baumwollenaussuhr ist der Werth der Sklavenarbeit vergleichs¬
weise unbedeutend, und das Opfer würde zwar groß, aber lange nicht so un¬
ermeßlich sein, als man vermuthen mag. Leute, welche ihre Baumwollen¬
ernte verbrennen, um zu verhüten, daß sie den Gegnern in die Hände falle,
könnten auf Grund des weit stärken, Motivs persönlicher Sicherheit für sich
und ihre Familien und im Hinblick darauf, daß die Maßregel unbedingt
nothwendig sein wird zur Erhaltung ihrer Unabhängigkeit, sich recht wohl
entschließen, ihren Sklaven die Freiheit zu geben. Was den Gegenstand des
Streites betrifft, über den soviel gesagt worden ist, so glaube ich ihn mit
ein paar kurzen Worten definiren zu können. Die eine Seite kämpft für na¬
tionale Unabhängigkeit, die andere für Aufrechthaltung der Verfassung und
Regierung." —
„Sympathien zu verlangen aus Grund der Behauptung, daß der Krieg
gegen die Sklaverei geführt werde, ist einfach Heuchelei, so lange die Central-
regierung und die große Mehrheit derer, die sie stützen, sich an die alte Ver¬
fassung halten, welche für die Sklaverei genau so starke Bürgschaften ent¬
hält, als die neueste Konstitution der Conföderirten, während die Aussichten
auf Entkommen der Neger unter der letztern viel größer sein würden, da die
erstere die Auslieferung der Flüchtlinge befiehlt, unter jener aber der Sklave,
der die Grenze hinter sich hätte, sofort ein freier Mann sein würde. Nein
— dieser Krieg ist nicht im Interesse der Schwarzen des Südens, sondern
in dem der Weißen im Norden unternommen, deren Nationalstolz ihnen nicht
erlaubt, in die Hnlbirnng ihres mächtig gedehnten Gebietes zu willigen, und
welche befürchten, daß, indem an ihren Grenzen eine mächtige, ihnen feind¬
lich gesinnte Nation entsteht, indem als Folge dessen die Nothwendigkeit eines
großen stehenden Heeres sich herausstellt, und der Handel mit dem Süden ge¬
mindert wird, ihre Interessen leiden werden. Es ist durchaus natürlich, daß
sie gegen solche Eventualitäten kämpfen, es liegt in der menschlichen Natur,
daß man für das streitet, was man für sein Interesse ansieht; aber ich pro-
testire gegen die Heuchelei, welche Englands Wohlwollen auf den falschen
Grund hin beansprucht, daß der Krieg im Interesse der Sklaven unternommen
worden. Und diese Meinung würde nicht im Mindesten geändert werden,
wenn das Ergebniß des Krieges die Emancipation der Neger wäre. Findet
sie statt, so ist sie ein Ereigniß, welches vom Süden wie vom Norden von An¬
fang an ebensowenig beabsichtigt worden ist, als die Entwickelung der süd.
lichen Fabrikthätigkeit oder die Verschüttung der Einfahrten zu den südlichen
Häfen."
Wir glauben, daß diese Ansicht im Wesentlichen das Rechte trifft. Es
ist nicht die entfernteste Möglichkeit, daß eine der beiden Parteien nachgeben
wird, bevor der Winterfeldzug vorüber ist. Schwer zu sagen mag sein, unter
welchen Bedingungen der Süden sich unterwerfen würde, leicht zu sagen
ist, unter welchen er sich nicht unterwerfen wird. Er wird sich nicht unter¬
werfen, so lange er noch ebensoviel Leute im Felde hat, als sein Gegner,
so lange er geschicktere Generale, so lange er mehr Siege als Niederlagen
aufzuweisen, so lange er kaum ein paar Fuß breit Landes verloren und in
Virginien die stärksten Positionen inne hat. Alles dies muß sich in sein Gegen¬
theil verwandeln, bevor an Nachgiebigkeit in Richmond gedacht werden kann,
und erlitte der Süden in den nächsten Monaten drei Niederlagen, so hätte er
höchstens das Capital verloren, welches er durch die Siege bei Bull Rum, bei
Springfield und bei Lexington gewonnen, und der Tag bei Balls Bluff bliebe
dem Norden-noch immer wett zu machen.
Und setzen wir den Fall, der in Betreff Kentuckys und Tennessees aller¬
dings wahrscheinlich ist, daß die conföderirten Armeen aus den Grenzstaaten
hinausgedrängt werden, wird man' sich dann verloren geben müssen? Wir
glauben nicht, sondern im Gegentheil, dann würden die größten Schwierig¬
keiten sür die Generale des Nordens erst beginnen.
Wenn die Straßen in Virginien und Missouri schlecht sind, so sind sie
in Nord- und Südcarolina, in Georgia und Arkansas noch viel schlechter, und
die Wälder und Sümpfe dieser Regionen, die Creeks und Bayous, die über¬
schwemmten Strecken an den Meeresküsten und am Mississippi sind weder den
Evolutionen von Artillerie und Reiterei noch der Gesundheit der Truppen
günstig. Und dann die Versorgung mit Lebensmitteln. In Tennessee und
Virginien, welche nur wenig Baumwolle bauen, würde- man Mais und
Schweinefleisch haben können,, aber in keinem der Baumwollenstaaten, Die
Neger würden bei dem Vorrücken der nördlichen Armeen fortgeschafft, alle
Vorräthe entweder ebenfalls weggebracht oder zerstört werden. Man winde
Verbindungen offen halten müssen über fünfzig, sechzig, hundert deutsche Mei¬
len feindlichen Landes, und man hätte alle Zufuhren für ein großes Heer
von den freien Staaten zu beziehen. Es ist möglich, daß alle diese Schwierig¬
keiten überwunden werden, aber es ist wahrscheinlicher, daß von einer Expe¬
dition in das Herz der Baumwollenstaaten Wenige zurückkehren würden, es
sei denn als Kriegsgefangne.
Der Norden kann gegen diesen mißlichen Stand der Dinge nicht völlig
verblendet sein. So lange er auf Grund der Annahme handelte, daß die
Revolution schwach und unpopulär im Süden sei und sich leicht erdrücken
lassen werde, schien es nickt undenkbar, daß man. aufgeweckt aus diesem
Traum, plötzlich zu entgegengesetzten Vorstellungen umspringen, die Aufgabe
für unausführbar ansehen und sich zur Einwilligung in die Trennung bereit
zeigen werde. Aber jetzt herrscht nach allen Berichten eine völlig andere Mei¬
nung in Betreff der Schwierigkeiten, denen man zu begegnen hat. Man hat
vier Treffen verloren. Der alte Winsield Scott hat den Erwartungen, die
man auf Grund seiner Siege in Mexiko von ihm hegte, nicht entsprochen.
Der beliebte Feldherr im Westen, Lyon, ist geschlagen worden und gefallen.
Der Oberbefehlshaber im westlichen Departement, Fremont, auf dem nament¬
lich die Hoffnung des jüngern Geschlechts ruhte, hat mehre große Mißgriffe
gemacht und ist abberufen worden. Man hat von dem Festland der auf¬
ständischen Staaten bis jetzt höchstens ein paar Quadrntmeilen in die Gewalt
der Centralregierung zurückgebracht. In der That, es ist jedenfalls einem
großen Theil, wo nicht der Mehrheit aller Urtheilsfähigen im Norden zum
Bewußtsein gekommen, daß der Krieg jahrelang währen wird.
Und doch was finden wir? Schrecken sie entsetzt zurück vor dieser Aus¬
sicht? Wir müssen nach Allem, was wir wissen, mit Nein antworten. Aller¬
dings sind die Meinungen in den untern Schichten der Gesellschaft getheilt.
Von den Handwerkern und kleinen Kaufleuten, den Krämern. Kellnern. Schenk¬
wirthen. Tagelöhnern und Bummlern, welche die große Mehrheit der städti¬
schen Bevölkerung ausmachen, sind natürlich viele von der kriegerischen Be¬
geisterung des Tages ergriffen und halten es für Pflicht, sich für die Ehre
der „Sterne und Streifen", für die „glorreiche Union" und ähnliche Stich¬
wörter bis aufs Messer zu schlagen, ohne eine klare Idee von dem zu besitzen,
was sich hinter diesen Stichwörtern birgt, und wofür sie eigentlich kämpfen.
Aus diesen Leuten wie aus der Klasse der Arbeitslosen ist die Armee zu¬
sammengesetzt. Aber ein anderer nicht kleinerer, ja vielleicht größerer Theil
dieser Bevölkerungsschicht kümmert sich entweder sehr wenig Orl den Krieg,
oder neigt heimlich zum Süden, oder haßt wenigstens die „Niggers", die er
im Hintergrund dieses Streites wie alles andern Zankes im Lande stehen
sieht, und ist entschlossen, sich nur durch Zwang zum Soldaten machen zu
lassen. So kommt es, daß bis vor Kurzem der gesammte Norden nicht halb
so viele Kämpfer ins Feld gestellt hatte, als der einzige Staat Neuyork nach
seinen Censustabellen liefern kann, und daß die Cvnföderirtcn Staaten, ob¬
wohl ihre Bevölkemng sich zu der des in Betracht kommenden Theils des
Nordens wie i zu 3 verhält, bisher mehr Soldaten auf den Beinen hatten,
als dieser. Indeß hat diese dem Kriege abgeneigte Klasse in den Gemeinden
sehr wenig Gewicht und Einfluß und ist eigentlich nur an der Wahlurne von
Bedeutung, wo man sie zusammentreibt, um das „Tickel" zu stützen, welches
die Führer ihrer Partei aufgesetzt haben. So lange die Führer beider Par¬
teien (Demokraten und Republikaner) für den Krieg sind und der unkriege¬
rische Theil der niedern Klasse Beschäftigung und Lohn findet, wird der letz-
tere nicht daran denken laut zu murren. Wollten die Parteihäuprer der De¬
mokraten oder die der Republikaner eine Friedenspartei bilden, so würden sie,
wenn ihre Organisation nur einigen Halt gewonnen hätte, aus diesen Kreisen
sicher reichlichen Zulauf haben. Aber von einer solchen Absicht zeigt sich auch
nicht die geringste Spur.
„Nicht einer von den eingebornen Amerikanern von Bermögen oder In¬
telligenz, mit denen ich sprach" — so schreibt der vorhin citirte Korrespondent
des „Economist" — „schreckte vor der Aussicht aus einen langwierigen Bürger¬
krieg zurück, ausgenommen die wenigen, deren gesellschaftliche oder geschäft¬
liche Verbindungen ausschließlich südliche find. Unter den fremden Kaufleuten
von Neuyork verhält sichs anders, aber deren Einfluß ist unendlich gering.'
hinsichtlich seiner Einwirkung auf die Politik der Nation im Großen und
Ganzen nur ein Tropfen im Ocean. Chefs von Bankhäusern, Großhändler,
Grundbesitzer, Sachwalter und Angehörige anderer gelehrter Berufszweige,
Schriftsteller, Zcitungsredacteure und Geistliche. Republikaner. Demokraten
und Abolitionisten. Alle, soweit ich Kenntniß zu nehmen im Stande war, sind
in einem Punkt einig, daß. was auch die Opfer der gegenwärtigen Generation
sein würden, die Union erhalten bleiben müsse. Sagt ihnen, daß dies den
Nationalbankerott zur Folge haben werde, daß Gras auf dem Broadway
wachsen, daß Heer auf Heer durch Hunger und Seuchen wo nicht durch das
Schwert vernichtet werden möge, bevor sieben Millionen Menschen so tapfer
als sie selbst von einer Race besiegt werden würden, die sie verabscheuen,
dennoch werdet ihr ihnen kein Zugeständniß abgewinnen. Selbst die, welche
Zugehen, daß die Schwierigkeiten sehr groß seien, sind entschlossen, sich an sie
zu machen."
Mit sehr wenigen Ausnahmen also hängt der Norden der Vereinigten Staa¬
ten mit ganzer Seele an der Union, und selbst die Perständigen und Um¬
sichtigen, welche von dem Kriege für die Erhaltung derselben wenig hoffen,
erklären laut, daß Alles angewandt werden müsse, die Vollendung des Bruchs
zu verhüten. Im Folgenden betrachten wir die Gründe, welche sie für ihr
zähes Widerstreben gegen das Ausscheiden des Südens und ihren Eifer in
Betreff des ihnen selbst zweifelhaft erscheinenden Unternehmens einer Wieder¬
herstellung des alten Bundesverhältnisses vorzubringen pflegen.
Um mit dem wichtigsten Punkt zu beginnen, kann kein Zweifel sein, daß
die Zerschneidung der großen amerikanischen Republik in zwei Theile derselben
in bedeutendem Grade ihr Jmponirendes nimmt. Ihre Macht wird dadurch
unstreitbar geschmälert, ihr Ansehen in der alten wie in der neuen Welt be¬
trächtlich erschüttert. Es ist hart, die Aussicht zu verlieren, die den Amerikanern
aus der Zukunft winkte, unerfreulich, statt einst über einen ganzen Kontinent
herrschen zu können, nur die Hoffnung auf Beherrschung der Hälfte zu behal¬
ten, unliebsam, von einer Nation von dreißig zu einer Nation von nur
zwanzig Millionen herabzusinken. Es ist ein schwerer Schlag, ein prächtiges
Gebiet zu verlieren, welches jetzt schon ungeheure Ausdehnung hat und noch
viel größerer Erweiterung nach Süden hin sähig ist. Aber dies ist nicht der
eigentliche, wenigstens nicht der Hauptgrund,'weshalb in den freien Staaten
das Gelingen der Secession für ein Unheil gehalten wird, sondern man fürchtet
das böse Beispiel, welches damit gegeben würde. Man meint, daß damit
der Anfatig gemacht sein würde zu allgemeinem Zerfall der Union in ihre
Glieder, daß die Lostrennung des Südens vom Norden einmal vollbracht —
wenigstens ohne furchtbaren, die Nachfolge anderer zurückschreckenden Zusammen¬
stoß vollbracht — bald die Scheidung zwischen Osten und Westen, zwischen
den Staaten am Atlantischen und denen am Stillen Meer zur Folge haben,
ja daß eine unaufhaltsam weitergehende Auslösung eintreten und endlich Nord¬
amerika statt eine einzige große Republik, die Jedermann bewunderte und
fürchtete, ein Dutzend oder mehr Staaten von mäßiger Größe darstellen werde, vor
denen Niemand besondern Respect zu haben brauchte. Mit einem Worte,
man ahnt den Charakter und das Schicksal der Republiken, die aus den
Kolonien Spaniens in der neuen Welt entstanden — eine Ahnung, mit
der sich die. denen sie vorschwebt, eben kein großes Compliment machen.
Nehmen wir an, daß im Laufe der Zeit, wenn die Interessen sich mehr und
nichr widersprechen und die Bevölkerung wächst, die Befürchtung der Föderalisten
sich in soweit bewahrheitet, daß das gegenwärtige Gebiet der Ver. Staaten
in etwa sechs Staaten zerfällt, so wird man behaupten können, daß selbst
dann jeder derselben noch genug Ausdehnung und Macht besitzen wird, genug
jedenfalls für die Wohlfahrt dieser Staaten selbst und gerade so viel, als sich
mit der Ruhe anderer verträgt. Gesetzt den Fall, daß die sechs Staaten
Neuenglands mit Neuyork, Neujerscy und Pennsylvanien, die einen District um¬
fassen, dessen Charakter und Interesse ziemlich homogen ist, zu einem Staate
zusammentreten, so würde dessen Areal folgendes sein:
Die nordöstliche Conföderation allein also würde fast anderthalb Mal so
groß als Großbritannien und Irland sein, welche zusammen 5,767 Quadrat'
zueilen haben.
Die neueren Staaten des Westens, deren Bewohner sich großentheils an
'Sitten und Gewohnheiten gleichen, indem sie alle mehr oder minder Hinter¬
wäldler und vorwiegend Getreidebauer sind, werden vermuthlich über kurz oder
lang eine eigne Republik bilden, die wahrlich groß genug sein würde, um
jeden irgend bescheidenen und maßvollen Ehrgeiz zufrieden zu stellen.
Die westliche Staatengruppe oder der westliche Bundesstaat würde mehr
als dreimal so groß als England, Schottland und Irland, fast doppelt so
groß als Frankreich, welches 9,665, und mehr als anderthalb mal so groß
als Deutschland sein, welches 11,461 Quadratmeilen hat.
Die sogenannten Grenzstaaten. in welchen die Sklaverei sich noch immer
hält, sich aber — da einer davon vor Kurzem ein freier Staat geworden ist
und in den andern neben der Sklavenarbeit schon lange freie Arbeit besteht
— auf die Dauer nicht halten kann, sind sieben an Zahl und könnten mög¬
licherweise zu einer Gruppe zusammentreten, die folgende Gestalt haben würde:
Diese Central-Consöderation würde größer als Frankreich und Großbri>
laurier mit Irland zusammen sein und mehr als dreimal so groß als das
Königreich Preußen, welches 5,103 Quadratmeilen hat.
Die Staate» und Territorien, welche am Stillen Meer liegen, sind so
fern von dem Rest der alten Union, durch die große Prairiewildniß und die
Felsengebirge von demselben so streng geschieden und durch ihre Interessen auf
so ganz andere Bestrebungen hingewiesen, daß ihre schließliche Unabhängig¬
keit nur eine Frage der Zeit sein kann. Sie würde» einen Bundesstaat von
folgender Ausdehnung bilden:
Der Bund am Stillen Meer, entstanden aus diesen drei Staaten, würde
so groß wie Deutschland und Frankreich zusammen und fast viermal so groß
als das Reich der Königin Victoria ohne die außereuropäischen Besitzun-
gen sein.
Die wenig bekannten, wenigstens nach ihren Hilfsquellen noch wenig
durchforschten Territorien zwischen Missouri und Kalifornien,
würden zu einem Bundesstaat vereinigt an Ausdehnung den vier größten
Monarchien Europas nach Rußland gleichkommen, eine Ausdehnung, fast
viermal so groß als Spanien und sechsmal so groß als Italien, die indeß
sehr viel unbewohnbares Gebirge und eine mehre tausend Quadratmeilen ein¬
nehmende Wüste einschließt.
Endlich haben wir noch die eigentlichen Sklavenstaaten zu betrachten,
welche jetzt die südliche Conföderation bilden und mit Ausnahme Virginiens.
das deshalb anderswo ausgeführt wurde, möglicherweise auf die Dauer zu¬
sammenbleiben werden. Dieselben sind folgende:
Die Sklavenhalter-Conföderation würde folglich einen Flächenraum von der
Größe Großbritanniens. Frankreichs, Spaniens, der Schweiz, Deutschlands.
Belgiens und Hollands umfassen und nicht weniger als sechsmal so groß als
Preußen sein.
Man sollte denken, daß diese Skizze Möglichkeiten einschlösse, glänzend ge¬
nug, um die gierigsten Wünsche nach Macht und Bedeutung in der Zukunft
und die ausschweifendste Einbildungskraft zu befriedigen, und wir glauben
nicht zu hart zu urtheilen, wenn wir einen Ehrgeiz, der sich nicht begnügen
mag, einem Staate anzugehören, der den größten in Europa (Rußland ausge¬
nommen, welches über kurz oder lang ebenfalls zerfallen muß) gleichkommt,
einen exorbitanten nennen: Warum müssen diese sechs Gruppen gerade ein
Ganzes bilden, weshalb von einem Mittelpunkt aus regiert werden, wozu alle
nach einem und demselben Capital hin gravitiren? Warum sollte der Konti¬
nent von Amerika durchaus in einen Staat, zu einer Nation zusammengefaßt
sein, während der nicht so große Kontinent Europas Lebensluft und Spiel¬
raum genug für die Entwickelung, das Gedeihen, die Sicherheit und Unab¬
hängigkeit von mehr als einem Dutzend verschiedenen Völkern, jedes mit
eigner Verfassung und eigner Art des Culturlebens hat? Warum, mit einem
Wort, sollte der Traum der Weltherrschaft, der unheilvollste aller Träume, seit
Langem verbannt von der einen Hemisphäre, sich in der andern verwirklichen
müssen? Gewiß, wenn die Union beisammen bliebe, würde sie binnen hundert
Jahren eine Macht sein, gewaltiger als je eine auf Erden war. Aber glaubt
man, daß die Beherrschung der Welt, die sie dann beanspruchen würde, weniger
drückend und weniger egoistisch sein müßte, weil ein Volk und nicht ein Ein¬
zelner es wäre, der sie ausübte?
Aber es gibt noch andere Befürchtungen in dem Gemüth der Ame¬
rikaner, welche vielleicht noch mehr als die angeführten aus ihnen lasten
und sie noch mächtiger zu dem Entschluß bestimmen, ihre Einwilligung zum
Ausscheiden des Südens selbst auf die Gefahr und die Kosten eines verzwei¬
felten und langwierigen Bürgerkriegs zu versagen.
'
Die Politiker des Nordens sage»: Wir suchen den Zerfall der Union
im Interesse der Humanität zu verhüten, und wir beweisen dies durch eine
kurze Hindeutung auf den geographischen Bau Amerikas und die sich in einan¬
der verästcnden Interessen von Süd und Nord, Seestaaten und Hinterwalds¬
staaten. Die geographischen Thatsachen, die verschiedenen Klimate, die lan¬
gen und oft ohne Rücksicht auf politische Möglichkeiten abgesteckten Grenzen,
die Flüsse, welche alle Sectionen des großen Körpers durchströmen, die Seen,
welche allen gleich nothwendig sind, und hundert ähnliche Dinge sind wie
dazu geschaffen, unaufhörliche Eisersucht, unablässige Fragen und Wirren und
schließlich blutige Kriege hervorzurufen. Die abweichenden Interessen: Frei¬
handel und Schutzzoll, aristokratische Neigungen und demokratische Vorurtheile,
freie Arbeit und Sklavenarbeit sind gerade die rechten, um die Massen auf¬
zuregen und militärische Promenaden in Vertilgungskriege zu verwandeln.
Wir können für die Union, wenn sie einmal in verschiedene Bruchtheile zer¬
spalten ist, keine andere Zukunft sehen, als das Schicksal der südamerikanischen
Republiken, verstärkt und verschlimmert durch die größere Kraft, Zähigkeit
und Rücksichtslosigkeit der angelsächsischen Natur, endlose Kriege gefolgt von
Friedensverträgen, die man nur zu schließen scheint, damit man sie verletzen
könne, Einbrüche in Nachbars Land mit keinem andern Ergebniß als Blut¬
vergießen, Nachezüge mit keinem andern Erfolg als größerer Erbitterung,
vollständige Lähmung des Handels und schließliches Verkommen und Verder¬
ben der Nation.
Wie kann der Süden, fragen andere Stimmen, uns jemals ein fried¬
licher Nachbar sein, wenn selbst lange vor dem offnen Bruch nördliche Bür-
ger im Süden nicht immer ihres Lebens sicher waren? Wir würden in we¬
niger als einem Jahr einen Zusammenstoß wegen Mißhandlung oder Beein¬
trächtigung dort reisender oder ansässig gewordener Nordländer haben. Wir
würden zu allen Zeiten eine starke Armee auf den Beinen halten müssen, um
gegen die Zumuthungen, Grenzverletzungen und Ungebührlichkeiten gegen
unsre Marine gesichert zu sein, die sich ein Volk erlauben würde, das so
ganz andere Anschauungen von den Dingen und Menschen hat, als wir.
Außerdem muß der Süden seine nationale Existenz nothwendig mit einer
Staatsschuld von wenigstens 300 Millionen Dollars beginnen. Er würde
eine Seeküste von 320 deutschen Meilen haben und nicht ein einziges Kriegs¬
schiff, höchstens ein paar hundert Schooner. Schaluppen und Ruderboote zu deren
Schutz besitzen. Wer würde alle Leuchtthürme an seinen Gestaden erhalten?
Wer würde verhüten können, daß er der ersten besten großen europäischen
Macht, die diese Region als „politische Nothwendigkeit", vielleicht in einem
Kriege mit uns zu besetzen wünschte, zur leichten Beute würde? Der Süden
muß endlich arm und roh bleiben; denn er hat sich vorgenommen, so wenig
als irgend möglich etwas Anderes zu treiben, als Ackerbau und alle seine
Bedürfnisse an Manufacturwaaren, von der Wiege bis zum Sarge, von aus¬
wärts zu beziehe». Nein, nein , der Norden weih vollkommen wohl, was
er vor hat, wenn er in diesen Krieg mit dem Entschluß geht, ihn. koste es
was es wolle, zum glücklichen Ende zu führen. —
Wir haben hier etwas vollkommen Klares, Deutliches und Verständliches
vor uns. Der Norden oder seine Wortführer und Sachwalter befürchten, daß
die Secession des Südens, einmal vollbracht und anerkannt, eine allgemeine
Auflösung zur Folge haben, daß der Bundesstnat mit seinen dreiunddreißig
Gliedern in eine Unzahl kleiner und schwacher Theilchen ohne irgend welchen
Zusammenhang, irgend welche Staatsklugheit, irgend welche Widerstandskraft
gegen das Ausland und voll gegenseitiger Feindseligkeit zerfahren, daß er in
dieser Zerfahrenheit ein ebenso klägliches und unwürdiges Schauspiel darbieten
werde als die spanischen Republiken, ja daß man diese noch in der Ausdeh¬
nung seiner Thorheiten und der Stärke und Zähigkeit seines Hasses überbieten
werde.
Es ist bereits bemerkt, daß die Amerikaner sich mit solchen Schreckge-
spinnsten kein großes Compliment machen. Es muß aber auch gesagt wer¬
den, daß wir diese Phantasien nicht für naturgemäß, sondern für Hallucina¬
tionen eines kranken Schlußvermögens halten. Denn was wird damit be¬
hauptet? Daß ein Volk, seit fast einem Jahrhundert zur Selbstregierung
erzogen und von seinen Großvätern her Erbe der geprüftesten und erfolgreich¬
sten Pläne, der stärksten Bollwerke verfassungsmäßiger Freiheit, ein Volk,
welches sich der gesammten Welt stets als Muster politischer Weisheit. Vor¬
sicht und Energie hingestellt hat, und welches von vielen als ein solches an¬
gesehen wurde, das allein oder doch erfolgreicher als alle andern das
schwierige Problem, die Freiheit mit der Ordnung zu versöhnen, gelöst habe,
daß, sagen wir, ein solches Wundervolk derjenigen intellectuellen und mora¬
lischen Eigenschaften, welche die Menschen befähigen, sich zu beherrschen und
zu leiten, so vollkommen banr und ledig ist, daß es unter dem Einfluß der
ersten ernsten Schwierigkeit, der es begegnet, ganz ebenso, ja noch mehr
strauchelt und zusammenbricht, als Racen. welche plötzlich das Joch des er¬
bärmlichsten, herumergekommensten und bigottesten Despotismus der modernen
Zeit abschüttelten. Daß die Landsleute Washingtons, die Zöglinge Frank-
lin's, die Abkömmlinge der strammen, nüchternen, ehrenfester Puritaner sich
nicht besser zu betragen, nicht besser zu wirthschaften verstehen, als klägliche
Spanier, weichliche Kreolen und mexikanisches aus Neger- und Indianerblut
zusammengeflossenes Gesindel. Daß mit einem Wort all' die vielgepriesene
Ueberlegenheit und Erhabenheit des „freien und erleuchteten Bürgers" der
neuen Welt ein lügenhaftes Schaugericht gewesen ist, und da» besagter freier
und erleuchteter Bürger seine wunderbare» Fortschritte zu Glück und Größe
nicht sich, sondern lediglich den günstigen äußern Conjuncturen dankt, unter
denen er seinen Gang antrat und bis jetzt fortsetzte.
Ein bitterer Hohn. oder, wie w>r als billig Urlbeilende annehmen, eine
bärrere Verleumdung ist selten ausgesprochen.
Die, welche eine ins Unendliche gehende Spaltung zwischen den
Unionsstaaten als natürliche Folge der Spaltung erwarten, welche jetzt statt¬
gefunden hat, sehen letzteres Ereigmß durchaus in einem falschen Lichte.
Dieselben Gründe, welche zur Trennung zwischen Nord und Süd geführt
haben, werden logisch zum Zusammfchlnß der östlichen, nordwestlichen und
der andern oben betrachteten Staatengruppen führen. Dieselben Argumente,
welche dafür vorgebracht werden. daß der Uankeestaat Massachusetts und der
Cavalierstaat Südcarolina nicht wohl unter einen Hut »zu bringen sind, unter
verschiedenen Regierungen stehen, mit verschiedenen Nachbarn verbunden sei»
müssen, beweisen auch, daß Mickigan und Ohio. Indiana und die übriger;
Nordweststaaten mit einem Congreß, einem Capital, einem Präsidenten zu¬
frieden sein können. Es bedarf keiner laugen Ueberlegung, um dies klar zu
machen.
Wenn dre politischen Einrichtungen eines Landes, gleichviel ob verfassungs¬
mäßige Monarchie oder Republik, in Wirklichkeit constitutionell und frei
sind, so existiren sie auf Grund der Einwilligung und als Ausdruck der Be¬
dürfnisse und Wünsche des Volkes. Der oberste Lenker ist dies, weil er das
erwählte oder ererbte Haupt der ganzen Nation ist. Der Landtag, das Par¬
lament, der Congreß existin und findet Gehorsam, weil dessen Mitglieder die
Bürger des Staats vertreten, deren Willen verkörpern und deren Interessen
vertheidigen und fördern. In dem Augenblick, wo die Meinungen und das
Wohl einer große» Minorität der Bürger mit denen der Majorität in Wider¬
spruch gerathen, hört der Präsident und der Congreß aus, den Willen und
die Ansichten des ganzen Volkes zu vertreten, er ist dann nur Repräsentant
der Mehrheit desselben, und dies hat namentlich dann Bedeutung, wenn die
Meinungen nach bestimmte» Oertlichkeiten geschieden und die Ursachen des
Widerstreits der Ansichten und Tendenzen bleibende sind, bei einer Parteibil¬
dung also von localer. also nationaler und aus dein Zwang der Umstände
hervorgehender Natur.
Nehmen wir den Fall des Nordens und Südens der Union in Betreff
der Wahl Lincolns. Der gesummte Süden stimmte gegen ihn. und so könnte
Niemand behaupte», er se, vom Süden gewählt, vertrete dessen Interessen,
spreche dessen Willen aus. Die Entschiedenheit, die Localisirung und die Aus¬
dehnung der sich einander widerstreitenden Willen war solcher Art, daß seine
Erwählung — vorzüglich, va ihr die Erwählung eines ebenso günstig für den
Norden gestimmten Kongresses gefolgt sein würde — zu einer ganz andern
Niederlage, beziehentlich zu einem ganz andern Sieg wurde, als wenn früher
nicht loculisirte Parteien mit einander ihre Kräfte gemessen hatten. Die
Präsidentenwahl von 1860 drang der wo nicht auf den Süden beschränkten,
doch mit wenigen Ausnahmen den ganzen Süden umfassenden Minorität
einen Führer auf, den sie als ihren Gegner, als die Verkörperung des Prin¬
cips ansah, gegen das sie gestritten. Unter diesen Verhältnissen konnten sie
nicht mehr die Empfindung haben, daß sie von einer Behörde ihrer eignen
Wahl regiert würden, und doch ist diese Empfindung das innerste Wesen po¬
litischer Freiheit. Und da es sechs bis sieben Millionen Menschen waren, ge¬
wöhnt an den Gedanken, von einem obersten Magistrat eigner Wahl regiert
werden zu müssen, so mißfiel es ihnen natürlich, daß ein solcher oberster Ma¬
gistrat für sie gewählt und ihnen aufgedrungen wurde. Der Süden wurde
durch seine fast einmüthige Opposition gegen die Wahl von 1860 zur be-'
sondern Nation oder gab durch seine Abstimmung zum ersten Mal kund, daß
er von einem andern Volk bewohnt sei, als der Norden.
Es liegt auf der Hand, daß eine vollkommen freie und constitutionelle
Regierung, d. h. eine Regierung, die den Willen des Volks verkörpert, nur
in einer Natron existiren kann, welche in der Hauptsache homogen und von
gleichen Interessen ist. Besteht ein Reich aus mehren Nationen, aus Theilen
oder Gliedern, die wesentlich verschieden, in ihrer Culturstufe abweichend, in
ihren Interessen sich entgegengesetzt sind (Beispiel in Europa der östreichische
und der dänische Gesammtstaat, in gewissem Maß auch der deutsche Bund,
wie ihn Herr v. Beust „reformirt" haben will), so können diese Theile
oder Glieder wohl durch Despotismus zusammengehalten werden, niemals
aber oder doch nur dann, wenn die abweichende Minorität nur einen sehr klei¬
nen Theil des Ganzen ausmacht (Beispiel in Europa etwa das polnische Ele¬
ment in Preußen) in einer constitutionellen Monarchie oder gar in einer Re¬
publik. Der Norden und der Süden konnten deshalb nicht auf die Dauer
verbunden werden, und sie werden, sich nie wieder unter eine Regierung brin¬
gen lassen.
Aber diese Schlußfolgerung läßt sich nicht zu dem Beweis gebrauchen,
daß die Aankee- oder Neuengland-Staaten nicht mit Neuyork und Pennsyl-
vanien in einem Verband bleiben, oder daß die Hinterwäldlerstaaten des Nord-
westens nicht fortfahren könnten, einen Mittelpunkt in politischen Dingen zu
haben. Denn in allen wichtigen Dingen wird derselbe Präsident und das¬
selbe Congreßmitglied. welches die Bewohner Ohivs vertritt, auch ebenso gut
den Willen und die Interessen der Bürger Iowas, Wisconsins, Jndianas
und Michigans vertreten, und derselbe Mann, welcher der demokratischen oder
republikanischen Partei in Massachusetts willkommen ist, wird auch den De-
mokraten oder Republikanern von Connecticut. Neuyork oder Pennsylvanien
willkommen sein.
Die Trennung daher, welche durch die Beziehungen zwischen Nord und Süd
geboten ist, wird durch die Beziehungen der verschiedenen östlichen Staaten
zueinander und ebenso durch die zwischen den nordwestlichen v erd oder. Die
Voraussetzung, daß diese Gruppen sich weiter spalten werden, wo doch keiner¬
lei reale Unterschiede, keine Lebensfragen existiren, die sie zum Auscinander-
fall nöthigen, ist gleichbedeutend mit dem Vorwurf, daß sie Jsolirung der
Vereinigung, Schwäche der Stärke vorziehen werden und zwar lediglich aus
Eigensinn, Leidenschaftlichkeit und Verblendung gegen die einfachsten Schlüsse
des gesunden Menschenverstandes.
Was man auch gegen die Amerikaner sagen mag — und man kann
mit Recht Vielerlei an ihnen aussetzen, Vielerlei ihnen wünschen — einen so
vollständigen Mangel an Einsicht und Verständniß für ihren Vortheil dürfen
wir bei ihnen nicht vermuthen. „Aber", so entgegnet man uns, „trennen
sie sich auch nur in die angegebnen vier oder sechs Staatengruppen oder
Bundesstaaten, so werden diese sich doch sofort befehden. Verschiedene unab¬
hängige Republiken können nicht nebeneinander existiren, ohne daß sich un¬
ablässige Reibungen ergeben und ohne daß der Streit zu unaufhörlichen Ge¬
waltstreichen, endlosen Kriegen führt." Wäre das wirklich so. dann könnten
wir nur die traurige Ueberzeugung aussprechen, daß Arete Sam, unser freier
und erleuchteter Republikaner der neuen Welt, ein sehr unfreier und uner¬
leuchteter Republikaner und daß er in der Entwickelung seiner Fähigkeiten, in
der Herausbildung der Selbstbeherrschung, des Gerechtigkeitssinns und andrer
Eigenschaften politisch gereifter Völker beträchtlich hinter seinen in der Finsterniß
der Sklaverei dahin vegetirenden europäischen Zeitgenossen zurückgeblieben sei.
In der alten Welt leben, wie bereits bemerkt, mehr als em Dutzend
verschiedene Nationen mit zum Theil sehr wenig bequemen Grenzen nach¬
barlich nebeneinander und wissen es so einzurichten, daß die Streitigkeiten,
die sich unter diesen Umständen gelegentlich erheben, auf diplomatischem Wege
ausgeglichen werden. Nur selten im Verhältniß >zur Menge dieser streitigen
Fragen kam es in den letzten fünfzig Jahren zu Friedensbrüchen und länger
dauernden Kriegen. Wahrscheinlich haben die Amerikaner diese Lection gegen¬
seitiger Rücksichtnahme erst noch zu lernen, und vielleicht finden sie die Auf¬
gabe ein wenig neu, schwierig und langweilig. Aber sie werden sie mit der
Zeit schon lernen. Bisher ohne Nachbarn als solche, die sich gefallen lassen
mußten, was den Herren des Kontinents beliebte, haben sie recht vergnüglich
und- in aller Ungestörtheit den Helden und bisweilen den Bramarbas spielen
dürfen. Jetzt werden sie Nachbarn von ihrem eignen Kaliber haben, und
daraus wird zu ihrem eignen Besten sich ein Capital politischer Weisheit und
Aus der stärkern Nachbarschaft und den Wechselbeziehungen mit derselben
wird jede Staatengruppe sich zu höherer Gesittung erheben. Amerika wird
an politischer Moralität gewinne», was es an politischer Macht verliert.
Der Norden wird oder kann wenigstens werden, was das Ganze bisher nur
sür den Phantasten, nicht für das nüchterne Auge war, das Muster eines
wohlgeordneten und doch vollkommen freien Staates. Zuerst allerdings wer¬
den sie, wie das mit jungem Blut zu gehen pflegt, mit Uebelnehmen und
Gcnugthuungfordern rasch bei der Hand sein und nur zu schnell — wie in
ihren Privalbeziehungen — zu Büchse und Revolver greifen. Aber indem
sie auf Nachbarn von gleich hitzigem Temperament und gleicher Neigung, statt
an die Vernunft an die Waffen zu appelliren, stoßen werden, wird dos ganze
Volk sich wechselseitig Maß halten lehren, sich die Ecken abschleifen und sich
nllmälig zu der Cultur verfeinern, die diesseits des Atlantischen Oceans Ton
ist. Könnten sie das nicht und nicht bald zu Stande bringen, nun so müßten
wir sagen, daß jenes unbeschränkte Gedeihen, welches sie bisjetzt begleitet
hat, vom Uebel für sie gewesen sei und daß die Vorsehung damit einen Mi߬
griff gethan habe. Da diese aber keine Mißgriffe begeht, so geben wir uns
der Hoffnung hin, Amerika wird die neue Position, in die es durch die Se¬
cession gestellt ist. zu seiner Besserung benutzen.
Wir kommen zum letzten Aber.
„Aber." entgegnet man uns, „der Umstand, daß wir von unabhängigen
und bei aller guten Lebensart doch nicht immer freundlichen Nachbarn umge¬
geben sein werden, wird uns nöthigen, beträchtliche stehende Heere und viel¬
leicht auch Flotten zu halten und, da diese Geld kosten, schwerlastende
Steuern zu zahlen, also alle die kostspieligen und lästigen Einrichtungen bei
uns einzuführen, über welche die alte Welt seufzt und murrt."
Ohne Zweifel wird besagter Umstand dies bewirken. Aber was heißt
diese Klage, in verständliches Deutsch übersetzt? Einfach dies, daß die Herren
Amerikaner sich auch in dieser Hinsicht dem Schicksal Europas zu unterwerfen,
daß sie sich in die allgemeine Regel und Bedingung nationaler Existenz zu
finden und zu fügen haben, von der sie bisher ohne ihr Verdienst cmsge'
nommer waren.
Wir halten das Resultat, zu dem mir in dieser Betrachtung gekommen
sind, für keineswegs unannehmbar, aber wir können begreifen, daß die Ame¬
rikaner entschlossen sind, gegen die Zukunft, die es bezeichnet, mit aller Kraft
anzukämpfen. Der Sturz von der bisherigen Hohe wird vielleicht heilsam
sein, aber es erfordert mehr als gewöhnliche Menschenkraft, sich ohne
Weiteres in ihn zu finden und das Wiederemporklimmen für immer aufzugeben.
Unsere tiroler Liberalen sind Heißsporne, daran ist kein Zweifel. Statt
ruhig der Zeit zuwarten, wo unsre Glaubensapostel zur Vernunft kommen
oder sich abgenützt haben, das tiroler Volk sich selbst emancipirt von ihrer
Zuchtruthe, und das Vergißmeinnicht der Glaubenseinheit nicht mehr bei die-
sem sentimentalen, sondern bei seinem botanischen Namen nennt, statt zu be¬
greifen, daß die Regierung dem Jesuitismus und allen seinen Werken abgeschwo¬
ren, von Herzensgrund liberal, aber klug ist wie ein Philosoph, der in den Ster¬
nen der Zukunft liest, kurz statt auf der Höhe der Zeit und der kalten Politik
zu stehen, will man im Sturmschritt vorwärts. Die Negierung aber muß
Allen gerecht sein, über den Parteien schweben, das ist der oberste constitutionelle
Grundsatz. Das treu bewahrte Geheimniß ihres Liberalismus verstattet ihr
nicht, dem ungezogenen Treiben der Propheten der Finsterniß Halt zu gebieten,
ihr Unwille trifft nur jene, die jenes Geheimniß unbescheiden und vorlaut
brechen; der Schwachen und Wartenden ist nicht zu achten, eine Umkehr
ohnedies unmöglich. Wir halten fest aus Ritterwort, und schreiben das:
limmi soll <M mal pens«, auf unsere Fahne, selbst wenn die That hin¬
ter unseren Hoffnungen bliebe.
Was zu diesen Bemerkungen veranlaßt, ist die kaum zu verkennende
Scheu, womit man sich beim ersten offenen Worte, das sich für die Gewissens¬
freiheit in Tirol erhob, auf neutralen Boden zurückzog. Der Staatsminister
hatte in seinem Erlasse vom Is. Juni 1861 das Protestantengesetz als die
Erfüllung eines völkerrechtlichen Vertrags, der deutschen Bundesacte, hinge¬
stellt, er hatte sich in der darauf folgenden Sitzung vom 19. Juni vor dem
Reichsrathe für dessen Aufrechterhaltung in so lange erklärt, bis im verfassungs¬
mäßigen Wege eine Abänderung eintrete, es steht also bei uns in voller
Wirkung, und !hat die Sanction des kaiserlichen Wortes. Wir vertrauen
demselben unbedingt, denn unsre Constitution ist das Endergebniß einer zwölf¬
jährigen Erfahrung, und constitutionelle Freiheit nicht denkbar ohne Freiheit
des Gewissens. Warum die Minister des Kaisers dessenungeachtet noch
freundlich thun mit der rebellischen alten Garde der Finsterlinge, warum sie
noch immer anstehen der gleißenden Schlange den Kopf zu zertreten, warum
sie namentlich in Tirol, wo ihr Same am üppigsten aufschoß, noch zärtliche
BliÄe mit ihr wechseln, ist nicht zu begreifen. Die Weisen des ^ufte milisu
antworten uns, die himmlische Geduld, die man der polternden Pfaffengesell¬
schaft gegenüber an den Tag legt, sei nur die Gestattung gleicher Freiheit,
für Alle, die Achtung vor der gefallenen Größe, der Weg zur Versöhnung und
Ruhe. Wir entgegnen darauf, indem wir die letzten Thatsachen in Tirol, das
die Ritter vom Rosenkranz als ihre süße Heimath rühmen, etwas näher ve-
trachten. ..MZ in ^-i^-es^ '
Dr. Streiter, der Bürgermeister von Bozen, nahm von der Einführung
der Gasbeleuchtung, die dort im Spätherbst statthatte, Anlaß, ein Volksfest
zu feiern. Dasselbe sollte mit einem Freischießen beginnen, wozu er der
Schützengilde seiner Vaterstadt ein Best von 30 Vereinsthalern mit einer deut¬
schen und einer östreichischen Fahne und folgender Widmung sandte:
„Das Licht, das künftig auf unseren Straßen die Nacht nahezu in Tag
verwandelt, hat etwas sinnbildliches, man erinnert sich an das geistige Licht,
das uns eben auch in diesem Jahre aufging, an die Wiedergeburt unseres
staatlichen Lebens und die Befreiung der Gewissen von jeder unwürdigen
Schranke. Licht zumal ist die Himmelstochter, welche das edle Herz unsers
Kaisers vermochte, uns das Patent vom 8. April d. I. zu geben, es ver-
bürgt jedem Staatsbürger die Freiheit des Denkens und Forschens. Lassen
Sie mich die Wonne, die ich darüber empfinde, mit Ihnen durch gemein¬
samen Jubel feiern, lassen Sie uns die Fahnen schwingen, die Böller lösen
und ein stürmisches Hoch ausbringen dem Spender jener Freiheit, welche die
Grundlage jeder anderen bildet!"
Es lag in diesen Worten, welche alsbald von einigen Zeitungen je nach
ihrer Färbung begrüßt oder gescholten wurden, eine stärkere Herausforderung,
als man ihnen ohne nähere Kenntniß tirolischer Zustände zuschreiben möchte.
Selbst die liberal sich nennenden Abgeordneten in der Stündesitzung vom
letzten Frühjahr meinten die Glaubenseinheit als Wunsch des ganzen Landes
bestätigen zu müssen, und wenn sie gegen den Antrag des wühlerischen Bi¬
schofs von Buxen stimmten, der die Protestanten bis auf einzelne seltene Aus¬
nahmen aus Tirol verbannen wollte, entschuldigten sie sich schon im vorhinein
mit Gründen politischen Machtgcbotes. Der Klerus that seither, wie in diesen
Blättern berichtet wurde, Alles, was in seinen Kräften stand, um das Volk
gegen das Prvtestantenpatent aufzuwiegeln, und wenn er sein Ziel nicht er-
reichte, lag dies nicht an ihm, sondern am Mangel entzündlichen Stoffes.
Nach der Abdankung des früheren Statthalters, Erzherzog Karl Ludwig, wo¬
mit ihre Stütze gefallen schien, und den Bemühungen des neuen, des Fürsten
v. Lobkowitz, den Eifer der Prediger und Wallfahrer zu zügeln, schien eine
Pause eingetreten, und manchen derselben verdroß der nutzlose Kampf. Wenn
nun Dr. Streiter eine rein materielle Errungenschaft benutzte, um an die
Morgenröthe zu erinnern, die uns im geistigen Leben aufging, lag dies sicher
weder in seiner amtlichen Aufgabe noch in der richtigen Erkenntniß des Wer¬
thes, den das Opfer der Auserwählten des Himmels hatte. Alles, was man
zu seinen Gunsten sagen kann, ist, daß ein kair tris.1, ob denn'.das Wort des
Kaisers und der Vernunft so wenige Anhänger in Tirol zähle, als jene immer
Getreuen sagen, dem einen eben so gut erlaubt sein möchte, als dem andern.
Der Erfolg überstieg nach beiden Seiten jede Erwartung. Das katho¬
lische Organ unserer Apostel der Christenliebe. die „Tiroler Stimmen", ließ
die Bauern mit „Knütteln" drohen, und verglich das Best von 30 Vereins¬
thalern mit den 30 Silberlingeu, um die Judas seinen Herrn und Meister
verkauft, die frommen Geistlichen und ihre hochadelichen Glöckner liefen zu
Berg und Thal, um die Bauern von dem lutherischen Feste abzuhalten, wo¬
bei sie ihren „Glauben verschossen". Ein achtzigjähriger Canonicus in Buxen
Franz Hirn, der schon im Jahre 1796 an ernem Schützenzuge gegen den
Feind Theil genommen, erhielt die Mission, eine Predigt sür alle Schützen im
ganzen Lande zu halten, die man jedem derselben gedruckt ins Haus sandte.
„Habt acht!" hieß es daselbst. „Es ist unterm 2. d. M. (October) vom
löblichen k. k. Kreishauptschießstand Bozen das Ladschreibcn zu einem vom
10. bis 14. November d. I. stattfindenden Freischiehen veröffentlicht worden.
Die darin ausgesprochene Absicht des Bcstgebers. Herrn Bürgermeisters
Dr. Streiter, gibt sich klar mit folgenden Worten zu erkennen. (Folgt die
oben angeführte Widmung.) Es ist also darauf abgesehen, ein glänzendes
Lichtfest zu feiern. Es gibt ein „wahres" und ein „Irrlicht". Jenes ist Jesus
Christus unser Herr, der gesprochen hat: Ich bin das Licht der Welt, wer
mir nachfolgt, der wandelt nicht in der Finsterniß, sondern wird das Licht
des Lebens haben. Joh. 8. 12. Dies Licht leuchtet schon seit fast 1900
Jahren in der si. katholischen Kirche, deren Glieder auch wir zu sein das
Glück haben und immer zu bewahren streben. Das Sinnbild dieses göttlichen
Lichtes ist eine heilige Flamme, welche in jeder katholischen Kirche Tag und
Nacht vor dem Tabernakel des Allerheiligsten unterhalten werden muß. Dieses
Licht leuchtet in. keinem der protestantischen Tempel, denn Luther, Calvin,
Zwingli und die übrigen Urheber des Protestantismus haben dasselbe mit
der Verleugnung des Glaubens an das si. Altarssacrament ausgelöscht. Der
Protestantismus hat also das wahre Licht verloren, und schwindelt herum
im Irrlicht. Welchem Lichte, dem wahren katholischen oder dem irreführen¬
der protestantischen gilt nun der Jubel. zu dem die Schützen Tirols
und Voralbergs der Einladung des Ladschreibcns gemäß in Bozen vom
10. bis 14. k. M. sich einfinden sollen, um die Wonne des Herrn Bürger-
Meisters mit zu feiern? Er sclost gibt auf diese wichtige Frage die bestimmte
Antwort, da er sagt: „Licht ist die Himmelstochter, welche das edle
Herz unsers Kaisers vermochte uns das Patent" (d. i. das Protestan-
tenpatent) ..vom 8. April d, I. zu geben." Es soll also dieses Patent das
Mittel zur Verbreitung des protestantischen Irrlichtes sein, das jedem
Staatsbürger die Freiheit des Denkens und Forschen? verbürgt, als
wenn wir bisher im wahren katholischen Lichte diese Freiheit nicht gehabt
hätten. — Eine höchst unwürdige Deutung der Intention Sr. kais. apostol.
Majestät. Jeder Schütze, der an diesem Lichtseste Theil nimmt, muß nach dem
Sinne der Einladung als Bekenner derselben Grundsätze angesehen werden
und der Ehre entsagen, zur Tirolerfahne der edlen Vorältern zu gehören, die,
mit den Bildern des göttlichen Erlöserherzens und Mariahilf geziert, sie immer
zum Siege und Ruhm geführt hat, welche aber bedeutungsvoll bei diesem
Lichtschieben ganz ausgeschlossen, nicht mehr sich entfalten darf. Brüder!
schändet durch eine solche Verbindung eure alte Schützenehre nicht!"
Wir theilen das Acrenstück unverkürzt mit, weil es beredter als jede
Schilderung, lebendiger als zwanzig Citate aus den „Tiroler Stimmen", den
„katholischen Blättern aus Tirol" und ähnlicher Literatur sowohl von der Bil¬
dung des Redners als seiner Zuhörer zeugt, die es in Andacht lqsen und auf
sich wirken ließen.
Das Lichtfest zu Bozen kam aber den Anführern der streitenden Kirche
in Tirol lange nicht so unbequem, als sie möchten glauben machen. Wie
ein Alp drückte die Einstellung des Gortesworles gegen die drohenden Pro-
testantenschwärme und der Bittgänge gegen diese ägyptische Plage auf ihre
Brust, und schon seit dem Beginn des Octobers, also noch ehe die Widmung
des Streiter'schen Lichtschießens geschrieben oder bekannt war, sannen Baron
Dipauli in Kältern und seine Freunde, wie sie die Antwort des Papstes
auf die Adresse des Ende Juni in Innsbruck gepreßten Bauernlandtngs. und
die Entsendung seines Fürsprechers, Monsignor nardi, an den Kaiser zur Er¬
bauung des Volkes kundgeben und den fast erkaltenden Eifer für die gute
Sache aufstacheln sollten. Nach dem ersten Entwürfe dachte man die beab¬
sichtigte Procession, die doch am meisten Leute zusammenbrächte, als Dank
für die gesegnete Weinernte zu betiteln, leider paßte dies nicht auch auf die
getreideerzeugenden Gebirge und Thäler, die man nicht vermissen mochte. Da
bot nun die gottlose Feier des Protestantenpatents willkommenen Vorschub.
Man verhüllte zwar bis auf ein paar Tage vor der Eröffnung des Schau-
spielst wie es die Pastorale Klugheit rieth, den wahren Zweck, nur „für den
Papst, den Kaiser und das Land zu beten" gelte es. endlich entrollte man
doch die heilige Fahne, woraus die Devise stand: „Für die Erhaltung der
Glaubenseinheit im Lande Tirol." Dafür hatte man zur Procession in Meran
ohngefähr 4000. zu jener in Bozen etwa doppelt so viele Männer zusammen¬
getrieben. Jede Landgemeinde zog betend, die frommen Geistlichen an der
Spitze, einher, in Bozen hatten sich nicht weniger als 178 geweihte Gottes¬
leute um das wunderthätige Madonnenbild in der Pfarre versammelt, dann
trugen sie es nebst einigen Knochen „heiliger Leiber" durch die Straßen der
Stadt, unmittelbar nach dem Idole ver Probst mit Inful und Stab und
großem Cortege, hinter ihm aber statt der angekündeten Vertretung der Stadt¬
gemeinde ein paar seiner Herzensfreunde, der Landeshauptmannstellvertreter
Karl v. Zallinger und Ignaz Baron v. Giovanelli, der wahrheitseifngc
Correspondent des „Vaterlgnd" so wie der „Tiroler Stimmen", auch Verfasser
aller nöthigen Slaatsschriften. Die Schützen von Kältern, die Baron Dipauli
aufbieten wollte, blieben weg, da sie das Militär bei ihrem Einrücken ent¬
waffnet hätte, die ganze Garnison, bei 1300 Mann, war in den Kasernen
consignirt. um bei einem etwaigen Acte frommer Lynchjustiz gleich zur Hand
zu sein. Wirklich verlief sich auch die ganze Heerde der andächtigen Beter
ohne irgeno welchen auffallenden Andrang nach Märtyrerkronen, und der
Triumphzug. der mit Böllern und Musik verkündet war, glich mehr einem
Bußgang. Zum Schluß ward vou der Kanzel das segensreiche Ereigniß der
päpstlichen Ambassade erläutert, was die mürben Herzen zu stillen Seufzern
anfachte; nnr in Meran konnte der Kapuziner Trois einige Flüche auf die
Freimaurer kaum unterdrücken.
Die Production hatte nicht einmal einen sueoös ä'vLtims geerntet, um
so eifriger dachte man darauf den Lichtfreunden das Wasser zu trüben. Da
bei der Eröffnung der Gasbeleuchtung außer dem Freischießen auch ein
Maskenzug und andere Augenweide statthaben sollten, waren unsere Asceten
bemüht, dies Blendwerk der Hölle in der Geburt zu ersticken, oder doch gottes-
fürchtige Gemüther davon ferne zu halten. Tue Darsteller des Festzuges
brauchten Pferde und Maulthiere; um ihn zu vereiteln, vermochte man die¬
jenigen, die sie dazu vermiethet, entweder ihr Wort zurückzunehmen oder un¬
mäßige Preise zu fordern. Den Knaben, denen bei den Allegorien Rollen zu¬
gedacht waren, drohte man mit schlechter Sittennole. Der Probst, der früher
seine Einwilligung zur Beleuchtung des Psarrthurms gegeben und auch die
Zustimmung des Bischofs dazu erhalten hatte, sandte einen eigenen Boten
nach Trient, um dieselbe rückgängig zu machen, was denn auch geschah. Die
Franziskaner' verboten den Schülern des Gymnasiums, die Schulschwestern den
Mädchen, die Beichtiger ihren geistlichen Töchtern das Zusehen bei der bevor¬
stehenden Verspottung der Religion und ihrer Diener. Die Kapuziner wußten
schon von den Earicaturen der letzten Glaubensprocession und ihrer Führer
Allen, die es hören wollten, genau zu erzählen. Die ganze schwarze und
braune Schaar war auf den Beinen, um zu lügen, zu verleumden, frommen
Hader und nützliche Zwietracht auszustreuen.
. Trotzdem gelang das Unternehmen vollkommen; eine unzählige Menge
Volkes strömte herbei und konnte sich am Maskenzüge kaum satt sehen, und
es gab nicht Wenige, die meinten, man werde sich des 10. Novembers noch
lange erinnern. Bürger und Militär freuten sich in herzlicher Eintracht des
Sieges des Lichtes über die Maschinisten der Finsterniß. Am frühen Morgen,
der freundlichmilde nach starken Regengüssen hernieder lächelte, ertönten die
lustigen Klänge der Regimentsmusik, bald darauf brachte die Eisenbahn die
Schützen von Trient, worunter selbst ein Geistlicher, nebst vielen Gästen, dann
zogen die Meraner mit klingendem Spiel und flatternder Fahne ein, um
11 Uhr begann die Eröffnung des Frcischießenv ans dem Scheibenstande.
Das Militär, den General an der Spitze, hatte sich in blanken Tschacko einge¬
funden, und als der Bürgermeister und Bestgeber in seiner Anrede darauf
hinwies, daß die Freiheit > er Grundstein des neuen Gebäudes, das Oest¬
reich mit Deutschland einigt, und ein Hoch ausbrachte auf den Gründer
einer glücklichen Zukunft, erscholl ein donnerndes Echo aus frohen Herzen.
Die Allegorie des Maskenzuges war voll heitern Humors, mehr spielender
Witz als aristophanischer Spott, Die alte Zeit versinnlicht durch eine riesige
Oellaterne mit nächtlichen Trabanten und Emblemen ging zu Grabe, die neue,
als Trägerin des Lichtes durch einen Gascandelaber angedeutet, mit ihren
Künsten und Erfindungen folgte ihr im Triumphe. Das Abends abgebrannte
Feuerwerk hatte Einheimische und Fremde auf einem Punkt, dem großen
Zohannesplatz. versammelt, es war eine zahllose Menge, die sich, den geist¬
lichen Fluch vergessend, einmal recht des Lebens freute. Ein Giovanelli,
Pfarrer im nahen Se. Pauls, hatte es sich nicht versage» können von der
Kanzel zu verkünden, er könne Niemanden von der Todsünde absolviren.
die durch eine Theilnahme am Lichtschießcn in Bozen begangen werde;
sein Better Heinrich suchte mit alten Kernsprüchen die Schützen abzu¬
mahnen, und wenn auch viele der letztern durch die Zudringlichkeit des,
Edelmanns irre wurden, das Boll, die große Masse ließ sich den harm¬
losen Genuß doch nicht nehmen, ja die Berichte der darob ergrimmten
Chorführer, der Barone Ignaz und Ferdinand Giovanelli in den „Tiroler
Stimmen" und „katholischen Blättern" bestätigten, daß ihre Galle seit lange
nicht so aufgeregt war als an jenem Tage.
Der Traum von den Lorbeeren eines Sieges über die fluchwürdigen
Giaur auf der jungfräulichen Oase des reinen Glaubens ließ den Baron
Dipauli in Kältern nicht schlafen. Der erste Plan, alle rechtgläubigen Schützen
durch blankes Gold auf den Bestfahnen vom bozencr Scheibenstande wegzu¬
locken, erweiterte sich im Kriegsrath der Feldobersten zu einem „Gedenkschießen
der alten tirolischen Schützcnehre," das in Lana neben dem zerfallenen Stamm¬
schlosse des einstigen Landesgouverneurs und nunmehrigen Reichsraths Clemens
Grafen v. Brandes gegeben werden, und aus Nord, Ost und Süd den ganzen
Heerbann versammeln sollte, worüber unsere Ulemas und Derbische zu gebieten
hätten. Die Schaar. sonnenverfinsternd wie die Heuschrecken, sollte auch der
Regierung zeigen, mit wem sie es aufzunehmen habe, wenn sie auf dem Protestan-
tenpatent bestände. Einige „Alttiroler", so nannten sie sich zum Unterschiede
vom Geschlechte, dem die Zukunft geHort, steuerten je nach der angebornen
Großmuth volle dreißig Dukaten zu drei Besten, die gleich vertheilt mit einer
päpstlichen, östreichischen und tirolischen Fahne geschmückt wurden. Der dritte
Absatz des Ladschreibens schloß alle jene von diesem Schießen aus. die sich
an jenem vom 10. bis 14. November in Boze» betheiligten. Als Ausfertiger
erschien am Ende der abwesende Graf Anton Brandis; die eigentlichen Best-
geber. die Barone Giovanelli und Dipauli, spielten nur die stillen Gesellschafter
dieser Firma.
Waren um Sitze der Landesverwaltung zu Innsbruck schon ehedem durch
die dem Bozener Lichtfeste vorangegangenen Gerüchte stille Besorgnisse ent¬
standen: die Sprache der Alttuoler. die vorwurfsfreien Leuten eine Verletzung
der Schützenehve Schuld gab, und sie deshalb ihrer Wehrgenossenschaft un¬
würdig erklärte, konnte sie nur steigern. Der Statthalter Fürst v. Lobkvrmtz
erließ somit als Landesoberstschützenmeister an die Vorstehung des k. k. Lan-
dcshauptschicßstandes zu Innsbruck folgendes Schreiben:
„Mit wahrer Befriedigung ersah ick aus der heutigen Nummer 138 der
Volks- und Schützenzeitung, daß die Vorstehung des Landeshauptschießstandes
den einstimmigen Beschluß gefaßt hat. auf demselben ein Schießen, das zur
Störung des Friedens unter den Schützen irgend einen Anlaß geben könnte,
weder zu geben, noch geben zu lassen. Durch diesen Act hat sich die Vor-
stehung — ich bin dessen überzeugt — den Beifall aller aufrichtigen Vater-
landsfreunde und echten Tirolerschützen erworben. Als Landesoberschützen-
meister sehe ich mich deshalb angenehm aufgefordert, der Vorstehung hiefür
meine vollste Anerkennung auszusprechen. Ich wünsche nur, daß das den
Landeshauptschießstand ehrende Beispiel auch in den übrigen Schießständen
des Landes bereitwillige Nachahmung finden und auf diese Weise von den
Stätten, wo nur harmlose Schützenfrcude herrschen soll, fortan jede Spaltung
und Pcirteiung verbannt bleiben möge."
Noch deutlicher gab der Fürst-Statthalter seine Mißstimmung dem Boze¬
ner Schießstande zu erkennen. Auf seine Beschwerde wegen Ehrenbeleidigung
verwies er ihn an die Gerichte, bemerkte, „daß bei den im Lande bestehenden
entgegengesetzten Parteien und verschiedenen Anschauungen die üblen Folgen
des eigenen Ladschreibens vorauszusehen wohl nicht schwer gewesen wäre",
und sprach die Hoffnung aus: „daß in Zukunft jeder Anlaß von Zwistigkeiten
sorgfältig vermieden, und der Weg der Versöhnlichkeit mit allem Ernste einge-
schlagen wird."
Auch den Verschwornen von Sana war die Mahnung nicht ausgeblieben,
die feindselige Ausschließung derer, denen der Tempel zu Jerusalem nicht als
die einzige Himmelspforte gilt, auszulassen, allein der Großmeister Graf Bran-
dis fand dies Mit seinem Princip vom „christlichen Staate" nicht vereinbar,
er bestand auf der Ausscheidung der Liberalen als einem Rechte constitutio-
neller Freiheit. So nahm denn die Werbung der Glaubenssöldner unbehin¬
dert ihren Lauf. Die Kosten des Zuzugs überstiegen jede Erwartung. Man
mußte Knechte und Taglöhner aufbieten, ihnen Reise. Zehrung und Einlage
zahlen, auch die „eiurollirten." d. i. auf den Schießstätten eingeschriebenen
Schlehen kamen nicht aus eigenem Antrieb, sondern erst auf zwei- oder drei»
maliges Drängen der für den Ruf ihrer Machtstellung besorgten Geistlichen
und erhielten zum Theil auch gutes Handgeld. Man griff sogar zum letzten
Mittel, nöthigte Leuten, die nicht schössen, oder sich dessen wohl gar weigerten,
die Einlage ab. und die Kutscher" der Stellwagen versagten denen die Auf¬
nahme, die diesen Obolus den Mächten der Finsterniß nicht geopfert. Den¬
noch reichte die Zählung selbst nach den „Tiroler Stimmen" nur auf 720
Stück. In wessen Interesse das Freischießen in Lema gehalten wurde, zeigte
ti? dort stark vertretene schwarze Innung, es ward dies auch gleich am
24. November beim Act der Eröffnung kund. ..Wie die Alten gethan," las
der junge Graf Brandis verlegen und stammelnd aus einem Papier ab. „so
werden auch wir thun". Die treuherzigen Laiideskinder marschirten ja stets
nach dem Kommando ihrer Seelenhirten, kein Wunder also, daß das erste
und angestrengteste Hoch Sr. Heiligkeit dem Papste galt. Die folgenden aus
den Kaiser und das tiroler Land klangen merklich matter. Tags nachher
war großes Concil. Ueber 80 auserwnhlte Leviten tagten über die dringend
nöthige Unterstützung der geldarmen „Tiroler Stimmen", ohne welche dem
heiligen Feuer das Erlöschen droht. Zuletzt beschloß man zum Andenken der
geweihten Stunde die Vertheilung eines Schützenpfennigs an Alle, die im
gläubigen Feuereifer zu Lana das Kreuz an ihre Brust geheftet; als aber am
dritten Tage dieses Siegesfcstes der Probst von Bozen und der Abt von Gries
mit Inful und Stab angezogen kamen, um ein feierliches Hochamt zur Er¬
neuerung des alten Bundes der tiroler Schützen mit dem Herzen Jesu zu
singen, da fanden die Schützen keine Zeit ihm anzuwohnen. Vormittags,
meinten sie. wäre eben das Schießen am kurzweiligsten, und als es am
4. Dec. geschlossen wurde, war kein Schütze mehr da — der junge Graf
stand allein in der Mitte seiner getreuen Zieler und Schützenschreiber.
Inzwischen feierten am 1. Dec. auch die Meraner ihr Fest. Sie gaben
das Best zu Ehren des Statthalters Fürsten Lobkowitz „als Schirmherrn der
Schützeneintracht", worauf dieser mit Schreiben vom 27. November sie be¬
lobte, daß sie „dem richtigen Verständniß des tiroler Schützenwesens that¬
sächlichen Ausdruck verliehen haben. Denn", hieß es weiter, „nur die Ein-
tracht der tiroler Schützen ist es, welche deren schönes Losungswort: „„Für
Gott, Kaiser und Vaterland"" zur Geltung zu bringen vermag, sobald es sich
nicht mehr blos um ein Ringen nach den Bestfahnen auf der friedlichen Schieß,
statte, sondern um die dadurch beabsichtigte Erreichung des dem harmlosen Spiele
zu Grunde liegenden Zweckes — um den ernsten Kampf gegen die Feinde
des Vaterlandes handeln sollte." Eine freisinnige Rede war jedoch nicht zu
vermeiden, da sich auch die Bozener in großer Anzahl mit Fahnen, Musik
und Liedertafel bei der Feier einfanden und an der Passerbrücke freundlich
empfangen wurden. Das Fest hatte aber auch seinen Clown, dessen Rolle der
junge Graf Brandes übernahm. Geheimen Berichten zufolge war etlichen
Passeiern, die am Lanaer Schießen Theil genommen, nicht zu trauen, daß sie
auf dem Rückwege nicht auch jeues von Meran besuchten. Da kleidete sich der
Graf herablassend in die Tracht der Bauern an der Passer, deren Lederhosen
nicht bis an die Strümpfe reichen. so daß sie die Kniee nackt tragen. Mit
entblößten Knieen also und in der Lodenjoppe eines Schützenhauptmanns
schritt er neun Passeiern mit gezo gemein Säbel voran, und escortirte sie unter
Trommel- und Pfeisenspiel durch die Stadt Meran bis er sie oberhalb der¬
selben am Eingang in ihr Heimathsthal vor Abfall gesichert glaubte. Sie
aber kehrten, sobald er den Rücken gewendet, in die Stadt um und schössen
dort am anderen Tage zur Feier der Eintracht.
Ein günstiger Zufall zerriß am Ende die künstliche Scheidewand, womit
man die lustigen Schützen wider ihren Willen zu trennen suchte. General
Gras Castiglione, der als Obercommandant der Landesvertheidigung inBozen,
weilte, wurde vom Kaiser zum zweiten Inhaber des tiroler Jägerregiments
ernannt. Die Bozener Bürger und Schützen, die den wackeren Krieger, der
die Tiroler in 26 Gefechten zu Kampf und Sieg geführt, hoch verehren, feier-
ten dies Ereigniß wieder durch ein Scheibenbest. das noch reicher als die bei¬
den früheren war, und luden dazu Alle ohne Ausnahme ein, die sich darüber
freuten. Diesem Bnspiel folgten auch Graf Wickcnburg in Eppan und ^
Schützemneistcr Nani in Trient. Nun kam wieder Alles herbei, was den
Stutzen führte, namentlich war des Gedränges auf dem bozener Scheiben¬
stande kein Ende, und so oft sich der freundliche General zeigte, scholl ihm
vielstimmiger Jubel entgegen. Nur die Häupter des finstern Alttirols blieben
ferne, weil es die.Freunde des Lichtes waren, die das Fest angerichtet.
Morgen wird der Landtag eröffnet. Es ist eine mißliche Sache, heute
über die politische Situation zu schreiben. Von Inhalt und Fassung der
Thronrede wird die weitere Gestaltung der Dinge zunächst vorzugsweise ab¬
hängen. Aber wer möchte heute noch sich mit Vermuthungen über diesen
Punkt hervorwagen? Ich wenigstens kann das um so weniger thun, weil,
bevor diese Zeilen in die Presse gehen, die Thronrede in Aller Händen sein
wird. Ich muß mich für heute daraus beschränken, die Eröffnung des Land¬
tags mit den besten Wünschen zu begleiten. Die Verhältnisse, unter denen
er zusammentritt, sind schwierig und eigenthümlich verwickelt. Zwar die
Kriegsgefahr, welche noch beim Beginn des neuen Jahres uns bedrohte, ist
durch die Mäßigung der nordamerikanischen Regierung beseitigt. Nachdem
Lincoln und Seward, unbeirrt durch den Lärm einer aufgeregten öffentlichen
Meinung, stark genug gewesen sind, der Stimme der Vernunft Gehör zu
geben, hat England wieder freiere Hand für die europäischen Verhältnisse.
Die allgemeine Lage rst dadurch für jetzt weit weniger gespannt, als man
noch vor acht Tagen vermuthen durfte. Wir mögen uns freuen, daß der
Landtag unter friedlicheren Aspecten eröffnet wird, wenn wir uns auch nicht
verhehlen dürfen, daß manche innere Schwierigkeit bei einer drohenden
Kriegsgefahr wahrscheinlich leichter gehoben sein würde. Der Kern der Ver¬
wickelung liegt bei uns in der Militärfrage. Ueber alle anderen Differenzen wird
man leichter hinwegkommen. Nun ist unverkennbar, daß der Mehrbewilligung für
den Bedarf der Armee weniger Schwierigkeiten entgegen treten werden, wenn
sich Kriegsgefahr am politischen Horizonte zeigt, Aber wer möchte so frevel¬
haft sein, aus solchem Grunde einen Krieg zu wünschen?
An der Möglichkeit einer Verständigung darf man nie verzweifeln. Noth¬
wendig ist vor allen Dingen nur, daß man dazu von allen Seiten den guten
Willen mitbringt, daß man alte Irrungen und Mißverständnisse vergißt und die
gegenwärtig vorliegenden Fragen nur nach den in der Sache selbst liegenden
Momenten entscheidet, ohne sich durch Zuneigungen oder Abneigungen, die
aus früheren Verhältnissen herrühren, bestimmen zu lassen. Je leichter sich
dies in der Theorie ausnimmt, desto schwieriger wird es oft in der Praxis.
An einige Namen, die jetzt wieder auf dem Kampfplatz erscheinen, knüpfen
sich Erinnerungen an eine Zeit, welche zum mindesten seit der Amnestie für
alle Parteien der Geschichte angehören müßte. Aber viele sonst wohlwollende
Männer können sich von diesen Erinnerungen nicht befreien. Selbst bis in
die Spitzen der Regierung reicht das Vorurtheil, welches einen Namen von
etwas demokratischen Klang für gefährlicher hält, als den schlimmsten und
feindseligsten Reactionär. Wir hoffen nichts mehr, als daß die ersten Wochen
des Landtags dieses Vorurtheil überwinden werden.
Wo das politische Leben gesund ist, da müssen alle im Lande wirklich
vorhandenen Parteien auch im Landtag vertreten sein. Wir bedauern auf¬
richtig, daß die besten Köpfe der feudalen Reaction diesmal fehlen; aber aus
demselben Grunde freuen wir uns, daß die Demokratie durch ihre besten
Köpfe vertreten ist. Eine Partei, welche gesunde Lebenskraft besitzt, hat den
Kampf mit ihren Gegnern nicht zu fürchten; und wenn die Konstitutionellen
diesmal etwas weniger schläfrig und vertrauensselig sein werden, als bisher, so
ist das ein Vortheil, für welchen sie sich bei ihren weiter links gehenden
Kollegen zu bedanken haben. Daß die Demokratie sich Jahre lang von der
Betheiligung am politischen Leben in Preußen fern hielt, war sehr zu be-
klagen. Wenn jetzt wieder demokratische Elemente zum Vorschein kommen,
so soll man sie nicht von vornherein zurückstoßen. Denn dadurch treibt man
sie dahin, principiell gegen das Ministerium zu frondiren. Gelänge es aber
wirklich, sie gänzlich auszuschließen, so müßte die Partei nach und nach in
eine ungesunde Währung gerathen, welche der Entwickelung des Ganzen nie¬
mals förderlich sein kann. Besser ist es, die Gegensätze platzen offen auf
einander. Wer die Fortschrittspartei principiell ausschließen wollte, der würde
ja dadurch der reaktionären Theorie von der schiefen Ebene Recht geben, er
würde einräumen, daß die mittleren Parteien nicht die Kraft besitzen, dem
Drängen der extremen Parteien Widerstand zu leisten. Je weniger die Con-
stUutionellen den Kampf mit der Demokratie zu scheuen haben, desto er¬
wünschter sollte ihnen die Gelegenheit dazu sein.
Aber freilich, die Schwierigkeit ist deshalb so bedeutend und eigenthüm¬
lich, weil selbst die ministerielle Partei in der Hauptfrage, die jetzt vorliegt,
dem Ministerium nur mit halbem Herzen folgt. Die Stimmung, wie sie sich
jetzt ausspricht, geht dahin, daß ein Kompromiß möglich sein wird, wenn
eine Sicherheit' dafür gegeben werden kann, daß mit der Durchführung der
Armeereform zugleich liberale Reformen auf anderen Gebieten der Gesetzgebung
gefördert werden sollen. Bisher waren solche Reformen durch das Herren¬
haus gehindert. Das Abgeordnetenhaus aber wird es müde, jährlich viele
Millionen für die Armee zu bewilligen, im Uebrigen aber sich in resultatlosen
Redensarten zu ergehen. Die Reform des Herrenhauses also wird, wie es
scheint, die Bedingung sein, unter der die Armeereform angenommen werden
kann. Wenn aber neuerdings eine ministerielle Broschüre über die Aufgabe
der constitutionellen Partei uns damit vertrösten will, daß wir eine ausrei-
ebenda Pairsernenriung am Schluß der gegenwärtigen Session erwarten dürfen,
so ist dabei ein sonderbares L»r^vo Tr^or^vo vorausgesetzt. Mit einer solchen
gemüthlichen Aussicht wird man nicht viel ausrichten; vielmehr werden die
Abgeordneten ohne Zweifel für ihre Bewilligung eine baare Gegenzahlung
verlangen. Und daran thun sie Recht.
Inzwischen hat, uns die letzte Woche den Wortlaut der Depesche gebracht,
in welcher Graf Bernstorff das Bundesreformprojcct des Herrn v. Reuse be¬
antwortet. Der wesentliche Inhalt war bereits früher durch eine ausführ¬
liche Analyse bekannt. Mit Vergnügen constatiren wir zunächst den wilden
Lärm, welchen die preußische Depesche im östreichischen und großdeutschen
Lager hervorgerufen hat. Die Allgemeine Zeitung sucht ihre giftigsten Pfeile
hervor, um das „Roggenmehl", des Grafen Bernstorff in Mißcredit zu brin¬
gen. Ob ihr das gelingen wird, das hängt nun zustächst vom Grafen Bern¬
storff selbst, und fast noch mehr von seinen Collegen ab. Vorläufig habest
wir freilich nur mit dem Ausdruck einer Ansicht zu thun; es ist nirgends er¬
sichtlich, daß Schritte geschehen seien oder demnächst geschehen sollen, um
diese Ansicht zur praktischen Geltung zu bringen. Aber es ist doch schon ein
Großes , daß der nationale Gedanke seit 1850 zum ersten Male wieder von
der preußischen Negierung anerkannt und offen als das Ziel ihres Strebens
hingestellt ist. Bis jetzt hatten wir für die deutsche Politik der gegenwärtigen
Regierung kein anderes Programm, als die bekannte ziemlich allgemein ge¬
haltene Antwort des Grafen Schwerin an die Stettiner, und die Circular-
depesche des Herrn von Schleinitz vom 6. Juni 1860, in welcher darauf ge¬
drungen wird, daß, in soweit von der Gesammtheit des Bundesgebietes die
Rede ist, der völkerrechtliche Charakter des Bundes in seiner Reinheit festge¬
halten und wiederhergestellt werde. Diesen Gedanken wiederholt auch jetzt
Graf Bernstorff. aber er geht einen Schritt weiter und verlangt für die rein¬
deutschen Staaten einen engeren Verein innerhalb des Bundes, einen Bun¬
desstaat in dem Staatenbunde. Für diesen engeren Verein soll ein ständiges
militärisches Obcrcommando in eine Hand gelegt und eine einheitliche Ver¬
tretung nach Außen hergestellt werden. Daß diese eine Hand die Preußens
sein soll, sagt Graf Bernstorff nicht; aber es versteht sich so sehr von selbst,
wie daß die Ströme seewärts fließen.
Die Herstellung der deutschen Einheit läßt sich auf einem doppelten
Wege denken: entweder man beginnt damit, die allgemeine Form zu schaffen,
in welche sich die einzelnen Glieder hineinfügen sollen, oder man laßt die
Einheit von innen herauswachsen, indem man erwartet, daß an einen festen
Kern die einzelnen zersprengten Glieder sich mehr und mehr anschließen. Der
erste der beiden Wege wurde im Jahre 1848 versucht; es ist klar, daß ex
überhaupt nur in der Zeit einer großen Erregung und unter dem Einfluß
-N75dis. '.-ii'i/livl ?jK'5 .se'.: > i»im»v SM ?lini-x Sö.i.'.ivmnili.i^'n5
dieser Erregung gelingen kaun. Daher ist es ganz richtig , daß Graf Bern-
storff für jetzt vielmehr an den zweiten Weg denkt. Diesen bezeichnet er deut¬
lich, indem er an das im Artikel 11 der Bundesacte gewährte Bündnißrecht
zu engeren Vereinigungen unter einem Theil der Bundesgenossen erinnert.
Er denkt sich also, daß durch eine Reihe von special-Conventionen die ein¬
zelnen Staaten sich in Betreff des militärischen Obercommando und der dip¬
lomatischen Vertretung an Preußen anschließen sollen, etwa in ähnlicher
Weise, wie der Zollverein allmählig herangewachsen ist. Daß dieser Weg
ein langsamer ist. darf uns nicht irre machen; die Weltgeschichte rechnet nicht
nach Monaten. Aber damit er überhaupt gangbar sei, muß Preußen durch
liberale Reformen sich eine größere Anziehungskraft verschaffen.
Von der „jüngsten geistvollen Arbeit des hervorragenden Staatsmannes",
welchen Graf Bernstorff mit liebenswürdiger Ironie ungefähr wie einen ge¬
schickten FeuiUetonisten behandelt, um ihn desto unbefangener loben zu können,
wird nun wohl nicht länger die Rede sein. Desto mehr aber von dieser preu¬
ßischen Erklärung. Deshalb wäre wohl zu wünschen gewesen, daß ein Satz,
der vielfach mißdeutet werden wird, eine etwas andere Fassung erhalten hätte.
Graf Bernstorff spricht davon, daß das „Bundesverhültnlß derjenigen vier
standen, welche den Schwer« und Mittelpunkt ihres Organismus außerhalb
des Bundesverhältnisses haben, ein unüberwindliches Hinderniß sür eine Ent¬
wicklung der Verfassung des Gesammtbuudes in buubesstaatlicher Richtung
bilden muß". Wir fragen erstaunt, wer jene vier Staaten sind. Daß Oest¬
reich, serner Dänemark für Holstein und Lauenburg, drittens Holland sür
Luxemburg und Limburg gemeint sind, versteht sich von selbst. Aber der
vierte Staat kann nur Preußen sein; denn außerdem gibt es keinen deutschen
Staat, welcher zugleich ein außerhalb des Bundes gelegenes Gebiet besäße.
Aber hat darum Preußen seinen Schwer- und Mittelpunkt außerhalb des
Bundes? Und könnte man daraus nicht folgern, daß Preußen selbst sich
außerhalb des engeren Vereins stelle und die Bildung des Bundesstaats den
Ü^igeu reinbeutscheu Staaten'überlasse? Als der Gedanke der Union zuerst
officiell angekündigt wurde, in ejner preußischen Circularnote vom 2A, Jan.
1849, wurde ausdrücklich nur „Oestreich so wie das deutsche Gebiet dx> Nieder¬
lande und Dänemarks" von der Bildung des engeren Bundesstaats ausgeschlossen.
Das deutsche Gebiet Dänemarks! Damals protestirte die Schleswig-holstei-
njsche Landesversammlung , einstimmig gegen diesen Ausdruck, weil kein> Theil
der Herzogtümer als „deutsches Gebjet Dänemarks" bezeichnet werden, dürfe.
Zugleich verwahrte sie feierlich das Recht, Holsteins auf Theilnahme am deut¬
schen Bundesstaate. Jetzt gibt es keine Schleswig-holsteinische Landespersamm.
lung, um dieses Recht zu wahren. Jetzt handelt es sich überhaupt gar
Nicht darum. Holsteins Recht auf Theilnahme am BundesstMt zu, vertheidigen.
sondern die Incorporation Schleswigs in Dänemark abzuwehren. Denn das
ist das Thema der jüngsten, zwischen Preußen und Dänemark gewechselten
Depeschen, welche gleichfalls in diesen Tagen veröffentlicht sind.
Die formelle Sachlage ist sehr einfach. Im August v. I. wurde die be¬
reits eingeleitete Vundesexecution wieder sistirt, weil Dänemark wenigstens ein
formelles Zugeständnis) gemacht und vorläufig darauf verzichtet hatte, über
die im Normalbudget festgestellte Quote hinaus von Holstein einen Zuschuß
zu den Ausgaben des Gesammtstaates zu verlangen. Während der Zwischen¬
zeit bis zum Ablauf des Gesammtstaatsbudgets sollte versucht werden, eine
Verständigung über die Verfassungsverhältnisse Holsteins zwischen Dünemark
und den deutschen Mächten zu Stande zu bringen. Wer den hartnäckigen
Trotz der Dänen kennt, konnte daraus von vornherein nur geringe Hoffnung
setzen. Es zeigt sich jetzt, daß die Dänen keine Verständigung wollen. Die
jüngste Depesche des Herrn Hall ist ganz so durchweg verneinend, wie Alles,
was seit Jahren von der dänischen Negierung ausgegangen ist. Nachdem
man länger als sechs Jahre verhandelt hat, findet der dänische Minister, daß
es noch immer nicht an der Zeit ist, Vorschläge über die definitive Ordnung
der Versassungsverhältnisse Holsteins zu machen. Er will die Sache noch
weiter verschleppen und sich vorläufig nur über ein Provisorium auf der
Grundlage des factisch bestehenden Zustandes verständigen. Der Gedanke,
den er hierbei im Auge hat, ist leicht zu durchschauen und ist gar kein Ge¬
heimniß. Der ganze Plan ist bereits am 11. Decbr. v. I. im dünischen
Reichstag bei Gelegenheit einer Jnterpellation des Abgeordneten Hansen aus¬
führlich entwickelt. Wir wissen daraus, daß die Dünen die Absicht haben,
vermöge des Rumpfreichsraths nach und nach die Incorporation Schleswigs zu
vollziehen. Der Numpfreichsiath ist ein von der Vertretung des Gesammlstaats
übrig gebliebener Nest, welchen die dänische Regierung wider alles Recht und
Wider alle Vernunft fortbestehen ließ, nachdem die Gesamintstaatsverfassung
für Holstein und Lauenburg ausgehoben war. Der Reichsrath war die Ver¬
tretung des ganzen Gesammtstacus; sobald dieser durch das Ausscheiden von
Holstein und Lauenburg aufhörte, mußte auch der Reichsrath aufhören; dieser
durfte nicht für den Nest, d. h. sür Dänemark und Schleswig fortbestehen.
Aber die dänische Regierung berief trotzdem nach, dem Ausscheiden von Hol¬
stein und Lauenburg den Rumpf des Neichsraths wieder zusammen, und Deutsch¬
land ließ sich dies aus Schwäche und Nachgiebigkeit gefallen, aber doch nur
in der Voraussetzung, daß dieser Zustand ein kurzer, vorübergehender sein
werde. Jetzt hat dies factische Provisorium bereits länger als drei Jahre
bestanden. Die Dänen haben sich auf solche Weise eine gemeinschaftliche
Volksvertretung sür Dänemark und Schleswig erschwindelt. Damit ist ein
Hauptpunkt des Eiderprogramms erreicht. Der dänische Gedanke ist nun,
daß der jetzige Zustand sich consolidiren. daß der Eiderstaat nach und nach
ein kalt accompli werden soll.
Die Dänen wollen also nicht etwa durch einen offenen Act die Inkorpo¬
ration Schleswigs aussprechen und das dänische Grundgesetz von 1849 auf
Schleswig ausdehnen. Vielmehr wollen sie sich selbst gleich bleiben. Ge-
wissermaßen durch ein Taschenspiclcrkunststück wollen sie die Incorporation voll¬
ziehen, ohne daß man es bemerkt. Der Rumpfreichsrath soll in seinem jetzigen
Umfange als definitiv anerkannt werden. Dann würde man mit der Zeit
den dänischen Reichstag und die schleswigschen Stände in den Reichsrath auf
gehen lassen.
Dies ist der Plan der Dänen, welchen sie euphemistisch gewöhnlich als
eine Aussonderung Holsteins aus dem Gcscimmtstaat bezeichnen. Graf Bern-
storff ist nicht im Zweifel darüber, wo das Gefährliche der augenblicklichen
Situation steckt. In seiner Depesche vom 5, Decbr. spricht er ausdrücklich von
dem „noch factischen Fortbestehen des Reichsraths für Schleswig". Der Con-
flict über diesen Punkt kann vielleicht bald auf eine Entscheidung hindrängen.
Zum 25. Januar ist der Rumpfreichsrath wieder nach Kopenhagen einberufen.
Ein Gerücht will wissen, daß Preußen.beabsichtige, seine diplomatischen Be¬
ziehungen zu Dänemark abzubrechen, falls der Rumpfreichsrath wieder in
Wirksamkeit trete. Ob dies richtig ist, müssen wir dahin gestellt sein lassen
(es ist unrichtig. D. Red.). Der Minister des Auswärtigen kann am besten
beurtheilen, wann eine solche Maßregel zeitgemäß ist.
Glaubt Graf Bernstorff. daß jetzt der Moment gekommen ist. so wird
die Nation sich des einstimmigen Votums erinnern, welches das Abgeord¬
netenhaus im Mai 1860 für die Sache der Herzogthümer abgegeben hat.
Durch dieses Votum hat das Haus, wie damals der Abgeordnete von Car-
lowitz sich ausdrückte, dem Minister etwa Folgendes gesagt: „Erspähe am
Politischen Horizont Europas jede Gelegenheit, die sich als eine günstige dar.
bietet, um für das gekränkte Recht der Herzogthümer einzutreten, benutze jede
derartige Gelegenheit, wenn sie sich bietet, und sobald sie sich bietet, mit aller
Kraft und Energie, und rechne endlich dabei auf die Zustimmung der Nation."
Wenn die Zeit kommt, wird die Nation zu zeigen haben, daß sie nicht
blos in Worten hat tapfer sein wollen. Freilich flüstert man auch bereits
herum, die dänische Kriegsgefahr solle nur vorgespiegelt werden , um die Ge¬
burt der Armeereform zu erleichtern. Aber das können wir nicht glauben.
Solche Kunststücke wird die Regierung lieber ihren Gegnern überlassen. Die
Militärvorlage könnte bei einer solchen Taktik jedenfalls nicht gewinnen.
Ueber SH^'^wig-Holstein dürfen wir Kurhessen nicht vergessen. Das
ist der zweite Punkt, wo die Ehre der Nation verpfändet ist. Und hier ist sie
eichter einzulösen, >ve it die kurhessische Frage eine innere deutsche Angelegen-
heit ist. Zweimal hat die kurhessische Negierung den Landtag unwittelbar
nach seinem Zusammentreten aufgelöst. Jetzt ist dies geschehen, noch ehe er
sich constituirt hatte. Damit hat die kurfürstliche Regierung zugegeben, daß
sie mit der von ihr selbst octrom'reen Verfassung nicht zu regieren vermag.
Preußen kann einen solchen Zustand, an dem es selbst die moralische Mit-
schuld trügt, unmittelbar an seinen Grenzen nicht länger dulden. Preußen
erkennt die Aufhebung der Verfassung von 1831 nicht als rechtsgiltig
an. Unmittelbar nach dem Bundcsdeschluß vom 24. März 1860 wurde er¬
klärt, daß die weitere Entwickelung zunächst eine innere hessische Landesan¬
gelegenheit sei. Seitdem aber hat das kurhessische Volk sich tadle und ein-
müthig ausgesprochen. Im April 1860 erklärte Herr v. Schleinitz im Ab-
geordneteUhaus, „die preußische Regierung habe sich selbstverständlich die
Consequenzen ihres Verhaltens nach allen Richtungen hin klar gemacht; wel¬
ches auch immer diese Consequenzen sein mögen, die Negierung werde den
einmal von ihr eingenommenen Standpunkt mit Festigkeit zu behaupten, sie
werde auf dem Wege, den Ehre und Recht ihr vorzeichnen, unter allen Um¬
ständen zu verharren wissen." Die Consequenzen haben sich seitdem ent¬
M-^ni'let/i «In, 15 !'> i N'Iülllil, 'I'I? 5!!si< ' . milt/rtlizgn ?1s>msnli^' !«?,' »iHsI«iK>i
Die letzten Nachrichten aus Amerika machten der Befürchtung, daß es zum Kampf
zwischen der Union und England kommen würde, ein Ende. Hatten wir vor acht Ta¬
gen uns zu vergegenwärtigen, was die Folgen eines Krieges sein würden, so weist
die neueste Wendung des Streites mehr auf die Frage hin, welche Wirkung der
Friede auf England äußern wird. War das Ergebniß jener Erörterung kurz:
Aufhebung der Blockade der südlichen Häfen, starke Baumwollenzufuhr nach den
britischen Manufacturdisirictcn und andererseits Lähmung des nördlichen Handels
und schwere Schädigung des englischen sowie dauernde, die Zukunft Großbritanniens
bedenklich gefährdende Berfcindung mit dem amerikanischen Norden, so list die Ant«
wort auf die neue Frage noch kürzer: eine Baumwollennoth, wie sie noch nicht da¬
gewesen. >
Der Friede zwischen England und der Union bedeutet Fortsetzung des Bür¬
gerkriegs in der Union. Das Hauptmotiv der Nachgiebigkeit Amerikas in der Trcnt-
Angelcgcnheit war unzweifelhaft der Wunsch, alle Kräfte zur Niederwerfung des Su-
dens verwenden zu können. Daß die Huffnung, die sich mit diesem Wunsch verbin¬
det, eine trügerische ist, haben wir in einem andern Artikel dieser Nummer darzuthun
versucht. Hier genüge, daß sie vorhanden ist, und daß, solange sie währt, auch die
Blockade der Küsten des Südens fortdauern und nicht nur der Handel zwischen
diesen und England- suspendirt, sondern auch der Verkehr zwischen den britischen
Kaufleuten und denen des nördlichen Theils der Union vielfach gestört bleiben
wird.
Wichtiger als diese bedeutende Beeinträchtigung der beiderseitigen Handelsinter-
essen ist, daß die Fortsetzung des Krieges zwischen dem Norden und dein Süden
mit seiner nothwendigen Begleitung einer Sperrung der südlichen Häfen die Vor¬
enthaltung der jährlichen Baumwollenzufuhr nach England einschließt, und, was das
Uebel um Vieles größer macht, daß Niemand zu sagen weiß, wann die Hemmung
dieser Zufuhr ein Ende haben wird. Bis jetzt ist noch kein einziger Ballen der
Ernte von 1861 in England eingetroffen, und vor Aufhören der Blockade ist auf
keinen zu hoffen. England hat jetzt in runder Summe einen Vorrath von 700,000
Ballen. Wird von den Fabriken durchschnittlich nur zwei Drittel der gewöhnlichen
Zeit, also vier Tage in der Woche gearbeitet, so consumiren dieselben wöchentlich
etwa 30,000 Ballen, wozu noch etwa 8000 Ballen kommen mögen, welche wö¬
chentlich von England an andere Länder abgegeben werden. Wie viel Baumwolle
Aegypten, Indien und Südamerika in den nächsten sechs Monaten eins den eng¬
lischen Markt liefern können, läßt sich mit Genauigkeit nicht berechnen, doch schätzt
man den zu erwartenden Betrag auf höchstens 300,000 Ballen. Die Rechnung
für die Zukunft stellt sich demnach folgendermaßen:
Nach diesem Exempel würden um das Ende des Juli dieses Jahres so ziemlich
alle Fabriken Englands, Irlands und Schottlands, die sich mit der Verarbeitung
von Baumwolle beschäftigen, aus Mangel an Rohmaterial stillstehen müssen, alle
von denselben abhängigen Geschäfte und Gewerbe gleichermaßen zu feiern gezwungen
sein, und eine Bevölkerung, die verschieden geschützt wird, aber sicher nicht unter drei
Millionen Menschen umfaßt, hinsichtlich ihres Lebensunterhaltes auf ihre etwaigen
Ersparnisse, auf Borg und Almosen angewiesen sein. So die Theorie. In der
Praxis wird sich die Sache ein wenig anders gestalten, indem der ärmere Theil der
Fabrikanten wahrscheinlich bald ganz zu arbeiten aufhören und seine Arbeiter ent¬
lassen wirb, während andere zwei Tage die Woche arbeiten und ihre Leute für drei
befahlen, sehr große und ihre besondern Märkte versorgende Geschäfte endlich so
lange als möglich thätig sein und für das Rohmaterial jeden Preis bezahlen wer¬
den. Durchschnittlich und im Allgemeinen aber bleibt die Thatsache bestehen, daß
die Bevölkerung der großbritannischen Baumwollendistriete, wofern kein Krieg zwi-
schen England und Amerika ausbricht, im ersten Semester dieses JcchrcS nur vier
Tage der Woche und nach Ablauf des Juli gar nicht mehr arbeiten können wird,
daß sie bis dahin von zwei Dritteln ihres Lohns und dann von der Wohlthätig¬
keit Anderer zu leben versuchen muß. Die erste Periode wird Armuth, die zweite
Hunger heißen.
Das ist keine Uebertreibung, das sagt der sehr nüchterne, sehr verständige, rein
praktische „Economist," dem wir diese Betrachtungen in ihren Grundzügen entnehmen,
und dessen Korrespondenten von der kommenden Noth ein noch weit düstres Bild
entwerfen.
Dieser Zustand kann sehr lange Zeit dauern, und er wird auf alle Fälle so
lange dauern, bis die Nordstaaten der amerikanischen Union die Blockade der süd¬
lichen Häfen aufheben oder bis dieselbe so lange fortgesetzt worden ist und den
Engländern so sehr den Eindruck der Unaufhörlichkeit gemacht hat, daß sie sich in
ihre Folgen gefunden und dieselben durch Vorkehrungen zu genügendem Bezug
von Baumwolle aus anderen Ländern theilweise oder ganz ausgeglichen haben.
Letzteres würde sicher erst nach Verlauf mehrerer Jahre zu ermöglichen sein. Wir
aber haben nur das Jahr 1862 im Auge.
Daß die geschilderte schwere Kalamität droht, nicht blos England, sondern
auch großen Strichen in Deutschland, wenn auch in geringerm Grade droht, und
daß nichts als das Ende der amerikanischen Blockade sie abwenden kann, ist eine
ausgemachte unwidersprechliche Thatsache, die von der englischen Regierung sicher
in ihrer ganzen Bedeutung gewürdigt wird und auch von andern Regierungen ge¬
bührende Beachtung fordert. Aber werfen wir jetzt einen Blick auf die Verhältnisse
und Maßregeln, welche das Uebel in England und in gewissem Maß auch bei uns
zu mildern und zu verringern scheinen.
Hier springt erstens in die Augen, daß die Fabrikanten in. den betreffenden
Bezirken, obwohl ihre Verluste an Schwere nur den Leiden ihrer Arbeiter nachstehen
werden, doch niemals so wohl im Stande gewesen sind, sie auszuhalten. Der
Reichthum von Lancashire ist in den letzten beiden Jahren außerordentlich gewachsen,
und die Kaufleute von Liverpool haben in dem eben verflossenen Jahre unermeßliche
Gewinne erzielt. Die ^Fabrikanten von Manchester nicht geringere im Jahre 1860.
Das letztvcrgangne Jahr werden diese manchen Verlust zu beklagen gehabt haben,
aber dies würde unter allen Umständen der Fall gewesen sein; denn nicht der
amerikanische Krieg war' die Hauptursache davon, sondern der Schade kam von der
Ueberfüllung aller Märkte der Welt. Das durch jenen Krieg herbeigeführte Steigen
des Preises der Baumwolle nöthigte sie, nur zu thun, wozu sie das Nachlassen des
Absatzes ihrer Waaren auf jeden Fall, wenn auch in geringerer Ausdehnung, ge¬
zwungen haben würde. Andererseits verursackte dieses Steigen der Preise ein ent¬
sprechendes Anwachsen der Vorräthe daheim und der Verschiffung nach auswärts
und bewahrte eine Menge von Geschäften vor schweren Verlusten bei ihren mer-
cantilen Unternehmungen.
Im Ganzen darf man sich d?r Hoffnung hingeben, daß die Mehrzahl der Fa¬
brikanten, und sicher die bedeutendsten Arbeitgeber nicht nur im Stande sein werden,
sich selbst während der Krisis aufrecht zu erhalten, sondern auch freigebig — wie
dies unter englischen Geschäftsinhabern dieser Art stets Brauch gewesen ist —
beizutragen, daß die Noth ihrer Leute gemildert wird. Die ärmeren aller¬
dings und namentlich die, welche hauptsächlich mit erborgten Capitalien arbeiten
werden großentheils dem Bankerott nahe gebracht werden. Indeß ist dabei
nicht außer Acht zu lassen, daß die, welche verdienen, daß sie und ihre Ge-
schäfte fortbestehen, ihre Gläubiger ungewöhnlich befähigt und wahrscheinlich
auch ungewöhnlich geneigt finden -werden, sich großmüthig, geduldig und rück¬
sichtsvoll zu zeigen. Fabrikeigenthüm wird sich während der Krisis so schlecht ver¬
werthen lassen, daß es durchaus nicht in Versuchung führen kann, ohne Nachsicht
zu verfahren und sich damit bezahlt zu machen, und andererseits ist Geld jetzt so
billig und in solcher Masse vorhanden, daß pccuniäre Verpflichtungen leicht gestun¬
det werden können. Der Ueberfluß an Gelb, welcher zum Theil gerade aus den
traurigen Verhältnissen des englischen wie des allgemeinen Handels und Verkehrs
resultirt, wird viel thun, die Folgen derselben in der nächsten Zukunft zu
mildern.
Was die Arbeiterbevölkci ung anlangt, so ist nicht zu zweifeln, daß die eng¬
lische Regierung — d. h. England selbst — genöthigt sein wird, die örtlichen
Armenstcuern und die Privatwohlthätigkeit, die das Uebel nicht bewältigen können,
in ähnlicher Weise wie bei der Hungersnot!) in Irland duro Beiträge zu unter¬
stützen, und daß man nicht zögern wird, hier rasch helfend einzutreten. Drei Mil¬
lionen Menschen werden theils ganz und gar, theils in hohem Grade ihres täglichen
Brotes beraubt sein. Die Noth wird offenbar viel zu groß sein, als daß die
Mittel Einzelner oder die Geldkräfte der Gemeinden ihrer Herr werden könnten. Sie
kommt über die Leidenden nicht aus einen, localn, Fehler, aus einem, localen Zu¬
fall, sondern aus einer Thatsache, deren Grund außer Landes liegt, und aus einem
Entschluß. den die Nation gesaßt hat. Sie ist unmittelbar und beinahe ganz allein
auf den Willen Englands zurückzuführen, welcher sich den Vorschriften des Völker-
rechts unterwerfend die amerikanische Blockade achtet.
Ein Krieg mit der Union würde spätestens binnen vier Woche» Abhilfe und den
Bewohnern Lancashires verhültnißmäßigeS Wohlbefinden gebracht haben. Aber
dieser Krieg würde, abgesehen von andern großen Uebeln, abgesehen von der Stö¬
rung der Gewerbszweige, die keine Baumwolle verarbeiten und von der Bedrohung
der Zukunft Englands durch Vcrfcindung mit den amerikanischen Nordstaaten, ohne
allen Zweifel dem britischen Staatsschatz jed-S Jahr seiner Dauer zwischen vierzig und
fünfzig Millionen Pfund Sterling gekostet haben. Die Arbeiter von Lancashire und
Cheshire werden leiden, damit die Fabrikanten und Arbeiter anderer Districte nicht
Schaden haben, damit die Rheder und Kaufleute der Küstenstädte ihre Geschäfte
fortsetzen können, damit England sich nicht ohne dringende Ursache zu seinen andern
Gegnern einen Feind gesellt, der nur zu geneigt sein würde, ihm etwa erlittene
Beschädigung bei der ersten Gelegenheit heimzuzahlen, und der dazu über kurz oder
lang die Macht haben würde. Es wird nur ein billiges Verlangen sein, daß man
diesen Theil des Volkes entschädigt, daß man den Gewinn, den man macht, mit
ihm theilt.
England ist sehr wohl im Stande und sehr stark verpflichtet. wenigstens einen
beträchtlichen Theil der Summe, die eS durch Unterlassung des Kriegs erspart, den
Hunger leidenden Arbeitern der Baumwollendistricte zufließen zu lassen, welche Hun-
gar leiden, weil der Staat, dem sie angehören, es in seinem Interesse fand, die
vierzig oder fünfzig Millionen zu behalten, statt sie in einem Kriege zu verwenden.
Es wird wohlfeiler, weiser und einer civilisirten Nation würdiger sein, Lancashire
umsonst mit Nahrung zu versehen, wenn es noththut, als sich in einen Krieg ge¬
stürzt zu haben, um Lancashire mit Baumwolle zu versorgen, mit der es sich
Nahrung kaufe.
Werfen wir einen Blick' auf die Uebersicht der britischen Staatseinnahmen, so
sehen wir ein unverhofft günstiges Ergebniß. In der That, es wäre einem patrio>
dischen Engländer zu verzeihe», wenn er sich im gegenwärtigen 'Augenblick ein wenig
finanzieller Begeisterung hingäbe. Während Nußland sich in der schwersten Geldver¬
legenheit windet, ohne herauskommen zu können, während man soeben in Frank¬
reich das Bekenntniß abgelegt hat, daß seine Ausgaben die Einnahmen jährlich um
viele Millionen übersteigen, während Oestreich sich in gleicher Lage befindet und
schwerlich noch Aussicht hat, von Jemand geliehen zu bekommen, während die Ver¬
einigten Staaten nicht entfernt mehr das Gleichgewicht zwischen dem Ertrag ihrer
Steuern und ihren Ausgaben herzustellen vermögen und sich hauptsächlich auf An¬
leihen verlassen müssen, die ebenso ungeheuer an Betrag als unsicher zu erlangen sind,
existirt nicht der leiseste Zweifel, daß England viel größere Summen als seine jetzige
gewaltige Besteuerung aufbringen kann, daß es die Macht hat, im Nothfall jede
irgend erforderliche Anzahl von Millionen Pfunden auszuborgen, daß eS mit Leich¬
tigkeit für alle seine gewöhnlichen Bedürfnisse sorgen kann.
So kann das englische Volk auch mit einer gewissen Ruhe der kommenden Krisis
entgegensehen. Es liegt auf der Hand, daß mit der, Aussicht auf Fortdauer des
amerikanischen Bürgerkriegs der englische Schatzkanzler in seinem Voranschlag der
Einkünfte der nächsten Finanzperiode sehr mäßig zu Werke zu gehen hat. Die
Zölle und die Accise werden in dieser Periode weit weniger einbringen als in den letzten
Jahren. Eine verarmte und hungernde Bevölkerung in den Baumwollengrafschastcn
wird nur wenig Tabak, Zucker, Thee und Bier consumiren — und wie man
hoffen sollte, auch weniger spirituösen als gewöhnlich. Manche andere Hilfsquelle
wird weniger reichlich fließen, als bisher. Indeß wird Einiges durch Anderes
theilweise ausgeglichen werden, und dahin gehört die wohlbegründete Erwartung,
daß, wenn Lancashire, Cheshire und Lanärkshire arbeit- und brotlos sein werden,
die Gewerbe, welche in Norkshirc und Gloucestershire floriren, um so lebhafter be¬
schäftigt sein dürften. Wenn die Baumwolle theuer und selten bleibt, so werden
Leinen- und Wollenwaaren in um so größerer Ausdehnung gekauft und verkauft
werden. Die Importeure, welche sich mit der Einfuhr von Flachs aus Nußland
oder von Wolle aus Deutschland und Australien besassen, werden schöne Gewinne
erzielen.
Aehnlich werden sich die Dinge bei uns gestalten. Dennoch aber und bei Be¬
rücksichtigung aller mildernden Umstände dürfen wir uns nicht verhehlen, daß das
neue Jahr in den Annalen des Handels und Verkehrs der gesammten civilisirten
Welt als ein Unglücksjahr zu verzeichnen und für viele, Kapitalisten sowohl als
Gewerbetreibende, in gewissem Maaß auch für andere Klassen, eine schwere Beeinträch¬
tigung ihres Wohlstandes mit sich bringen wird. Die ungeheure Bedeutung Ame¬
rikas für die östliche Welt ist damit aufs Neue bewiesen.
bereits größer und die Krisis weit näher ist, als hier angegeben wird. Die obige
Berechnung der Ausfuhr roher Baumwolle von England nach andern Ländern war
bis gegen das Ende des verflvssnen Jahres richtig. Aber in den letzten Wochen
hat die Verschiffung dieses Artikels nach dem Norden von Amerika außerordentlich
zugenommen Bostoner und neuuorker Häuser haben gewaltige Einkäufe in Liver¬
pool gemacht und einerseits die Preise zu einer für viele englische Spinner uner¬
schwinglichen Hohe hinaufgetrieben, andererseits den Vorrath beträchtlich geschmälert.
Man zahlt in Liverpool bereits 12 Pence für das Pfund roher Baumwolle, in den
ersten neun Tagen des neuen Jahres sind gegen 15.000 Ballen nach Neuyork und
gegen 5000 nach Boston abgegangen und der Druck auf die Fabriken ist bereits
so groß geworden, daß von den 46,700 Arbeitern Manchesters zu Anfang des Ja¬
nuar 12.500 nur einige Tage der Woche, 6.500 aber gar nicht mehr beschäftigt
waren.
Jedenfalls wird sich die amerikanische Nachfrage, seit der Streit zwischen Eng¬
land und der Union beigelegt ist. noch steigern. Der Schutzzvlltarif Amerikas giebt
dessen Fabrikanten die Herrschaft über dessen Märkte. Die großen Bestellungen der
Regierung gleichen den Verlust der südlichen Kunden für die nächste Zeit aus. Die
Fabriken von Massachusetts und Neuyork arbeiten die volle Woche und unter so ein¬
träglichen Bedingungen, daß sie 18 Pence für das Pfund Baumwolle zahlen können,
das in Liverpool nur 12 kostet. Sie brauchen wöchentlich 12,000 Ballen und
zwar meist amerikanische Baumwolle, von der in England nur noch 250,000 Ballen
übrig sind, und die sie nur von England beziehen können. Wenn daher in obigem
Artikel angenommen worden ist, daß der in den englischen Magazinen aufgestapelte
Vorrath bei einer wöchentlichen Ausfuhr von 8000 Ballen bis in den Juli reichend
werde, so ist davon mindestens eine gleiche Ausfuhr nach Amerika abzurechnen, und
wir haben dann zu befürchten, daß der Vorrath nicht erst in der Mitte des Jahres,
sondern bereits im Mai erschöpft sein wird. Viele Fabriken aber werden durch die
täglich steigenden Preise, welche die rohe Baumwolle so theuer machen wie die ver.
arbeitete, schon vor dieser Zeit zum Stillstand gebracht sein.
Ein sehr verdienstliches und dankenswerthes Unternehmen, das mit der Zeit
ein werthvolles Repertorium für alle zur Politik in Beziehung Stehenden, namentlich
für Volksvertreter und Journalisten bilden wird. Besonders lobenswert!? ist, daß
die Actenstücke rasch geliefert werden, so daß im 5. Heft (ausgegeben am 29. Nov.)
schon die wichtigste» Documente enthalten sind, welche im October und in der ersten
Woche des November in die Oeffentlichkeit gelangten.
Mit der geistigen Hinterlassenschaft meint der Verfasser die Briefe Peters. Die
Resultate, die 'er daraus gewinnt, sind sehr günstig, in einigen Stücken offenbar
zu günstig für den Gegenstand seiner Untersuchung. Peter ist ihm nach denselben
ein guter Sohn, Bruder und Vater, selten unhöflich, oft hart, ein Freund vom
Poculiren, ein Beförderer der Bildung unter Laien und Geistlichen, immer geneigt,
sich dienstlich unterzuordnen, ein Liebhaber der Ruhe und Einfachheit, ehrlich, pa¬
triotisch, ein schonender Eroberer, ein milder väterlicher Feldherr, tolerant und
rücksichtsvoll, endlich ein guter Gatte. Von Schatten fast keine Spur.
Wird eine Galerie von photographischen Porträts bringen, denen kurze Lebens-
abrissc der Dichter beigegeben sind. Die erste Lieferung enthält das Bild Uhland'S.
das nach der Natur ausgenommen und recht wohl ausgeführt ist. Die zweite Lie¬
ferung, die noch im Lauf des Jahres 186! erscheinen sollte, wird uns Justinus
Kerncr bieten.
Eine in den meisten Partien, namentlich auch in den lyrischen, außerordentlich
wohlgelungene Uebertragung des ersten Theiles der Goethescher Tragödie in sehr
eleganter Ausstattung.
Ausgewählte Stücke englischer Dramatiker der neuesten Zeit mit Einleitungen
und biographischen Mittheilungen von Lewcs, dem Biographen Goethes. Der
erste Band enthält: „1Ke I^<Z? ok I^vns," „News?" und „Richelieu« von Bul-
wer. der zweite „VirZinius/IIis IIunctilzg.<:K" und „Ine I^ope-LIiase" von
Sheridan Knowles, endlich liegencl ok l^Iorenes" von Leigh Hunt ; der zweite
bringt drei Stücke von Douglas Jerrold: „Kuodles ok tke vaz?," „Hie l?risonei-
ok War" und /Jus Reue,-„^too" von Talfourd, „l.orator ^.ssurÄnee" von
Bourcieault, „l^ortunio ana dis sevsn gikteä servants" von Planche, „Iwiee Kil-
lsä" von Oxenford, und „NasKs aus I'aees" von Tom Taylor und Charles
Reate.
Für den Schulgebraucli bestimmt, für den indeß die Anmerkungen etwas reich¬
licher fein könnten. Ro. 5 enthält die Lasterschule von Sheridan, No. K den Lear
Shakespeare's.
Eine Zusammenstellung von Reiseberichten des Verfassers aus sehr verschiedner
Zeit, die im ersten Theil vorzüglich Land und Volk von Serbien, Kroatien,
Dalmatien, Montenegro, sowie die Städte Triest und Fiume schildert, im zweiten
sich zunächst mit Ungarn' und Siebenbürgen, dann mit Bulgarien beschäftigt.
Vieles ist lebendig und anschaulich beschrieben, im Ganzen aber sind die Gegen¬
stände etwas bunt durcheinander gewürfelt, auch ist Manches bereits veraltet.
Ueber den Werth der Kugler'schen Schriften ausführlich zu sprechen, ist über-
flüssig. Es genüge daher, daran zu erinnern, daß die vorliegende das Hauptwerk
des verewigten Kunsthistorikers ist, und daß die neue Auflage in Professor Lübke
den würdigsten Vervollfländigcr gefunden hat. Der erste Band hat nur geringe Ab¬
änderung erfahren, da fast allein in Betreff einiger Perioden der Entwickelung der
Künste im Mtttelalter die bessernde Hand anzulegen war. Dagegen haben neuere
Forschungen in Bezug auf die moderne Kunst, vom fünfzehnten Jahrhundert bis ^
zur Gegenwart, Ergebnisse geliefert, welche zu beträchtlicheren Umgestaltungen und
Zusätzen in den betreffenden Kapiteln aufforderten. Der Bearbeiter hat diese Aen¬
derungen und Nachträge mit bekannter Sachkunde und Gewissenhaftigkeit besorgt,
und so nimmt das vortreffliche Buch in dieser neuen Gestalt noch immer den ersten
Rang unter allen ähnlichen Arbeiten der Wissenschaft ein. Die bcigcgebnen Holz-
schnitte entsprechen dem Werthe des Textes sowie dem Ruf der Verlagshandlung
und dienen wesentlich zur Erläuterung des vom Verfasser und Bearbeiter Mitge¬
theilten.
Der Verfasser hat sich das obengenannte Kuglcrsche Werk für die Anordnung
seines Materials zum Muster genommen, indeß mit einigen durch die Natur des
Gegenstandes gebotenen Ausnahmen. Er beginnt mit den Aeußerungen des musika¬
lischen Sinnes bei den Naturvölkern, geht hiernach zu der Musik in Ostasien, China
und Indien, dann zu der arabischen und persischen über, worauf ein zweites Buch
die Musik der antiken Welt und zwar zunächst die der Aegypter, dann die der Ba-
bylonier. Phönizier. Phrygcr und Hebräer betrachtet. Ein drittes behandelt sodann
die Musik der classischen Völker des Alterthums, und zwar in sehr ausführlicher
Weise. So hat das Werk in seinen ersten Abschnitten mehr einen cthnograp.bischen,
als einen historischen Charakter, in dem nächstfolgenden ist es mehr allgemeine Kul¬
turgeschichte, und erst mit Betrachtung der Griechen wird es wirkliche Musikgeschichte.
Indeß ließ sich diese Vertheilung des Stoffes nicht vermeiden. Denn einerseits kann
von einer eigentlichen Musikgeschichte der oft- und westasiatischen Nationen,
d. h. von einem Bericht über die E new ick el ung des Tonsinnes unter denselben im
Detail nicht wohl die Rede sein, andrerseits aber tritt bei der hier getroffenen An¬
ordnung der Gegensatz zwischen asiatischer und europäischer Musik mit besondrer
Deutlichkeit hervor. Was nun die Ausführung dieses Plans betrifft, so ist an ihr.
zunächst zu loben, daß sie auf gründlich, r Kenntniß der Vorgänger und Mitstrcben»
den auf diesem Gebiet und sehr beachtenswerthen selbständigem Studium der Quel¬
len beruht und von einer tüchtigen Bildung nicht blos im Bereich der Musik ge-
getragen wird. Ferner ist die geschickte Sichtung und Gruppirung des Stoffes an¬
zuerkennen und nicht minder der Scharfsinn, der die schwierigsten und dunkelsten
Partien dieser Seite menschlichen Empfindens und Schaffens aufzuhellen bestrebt ist
und sie, verbunden mit einer bedeutenden Gabe der Daistelsung, in vielen Punkten
dem Verständniß wirklich aufhellt. Endlich und nicht am wenigsten erfreulich be¬
rührt die liebevolle und warme Versenkung des Verfassers in den antiken Geist, die
dem sonst so verdienstvollen bedeutendsten Vorgänger desselben, Forkel, so gut wie
ganz abgeht. Das Material, das der Verfasser zusammengetragen hat, ist massen¬
haft und wird dem Musikgelchrtcn (der Laie wird Vieles überschlagen müssen) um
so willkommner sein, als die Fülle der beigczoguen Beispiele in Noten in den Text
verwebt, nicht als Anhang beigefügt ist. Sehr merkwürdig sind die Proben in¬
discher Musik, die zwar wie alle orientalische Tonkunst eine wilde Blüthe, aber nichts
weniger als ohne Sinn für Wohlklang und weder so barock häßlich und phantasie¬
los wie die der Chinesen, noch so wüst und wild wie die der Araber ist, ja —
was bei unsrer arischen Abstammung nicht zu verwundern ist — in einigen der
mitgetheilten Lieder sehr lebhast an italienische, schottische und deutsche Weisen er¬
innert. Nicht weniger interessant sind die Nvtenbeigaben, die als Beispiele ara¬
bischer Musik dienen, und wir empfehlen den Lesern, sich diese sowie die übrigen
Proben zu besserer Verherrlichung vorspielen zu lassen — sie werden ihn tiefer in
die eigenthümliche Stimmung des Morgenlandes versenken, als manches Bild. Un¬
gemein geistvoll und lebendig sind die Schilderungen, die der Verfasser sodann von
der Musik im Kulturleben der westasiatischen Völker und der Aegypter gibt, indeß
möchte hier doch Manches, was Hypothese ist und bleiben wird, auch mehr als ge¬
schehen, in hypothetischer Form auszudrücken gewesen sein. Sehr unterrichtend und
reich an feinen Bemerkungen über das Verhältniß der Tonkunst zu andern Er-
scheinungen althellenischer Cultur ist endlich die bis in das kleinste Detail gehende
Darstellung der Geschichte der Musik bei den Griechen, der politischen und ethischen
Bedeutung derselben, der Mufiklchrc nach Melodie und Rhythmus, To», Intervalle,
System und Klanggeschlecht (ein Kapitel, das indeß nur dem philologisch und mu¬
sikalisch zugleich Gebildeten zugänglich ist) n, s. w. Das Ganze dieses letzten Haupt¬
abschnitts ist die erste wohlgeordnete und anschauliche Schilderung des organischen
Wachsthums der griechischen Tonkunst und der Wechselwirkung zwischen derselben
und dem Leben, und wird, als solche Allen, welchen es um volles Verständniß die¬
ses Lebens und namentlich der bildenden Kunst und der Dichtung innerhalb des¬
selben zu thun ist, hiermit bestens empfohlen.
'Das Folgende ist die Aufzeichnung eines deutschen Landwirths in Posen,
welche derselbe kurz nach den dargestellten Ereignissen niedergeschrieben hat.
Der Redaction ist von den Verwandten des, kurz darauf verstorbenen, pa¬
triotischen Mannes nicht gestattet worden, den Namen des Schreibers zu
nennen. Er wird Vielen in Posen kein Geheimniß sein. Für die Echtheit
der folgenden Mittheilung bürgt die Redaction.*)
„Als im Februar 1848 in Paris die Revolution losbrach, waren die
Polen in unserm Kreise von Allem unterrichtet, und acht Tage bevor die
Bewegung in Berlin entstand, konnten wir mit Gewißheit voraussehen,
was später das Land so in Schrecken setzte. Schon im Februar bil¬
deten sich im Großherzogthum Sicherheitsausschüsse, und die Behörden
kamen immer mehr außer Kraft. Um wenigstens zu erfahren, was vorging,
trat ich in das Sicherheitscomit6 unsers Kreises, brachte bald die jungen
polnischen Hitzköpfe heraus und zog verständige Leute hinein. Indeß was
auch das Comitö beschloß, die jungen Polen gingen unaufhaltsam weiter;
vor uns war immer nur von einem Landsturme zum Schutz gegen Nußland
die Rede, und ich suchte ihnen eine solche Maßregel als lächerlich darzustellen.
Eines Tages aber kamen vom Posener Conn6 „Befehle für Cavalericchess;"
in diesen stand: und wenn die preußische Cavalerie kommt, so reitet sie zu
Boden. Da sprang ich empört auf, zerriß die Wische, warf sie in das Ka¬
min und erklärte mein Austreten, indem ich sagte, daß ich Preuße mit Hand
und Herz sei und sie sämmtlich in mir ihren größten Feind finden würden.
Auf dieses Losbrechen ging die Versammlung auseinander; die älteren Herren
gaben mir ganz Recht; die jünger« sahen verdutzt aus. Ich aber war wü¬
thend und sagte mich von der ganzen Gesellschaft los. Es wurden mehrfache
Versuche gemacht, meinen Entschluß zu ändern, aber vergeblich.
So stand es; da kommt eines Tages der Mieroslawsky auf meinen
Ho,f gesprengt und ruft: „Die Russen kommen! Die Russen kommen!"
Er hatte ein Rappier wie einen Bratspieß an der Seite und zwei schlechte
Pistolen im Gürtel. „Aber mit diesen Instrumenten gegen russische Batterien
zu fechten, bist du denn verrückt geworden?" So schwatzte ich mit ihm, in¬
dem er sein Pferd am Zügel hielt. Wenige Augenblicke darauf kam der
zweite, der dritte, der vierte Pole hereingeritten, Mieroslawski saß wieder
auf seine Mähre auf, so jagten sie in die Stadt. Ich aber sagte ihnen beim
Abschiede: Ich merke, das ist der Ruf zum Aufruhr gegen Preußen; macht
eure Dummheiten, wo ihr wollt, verschont Ser—, wenn wir Freunde blei¬
ben sollen, hier gebe ich es nicht zu.*)
Am Abend des Tages war die ganze polnische Bevölkerung der Umge¬
gend unter Waffen, mit polnischen Cocarden und rothen Fahnen. Der Markt
der Stadt war voll Leute, viele Deutsche trugen die Cocarde aus Angst vor
Kopfschmerzen, ich habe mich nicht erniedrigt. Am nächsten Morgen ging
ich ohne Cocarde auf den Markt; ich war bereit, dem die Zähne einzuschla¬
gen, der mich insultirt hätte; ich sprach einige Worte zu Ehren unseres Kö¬
nigs und brachte ihm ein Hoch aus, Alles stimmte-ein. Kaum aber war
ich nach Hause gekommen, so hörte ich auch schon den Lärmen aus der
Stadt. Man hatte die preußischen Adler abgerissen und beschimpft. Jeder
Deutsche war voll Zorn und Schrecken, in mir kochte daS Blut. Da kamen
einige deutsche Bürger und meldeten mir: Jetzt ist' ausgerufen worden, alle
Deutsche sollen die Waffen aus die Hauptwache bringen, alle Ein- und Aus-
gange der Stadt sind besetzt.
Da schien es mir die höchste Zeit zu sein. Gewiß wären wir einzeln
in der Stadt überfallen und uns die Waffen abgenommen worden. Ich
schickte heimlich in die Stadt, die beherzter Deutschen sollten sich mit ihren
Büchsen sofort bei mir sammeln; meine Vorwerke ließ ich durch reitende Boten
benachrichtigen, ebenso wie die deutschen Bauergemeinden. Als die Boten ab¬
geritten waren, trat ich an meinen Wasfcnschrank, hing die Jagdtasche, um,
untersuchte uoch einmal die Pistolen, steckte den Nickfängcr zu mir und zog
von meiner Doppelflinte das Schrot und setzte ein Paar Kugeln in die Läuse.
Da kam meine Frau hereingestürzt, das Kleinste auf dem Arm. die andern
Kinder hingen weinend an den Kleidern. Sie warfen sich vor mir nieder,
die Kinder umfaßten mir die Knie und baten mich, von meinem Vorhaben
abzustehen. Es war ein trauriger Moment, ich küßte sie, bat sie, nicht auf
den Hof zu kommen, das Haus zu verriegeln, und empfahl sie dem Schutz
des allmächtigen Gottes. Noch einmal küßte ich jedes Kind, und dann mit
einem Sprunge zur Thür hinaus auf die Rampe. Mit starker Stimme rief
ich dreimal nach meinen Leuten, aus allen Thüren stürzten sie heraus, bald war
Alles mit Sensen. Gabeln und Aexten bewaffnet, viele >auch mit Flinten.
Ans der Stadt waren zwölf mit Büchsen gekommen. Es war eine kleine
Schaar. aber ich fühlte mich muthig. Eben hatte ich meine Truppe geord-
net. als ein Abgesandter aus der Stadt mit Fricdensanträgen vom polnischen
General eintraf; ich aber ließ ihm zurück sagen, er möge sich sofort mit seiner
Mannschaft aus der Stadt machen, sonst würde ich angreifen. Hierauf er¬
hielt ich eine fürchterliche Kriegserklärung, unterschrieben vom General Ga-
rodschinsky; ich ließ antreten, jetzt waren es wohl 20 Schützen und 40
mit Knütteln u. s. w. Ich formirte dre, Züge, den Schützenzug nahm ich
vor, ich aber marschirte rechts seitwärts vor dem Zuge, mein lautschallendes
Kommando kam aus muthiger Brust, die Leute folgten mir mit festem Schritt.
An der Marktccke stand ein Doppelposten von Sensenmännern, sie waren wie
versteinert. Ich commandirte ruhig: Rechts! Schwenkt! Marsch! und dabei
gab ich dem Posten eine Ohrfeige, daß er sammt seinem klirrenden Spieß
über den Eckstein auf das Pflaster fiel. Ich formirte die Front, ging im
Sturmschritt vor und überrumpelte den Feind, der nicht Zeit gewann, sich
auf dem Markt zu ordnen. Vier Schüsse wurden aus den Fenstern auf uns gerich¬
tet, alle fehlten, wir riefen Hurrah! und die Insurgenten flohen in wilder Flucht
und warfen die Waffen fort; einige erhielten noch tüchtige Hiebe. In diesem
Gemenge schoß ein Schmidt, dem ich immer Gutes gethan, auf zwei Schritte
nach mir; der Schuß ging mir an Schulter und Kopf vorbei, ich erkannte
das blasse zitternde Gesicht und wandte mich ab mit der Frage: Wer hat
hier geschossen? Sonst hätten ihn meine Leute zerrissen.
Gleich darauf hörte ich Pferdegctrcippel und glaubte schon, es wären die
Polnischen Edelleute mitneuem Zuzüge, da erkannte ich die Stimme meines Inspec-
tors von dem Vorwerke. desHennv. Kleist. Er hatteAlles zu Pferde gesetzt und kam
ander Spitze von 40 Reitern die Straße nach dem Markt mit dem Ruf: Dalli
elopees (Vorwärts. Ihr Jungen) in hausender Carriere heran. Alles vor
sich niederwerfend. Ich wollte gerade das Haus stürmen, in welchem die
polnische Generalität sich verrammelt hatte, indeß war auch schon Kleist vom
PWde gesprungen und warf sich mit herrlicher Kraft gegen die Thür. Sie
sprang auf. und jetzt begann ein neuer Kampf auf dem dunklen Flur. Einige
Schüsse sielen, ohne zu verwunden, nur einige schlimme Säbelhiebe kamen vor.
Ein Herr v. Wclowaski hatte mir von hinten Eins mit dem Säbel zugedacht,
aber einer meiner Bravsten, der Tischler Hampel, sing den Säbel mit der
offnen Hand ab. drehte ihn dem Burschen aus der Hand und schlug ihm mit
dem Gefäß den Kopf braun und blau. Es waren acht Personen, die wir
hier festnahmen. Immer noch fehlte mir der General. Nach langem Suchen
fanden wir ihn in einem geheimen Versteck, das nicht sehr ehrenvoll war. Durch
viele schlechte Witze wurde ihm das Leben gerettet. Unter den Gefangenen
war auch ein Herr v. Ludowiky. der vier Jahre bei mir in der Wirthschaft
gewesen war und den ich immer lieb gehabt hatte; das war ein eignes
Wiedersehn. Den Gefangenen ließ ich zu Zweien ein Zimmer anweisen und
stellte einen Doppelposten vor die geschlossene Thür, sonst ließ ich ihnen nichts
abgehen. Wir hatten über 200 gerade gerichtete Sensen, 30 Gewehre. 1
Fahne und 1 Trommel erobert. Jetzt kamen auch meine Leute von den an¬
dern Vorwerken, auch mein Amtmann Lachmann kam. es sing an zu dunkeln
und ich ließ den Markt erleuchten. Jede Gemeinde ward mit Hurrah Md
Jubel empfangen. Ich ordnete die Haufen, bestimmte die Führer und ließ
Neitervedetten ausstellen, dann ordnete ich den Patrouillendienst und sorgte
für Proviant, es mußte Holz herangeschafft werden und Stroh zum Lager, die
Bivouacfeuer wurden auf dem Markte angezündet und wir erwärmten uns daran.
Alles schlief. Ich konnte nicht ruhen. Ich saß auf einem Stuhl
am Brunnen, neben mir lag der Tambour; ich dachte jeden Augenblick an
einen Ueberfall. Unterdeß gingen die Rapporte regelmäßig ein, es waren
mehrere polnische Staffelten angehalten worden, nach ihren Briefen war ein
Angriff für den nächsten Tag zu besorgen. Unterdeß war mein Corps bis
auf 80 Mann Cavalerie, 80 Büchsenschützen und fast 1000 Mann mit Sensen
und Gabeln angewachsen. Mit Sonnenaufgang ließ ich zur Reveille schla¬
gen, Alles mußte antreten, und ich sprach einige Worte, worin ich die Leute
aufforderte, Gott für unsern Sieg zu danken und seinen Beistand sür die ge¬
rechte Sache zu erflehen. Aus das Commando: Mützen ab, zum Gebet!
stand Alles lautlos. Darauf ließ ick zugweise Vorbeimarschiren, theilte die
Wachen von Neuem ab. Niemand durste ohne Erlaubniß aus seiner Abthei¬
lung treten, alle Schenken mußten geschlossen bleiben, die Trunkenheit zu
verhindern. Die Juden aber mußten ein Faß mit Kaffee und einen Wagen
mit Semmeln für die kleine Armee liefern. Ich selbst bewegte mich fort¬
während unter der Menge, um die Ordnung zu erhalten. Die beiden Schlin¬
gel, welche die preußischen Wappen heruntergerissen hatten, ließ ich arretiren, die
Schützen mußten in Parade aufmarschiren, und ich verkündete ihnen, daß die beiden
Kerls die Wappen sofort wieder anschlagen sollten, widrigenfalls sie erschossen
würden. Zwanzig Schützen marschirten mit ihnen ab, ohne daß sie gewagt
Hütten, zu reden. Die Wappen waren bekränzt, ich commandirte: Achtung!
Präsentirt das Gewehr, der Tambour wirbelte, und ich brachte unserm Kö¬
nig ein Hoch aus. So gingen wir von der Post zum StcueraMt, dann zum
Bürgermeister, damit waren die Behörden wieder eingesetzt, die ganz außer
Kraft gesetzt waren. Die beiden Schurken ließ ich dann binden und schickte
sie nach T— ans Gericht.
Unterdeß aber hatten sich in meine Truppe eine Menge Verdächtige einge¬
schlichen. Einmal wurde aus der zweiten Reihe mit einer Pistole geschossen,
die überladene Waffe traf nicht, sprang aber und verwundete einen Schützen
am Fuß. daß er fortgetragen werden mußte. Mehrmals bemerkten wir. daß
in verdächtigen Häusern.Dachziegel aufgehoben wurden und Flintenläufe sich
herunterrichtcten. Ich ließ zwei Häuser ganz durchsuchen und alle Waffen
darin fortnehmen, und erklärte laut, ich würde beim nächsten Fall dieser Art
das Haus der Erde gleich machen lassen. Da hörten die Versuche auf. Alles
Mögliche wurde angewandt, mich von meinem Posten zu bringen und ich
mußte alle Ruhe zusammennehmen, um die aufgeregten Gemüther mit Be¬
sonnenheit zu leiten. Die Polen sollten meine Vorwerke abgebrannt haben,
sie sollten auf den Dörfern plündern, auf dem Amte meine Frau und Kinder
mißhandeln. Ich sandte Patrouillen ab und einige sichere Schützen in meine
Wohnung unter dem Vorwande, sie sollten dort Patronen machen. Nach
Thorn, nach Bromberg und Gnesen hatte ich um militärische Hilfe geschrie¬
ben; die Bitte blieb erfolglos, und ich mußte überlegen, wie ich mit diesem
Haufen mich länger würde halten können. Denn die Meuterei riß ein, es
war sicher, daß sie stündlich zunehmen würde, und ich mußte bedenken, daß
bei längerem Zusammensein einer solchen Menge die strengste Disciplin nö-
thig sein würde.. So saß ich auf einer Erhöhung vor einem Hause am
Markt, da tritt ein polnischer Pächter mit zwei aufgezogenen Reiterpistolen,
in jeder Hand eine, auf mich zu; erschrocken weicht die Menge, ich stehe aus
und gehe ihm entgegen, „aber Bratzki bist du toll, du willst nach mir
schießen?" Jetzt trat er zurück an ein Haus, ich hörte viele Hähne hinter
mir knacken, ich sah mich um, die Schützen hatten auf den Unglücklichen an¬
gelegt. Ich riß mir den Pelz auf und rief: „Wer schießen will, trifft mich,
mit meinem Leben werde ich ihn schützen." So trat ich rückwärts an ihn,
als ich ihn erreichen konnte, sprangich herum und ergriff mit einem Ruck seine Arme
und entriß ihm die Pistolen, er sank an mir nieder und bat um sein Leben.
„Nicht allein das Leben, sondern auch deine Waffen sollst du haben! jetzt
aber geh nach Hause und schlafe aus." Darauf aber erklärte ich laut, beim
nächsten Fall würde ich sofort erschießen lassen, ich hatte es wohl erwogen
und hätte es ruhig ausgeführt.
Unterdeß bekam ich von dem General Hirschfeld den Bescheid. 14 Tage
möchte ich mich halten, dann komme er von seinem Zuge zurück. Das war
mit dieser Menschenmasse nicht möglich, schon deshalb nicht, weil der Pro¬
viant nicht beschafft werden konnte. Daher faßte ich meinen Entschluß, ich
übergab die Bewachung der Stadt der Schützengilde, löste das Heer der Sen¬
senmänner aus, stellte Cavalerievedetten bis an die Vorwerke, richtete Alarm¬
häuser für die Nacht ein und veranlaßte die Dorfgemeinden, eben solche
Häuser einzurichten und sich im steten Rapport mit mir zu halten. Jetzt eilte
ich nach Hause zu Weib und Kind. Meine Frau weinte herzlich vor Freude,
und die Jungen riefen: „Wir haben den Vater commandiren hören, da
hat der Tambour getrommelt; ein andermal gehen wir mit. Als sie Hurrah
gerufen haben, ist die Mutter niedergefallen, sie hat geberet. wir alle mit."
Es war eine schöne Ruhe, aber sie dauerte nicht lange, ich mußte sogleich
wieder zu Pferde, die Posten zu revidiren. Und von da an ging es in
ewiger Aufregung Tag für Tag. , Am Tage die anstrengenden Feldarbeiten,
am Abend auf die Wache oder in die Alarmhäuscr, was auch nicht besser
war. Auf dem Tisch vor dem Sopha lagen meine Waffen und die Muni¬
tion; ich selbst habe des Nachts immer nur auf dem Sopha angekleidet ge¬
legen, um immer bei der Hand zu sein. Kleist revidirte vor Mitternacht, ich
oder Lachmann des Morgens; wir mußten jeden Augenblick auf eine Blut¬
hochzeit vorbereitet sein, und alle Energie gehörte dazu, unsere Leute bei
Muth und Spannung zu erhalten. Wie leicht ist es. disciplinirte Truppen
zu führen, und wie schwer, einen rohen Haufen zu einem Meinuugskampfe
zu begeistern. Ich wandte Alles an, Truppen hierher zu bekommen, es war
immer vergebens. Viele einzeln wohnende Bauern und Pächter flüchteten all¬
abendlich unter mein Dach, das ihnen noch am. sichersten erschien, alle Stu¬
ben waren gefüllt, es wurde recht einfach gekocht, damit doch eine größere
Anzahl erhalten konnte. Viele brachten sich auch mit. Das Haus war ganz
voll Kinder. Wenn die Gefahr groß war. wir viele Fanale brennen sahen
und in der Ferne geschossen wurde, durften die Kinder nicht ausgezogen wer¬
den. Es war eine ewige entsetzliche Aufregung. Was hätte ich schon des
moralischen Eindrucks wegen darum gegeben, wenn eine Truppenabtheilung
hierher gekommen wäre. Aber alle Staffetten waren vergebens, immer sollten
wir noch warten. Endlich kamen wenigstens Proclamationen von unserer Re¬
gierung. Das war doch etwas, es war doch ein Lebenszeichen.
An einem Morgen, da Alles bei der Arbeit war. kam der Reiterposten
von Slarziz angesprengt und meldete, daß ein Trupp Sensenmänner von dort
im Anmärsche sei. etwa 40 zu Pferde, 50 mit Flinten und 130 mit Sensen.
Mein Rechnungsführer wurde blaß wie Kalk, schon seine Angst gab mir die
Ruhe wieder, und mit der größten Ordnung wurden die Eilboten befördert,
um etwa 300 Mann und 80 Pferde zu sammeln und ihnen entgegen zu ge¬
hen. Jetzt kamen Stunden banger Erwartung; ich trat vor das Thor, da
sah ich schon in der Ferne den ersten polnischen Haufen heranziehen, noch
war ich ganz allein. Aber schon kamen die Getreuen aus der Stadt und
den nächsten Dörfern herangezogen, und bevor die Polen herankamen, hatte
ich einen bewaffneten Haufen um mich versammelt. Es war Markttag, eine
Menge polnischer Bauern in der Stadt. Der polnische Trupp durfte also
nicht in die Stadt gelassen werden. Kleist, der so eben mit einigen Reitern
ankam, wollte sofort den Feind angreifen, indeß war das Terrain zu un-
günstig, auch die Pferde durch den scharfen Ritt noch zu sehr auseinander.
Ich ließ es daher nicht zu. Die Hosthore hatte ich mit Schlempckufc-n und
Kartosselkastcn zugefahren, ick gab den Posten Befehl, den Feind auf Schuß-
weite zu empfangen, und ging ihm mit einer Abtheilung Schützen bis ans
Stadtthor entgegen. Der feindliche Anführer winkte und wollte mich spre-
chen. ich ging ihm entgegen, aber ehe ich zu ihm herankam, rief Kleist: „Scho¬
nen Sie Ihr Leben, es sind Vcrra'eher," und sprengte auf seinem Hengst mit
gezogenem Degen vor mich hin. Ich eilte ihm nach. Bald stand ich den
Polen gegenüber. Ein Herr v. Mollusk'y bat lsehr höflich, ihm den Durch,
marsch durch die Stadt nach dem Kloster zu gestatten, wo für seine Leute ein
Mittagsbrod bereitet sei. Ich versicherte ihm. daß ich den Befehl zurückge¬
lassen, aus Jeden zu feuern, der sich in Schußweite zeige, und diesen Befehl
würde ich nicht zurücknehmen; es bleibe ihm aber überlassen, die Stadt aus
Schußweite zu umgehen. Das geschah denn auch, ich wollte mich nur ver¬
theidigen, und so zogen sie ab.
Am Abend sahen wir wieder mehrere Fanale brennen, an der ganzen
Waldgrenze wurde von Zeit zu Zeit geschossen. Alles mußte in den Kleidern
schlafen, wir Männer blieben auf den Wachen. Die besorglichen Nachrichten
häuften sich. Bon Tzemesno, wo ein Jnsurgentcnlager war, wollte man
uns überfallen, auf meinen Kopf waren hundert Rubel gesetzt, man versuchte
mich durch Drohbriefe zu schrecken, ich verbrannte sie, ohne sie Jemandem zu
zeigen. Meinen Leuten begann der Muth zu sinken. Biele flüchteten nach
Thorn in die Festung. Da in der höchsten Noth erhielt ich die Nachricht,
daß eine Compagnie des 33. Regiments von Thorn auf dem Marsche nach
hier sei, ich schickte ihnen eine Staffette entgegen und schilderte kurz die ganze
Lage. Der Hauptmann v. Brunitorsky befragte seine Leute, ob sie wohl drei
Märsche in Einem Tage zu machen im Stande seien; ein lautes Ja war die
Antwort der braven Compagnie. Die ganze Antwort des Hauptmanns lau¬
tete daher: Noch heute Abend treffe ich bei Ihnen ein. Die Nachricht schon
belebte Alles. Ich schickte meine Wagen nach Jnowaclaw zum Fahren.des
Gepäcks entgegen, aber es war Nacht, ehe die Truppen ankamen. Ich hatte
befohlen, beim ersten Trommelschlag die ganze Stadt zu erleuchten. Um 11
Uhr meldeten die Posten preußische Truppen. Wer kann unsere Freude be¬
schreiben. Das laute Commando. der feste Tritt und die Trommeln, mir
hätte das alte preußische Soldatenherz die Brust zersprengen mögen. Es war
auch ein Zug Dragoner unter dem Lieutenant v. Seidlitz dem Commando
beigegeben, ich verpflegte die Truppen alle bei mir, sie bezogen die Scheuern,
die schon immer als Alarmhüuser gedient hatten, And stellten nur die aller-
nöthigsten Posten aus. Ich ließ meine Leute noch auf den Wachen, damit
die Soldaten ausruhen konnten. Am andern Morgen besahen wir das
Terrain. Die Aufstellung der Posten wurde als zweckmäßig befunden, das
Militär nahm ihre Stellen ein. Welche Wonne, als ich nun wieder einmal
aus den Kleidern ins Bett kam. Mit Wohlbehagen zog ich mich den andern
Morgen an, ich war wie neu belebt. Man kann sich die Consumtion in
meinem Hause denken. Zu den vielen Geflüchteten kam jetzt noch das Mili¬
tär, aber von Herzen gern gaben wir, was wir hatten.
Leider dauerte die Freude nicht lange; die Compagnie erhielt den Be¬
fehl, abzumcirschircn. Seidlitz hatte keinen bestimmten Befehl zur Rückkehr
erhalten, und ich bat ihn. noch zu bleiben. Es war sehr gewagt von ihm,
aber er blieb. Mit der größten Ausdauer, unermüdlich, that er bei dem fürch¬
terlichen Wetter mit den Dragonern seinen schweren Dienst; aber nur kurze
Zeit, und auch Seidlitz rückte ab. und wir waren wieder auf uns selbst an¬
gewiesen, dem ganzen Haß der Insurgenten preisgegeben. Jetzt kostete es
mir große Mühe, mein Corps wieder zusammenzubringen. Meine eignen
polnischen Leute wurden von den Pfaffen in der Beichte bearbeitet. Wer in
der Beichte gewesen war, fand sich nicht wieder bei den Wachen ein. Auch
einer meiner jungen Leute brannte durch und ging ins polnische Lager, immer
vereinzelter stand ich da. Ab und zu kamen preußische Truppen, aber nur
auf Durchmärschen, sie waren aufs Grausamste angestrengt, wurden nirgends
ordentlich verpflegt, ich war , immer außer mir, wenn ich sah. wie sie ohne
festen Plan hin und her gezogen wurden. Mit Besorgniß sah ich die Lawine
des Aufruhrs wachsen und warnte immer vor den Pfaffen und Sturmglocken.
Im Anfange hätte man das ganze Feuer mit einem nassen Sack ersticken kön¬
nen, später konnte nur ein Strom von Blut die Flamme lösche». Ich ließ
keine Gelegenheit vorübergehen. Militär herzubekommen. In Mogilno stand
der Oberst Hermann mit einer Batterie, einem Regiment und einer Escadron
Dragoner, ich fuhr hin und bat um eine Compagnie, er schlug es mir ab.
Ich wurde sehr bitter gegen ihn. und er sagte endlich: „Sie thun mir sehr
Unrecht, aber Sie sind ein braver Mann, ich kann Ihnen nicht zürnen. Ich
will Ihnen die Wahrheit sagen, ich darf nicht. Morgen greise ich den Feind an."
Ich fuhr nach Hause, mein Entschluß war gefaßt. Am andern Mor¬
gen saß ich mit dem Tischler Hempel, einem verwegenen Büchsenschützen, auf
einem kleinen Wagen und fuhr den Weg nach Mogilno. Am Saum des
Waldes erwartete mich mein Jäger Cholabars. ebenfalls ein tüchtiger Schütze
und ein dcterminirter Kerl. Er sprang auf den Bock, und im Galopp gings
weiter. Als wir nach Mogilno kamen, war es 8 Uhr Morgens, wir hörten,
daß die Truppen schon in der Nacht abmarschirt seien, aber der Lieutenant
v. Schlcinitz sei mit Befehlen des commandirenden Generals ihnen nachge¬
ritten, der Angriff solle nicht stattfinden. Ich knirschte mit den Zähnen, ich
weinte vor Wuth; in Carriere fuhr ich hinter Schleinitz her, ihm das Pferd
zu erschießen, damit der Befehl nicht ankommen könnte. Er aber kam schon
zurück und mir entgegen, ich traf ihn zwischen Tzemesno und Mogilno. Der
brave Oberst Hermann hatte den Angriff schon eröffnet und ihm nur geant-
wortet: „Sie kommen zu spät." Da war ein zweiter Adjutant des comman-
direnden Generals gekommen mit bestimmtem Befehl, die Truppen mußten
sich zurückziehn. Man denke, die siegreichen Truppen wurden vom halben
Siege zum Rückzüge commandirt, es ist unglaublich! — Von allen Seiten ver¬
ließen die flüchtigen Insurgenten Tzcmcsne. Schleinil) hatte an 50 Todte
derselben gesehen, in den Häusern hatte es noch von Zeit zu Zeit geknallt.
Gleich nach dem Abmarsch der Truppen hatten sich die Insurgenten wieder
in Tzemesno gesammelt und die grausamsten Excesse begangen. Mehrere
Deutsche und Juden waren auf das Entsetzlichste verstümmelt und ermordet.
Als endlich am andern Morgen unsere Truppen einrückten, fanden sie das
Nest leer, im Gefängniß aber eine Anzahl Deutsche, die bange ihrem Tod ent¬
gegen sahen und an ihre Rettung fast nicht glauben wollten. Unterdeß fuhr
ich grimmig nach Hause. Der ganze Weg war voll flüchtiger Insurgenten,
sie hatten die Waffen weggeworfen, die Stiefeln auf dem Rücken, und liefen,
was sie konnten. In Willalvwe war ein Zug Blüchersche Husaren um das
Dorf geritten, er empfing 'die durcheilenden Insurgenten mit Zaunknitteln,
weil er behauptete,' das Futter sei für die guten Klingen zu schlecht. ' Als
ich unserer Stadt näher kam, sah ich einen Wagen in scharfem Tempo auf
uns zukommen; ich sah Flintenläufe, unwillkürlich hatte Jeder von uns die
Büchse gespannt im Arm liegen, da erkannte ich die blässigen Pferde eines
Bäckers, und richtig es waren Se — er. In der Stadt hatte sich das
Gerücht verbreitet, die Polen wollten mich im Walde aufheben, meine Frau
hatte sich sehr geängstigt, darauf waren 20 Schützen auf Wagen mir ent¬
gegengekommen, der Druck mancher harten Hand war mir ein liebes Freund¬
schaftszeichen. Als ich nach Hause kam, gab es natürlich tüchtige Straf¬
predigten, aber Hempel sagte beim Abschied: „Na, Herr, wenn's 'mal wieder
gilt, da thun Sie mir schon die Ehre an."
Eines Mittags kam ermüdet bis zum Umfinken eine Compagnie des 14.
Regiments, ich nahm einige ganz Ermattete unterwegs aus den Wagen, sie
ruhten noch einmal auf der Landstraße, dann ging es im strammen Marsch
in die Stadt hinein. Kaum hatten sich die Offiziere bei mir zu Tische ge¬
setzt, als ein Husar auf schäumendem Pferde den Befehl zum Abmarsch
brachte. Der Generalmarsch wurde geschlagen, und ich fürchtete, da ich die
Erschöpfung der Leute gesehen hatte, es würde nur die halbe Compagnie sich
einfinden, aber nach 15 Minuten fehlte kein Mann auf dem Sammelplatz;
ich ritt eben dahin und bat, die Fußkranken bei mir zu lassen, es waren 12
Mann und ein Fähnrich v. L. Der Fähnrich schlief drei Tage und drei
Nächte und erwachte nur, um zu essen, auch die Andern wurden aufs Beste
gepflegt, sodaß sie in acht Tagen dem Regiment nach Gnesen folgen
konnten,
Unterdeß war das Verhältniß zu den Polnischen in der Stadt und Um¬
gegend immer feindseliger geworden, van beiden Seiten war Blut geflossen.
Ein Umstand trug dazu bei, mich persönlich zu einem Gegenstand besonderer
Erbitterung der Polen zu machen. Eine Compagnie des 33. Regiments
hatte den Befehl mitgebracht, unter andern polnisch Gesinnten auch den Päch¬
ter Bratzki zu arretiren, denselben, der damals mit den Pistolen auf mich zuge¬
gangen war. Ich hatte sie darauf aufmerksam gemacht, daß er als ein
wilder Mann sich widersetzen würde, und so war es denn auch gekommen.
Er war ihnen mit aufgezogenen Pistolen entgegen gegangen, ein Dragoner
hatte ihn durch den Arm und die Brust und einen Füsilier noch durch die
Brust geschossen, auch seine Frau hatte mit einem Terzerol nach dem Militär
schießen wollen, sie brachten sie an einem Strick geführt, sie war mit dem
Blut ihres Mannes beschmutzt. Die Frau ward nach Jnowraclcuv gebracht
und dort von dem Gericht eben so wie die Wappenabreißer wieder entlassen.
Durch diesen unglücklichen Zufall kam die ganze Gegend in Alarm, dem
todten Bratzki ward nach polnischer Sitte em ungeheures Begräbnis; bereitet, ich
sollte als Dragoner verkleidet ihn erschossen haben. Die Pfaffen suchten
in den Beichtreden den ganzen BolkShaß auf mich zu leiten. Eine große
Zahl der Deutschen war geflüchtet, die polnischen Leute waren fast ganz
von der königlichen Partei abgefallen, wir fanden nur noch Wenige, die zu uns
standen, und mit Mühe hielt ich das lockere Band zusammen, das uns vereinte.
Alles war gegen uns. So kam Ostern heran, uns wurde zum Oster¬
fest eine Blutrache angesagt. Wieder bat ich um Militär und erhielt 50 Mann
Infanterie. Auch eine Husarcnpatrouille kam von Mogilno und blieb die
Nacht, früh am Sonnabend vor Ostern rückte sie wieder ab, in der Stadt
begegneten die Husaren dem Pfaffen mit der polnischen Eocarde, sie nahmen
ihm die Mütze vom Kopfe, schnitten mit dem Säbel die Cocarde herunter,
drückten ihm die Mütze wieder auf den Kopf und ritten lachend weiter. Die
Polen aber handelten diesmal bei uns nach angelegtem Plane; man hatte
mir zugesteckt, daß ich bedroht sei, um eine Abtheilung preußischer Soldaten
hierher zu locken, von den Truppen abzuschneiden und zu überfallen. Kaum
hatte ich das erfahren, so schrieb ich an den Hauptmann Fröhlich nach Mogilno,
wenn er die 50 Mann nicht erwürgt sehen wollte, möchte er auf der Stelle
Verstärkung schicken. Lachmann net eben über den Hof, ich bat ihn, schein¬
bar aufs Feld zu reiten und von da ganz unbemerkt nach Mogilno. Ich
sandte wieder nach der Stadt, aber es war nicht mehr möglich, eine genügende
Anzahl Deutscher zusammenzubringen. Am Mittag kam Kleist von Mlzez
gejagt und rief: „Herr, retten Sie sich; aus dem Walde kommen große Haufen
Insurgenten, um 2000, sie rufen laut: ?y g,me.o! (aufs Amt, aufs Amt!)"
Noch einmal sandte ich in die Stadt, es war in diesem Augenblick keine
Hilfe zu erhalten, meine wenigen Leute rannten ins Feld, in die Gräben
und auf die Böden, ich wollte mit den 50 Füsilieren zum Gefecht antreten
und Frau und Kinder in dem Keller verrammeln, allein Kleist beschwor mich,
es nicht zu thun. „Wir tonnen das Amt nicht halten, erhalten Sie sich
für Weib und Kind/'
Er hatte einen Leiterwagen angespannt, ein alter treuer polnischer Knecht
hatte Stroh darauf geschüttet, die Kinder wurden aus den Ställen zusammen
geholt und auf den Wagen gesetzt, ich nahm meinen Etienne in den Arm
und setzte mich neben den Knecht. Als wir zu dem hintern Thore abfuhren,
hörten wir schon die Sturmglocken ziehen. Es war schauerlich, ich fluchte
still vor mich hin. Ueberall sahen wir Fliehende, und polnische Schaaren,
welche heranzogen; in den Dörfern wurden wir angehalten, verfolgt und hin¬
ter uns die Brücken abgebrochen. Kleist hatte uns bis an die Amtsgrenze ge¬
bracht, da machte er Kehrt, es half kein Bitten. Er wollte mit den 50 Füsilie¬
ren siegen oder fallen. Ein Händedruck und eine Thräne, dann sah ich nur
noch eine Staubwolke. Kurz darauf sah ich ihn in das Thor reiten.
Gerade zu rechter Zeit hatte er die braven Fünfzig erreicht. Er rief
'sum zu: „Kommt, Landsleute, ich bin auch ein Pommer, wir werfen die
Hunde." So drangen sie bis ans Kloster zwischen Amt und Stadt; hier wur¬
den sie angegriffen durch polnische Schaaren, die von Mlzcz kamen, und durch
die Insurgenten, die sich im Kloster gesetzt hatten; sie formirter Quarr6s, und
Tod und Berderben um sich verbreitend zogen sie sich gelassen nach dem Amte
zurück, hier verrammelten sie sich. Da hören sie von Mogilno her Kleinge-
wehrfeuer. „Das sind unsre Flinten," rufen die Braven und fangen an, sich
durch die Insurgenten zu ihren Brüdern hinzuarbeiten. Richtig, es waren
70 Mann unter einem Unteroffizier, die von Mogilno zur Verstärkung kamen.
Das Commando war gleich beim Einrücken heftig gedrängt worden, hatte
sich im Schnellschritt auf das Feld zurückgezogen, Front commandirt und den
Jn>urgenten drei tüchtige Salven gegeben, worauf diese sich zurückzogen, in¬
dem sie viele Todte zurückließen, viele Verwundete mitschleppten. Nun kamen
noch die 50 vom Amte herzu, nahmen die 70 mit Hurrahruf auf und zogen
sich wieder nach dem Amte zurück. Unterdeß wurde es Abend, die Insurgen¬
ten wurden immer stärker, die Lage der Preußen auf dem Amte immer be¬
denklicher. Klxist, die ganze Gefahr erkennend, setzt sich mit dem Obercontroleur
Giese zu Pferde. Den Säbel am Riemen, die Pistole >n der Hand geht es
durch die ganz mit Insurgenten angefüllte Stadt. Alles weicht den kühnen Reitern,
sie gewinnen die Straße nach Mogilno und kommen zum Hauptmann Fröhlich.
zu dem auch Lachmann auf der Stelle zurückgekehrt war, nachdem er die
70 herangebracht hatte. In Mogilnv standen zwei Compagnien des 2t. Re¬
giments. Hauptmann Fröhlich und Jagowsky, auch eine halbe Schwadron
Blüchcrscher Husaren, roth mit weiß, die Kinderfresser genannt, der Schrecken
der Polen. Das Militär brach auf und mit den Soldaten der Landrath
Jlling. welcher damals, die Flinte auf dem Rücken, alle Züge mitmachte.
Seine Frau hatte er nach Bromberg geschickt, er selbst trug seine fahrende
Habe in der Jagdtasche und seine Kanzlei in der rechten Rocktasche, in der
linken das Taschentuch. Als sie.sich ungefähr um 12 Uhr der Stadt näherten,
hörten sie schießen, es heißt, die Spitze ist im Gefecht. Herr v. Blankensee
mit den Husaren vor — meine jungen Leute hatten sich ihm angeschlossen —
es geht zuerst im Trabe, dann im Galopp und in hausender Carriöre, daß
die Funken sprühen, bis aufs Amt. Was nicht niedergeritten wurde, mußte
sich zerhauen lassen, ich habe davon furchtbare Kopf- und Nackenwunden
gesehen. Nichts geht über eine gute Rciterattaque. Die schmetternden Sig¬
nale, das Schnauben der Rosse und die klirrenden Waffen! mir pocht noch
jetzt das Herz. Hätte ich den Angriff mit machen können! Die Infanterie
folgte auf dem Fuße, die Insurgenten flohen nach allen Richtungen.
Unsere Husaren gönnten sich nur kurze Rast; Kleist fülirte sie über den Hof, der
Lieutenant Blankensee besetzte die Ausgünge der Stadt. Noch viele Feinde
überritten und niedergemacht; was zurückgeblieben war, hatte sich in das
Kloster gezogen. An das Kloster wurden Leitern gelegt, die deutschen Bürger
halfen. Der Erste, der über die Mauer kam. war ein Sattlermeister G.
Ihm folgten die Füsiliere. Die Glockenstränge wurden abgehauen und in
Stücke geschnitten, und damit die Insurgenten, etwa 300 an der Zahl, tüchtig
durchgeprügelt. Was Widerstand leisten oder entfliehen wollte, wurde nieder¬
gemacht. In der Kirche fand man den Pfaffen und einen Doctor, die Häup¬
ter der Verschwörung. Nur mit Mühe retteten die-Offiziere ihnen das Leben.
Die feigen Edelleute hatten die Insurgenten schlecht geführt, sonst
wäre ein solches Resultat unmöglich gewesen. Die Bande hatte in der Stadt
geplündert und zwei unglückliche Deutsche, den armen Hempel, der seine Fran
im Wochenbette nicht verlassen wollte, und einen gewissen Neumann aus
schändliche Weise gemordet, mit. der Sense zerhackt, bei den Beinen ausge¬
hängt, ihnen die Teftckcl abgeschnitten und in den Mund gesteckt. Es ist
nicht zu glauben. Mir hatten sie einen Kutschwagen, eine Doppelflinte und
ein ausgezeichnetes Reitpferd genommen, einen von meinen fliehenden jungen
Leuten hatten sie erjagt, gebunden und gemißhandelt. Es waren zuletzt wohl
an 4000 Insurgenten gewesen, vom Militär 80 Husaren und zusammen
500 Mann Füsiliere. Leider hatte unser Militär noch nicht die neuen Ge¬
wehre, indeß sind doch einzelne Fälle vorgekommen, wo Insurgenten noch
auf 500 Schritt niedergeschossen wurden. Ein Bekannter, der mit seiner ganzen
Familie zu mir geflüchtet war, wurde am ersten Osterfeiertage von zwei Wagen
feindlicher Schuhen auf der Landstraße verfolgt, er läuft quer übers Feld, die
Doppelflinte in der Hand, und nahe an der Stadt, bevor er sich in einen
Graben niederlegen konnte, erhält er einen Schuß; es war nur Schrot und
auf ziemlich weite Entfernung; er wirft sich hin, und als die ersten Verfolger
ihm näher kommen, springt er auf und macht eine Doublette, einem in die Augen,
dem andern in den Hinterkopf, denn er ist ein vortrefflicher Schütze. Von
den andern feindlichen Schützen wurden einige durch die Kngeln des Militärs
noch auf weite Entfernung erreicht. Wie diese Wagen mit Polen, so kam am
ersten Feiertag noch viel polnischer Zuzug in die Nähe der Stadt, aber keiner
wagte mehr anzugreifen. Mein Jäger Koiabars, die Bürger Rohr, Krüger,
Zieher und Karst schlossen sich den Füsilieren an. denn solche Zeit macht wild.
Noch jetzt, wenn wir auf dem Scheibenstand schießen, hört man von diesem
Gefecht sprechen, wie von einer Hasenjagd.
Unterdeß war ich mit meiner Familie nach Bromberg geflüchtet, entblößt
von allen Mitteln, meine Frau bekam aus Schreck und Angst das Fieber,
die Kinder lagen bis auf die Haut durchnäßt ohne Kleider in den Betten,
ich selbst war ohne alle Mittel, und dazu wußte ich nicht, wie es zu Hause
abgelaufen war. Es war ein Zustand verbissener Wuth, ich empfand tief
den Schimpf, daß ich aus meinem Hause hatte flüchten müssen. Ihn wollte
ich im Blut der Insurgenten abwaschen; ich meldete mich bei dem General
v. Wedell zum activen Dienst; bei ihm erhielt ich die ersten Nachrichten von
dem Kampfe in Se —. Jetzt war für mich, kein Halt mehr. Ais ich das
Nöthigste für meine arme Frau besorgt hatte, brach ich wieder auf, es war
am zweiten Feiertage. Ja Inowraclaw gab mir Rittmeister Schleinitz sechs
Dragoner und einen Unterofficier mit. Wir sahen mehrere Haufen Insur¬
genten, erlebten aber nichts; noch auf dem Wege trafen wir einen Berne Hu¬
saren, der Unteroffizier strich sich den Bart und zeigte mir, seine blutige Sä¬
belklinge. Mit den Husaren kam ich auf dem Amte an, und jeder von ihnen
wußte von dem Gefecht zu erzählen. In der Stadt, auf dem Amte war
Alles mit Militnirpostcn besetzt, überall, an Zäunen, Mauern und auf den
Straßen hing noch das Blut, aus einem Nebengebäude an meinem Hofe
wurden am andern Tage noch Leichen getragen. Mein Haus war voll von
Offizieren, zum Theil alte Bekannte. Das wenigstens war mir eine Freude.
Die Soldaten hatten eine recht hübsche Musik zusammengebracht und tanzten
mit unsern polnischen Mädchen Polka, daß es sauste. Die Dirnen waren
ganz toll auf die schmucken Husaren. Jetzt aber ging es auch schnell ans
Gericht; denn ein Negicrungscommissair wurde erwartet, und ein Mann in
Frack und Brille erschien in diesen aufgeregten Stunden als ein schlechter
Rächer. Kleine Abtheilungen, gemischte Commandos wurden formirt. So
zogen wir in die Umgegend. Die Cavallerie umschwärmte die Orte, besetzte
die Ein- und Ausgänge, die Infanterie durchsuchte die Häuser und hielt
Standrecht, das heißt, sie theilte viele Prügel aus. Ehe. die Herren von der
Negierung kamen, war die ganze polnische Bevölkerung der Umgegend nach
alter slavischer Weise über vielen Bünden Stroh durchgeprügelt. Die Pfaffen
bekamen allerdings die stärksten Schläge, weil die Ahnung allgemein war,
die Regierung würde sie zuletzt frei durchgehen lassen. Häufig wurde bei
dem abgehaltenen Kriegsgericht gegen sie auf Todtschießen erkannt und die
Elenden dann erst unter grimmigen Geberden auf Hiebe begnadigt. Dies
Mittel stellte die'Ruhe vollkommen her.
Ich hatte ausgewirkt, daß die halbe Schwadron und die beiden Com¬
pagnien als Besatzung hier blieben. So konnte ich Frau und Kinder zurück¬
kommen lassen. Das waren wieder einmal gute Tage. Schon vorher hatte
ich mehrmals deutsche Volksversammlungen abgehalten, ich hatte einen Ge¬
meinde- und einen Krcisansschuß gebildet, um fester» Halt in die Menge zu
bringen; das wurde jetzt fortgesetzt. In diesen Versammlungen trat ich
allerdings fest und schroff auf, einen Republikaner, der mir Unsinn machen
wollte, lies; ich zur Thür hinauswerfen. Von der Versammlung wurde mir
der Auftrag, nach Berlin zu reisen und den Anschluß an Westpreußen zu be¬
treiben. Mit einer Bedeckung von 20 Husaren fuhr ich ab.
Den Eindruck, den Berlin auf mich machte, werde ich nie vergessen; ich reiste trost¬
loser ab, als ich hingekommen war, nicht weil mir meine Bitten nicht gewährt waren,
ich hatte ja Versprechungen die Menge, sondern weil ich erst jetzt die ganze
Ohnmacht dort erkannte. Ich hielt es nicht lange dort aus, lieber wollte ich
kämpfend für die deutsche Sache fallen, als'dort in feiger Unthätigkeit unter
diesen Schwächlingen verfaulen. Als ich aus der Rückreise nach Grabowo
kam. fand ich bei Sänger Alles auf dem Kriegsfuß; ich blieb einige Stun¬
den bei ihm, er sollte nach Frankfurt ins Parlament. In dem Augenblick
waren ihm aber Mieroslawsky's Truppen näher, und Alles bei Sängers
dachte und rüstete nur gegen ihn. Ich wurde besorgt gemacht, wie ich nach
Bromberg herankonimen würde, da Mieroslawsky diesseits Bromberg die
Netze überschreiten und sich in das entmische Land werfen wollte; ich hörte,
daß es in Wreschen einer Abtheilung unserer Truppen schlecht ergangen sei.
so mußte ich Alles für Ser — und mein Amt befürchten. Bei der Abreise
hatte ich meinen Leuten den Auftrag hinterlassen, wenn das Militair wieder
abzieht, könnt ihr euch zu Hause nicht hallen, rettet deshalb, was ihr könnt,
entweder nach Bromberg oder mit dem Militär; die nöthigsten Lebensmittel
schickt nach Bromberg. Als ich jetzt nach Bromberg kam. fand ich meine
Ahnung bestätigt. Auf der Straße sah ich meine Gespanne, die Wagen be-
packt mit Sachen und Lebensmitteln. Alles war mit Flüchtlingen aus Stadt
und Land angefüllt. Mein Amtmann Lachmann war mit meiner Frau und
den Kindern, mit den Gespannen und Leuten nach Bromberg gekommen,
Kleist dagegen war auf seinem Hengst mit den Husaren geritten, bei denen
ein Onkel von ihm Major war. Meine Frau harte eine ziemlich geräumige
Wohnung gefunden und kochte in großen Töpfen für Alle, die mit uns thei-
len wollten. Daß wir nicht Delicatessen aßen, kann man sich denken, aber
wir gaben es gern, und es ward freudig angenommen. Unter den Flücht¬
lingen aus unserer Gegend war eine Menge armer Handwerkerfamilien, die
schon zu Hause nur für den nächsten Tag hatten und denen es hier an aller
Hilfe fehlte. Wir thaten was nöthig war, meine Frau unterstützte mich nach
Kräften. Die Bürgerschaft in Bromberg war alarmltt. jeden Augenblick er¬
wartete man den Microslawsky. Wiederum umarmte ich Weib und Kind,
ging dann zum Obersten und meldete mich, daß ich binnen ewer Stunde mit
20 braven Leuten zum Dienste bereit sein werde. Dann ging ich zurück, der
Jäger wischte meine Waffen ab, in einer Stunde waren viele meiner alten
Jungen von Se — beisammen. Ich will nicht sagen, daß wir ein impo-
sant.es-Corps waren, aber wir standen unsern Mann, Jeder wußte, was er
von den Andern zu halten hatte. Um 10 Uhr Abends aber kamen bessere
Nachrichten, Hirschfeld hatte sich mit seinem Corps zwischen den Mieroslawsty
und Bromberg gestellt, bei Wreschen hatten die königlichen Truppen einen
glänzenden Sieg erfochten und hingen sich dem Microslawsky an die Fersen;
Hirschfeld beabsichtigte ihn nach Russisch-Polen zu werfen.
. Am Tage darauf mußte ich nach Inowraclaw zur Wahl. Ais ich dort
ankam, war Alles gestopft voll von Militär, es war die Hirschfeld'sche mobile
Colonne. im Gavzen 4000 Mann. Die Artillerie stand auf dem Kasernen¬
hof. Ich wollte einen Bekannten, Lieutenant Noack von der Artillerie, aus¬
suchen und trat an einen Bombardier, der neben den Kanonen stand. Ich
kam mit ihm ins Gespräch und er erzählte mir von Wreschen, von seinem
Lieutenant und von seiner Kanone. „Ja," sagte er, „gleich als wir auf¬
führen, schössen uns die Insurgenten einen Trompeter und ein Vovderpfcrd
todt; unser erster und zweiter Schuß traf nicht, da ritt der Herr Lieutenant
bis dicht an das feindliche Geschütz und sagte: „„Es sind so und so viel Ga¬
loppsprünge, also so und so viel Schritt, nehmen Sie mehr Aufsatz."" Der
nächste Schuß vou uns zerstörte das Geschütz, und schon beim dritten Schuß
rissen sie aus, und wir mit Paßkugeln schräg durch die Bataillone, sie fielen
immer auf Wagenspurbreite. Noch eine Attaque machte die Kavallerie der
Insurgenten, 17 blieben aus den ersten Schuß. Sieben Jahre habe ich das
Geschütz im Frieden bedient, und immer dachte ich, wenn es nur ein Mal
im Ernst probirt werden könnte. Ich habe immer viel von ihm gehalten.
daß es aber eine so gute Kanone ist. Hütte ich doch nicht gedacht. Jetzt ver-
lasse ich sie nie mehr, des Nachts schlafe ich darunter."
Ohne Garnison konnte ich vorläufig in Se— nicht bleiben, und mit
allen meinen Genossen zu Bromberg auf den Pflaster zu leben, das war nicht
zu erschwingen; ich erbat und erhielt als feste Garnison eine Compagnie und
einen Zug Husaren. Darauf kehrten wir alle nach Se — zurück. DieCom-
vagnie war vom 21. Regiment, die Husaren von den beliebten rothen, der
Lieutenant ein Herr v. Katzler, ein eingefleischter Soldat, einer seiner Ahnen war
Adjutant bei Ttlly gewesen, von da ab wußte er nicht, daß einer seiner Vor¬
fahren anderen als militärischen Beruf gehabt hätte, auch sein Vater stand
bei der Garde. Er war ein großer, sehr schöner Mann, dabei solid und von
den angenehmsten Formen. Eines Tages kam er sehr erfreut zu Tisch, be¬
stellte sogleich nach dem Essen den Burschen mit den Pferden, um seiner Frau
entgegen zu reiten, die ihm mit den beiden Kindern nachgekommen sei. Es
war eine sehr liebenswürdige Frau, und wir freuten uns über die angenehme
gesellige Erwerbung. Aber unsere' Freude war nur kurz. Er wurde nach
Mogilno versetzt, machte von dort eine Reise nach Schlesien und starb auf
dem Gute seines Vaters an einem heftigen Fieber. Wer die beiden Leute so
im vollen Genuß des irdischen Glücks gesehen hatte, wie wir, der ward ge¬
wiß tief ergriffen von dem raschen Wechsel des Geschickes. —
In unsern politischen Clubbs sind wir jetzt sür die gute Sache thätig;
meine Anordnungen hinsichtlich des Gemeindeausschusses haben sich gut be¬
währt, wenn es einmal wieder losginge, würden wir uns schnell sammeln.
Meine Aufgabe ist jetzt, einen festen Zusammenhang unter allen Deutschen
zwischen Thorn und Posen zu bilden. Ich zweifle nicht, daß es mir gelin¬
gen wird." »
Leider war die patriotische Wärme und Entschlossenheit des herzhaften
Mannes für seine Landschaft nicht mehr lange eine Stütze des deutschen
Elements. Ihm selbst hatte die kriegerische Aufregung des Jahres 1848,
die Verwüstung seiner Wirthschaft, vielleicht auch die Unruhe, welche in sein
Leben gekommen war, seine Privatverhältnisse in Unordnung gebracht;
Lobsprüche und Orden der Regierung vermochten ihm dagegen nicht zu helfen.
Er starb kurz darauf. — Hier aber soll die Erinnerung an sein mann¬
haftes Thun und der deutsche Muth, den er bewährt, dem lebenden Ge¬
schlechte dankbar gerühmt werden.
Wir Deutsche haben ein wildes und blutiges Grenzerleben nahe genug.
Unsere Touristen haben nicht nöthig, darnach in Amerika zu suchen.
Es war im Jahre 1823, als Präsident Monroe im Hinblick auf das Ge¬
lingen der Revolution in den spanischen Colonien in Amerika, auf die Vereitelung
der liberalen Bestrebungen in Spanien und auf die Möglichkeit, daß die heilige
Allianz, die hier die Keime der Freiheit erstickt, ihre Hand zur Herstellung
des alten Systems auch nach jenen Colonien auszustrecken geneigt sei. in
seiner siebenten Jahresbotschaft, datirt vom 2. December, folgende Sßtze
aussprach:
„An den Kriegen der europäischen Mächte haben wir. soweit sie Gegen¬
stände betrafen, die nur sie selbst angehen, niemals Theil genommen, auch
verträgt sichs nicht mit unserer Politik, dies zu thun. Nur wenn unsere
Rechte beeinträchtigt oder ernstlich bedroht sind, weisen wir unrechtmäßige
Handlungen zurück und bereiten uns zur Vertheidigung vor. Mit den Be¬
wegungen auf dieser Hemisphäre sind wir nothwendiger Weise unmittelbarer
verknüpft und zwar aus Gründen, die für jeden erleuchteten und unparteiischen
Beobachter auf der Hand liegen. Das politische System der verbündeten
Mächte (der heiligen Allianz) ist in dieser Hinsicht von dem Amerikas wesent¬
lich verschieden. Diese Verschiedenheit geht aus dem hervor, welches in ihren
respectiven Regierungen ausgeprägt ist. Und der Vertheidigung des unsrigen.
welches mit Verlust von so viel Blut und Vermögen gewonnen und durch
die Weisheit der.erleuchtetsten Bürger zur Reife gebracht worden ist, und unter
dem wir uns einer Wohlfahrt ohne Gleichen erfreut haben, weiht sich diese
ganze Nation. Wir schulden daher der Aufrichtigkeit und den freundschaft¬
lichen Beziehungen, die zwischen den Vereinigten Staaten und jenen Mächten
bestehen, die Erklärung, daß wir jeden Versuch von ihrer Seite, ihr System
auf irgend einen Theil dieser Hemisphäre auszudehnen, als für unsere Sicher¬
heit gefährlich betrachten würden. In die Angelegenheiten der jetzt vorhan¬
denen Colonien oder Provinzen europäischer Mächte haben wir uns nicht ge¬
mischt und werden uns nicht mischen. Aber in Betreff der Regierungen,
welche ihre Unabhängigkeit erklärt und behauptet haben, und deren Unav-
hängigkett von uns auf Grund hochwichtiger und gerechter Principien aner¬
kannt worden ist, könnten wir irgend welche Einwirkung einer europäischen
Macht zu dem Zwecke, sie zu unterdrücken oder in anderer denkbarer Weise
ihr Schicksal zu beeinflussen, in keinem andern Licht betrachten, als in dem
einer Kundgebung unfreundlicher Gesinnung gegen die Vereinigten Staaten.
In dem Kriege zwischen jenen neuen Regierungen und Spanien erklärten
wir zugleich mit ihrer Anerkennung unsre Neutralität, und daran haben wir
festgehalten, vorausgesetzt, daß keine Aenderung eintritt, welche nach dem
Urtheil der kompetenten Behörden unseres Staates eine, entsprechende Aen¬
derung auf Seiten der Vereinigten Staaten für deren Sicherheit unumgäng¬
lich macht.
Die letzten Ereignisse in Spanien und Portugal zeigen, daß Europa noch
immer nicht zur Ruhe und Ordnung gekommen ist. Für diese wichtige That¬
sache kann kein stärkerer Beweis beigebracht werden, als daß die verbündeten
Mächte auf Grund eines ihnen genügend scheinenden Princips es passend ge¬
funden haben, sich mit Gewalt in die innern Angelegenheiten Spaniens zu
Mischen. Bis zu welcher Ausdehnung diese Einmischung auf dasselbe Princip
hin getrieben werden kann, ist eine Frage, bei welcher alle unabhängigen
Mächte, deren Regierungssystem von dem jener Mächte abweicht, interessirt
sind, und zwar selbst die entferntesten und sicherlich keine mehr als die Vereinigten
Staaten. Unsere Politik hinsichtlich Europas, welche in einem frühen Sta¬
dium der Kriege, die diesen Theil des Erdballs so lange aufgeregt haben,
angenommen wurde, bleibt demungeachtet dieselbe, das heißt, sie gebietet,
uns nicht in die innern Angelegenheiten einer von seinen Mächten zu mengen,
die Regierung als tanto als die gesetzliche Regierung für uns zu betrachten,
freundliche Beziehungen mit ihr zu unterhalten und diese Beziehungen durch eine
aufrichtige, feste uno- männliche Politik zu pflegen, die in allen Fällen
den gerechten Ansprüchen jeder Macht entgegenkommt, von keiner sich U"ge'
bührliches gefallen läßt. Aber in Hinsicht auf diesen Kontinent sind die
Umstände außerordentlich und augenscheinlich verschieden. Es ist unmöglich,
daß die verbündeten Mächte ihr politisches System auf irgend einen Theil
des diesseitigen Festlands ausdehnen, ohne unsere Ruhe und Wohlfahrt zu
gefährden, und Niemand kann glauben, daß unsere südlichen Brüder (in
Mexico, Central- und Südamerika), sich selbst überlassen, es von freien
Stücken adoptiren werden. Es ist folglich gleichermaßen unmöglich, daß wir
eine solche Einmischung, gleichviel in welcher Form sie auftrete, mit Gleich,
giltigteit ansehen würden. Wenn wir auf die vergleichsweise» Kräfte und
Mittel Spaniens und dieser neuen Regierungen und ihre Entfernung von
einander blicken, so muß es Jedem klar sein, daß jenes diese nie unterwerfen
kann. Es. ist aber dennoch die wahre Politik der Vereinigten Staaten, die
Parteien sich selbst zu überlassen, in der Hoffnung, daß andere Mächte den¬
selben Weg verfolgen werden."
In dieser etwas weitschweifigen Auseinandersetzung ist die in späterer
Zeit oft erwähnte Monroe-Doctrin zum ersten Mal deutlich ausgespro¬
chen. Sie sagt kurz gefaßt: Es existirt eine-Art Solidarität aller freien
Staaten der westlichen Hemisphäre. Die Bereinigten Staaten
mischen sich nicht in die politischen Streitigkeiten der Mächte Europas, legen
der Ausbreitung des Systems der heiligen Allianz in Europa kein Hinderniß
entgegen, sehen sich aber bedroht, wenn eine europäische Macht sich irgend¬
wie in die Geschicke einer der neucrstandcnen Republiken Amerikas mengt,
und werden namentlich auf keinen Fall zugebe», daß eine Co alitio n euro¬
päischer Mächte die freien Entschlüsse dieser Republiken zu beeinträchtigen un¬
ternimmt.
Später, als Amerika sich mehr zu fühlen begann, wurde diesen voll¬
kommen verständigen und gerechten Sätzen eine schärfere Fassung und eine
weitere Ausdehnung gegeben, und es wurden Stimmen laut, die jede weitere
Erwerbung europäischer Mächte auf amerikanischem Boden, jedes Vorgehen
derselben gegen eine amerikanische Regierung für nicht zu duldende Unbill er¬
klärten und zwar nicht sowohl, weil man darin eine Bedrohung der Gegenwart,
als weil man darin eine Beeinträchtigung der Zukunft Amerikas, d. h. der
Hoffnung sah, einmal Mexico und die mittelamerikanischen Staaten der Union
einzuverleiben und den ganzen westlichen Continent zu beherrschen.
Noch später war das Selbstgefühl Bieler sogar so weit gewachsen, daß sie
schon an die Möglichkeit einer Einmischung Amerikas in europäische Politik
zu glauben ansingen und mit Eiser für den Gedankeir Kossuths sprachen, die
Bereinigten Staaten sollten, sich zur Solidarität der Interessen aller
freien oder nach Freiheit strebenden Nationen bekennend, den Satz
„interverrttou lor uoQ-lo.tLivMtic>u"iii das Programm ihrer auswärtigen Po¬
litik aufnehmen, d. h. sich, zunächst auf diplomatischem Wege. verbitten, daß
bei einem Aufstand in Europa oder sonstwo, der Befreiung von despotischer
Gewalt bezwecke, eine fremde Macht (wie in Ungarn Nußland, in Italien
Oestreich) zu dessen Unterdrückung mitwirke. Die Sache drang damals (135 t)
nicht durch, doch hatte sie im Volke eine ziemlich starke Partei für sich, und
nicht undenkbar ist. daß im nächsten Jahrhundert die Monroe-Doctrin in
dieser erweiterten Gestalt von einem Präsidenten der Union adopiirt worden
wäre und in der Geschichte eine Rolle gespielt hätte. Inzwischen haben sich
die Vereinigten Staaten in veruneinigte Staaten verwandelt, und was sehen
Wir jetzt?
Wir sehen eine Koalition europäischer Mächte Flotten und Landtruppen
gegen den größten jener republikanischen Nachbarstaaten der Union in Be¬
wegung setzen, zunächst nur, um Genugthuung für erlittene Unbill zu neh¬
men und einen lässigen Schuldner mit Gewalt zur Erfüllung seiner Ver¬
pflichtungen zu nöthigen. Dann aber — so sagt wenigstens das Gerücht von
Spanien, und wir dürfen im Hinblick auf die Unterstützung der klerikalen
Partei Mexicos durch diese Macht und auf die Wiedereinverleibung der Re-
publik San Domingo in die Besitzungen der spanischen Krone nicht mit
Zuversicht widersprechen — um in Mexico „Ordnung überhaupt" herzustellen,
eine andere Verfassung und Negierung zu schaffen, vielleicht ein Königreich
oder Kaiserthum, vielleicht das alte Verhältniß wieder, das durch Jturbide
und seine Mitkämpfer aufgehoben wurde. Haben die verbündeten Mächte,
haben namentlich Spanien und Frankreich keine andere Absicht, als die, welche
in den Ultimaten formulirt ist, so wird das Cabinet in Washington gegen
die Intervention mit Grund nichts einwenden können, obwohl die beabsich¬
tigte langwierige Occupation mexikanischen Gebiets und die beanspruchte Ein¬
setzung fremder Beamten zur Erhebung der Zölle bedenklich scheint. Bestätigt,
sich das Gerücht von weitergehenden Plänen, so ist der Fall eine flagrante
Verletzung der Monroe-Doctrin, zumal da hier nicht einmal wie in San Domingo
eine gutbearbeitete Volksstimme die Fremden ins Land gerufen und die Rückkehr
unter das spanische Scepter verlangt hat. DieVereinigten Staaten werden im letzte¬
ren Falle für jetzt unzweifelhaft dulden müssen, was sie nicht abwenden können,
sicher aber werden sie dies nicht länger dulden, als die äußerste Noth ge¬
bietet.
Mexico hatte einige Jahre unter den Staaten, die sich von Spanien losge¬
rissen, die meiste Kraft und Ordnung gezeigt. Endlich aber versank es in
denselben Strudel anarchischer Parteiung wie jene, und von Jahr zu Jahr
eilte es rascher dem gänzlichen Verfall zu. Eine monarchische Partei, die sich
vorzüglich auf das Heer und die außerordentlich reiche Geistlichkeit stützte und
in der letzten Zeit allem Anschein nach von Spanien heimlich Beistand erhielt,
kämpfte mit einer demokratischen, die namentlich im Norden und im tiefen Süden
sowie in den Küstenstädten Anhänger hatte und stark nach den Vereinigten
Staaten hinneigte. Die Parteiführer waren meist gesinnungslos, nur von
Selbstsucht getrieben, käuflich und räuberisch wie die Condottieri des Mittelalters.
Der letzte verhältnißmäßig kräftige Charakter, der aus diesen Zuständen
hervorging, war der bekannte Santa Ana, der sich, ein Meister in der In¬
trigue, dreimal auf den Präsidentcnstuhl schwang und jedesmal, durch Rück¬
sichtslosigkeit und kluge Benutzung der verschiedenen Parteien, eine Zeit lang
die Ordnung erhielt, es aber, da er immer nur sein Interesse im Auge
hatte, niemals dazu brachte, sich dauernd zu behaupten. Das letzte Mal,
wo er im Namen der monarchisch-klerikalen Partei regierte, wurde er von
dem Jndicmergeneral Alvarez aus dem Staat Guerrero gestürzt, einem halb-
wilden Krieger, der die Partei der äußersten Linken vertrat und sich durch
seine blutige Grausamkeit, namentlich gegen Alles was von spanischer Ab¬
kunft war, den Namen „Panther des Südens" erworben hatte.
Alvarez. von seinen Soldaten zum Präsidenten ausgerufen, begann
seine Negierung damit, daß er alle Decrete Santa Ana's, gleichviel ob gut
oder schlecht, aufhob, die von jenem ins Land gerufenen Jesuiten verjagte
und der Geistlichkeit sowie dem Militär die besondere Gerichtsbarkeit entzog
— letzteres eine Maßregel, die der Keim zu späteren Aufständen und Wirren
wurde. Der rohe Indianer gefiel sich nicht lange auf dem Präsidentenstuhl,
und so trat er nach wenigen Wochen seine Stelle an einen Parteigenossen,
den früheren Administrator des Zollhauses von Accipulco. Ignacio Co-
monfort ab, der ihm behilflich gewesen, einige Ordnung in die Bewegung
zu bringen und die Verbindung zwischen den verschiedenen Elementen der
liberalen Partei herzustellen, und kehrte mit den wilden Horden, die ihn be¬
gleitet, in den Staat Guerrero zurück.*)
Comonfort erwarb sich, indem er die Revolutionsführer in den Provinzen
in ihrem eigenmächtigen Schalten einstweilen ungestört ließ, allgemeine An¬
erkennung seiner Partei'und versuchte, da mit den Radicalen nicht zu regieren
war. die Gemäßigten zu gewinnen und selbst die Conservativen mit dem Um-
schwung zu versöhnen. Kaum hatte er indeß die Zügel der Regierung er¬
griffen, als sich am 21. December 1855 der General Guitian mit dem
Pfarrer von Zacapuastla für die besondere Gerichtsbarkeit des Heeres und
der Geistlichkeit gegen ihn erhob und zu gleicher Zeit Puebla und tue
Citadelle von Veracruz, vom Klerus mit Geld unterstützt, eine reactionäre
Bewegung machten und Haro y Tamariz, Santa Ana's frühern Finanzminister,
zum Präsidenten ausriefen. Nur mit Mühe und nur weil die Aufstündischen
nicht rasch und, energisch genug verfuhren, wurden die Bewegungen unter-
drückt. Haro floh mach Europa, die Geistlichkett mußte die erwachsenen Kriegs¬
kosten bezahlen und verlor, soweit sie sich betheiligt, ihre Güter.
Am 3. April 1856 nach der Hauptstadt zurückgekehrt, berief Comonfort
den Kongreß, der am 16. Zum zusammentreten und dem Lande eine neue
Verfassung geben sollte. Bis zu deren Vollendung und Einführung sollte ein
„organisches Statut" gelten, welches einerseits den Gouverneuren der Pro¬
vinzen ihre außerordentlichen Vollmachten, namentlich in Finanzsachen nahm,
andererseits die Geistlichkeit mehr einschränkte. War letztere schon dadurch
erbittert, so steigerte sich ihr Verdruß noch mehr, als der Präsident im Ein¬
verständnis mit dem vorwiegend aus Radlenker bestehenden Kongreß im Juni
ein Decret erließ, welches sämmtlichen Körperschaften verbot, liegendes Eigen¬
thum zu besitzen. Hierdurch verlor vorzüglich die Kirche den größten Theil
ihrer Macht. Die liegenden Gründe des Klerus wurden dem zugesprochen,
der sich gerade als Pächter auf ihnen befand. Der letztere hatte den seir-
herigen Pachtzins als Capitalzins zu entrichten, der Werth des betreffenden
Zinses wurde zu 6 Procent capitalisirt. Die Zahlung dieses Werths brauchte
nicht stattzufinden, und der Kirche blieb weiter nichts als ein Unterpfand auf
die Zinsen. Sie hatte so einen doppelten Verlust zu tragen. Einmal hatte
sie ihre Güter sehr billig vemucthet und dadurch den Capitalwerth vermin¬
dert, dann aber konnten die neuen Eigenthümer nicht gezwungen werden, das
Capital abzutragen, wohl aber gestattete ihnen das Decret, das Besitzthum
zu veräußern und den Nutzen davon sich anzueignen. Kein Wunder daher,
wenn die Geistlichkeit dagegen mit allen Mitteln auftrat, die Kirchen schloß,
von den Kanzeln die Strafen der Hölle auf die Häupter der Negierung be-
schwor und denen, die sich Kirchengut erwarben, die Absolution und die Sa-
crcunente vorenthielt. Bald jedoch mußte sie einsehen, daß das Volk, obwohl
Jahrhunderte in der Finsterniß erzogen, auch hier begonnen hatte, selbstän¬
dig zu denken, und daß ihr Einfluß nur von ihrem Reichthum, nicht von
der Macht des Glaubens abhängig war. Einige Schwierigkeiten indeß be¬
reitete ihr Widerstand dem Präsidenten und dem Kongreß doch, und dazu
traten noch Verwickelungen mit dem Ausland.
Mexico hatte ,u»ter Santa Ana mit Spanien eine Uebereinkunft abge¬
schlossen, welche vie spanische Schuld endgültig anerkannte. Jetzt aber for¬
derte die neue Negierung eine erneute Prüfung der spanischen Ansprüche.
Das madrider Cabinet weigerte sich dessen, und so entstand eine Spannung
zwischen den beiden Ländern, die durch folgenden Vorfall noch größer wurde.
Als General Alvarez sich nach dem Süden zurückbegab, beabsichtigte er,
dem Staat von Guerrero zwei Bezirke, die zu dem Staat Mexico gehörten,
einzuverleiben. Da der Congreß darein nicht willigte, so glaubte der General,
die spanischen Gutsbesitzer in jenen Districten hätten den abschlägigen Be¬
scheid veranlaßt, und so sandte er, um sich zu rächen, am 18. Den. 1356
verkappte Truppen nach der Hncienda von San Vincent und ließ die dort
befindlichen Spanier ermorden. Ein Franzose, der sich unter denselben be¬
fand, blieb verschont. Auf die Nachricht hiervon schickte die mexicanische Re¬
gierung Truppen in die Gegend, um die dortigen Spanier vor weiteren An¬
griffen zu schützen. Untersuchungen, von dem spanischen Gesandten an Ort
und Stelle angestellt, ergaben die Schuld des Generals Alvarez, aber an
eine Bestrafung desselben war nicht zu denken, ja die Regierung konnte nicht
einmal wagen, die Auslieferung der zu jenem geflohenen Mörser zu verlangen.
Die Folge war, daß der spanische Gesandte, nachdem er die Unterthanen sei¬
ner Regierung in Mexico unter den Schutz des französischen gestellt, abreiste.
Ein ähnlicher Mord, in der Hacienda von San Dimas begangen, sowie die
Verbannung mehrer Spanier durch Alvarez veranlaßte das madrider Cabinet,
in der Havanna Truppen zusammenzuziehen und durch Blockirung der mexi-
carischen Hafen Entschädigung für jene Gewaltthaten und Anerkennung des
mit Santa Arni abgeschl offnen Vertrags zu erzwingen'. Da indeß die Ver¬
einigten Staaten, von Mexico um Hilft angegangen, indirecte Unterstützung
versprachen und Miene machten, Freibeuter-Züge nach Cuba zu senden, so
entschloß man sich spanischerseits den Angriff auf gelegnere Zeit zu vertagen
und begnügte sich, unter der Hand von den Antillen aus die Pläne der re¬
gierungsfeindlichen Partei in Mexico zu begünstigen.
Um dieselbe Zeit verdarb man es auch mit England, indem der Gou¬
verneur von Guadalaxara den britischen Konsul Barron in Tepic, der sich in
Politische Handel gemischt, von seinem Posten vertrieb. Indeß wurde dieser
Streit durch Entschädigung und Wiedereinsetzung Barrons wieder ausge¬
glichen.
Schwieriger war mit der Empörung des liberalen Generals Vidcmrri
fertig zu werden, welcher, zum Gouverneur von Cohabnila ernannt, diesen
Staat, ohne die Zustimmung der Regierung und des Kongresses eingeholt zu
haben, mit dem nachbarlichen Nuevo Leon verbunden hatte und sich über¬
haupt keine Rücksicht auf die zur Beschränkung der Macht der Provinzialre-
gienmgen ergangnen Erlasse des Präsidenten auferlegte. Comonfort setzte ihn
ab und entsandte ein Heer gegen ihn, mußte indeß froh sein, daß am 18.No¬
vember 1856 zwischen seinen Generalen und Vidcmrri ein Vertrag zu Stande
kam, in welchem letzterer ihn gegen Zugeständnisse, welche den eigenmächtigen
Gouverneur in den fast unumschränkten Besitz sämmtlicher Nordprovinzen
brachten, als Präsident anerkannte.
Inzwischen arbeitete die Geistlichkeit weiter südlich eifrig an Aufständen,
um den zwischen den Liberalen entstandnen Zwist zu benutzen, und es erho.
ven sich in mehren Orten gefährliche Aufstände. Eine Verschwörung der An¬
hänger Santa Ana's in der Hauptstadt, die im August 1856 ausbrechen sollte,
wurde noch zu rechter Zeit entdeckt und durch Verbannung der Anstifter ver¬
eitelt. Am 20. October pronuncirte sich die Garnison von Puebla unter dem
Obersten Orihuela für die Klerikalen, und zu gleicher Zeit erhob sich in den
Ebnen von Apar der Oberst Osollo gegen Comonfort. Der Regierungs¬
general Moreno schlug zwar diese Versuche nieder, aber wenige Tage nach
Zersprengung der Insurgenten veranlaßten die mit der Geistlichkeit verbunde¬
nen Conservativen eine Empörung der Garnison von San Luis Potosi. An
Spitze stand Jose Maria Alsaro, der, um sich Mittel zu verschaffen, eine
Zwangsanleihe aufschrieb, und zugleich 24,000 Dollars wegnahm, die im eng¬
lischen Consulate der Stadt in Verwahrung lagen. Auch dieser Pulses wurde
von der Negierung ohne große Anstrengung bewältigt, indem Osollo, der den
Oberbefehl über die Aufständischen übernommen, am 7. Febr. 1857 vom Ge¬
neral Parrodi am Magdalcnenberge geschlagen und der Rest der Insurgenten
einige Tage später von dem nun für Comonfort sümpfenden Vidamri in San
Luis Potosi gefangen genommen wurde.
Alles schien sich vortheilhaft für Comonfort zu gestalten. Am 5. Febr.
1857 vollendete der Kongreß die neue Verfassung, in welcher zum ersten Mal
religiöse Duldung, Freiheit des Unterrichts und der Presse, sowie Aufhebung
der besondern Gerichtsbarkeit ausgesprochen wurde, und nach der die welt¬
lichen und geistlichen Körperschaften keine liegenden Güter besitzen konnten.
Der Präsident beschwor dieselbe am 17. März, verblieb aber bis zum 5. Sep¬
tember, wo sie ins Leben treten sollte, im Besitz der bisherigen außerordent¬
lichen Vollmachten. In allen Staaten wurden Bürger und Militär auf die
neue Verfassung vereidigt, und obwohl die Bischöfe durch Hirtenbriefe Allen,
welche die Constitution beschwören würden, mit Excommunication drohten,
ging der Act allenthalben ohne Weigerung der Betreffenden vor sich.
Alles schien in bester Ordnung, als das mühsam aufgeführte Gebäude
plötzlich wieder zusammenfiel. Am 8. Oct. trat der Kongreß wieder zusammen.
Comonfort verlangte Erneuerung seiner außerordentlichen Vollmachten, aber
die Versammlung weigerte sich, obwohl in den einzelnen Staaten den Gouver¬
neuren von den betreffenden Congressen solche Vollmachten ertheilt waren,
und die Republik somit die Anomalie zeigte, daß Unterbeamte sich vermöge
außerordentlicher Befugnisse über die Verfassung hinwegsetzen konnten, während
das Oberhaupt des Staats, durch letztere gebunden, nicht die Macht besaß,
seine Gegner zu bekämpfen und die Constitution zu vertheidigen. Comon-
fort sah, daß so nicht zu regieren war, und schon war er im Begriff, durch
unen Staatsstreich dieser unnatürlichen Lage ein Ende zu machen, als die
Armee ihm zuvorkam.
Am 17. Dec. pronuncirte sich der General Felix Zuluaga in Tacubaya
gegen die Verfassung, jagte den radicalen Congreß auseinander und vermochte
Comonfort, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen. Letzterer ernannte
einen aus liberalen und reactionären Elementen zusammengesetzten Staats- ,
rath und versuchte durch Vermittelung der Parteien die Negierung fortzuführen.
Allein weder die liberale noch die klerikale Partei schenkte ihm Zutrauen.
Jene, an der Constitution festhaltend, erhob den Vorsitzenden des obersten
Gerichtshofs Benito Juarez zum Präsidenten; diese veranlaßte, daß die Bri¬
gade Zuluaga sich am 11. Jan. 1858 aufs Neue empörte. Comonfort ab¬
setzte und ihren Führer zum Präsidenten proclamirte. Umsonst versuchte
Comonfort sick wieder den Liberalen zuzuwenden, vergeblich, sich mit den weni¬
gen Truppen, die ihm treu geblieben, gegen die durch zahlreichen Zuzug von
Reaktionären verstärkten Aufständischen in der Hauptstadt zu vertheidigen.
Am 7. Febr. dankte er ab und schiffte sich nach den Ver. Staaten ein, und
Zuluaga nahm im Namen der Priesterpartei Besitz vom Präsidentenstuhl, von
dem er sofort durch Decret der Kirche ihre Verlornen Güter zurückgab. Ein
liberales Heer, das unter Parrodi zu seiner Vertreibung heranzog, wurde von
den Generalen Osollo und Miramon bei Salamanca geschlagen. Gleiches
Schicksal hatten, ebenfalls durch Miramon. die liberalen Generale Vidaurri
und Degollado, und die Reaction befestigte sich in der Mitte des Landes
immer mehr.
Die Republik Mexico war auf diese Weise im Frühjahr 1853 local in
zwei Hälften oder Bezirke getheilt. Die Reaction hatte die Staaten Mexico,
Gucmajuato, Queretaro, Puebla und Jalisco inne, wo der Klerus den meisten
Einfluß besaß, und ihr Präsident residirte in der Hauptstadt. Die Libera¬
len hatten die Oberhand im Nord.en. im äußersten Süden und an der
Küste, und ihr Präsident schlug seinen Sitz in Veracruz auf, dessen Gouver¬
neur Zamora der Verfassung treu geblieben war. Jene kämpften mit der
Mehrzahl der regulären Truppen und dem Gelde der Geistlichkeit, diese meist
mit Nationalgarten und dem Ertrag der Zölle in den Hafenplützen.
Zuluaga war von allen fremden Gesandtschaften anerkannt; als er sich
indeß wegen eines Zwangsanlehens mit dem Vertreter der.Ver. Staaten,
Forsyth, überworfen, forderte dieser seine Pässe, und die amerikanische Regie¬
rung accredirte ihren neuen Gesandten Mac Lane bei Juarez und gab damit
der liberalen Partei neues Ansehen. Bald nachher setzte General Nobles,
der einen Theil der Garnison von Mexico für sich gewonnen, Zuluaga ab,
indem er dessen Stelle einzunehmen hoffte, bewirkte aber nur, daß die Partei
den erst 27jährigen, aber durch seine Siege rasch berühmt gewordenen Mi¬
ramon zum Präsidenten ausrief. Derselbe lehnte zwar die Gewalt ab und
gab sie Zuluaga zurück, mußte sich jedoch, gedrängt von dem Klerus, der
Zuluaga der schwierigen Lage nicht gewachsen sah, entschließen, die Präsident¬
schaft definitiv anzunehmen.
Miramon beginnt seine Negierung mit einem Versuch. Veracruz den Li¬
beralen zu entreißen. Während er diesen Platz belagert, nähert sich Degollado
Mit dem Hauptheer der Gegenpartei den Thoren der Hauptstadt, wird jedoch
von dem General Marquez zurückgeschlagen. Die Belagerung von Veracruz
aber muß, da das Heer der Klerikalen von Fiebern heimgesucht wird, auf¬
gegeben werden. Nach Mexico zurückgekehrt, erfährt Miramon, daß Marquez
einen nach San Blas abgegangenen großen Silbertransport weggenommen
hat. Sofort eilt er zu ihm und nöthigt ihn zur Herausgabe des Raubes.
Auf seinem Marsch nach Guadalaxara trifft er den aufs Neue organisirten
Degollado und schlüge ihn dergestalt, daß er sich monatelang nicht er¬
holen kann.
In dieser Weise spinnt sich die Geschichte Mexicos geraume Zeit fort.
Beide Parteien suchen sich in unaufhörlichen Kämpfen aus ihren Stellungen
zu vertreiben, ohne daß es einer von beiden gelingt, einen für immer ent¬
scheidenden Schlag zu führen. Die Liberalen werden mit ihren aus National-
garten bestehenden Heeren fast immer zurückgeworfen, aber stets sammeln sie
sich zu neuen Angriffen, und wie ihre Versuche, die Hauptstadt zu nehmen,
erfolglos sind, so scheitern die Anstrengungen der Gegner, sich' der Stadt und
des Forts von Veracruz zu bemächtigen. Im Frühjahr 1860 ist Mircnnon
nahe daran, hier zu triumphire», indeß maß er nach vierzehntägiger Be¬
schießung der Stadt die Belagerung abermals aufheben, da zwei von
Cuba abgesandte Dampfer mit Knegsvon'alden für das klerikale Heer
von dem vor Veracruz liegenden nordamerikamscheu Geschwader wegge¬
nommen werden, und damit beginnt die Wngschale der Partei Miramons sich
zu senken.
Die Reaction hatte ihre ganze Hoffnung auf den Fall von Veracruz ge¬
setzt; denn hier allein konnte sie sich Geld verschaffen, was um so nöthiger
war. als die Geistlichkeit sich bereits von allen flüssigen Capitalien entblößt
und sogar schon einen großen Theil der Kirchengefäße zur Einschmelzung her¬
gegeben hatte.. Wo die Liberalen herrschten, nahm man ihr ohne Rücksicht
alles Eigenthum, wo Miramon die Gewalt ausübte, gab sie freiwillig
her, was zu entbehren war, und so wurde der von ihr im Laufe von Jahr¬
hunderten angesammelte Reichthum in der Zeit von wenigen Jahren, ohne
irgend Jemandem bleibenden Vortheil zu bringen, vergeudet.
Seit dem Rückzug von Veracruz sehen wir das Kriegsglück Miramons
Fahnen verlassen. In San Louis Potosi wird einer seiner Unterfeldherrn,
General Vega, von dem Oberbefehlshaber des liberalen Nordheers, General
Uraga, geschlagen und gefangen genommen. Zwar schlägt der klerikale Gene¬
ral Wool hold nachher Uraga bei Guadalaxara, aber sofort sammelt Degol-
lado die Liberalen aufs Neue in San Louis Potosi. um abermals gegen
Guadalaxara zu marschiren. wo jetzt der klerikale General Severo Castillo
commandirt. Um diese Zeit begibt sich ein Vorfall, der die fremden Mächte
aufs Neue verletzt. Von San Luis geht eine Conducta. d. h. ein für das
Anstand bestimmter Silbertransport von 1.200,000 Dollars nach Tampico
ab; Degollado. dem der Schutz dieser Gelder anvertraut ist, bemächtigt sich
derselben und vertheilt sie bis auf 400.000 Dollars unter seine Soldaten.
Juarez setzt ihn dafür ab und gibt die noch nicht vertheilten Neste des Trans¬
ports ihren Eigenthümern zurück, da er jedoch die Hauptsumme nicht wieder-
zuschaffen vermag, so bleibt Gr,und zur Klage und zur Forderung auf Ge.
-VWhMgWl.i>et.,i<.»« . Ili-l!^,',"^ in!i '/!!,>.! ! )«>« !
Jetzt aber nähert sich das Schicksal der Reaction mit starken Schritten.
Ignacio Zarragoza zieht mit 15000 Mann der liberalen Armee, die, weil sie
zugleich für größer? Selbstständigkeit der Provinzen kämpft, auch als höbe-
rale bezeichnet wird, gegen Guadalaxara und nöthigt nach heftigem Kampf
den dort stehenden klerikalen oder centralistischen Genera! Castillo zu einer
Uebereinkunft. in welcher Guadalaxara für neutral erklärt wird und die
Reactionäre sich verpflichten, unter Zurücklassung ihrer Munition und Ar¬
tillerie sechs Stunden östlich von der Stadt Stellung zu nehmen, was.
rend die Liberalen sich sechs Stunden westlich von derselben aufstellen
sollten.
Die Absicht dieses Vertrags war Einstellung der Feindseligkeiten, damit
auf gütlichem Wege eine Bereinigung der Gegensätze hergestellt werden könne.
Indeß wurde diese Absicht durch das verrätherische Verhalten der Klerikalen
vereitelt. Als Castillo erfuhr, daß der General Marquez ihm mit 2000 Mann
zu Hilfe ziehe, marschire er gegen das Abkommen mit Geschützen und Mu¬
nition aus Guadalaxara. Aber jenes Hilfshcer wurde auf dem Wege nach
diesem Ort von den Gegnern zersprengt und aufgerieben, und am 3. Nov.
nahm Zarragoza Guadalaxara nöt Sturm und schlug Castillo so nachdrücklich
muss Haupt, daß derselbe sich uur mit einem kleinen Nest seiner Reiterei nach
dem Süden zu retten vermochte.
Der Verlust von Guadalaxara war der Todesstoß für die Klerikalen.
Ihr Heer schmolz aus 6000 Mann zusammen, während das der Gegner jetzt
im Ganzen 30,000 Mann zählte. Miramon selbst konnte nicht mehr wagen
die Hauptstadt zu verlassen, da dieselbe bei seiner Entfernung sich sofort er¬
hoben und für die Liberalen erklärt haben würde. In dieser Lage berief er eine
Junta und dccrenrte ein Zwnngöanlehen von 300,000 Dollars; da dieses aber
nicht aufgebracht werden konnte, so ließ Miramon 100,000 Dollars, die eng¬
lischen Bondholders gehörten und im Hotel des britischen Gesandten deponirt
waren, gewaltsamer Weise — ein Raub, mit dem sich nun auch
die Klerikalen gegen das Ausland vergangen hatten.
Nach der Einnahme der Stadt Guadalaxara haben die Liberalen Muße,
ihre verschiedenen in den Provinzen zerstreuten Corps um die Hauptstadt zu
concentriren. und so schwillt ihr Heer auf diesem Punkt zu ungewöhnlicher
Stärke an. Indeß brauch! sich Miramon, da seine Truppen als reguläre
besser sind als die der Gegner, noch nicht verloren zu geben. Er macht ver¬
schiedene Ausfälle. Es gelingt ihm durch Marquez 700 Liberale, die bei To°
luna stehen, onfzuheben. Er unternimmt einen Streifzug nach Puebla. wo
er die in den Kirchen noch übrigen Kostbarkeiten entführt» damit sie dem Feind
nicht in die Hände fallen. Er wagt endlich noch einen Hauptschlag, indem er
an der Spitze aller noch verfügbaren Streittrüfte gegen das Centrum der Föde¬
ralen unter Zarragozcr marschirt. Noch einmal scheint ihm das Glück zu lächeln.
Er überrascht den Vortrab der Feinde auf der Straße nach Guadalaxara,
wirft denselben zurück und würde vermuthlich einen entscheidenden Sieg davon
getragen haben, wenn nicht sein unfähiger Bruder, beordert, mit der gesamm-
ten Reiterei einen Angriff zu thun, von dem Feinde zurückgetrieben worden
wäre und durch die wilde Unordnung, mit der seine Schaaren retirirten,
Miramons Fußvolk in Verwirrung gebracht hätte. Bei diesem Anblick flüch-
tet der Oberfeldherr der Reaction vom Schlachtfeld und ist der Erste, der die
Nachricht von der Niederlage der Partei nach Mexico bringt. Von dort flieht
er ohne Aufenthalt nach Veracruz und schifft sich auf einem spanischen Kriegs«
schiff nach Europa ein. wo er seitdem nach Kräften gegen sein Vaterland
conspirirte.
Die Liberalen nahmen nun von der Hauptstadt Besitz. Juarez ver¬
legte im Januar 186l seine Residenz nach Mexico und wurde nun
von allen fremden Mächten als Präsident anerkannt, eine Würde, die das
Volk der Republik durch neu aufgeschriebene Wahlen bestätigte, worauf
er am 1. Juli 1861 seine Regierung als constitutioneller Präsident Mexico's
antrat.
So siegte nach fünfjährigem, von beiden Seiten mit großer Grausamkeit
geführten, durch massenhafte Hinrichtungen Gefangner befleckten, mit Zwangs¬
anleihen bei Einheimischen und Fremden und mancherlei Beeinträchtigung der
Interessen des Auslands fortgeführten Bürgerkrieg endlich die liberale Partei,
und zwar mehr durch die Gewalt der öffentlichen Meinung, als durch das
Talent ihrer Führer. Unstreitig hatte die Reaction auf ihrer Seite ein ge¬
übteres Heer, geschicktere Generale, unzweifelhaft machte sie die Einheit der
Führung stärker als die Gegner, sicher auch kämpfte für sie der Muth, den
die Ueberzeugung gibt, daß mit einer Niederlage jetzt Alles, selbst die per¬
sönliche Existenz verloren gehen müsse. Aber obwohl die Partei in fast allen
Schlachten, selbst gegen sehr überlegene Massen siegreich war, mußte sie doch
zuletzt unterliegen, da sie ihre Verluste nicht ersetzen konnte, während die
Liberalen, durch die Sympathien bei Weitem des größten Theils der Na¬
tion unterstützt, nach jeder Niederlage neue'Heere ins Feld zu stellen ver-
mochten.
Die Thronrede begann mit einer Erinnerung an den Ernst der Zeit.
Die Mitglieder des Landtags erkannten dies an. indem sie die Rede schwei¬
gend anhörten. Aber wo liegt der Ernst dieser Zeit? In den äußeren Ver¬
hältnissen offenbar nicht. Denn wenn es auch an mancherlei Verwicklungen
in Europa nicht fehlt, so wird doch aller menschlichen Voraussicht nach das
gegenwärtige Jahr ein Friedensjahr sein. Vielmehr entspringt der Ernst der
Lage aus der Spannung unserer inneren Verhältnisse. Die Regierung stellt
in Betreff der Armeeorganisation eine Forderung, welche das Land für über¬
trieb, n halt; die Regierung will aus der Bewilligung dieser Forderung eine
Cabinetsfrage machen; das Land will die Forderung nicht gern bewilligen,
wenigstens nicht vollständig, und will doch zugleich womöglich die gegen¬
wärtige Regierung behalten. Die Regierung ihrerseits erstrebt aufrichtig die
zum Ausbau unserer Verfassung erforderlichen geschlichen Reformen. Aber sie
rückt damit nicht von der Stelle. Denn der eine Factor der Gesetzgebung
stemmt sich mit der größten Hartnäckigkeit jeder wünschenswerthen Reform
entgegen. Die Folge ist. daß die Regierung gelähmt und die Gesetzgebung
vollständig gehemmt wird. . Alle liberalen Reformen scheitern om Herrenhaus;
und die Armeereform, auf welche das Land ungern eingeht, ist dem Herren¬
haus erwünscht. Dies ist ein neuer Grund, gerade diese Nesorni im Lande
noch unpopulärer zu machen.
Wenn also unsere Lage ernst und schwierig ist, so liegt die Ursache im
Herrenhaus. Das Abgeordnetenhaus wird der Regierung keine großen
Schwierigkeiten bereiten. Was man bis jetzt von den in Aussicht stehenden
Vorlagen des Ministeriums vernimmt — Kreisvrdnnng, Aufhebung der guts¬
herrlichen Polizei, Gesetz über die Ministervrrantwonlichkcit, Reform der
Oberrechnungskammer — das Alles darf im Abgeordnetenhaus auf ein will¬
fähriges Entgegenkommen rechnen. Von einzelnen Seiten werden wohl
Wünsche laut werden, die etwas weiter gehen, als die Regierung folgen
möchte. Aber es wird nie schwer werden, sich über ein billiges Maaß zu
verständigen. Selbst die Militärvvrlage ist nicht eine so gefährliche Klippe,
daß das EinVerständniß zwischen Negierung und Abgeordnetenhaus unbedingt
daran scheitern müßte. Wenn ein Mann, der so weit rechts gebt wie Kühne,
zugesteht, daß die Forderung der Negierung als dauerndes Friedensbudget
das Land zu stark belasten würde, und wenn andererseits ein Mann, der so
weit links geht wie Tochter, die Armeereform im Princip als nothwendig
anerkennt, so muß bei einigem guten Willen sich eine Linie finden lassen,
auf der die entgegengesetzten Ansichten sich vereinigen können.
Aber, so ist der stete Refrain, den man aus allen Kreisen hcraustönen
l?ort, wir können es nicht verantworten, dem Lande eine so schwere Last auf¬
zubürden, wenn nicht zu gleicher Zeit wenigstens die Reformen der Gesetz¬
gebung in liberaler Richtung durchgeführt werden. Dafür aber ist keine Aus¬
sicht vorhanden, so lange das gegenwärtige Herrenhaus besteht. Was nützt
es uns. daß die Regierung „den Ausbau unserer Verfassung vor Augen hat,"
daß sie die nothwendigen Reformen „nicht zurückhält?" Mit diesem contem-
plativen und passiven Verhalten ist es nicht genug. Wenn die Regierung
es fortwährend ruhig ansieht, wie Jahr für Jahr alle Gesetzentwürfe im
Herrenhaus abgeschlachtet werden, so muß sie auch im Abgeordnetenhaus den
festen Boden verlieren. Man will wenigstens erst sehen, daß die Regierung
entschlossen ist, zur Durchführung der beabsichtigten Reformen Hand anzu¬
legen. Aber davon ist nichts zu erkennen. Die Thronrede schweigt gänzlich
über diesen Punkt. Die Aeußerungen, die sonst von ministerieller Seite fal¬
len, stellen es vollends außer Zweifel, daß für jetzt an.eine Reform des Her¬
renhauses gar nicht gedacht wird.
Also soll die gegenwärtige Session sich wieder resultatlos hinschleppen?
Eine andere Aussicht sehen wir nicht vor uns. Nun transpirirt freilich aus
ministeriellen Kreisen folgende Auffassung: Die Minister hätten die schwere
Verpflichtung, das Abgeordnetenhaus für das Militärbudget zu gewinnen,
nicht auf sich nehmen können, ohne sich von dem König die Zusicherung ge¬
ben zu lassen, daß dann die dein Lande verheißenen Reformen an keinem
Widerstände des Herrenhauses scheitern dürften. Es wird daher versichert,
daß für den Fall der Annahme des Kriegsbudgets das Herrenhaus nicht
wagen werde, den Reformen, die das Land sür die übernommene Last ent¬
schädigen sollen. Widerstand zu leisten, und daß. wenn es dies doch thun
sollte, der König sich keinen Augenblick weiter besinnen werde, von der Prä-
rogative Gebrauch zu machen, welche ihn in den Stand setzt, den Wider¬
stand des Hauses in jedem Augenblick zu brechen. Das ließe sich schon hö¬
ren, wenn es' möglich wäre, eine solche Versicherung in einer irgendwie bin¬
denden Form zu geben. Da dies nickt möglich ist, so wird das Abgeord¬
netenhaus es nicht verantworten können, ein solches herumgeflüstertcs on an
zur Grundlage seiner Bewilligungen zu machen. Lieber wird es abwarten
wollen, wie nach dem ersten ablehnenden Votum des Herrenhauses die Sache
weiter verläuft. Das ist um so leichter, weil die Abstimmung über das Bud¬
get ohnehin immer gegen das Ende der Session sällt. Freilich wird die Militär¬
frage noch in einer anderen Gestalt, als in dem Budget, vor dasAbgcordnetenhaus
kommen. Die Durchführung der Armeereform macht eine Abänderung des Ge-
setzes vom3. spe. 1814 über die Verpflichtung zum Kriegsdienst erforderlich. Denn
während nach dem bestehenden Gesetz die Neservepflicht nach dem Ablauf der
dreijährigen Dienstzeit nur zwei Jahre, bis zum zurückgelegten 25. Jahre,
dauert, ist bei der veränderten Armeeeinrichtung die Ausdehnung der Neserve-
PfM)t auf vier Jahre bis zum zurückgelegten 27. Jahre, erforderlich. Dies
kann natürlich nur durch ein Gesetz geschehen. Der betreffende Entwurf wird
ohne Zweifel unter den ersten Vorlagen sein, welche dem Abgeordnetenhaus
gemacht werden. Die Abstimmung über diesen Entwurf ist für die Genehmi¬
gung oder Verwerfung des Militärbudgets präjudicirlich. Denn sobald man
dieArmeeresorm im Princip genehmigt hat. kann man die dafür erforderlichen Mit¬
tel nicht verweigern. Also wird die entscheidende Abstimmung der ganzen Session
muthmaßlich diejenige sein, in welcher das Haus sich über die Novelle zum
Gesetz vom 3. Sptbr. 1814 erklärt. Aber auch die Abstimmung über diesen
Entwurf wird sich leicht bis gegen das Ende der Session hinziehen; denn ore
Berichterstattung darüber erfordert die allerumfassendsten finanziellen, Volks'
Wirthschaftlichen und technisch militärischen Vorarbeiten.
Andererseits wird das Herrenhaus gewiß nicht nachgeben. Die Hart¬
näckigkeit Stahl's lebt in dieser edlen Körperschaft fort, wenn auch sein Geist
von den Junkern schmerzlich vermißt werden wird. Schon in den wenigen
formellen Geschäften, die bis jetzt vorgekommen sind, hat das Herrenhaus
bewiesen, daß nur gutmüthige Thoren auf seine Nachgiebigkeit hoffen
können. Die Krcisordnung, die Aufhebung der gutsherrlichen Polizei, das
Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit, das über die Oberrechnungskammer
werden im Herrenhaus fallen, oder sie werden so verstümmelt werden, daß
die Minister ihre eigenen Kinder nicht wieder erkennen. Aber auch das Herren¬
haus wird nicht gern den ersten falschen Schritt thun wollen; es wird nicht
gern sich selbst zuerst ins Unrecht setzen. Deshalb wird voraussichtlich auch
das Herrenhaus mit diesen entscheidenden Abstimmungen möglichst lange zö¬
gern. Die erste Vorlage, welche ihm zugegangen ist, ist eben so umfangreich,
als politisch unverfänglich. Die allgemeine Wegeordnung wird für einige Zeit
im Herrenhaus als nützlicher Blitzableiter dienen.
Das Resultat von alledem ist. daß wir auch in diesem Jahre voraus¬
sichtlich zwischen beiden Häusern einen Wettlauf der Langsamkeit haben werden.
Beide werden sich bemühen, möglichst spät zu den großen entscheidenden Fragen
zu gelangen, weil jedes Haus wünschen wird, vorher die Abstimmung des
anderen Hauses zu kennen. Diejenigen, welche gleich zu Anfang der Session
allerlei aufgeregte Scenen erwartet haben, werden sich bitter getäuscht sehen.
Die ersten Monate werden ohne Zweifel sehr ruhig, vielleicht etwas lang¬
weilig verlaufen. Wie die Sache am Ende ausgeschlagen wird, das vermag
Niemand vorherzusehen.
Mit welch anderer Freudigkeit würden die Arbeiten dieser ^Session be¬
gonnen sein, wenn die Regierung den Schritt, welchen sie für den Schluß
der Diät in eine ziemlich nebelhafte Aussicht stellt, gleich zu Anfang wirklich
gethan hätte. Mit dem jetzigen Herrenhaus ist es nicht möglich zu regieren.
Darüber ist unter verständigen Leuten seit lange kein Zweifel mehr. Entweder
man will vorwärts; dann muß man zuerst das Herrenhaus aus dem Wege
räumen. Oder das Herrenhaus bleibt in Kraft; dann muh man sich am
Ende doch entschließen, in seinem Sinne zu regieren. Eine andere Alternative
gibt es nicht. Wenn gutmüthige Schwärmer auch noch gemeint haben, man
könne das Herrenhaus zum Constitutionalismus erziehen, so trauen wir dem
Grafen Schwerin die nöthige pädagogische Fähigkeit nicht zu. Den Ruhm
einer festen consequenten Haltung muß man den Junkern lassen, wenn auch
die Ursache dafür nur in ihrer Bornirtheit zu suchen ist.
Es gibt manche Seiten, von denen aus das Herrenhaus angegriffen
werden kann. Eine sehr verbreitete Ansicht hält die Zusammensetzung desselben
für illegal. Die Gründe dafür sind bekannt. Die Verordnung vom 12.
Oct. 1854, welche die Zusammensetzung des Herrenhauses regelt, sollte zur
Ausführung des Gesetzes vom 7. Mai 1853 dienen. Aber in sehr wesent¬
lichen Punkten steht die Verordnung mit dem Gesetz in Widerspruch. Das
Gesetz kennt nur erbliche oder vom Könige auf Lebenszeit ernannte Pairs;
die Verordnung dagegen läßt die meisten Mitglieder des Herrenhauses aus
der Wahl gewisser Verbände hervorgehen, denen ein Präsentationsrecht bei¬
gelegt ist. Mit dem Geist des Gesetzes steht dies unbedingt in Widerspruch,
wenn auch mit dem Buchstaben des Gesetzes ein gewisser Einklang dadurch
hergestellt werden kann, daß man die Präsentation für nichts weiter als für
eine Art von Vorschlag erklärt, den der König auch zurückweisen kann. Bis
jetzt wenigstens hat die Regierung sich an diesen Vorschlag gebunden gehalten,
wie noch die jüngsten vier Berufungen ins Herrenhaus bewiesen haben. Aber
unbedingt sowohl mit dem Geist als mit dem Buchstaben des Gesetzes steht
es in Widerspruch, daß nach der Verordnung die Mitgliedschaft unter gewissen
Bedingungen erlischt; das Gesetz kennt unbedingt nur erbliche oder lebensläng¬
liche Pairs. Diese Illegalität läßt sich nicht wegdisputiren. Die Eonsequenzen
davon aber sind sehr ernst. Denn sie führen nothwendig zum Zweifel an
der Legalität der Gesetze, welche unter Mitwirkung des Herrenhauses, also
eines illegaler Factors. zu Stande gekommen sind.
Dies ist ein neuer und dringender Grund, so schnell als möglich die
Hand an die Reform des Herrenhauses zu legen. Auch genügt es nicht, durch
einen Pairsschub sich eine nothwendige Majorität für einen einzelnen Fall
zu schaffen. Denn dabei bleibt das Uebel bestehen und außerdem ist eine
solche Maßregel immer gefährlich. Wenn für die Durchbringung eines ein-
zelnen Gesetzes ein Pairsschnb vorgenommen wird, so gewöhnt man sich da¬
ran, das Herrenhaus, weiches seinem Beruf nach ein Hort der conservativen
Principien sein so», als ein Spielzeug in der Hand der jedesmaligen Ne¬
gierung zu betrachten. Wer die Befestigung der bürgerlichen Freiheit mit
Einsicht erstrebt, der wird in unserem Oberhaus lieber das englische Haus
der Lords, als die frühere französische Pairskannner nachgeahmt sehen. Allein
gerade um einen häufig wiederholten Pairsschnb zu vermeiden, maß man sich
für ein einziges Mal zu einem großen Pairsschub entschließen. Um diese mon¬
ströseste Schöpfung der Reactionszeit zu beseitigen, ist ein energisches Mittel
nothwendig. Wenn die Regierung einen Gesetzentwurf über eine andere ver¬
ständigere .Zusammensetzung des Oberhauses einbringt, und zugleich durch
einen großen Pairsschub trat ne>e sich eine Majorität verschafft, damit das
Herrenhaus sich selbst ans legale Weise das Toöesurtheil sprechen könne, dann
sind wie mit einem Schlage alle inneren Schwierigkeiten beseitigt. Das wäre
eine Maßregel, »angemessen dem Ernst der Zeit, von dem die Thronrede
spricht.
Statt dessen beschäftigen wir uns hier mit der Fractionsbildung und
mit der Adreßfrage. Die Fractionsbildung hat sich ungefähr so gestaltet, wie
ich es schon vor vierzehn Tagen vorhergesagt habe. Die früheren Mitglieder
der constitutionellen Partei haben sich nickt vollständig wieder zu einer Frac-
tion zusammen gefunden. Die mehr ministerielle, oder wie es jetzt heißt
»gouvernementale" Mehrheit der Partei ist in der Fraction Grabow vereinigt,
und bildet jetzt die rechte Seite der liberalen Majorität des Hauses. Ein
Theil der früheren Genossen dieser Partei hat sich unter Harkort und Stavcn-
Hagen abgesondert; ohne ein verschiedenes Programm aufzustellen, wollen, diese
doch sich eine größere Unabhängigkeit bewahren. Andrerseits wird durch die
deutsche Fortschrittspartei die linke Seite der liberalen Majorität gebildet.
Aber auch von dieser Fraction hat sich ein Theil, der etwas mehr rechts
nüancirt ist, nnter Aßmann, Hinrichs. Techow abgesondert. Wir haben also
innerhalb der großen liberalen Mehrheit eine Rechte, eine Linke, ein rechtes
und ein linkes Centrum. Bei der Militärfragc wird die Rechte (Fraction
Grabow) zur Nachgiebigkeit geneigt sein, die Fortschrittspartei nicht; die Ent¬
scheidung wird also wahrscheinlich in der Hand der beiden Ccntrumfractionen
liegen.
Eine Adresse wird drcsmal wohl nicht erlassen werden. Sie könnte nichts
nützen. Wie die Sachen einmal liegen, würde sie nur unnöthig reizen. Lei¬
ter hat sich bei uns die frühere französische Form der Adreßdebatte eingebür¬
gert. In der französischen Deputirtenkammer war die Adreßverhandlnng der
entscheidende Vorgang der ganzen Session. Bei der französischen Borliebe
für die Phrase war dies natürlich. Für uns wird es sich besser ziemen, das
Verhältniß von Regierung und Volksvertretung sich ein den concreten Fragen
entscheiden zu lassen. Könnten wir eine Form finden, um wie in England
die Adreßdebatte auf einen Tag zu beschränken, so möchte die Adresse immer¬
hin als eine vorläufige Probe der Stärke der Parteien gelten können. Aber
dazu würde vor allen Dingen eine Abänderung unserer ganz büreaukratischen
G
Wallstreet ist das Gehirn oder Herz, oder wenn man will, das Thermo¬
meter des amerikanischen Geldmarkts. So geschah es, daß die Nachricht
von der in der ersten Woche dieses Jahrs erfolgten Einstellung der Specie-
zahlungen von Seiten der Neuyorker Banken in England bedeutendes Auf¬
sehen machte. Die Sache verdient aber als Zeichen der Zeit in der That
allgemeine Beachtung. Die Londoner Zeitungen, namentlich „Times" und
„Herald", sehen in der Maßregel, die beiläufig bei den Finanzplänen Chase's
vorauszusagen war, schon den Anfang des Endes. Der „Herald" weissagt,
daß die amerikanischen Staatsnoten bald nicht mehr werth sein werden, als
das Papier, das zu ihnen verwendet wird, die „Times" nimmt als bereits
eingetreten an. was sie den Uankees wünscht, und vergleicht den Zustand der
Union mit der Finanznoth Oestreichs.
Dergleichen Redensarten sind offenbare Ausflüsse des Verdrusses, den
England darüber empfindet, daß der Krieg in Amerika fortdauert. Man haßt
jeden Krieg, da jeder den englischen Interessen schadet, und man haßt diesen
ganz besonders, weil er England ganz besonders schwer trifft, und in diesem
Haß übertreibt man und vergißt, daß, wenn England zwanzig ganze Jahre
hindurch seine Baarzahlungen eingestellt hat, ohne deshalb bankerott zu
werden, dies zwar nicht ganz, aber doch in gewissem Maaß auf Amerika
paßt.
Im Folgenden geben wir eine kurze Uebersicht der wahren Sachlage, die
allerdings bedenklich, aber nichts weniger als hoffnungslos ist. Das in
Rede stehende Ereigniß hat seine Ursache darin, daß der amerikanische Finanz¬
minister, als es mit den zur Bestreitung der Kriegskosten nöthigen Anleihen
stockte, sich zur Ausgabe uneinlösbarer Noten entschloß, und daß das Pu-
ducum diesen Noten nicht das erforderliche Vertrauen schenkte. Aehnlich würde
das Volk in allen Ländern verfahren, wenn politische Wirren sich ein¬
stellten und die Furcht entstünde, daß, um ungeheure Zahlungsrückstände zu
decken, eine massenhafte Ausgabe von Papiergeld beabsichtigt sei. Die Banken
verloren in den letzten beiden Wochen des verflossenen Jahres ungewöhnlich
viel von ihrem Baarvvrrnth, jeden Tag wurden ihnen größere Summen ab¬
gefordert.*) Die Erwartung, daß sie ihre Barzahlungen einstellen und bald
nur Noten ausgeben würden, steigerte das Verlangen nach Metallgeld, da
man wußte, daß dieses im Werthe nicht schwanken und bald mil Vortheil
zu verkaufen sein würde. Unter diesen Umständen hatten die Banken keine
andere Wahl, als die Erfüllung ihrer Verpflichtungen in Baarem sofort zu
suspendiren.
Die Folge hiervon wird eine Verminderung des Werthes der amerika¬
nischen Actien und Staatsschuldscheine in England sein, da die Besitzer der¬
selben, deren Papiere in Dollars zahlbar sind, für ihre Dividenden weniger
Pfunde Sterling erhalten werden, wenn diese Dividenden in Papier ausge¬
zahlt werden, an dein man verliert. Alle Papiere der fundirten Schuld der
Föderalregierung gehören in diese Kategorie, und die Wirkung der Maßregel
muß nothwendig den Werth derselben verringern. Indeß wird eine starke
Entwerthung keineswegs plötzlich stattfinden, da das amerikanische Finanzmi¬
nisterium die letzten Dividenden in Metall ausgezahlt hat und wahrscheinlich im
Stande sein wird, dasselbe auch und der nächstfälligen zu thun.
Bei sehr langer Dauer des Krieges aber wird sich die Sache allerdings-
höchst wahrscheinlich anders gestalten. Die Kosten des Kriegs, den die Union
unternommen hat, betragen mehr als sieben Mal soviel als bisher die ge¬
wöhnlichen Einnahmen einbrachten, und können vernünftigerweise nicht durch
Besteuerung allein beschafft werden. Wer Credit hat, muß sich in solchen
Fällen dessen bedienen, aber Föderationen haben in Zeiten revolutionärer Ver-
unemigungen wenig Hoffnung, auswärts Credit zu finden, und Amerika ist
ein neues Land, wo der Jnteressensuß hoch steht, wo jeder Thaler gut an¬
gelegt ist, und wo in Folge dessen das Volk seiner Regierung nicht viel leihen
kann. Das conrsirende Geld blieb somit der einzige Fond, aus ven die Ne¬
gierung in der Krisis, nachdem aller Credit erschöpft war, sich sofort eine große
Summe verschaffen konnte: der Finanzminister der Union mußte uneinlösbares
Papiergeld ausgeben, und dies ist jetzt geschehen.
Amerikanische Zeitungen riethen zu einer starken Besteuerung. Sie schlu¬
gen eine Steuer von einem Procent von allem Eigenthum vor und hielten
das für eine nicht sehr drückende Abgabe. Diese Behauptung ist einer dop¬
pelten Täuschung entsprungen. Denn erstens wäre eine solche Besteuerung in
der Geschichte der Völker unerhört, und dann erwartet man von derselben
einen Ertrag von circa 100 Millionen Dollars, dieser aber wäre nur etwa
der dritte Theil der Summe, die man zur Fortsetzung des Krieges bis gegen
das Ende dieses Jahres bedarf, so daß nach einer Einkommensteuer, doppelt
so hoch als je eine Nation getragen, die Verein. Staaten immer noch ein un¬
geheures Deficit haben würden. Bei einigermaßen genauer Betrachtung der
betreffenden Zahlen also ergibt sich sofort, daß in einem Fall wie der vor¬
liegende eine Steuer ausreichende Hilfe nicht gewähren kann,
Man kann sagen, die südliche Consöderation behauptet sich ja mit sehr
entwertheten Geldzeichen. Die Bürger der aufständische» Staaten leiden ohne
Zweifel schon jetzt, und sie werden noch mehr leiden. Aber sie können doch
bestehen, können leben. Weshalb sollte der Norden nicht dasselbe vermögen?
Wir antworten: aus zwei Ursachen nicht, wenigstens nicht auf längere
Zeit. Erstens, die theilweise Entwerthung des umlaufenden Geldes ist für
civilisirte und vorwiegend handeltreibende Nationen ein sehr gefährliches Aus-
kunftsmittel, während sie weniger civilisirten, hauptsächlich ackerbauenden Völ¬
kern vcrhältnißmüßig wenig schadet. Der Süden kann seine Baummolle,
seinen Reis und seinen Zucker erzeugen, wie sichs auch immer mit dem Stande
seines Papiergelds verhalten möge; aber die täglichen Verluste durch ein täg¬
lich mehr an Werth verlierendes Umlanfsmittcl müssen in Neuyork und andern
Küstenplätzen allmähUg den Ruin herbeiführen. Zweitens, der Norden hat
eine Flotte und eine kostspielige Armee zu erhalten, und der Süden hat keine
Flotte und eine wohlfeile Armee. Die aristokratische Natur des Südens läßt
viele seiner Offiziere nicht blos umsonst dienen, sondern bewegt sie sogar,
ganze Compagnien von Gemeinen vollständig oder theilweise auf eigne Kosten
cuisznrüsten. Der Süden braucht nicht halb so viel Geld zum Kriege als
seine Gegner, und er kann dasselbe durch uneinlösbare Noten der Regierung
mit weit weniger Gefahr beschaffen.
Wir kommen zum Schluß dieser Betrachtung, der dahin geht, daß im
Fall einer langen Fortdauer des Kriegs zwischen Süd und Nord dem letztem
schwere Verlegenheiten in '.'lnssicht stehen, und daß Mr. Chase, wenn er die
Summen ausgeben will, von deney er spricht, Papiergeld zu einem Betrag
in die Welt werfen muß, der Jedermann erschrecken wird, der die Papiere der
sundirten Schuld mit der Zeit tief Herabdrücken, die Geschäfte zwischen Ame¬
rika und Europa verwirren und stören, dem Gläubiger nehmen und dem
Schuldner geben und schließlich dem gesammten Credit der Ver. Staaten dies¬
seits des Oceans ein Ende machen wird.
Die erste Wirkung der Suspension der Baarzahlung also wird nicht so
gewaltigen Schaden verursachen, als Manche prophezeien, aber die Aussichten
sind für die Amerikaner allerdings düster genug. Die einzige Hoffnung liegt
in einer baldigen Beendigung des Bürgerkriegs. Ob diese zu erwarten ist,
läßt sich nicht sagen, aber mau sollte meinen, daß alle Denkenden unter der
handeltreibenden Bevölkerung des Nordens sie im Stillen wünschen müßte».
Die Hauptstärke des Nordens schien in seinem Geld zu liegen. Geld war
das Element, mit welchem die Nordstaaten die südlichen so sehr überwogen,
daß ein ins Detail eingehender Vergleich unnütz, ja lächerlich erschien. Jetzt
ist dieses Geld ausgegeben oder doch in bedenklichem Grad vermindert, der
Süden aber noch immer unbczwungen. Ein Jahr noch von dieser Lage, und
der „allmächtige Dollar" wird auch in dieser Angelegenheit seine Allmacht
kund geben.
Der Verfasser hat durch Reisen im Orient und langjährige Wirksamkeit an
höhern mohammedanischen Lehranstalten ein besonderes Recht auf Beachtung erwor¬
ben, und er urtheilt über religiöse Dinge von einem Standpunkt aus. der dem
d. Bl. verwandt ist. Auch die Methode, der er folgt, die nämlich, ohne Haß und
Liebe für bestimmte Persönlichkeiten lediglich dem Wahren der Sache nachzu-
trachten, scheint uns für den Geschichtsforscher die richtige. Mohammed ist ihm
weder ein Werkzeug des Teufels uoch ein Heros im Sinne Carlyles, der .Is¬
lam weniger aus dem Willen seines Stifters als aus den Conjuncturen und Be¬
dürfnissen der Zeit seiner Entstehung hervorgegangen. Mit Sorgfalt spürt er
in den Legenden und Mythen, welche das Bild des Propheten in der arabischen
Tradition umgeben, dem eigentlichen und echten Charakter desselben nach. Die Bio¬
graphie Mohammeds hat schon frühzeitig einen dogmatischen Charakter angenommen.
Die Schriftsteller des Abendlands haben sich meist begnügt, diese dogmatische Biographie
in nüchterner Auffassung, aber ohne weitere Forschungen wiederzugeben. Sprenger da¬
gegen nimmt sich die Forschungsmethode der Geologen zum Muster. Er durchbricht jene
dogmatische Kruste und verfolgt das Traditionswcscn der Moslim bis in die Periode zu¬
rück, wo, wenn die Erzähler von der Wahrheit abweichen, jeder seine eigne Legende erzählt.
So gelingt es ihm, wie der Richter aus den Aussagen selbst unlauterer Zeugen den
Thatbestand ermittelt, durch Vergleichung verschiedener Traditionen von ein und dem¬
selben Ereigniß bis zu einem gewissen Grade befriedigende Resultate zu gewinnen. And¬
rerseits aber bietet sein Verfahren den Vortheil, daß die Entwickelung der Mythen
dabei bis in die Ciuzelnheiten verfolgt wird, wobei sich nicht unwichtige Ergebnisse
auch für die Mythen andrer Völker und Bekenntnisse herausstellen. Das Buch
ist vorzüglich für zwei Klassen von Lesern bestimmt: für den Forscher, der ohne
Arabisch zu verstehen, doch eingehende Studien über den Islam zu machen wünscht,
und für das große gebildete Publicum. Für letzteres sind die Ergebnisse der For¬
schung des Verfassers zu einer Charakteristik Mohammeds und des Islam zusammen¬
gestellt, für den Forscher sind Beispiclsammlungen und Excurse in Noten und An¬
hängen beigegeben. Wer sich mit einer allgemeinen Kenntniß begnügt, kann diesen
gelehrten Apparat ohne Nachtheil überschlagen; indeß machen wir darauf aufmerk¬
sam, daß sich darunter Notizen befinden, die auch von allgemeinem Interesse sind.
Gelegentlich eingestreute Aeußerungen des starken Selbstgefühls des Verfassers wann
besser weggeblieben, und ob alle Belege und Schlüsse richtig sind, wird der kleine
Kreis von Fachgenossen zu beurtheilen haben, der dieses Gebiet der Wissenschaft be¬
baut. Wir behalten uns vor, demnächst durch einen Auszug aus den Resultaten
des Verfassers ein Bild des Propheten von Mekka, wie er sich nach dieser Unter¬
suchung darstellt, zu geben.
Der neuen Auflage, die in mehreren Kapiteln eine fast vollständige Umgestal¬
tung ist, liegen vorzüglich die Studien des Verfassers in den Berliner Staats- und
Kabinctsarchiven zu Grunde. Vieles ist dadurch ergänzt, Anderes in ein neues Licht
gerückt, Einiges weggefallen. Auch die Form hat, namentlich durch Kürzungen,
bedeutend gewonnen, was hauptsächlich in den ersten Abschnitten dieses Bandes
wünschenswert!) war. Die Bereicherung und Vertiefung des Inhalts dagegen tritt
im Vergleich mit den früheren Auflagen besonders im zweiten Buch hervor, wo die
neue» Quellen, die der Verfasser sich geöffnet sah, eine um Vieles vollständigere
Darstellung der Politik der deutschen Mächte nach den Kongressen von Reichenbach
und Pillnitz, der Geschichte der Revolutionskriege, des Zusammenhanges der Vor
gänge im Westen mit der orientalischen und polnischen Frage und vor Allem der-
Umsiände erlaubte», weiche zum Frieden von Basel führten. Indem wir bemerken,
daß die beiden folgenden Bände der neuen Auflage noch im Lauf dieses Jahres
erscheinen sollen und das Ganze bis Ostern 1363 vollendet sein wird, empfehlen
wir das Werk in dieser veränderten Gestalt auf das Wärmste.
Wenn ein deutscher Gelehrter zu schwärmen und irre zu reden beginnt, so thut
er's in der Regel gründlich. Daß auch die Beschäftigung mit den exacten Wissen¬
schaften davor nicht immer schützt, zeigt wieder einmal dieses Buch, ein wahrer
Berg wunderlicher Einfälle, aus Schelling'scher Naturphilosophie, gnostischen Gcister-
thcoricn, Kerncrschcn und Schubcrtschcn Phantasien über die Nachtseite der Natur,
amerikanischem Spiritualismus und verwandten Gebieten menschlicher Faselei zu¬
sammengefahren und zum System geschichtet von einem Professor der Zoologie
und mit Beispielen aus der Spinnstube und den Ammenmärchen belegt von
demselben. In den ersten Kapiteln erläutert uns der Verfasser seine Ansicht über
das Universum, die uns lebhaft an die Theologie der Mormonen mit ihrem
Obergott und ihren Untcrgöttcrn erinnert, und die in der Kürze folgendermaßen
lautet: Es gibt einen Univcrsalgcist, jeder Weltkörper aber hat seinen besondern
Geist, sein „Princip" oder» seinen „Dämon". Der in der Sonne heißt Hcliodnmon,
der in der Erde Geodämon, der im Mercur Hermvdümon u, s. w. Der Univer-
salgcist kennt und durchdringt alle Wcltkörperdämoucn, während diese ihn nicht
kennen. Die Weltkörpcrdämoncn ihrerseits wissen von den Wesen, die sich auf
ihrem Körper bewegen, und erfüllen sie, wogegen diese letzten wieder (auf der Erde mit
Ausnahme des Herrn Professor Perty) kein Bewußtsein von ihnen haben. Nachdem der
Magus von Bern diese sublimen Wahrheiten auseinandergesetzt, treten 'wir mit ihm
in das eigentliche Zauberthcatcr, wo uns das gestimmte Repertoir der Nervenkrank¬
heiten, welche schwäbische Mystik als Hereinragen der Geisterwelt in das Tagleben
erklärte, Visionen und Halucincitionen, Nachtwandeln, Hellsehen, Besessenheit, Zauberei
und Hexcnwcscn, Tischklopfen und Spuken nochmals vorgeführt, an zahlreichen
schönen Beispielen erläutert und dann nach den Grundsätzen der neuen Wissenschaft
gedeutet wird. Zuletzt gipfelt das System in folgenden Resultaten: 1) Es
gibt Kräfte und durch sie bewirkte zum Theil sinnlich wahrnehmbare Phänomene,
welche nicht nach den bis jetzt bekannten Natur- oder psychologischen Gesetzen,
sondern nach Gesetzen einer höhern Ordnung sich richten. Man hat diese Kräfte
und Erscheinungen von vorzugsweise geistigem Charakter magische genannt.
2) Zahlreiche Phänomene, welche die Vergangenheit fremden Wesen, Göttern,
Engeln und Dämonen zuschrieb, kommen unwidersprechlich durch die Menschen
ZU Stande, die sämmtlich mit magischen Kräften begabt sind, welche jedoch
nur in einzelnen Individuen und unter gewissen Umständen wirksam werden.
3) Wenn das Magische in seiner höchsten Bedeutung das von Raum und
Zeit Freie, das Allgemeine, Allschaucnde, Allwirksamc, mit einem Worte das ist,
Was die Menschen das Göttliche nennen^ so kommt auch den Menschen ein Antheil
am Göttlichen zu, indeß bezeichnet'der Verfasser, seiner obcnangeführten Unterschei¬
dung zwischen dem Univcrsalgcist oder Obergott und den „Principien" der Welt-
körper oder Untcrgöttcrn folgend, dasselbe speciell als das Gcodämonische. Die
magischen Erscheinungen sind also Aeußerungen oder Zeichen des Erfülltseins der
Menschheit mit dem Geodämon oder der Erdseele. — „Die menschliche Natur," so
fährt unser Magus fort, „ist also mächtiger und wunderbarer, als mau früher ge¬
glaubt seit, sie besitzt Fähigkeiten, welche man bis jetzt sür göttliche oder infernale
gehalten hatte, und welche die neue Wissenschaft nun dem Mensche» vindicirt." —
„Das Magische ist mehr oder weniger frei von den Schranken des Raums und der
Zeit nicht nur, sondern auch von den Schranken der Individualität, in seiner höch¬
sten Bedeutung und vollkommensten Offenbarung, seinem Begriff nach ist es also
das Mächtigste, Durchdringendste, das Ewige. Es erscheint jedoch bei Menschen nickt
in dieser Reinheit und Energie, sondern mehr oder weniger durch die Individualität
beschränkt, durch die Einmischung anderer Kräfte und die Verwickelung mit dem
gewöhnlichen Leben getrübt, und zeigt sich meist nur in einzelnen Fulgurationen.
die wie aus einer andern Welt, oder richtiger von einer andern Form des Seins
herüberleuchten." — Weiter heißt es dann, daß das Magische mächtige Wirkungen
in der Natur und Geschichte hervorbringt, daß kein schöpferischer Proceß ohne das-
selbe denkbar ist, daß es in Verbindung mit dem Tagleben der Menschheit vor
Allem die Mythologien, die Religionen und Künste möglich macht, daß der Cultus zum
Theil aus magischen Ceremonien besteht (vermuthlich die Sacramente) und daß endlich
der wahre Künstler, vor Allem der Dichter, von jeher mit dem Priester und Propheten
in Beziehung gebracht wurde. Der Geist, lehrt die „neue Wissenschaft" sodann, über¬
windet als die höchste Kraft alle übrigen Kräfte und Gesetze. Derselbe „zeigt aber gerade
in seiner magischen Thätigkeit sich am unabhängigsten von den Naturgesetzen, noch
unabhängiger als im Verstandes- und Vernunftleben, welches viel enger mit dem
Organismus und der materiellen Welt verschlungen ist. (Setzen wir für magische
Thätigkeit phantastische Thätigkeit, so ist das richtig, wie wir unter Anderm an
dem Verfasser selbst sehen, dessen Leistungen in der That von den Naturgesetzen wie
von denen des Verstandes und der Vernunft sehr unabhängig sind.) Bei den mei¬
sten magischen Thätigkeiten zeigt sich der Geist gleichsam abgewendet und losgelöst
vom Körper, und dieser liegt manchmal wie starr und todt. Wäre es noch mög¬
lich, das Gedächtniß, die Phantasie und den Verstand aus physischen Gesetzen zu er¬
klären, wonach alle diese Fähigkeiten mit dem Körper vergehen müßten, so ist dieses
absolut unmöglich mil den magischen Thätigkeiten, die durch die Materie hindurch
wirken, sndaß diese oft für sie gar uicht vorhanden scheint, und höhern Gesetzen ge¬
horchen, welche vielleicht die Zukunft theilweise erkennen wird. Ist aber das Ma¬
gische das von Zeit, Raum und Stoff Freie, so ist es auch das Unvergängliche,
welches schon vor dem« Körper war und seine Zerstörung überlebt. Wie dieses Un¬
zerstörbare sich nach dem irdischen Leben bethätigen werde, wird kein menschlicher
Verstand ergründen. ES mag wohl eingehen in das Gedankenreich zunächst des
geodümonischcn Geistes, nicht, um blos in seiner Erinnerung fortzuleben, sondern
auch, um mit ihln als ein mehr oder minder merthvoller Theil seiner Kraft und
seines Wesens seine Wandlungen und Geschicke zu bestehen."
So hätten wir denn auch eine neue Unsterblichkeitslhcoric. Aber genug mit diesem Jrr-
lichteliren auf Traumgebieten und diesen Versündigungen am gesunden Menschenverstand.
Die Leser erwarten schwerlich, daß wir uns auf eine Widerlegung des dicken Buchs
einlassen werden, und so wollen wir nur das Eine bemerken, daß wir bis¬
her den Antheil der Menschheit am Göttlichen sich in den lichten Regionen klarer und
tiefer Denker, in der schöpferischen Phantasie der Künstler und Dichter, in der Un-
erschrockenheit und dem Opfermut!) der Heroen, in Thaten der Liebe und Barmher¬
zigkeit, nicht aber in Gespenstergeschichten und Zauberspuk sich offenbaren sahen,
daß 'wir glaubten, die Natur werde vom Menschen durch nichts Anderes als durch
Erkenntniß und Befolgung ihrer Gesetze überwunden, daß wir durch das Räson-
nement Professor Perty's eines Andern nicht belehrt, sondern nur im Widerwillen
gegen derartige wüste Possen bestärkt worden sind, und daß wir die Magie in
Religion und Cultus einzumengen für den verderblichsten Irrthum halten, der Prote.
standen, die durch ihr Gewissen selig werden sollen, gepredigt werden kann.
Seit dem Einzug des Präsidenten Juarez in die Hauptstadt Mexico's
sind die in der Verfassung von 1853 ausgesprochen Grundsahe rücksichtslos
durchgeführt worden. Die Bischöfe, welche sich der neuen Ordnung nicht fü¬
gen wollten, wurden verbannt, die liegenden Gründe des Klerus den Päch¬
tern gegen eine Zahlung von 12 Procent des Werthes zugeschlagen, alles
sonstige Eigenthum' der Kirche confiscire, die Mehrzahl der Klöster aufge¬
hoben und die Civilehe eingeführt. Dagegen wollte es nicht gelingen, Ord¬
nung in die Finanzen zu bringen. Die Regierung hatte sich dnrch einen
am 7. Februar 1S59 zu Veracruz abgeschlossnen Vertrag gegen das Londoner
Cabinet verpflichtet, den englischen Bondholders (StaatSgläubigern) jährliche
Zahlungen zu machen, und ein ähnliches Uebereinkommen war mit Frank¬
reich getroffen worden, aber der Kongreß beschloß am 17. Juni 1861 diese
Zahlungen bis auf Weiteres einzustellen, und der Einspruch des britischen
Und des französischen Gesandten blieb ohne Erfolg. Ebensowenig halsen Er¬
innerungen an die Pflicht zum Ersatz der von DegoUado bei Tampico und
von Miramon im englischen Gesandtschaftshotel zu Mexico geraubten Sum¬
men. Auch Spanien mahnte vergeblich an die Erfüllung der ihm gegen¬
über eingegangnen Verpflichtungen. Es wird behauptet, daß die neue liberale,
richtiger radicale Negierung bereits gegen 20 Millionen Dollars, die ihr aus
dem Eigenthum der Geistlichkeit zugeflossen, verschleudert habe, ohne ernstlich
Anstalt zu treffen zur Ausgleichung jener Differenzen mit dem Ausland.
Trotzdem hätten die europäischen Mächte wohl schwerlich daran gedacht,
ihre Forderungen mit Gewalt einzutreiben, wenn die große Nachbarrepublik
Mexico's ihre Einheit und damit >hre Macht bewahrt hätte. Die nord-
amerikanische Union war vor dem Bruch zwischen Süd und Nord die vor¬
aussichtliche Erbin der mexicanischen Regierung, sie war dieser selbst gegen¬
über die gefährlichste Feindin, andern sich zum Antritt der Erbschaft an¬
schickenden Mächten gegenüber aber die sicherste Freundin dieser Regierung.
Als Spanien im Winter 1356 mit Feindseligkeiten drohte, schien das da-
malige Gouvernement in Washington diese Wendung der Dinge benutzen zu
wollen, und Mexico war so weit gekommen, daß es dazu selbst die Hand
bot. Vorerst handelte es sich hauptsächlich um pccuniäre Hilfe. Die Verein.
Staaten erklärten.sich bereit, der Regierung Comonforts 15 Millionen Dol¬
lars auf die Zolleintunfte zu leihen. Mexico zögerte, und man begreift leicht,
weshalb. Diese Geldopcration würde dem Präsidenten Nordamerikas eine
bequeme Handhabe zu steten Einmischungen in die innern Verhältnisse des
Nachbarstaats gegeben habe», während mit ihr die Gelegenheit zu ähnlicher
Einmischung andrer Mächte weggeschafft worden wäre.
Wohin dieses Verhältniß bei den Zuständen Mexico's zuletzt geführt
haben würde, kann nicht zweifelhaft sein. Das Zaudern Comonforts wich
indeß endlich dem Drang der Noth, und im Februar 1857 sendete er den
General Juaqumo Range! nach Washington, um Hilfe zu erbitten und den
Vereinigten Staaten das Protectorat über Mexico anzutra¬
gen. Allein währenddes, hatte Buchanan den Präsidentenstuhl bestiegen,
und dieser scheint die Ernte noch nicht für vollkommen reif zum Einheimsen
angesehen zu haben. Wenigstens fand er für gut, die Schlußphrase seiner
Antrittsbotschaft „die Unabhängigkeit aller Völker soll von uns heilig gehal¬
ten werden, und nie werden wir uns in die innern Angelegenheiten einer
Nation einzumischen versuchen, außer wenn dies von dem großen Gebot der
Selbsterlialtung verlangt wird," dadurch zu bekräftigen, daß er den Antrag
des mexicanischen Unterhändlers ablehnte. Ob im Ernst und definitiv, ob
nicht blos, um bei stärkerem Druck der Umstände günstigere Bedingungen her¬
auszupressen, ist eine Frage, die wir nicht beantworten können.
Was seitdem geschehen, ist noch in frischer Erinnerung. Spanien, Eng«
land und Frankreich haben sich vereinigt, in Mexico zu intcrvcnircn und
Erfüllung der ihnen von dorther gemachten Zusagen. Genugthuung für die
dort verletzten Interessen ihrer Unterthanen zu erzwingen. Sie haben in
einer Mittheilung an das Washingtoner Cabinet dieses Ziel der beschlossenen
Maßregeln angegeben, sich gegen die Unterstellung von Absichten auf Erobe¬
rung oder Beeinträchtigung des Rechts der Mexicaner, die Form ihrer Re¬
gierung selbst zu bestimmen, verwahrt und die Verein. Staaten eingeladen,
sich an der Expedition zu betheiligen. Präsident Lincoln hat durch seinen
Minister der auswärtigen Angelegenheiten antworten lassen, daß er das Recht
der drei Mächte, sich mit den Waffen Genugthuung zu schaffen, anerkenne,
dem Vüubmß derselben gegen Mexico aber nicht beitreten werde, da einmal
die traditionelle Politik der Verein. Staaten Allianzen mit fremden Nationen
verbiete, und andrerseits die Union gegen Mexico als Nachbarstaat und re-
publikanisch. eingerichtetes Land freundschaftliche Gesinnungen hege. Von die¬
sen Gesinnungen bewegt, habe man den Gesandten der Union in Mexico
bevollmächtigt, mit der dortigen Negierung einen Vertrag abzuschließen, be¬
stimmt, derselben pecuniäre Hilfe zu bieten und sie in den Stand zu setzen,
die Forderungen der drei Mächte zu befriedigen und so den Krieg abzuwen¬
den. Wenn Mexico anf Grund dieses Anerbietens den Mächten einen neuen
Vertrag vorlegen wolle, werde das Washingtoner Cabinet die Vermittelung
desselben übernehmen. Inzwischen werde man zum Schutz der amerikanischen
Bürger in Mexico eine Flotte an dessen Küsten lassen, und der dortige ame¬
rikanische Gesandte sei ermächtigt, Begehungen zu den kriegführenden Par¬
teien nachzusuchen, welche unwissentlichen Unrecht gegen die Ansprüche der
Verein. Staaten vorzubeugen geeignet seien.
Die angebotne Vermittlung Nordamerikas Hut zu nichts geführt. Spa¬
nien hat den Krieg eröffnet und Veracruz besetzt. Eine französische Flotte
mit Landtruppen ist nachgefolgt, eine englische ans dem Wege nach der mexi-
canischen Küste. Die nächsten Posten von dort werden die Nachricht bringen,
das; die Alliirten alle bedeutenderen Hafenstädte des Landes occupirt haben.
Den Nvrdametikanern, die mit sich selbst zu beschäftigt sind."wird nichts übrig
bleiben, als gegen eine bleibende Erwerbung mexicanischen Gebiets Protest
einzulegen. Die Absicht einer Eroberung wird noch immer verleugnet, doch
ist die Rede von einem Marsch nach dem J»»ern und dem Plan; die Haupt¬
stadt Mexico's zu nehmen. Wäre es der Pariser Politik gelungen, England
mit Nordamerika in Krieg zu verwickeln und so dessen Widerstand gegen et¬
waige Gebietserwerbungen Spaniens oder Frankreichs abzuschwächen, so
würde nun vermuthlich bald deutlicher reden. Jetzt spricht der spanische Ge¬
neral in Veracruz nur von Bürgschaften, die man für das zukünftige Ver¬
halten Mexico's erlangen wolle, und weist nebenbei seine Soldaten an. „sich
die Liebe derer, die vormals ihre Brüder waren, wieder zu gewinnen." Sei
das geschehen, die Rechnung mit dem bösen Schuldner ausgeglichen, so werde
man— wir vermuthen, mit der Selbstverleugnung des Fuchses, dem die Trauben
zu hoch hingen — wieder heimziehen; es sei denn, setzen wir hinzu, daß es dem
feinen Rechner in Paris, der noch immer große Entrüstung über das Unge¬
nügende der Blockade der Baumwollentüsten und die barbarische Verschüttung
des Hafens von Charleston um den Tag legt, doch noch gelingt, England in
Feindseligkeiten mit den Dantees hineinzumauövriren. Um dies abwarten
zu können, werden Frankreich und Spanien die Occupation der mexicanischen
Hafenplütze so lange als möglich dauern lassen, wozu ihnen die von Mexico
zu zahlenden Kriegskosten Gelegenheit geben werden. England wird darum
im eignen Interesse genöthigt sein, eben so lange eine beträchtliche Kriegs¬
macht in jenen Landstrichen und Gewässern aufzustellen.
England hat bei der Expedition kaum ein anderes directes Interesse,
als die Befriedigung der in der Convention genannten Forderungen und
nebenher — so läßt sich die beabsichtigte Besetzung von Matamoras deuten —
die Erlangung von Baumwolle für seine Fabriken. Indeß würde letzterer
Zweck nur in sehr mäßigem Grad erreicht werden, da Texas verhältnißmäßig
nur wenig Baumwolle und nicht die beste erzeugt und das Product der wei¬
ter östlich gelegnen Staaten durch den Landtransport über Hunderte von
Meilen ohne Eisenbahnen bis in das mexicanische Matamoras außerordent¬
lich vertheuert werden würde. Um so größer aber scheint das indirecte In¬
teresse Englands an der Sache zu sein.
Es leidet kaum einen Zweifel, daß für die beiden Alliirten Großbritan¬
niens die öffentlich ausgesprochnen Absichten ihrer Intervention nicht die ein¬
zigen sind. Spanien, weiches im Vordertreffen steht, handelt nach unsrer
Auffassung der Sachlage, wie früher in Cochinchina und dann in Marokko, so
jetzt in Mexico als Vasall Frankreichs, und zwar diente es hier wie dort
stillen, aber umfassenden Plänen des Kaisers Napoleon gegen die Seeherr¬
schaft Englands, die durch eine Verbindung der Seemächte zweiten Ranges
zu brechen beabsichtigt wird. Frankreich hat in den letzten Jahren rings um
das Mittelmeer Einfluß gewonnen. Es hält Italien in seiner Hand, hat in
Griechenland eine starke Partei, in Albanien und Montenegro dienstbe¬
reite Freunde, ist in Aegupteu, wie der Suezsanal zeigt, wohlangesehen,
mächtig in Tunisz, als oberste Schutzmacht geehrt unter allen römischen
Katholiken der Levante. Es besitzt Algerien, gewann sich durch die Expedi¬
tion nach dem Libanon die Maroniten zu Clienten, intriguirte mit Glück an
der abyssinischen Küste des rothen Meeres und erwarb sich in dem neuen
König von Madagaskar einen schätzbaren Bundesgenossen. Unerwünscht trat
es in China als ebenbürtige Macht neben England auf, sicher gegen Eng¬
lands Wunsch eroberte es sich mit Spanien in Snigun eine neue ostasiatische
Position, abermals gegen Englands Interesse schürte es in Madrid die Nei¬
gung zum Krieg mit Marokko, der seinem Vasallen und damit indirect ihm
selbst ein zwar nickt großes, aber durch seine Lage Gibraltar gegenüber
werthvolles Gebiet einbrachte. Ganz in der Stille machte es verschiedene
Eroberungen in Südwestafrika und versuchte über die Oasenstraße eine Ver¬
bindung zwischen seinen dortigen Besitzungen und seiner großen Colonie im
Norden des Welttheils herzustellen. Endlich trat das nordamerikanische Zer-
würfniß ein, und sofort erhob sich der Verdacht. Frankreich werde dasselbe
gegen England ausnutzen und namentlich Gelegenheit suchen, sich einen« Theil
von dessen Einfluß in Mexico und Centralamerika zu gewinnen. Es wäre
nicht ganz unmöglich, daß es diese Gelegenheit jetzt gekommen glaubte, daß
es entweder direct oder indirect durch Spanien hier sogar Eroberungen er¬
strebte.
Sehen wir ab von dieser Möglichkeit und nehmen wir an. daß es den
verbündeten Mächten — nicht blos Spanien und Frankreich — bei der
Intervention darum zu thun sei, den Mexicanern ein geordnetes Regiment
zu geben, so läßt sich zwar vom Standpunkt des Nichts nichts für ein solches
Unternehmen sagen, wohl aber sprechen mancherlei andere Gründe dafür.
Hören wir, was die Vertheidiger einer solchen Intervention vorbringen.
Könnte Mexico unter eine kräftige, kluge und gerechte Negierung ge¬
bracht werden, so würde dies Niemand in der Welt zu beklagen haben, als
die zukünftige Conföderation der Sklavenstaaten von Nordamerika, deren
Pläne dadurch vereitelt werden würden. Vielen Völkern würde ein Vortheil
-daraus erwachsen und keinem ein größerer als dem mexikanischen. Die jetzt
dort am Nuder befindliche Partei steht so wenig fest, als eine der früheren,
der Parteikampf kann jeden Tag wieder ausbrechen, das Land, der Staat
bietet das Bild eines hilflosen Leichnams dar, um den sich Banden von
Räubern in der Uniform von Soldaten streiten. Ein ehrlicher Mann, der
gelegentlich in dem Getümmel auftaucht, vermag nur auf kurze Zeit Ruhe
und Recht zu gebieten, und so ist die Republik ein Fluch für sich selbst und
alle ihre Nachbarn. Ihre Lage feraer ist von der Art, daß sie Angriffe einer
Nachbarmacht herausfordert, deren Absichten zu vereiteln im höchsten Interesse
der Humanität liegt. Wird in Mexico keine starke Negierung geschaffen, so
wird es unausbleiblich, noch ehe das Jahrhundert zu Ende geht, die Beute
des jetzt im Entstehen begriffnen großen Bundes der Sklavenhalter-Staaten.
Niemand kann das Einschreiten der Mächte ein vorzeitiges schelten, da die
Anarchie in Mexico mit geringen Unterbrechungen schon ein Vierteljahrhun-
dert gewährt hat und keine Hoffnung vorhanden ist, daß das Land ihr mit
eigner Kraft ein Ende machen wird. Mexico ist keine Nation, kein Staat, es
ist einfach ein großes weites Territorium, das von bewaffneten Banden
durchzogen wird, und in dem sich selbst die Elemente der Gesellschaft auflösen
zu wollen scheinen.
Dann ist Mexico solch ein herrliches Land: sieben Millionen Menschen
auf einem Areal halb so groß als ganz Europa. Es liegt in den Tropen,
«der zufolge der hohen Berge im Jnnern erfreut sich ein großer Theil desselben
des gesundesten Klimas. Bedeutende Strecken sind sehr fruchtbar, andere
ließen sich zu ausgedehnter Viehzucht benutzen. Seine Silberminen sind die
ergiebigsten der Welt. Vor der Eroberung durch Cortez war es der mäch¬
igste Staat der westlichen Hemisphäre, später war es Jahrhunderte hindurch
die reichste lind wichtigste Kolonie der Krone Spanien. Seit den Tagen
Montezuma's ist es nie so tief herabgesunken als jetzt. In guten Handen
müßte es binnen Kurzem eines der glücklichsten Länder der Erde werden, und
jeder Mexicaner würde Ursache haben, den Tag zu segnen, wo die höhere
Civilisation Europa's ihm und seinen Landsleuten die Hand reichte, um sie
aus dem Schlund von Barbarei zu ziehen, in den sie durch heimische Un¬
fähigkeit und Verdorbenheit gestürzt worden.
Und mock, mehr, —so fahren die Vertheidiger einer gründlichen Umgestaltung
der mexicanischen Zustande durch die Alliirten fort, — ein nicht weniger wichtiger
Vortheil für die gesummte Menschheit dämmert in der Zukunft. Wird Mexico
zu einem starken Staat, fähig, das Seine festzuhalten und alle Angriffe zurück¬
zuwerfen, so wird die Sklavenhalter-Conföderation zwischen zwei Mächte und
zwei Civilisationen, jede verschiedener Art und Race, aber beide frei und wohl
geneigt zu einer Allianz, eingeklemmt. Diese Nachbarschaft würde Wunder
thun für die neue Republik, sie würde ihre Ausdehnung hindern und ihren
Haupt- und Grundirrthum zu Schanden machen. Die Sklaverei, nicht
mehr im Stande, neue Gebiete zu überschwemmen und eingeengt daheim,
würde dann als sociales Problem zu behandeln sein, für das bei Gefahr
des Untergangs eine Losung zu suchen wäre. Die endliche Ausrottung
dieser schmachvollen Einrichtung würde viel sicherer und weit rascher durch
die Schöpfung eines kräftigen Mexico als durch die vollständigste Unterwer¬
fung und Wiedereinverleibung der secessionistischeu Staaten in die Union
erzielt werden.
Alles sehr wohl gesprochen, sehr human, sehr würdig, namentlich würdig
einer Nation, die an der Spitze der Civilisation einherschreitet und die Mission
hat. der Welt Gesittung beizubringen, das goldne Zeitalter zurückzuführen,
also vor Allem würdig der „großen Nation." Aber sehen wir doch auch
die andere Seite der Sache und zwar zunächst mit den Augen derer an, die
hier nächst Mexiko selbst und der doch noch nicht definitiv zerfallnen Union
am stärkste» interessirt sind, und für die wir Deutsche uns trotz ihrer .Grob¬
heiten und Ungezogenheiten am stärksten zu interessiren alle 'Ursache haben.
Wir meinen mit englischen Augen.
England kann und darf erstens keine dauernden Verantwortlichkeiten mehr
auf sich nehmen. Es hat an einer Türkei genug und braucht nicht noch eine
zweite jenseits des Meeres. Vormundschaften, Prorectornte, Patronate, be¬
sonders solche, die mit Andern gemeinschaftlich ausgeübt werden, gewähren
mehr Verdruß als Genuß. Es ist unbequem, kostspielig, gefährlich, in Mexico
eine Negierung einzusetzen, die eine geraume Zeit nicht ohne fremden Beistand
bestehen könnte. Giebt man dem Lande einen schwachen Herrschet, so wird
England ihn unterstützen, giebt man ihm einen verdächtigen Herrscher, so wird
England ihn controliren müssen. Dazu aber ist Englaud nicht in der Lage,
wenn es an die Zukunft denkt, und so muß die zu schaffende Regierung eine
solche sein, welche die Gewähr giebt, daß sie Stärke mit Fähigkeit und Ge¬
rechtigkeit verbinden wird. Es liegt darum auf der Hand, daß es keine ein¬
heimische, sondern eine fremde sein muß, die in den ersten Jahren durch
fremde Truppen zu stützen sein wird. Was und wen also muß England in
Mexico einsetzen?
Es leidet kaum einen Zweifel, daß ein englischer Fürst, hinter -dem
10,000 englische Soldaten stehen, der englische Subsidien bezieht, dem englische
Räthe und Generale zur Hand sind, in einigen Jahren die Ordnung und
Gerechtigkeit herstellen und die Wohlfahrt Mexicos mächtig hellen würde.
Seine Negierung würde, schon weil er kein Katholik wäre, gewiß nicht beliebt,
aber stark und wohlthätig sein. Das Unglück ist nur, daß van ihr absolut
nicht die Rede sein darf, wenn man auch annehmen kann, daß Frankreich sie
bevorworten würde, da England dadurch zu seinen alten Sorgen und Ver¬
legenheiten im Orient eine neue im fernen Occident sich auflüde. 'Em briti¬
sches Regiment in Mexico würde die Nordcunenlancr zum wildesten Haß ent¬
flammen, die streitenden Parteien in der Union möglicherweise vereinigen,
deren ungeheure Heere nach Mexico führen, und Napoleon hätte erreicht, ja
mehr erreicht, als^was er sich unter den obwaltenden Umständen irgend wün¬
schen kann. Ein dahin gehender Porschlag würde vom englischen Parlament
einstimmig verworfen werden, und zwar mit vollstem Recht als die unbegreif¬
lichste nller Thorheiten.
Vielleicht würde ein französischer Prinz, umgeben von französischen
Ministern, Generalen und Soldaten besser und rascher noch mis ein englischer
mit der Regulirung Mexico's zu Stande kommen, und was sich auch nach dein
Obigen vom englischen Standpunkt gegen ein solches Arrangement sagen
lassen mag. England würde sich dasselbe gefallen lassen können, wenn es auch
sicher nicht die Garantie für den Bestand der neuen,Regierung mit übernehmen
könnte. Die Franzosen würden weniger Scrupel haben, sich weniger an For¬
men binden, weniger Rücksicht nehmen als die Engländer. Sie sind an Der¬
gleichen gewöhnt und würden bald alle Zustände des Landes umgeschaffen
haben. Vom Standpunkt der Humanität würde sich gegen ihr Verfahren
Verschiedenes einwenden lassen. Sie würden Mexico nicht gerade mit dem
Winkelmaß der Gerechtigkeit, nicht ohne alle Selbstsucht, nicht um des Heils
und der Wohlfahrt der Mexicaner willen und noch weniger zu Gunsten Eng¬
lands regieren, aber letzteres würde, wenn es sich bei Einsetzung ihrer Re¬
gierung betheiligt, für. dieselbe Bürgschaft übernommen hätte, kaum das Recht
haben, etwaige Sünden und Schwächen in deren Verfahren zu rügen. Es
würde also keine solche Bürgschaft übernehmen dürfen, schon weil ein großer
Theil der Nation, die alten erblichen Staatsmänner voran, eine derartige Ver¬
stärkung des alten erblichen Nebenbuhlers mit Entsetzen sehen würden. Die
verständigen Engländer würden dieses Entsetzen, diese Eifersucht vermuthlich
nicht theilen. Sie würden schwerlich glauben, daß der Besitz Mexico's Frank¬
reich stärken, sie würden vermuthlich meinen, daß er dasselbe tüchtig beschäftigen
und sehr wahrscheinlich für andere Pläne auf lange Zeit unfähig machen
würde. Er würde der Eitelkeit der Franzosen schmeicheln, ihr Streben nach
Großthaten in eine für Europa sowie für Englands Interessen in Asten un¬
schädliche Ecke der Welt ablenken, sie den Ertrag ihrer Hilfsquellen an Gold
und Menschen in einen Sack ohne Boden werfen lassen. Frankreich würde
in Mexico dem Haß der ncuspanischen Rune gegen Alles, was französisch ist,
begegne», den altspanischen Bundesgenossen dnrch Verletzung seiner Hoffnun¬
gen sich entfremden und über kurz oder lang einen Krieg mit Nordamerika
oder doch mit der südlichen Conföderation zu führen haben. Wir meinen,
daß Kaiser Napoleon sich das ebenso klar gemacht hat, wie ti'e verständigen
Engländer, und daß folglich auch er nicht daran denkt, hier direct für sich zu
erobern.
Bleibt der Dritte im Bunde übrig. Gegen eine englische Unterstützung
Spaniens zur Wiederoverung, oder um ein Modewort zu brauche», zur
Revindication seiner alten Kolonie läßt sich anscheinend am wenigsten vor.
bringen. Man sollte bei oberflächlicher Betrachtung der Umstände denken, daß
die Spanier sich besser als die Franzose» und die Engländer mit den Mexi¬
kanern vertragen müßten, daß sie deren Sitten genauer verstehe», deren Bor¬
urtheile leichter ertragen, mehr Sympathie mit deren religiösen Vorstellungen
haben und ihnen schon dnrch die gleiche Sprache als Verwandte erscheinen
würden. Der frühere Besitz des Landes ferner möchte ihnen eine Art von
Borrecht verleihen, die Sache in die Hand zu nehme» — vorausgesetzt, daß
sie im Stande wären, das Unternehmen wohl auszuführen. Aber das ist
gerade die Frage, und hierin liegt die Schwierigkeit. Spanien hat die Mehr¬
zahl seiner überseeischen Besitzungen infolge üblen Regiments verloren, es ist
niemals berühmt gewesen als besonders thatkräftiger, ehrlicher und kluger
Verwalter seiner Kolonie», ja nicht einmal seiner heimischen Provinzen. Es
hat jetzt allerdings die Form und bis zu einem gewisse» Grad auch das
Wesen freier Institutionen, aber seine Finanzen sind noch keineswegs in blü¬
hendem Zustand, seine volkswirthschaftlichen Zustünde «och wenig entwickelt,
seine Beamten oft unfähig und noch häufiger bestechlich. Es hat seine Schul¬
den nicht immer und erst in den letzte» Jahren pünktlicher als Mexico be¬
zahlt, und spanische Staatspapiere stehen auf den Geldmärkten noch heute
nicht in sehr viel besserem Ruf als mexicanische. Spanien hat endlich in den
letzten Jahren nichts gethan, sich Sympathien in England zu erwerben, ja es
hat mehr als einmal gegen die Interessen Englands gehandelt und den Ver¬
dacht erweckt, daß es bei größerer Macht noch feindseliger gegen diese Inter¬
essen aufgetreten sein würde. Die engljsche Politik hat es als einen ihrer
stillen Gegner anzusehen. Es würde sich in Mexico kaum allein behaupten
können. England wird ihm kemen Beistand zur Erhaltung seiner dor-
eigen Herrschaft versprechen können, es wird aber vermuthlich auch keinen
Einspruch gegen die Aufrichtung dieser Herrschaft thun, da aller Wahrscheinlich¬
keit nach dieselbe ähnliche Folgen wie eine Besitznahme Mexico's durch Frank¬
reich haben, d. h. zur Ablenkung und Schwächung der Kräfte eines heimlichen
Feindes führen würde. Ob aber Frankreich Spanien lange, ob es auf die
Dauer den jetzigen Bundesgenossen unterstützen kann, ist eine Frage, deren
Beantwortung von der Gestalt abhängt, welche die Dinge in der nordameri¬
kanischen Union gewinnen werden.
Nehmen wir an, Spanien würde infolge von Ereignissen in Amerika bei
Verfolgung von weiteren, hinter den officiellen Versicherungen über die Zwecke
der Alliirten verborgenen Plänen allein gelassen, so würde es sich in großer
Verlegenheit befinden, und daß Frankreich kein für alle Wendungen sicherer
Bundesgenosse ist, hat der Krieg in der Krim den Engländern, der in Ita¬
lien den Piemontesen zur Genüge gezeigt.
Spanien -— so versichern seine Freunde, und wir wollen ihnen hier
glauben — hat sich in den letzten fünfzehn Jahren merkwürdig gehoben.
Durch elende Regenten, dann durch Bürgerkriege tief heruntergebracht, ver.
schuldet und verarmt, ist es in erstaunlicher Weise wieder emporgestiegen, so
daß es jetzt die erste der Mächte zweiten Ranges ist und sich bereits zum Ein¬
tritt in die Reihe der Großmächte anmelden lassen konnte. Seine Finanzen
haben sich gebessert, sein Heer ist in gutem Staude, seine Flotte nach der
französischen die stärkste des Mittelmeeres. Dennoch meinen wir nicht, daß
es allein im Stande sein würde, seine Herrschaft "in Mexico von Neuem
dauernd zu begründen. Im Gegentheil fürchten wir, daß es mit einem sol¬
chen Versuch scheitern und zugleich seine Finanzen von Neuem ruiniren würde.
Es ist beinahe ebenso schwer denkbar, daß Spanien seine Verlornen ameri¬
kanischen Besitzungen wieder gewinnt, als daß England die Ver. Staaten
wieder in britische Kolonien verwandelt. In Mexico ohne sichere Ver¬
bündete Eroberungspolitik verfolgen heißt über kurz oder lang, d. h. un¬
mittelbar nach Beendigung des nordamerikanischen Bürgerkrieges, gleichviel
wie derselbe ausgehe, ob in Wiederherstellung der Union oder, wie wir er¬
warten, in Zerfall in eine Süd- und eine Nordhälfte, an den durch diesen
Krieg geweckten kriegerischen ^Geist Cuba und Alles, was sonst in Amerika
spanisch ist, verlieren.
Aber schon mit Mexico allein würde, wie der Unabhängigkeitskrieg der
zwanziger Jahre zeigt, der Kampf kein ganz leichter sein. Oberflächlich be¬
trachtet scheint das nicht so. Miramon, so lesen wir. ist nach Veracruz ab¬
gereist, um unter dem Schutz der spanischen Bayonnette dieselbe verrätherische
Rolle gegen sein Vaterland zu spielen, wie Santana in der Republik Domingo.
Er wird, so heißt es. die Reste der monarchischen Partei im Lande orgamsiren
und bewirken, daß sich auch dort die „Volksstimme" für die Rückkehr unter
das spanische Scepter ausspricht. Ein Zug nach der Hauptstadt und die Er¬
oberung derselben bietet unter solchen Umständen keine unüberwindlichen
Schwierigkeiten; war dies doch 1847 den A>ner>lauern möglich, die keine Par¬
tei im Lande und also ganz Mexico gegen sich hatten.
Das spanische Heer ferner hat sich in Marokko bewährt, Miramon und
seine Genossen können ihm in Betreff der in Betracht kommenden Verhält¬
nisse treffliche Führer und Berather sein. Das mexicanische Heer ist von einer
Beschaffenheit, die es sehr zweifelhaft erscheinen läßt, ob es guten europäische,,
Truppen erfolgreichem Widerstand leisten wird, als die Mauren Marokko's den
Spaniern bei Tetnan und auf dein Marsch nach Tanger.
Die Reiterei Mexico's ist sehr wenig werth. Ihre Pferde, von Natur
vortrefflich, befinden sich in der Regel in Folge schlechter Verpflegung und
AbWartung im kläglichsten Zustande, und die Leute, mit Lanzen bewaffnet,
taugen fast nur zu Patrouille» und Spähern. Wo sie eine Attacke wagten,
genügten gewöhnlich el» paar Kartätschenschüsse, sie in wilde Flucht zu jagen.
Die Infanterie ist nicht viel besser. Ihre Gewehre sind von alterthümlicher
Beschaffenheit, von Schuhwerk ist hei den wenigsten die Rede, ihre blaue
Uniform schillert in allen Farben, ihr größter Stolz sind ihre aus Europa
eingeführten Tschackos, eine in dem heißen Lande höchst unpassende Kopfbe¬
deckung. Meist aus den Leperos*) der Städte recrutirt und fast ohne Aus¬
nahme Indianer oder Mischlinge von solchen und Weißen, besitzen diese Sol¬
daten allerdings, wenn-sie eine Zeitlang gedient haben, ausgezeichnete Eigen¬
schaften. Sie ertragen Entbehrungen und Mühseligkeiten mit türkischer Ge¬
duld, marschiren durch Wüsten unter tropischer Sonne, in denen jede andere
Armee zu Grunde gehen würde, und legen einen Muth an den Tag, der, rich¬
tig benutzt, heroischer Thaten fähig ist. Allein ihre Verpflegung in den
Kasernen ist höchst mangelhaft und so leiden sie, wenn-Seuchen ausbrechen,
mehr wie andere Truppen. Die Hauptursache aber, daß sie nur gegen Ihres¬
gleichen etwas leisten, liegt in ihrer schlechten Bewaffnung. Die Regierung
bezieht die Waffen für die Armee fast nur durch ausländische Handelshäuser,
und diese verkaufen ihr für gutes Geld die schlechteste Waare, meist ausge¬
musterte englische und französische Musketen und dazu ein Pulver, welches,
da es mehr Kohle als Salpeter enthält, kaum hundert Schritt weit trägt
und beim Abfeuen, des Gewehrs einen starken Schlag verursacht. Die armen
Jnfanteristen wissen das so gut. daß sie beim Schießen statt die Flinte an¬
zulegen, das Gesicht wegwenden, um durch den Schlag des Kolbens nicht
geschwollene Backen zu bekommen. Aehnlich verhält sichs mit der Artillerie,
obwol sie beim Volle in großer Achtung steht. Die Partei, welche bei Re¬
volutionen mit Kcnionen auszieht, glaubt immer des Sieges gewiß sein zu
können.
Das Heer wird durch Pressung rccrutirt. d. h. man fängt sich die Leute
mit List oder Zwang für die Regimenter. Ein beliebter Kunstgriff ist. daß
man die Militärmusik vor der Kaserne spielen läßt und wenn sich eine gute
Anzahl von Zuhörern eingestellt hat, die Masse plötzlich umringt und die,
welche dem niedern Volk angehören, herausgreift, in Uniform steckt und nach
einer entfernten Garnison ttansponirt, wo sie in den ersten Monaten streng
bewacht werden, damit sie nicht davonlaufen. Während der letzten Revolution
geschah es sogar nicht selten, daß man Leute, die aus dem Theater oder aus
der Messe kamen, von der Straße aufgriff, um sie sofort gegen den Mut
zu führen.
Dennoch ließe sich mit solchen Soldaten etwas ausrichten, wenn die
Offiziere Mexico's mehr taugten. Diese aber, die meist den Revolutionen
oder sonst einem Zufall ihre Anstellung danke», entbehren größtentheils
aller militärischen Kenntnisse, und uicht selten begibt sichs. daß sie die Ersten
sind, die bei einem Treffen die Flucht ergreifen. Die Offiziere, im Frieden
in prächtigen von Goldstickerei strotzenden Uniformen und mit Orden auf
der Brust einherstolzirend, verlieren beim Ausmarsch gegen den Feind ihr
militärisches Aussehen vollständig. In eine graue Bauernjacke gekleidet, mit
Beinkleidern von derselben Farbe angethan, den breitrandigen mexicanischen
Hut auf dem Kopfe, zeichnen sie sich nur durch Epauletten aus. So lange
sie im Dienst sind, erhalten sie hohen Sold, ein Divisionsgeneral hat jähr¬
lich 5000, ein Oberst 2400, ein Hauptmann 800, ein Leutnant 550 Dollars;
aber wenn sie nicht gerade beim Regiment eingetheilt sind, was in Friedens-
zeiten mit der großen Mehrzahl der Fall ist. wird ihnen gar nichts gezahlt.
Der Soldat erhält monatlich 15. der Unteroffizier 20 Dollars, aber nur
wenn sein Oberst ein ehrlicher Mann ist; denn viele Truppencommandantcn
machen sich kein Gewissen daraus, die Löhnung ihrer Leute wo nur immer
möglich zu unterschlagen.
Mit diesen Truppen läßt sich die Besetzung der Küstenplätze durch eine
europäische Macht nicht abwehren, und ebensowenig wird man mit ihnen den
Marsch der Spanier nach der Hauptstadt und die Einnahme derselben ver¬
hindern können. Etwas Anderes aber ist für das Jnvafionöheer, sich im
Besitz dieser Positionen zu behaupten und den Norden, sowie den tiefen Sü¬
den zu erobern. Es wäre dies ein Unternehmen, noch schwieriger als die
Eroberung Marokko's. Wie dort das Maurenheer in jeder Schlacht unterlag,
so würde auch hier jedes Treffen zwischen Beracruz und Mexico mit dem Sieg
der Spanier enden. Aber wie dort das ungesunde Klima das Heer der An¬
greifer mehr als dccimute, so würden hier die tödtlichen Fieber der Küsten¬
gegenden der Jnvasionsarmce Tausende von Opfern abverlangen, ohne daß
ein so rascher Ersatz des Abgangs möglich wäre wie bei dem letzten afrika¬
nischen Feldzug. Wie dort im Innern erst Straßen angelegt werden mu߬
ten, und weiterhin die Wüste Anlegung von Wegen für Kanonen und Ge¬
päckwagen überhaupt verbot, so würden auch hier die Sappeure mehr zu thun
haben, als die Truppengattungen, die für das eigentliche Gefecht bestimmt
sind. Die Häfen des Landes sind sämmtlich schlecht. Die Schmalheit des
Continents und das schnelle Ansteigen des Terrains über die Küstenfläche
sind Ursache, daß es in Mexico keinen Fluß von Bedeutung gibt. Eisen¬
bahnen fehlen gänzlich. Die Mehrzahl der Städte von einiger Größe, wie
Jalapa. Orizaba, Cordova, Toluca. Queretaro, Guanaxuato. Guadalaxara,
Zaccitecas und die Silberminen, welche den Reichthum des Landes bilden,
liegen auf dem großen Hochplateau des Landes, fern von der See, der Ope¬
rationsbasis der Spanier, und zu ihnen gelangt man nur, nachdem man Ge¬
birge mit allerlei schwierige» Engpässen überstiegen hat. Die Regen sind
unregelmäßig, und so sind die Ernten in den meisten Theilen des Landes
unzuverlässig. Das Occupationsheer würde daher bei längerem Verweilen im
Innern seine Bedürfnisse von den Hafenplätzen beziehen und um die Verbin¬
dung mit diesen zu erhalten, sich zersplittern müssen.
Der Süden, wo Alvarez mit seinen Jndianerhordcn haust, ist als wil¬
des Gebirgsland selbst der besten Armee uneinnehmbar. Die nördlichen
Provinzen gleichen ' einer großen Steppe, auf der sich nur Oasen befinden.
Sobald man diese verläßt, hört alle Cultur auf, und Tausende von Geviert-
meilen dienen nur als Weideland für Pferde und Rinder. Die reichste Region
ist die der Küsten, die, terrs. ealiemtL genannt, etwa zwei Drittel des
Landes einnimmt, und in welcher Weizen und Mais, Zucker. Kaffee, Coche¬
nille, Baumwolle, Wein und Hanf üppig gedeihen. Aber gerade hier ist die
Bevölkerung der großen Hitze wegen wenig zur Arbeit geneigt und überdies sehr
dünn gesäet. Von den sieben Millionen Einwohnern der Republik Mexico woh¬
nen nur zwei Millionen in jenen Küstenstrichen, alle übrigen auf der Hochebene.
Den Norden zu erobern, welcher stets das Hauptcontingent für die Li¬
beralen, also für die jetzt in ihren Interessen bedrohte Partei geliefert hat,
würde ein Heer von 20,000 Spaniern kaum genügen, und eine doppelt so
starke Armee würde erforderlich sein, ihn dauernd zu behaupten. Die Kosten
der Erhaltung einer solchen Truppenmacht im fernen Lande würden schwer
auf dem Staatsschatz Spaniens lasten, aber sie würden sich durch den Ertrag
der reichen Silberminen mehr als decken. Spanien weiß sehr wohl, was es
an Mexico hatte, als dieses noch spanische Provinz war.
Aber die Mexicaner haben sicher ein ebenso gutes Gedächtniß für die
Zeit, wo das Land der Krone Spanien gehörte. Namentlich die Kreolen
unter ihnen (das Mischlingsvolk und die Indianer kommen als ungebildet
und apathisch nur so weit in Betracht, als sie Werkzeuge der herrschenden
Race sind, und die eingewanderten Spanier werden natürlich die Partei des
Invasionsheers ergreifen) wissen sehr Wohl, wie das Land damals ausgebeu¬
tet wurde. Sie erinnern sich, daß in dieser Periode ihre Race, jetzt die mäch¬
tigste, fast so wenig galt als die Indianer, daß alle Aemter sich in den Hän¬
den von Spaniern befanden, daß die Vicekönige in der Regel Günstlinge des
Madrider Hofes waren, denen man durch ihre Stelle Gelegenheit geben
wollte, ihre zerrütteten Finanzen herzustellen, und die diese Gelegenheit nach
Möglichkeit auszunutzen wußten. Mexico war damals nichts als eine große
Domäne, deren Ausbeutung zum Theil dem König, dem jährlich von hier
K bis 7 Millionen Dollars zuflössen, theils den 30,000 Spaniern zu Gute
kam, die sich hier niedergelassen. Für das einheimische Volk wurde nur so
viel gethan, als sich mit jener Ausbeutung zur Noth vertrug.
Damit die spanischen Wcincrzcuger Absatz fänden, war in Mexico die
Anpflanzung von Neben verboten. Tabak durfte nur in Cordova und On-
zaba gebaut werden, und zwar mußten die Pflanzer denselben an die Regie¬
rung abliefern, die damit einen jährlichen Gewinn von 4 Millionen Dollars
erzielte, indem sie den Tabak um 137 Poecile theuerer verkaufte, als sie da¬
für zahlte.
Bis zur Revolution der zwanziger Jahre war keinem Fremden gestat¬
tet, Mexico zu betreten. Nur Spanier, und auch diese nur mit besonderer
Erlaubniß der Negierung, durften nach dieser Kolonie auswandern. Der
Handel befand sich ausschließlich in den Händen der Kaufleute von Cadix,
die alljährlich zu bestimmter Zeit Flotten aussandten, um Neuspanien mit
Waaren zu versehen, welche aus zweiter und dritter Hand gekauft waren.
Veracruz war der einzige Hafen, wo Schiffe landen durften. Von hier aus
wurden die Ladungen mit ungeheuren Kosten nach den verschiedensten Rich¬
tungen verschickt, und so kam es, daß ein Stück Kattun, das heutzutage mit
5 Dollars bezahlt wird, 30, ein Suet Leinwand, das jetzt 12 Dollars kostet,
50 galt. Die Gerichte waren nur und Spaniern besetzt, und selbstverständ¬
lich bekam, wo ein Spanier mit einem Eingeborenen stritt, immer der erstere
Recht. Für Schulen wurde so gut wie nichts gethan. Den gebildeten Stän¬
den ließ man von außen nur gerade so viel Neuigkeiten zukommen, als im
Interesse der Regierung lag. und es gab in ganz Mexico nur eine einzige
Zeitung, das Regierungsblatt. Selbst wissenschaftliche Bücher, welche dem
Volke Aufschluß über den Zustand des Landes, dessen Hilfsquellen und dessen
Reichthümer geben konnten, waren verbotene Waare. Alles war darauf zu-
geschenkten, die Kreolen niederzuhalten, ihnen Bildung und damit Bewußtsein
über ihre Stellung zu den Spaniern und mit diesem die Neigung jene Stel¬
lung zu verbessern abzuschneiden.
Es ist wahr, es herrschte damals eine Art von Ordnung, und es herrscht
jetzt Unordnung in Neuspanien, und diese Unordnung ist etwas schlimmer als
die, welche vor zwanzig Jahren in Altspanicu war. Es ist serner wahr, daß
es unmöglich sein würde, die Zustände Mexicos auf die Stufe jener für die Krone
Spanien so guten alten Zeit zurückzuschrauben. Aber ebenso gewiß ist, daß
die große Mehrzahl der Kreolenbevölkerung die heutige Unordnung, die ihnen
wenigstens für ihre eigenen Interessen zu leben erlaubt, ihnen ihr Grund-
eigenthum nach Belieben zu benutzen gestattet, ihnen den Weg zu Ehrenstellen
offen läßt, ihnen, wenn auch mit Unterbrechungen, Preß- und Religionsfrei¬
heit gewährt, ihrem Verkehr mit dem Ausland nichts in den Weg legt, ganz
entschieden der alten Ordnung vorziehen würde, selbst wenn diese mit einigen
Milderungen wieder eingeführt werden sollte.
Wenn der spanische General in Veracruz die Mexicaner c>!s Brüder der
Spanier bezeichnet, so wissen jene, daß sie von diesen als Stiefbruder behält
dell worden sind, und wieder als solche behandelt werden würden, und wir
können ihnen, soviel anch an ihnen auszusetzen sein mag, so kläglich anch
die letzten zwanzig Jahre ilirer Geschichte verlaufen sein mögen, soviel Un¬
heil anch die von Paris importirte demokratische Doctrin unter dem halbci-
vilisirten Volk angerichtet hat. nur wünschen, daß es ihnen gelinge, jene
aufdringliche» Stiefbruder, die bei aller sonstigen Überlegenheit noch heute
das Lesen der Bibel mit der Galeere bestrafen, mit der Zeit abermals aus
ihrem Lande zu werfen, das wenigstens die Reminiscenzen der Inquisition
und was damit verbunden ist, von sich abgeschüttelt hat.
Vermögen sie das nicht, vermögen die Liberalen im Norden nicht,, wie
einst unter den spanischen Vicekönige». wie später unter der Herrschaft der
Klerikalen, dnrch stets wiederholte, in keiner Niederlage erlöschende Angriffe
das ihnen drohende Joch abzuschütteln, nun so ist ihr Haß gegen Spanien
ein unverständiger, und sie verdienen Sklaven der mit den Priestern verbün¬
deten Despotie zu sein. Ihr Schicksal hängt dann allein von dem Schicksal
der Vereinigten Staaten ab, denen oder deren südlicher Hälfte sie dann —
— wenn auch gewiß weit später, als bisher erwartet wurde — aller Wahr¬
scheinlichkeit einmal als Gleichberechtigte zugehören werden. Die Monroe-
Doctrin ist vertagt, sehr wahrscheinlich auf lange Zeit vertagt, aber nicht
ausgelöscht. Auch der Süden wird sich zu ihr bekennen, und sie geltend
machen, sobald er vermag.
Ueberblicken wir das Gesagte noch einmal, so stellt sich folgendes Er¬
gebniß heraus: Eine gemein some Intervention zur Umgestaltung der Regie-
rungsform Mexico's kann England durchaus nicht wünschenswert!) sein, es
wird sich daher zu diesem Zweck schwerlich dem Unternehmen Frankreichs
und Spaniens angeschlossen haben. Ferner: Es gibt sehr ernste, kaum zu
widerlegende Einwendungen für den Fall, daß eine einzelne der drei Mächte
die Intervention in der Absicht unternommen hat, Mexico für sich zu erwer¬
ben. Die Frage, ob man ein Recht hat, sich weiter in die Angelegenheiten
Mexico's zu mischen, als zur Eintreibung der von diesem eingegangenen Ver¬
bindlichkeiten erforderlich, zur Wahrung der Interessen der intervcnirendcn
Mächte nöthig ist, untersuchen wir nicht, sondern beschränken uns darauf, zu
bemerken, daß, wenn das Recht, dem Parteikampf in Mexico Halt zu gebie¬
ten, zugegeben würde, die europäischen Mächte damit die Befugnis; erhalten
würden, auch den Parteien in der Union den Frieden zu dictiren.
Daß dies Kaiser Napoleon vorhat, ist nicht undenkbar. Aber dies hieße
die Monoc-Doctrin in einer Weise auf den Kopf stellen, für die ihm selbst
die Sklavenhalter auf die Dauer nicht danken würden. Wir Deutsche freilich
hätten weniger Ursache, darüber ungehalten zu sein.
Zu den lehrreichsten Entdeckungen neuester Zeit auf dem Gebiete
der Alterthumskunde und Culturgeschichte gehören ohne Zweifel die Pfahl¬
bauten , welche in verschiedenen Seen diesseits und jenseits der Alpen in
den letzten sechs Jahren zahlreich zu Tage getreten sind und mit der fast
unübersehbaren Menge aufgehobener Fundstücke aller Art uus höchst merk¬
würdige Ansiedelungen und menschliche Wohnungen über der Oberfläche des Was-
fers aufgezeigt haben. Die Forschung wurde durch diese Entdeckung an eine
Culturperiode geführt, die in die weiteste Vorzeit, in die lautlose Ferne ganzer
Jahrtausende zurückgeht.
In den Wintermonaten der Jahre 1853 und 1854 war durch außeror¬
dentliche Trockenheit und anhaltende Kälte der Wasserspiegel wie anderwärts
so auch in den Schweizerseen bedeutend gefallen, so daß hier ein ungewöhn¬
lich breiter Strand, dort eine nie gesehene Insel hervortrat und das Schwin¬
den des Wassers bemerklich machte. Und während an den Ufern des Rheins,
der Aar und Limmat Uebcneste aus der Römerzeit sichtbar wurden, grub
man im Zürichersce eine Ansiedelung und Wohnstätte der grauesten Vorzeit
wieder auf. Die Anwohner des See's hatten den niedrigen Wusserstand be¬
nutzt, sich ein Stück Land auf dem trocken liegenden Seeboden für Häuser
oder Gärten zu sichern, halten deshalb schützende Mauern errichtet und den
so abgeschlossenen Raum mit Letten ausgefüllt, den man unmittelbar vor den
Mauern und Abdämmungen ausgruben konnte. In der Bucht zwischen
Ober-Meilen und Dollikon, wo an zwei Stellen solche Landanlagen gemacht
wurden, kamen beim Ausstechen des Letters Pfahlköpfe, auch viele Hirschge¬
weihe und andere Gerätschaften zum Vorschein. Schon früher, im Jahre
1829, hatte man in dieser Gegend eine Ausgrabung und Austiefung des
Hafens vorgenommen und dabei Pfahlwerke und Alterthümer gefunden, leider
aber die ausgehobene Erde mit allen Fundgcgenständen auf Kähnen in den
See hinausgeführt und dort versenkt. Jetzt ging man aber genauer und
sorgfältiger zu Werke. Man stellte Untersuchungen über die Ausbreitung und
Richtung der Pfähle an und über die Beschaffenheit des Bodens, in dem sie
stehen. Diese Untersuchungen sowie die Betrachtung der aufgefundenen Ge-
räthschaften führten sofort zu der Ueberzeugung, daß hier mitten im Wasser
auf Pfahlwerk eine menschliche Niederlassung in früher, vorgeschichtlicher Zeit
bestanden habe; zugleich legten sie die Vermuthung nahe, daß diese Nieder-
lnssung wohl nicht die einzige ihrer Art sein dürfte. Auch dieser Gedanke
hat sich als richtig erwiesen. Einmal aufmerksam gemacht durch die merk¬
würdige Entdeckung, hat man alsbald in andern Schweizerseen, später auch
außerhalb der Schweiz Nachforschungen angestellt und zahlreiche Spuren und
Ueberreste solcher Wasserdörfer aufgesunden.
Die weite Verbreitung dieser seltsamen Wohnsitze in der Schweiz und
deren Nachbarschaft wird aus nachfolgenden Angaben ersichtlich werden. Pfahl¬
bauansiedelungen sind b is jetzt entdeckt worden am Bielersee und zwar an elf
verschiedenen Stellen. Der wichtigste Bau ist auf dem sogenannten Stein¬
berge, einer kleinen Insel bei Nidau. Er gehört zu den ältesten Niederlassun¬
gen und hat als Wohnplatz sicher auch lange Zeit hindurch bestanden. Denn
unter seinen Trülnmern haben sich Gerüthschaften vorgefunden, welche die ersten
Anfänge der menschlichen Cultur bezeichnen; er hat aber auch, wie andere
Fundstücke darthun, sein Bestehen bis in die Zeit gefristet, wo bereits das
Eisen in Gebrauch kommt. Wie die Ufer des Bielersees, so waren auch die
des Neuenburgersees mit Pfahlbauten besehe. An sechsundzwanzig verschiedenen
Stellen hatte man bis zum Jahre 1858 Ueberreste solcher Anlagen von größeren
oder geringerem Umsange entdeckt; spater sind noch einige neue Stationen
hinzugekommen. Sie liegen meist in einer Entfernung zwischen 400—600 Fuß
vom Lande und. wie auch beim Bielersee, hauptsächlich um der Ostseite, wo
die Ufer sich allmälig absenken und einen breiten, seichten Seerand bilden,
der Anlage solcher Wasserdörfer besonders günstig. Ferner hat mau vierund-
zwanzig Pfahlbauten am nördlichen und südlichen Gestade des Genfersees
wahrgenommen. Sie erstrecken sich bis tief in den See hinein und zeigen
einen festem und besser erhaltenen Unterbau als die Bauten an den östlichen
Seen. Dann sind an der Ost- und Westseite des kleinen, in der Nähe von
Bern gelegenen Moosseedorfsees zwei Pfahlbautenreste hervorgetreten; ein
anderer auf einer kleinen, künstlich angelegten Insel des Jnlwylersees, eine
Stunde südlich von dem Städtchen Wangen unweit Solothurn. Der Zü¬
richersee hat vier Ansiedelungen zu Tage kommen lassen und eben so viele der
Pfäffikoner See. Einen besonders wichtigen und lehrreichen Fund hat man
im Wauwylersee gemacht. Dieser Ntedfee, im Canton Luzern in einem weiten
offenen Thale nahe bei Sursee gelegen, wurde schon vor einigen Jahren durch
Abzugsgräben fast ganz trocken gelegt. Beim Torfstechen stieß man im Früh¬
jahr 1859 auf einen Pfahlbau, der sich durch seine eigenthümliche Construction
von den bisher bekannt gewordenen wesentlich unterscheidet und auch in an¬
dern Beziehungen bemerkenswerth ist. Der Bodensee, mit seinem nördlichen
Ufer Deutschland, mit dem südlichen der Schweiz zugehörig, ist uuter allen
'bis jetzt untersuchten Gewässern am dichtesten mit Pfahldörfern besetzt gewesen;
die Beweise dafür sind an den nördlichen und südlichen Gestaden des Unter-
sees, und am Obersec auf einer kleinen Insel, dem Heideländli (.peidenläno-
lein), zwischen Rorschach und Staat, an siebzehn und vielleicht »och mehreren
Stationen vorhanden, und nach einem Bericht der Allgem. Augsburger Zei¬
tung vom 1. Juli 1858 sind in der Gegend von Lindau und Bregenz noch
ebenso viele entdeckt und deren höchst interessante Fundstücke in das Museum
des Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen abgeliefert worden. Auch im
Nußbaumsee zwischen Stein und Franenfelo, im Scmpacher, Walenstädter,
Murtner und Greifen-See soll Pfahlwerk zu Tage gekommen sein, doch ist
eine genauere Untersuchung noch nicht vorgenommen. Ferner machen Fund¬
gegenstände, die schon in früherer Zeit dem Lao dö Brüssel enthoben worden
sind, es wenigstens sehr wahrscheinlich, daß auch dort solche Niederlassungen
bestanden haben. Gehen wir weiter nach Hoch-Savouen, so finden wir in
dem See von Annecy (Ms as Si-ssine) Pfahlbauten von beträchtlichem Um¬
fange und nach ihrer Beschaffenheit und nach der Natur der gefundenen Ge¬
genstände ganz ähnlicher Art. wie im Genfersee. Endlich bringen die neuesten
Berichte auch Kunde von Pfahlbauwohnungen am Südabhange der Alpen,
deren Construction mit den Bauten in den Schweizerseen ganz übereinstimmt.
Die aus ihren Trümmern hervorgezogenen Culturgegcnstände zeigen deutlich,
daß die Bewohner unter denselben Lebensverhältnissen sich befanden, wie ihre
Stammgenossen diesseits der Alpen: daß sie nämlich lange dort ansässig waren
ohne die Metalle zu kennen, später jedoch auch Erzgeräthe besaßen, ihre Be¬
hausungen aber vor der Bekanntschaft mit dem Eisen verlassen hatten. Die
schönste und wichtigste Entdeckung wurde im vorigen Jahre zu Mercurago ge¬
macht, einem kleinen Orte in der Nähe von Aroma. Außer Waffen und
Werkzeugen von Stein und Bronze, außer Geräthschaften verschiedener Art
von Holz und gebrannter Erde fand man einen Pfahlbau in einer Lage und
von einer Beschaffenheit, welche deutlich erkennen lassen, daß der kleine See
von Mercurago vor seiner Verwandlung in ein Torfmoor mit Wasserwohnun-
gen besetzt war. Und nach einem andern Berichte wurde in diesem Sommer
ein zweiter Pfahlbau von großer Ausdehnung oberhalb der Mergelgrube von
Cestione im Herzogthum Parma gefunden. Das darin liegende Töpfergeschirr,
besonders die ungemein großen Spindelsteine, sprechen der Ansiedelung ein
hohes Alter zu.
Doch wir stellen einstweilen unsere Wanderung nach den alten Pfahlbau¬
dörfern ein und kehren zurück an die Schweizerseen, um die Beschaffenheit die¬
ser Wohnungen dort näher ins Auge zu fassen und uns zugleich über die Zeit
ihrer Entstehung und ihrer Dauer, über die Nationalität und Cultur ihrer
Bewohner wenigstens eine wahrscheinliche Ansicht und Vorstellung zu bilden.
Als einen zur Niederlassung geeigneten Ort betrachtete man im Allge-
Meinen eine sonnige Uferstelle, vor Sturm und Wellenschlag durch umliegende
Höhen und Landzungen einigermaßen geschützt. Eine freundliche, nach Süden
offene Bucht am Fuße bewaldeter Berge mußte der Jagdliebhaberei noch be¬
sonders einladend erscheinen. Da wir aber die Anbauer nicht blos als Jäger
und Fischer, sondern auch als Hirten und Feldbauer erkennen werden, so be¬
stimmten gute Weideplätze und culturfähiger Boden ebenfalls die Wahl des
Platzes. Ein weiteres Erfordernis; war ein ziemlich breiter, nicht felsiger und
nicht allzutiefer Rand des Seebeckens, so daß die Pfähle beim Einschlagen auf
kein Hinderniß stießen und auch den höchsten Wasserstand noch um einige Fuß
überragten. Nach der Senkung des Ufers und nach der Ausdehnung des
Seebeckens (Weiß-Grundes) wurde der Pfahlbau bald in größerer, bald in
geringerer Entfernung vom Lande, häufig so nahe aufgeschlagen, daß ein Steg
von 2—3 Klafter Länge die nöthige Verbindung herstellen konnte.
Alle bis jetzt aufgefundene» Ueberreste diesem Secbehausungen zeigen in
ihrer Avlage und Einrichtung eine und dieselbe Beschaffenheit; nur der Ban
im Wauwylersee weicht von den übrigen ab und hat. wie schon erwähnt
wurde, eine ganz besondere Construction. Der im Wasser befindliche Unterbau
besteht regelmäßig überall theils aus ganzen, meist aber aus gespaltenen,
4—8 Zoll dicken Baumstämmen, die sämmtlich am untern Ende durch Anbren¬
nen oder Behalten zugespitzt und senkrecht in den Boden eingeschlagen sind.
Holzarten, die noch jetzt in der Umgegend wachsen, Eichen, Buchen, Tannen,
Birken, auch wilde Birn- und Aepfelbäume lieferten das Material. Das An¬
brennen hatte weniger den Zweck, die Pfähle vor Fäulniß zu bewahren, son¬
dern das Zuspitzen zu erleichtern, ein Geschäft, wozu in der frühesten Zeit
gewiß nur unvollkommene Werkzeuge vorhanden waren. So sind bei Meilen
„fünf gut erhaltene Spitzen von Pfählen aus Tannenholz von Zimmerleuten
und Schreinern untersucht worden, nud ihr einstimmiges Urtheil ging dahin,
daß bei den behauenen oder vielmehr bedankten Pfählen die Beschaffenheit der
Hiebe ganz bestimmt auf die Anwendung von Steinbeilen hindeute, daß keine
metallenen Geräthschaften, keinerlei ordentliches Zimmermannsgeschirr bei dieser
Arbeit gebraucht worden sei." Doch hat man dort später auch solche gefun¬
den, welche, wie die Hiebe aufs Deutlichste beweisen, mit scharf geschliffenen
Bronzebeilen gespitzt und zugerichtet worden sind.
Die Pfähle stehen aufrecht da, obwohl abgebrochen und meist vollständig
im Schlamm und Moor begraben. Die ursprüngliche Anordnung derselben,
die Reihenfolge und der Abstand der einzelnen von einander läßt sich nicht
mehr genau ermitteln; vielfache Zerstörung hat hier eingewirkt. Nur so viel
läßt sich sagen, daß ihre Reihen parallel mit dem Ufer und in ziemlich ge¬
raden Linien sowohl dem See entlang als seeeinwärts laufen und an dem
einen Orte gedrängter als an dem andern stehen. Zwischen den senkrechten
Pfählen kommen auch horizontal gelegte Balken vor. die nicht etwa durch
Zufall umgestürzt, sondern absichtlich so in den Boden eingesenkt, in dieser
Lage verblieben sind. „Diese Art Pfähle, von denen einige zwischen senk-
rechten eingeklemmt sind und unter rechten Winkeln an einander stoßen, liegen
im Allgemeinen kreuz und quer durcheinander und lassen noch viel weniger
als die senkrechten eine regelmäßige Bertheilung erkennen."
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die senkrechten Pfähle ursprünglich aus
dem Wasser als Säulen und Stützen hervorragten und in angemessener Höhe
über der Seefläche einen aus Balken und Bohlen gezimmerten Boden trugen,
besetzt mit Wohnungen für Menschen, vielleicht auch mit andern für Viehzucht
und Feldbau nöthigen Räumen und Gebäuden. Die äußerste dem See zuge¬
kehrte Psahlrcihe war, wie dies bei einigen Bauten sicher ermittelt ist. mit
Zweigen dicht durchflochten, um dem Andrang und Aufspritzen der Wellen
unter der künftigen Behausung vorzubeugen. Die Ausdehnung und der Um¬
fang der einzelnen Pfahlbauansiedclungen richtete sich natürlich nach »der Be-
schaffenheit des Seebodens und nach der Zahl der Anbauen Das Pfahlwerk
bei Wangen am Untersee bildet ein längliches Biercck, mehr als 700 Schritt
lang und 1.20 Schritt breit; die Pfähle stehen meist ein bis mehrere Fuß
von einander entfernt und zwar so, daß auf dem Flächenraum einer Quadrat¬
ruthe mindestens 12, häufig auch 17 bis 21 Stück bei einander stehen. Die
Gesammtzahl der Pfähle dieses Unterbaus schlägt man zu 30 — 40.000 an.
Uebrigens ist es mehr als wahlscheinlich, daß diese Wasscrdörfcr ursprünglich
kleiner angelegt waren, mit der Zeit aber und in Folge der zunehmenden Be¬
völkerung eine immer größere Ausdehnung und räumliche Erweiterung erhiel¬
ten, wenn nicht fortwährend Auswanderungen und neue Kolonien an andern
Stationen stattgefunden haben sollen. Dazu kommt, daß die Bodenbeschaffen¬
heit unter dem PaUisadcnbaue. vorzüglich aber die an einer und derselben
Stelle aufgehobenen, verschiedenen Cultnrpcrioden angehörigen Fuudgegcnstände
gleichfalls für eine lauge Dauer ihres Bestehens Zeugniß ablegen.
Untersuchen wir deu Seeboden, so zeigt dieser gewöhnlich drei wohtge-
sonderte. horizontal über einander lagernde Schichte» von verschiedener Stärke
und Mächtigkeit. Die oberste und die »Meiste Schicht besteht aus dem gewöhn¬
lichen schwach gefärbten sandigen Letten, den das Wasser in ruhigen Buchten
abzusehen pflegt; beide werden blos von den Pfählen, deren Spitzen in der
untersten Schicht stecken, durchstochen. Die mittlere Schicht dagegen besteht
zwär auch aus sandigem Letten, ist aber durch die darin erfolgte Verwesung
einer großen Menge organischer Stoffe ganz schwarz gefärbt und zeichnet sich
insbesondere durch die darin begrabenen Alterthumsgegenstände und verschie¬
denartigsten Ueberreste eines früheren Culturlebens aus. Sie heißt die Cul¬
turschicht und hat sich offenbar nur in und während der Zeit der Bevöl¬
kerung dicker Seedörfer niedergeschlagen und die Abfälle aller Art in sich auf¬
genommen. Die darüber gelegene Schicht ist erst nach der Zerstörung ent¬
standen, wo Schlamm und Sand sich wieder ungestört ablagern konnten.
Aus der geologischen Beschaffenheit der Culturschichte, und den darin be¬
wahrten Gerätschaften hat sachkundige Beobachtung bei mehreren Kolonien
sowohl den sehr alten, vorgeschichtlichen Anfang als auch die nicht kurze Dauer
ihres Bestehens mit Bestimmtheit erkannt. Für das Alter der Pfahlbauten
im Pfäffikvner See bilden die Schichten des Torflagers das Geschichtsbuch, in
dem sich die Dauer dieser Wohnstätten nachschlagen läßt. „Nehmen wir an."
sagt ein Berichterstatter, „daß zum Entstehen einer fuhdicken Torfschicht ein
Jahrhundert erforderlich ist. so muß dieser Pfahlbau wenigstens dreihundert
Jahre be)padre gewesen sein. Wir fanden nämlich 3 Fuß unter der Ober¬
fläche des Torflagers die ersten Gegenstände, welche Bearbeitung durch Mer-
schenhand verriethen, 4 Fuß tief eine Schicht Weißen, offenbar hcrzugesührtcn
und zurn Zwecke der Herstellung einer Art von Estrich, welcher dem Auswachsen
des Torfes Einhalt thun sollte, gleichmäßig ausgebreiteten Kieses, noch einen
Fuß tiefer, mithin 6 Fuß unter der Oberfläche, die Hauptmasse der Scherben,
Knochen, Steinbeile u. s. w. Wie lange aber dieser Pfahlbau dagestanden
habe, ehe die Torsbildung begann, wird wol Niemand zu ermitteln versuchen
wollen/' „Der ungeheure Zeitraum, welcher hierzu erforderlich ist", fügt er¬
gänzend ein anderer Bericht hinzu, „läßt sich aus folgende» Umständen er¬
messen. Während die Untersuchung der Karolingischen Brücke bei Mainz und
der Trajansbrücke an der untern Donau erst neulich bewiesen hat, daß die
von den Römern dort eingerammten Brückenpfähle auch jetzt noch bautüchtig
sind; daß also an der ausdauernden Festigkeit der Eichenstämme im Wasser
ein Jahrtausend spurlos vorübergeht, so genügte el» Schaufelstich der Arbeiter,
um die runter den, Wasser stehenden Eichenpfähle, auf denen die Bregenzer
Seebehausungen ruhten und diejenigen im Züriehersec bei Meile», leicht wie
Letten zu durchstechen; sie setzten dem Spaten des Grubers nicht den gering¬
ste» Widerstand mehr entgegen."
Es dürfte hin am Orte sein, über den Psahlbnu bei Wauwyl einige
Worte zu sagen. Seiner besondern, abweichenden Construction haben wir
im Allgemeinen schon gedacht. Der Unterbau bestand hier nicht aus senkrecht
in den Secgrund getriebenen Pfählen, aus welchen der das Wasser überragende
Wohnboden ruhte, sondern war aus mehreren Lage» kreuz und quer auf ein-
andergeschichtcter Holzstämme aufgeführt, welche auf dem Seegrunde ruhend
und mit diesem verbunden einen unbeweglichen, festen Bauplatz darboten. Es
erinnert die Construction dieser Holzbauten a» die aus Balken und Steinen
aufgeführten gallischen Festungsmauern, wie sie von Julius Cäsar beschrieben
sind. „Bemerkenswert!) ist ferner, daß bei dieser Kolonie ein bestimmter Plan
in der Eintheilung des künstlich hergestellten ausgedehnten Wohnbodens,
eine vielleicht das Eigenthum der Familie bezeichnende parcellenartige Ab¬
grenzung der verschiedenen Stücke sich erkennen läßt, daß auch, was bei keinem
andern Scedorse vorgekommen, der Boden, auf welchem die Ansiedler wirth¬
schafteten, mit Ueberresten der eigentlichen Hütten unter der schützenden Hülle
des Torfes sich zufällig so erhalten hat, wie er zur Zeit des Abzuges seiner
letzten Bewohner beschaffen war."
Betreten wir nun die Oberfläche der Pfahlbauten, den eigentlichen Wohn-
bodcn, welcher den nöthigen Raum nicht allein für Wohnungen, sondern auch
zur Betreibung mannigfacher Geschäfte darbieten mußte. Um diesen dauer¬
haft zu errichten, wurden 10 —12 Fuß lange Stämme an den Enden durch¬
bohrt und mit Nägeln von Holz auf den Köpfen der überall gleich hohen
Pfähle befestigt; dann spaltete man 5—6 Fuß lange Stämme aus Nadelholz
in Bretter und Bohlen und verband diese durch hölzerne Zapfen mit dem Balken¬
lager. Wie wenig die auf das Pfahlwerk gelegten Bretter und Bohlen eng
an einander schlossen, ist aus der großen Menge der durch die Lücken und
Spalten hinabgefallenen und in der Culturschicht befindlichen Geräthschaften
zu erkennen; auf absichtlich offen gelassene Zwischenräume deuten die bisweilen
haufenweis beisammenliegende» zerbrochenen Steinbeile. Topfscherben und
Ueberreste verspeister Thiere und Früchte.
Die Wohnungen bestanden aus Flechtwerk. Senkrecht gestellte Stangen
waren mit Ruthen und Gezweig durchflochten und zum Schutz gegen Wind
und Wetter innen und außen mit einem 2—3 Zoll dicken Lehmmantel be¬
kleidet. Ihre Form war theils rund, theils eckig; das Dach hatte bei run¬
den Hütten eine konische Form und war mit Baumrinde, Stroh und Binsen
bedeckt. Ueber den Boden der Hütte war vielleicht ein Estrich ausgebreitet
und in großen, mit Nuß bedeckte» Sandsteinplateau dürfen wir den Feuerherd
erkennen, der im Innern der Wohnung aufgestellt war. Die Zahl der Hütten
war natürlich sehr verschieden; »ach Umständen lagen dieselben bald vereinzelt,
bald dichter, und schlössen sich zu kleinen Weiler» und Dörfern zusammen.
Ob neben den Wohnungen für Menschen auch Viehställe und Borrathsräume
vorhanden waren, läßt sich mit Gewißheit uti-t sagen, doch spricht für ihre
Annahme die Thatsache, daß jene» Ansiedlern Viehzucht und Feldbau keines¬
wegs fremd war.
Die Verbindung der isolirten Wasserdörfer mit dem Lande wurde ent¬
weder durch Brücken und Stege erhalten, deren Spuren an verschiedenen Sta¬
tionen noch sichtbar sind, oder man bediente sich dazu der Kähne, die eben¬
falls in einigen Exemplaren vorhanden sind, einfach ausgehöhlte Baumstämme,
Canots, wie sie noch heute von vielen Völkern gebraucht werden. Die Lebens¬
weise und Beschäftigung der Bewohner dürfte vielleicht auch hierbei maßgebend
gewesen sein und den einen oder den andern Uebergang zweckmäßiger und
vortheilhafter gefunden haben.
Es lockt und reizt mit dem seltsamen Volke der Pfahlbaubewohner noch
näher zu verkehren und ihr Thun und Treibe» genauer zu beobachten. Die
überaus reiche Ausbeute der verschiedenartigsten Fundgcgenstände, welche unter
den Trümmern der Wohnungen in der Culturschicht geborgen dem Seeboden
nun enthoben sind, mögen diesen Verkehr vermitteln und die Bekanntschaft mit
ihnen uns einigermaße» erschließen.
Die Waffen und Werkzeuge, die Hausgeräthe und Schmuckgegenstände
gleichen in Stoff. Form und Technik wesentlich denjenigen, welche man in den
alten Heidengräbern über ganz Europa verbreitet gefunden hat. Die bekann¬
ten Steinbeile und Steinmeisel, theils aus einheimischen Gestein, theils ans
Beilstein (Nephrit) gefertigt, sind von mannigfacher Form und Größe in reicher
Auswahl zu Tage gekommen. Beachtenswert!) ist der Beilstein, dessen Vor¬
kommen in europäischen Gegenden bis jetzt noch nicht nachgewiesen ist; er
findet sich nur in Asien und Aegypten und kann nur durch Handelsverbin¬
dungen in diese entlegenen Gegenden gelangt sein. An den aufbewahrten
Exemplaren läßt sich seine Bearbeitung zu Beilen und Meiseln deutlich er¬
kennen. Eine ganze Musterkarte in allen Stufen der Bollendung, vom rohen
Gestein an bis zum scharfgeschliffenen, fertigen Beile und in allen Graden der
Abnutzung liegt dem Auge des Beschauers vor. Neben Beilen und Meiseln
gab es noch Steinhämmer, Schleudersteine, Schleifsteine. Kornquetscher, Reib-
und Mahlsteine. Feuerherdplatten, zu denen das Gestein der Umgegend eben,
falls den Stoff geliefert hat. Auch Feuersteingeräthe, Pfeilspitzen, Sägen
und Messer sind hier und da. obwohl vereinzelt, entdeckt worden. Die kleinern
Knochen der Thiere benutzte man zu kleinen, meiselartig zugeschliffenen In¬
strumenten, zu Pfeilspitzen. Pfeifen, Stricknadeln. Haarnadeln. Kleidernadeln
und allerlei kleinen Stechwerkzeugen; die größern Thierknochen dagegen, die
Rippen und Tchienbeinknochen der Rehe und Hirsche, die Ellnbogenknochen ver¬
schiedener Wiederkäuer, die Geweihe der Hirsche, Rehe und Dammhirsche, zu
Schäften und Handhaben für Waffen und Werkzeuge, zu Hämmern, Schlegeln,
Harpunen und andern Stechwerkzeugen; die Zähne der Eber zu Kerbe- und
Schneideinstrumenten, die Felle und das Leder damit zu schneiden; Bauen- und
Wolfszähne wurden durchbohrt als Schmucksachen und Amulette getragen.
Von Thonfabrikaten hat man theils vollständig und wohlerhalten, theils in
Bruchstücken und Scherben allerlei Geschirr zum Kochen, zur Aufbewahrung
von Speisen und Lebensmitteln, zum Gebrauch beim Essen und Trinken auf¬
gehoben: große und kleine Töpfe, Schüsseln. Schaalen, Teller. Näpfe, Becher
und Trichter; auch Ringe aus Thon, deren Gebrauch nicht bekannt ist. und
größere und kleinere Spmnwirtel liegen in reicher Fülle vor. Dies ganze Haus¬
und Küchengeräth. in Bezug auf Stoff, Form und Fabrikation dem Geschirre
aus den alten Gräbern sehr ähnlich, ist ohne Drehscheibe aus rohem, mit
Quarz, kleinen Muschelstückchen und Kohlenstaub untermischten Thon gefertigt,
nicht im Brennofen, sondern am offenen Feuer gehärtet, nur sparsam verziert
und an der Außenseite zuweilen mit Graphit polirt.
Diese Fundstücke aus Stein. Bein und Thon, der ältesten Zeit angehörig,
lagen häuptsächlich in den Culturschichten der östlich gelegenen Stationen be¬
graben; in den westlichen fanden sich in bunter Mischung neben diesem un¬
vollkommenen Geräth und Material vorherrschend die Erzeugnisse der Bronze¬
zeit, hin und wieder auch der Eisenzeit. Die Geräthschaften aus diesen
Stoffen sind höchst mannigfaltig, jeglichem Lebensbedürfnisse dienend und für
Krieg und Frieden berechnet; in ihrer Menge und Gestaltung so wie in den
übrigen gleichzeitigen Jndustrieproducten offenbart sich schon ein Erfinduugs-
geiht und eine Wohlhabenheit, welche eine nicht geringe Entwicklung und
Hebung der Lebensverhältnisse in diesen Periode» erkenne» läßt. Denn die
Bewohner der Pfahlbauten besaßen aus Bronze Beile, Meisel, Messer. Dolche,
spilen für Lanzen und Wurfspieße, P-ricme, Hämmer, Angeln, Bohrer,
Feilen, Draht, allerlei Schmucksachen und andere Gegenstände unbekannter Be¬
stimmung. Besonderes Interesse hat der Fund eines vollständigen Gußmo-
dells für Bronzebeile, da es den Erzguß als eine den Pfahlbaubewohucrn be¬
kannte Kunst und Industrie nachweist. Sobald ihnen aber das Eisen geboten
war, so wurde das nothwendigste Geräth, die Axt, dann auch Waffen und
andere Schneide- und 'Stechwertzeuge aus diesem Metall hergestellt. Die
Zahl und Mannigfaltigkeit der Eisengcräthschaften hat sich in der neuesten
Zeit ansehnlich vermehrt und erhält noch steten Zuwachs. Mit den zierlicheren
Arbeiten aus Bronze und ,Eisen hat auch das Töpfergeschirr anscheinend
gleichen Schritt gehalten; es erhielt nach und nach eine gefällige zierliche Form
und reichere Ornamente.
Fassen wir die Resultate, welche aus der Betrachtung dieser Producte
menschlicher Industrie etwa hervorgehen dürsten, kurz zusammen, so zeigt sich
auch hier wie bei den Gräberfunden die bestimmte Aufeinanderfolge jener
drei Culturpenoden, der Stein-, Bronze- und Eisenzeit. Gestattet diese Wahr¬
nehmung für das Alter und für die Dauer auch noch keine bestimmten
Schlüsse und Folgerungen, da die Böller jene drei Kulturstufen nicht gleich¬
zeitig betreten haben uno überhaupt die Civilisation nicht an allen Orten
gleichen Schritt hält und in derselbe» Zeit überall dieselbe Hohe erreicht: so
läßt sich doch so viel mit Gewißheit behaupte», daß die frühesten und ältesten
Ansiedelungen in den Seebecken der östlichen Schweiz stattgefunden und wenn
nicht alle, doch gewiß die meiste» ihren Anfang in jener dunkeln Zeit ge¬
nommen haben, wo der Gebrauch der Metalle in jenen Gegenden noch nicht
heimisch war. Ein Theil der ältesten Kolonie mag vielleicht schon vor oder
im Verlause der nachfolgenden Bronzezeit wieder untergegangen sein, ein an¬
derer dagegen hat, wie die Untersuchungen in den westlichen Seen gezeigt
haben, gerade in diesem Zeitraume seine» eigentlichen Bestand und seine
Blüthezeit gehabt. Die Pfahlbauten in den Seen von Biel und Neuenburg
sind am längsten bewohnt gewesen; viele davon sind in die culturgeschichtliche
Periode der Bevölkerung von Gallien mit eingetreten, haben ihre Existenz bis
in die Eisenzeit bewahrt und reichen mit ihren letzten Auslaufen vielleicht noch
bis in die Zeit, in welcher die Helvetier bereits unter römischer Botmäßigkeit
standen.
Sorgfältige Beachtung der Form, Technik und Ornamentation an den
Waffen und Hausgeräthen. ihre Zusammenstellung mit gleichartigen Fund¬
stücken aus Gräbern, Feldern und Wäldern und andere hier kunst unwichtige
Momente haben auch die Abstammung und Nationalität der Pfahlbaubewohner
mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ergeben. Man bekennt sich allgemein zu der
Ansicht, daß sie nicht eine eigene Kaste und ein besonderes Volk gebildet, son¬
dern als ein Zweig dem großen keltischen Volksstamme zugehört haben, den
die Geschichte und die Denkmäler als die früheste Bevölkerung des Schweizer¬
landes bezeichnen. Mag aber auch diese Ansicht noch zweifelhaft erscheinen,
so erhellt aus denselben Gegenständen und andern Ueberresten des Thier- und
Pflanzenreiches um so bestimmter, daß das Leben und die Beschäftigungen
dieses Volkes nicht allein dem Fischfange und der Jagd, sondern bereits der
Viehzucht und dem Feldbau gewidmet waren.
Für den erfolgreichen Betrieb des Fischfangs, der hier selbstverständlich
ist. bedarf es eigentlich keiner Beweise, doch geben die vielen Skelette ver¬
speister Fische, namentlich die Köpfe ungemein großer Hechte, noch besondere
Belege dafür ab. Für die nicht minder natürliche Beschäftigung mit der Jagd,
welche den Bären, dem Ur und dem Wisent, den Wildschweinen, Hirschen und
Rehen nachstellte, um Fleisch und Mark als Nahrung zu gewinnen, spricht
die kaum übersehbare Menge der Knochen und Geweihe dieser Thiere, welche
zu Geräthschaften verarbeitet und zu industriellen Zwecken benutzt, oder zur
Gewinnung des Markes zerhackt und zersägt überall neben dem Pfahlwerk
aus dem Seeboden heraufgeholt sind. Dagegen lassen andere Thierüberreste
in den Ansiedlern ein Hirtenvolk erkennen, das im Besitze fast aller wichtigen
Hausthiere, des Rindviehs, des Schweins, des Schafes, des Esels, der Ziege,
des Hundes, ja selbst des Pferdes war. „Alle diese Thiere stammen nicht
aus Europa, sondern aus Asien und waren von den Ansiedlern aus ihren
langen Wanderungen vom Oriente her mitgeführt worden." Die Wartung
und Pflege der Hausthiere setzt aber die Kenntniß noch anderer Verrichtungen
voraus, zunächst eine geregelte und fortgesetzte Sorge und Thätigkeit für die
Zukunft. „Diese vielseitigere Thätigkeit macht auch eine Theilung der Arbeit
nothwendig, da diejenigen, welche die Thiere pflegten, sie auf Weideplätze
trieben, vor den wilden Thieren schützten. Gras trockneten und Wintervorräthe
für die verschiedenen Gattungen der Stallthiere anlegten, unmöglich sich mit
der Jagd beschäftigen konnten." Auch der Ackerbau wurde betrieben. Höchst
einfach mochte allerdings die Bearbeitung des Bodens sein und in einem
bloßen Aufreißen desselben mit Hilfe krummer Baumäste bestehen, allein die
damals gezogenen und noch erhaltenen Producte sind von der Art, daß sie
von den besten der Gegenwart nicht übertroffen werden. Die gefundenen
Getreidearten sind vortrefflicher Weizen und Gerste mit zweizeiliger Aehre,
die noch heute im Oriente gebaut wird. schichtenweise haben sich diese
'Feldfrüchte im verkohlten Zustande erhalten, mehr als einen Tester Weizen
hat man in großen, roh geformten Thongefäßen bei einer andern Niederlassung
aus der Tiefe heraufgeholt. Er hat, von dem umgebenden Schlamme gerei¬
nigt, eine glänzend schwarze Farbe. Ueber die Behandlung und Verwendung
der Getreidekörner belehren uns die Reih- und Mahlsteine, die sogenannten
Kornquetschen, runde, auf einer Seite platt geklopfte Steine, die fast in
allen Wasscrdörfern in großer Zahl vorhanden sind; ferner das verkohlt ge¬
fundene Brot") und der in beuchten Töpfen noch hängende angebrannte
Körnerbrei. Und um den Speisezettel zu vervollständigen, so mögen die
Früchte wildwachsender Bäume und Sträucher, der Holzapfel und die Holz¬
birne, die Schiebe und Haselnuß, besonders aber die Himbeere und Brom¬
beere hier nicht unerwähnt blechen. Die Kerne dieser Früchte, gedörrte und
gcviertheilte Aepfel und Birnen, Schaalenhaufeu von Buch- und Haselnüssen
hat man an vielen Stellen in großer Menge aus der Culturschicht gegraben.
Es bestand also die Nahrung dieser Leute aus Gctreidekost, Obst und Wald¬
früchten, aus dem Fleische der Fische, des Wildes und der Hausthiere. Bon
den letzten, wurde natürlich auch die Milch benutzt. „Der aus der Milch be¬
reitete Zieger wurde wahrscheinlich in Töpfen im Rauchfange aufbewahrt.
Man findet nämlich nicht feiten Töpfe, welche mit ganzen Reihen von Löchern
bis gegen den Grund hinab versehen sind, daher sie nicht zur Aufbewahrung
von Flüssigkeiten dienen konnten, wol aber mußten sich diese zur Aufbewah¬
rung des Ziegers sehr gut eignen, indem die Molken durch die Löcher ab-
tropfen konnten." Neben den Cerealien wurde auch Flachs gezogen, dessen
Pflege und Zubereitung wieder andere Kenntnisse erfordert. Zeugen dieser
Cultur und Industrie sind Flachsüberreste, theils im rohen und unverarbei¬
teten Zustande, in Stengeln mit gut erhaltenen Samenkapseln oder in
sauber zusammengelegten Büscheln, theils zu Faden mit der Spindel ge¬
sponnen, sowie Trümmer und Stücke von allerlei Geflechten, von Mat¬
ten, Decken, Stricken und Schnüren; ja neuerdings scheint sogar eine
Art Weberei in aufgefundenen Zeugstücken und Geweben nachgewiesen
zu sein.
Fragen wir weiter nach dem Entstehungsgründe dieser Wasserdörser. so
scheint hauptsächlich das Gefühl größerer Sicherheit die Wahl und den Aufbau
so eigenthümlicher, durch Wasser isolirter Wohnungen veranlaßt, zu haben, in
denen man wie auf Inseln feindliche Angriffe und Naubanfälle wilder Thiere
leichter glaubte abwehren zu können. Uebrigens dürfen wir nicht meinen, daß
damals die ganze Bevölkerung jener Gegenden in derselben Weise gewohnt
und gehaust habe. Die Thäler und Anhöhen des Landes waren aller Wahr¬
scheinlichkeit nach ebenfalls mit Hütten besehe, welche sich von jenen der See-
bewohner eben nur dadurch unterscheiden, daß sie nicht auf Pfahlwerk, son¬
dern auf dem festen Boden standen. Dafür sprechen die kleinen, ans Hügeln
und Bergrücken entdeckten, durch Wälle geschützten Plätze, welche sich als
Ueberreste menschlicher Wohnungen erwiesen haben und gleichzeitig mit den
Pfahlbauten entstanden sein dürften. Wenn sich von der Bewohnung des
festen Landes in jener Zeit nur und wenige Spuren gefunden haben, so
liegt der Grund einfach in der vielfachen Zerstörung, welche die Boden¬
cultur solchen Ueberresten gebracht und bereitet hat.
In welchen Zeiten die Pfahlbauten zu Grunde gegangen sind, ist in
keinem Gcschicktsbuche aufgezeichnet; auf welche Weise aber die Mehrzahl
derselben vernichtet und beseitigt wurde, das ist deutlich in ihren Trüm¬
mern zu lesen. Die verkohlten Früchte und Industrieproducte, die an¬
gebrannten Pfähle. Bretter und Balken lassen nicht den mindesten Zweifel
übrig, daß sie, durch Feuer zerstört worden sind. Ob diese Zerstörung aber
durch Feindeshand bewirkt worden ist, oder ob Unglück und schlimmer Zu¬
fall hier mitgewirkt haben, wer mag das mit Bestimmtheit sagen? „Mit
großer Wahrscheinlichkeit laßt sich übrigens annehmen, daß diese isolirte, ver¬
kümmerte Art zu wohnen, bei welcher namentlich in der Winterszeit alle Be¬
haglichkeit aus dem Innern der Hütte ausgeschlossen blieb und das körperliche
Befinden Vielfache Prüfungen zu bestehen hatte, bei vorgerückter Civilisation,
bei der allmäligen Entwickelung einer staatlichen Ordnung und dem Eintreten
friedlicher Zustände nach und nach außer Gebrauch kam und am Ende ganz
aufgegeben wurde, ganz ähnlich wie am Schlüsse des Mttclalters die Burgen
verlassen wurden, weil die Umgestaltung der Verhältnisse den Besitzern der¬
selben einen wohnlicheren und doch sichern Aufenthalt im ebenen Lande ge¬
stattete."
Auffällig und seltsam mag unserer Zeit das Leben jenes alten, vorge¬
schichtlichen Volkes auf ihren Pfahlbauten in den Alpenseen erscheinen; allein
es steht im Alterthume nicht vereinzelt da. Nach einer Erzählung bei
Herodot waren bei den kaukasischen Skythen dieselben Wohnungen üblich und
bekannt. „Mitten im See Presias". erzählt der Geschichtssckreiber (V 16).
„stehen zusammengefügte Gerüste auf hohen Pfählen, und dahin führt vom
Lande nur eine einzige Brücke. Und die Pfähle, auf denen die Gerüste ruhen,
richteten in alten Zeiten die Bürger insgemein auf; nachher aber machten
sie ein Gesetz und nun machen sie es also. Für jede Frau. die einer hei-
rathet. holt er drei Pfähle aus dem Gebirge, das Orbctos heißt, und stellt
sie unter; es nimmt sich aber ein jeder viele Weiber. Sie wohnen aber da¬
selbst auf folgende Art. Es hat ein jeder auf dem Gerüste eine Hütte, darin
er lebt, und ein Fallthüre in dem Gerüste, die hinunter geht in den See.
Die kleinen Kinder binden sie an einem Fuße mit einem Seil an aus Furcht,
daß sie hinunterfallen. Ihren Pferden und ihrem Lastvieh geben sie Fische
zum Futter." Ferner hat in den irischen Binnengewässern der Engländer Wilde
kurz vor Aufsindung der Schweizer Pfahlbauten ebenfalls Holzinseln entdeckt.
Diese Holzinseln, Cwnnogcs genannt, liegen auf Inseln, welche durch die Ge¬
wässer des Shannon gebildet werden und im Sommer gewöhnlich trocken
sind, im Winter aber unter Wasser stehen. Sie sind zum Theil natürlich
und dann durch hingelegte Eichenstämme und' eingeräumte Pfühle derselben
Holzart, zuweilen auch durch Steinbauten erhöht, vergrößert und befestigt.
Zu den meisten gelangte man auf Kähnen, ausgehöhlten Baumstämmen, die
sich noch bei vielen vorgefunden haben; zu andern auf Stegen oder Dämmen.
Die Form dieser Holzinseln ist gewöhnlich kreisförmig und ihr Durchmesser
beträgt zwischen 60 und 200 Fuß. Am Rande sind sie bisweilen mit einer
einfachen, auch doppelten Pfahlreihe schützend umgeben, auch finden sich zu
gleichem Schutz und Schirm für das Pfahlwerk Wälle und Mauern von
trocken auf einandergelegtcn Steinen.
Auf das Detail ihrer Anlage und Construciion, womit der Pfahlbau im
Wauwylersee im Allgemeinen große Ähnlichkeit zu haben scheint, können wir
hier nicht näher eingehen. Vielleicht kommen wir später darauf zurück, wenn
erst genauere Berichte auch über die in Schottland und auf der Insel Laalnnd
im See Manvo entdeckten Pfahlbauten vorliegen. Die Untersuchungsacten
über diese Alterthümer der grauesten Vorzeit werden so bald noch nicht ge¬
schlossen sein. Aus der Thatsache aber, daß in den irischen Crcmnvges
Stcingeräth aus der ältesten Zeit vorkommt, daß diese Bauten während ihres
Bestehens allmälig vom Wasser und Torfe verschlungen worden sind, daß
Pfahlwerk auf Pfahlwerk ruht, daß man bei ihrer Abtragung Kohlcnstälten
in verschiedenen Höhen findet, ist sowohl das hohe Alter dieser Ansiedelungen
als auch ihre lange Dauer deutlich zu ersehen und außer allen Zweifel gestellt.
Endlich noch die Bemerkung, daß mehrere Crannoges und namentlich
einige von denen, die in neuester Zeit entdeckt und genauer untersucht sind,
in den irischen Annalen der Vier Meister und in Clogan's acts, sanctorum
p. 422 auch ihre geschichtliche Erwähnung haben.
Die deutsche Nation und das Kaiserreich von Heinrich von Sybel.
Eine historisch-politische Abhandlung, Düsseldorf, Buddeus, 1862.
Als Sybel vor einigen Jahren von Marburg nach München übersiedelte, war
er dem größeren Publicum nur durch die ersten Bände seiner „Geschichte der
Revolutionszeit" bekannt, und auch dieses bedeutende Werk hat Verhältniß-
mäßig langsam Verbreitung und gebührende Anerkennung gefunden. Aber
schon damals war das einstimmige Urtheil seiner Freunde und Verehrer, daß
er aus der Schule Rankes der hoffnungsvollste Gelehrte sei, der mit der vor¬
trefflichen Methode des Lehrers und mit nicht geringerem Darstcllnngstalcnt
den Vorzug eines männlichen Charakters verbinde, und der ebenso sehr liebe, seine
sittlichen und politischen Ueberzeugungen, die legten Grundlagen seines histo¬
rischen Urtheils, hervorzuheben, als sein Lehrer und Freund dieselben zu ver¬
hüllen gewöhnt war. Sybels Aufenthalt in München durfte die Besorgniß
einflößen, daß er durch eine großartige Redactionsthätigkeit und die Heraus¬
gabe der zahlreichen projectirten Quellcnwerke verhindert werden könne, in der
wissenschaftlichen Thätigkeit, für welche gerade er vorzugsweise günstig organi-
sirt ist, in langathmiger und ausgeführter Gesckichtscrzählung auf seine Na¬
tion zu wirken. Aber sein Aufenthalt im Süden hat, so scheint es. ihm selbst
die Freude an edler populärer Geschichtsschreibung nur stärker ausgebildet.
In der Berührung und Reibung mit einer sehr entgegengesetzten Auffassung des
Lebens und irdischer Pflichten hat sich ihm das Bedürfniß weite Kreise zu
belehren gesteigert. Aus dem ruhigen Gelehrten wurde gerade dort ein warmer
Vorkämpfer für die Auffassung des historischen Stoffs, welche wir die protestan¬
tische zu nennen gewöhnt sind. In diesem Sinn wurde der dritte Band seiner
Revolutionsgeschichte vollendet, eine Fortsetzung des schönen Werkes in Aussicht
gestellt; durch kleinere Vortrüge und Abhandlungen gewann er grade dort
Bedeutung für die Parteikämpfe der Gegenwart. Mit froher Hoffnung und
Vertrauen blickt das deutsche Volk jetzt auf ihn als einen der geistigen Führer
der nationalen Partei.
Eben erst an die Universität Bonn berufen, ist er zum Deputaten für
das preußische Abgeordnetenhaus gewählt worden. Es war ein gutes Zeichen
der Anerkennung, welches sein Volk ihm in diesem Ruf ertheilte; und unserm
Blatt würde es am wenigsten anstehen, dem Historiker von der Betheiligung
an der politischem Arbeit seines Volkes abzurathen. Aber wir vermögen
andrerseits den Wunsch nicht zu unterdrücken, daß es ihm gelingen möge, sein?
Thätigkeit als Lehrer und als Schriftsteller mit dem neuen Beruf ohne Nach,
theil für die deutsche Wissenschaft zu vereinigen. Und wir meinen, daß nicht
jeder Monat einer Session die Mitwirkung eines Mannes erfordert, dessen
erste Aufgabe bis jetzt war, der nächstfolgenden Generation deutscher Politiker
eine männliche Bildung zu geben.
Unter den kleineren Schriften, zu denen Sybel in München veranlaßt
wurde, ist die oben angezeigte eine der lehrreichsten. Sie ist ein Muster von
Arbeit, alle Vorzüge seines Wesens finden sich darin, sicheres Gruppircn des
historischen Stoffes, eine geistvolle Methode der Beweisführung, ehrliches
und festes Urtheil, scharfsinniges zuweilen kühnes Combiniren. Ihre Aufgabe ist,
nachzuweisen, wie seit ältester Zeit die Idee des römischen Kaiserthums der
deutschen Nation zum Verhängniß geworden ist; wie jede Dynastie der
deutschen Kaiser von Karl dem Großen bis über die Hohenstaufen hinaus zum
größten Nachtheil für das politische Leben der Deutschen für sich die Herr¬
schaft in Italien suchte; wie deshalb der Stnatsbau der Deutschen in
Trümmer siel. Schwäche, Ohnmacht, Auflösung viele Jahrhunderte deutscher
Geschichte zu einem kläglichen Bilde machten; wie der Kaiser zum Schatten
wurde und den besten Theil seiner Macht an den römischen Bischof ver¬
lor; wie seit der Reformation die Politik der Habsburger nur wie zufällig deutsch
sein konnte, während sie ihren Staat im Bunde und in Abhängigkeit von Rom
und im Gegensatz gegen die Bedürfnisse des deutschen Volkes und des neuen
Protestantismus ausbildeten. Endlich daß jetzt, nach mehr als tausendjährigem
historischen Verlauf, das nationale Streben der deutschen Stämme nach einem
Bundesstaate unter einheitlicher Führung keine unerhörte und neue Forderung
ist, sondern in neuer Form ein altes Verlangen, welches in den verschie¬
densten Jahrhunderten bald in der Politik einzelner Kaiser, bald in den Ansichten
patriotischer Reichsfürsten, bald als Sehnsucht der Nation zu Tage gekom¬
men ist.
Es ist nicht sowohl die Neuheit der Resultate, welche dieser Schrift des
deutschen Historikers so hohes Interesse gibt, als die gesunde, feste, rücksichts¬
lose und dabei doch versöhnende Weise, in welcher ein tüchtiger Mann von
tiefem Wissen die Ereignisse darstellt, seinen Ueberzeugungen Ausdruck.gibt.
Die Freude an dem Inhalt der Schrift soll dem Leser d. Bl. hier nicht
durch einen Auszug aus derselben vorweggenommen werden. Nur einige
Bemerkungen werden dazugefügt.
Die Einwirkungen, welche eine Nation auf die Nachbarvölker ausübt,
bilden, in ihrem geschichtlichen Verlaufe zusammengefaßt, besonders deshalb
sehr lehrreiche Momente der Geschichtschreibung, weil hierbei die Völker als
geistige Einheiten erscheinen, deren innerste Eigenthümlichkeit ähnlich wie die
einzelner Menschen in der Wechselwirkung sichtbar wird. Die Familie von
Völkern, weiche sich nach .dem Sturz des Römerreiches in, Europa unter
beständigem Wechselverkehr entwickelte, bildet, im Großen betrachtet, nicht
nur deshalb eine Einheit, weil fast Allen, selbst den Slaven, deutsches Blut
in die Adern gegossen wurde. ' und weil sie sämmtlich dem Gesetz desselben
Glaubens dienstbar^ wurden. Sondern auch, weil' tue fortlaufenden großen
und kleinen Ginwirkungen des einen auf das andere zu keiner Zeit ganz
aufgehört haben, sie haben in mancher Zeit einzelnen Völkern sowohl das sclbst-
stnndige Leben tötlich gefährdet, als das letzte tötliche Verderben abgewehrt.
Die Stellung, der Deutschen zu den Nachbarvölkern, Franzosen, Italienern.
Slaven, wie hat sie sich durch Jahrtausende als ein persönliches Verhältniß,
bald als segensreich und fördernd, bald wie eine Schuld und Strafe, dar¬
gestellt! Von dem Tage, an welchem Cunbern und-Teutonen auf ihren
Holzschilden über den Schnee der Alpen hinunter fuhren in die italiemjchen
Ebenen, bis zur Gegenwart, in welcher der römische Bischof den» preußischen
Unterthanen. PrzyluScki seine Sympathien mit der deutsch-feindlichen Bewegung
in, Posen ausspricht, durch zweitausend Jahre, welche lange Kette von Ursachen
und, Wirkungen.
Med jedem ihrer Nachbarvölker sind die Deutschen durch tausend Schick¬
salsfaden verbunden, aber die stärksten und zahlreichsten sind von günstigen
und ungünstigen Göttern zwischen Deutschland und Italien gezogen worden.
Vorzugsweise mächtig waren diese Einwirkungen in den ersten 1500 Jahren
n. Ehr., in der Jugendzeit des deutscheu Lebens. Während dieser andert¬
halb Jahrtausende waren die Italiener das Kulturvolk, welches den Ger¬
manen von seiner alten Bildung abgab, Gemüth und Neigungen der frem¬
den Eindringlinge nach seinen Bedürfnissen zu formen suchte, und seinerseits von
dem deutschen Wesen mit vornehmer Sprödigkeit nur so viel aufnahm, als
eS mußte. Die vornehme Stellung Italiens als des höher cultivirten, ab¬
gebenden und benutzenden Landes, hat sich von der römischen Kaiserjett bis
auf Luther im Ganzen wenig geändert. Allerdings waren es im Mttelal-
ter nicht mehr die Nachkommen der alten Bauern von Latium, welche deutsche
Kaiser zwangen, ihnen den Steigbügel zu halten, denn auch Italien war
stark barbarisül und germanisirt. Aber grade das ist auffallend, wie schnell
und willig sich die Deutschen als Gäste. Eroberer und Kolonisten des Schotten
Landes der übermächtigen italienischen Art fügten.
Dtese auffallende Er>cheinung zu erklären, reicht das Axiom von der gro¬
ßen Fügsamkeit und Aneignungstraft der deutschen Volksseele recht aus. Es
ist vielmehr noch ein nicht genügend erforschtes Moment unserer ältesten Ge¬
schichte, daß Italien, und in geringerm Grade sogar das oströmische Reich
vom dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung bis zur Zeit Karls des Großen
das Land war, welches den Germanen nicht nur durch Sage und Poesie,
durch Religiosiität und Beutelust verklärt wurde, sondern welches ihnen sogar
als ein zweites Heimathland erschien, in welchem ihre edelsten Helden, die be¬
rühmtesten Geschlechter gesiegt und geherrscht, das Leben genossen hatten und
untergegangen waren.
Schon zur Zelt des Augustus und seines Hauses muß der Zug nach
Italien in den Deutschen sehr stark gearbeitet haben. Alles Neue, Seltsame,
Kunstvolle, Luxus und Reichthum kam von dort in die deutschen Dörfer;
wen unruhiger Sinn oder Händel zu Hause nicht gedeihen ließen, der schlug
sich über die Alpen. Deutsche Fürsten bezogen von dort ihre Pensionen, welche
ihnen erlaubten, großes Gefolge zu hallen, besiegte Häuptlinge deutscher
Stämme verzehrten dort in Provinzialstädten ihre Gefangnenkost. Schon
unter Tiber gab es schwerlich einen deutschen Stamm, ja kaum einen Ort,
der nicht einzelne Fürsten oder Edle, Krieger oder Knaben in Italien hatte, als
Pensionäre, Geiseln, Gefangene oder Söldner der Römer.
Freilich waren Jahrhunderte nöthig, die Germanen mit dem italienischen
Leben fest zu verbinden. Die Leibwache des Augustus und seiner Nachfolger
bestand aus Deutschen, welche eine ähnliche bevorzugte Stellung unter den
Truppen einnahmen, wie bis jejzt die Schweizer im päpstlichen Rom; zu den
niedrigen Aemtern, welche großes persönliches Vertrauen erheischten, wurden
wohl schon damals freigelassene Deutsche gewählt; in den Legionen wurde
das deutsche Wesen immer zahlreicher, auch kriegsgefangene Sclaven müssen
einiges Germanenblut in das Volt und die römischen Familien gebracht
haben. Aber wie stark das Eindringen des deutschen Elementes in das ita¬
lienische Leben war, durch mehre Jahrhunderte nahmen deutsche Söldner
und Beamte im Römerreich eine eigenthümliche reservirte Stellung ein. Selbst
bei der schnellen Barbarisirung des Reiches, welche seit Marc Aurel eintrat,
besetzten die Deutschen den römischen Kaiserstuhl noch nicht rin Edlen aus
ihren Geschlechtern. Während rohes JUyriervolk den kaiserlichen Purpur um
die mißgestalteten Glieder schlägt, stehen die Germanen dem innern Leben des
römischen Staates immer noch fern. Sie sind zur Zeit Diocletian's mäch¬
tige Soldtruppen, sie bilden zuweilen die stärkste Kraft des Heeres, sie
üben großen Einfluß auf Brauch und Sitte der Armee, ja sogar des
Hofes. Sie sitzen zahlreich und anspruchsvoll in Stadt und Land und
bringen in der Nähe der Kaiser ihre altheimischen Trinksprüche aus.
Ihr nationaler Geschmack hat eine große Bedeutung für den Getreidemarkt,
ja sogar für den Handel mit Gewändern und Stoffen erhalten, ihr schwarzes
Roggenbrod wird in Byzanz und an den Küsten Kleinasiens gebacken, West-
phälische Schinken — sie kommen dnrch die Marser und Menapier in den
Großhandel werden von griechischen Handelsschiffen auf dem Mittelmeere
verfahren, — ihre Pelzröcke und Mäntel haben sie auch in Griechenland nicht
abgelegt, die Robbenfelle, die sie zum Besatz gebrauchen, sind das kost¬
barste Pelzwerk der Römer geworden, zehnmal so theuer als das größte
Bärenfell, und der Rauchhändler zu Rom. Byzanz und Alexandrien sucht die
neuen Handelsartikel sorgfältig vor den Verwüstungen der südlichen Insecten
zu schützen. Aber sie fühlen sich um diese Zeit, so scheint es, auch in römi¬
schem Amt immer noch als Fremde; sie halten fest an nationalen Ge¬
bräuchen und Ueberlieferungen, und dieselben Männer, welche in ihrer Hei¬
math das Nömerreich als neues Vaterland ihrer vcrbquntcn Helden, als das
goldene Land der Frende und des Gewinns betrachteten, scheinen sich, sobald
sie selbst dorthin versetzt waren, wieder von den Italienern abgeschlossen und
die eigenen Landsleute mit einem starken Corpsgeist den Römern gegenüber
gestellt zu haben. Es lag im Interesse der Kaiser, die abgeschlossene Stellung
der Deutschen zu erhalten und zu begünstigen. Wäre uns aus dem Gar-
nisonlebcn deutscher Truppen zur Zeit des Aurelian oder Probus irgend
welche Beschreibung überliefert, wir würden sicher aus den rohen Lagerscher¬
zen und der trocknen Laune deutscher Centurionen, sowie aus der Disciplin
deutscher Truppenkörper eine überraschende Aehnlichkeit mit Stimmungen und
Heeresordnung der Landsknechte erkennen, welche unter den beiden Frunds-
berg bei Pavia kämpften.
Es war erst der mächtige Einfluß des christlichen Glaubens, welcher die
Germanen mit dem römischen Leben innig und für Jahrtausende un¬
auflöslich verband. Dem Gemüth der Deutschen, welches schon damals Wärme,
Begeisterung und Hingabe nicht entbehren konnte, wurde durch ihn ein neues
Gebiet der höchsten Interessen geöffnet, durch die Gemeinde wurden sie mit
Männern anderer Nationalitäten, auch mit den Eingeborenen des fremden Landes
so innig verbunden, daß die eigene Landsmannschaft einen Theil ihrer Wichtigkeit
einbüßen mußte. Sie verloren nicht sofortSprache. Sitte. Stammgefühl, aber
sie wurden als fromme Christen in ganz neuer Weise Weltbürger. Sie wur¬
den jetzt auch leidenschaftlich in das politische Parteileben des absterbenden
Römerreiches hineingezogen, als Führer und Werkzeuge der Pnesterpartcien an
den Höfen. Von da lernten sich die Deutschen schnell als die politischen Herren
Italiens fühlen. Ihre ehrgeizigen Führer besetzen den Kaiserstuhl, leiten
Heer und Verwaltung. Alte und neue Antipathien der deutschen Stämme
und Factivneir werden auf römischem Boden ausgekämpft, Gefolge und
Partei des einen Häuptlings stößt gegen die des andern. Lange bevor das
weströmische Reich unter dem letzten Schemkaiser zerfiel, hadern Teutsche aus den
verschiedensten Stämmen in wildem Streite untereinander um die Cäsarenbeute.
Und doch begann erst jetzt die massenhafte Einwanderung ganzer Stämme.
Eine deutsche Welle nach der andern fluthete über die langgestreckte Halbinsel,
eine brach sich an der andern, ihre Krieger zerrannen wie Wasfturopfen auf
beiden Seiten der Apenninen. Schon aus den Völkernamcn, welche in den
Jahrhunderten der Völkerwanderung auf italienischem Boden genannt werden,
läßt sich schließen, daß es damals kaum einen deutschen Stamm gab, der sich
nicht gewöhnt hatte, Italien als seinen Jagd- und Bcutegrund oder gar als
seine Heimath zu betrachten; demselben Zuge der zur Zeit des Augustus einzelne
Verbannte oder Abenteurer nach dem Süden gezogen hatte, waren jetzt die Völ¬
ker gefolgt. Seit den Zügen von Alarich und Hradagais, seit Odoaker, den Gothen
und Langobarden war Italien nach der Anschauung der deutschen Zeitgenossen
ein Land, das ihnen gehörte, so gut als das Land der Baiern, Schwaben.
Alemannen, welches auch früher in Nömcrhand gewesen war. eben so sehr
als das Gallien um die Seine, welches die Franken erworben hatten, und als
das Britenland, in welchem erobernde sächsische Stämme erstaunt die Trüm¬
mer verlassener römischer Tempel gefunden hatten.
Aus diesem Gefühl, daß Italien deutsches Eigenthum sei, aus tausend
Ueberlieferungen germanischer Sage und Poesie, aus den Erinnerungen fast
aller Stämme, Geschlechter und Familien ist die unwiderstehliche Zugkraft zu
erklären, welche die Halbinsel durch das ganze Mittelalter auf die einzelnen
Deutschen ausübte, auf Kaiser und abenteuernde Söldner, aus stille Gelehrte
und fahrende Schüler. Auf diesem Zuge des deutschen Gemüths beruht auch
im letzten Grunde der Einfluß, welchen der römische Bischof über die deut¬
chen Stämme ausübte.
Die neuen geistigen Fesseln, durch weiche die römische Kirche, solche phan¬
tastische Anhänglichkeit der Germanen benutzend, alle deutschen Stämme an
sich band und den römischen Bischof zum Herrn eines neuen Weltreichs zu
machen wußte, sind aus der Geschichte bekannt.
Durch 1500 Jahre politischer und geistiger Abhängigkeit bezahlten die
Deutschen ihre ersten, feindlichen Zuge über die Alpen; fast alles Gute und
Bildende, was während dieser langen Periode in ihr Leben siel, fast alles
Schlechte und Verderbliche, das von außen her ihre Sitten verdarb, ihr Staats¬
leben zerstörte, holten sie aus Italien. Erst durch die schwarze Kunst des Bücher¬
drucks wurde die Mehrzahl der Deutschen von dieser Herrschaft eines fremden Lan¬
des befreit. Die Humanisten und der große Wittenberger Mönch sprengten die
römisch« Kette. Aber noch heute leiden wir an einer ultramontanen Partei.
Der übermächtigen Einwirkung Italiens folgte durch 300 Jahr bei den
Deutschen in anderen Formen eine fast ebenso übermächtige Einwirkung
Frankreichs. Erst dnrch Lessing und die Freiheitskriege sind die Deutschen
von der Herrschaft des zweiten Nachbarn befreit worden. Wir sind gegen¬
wärtig in den ersten Anfängen eines nationalen Lebens, welches die Quellen
der Energie und Thatkraft, Bildung und Verständniß des Lebens zuerst und
vor Allem in dem heimischen Boden sucht.
Die Thätigkeit des Abgeordnetenhauses ist diesmal damit eröffnet wor¬
den, daß die Fraction Grabow bei der Präsidentenwahl eine kleine Nieder¬
lage erlitten hat, und — wir wolle» das nur gleich hinzufügen — eine wohl¬
verdiente Niederlage. Die Taktik der Fraction bei dieser Gelegenheit war
weder geschickt noch glücklich. Nur darf man den ganzen Vorgang nicht zu
hoch anschlagen und nicht etwa daraus einen Schluß auf die künftige Hal¬
tung der Parteien ziehen wollen. Die Fraction Grabow kann sich in ihrer
neuen Stellung noch nicht sogleich zurecht finden. Sie läßt sich noch zuwei¬
len von der Illusion beherrschen, daß sie die Nachfolgerin und Erbin der
früheren Fraction Vincke sei. Dies aber ist ein Irrthum. Die Fraction
Vincke war gleichbedeutend mit der liberalen Partei im 'Abgeordnetenhause.
Die Fraction Grnbow dagegen ist nur eine der vier Fractionen, in welche
sich die liberale Partei spaltet; nach der Zahl der Mitglieder repräsentirt sie
etwa ein Drittheil der Partei. Dies ist eine Thatsache, nach welcher sie ihr
Verhalten einrichten muß. Gewiß wird eine politische Partei ihre Ueberzeu¬
gungen niemals von der größeren oder geringeren Zahl ihrer Mitglieder ab¬
hängig machen, aber ihre Taktik muß sie davon abhängig machen, wenn sie
überhaupt einen Einfluß haben will. Innerhalb der großen liberalen Majo¬
rität des Hauses enthält die Fraction Grabow die größte Zahl von Mit¬
gliedern; beinahe eben so stark ist die Fortschrittspartei; der Rest vertheilt
sich auf die beiden liberalen Mittelfractionen. Diesem Verhältniß gemäß
stellte die Fortschrittspartei in Uebereinstimmung mit den Mittelfractionen fol¬
gende Candidatenliste. auf: Grabow, Behrend, Bockum-Dolffs. Darnach stellte
die Rechte den Präsidenten, die Linke den ersten Vicepräsidenten, das Centrum
den zweiten Vicepräsidenten. Dagegen trat die Fraction Grabow mit fol¬
gender Gegenliste hervor: Grabow, Bürgers. Harkort. Nach diesem Vor¬
schlag wollte die Fraction Grabow aus ihrer eigenen Mitte außer dem Prä¬
sidenten noch den ersten Vicepräsidenten stellen und nur den zweiten Vizeprä¬
sidenten den Mittelfractionen überlassen; die Fortschrittspartei aber sollte ganz
leer ausgehen. Dies war unbillig. Eben so war es ungeschickt, daß die
Fraction Grabow nicht allein rhre eigenen Candidaten, sondern auch die der
anderen Fractionen bestimmen wollte. Dem Centrum wollte sie Hartort, aber
nicht Bockum-Dolffs zugestehen. Der Fortschrittspartei wollte sie auch allen¬
falls einen Viceprüstdenten bewilligen, aber nicht den von dieser aufgestellten
Behrend. sondern etwa Rönne aus Solingen. Die Ursache hierfür will man
in einer zu weit gehenden „Rücksichtsnahme" der Fraction Grabow finden.
So kam es, daß man sich nur über den Präsidenten, nicht über die beiden
Vicepräsidenten einigen konnte. Die einstimmige Wahl Grabow's zum Prä¬
sidenten beweist, daß das Haus in der konstitutionellen Gesinnung einig ist;
die 19 unbeschriebenen Stimmzettel der Reaction beweisen nur den ohnmäch¬
tigen Zorn dieser Partei. Bei der Wahl der beiden Vicepräsidenten gaben
die Stimmen der katholischen Fraction den Ausschlag für die Kandidaten der
Linken. Die Anhänger des Herrn Reichensperger rächten sich so an der Frac-
tion Grabom, weil diese ihnen nicht einen Vicepräsidenten aus der katho¬
lischen Fraction hatte bewilligen wollen. Nach dieser Seite hin hat die Frak¬
tion Grabow eine sehr anerkennenswerthe Festigkeit bewiesen; nach der
anderen Seite hin wird sie aus dem Vorgang vielleicht eine nützliche Lehre
ziehen. Sie wird sich sagen müssen, daß es nicht blos nach links, sondern
auch nach rechts hin eine schiefe Ebene gibt, und daß es nicht minder ge¬
fährlich ist, auf der letzteren ins Rutschen zu gerathen, als auf der ersteren.
Für die Zukunft entscheidend ist dieser Vorgang hoffentlich nicht. Es
wäre sehr zu beklagen, wenn die Trennung zwischen der Fraction Grabow
und der liberalen Mittelfraction sich zu einer bleibenden Kluft erweitern sollte.
Aus diesem Grunde ist es auch gut. daß die Adreßdebatte unterbleibt. Die
Folge derselben hätte nur eine noch stärkere Spaltung und Zerklüftung der
Parteien sein können. Doch wird das Ausfallen der Adresse nicht die Folge
haben, daß die principielle» Fragen der deutschen und der inneren Politik
überhaupt nicht zur Erörterung kommen. Nur die Form der Adresse und der
jetzige Zeitpunkt schienen für eine solche Erörterung nicht geeignet. Später
wird das Haus gewiß nicht unterlassen, sich in besonderen Resolutionen so¬
wohl über die deutsche Frage, als auch über die kurhessische und schleswig¬
holsteinische c> uszusprechen.
Vorläufig hat die Regierung reichlich dafür gesorgt, daß es in beiden
Häusern nicht an Beschäftigung fehle. Die Vorlagen, welche im Lauf der
letzten Woche eingebracht sind, sind so umfassend, daß wir uns für heute auf
eine kurze orientirende Uebersicht beschränken müssen. Auf das Einzelne zu¬
rückzukommen, wird sich später noch oft Veranlassung finden.
Von den Vorlagen, die dem Herrenhaus gemacht sind, erwähnen wir
nur kurz den Gesetzentwurf, betreffend die Aufhebung des Lehnsverbandes
in Vor- und Hinterpommern; es wird damit eine den Realcredit und die
Landescultnr in der Provinz wesentlich fördernde Reform beabsichtigt. Wich¬
tiger ist der Gesetzentwurf wegen der Verantwortlichkeit der Minister. Wir
erinnern uns, wie sehr dieser Entwurf eine schwere Geburt war. Ein Paar
Tage schien es. als werde das Ministerium an den Geburtswehen sterben.
Dem Kind, welches nun. endlich zur Welt gekommen ist. können wir kein
Wachsthum und Gedeihen prognosticiren. Es ist von Anfang an so ver-
rüppelt. daß es vielleicht dem Herrenhaus gefallen wird, dem Abgeordneten-
Haus aber gewiß nicht. Der Entwurf beweist recht deutlich den inneren
Zwiespalt in unserem Ministerium. Wenn der liberale Theil desselben es
durchgesetzt hat, daß überhaupt ein Ministerverantwortlichkeitsgesetz einge¬
bracht ist, so hat dagegen der antiliberale Theil des Ministeriums es ver¬
standen, den Inhalt des Entwurfs so weit zu verunstalten und abzuschwä¬
chen, daß Man lieber gar kein Gesetz haben wird als dieses.
Man streitet häufig über den wahren Werth eines Gesetzes in Betreff
der Verantwortlichkeit der Minister. Manche halten ein solches Gesetz für
ein ziemlich überflüssiges constitutionelles Spielzeug. Ändere erklären die Mi-
Nisterverantwortlichkeit sür den eigentlichen Schlußstein der Verfassung und für
diejenige Garantie, welche allen übrigen erst Haltbarkeit und wirkliche Be¬
deutung gewährt. Diese Streitfrage mag dahingestellt bleiben. Aber auf
jeden Fall wird man Folgendes zugeben. Die Oeffentlichkeit zieht die Mi¬
nister jeden Tag zur Verantwortung; sie discutirt unausgesetzt über jeden
Act der Regierung. Wenn die Stimme der Presse überhört wird, kann die
Landesvertretung ihr se'N nöthigen Nachdruck verleihen. Diese Art der Ver¬
antwortlichkeit genügt vollkommen, so lange das Ministerium aufrichtig an
der Verfassung festhält. In diesem Falle braucht man kein besonderes Ge¬
setz über die Verantwortlichkeit; denn es wird zwar sehr häusig über die
Zweckmäßigkeit, aber nie über die Rechtmäßigkeit der Regierungshandlungen
gestritten werden. Statt dieser politischen wird die strafrechtliche Verantwort¬
lichkeit der Minister erst dann nothwendig, wenn die Absicht einer Ver-
fassungsoerletzung vorausgesetzt werden darf. Gerade für solche Fälle aber,
in denen es allein wirksam werden kann, muß das Gesetz die stärksten Ga-
rantieen enthalten, wenn es nicht eine leere Täuschung sein soll.
Unser Ministerium ist der entgegengesetzten Ansicht. Mit diesem Gesetz¬
entwurf betritt es eine Bahn, aus welcher das Ministerium Manteuffel sich
eine große Uebung erworben hatte; das Ministerium Hohenzollern hatte sich
bis jetzt noch vor dem ersten Schritt in dieser Richtung gehütet. Jetzt soll,
damit die Ministerverantwortlichkeit nicht eine Wahrheit werde, die Verfassung
in wenigstens drei wesentlichen Punkten rückwärts revidirt werden. Dahl-
mann in seiner Politik hält es für unbedingt nothwendig, daß bei einer
Ministeranklage der König auf das Recht der Begnadigung und, wo
Abolition stattfindet, auch auf das Recht der Abolition verzichte. Bei Wei¬
tem milder bestimmt unsere Verfassung im Artikel 49, daß einem verurtheil-
ten Minister gegenüber das Begnadigungsrecht nicht aufgehoben, sondern
nur beschränkt sein soll. Es soll bedingt sein durch den Antrag derjenigen
Kammer, von welcher die Anklage ausgegangen ist. Auch diese Beschrän¬
kung des Begnadigungsrechts will die jetzige Vorlage beseitigen. Während
der letzten Ministerkrisis behauptete die Kreuzzeitung. ein Theil der Mimi-
ster wolle den Schwerpunkt der Verfassung von der Krone in die Kammer
verlegen. Mit dieser Insinuation waren diejenigen Minister gemeint, welche
die von der Verfassung vorgeschriebene Beschränkung des Begnadigungsrechts
für den vorliegenden Fall wollten bestehen lassen.
Ferner: unsere Verfassung bestimmt im Artikel 61, daß jedes Haus für
sich das Recht der Ministernntlage haben soll. Die jetzige Vorlage will dies
Recht nur beiden Häusern gemeinschaftlich zugestehen. Wenn aber die Mi¬
nister nicht eher angeklagt werden können, als bis das jetzige Herren¬
haus sich mit dem Abgeordnetenhaus über eiuen gemeinsamen Beschluß ver¬
ständigt hat. dann mögen sie ungestört die ganze Verfassung auf den Kopf steilen.
Endlich drittens', die Verfassung bestimmt das Obertribunal ein für alle¬
mal zum Gerichtshof in Fällen der Mimsteranklage. Der jetzige Entwurf
will, daß für jeden einzelnen Fall ein besonderer Gerichtshof gebildet werde.
Es kann noch hinzugefügt werden, daß nach der Verfassung die Minister
außer wegen Verfassungsverletzung auch wegen Bestechung und Verrath ange¬
klagt werden können. Die Vorlage läßt nur die „Verfassungs-Verletzung"
stehen, weil wegen „Bestechung" und „Verrath" bereits im Strafgesetz die
nöthigen Vorschriften enthalten sind.
So ist diese Vorlage beschaffen. Bisher beklagte man sich immer darüber,
daß alle Gesetzentwürfe des Ministeriums an dem Widerstande des Herren¬
hauses scheiterten. Wenn aber die Regierung viele Entwürfe einbringt wie
diesen, dann dürfte sich das Verhältniß umkehren. Denn das Schicksal dieses
Entwurfs ist leicht vorherzusehen. Das Herrenhaus hat keinen Grund ihn zu
verwerfen; es wird kaum im Stande sein, ihn zu verschlechtern. Das Abge¬
ordnetenhaus aber wird sich die Anwartschaft, welche die Verfassung gibt,
nicht durch dieses Gesetz abkaufen lassen.
Auch die nächste Vorlage, welche dem Herrenhaus gemacht ist, wirt hier
besser aufgenommen werden, als im Abgeordnetenhaus. Es ist die bereits
vor acht Tagen erwähnte Novelle zum Gesetz vom 3. Sptbr. 13t4, betreffend
die Verpflichtung zum Kriegsdienst. Damals hatte ich noch vorausgesetzt,
daß dieser Entwurf wegen seines nahen Zusammenhangs mit dem Budget
zuerst im Abgeordnetenhaus werde eingebracht werden. Der Kriegsminister
hat es anders beschlossen. Er rühmt die „angenehme Temperatur", die im
Herrenhause für die Armeereform herrscht, und verdächtigt das Abgeordnetenhaus,
daß es den angeblichen Zusammenhang zwischen dieser Vorlage und dem
Budget als Vorwand benutzen wolle, um die Erledigung des Budgets zu
verzögern. Herr von Roon hat leider eine Methode, die sehr wenig parlamen¬
tarisch ist; so wie er spricht, reizt er, und so wie man ihm antwortet, wird
er gereizt. Die wenigen Worte, mit denen er seine Vorlage im Herrenhaus
ingebracht hat, haben unter den Abgeordneten sehr viel böses Blut gemacht.
Es war in der That nicht nöthig, die Abgeordneten gegen die Militärvorlage
wie absichtlich noch vngünstiger zu stimmen.
Endlich die letzte und den übrigen an Wichtigkeit nicht nachstehende Vor¬
lage, die dem Herrenhaus gemacht ist, ist der Entwurf einer Kreisordnung.
Da die übrigen Vorlagen mehr oder weniger dem Geschmack der Junker ent¬
sprechen, so ist es erfreulich, daß dieselben wenigstens an diesem einen Ent¬
wurf Gelegenheit haben werden, ihre wahre Natur zu zeigen. Zwar hat der
Minister des Innern gewiß Recht, wenn er erklärt, daß der Gesetzentwurf auf
konservativen Grundlagen beruhe, wenn man nämlich „conservativ" im wah¬
ren und guieu Sinne des Wortes und nicht in dem mißbräuchlichen Sinne
der Kreuzzeitung versteht. Aber der Grundgedanke des Entwurfs geht doch
dahin, das unverhältnißniäßige Uebergewicht. welches der große Grundbesitz
gegenwärtig in der Kreisvertreiuug besitzt, zu beseitigen und dagegen in den
realen Verhältnissen den Maßstab zu finden, noch welchem die Kreisvertrttung ge¬
regelt werden soll. Wäre diese Vorlage nicht gemacht, so konnten wir fast besorgen,
das Herrenhaus möchte ministerieller erscheinen, als das Abgeordnetenhaus.
Ueber die Vorlagen, welche der Finanzminister und der Minister des
Innern dem Abgeordnetenhaus gemacht haben, müssen wir uns für heute
sehr kurz fassen. Zunächst das Budget für 1862 und der Gesetzentwurf wegen
Forterhcbung des 25procentigen Zuschlags zur Einkommensteuer. Aus der
Rede, mit der Herr v. Patow die Einbringung des Budgets begleitete, haben
wir entnommen, daß die Kunst, Zahlen zu gruppiren, nicht auf .Frankreich
beschränkt ist. Der Finanzminister hat gewiß vollkommen Recht, wenn er eine
Parallele unserer Finanzznstände mit den östreichischen für vollkommen unzu¬
lässig erklärt. Aber die Sorge, daß eine solche Parallele einmal zulässig wer¬
den könnte, wird dadurch nicht aufgehoben. Es ist richtig, daß die vollstän¬
dige Deckung sür das Deficit von 5 Millionen, mit welchem das diesjährige
Budget abschließt, nachgewiesen wird. Aber die Deckung besteht darin, daß
wir theils von, Capital zehren und theils die Kriegsstcuern vorwegnehmen.
Das Abgeordnetenhaus wird die Aufgabe haben, für die Herstellung des nö¬
thigen Gleichgewichts zu sorgen.
Außerdem hat der Finanzmimster einen Gesetzentwurf über die Einrich¬
tung und der Befugnisse der Oberrechnuugskaminer eingebracht. Durch dieses
Gesetz soll die Controlle, weiche das Abgeordnetenhaus hinsichtlich der Ver¬
wendung der Staatseinkünfte auszuüben hat, erst eine Wahrheit werden. Der
Ton, in welchem der Finanzminister diese Vorlage ankündigte, war ziemlich
kleinlaut. Man hat vielleicht Ursache, zu befürchten, daß es mit diesem Ge-
setzentwurf nicht besser steht, als mit dem über die Ministerverantwortlichkeit.
Aber es wird gerathen sein, das Urtheil zu suspendiren, bis der Entwurf ge¬
druckt vorliegt.
Von den Vorlagen des Ministers des Innern betrifft die wichtigste die
ländliche Polizeiverwalrung in den sechs östlichen Provinzen. Der Grund¬
gedanke dieses Entwurfs geht dahin, die gutsherrliche Polizei, welche mit dem
Wegfall aller Grundlagen, worauf sie beruhte, ihre Wurzeln verloren hat.
aufzuheben und dagegen die Ausübung der Polizeigewalt auf dein Lande
als ein Ehrenamt solchen Männern zu übertragen, welche innerhalb ihres
Bezirkes sich der allgemeinen Achtung erfreuen und sich durch Gemeinsinn
auszeichnen. — El» anderer Entwurf bezweckt die Ablösung des ganz unzeit¬
gemäß gewordenen Erbschulzeniustituts. — Endlich ist noch zu erwähnen,
daß eine Vorlage des Justizministers, betreffend die Anklagebefugniß des Ver¬
letzten im Slrafverfqhren, die Tendenz hat, das bisherige Anklagemonopol
des Staaisanwalts zu beschränken.
Während durch alle diese Vorlagen unsere Aufmerksamkeit vorzugsweise
nach innen gerichtet war, hat uns Graf Rechberg ganz unerwartet durch
einen Faschingsscherz erfreut, nämlich durch die Veröffentlichung seiner De¬
pesche vom 5. Novbr. v. I., in welcher er seine Gedanken über das Bun-
desreformproject des Herrn v. Reuse entwickelt. Der Kern seiner Auslassung
geht dahin, daß Oestreich allenfalls ein Allemal mit Preußen im Präsidium
der Bundesversammlung zugestehen könne, aber nur unter der Bedingung,
daß Preußen ihm dagegen seinen ganzen Besitzstand garantire. Die Depesche
macht einen ähnlichen Eindruck, wie gewöhnlich die Allocutionen des Papstes.
Man hat die Empfindung, in eine ganz andere Welt oder in ein ganz an¬
deres Jahrhundert zu gerathen. Das Präsidium in der Bundesversammlung
ist ein völlig werthloses Ding. Graf Nechberg muß in einer heiteren Laune
gewesen sein, als er die Stellung des Bundestagspräsidenten mit der des
Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika verglich. Der Bun-
destagspräsident hat weder ein Recht der Sanction der Bundesbeschlüsse, noch
ein Veto, noch irgend eine Art von executiver Gewalt, noch hat er irgend
eine Befugniß von politischer Bedeutung. Er hat nur die formelle Gcschäfts-
lcitung am Bunde. Kein Hahn würde danach krähen, wenn morgen das
Bundesprüsidium an Hessen-Homburg oder an Lückeburg überginge. Für
Preußen ist ein Allemal mit Oestreich keinen Heller werth. Und dieses ganz
werthlose Angebot soll ein Aequivalent sein für eine Garantie des gegen¬
wärtigen östreichischen Besitzstandes? Das soll der Preis sein, um welchen
wir uns in den bodenlosen Ruin der östreichischen Zustände mit verwickeln
Betrachten wir die Stellung, welche die englische und die französische Po¬
litik zu dem Kampf in Amerika eingenommen hat, die Urtheile der Londoner
und Pariser Presse über die Blockade der südlichen Häfen, über die Trent-Affaire,
über die Verschüttung des Hafens von Charleston, über die Motive Sewards bei
der Freigebung der Emissäre des Südens; hören wir auf die Gerüchte, die
neben den offiziellen Versicherungen des Kaisers Napoleon, Thouvenel's und Pal-
merston's in Betreff der Ereignisse in der Union und in Mexico hergehen, so
scheint es, als ob der ganze Codex des internationalen Rechts, als ob wenig¬
stens die Kapitel desselben, weinte die Rechte der Kriegführenden und Neutralen
feststellen, dringend eine Revision, mindestens eine genauere Fassung er¬
forderten.
Jene seltsame Mischung von Theorie und Praxis, welche man das Völ¬
kerrecht nennt, ist kein Gesetzbuch von unbestrittener Geltung, dessen einzelne
Artikel nur einer sorgfältigen Deutung bedürften. Es ist im Laus von etwa
zwei Jahrhunderten ganz allmälig erwachsen, theils aus den Lehren specula-
twer Juristen, wie Grotius und Vattci. theils aus den Ansprüchen mächtiger
Kriegführender, die das thun zu dürfen begehrten, was sie mit Gewalt durch¬
zusetzen vermochten, theils aus den Einsprüchen verletzter Neutralen, die sich
dem ihnen angcsonnencn Zwang nicht unterwerfen wollten, theils aus be¬
stimmten Verträgen einzelner Staaten, die deshalb nnr locale und zeitweilige
Bedeutung hatten, theils aus Urtheilt erfahrner und geachteter Admiralitäts-
gerichtc u. a. in. Das Völkerrecht war und ist noch heute, vorzüglich in den
Paragraphen, welche sich auf die Kriegführung zur See beziehen, eine Art
si ne tuirender Kompromiß zwischen Juristenrecht und Faustrecht.
Einige seiner Grundsätze sind von allen, andere nur von einigen civilisirten
Nationen anerkannt, wieder andere sind bis auf diesen Tag von den meisten
bestritten oder verschieden angewendet worden.
Das Wachsthum der Humanität hat Vieles in den Ansprüchen der Krieg¬
führenden gegen ihre Feinde wie gegen die Neutralen gemildert. Ursprünglich
hieß Krieg führen dem Gegner, dessen Unterthanen und Besitzungen jeden mög-
lichen Schaden thun ohne die mindeste Rücksicht, ob dadurch zugleich Unbe-
theiligte zu Schaden kamen. In Zukunft wird der Krieg vielleicht nur noch
ein Conflict zwischen den Heeren und Flotten der Parteien sein, der die In¬
teressen der Neutralen direct unberührt läßt. In den Kriegen der ersten bei¬
den Decennien dieses Jahrhunderts nahm England noch das Recht in An¬
spruch, feindliches Gut in neutralen Schiffen und neutrales Gut in feindlichen
Schiffen zu consisciren, britische Seeleute von fremden Fahrzellgen wegzuholen,
Pavicrblockaden zu verhängen und Kaper auszurüsten, feindliche Häfen zu ver¬
schütten und die Küsten der Gegner zu brandschatzen.*) Im letzten Pariser
Frieden wurden die meisten dieser angeblichen Befugnisse von England und
allen andern seefahrenden Nationen mir Ausnahme der Amerikaner aufgegeben.
Die neutrale Flagge deckt jetzt feindliches Gut, neutrales Gut geht im feind¬
lichen Kiel sicher vor Wegnahme über das Meer, Pavicrblockaden gelten für
nichtig und unverbindlich, und es wird keinem englischen Kreuzer mehr ein¬
fallen, englische Unterthanen auf Grund dessen, daß sie dem Matrosenpressen
unterworfen, von neutralen Schiffen wegzuschleppen. Keine europäische Macht
wird ferner Kaperschiffe ausstellen, alle mißbilligten sie (beiläufig ohne genügenden
Grund) die Verschüttung des Hafens von Charleston als einen Act der Barbarei.
Nur zwei Rechte Kriegführender, welche die Interessen Neutraler berüh¬
ren, sind noch erhalten: das Recht der Blockade und das Recht, alle nach
feindlichen Häfen bestimmten Schiffe nach Kriegscontrebande zu durchsuchen,
eventuell diese Contrebande wegzunehmen. Man darf sich der Hoffnung hin¬
geben, daß alle Seemächte sich über kurz oder lang vereinigen werden, das
zuletzt erwähnte Recht, als des Nisicos von Streit und Zerwürfniß nicht
werth, das es einschließt, ganz aufzugeben, und das andere dahin einzu¬
schränken, daß es nur für eine bestimmte Frist gilt. Ohne Zweifel ist das¬
selbe ein hochbedeutsames Recht, da eine Blockade oft ebenso nothwendig sein
kann wie die Belagerung und Absperrung crier Stadt. Aber ebenso klar er¬
scheint, daß man keinem Kriegführenden die Befugniß zugestehen darf, die Hä¬
fen des Gegners für alle Zeiten dem Verkehr mit andern Nationen zu ver¬
schließen, wo der Zutritt zu diesen Häfen von hoher Wichtigkeit für die ge-
sammte übrige Welt ist. Die Welt braucht, um ein paar schlagende Beispiele
anzuführen, Schwefel, und Schwefel wird vorzüglich von Sicilien geliefert,
sie braucht Quecksilber, und Quecksilber kommt in genügender Masse nur aus
Spanien, sie braucht gewisse Droguen für ihre Apotheken, die nur in ge¬
wissen südafrikanischen Ländern wachsen, die Welt braucht endlich Baum-
Wolle, und nie wird es gelingen, die „Orleans" (so heißt in der Marktsprache
die nordamerikanische Baumwolle) durch die „Surat" (so bezeichnet Liverpool
die indische Baumwolle) zu ersetzen. Eine ewige, eine anch nur langjährige
Blockade der sicilischen, spanischen, nord- und südamerikanischen Häfen wäre
also gegen die Rechte und Interessen gesammten Menschheit, würde den
berechtigten Widerspruch derselben hervorrufen, und der einzelne Staat müßte
sich diesem Widerspruch ganz ebenso fügen, wie das einzelne Individuum un¬
ter Umständen sein Necht und Interesse dem Staat, dem es angehört, zu
opfern hat.
Die Anwendung hiervon auf die amerikanische Blockade ergibt sich von
selbst. Indeß untersuchen wir jetzt nicht, wie lange die europäischen See¬
mächte die Sperrung der Baumwvllenhäfcn zu dulden hätten, falls dieselbe
eine wirkliche und zureichende wäre. Diese Frage würde erst zur Discussion
reif sein, wenn gar keine Aussicht mehr wäre, daß die Ereignisse in Amerika
selbst den Verkehr mit den Banmwollenstaaten wieder eröffnen könnten. Die
Frage, um die sichs handelt, ist vielmehr die, ob Europa, ob zunächst Eng¬
land und Frankreich, da die Blockade der südliche» Häfni notorisch unwirk-
jam und deshalb nach den Beschlüssen des Pariser Congresses von 1856 un¬
gesetzlich ist, nichl sofort der Föderalregierung in Washington ihren Entschluß
zu wissen thun sollen, sich nicht daran zu kehren, ihren Rhedern und Kauf¬
leuten die Freiheit zum Handel mit jenen Plätzen zu geben und ihnen zu
versprechen, daß sie bei diesem Handel Schutz haben sollen.
Wie der Kaiser Napoleon darüber denkt, ist nicht völlig klar. Auch seine
letzte Thronrede hat keinen Aufschluß gegeben. Wir glauben nur zu wissen,
was er wünscht. Ebenso wenig weiß man genau, was das britische Cabi-
net zu thun vorhat, wohl aber meinen wir sagen zu können, was es thun
oder vielmehr, was es unterlassen sollte.
Die Amerikaner haben durch die theilweise Nerschüttung des Hafens von
Charleston und durch die Drohung, auch andere südliche Häfen in dieser Weise
unbrauchbar zu machen, thatsächlich zugestanden, daß sie außer Stand sind,
die Blockade effectiv zu handhaben. Ueberdies aber wissen wir, daß aus den
meisten Seeplätzen der südlichen Conföderation häusig Schiffe abgehen, um
unaufgehalten von den Kreuzern des Nordens zurückzukehren. Bon Zeit zu
Zeit schleichen sich Küstenfahrer von Hafen zu Hafen. Zwischen Savannah
und gewissen westindische» Orten besteht eine fast regelmäßige Verbindung,
und nur sehr selten verlautet, daß das Blockadegeschwader eines der dabei
betheiligten Schiffe weggenommen hat. Die Blockade entspricht also den Pa¬
riser Vereinbarungen nicht, sie ist keine hermetische Sperre, sie ist folglich un-
giltig. Die Amerikaner können erwidern: wir haben uns bei jenen Verein¬
barungen nicht betheiligt, sie nicht anerkannt. Sehr wohl, aber sie haben,
in Gemeinschaft mit andern Neutralen, wiederholt gegen alle Papierblockaden
als unerlaubte Willkür protestirt, und man hat das Recht, sie jetzt beim Wort
zu nehmen, so unbequem dies ihnen anch sein mag. Es fragt sich lediglich,
würde es nützlich und politisch klug sein, dem Washingtoner Cabinet eine
dahin gehende Erklärung zu übersenden, und da Frankreich diese Frage höchst
wahrscheinlich bejaht, würde dies für England nützlich und politisch klug sein?
Wir antworten darauf, wie man nach unsrer Ansicht von der Stellung
Englands zur mexicanischen Frage errathen wird, entschieden mit Nein.
England hat sicher mehr wie irgend eine andere Macht Ursache, ein bal¬
diges Aufhören der amerikanischen Blockade zu wünschen. So lange dieselbe
besteht, gibt's für Liverpool und die Manufacturen dreier Grafschaften keine
Baumwolle, und die Baumwolle ist gewissermaßen das tägliche Brot der drei
oder vier Millionen, die in diesen Grafschaften leben. Die Blockade ist nicht
hermetisch, aber obwohl die Häfen Südcarolina's, Georgia's, Alabama's, Flo¬
rida's und Louisiana's grohentheils nur nominell gesperrt sind, kommt doch
keine Baumwolle nach ihnen, theils weil man fürchtet, sie in die Hände des
Nordens fallen zu sehen, theils weil der Süden durch Zurückhaltung der letz¬
ten Ernte auf den Plantagen England und Frankreich in die Nothwendigkeit
versetzen will, die Blockade endlich zu brechen. Hört letztere auf, so würde
ferner ein sehr lebhafter Ein- und Ausfuhrhandel zwischen England und der
Conföderation beginnen, der um so größere Dimensionen annehmen müßte,
als der Verkehr nun schon seit sechs Monaten stockt und die Südstaaten ihre
Vorräthe von ausländischen Artikeln vermuthlich fast ganz verbraucht haben.
Man sagt deshalb nicht zu viel, wenn man annimmt, daß die Annullirung
der Blockade das Jahr 1862 zu einem Jahre beträchtlichen Wohlbefindens
für England, und nicht blos für England, sondern für ganz Europa machen
würde, während es jetzt ein Jahr beispielloser Noth für einen großen Theil
unsrer Fabrikländer werden zu sollen scheint. .
Ein anderer hörbarer Grund für die Nützlichkeit einer Aufhebung der
Blockade durch England ist der, daß durch diese Maßregel einem Kriege ein
Ziel gesetzt werden würde, welcher von Tage zu Tage eine furchtbarere Ge¬
stalt annimmt, welcher die Zerstörung aller Häfen des Südens droht, welcher
im Hintergrund die blutigen Gespenster eines Sklavenaufstandes zeigt, welcher
möglicherweise andere Nationen in seinen Strudel reißen wird. Mit dem Ende
der Blockade würde dem Norte» beinahe jede Aussicht auf Unterwerfung des
Südens abgeschnitten sein, und selbst die eifrigsten Föderalisten würden ihre
darauf zielenden Pläne aufgeben müssen. Friede und Fülle würden in we¬
nigen Monaten ihren heilenden Einfluß über beide Theile der gewaltigen, aber
jetzt zerrissenen Ländermasse der Union ausgießen. Die nothwendige Operation
der siamesischen Zwillinge wäre vollzogen, beide würden leben, getrennr leben,
aber unzweifelhaft glücklicher, schon darum, weil die Krankheit der Sklaverei,
die an dem einen haftet, nicht mehr die Gesundheit des andern beeinträchtigen
könnte und nach der Trennung nicht mehr mit den Kräften dieses andern ge¬
nährt werden würde.
Das sind sicher wichtige Gründe. Allein sie werden unsrer Meinung nach
ron andern beträchtlich überwogen.
Erstens wird eine Einmischung Europa's in den amerikanischen Streit
voraussichtlich unnöthig sein. Der Norden muß sich in wenigen Monaten
überzeugen, daß die Niederwerfung der Revolution des Südens über seine
Kräfte geht. So lange man an die Existenz einer mächtigen «monistischen
Partei in den conföderirten Staaten glauben, so lange man meinen konnte,
dieselben hätten es blos auf Erlangung guter Bedingungen abgesehen und
würden den Widerstand nicht aufs Aeußerste treiben, nicht zu Opfern für
ihre Unabhängigkeit bereit sein, durfte man auf Erfolg der Anstrengungen
des Nordens hoffen. Jetzt ist das vorüber. Der Süden hat seine Position
behauptet, und der Norden sieht sich, wohin er blickt, von Verlegenheiten
umgeben. Im Lager am Potomac herrscht Zwiespalt und Widerspenstigkeit,
die Expedition den Mississippi hinab wird von Kundigen für eine Abge¬
schmacktheit erklärt, mit dem zu Port Royal gekanteten Heere will es nicht
vorwärts. Die Frage, was mit den Sklaven zu thun, spaltet auch den Nor¬
den in Parteien. Der Krieg verlangt Geld in ungeheurem Summen, man
sagt, täglich mehr als eine Million Dollars, und das vorhandene Geld ist
verbraucht, neues schwer zu beschaffen. Die indirecten Steuern bringen we¬
nig ein, directe sind noch nicht bewilligt und noch weniger eingehoben. Schon
hat man zu dem verzweifelten und jedenfalls bald erschöpften Mittel gegrif¬
fen, uneinlösbarcs Papiergeld auszugeben. In spätestens zwölf Monaten
wird der Krieg, wenn der Norden nicht inzwischen eine Reihe entscheidender
Siege ersieht oder sonst ein Wunder geschieht, ein Ende nehmen. Ist es
unter solchen Umständen der Mühe werth durch Aufhebung der Blockade zu
intervcniren?
Zweitens ist es von Wichtigkeit, daß der Friede zwischen den kämpfen-
den Parteien, wenn er kommt, ein dauernder sei, und dies kann er nicht sein,
wenn er nicht durch die eigne Ueberzeugung, sondern (man denke an den
Kampf zwischen Ungarn und Oestreich und die russische, an den zwischen
Dänemark und Schleswig-Holstein und die östreichische Einmischung) durch
Zwang von außen, der einmal aufhören kann, herbeigeführt wird. Sieht
der Norden, nachdem er alle seine Kraft verbraucht, daß der Süden ihm ge¬
wachsen ist, so wird er zuletzt sich in das Unvermeidliche schicken und seinen
Wunsch nach Wiedereinverleibung der Sklavcnhalterstaaten als einen unerfüll¬
baren aufgeben; gibt man ihm dagegen durch eine Einmischung Gelegenheit,
das Mißlingen seines Versuchs, die Revolution zu unterdrücken, mit einer
derselben gewährten Unterstützung durch das Ausland zu erklären, so wird
er nie zugeben, daß die Lastrennung, der Conföderirten eine natürliche und
unwiderrufliche Beendigung des Streits gewesen sei, und den Streit wieder
aufnehmen, sobald politische Conjuncturen die Mächte, welche intervenirt. auf
einen andern Schauplatz rufen.
Drittens würde die englische Regierung bei einem Schritt wie der in
Rede stehende vermuthlich nicht wie bei der Trentaffairc die gestimmte Nation
hinter sich haben. Die öffentliche Meinung in England ist entschieden gegen
die Sklaverei, und eine Intervention in Amerika würde wie eine Beihilfe
zur Aufrichtung einer Sklavenhalterrepublik aussehen, da das sociale System
des Südens auf Sklaverei gegründet ist und die Föderalisten in Washington,
Boston und Neuyork alles Mögliche gethan haben, die Welt zu überzeugen,
daß ihre Kriegführung ein Kreuzzug gegen die Sklaverei sei. Daß Letzteres in
Wahrheit nicht der Fall ist, haben wir nachgerade eingesehen. Wir wissen,
daß die Partei im Norden, die für Befreiung der Neger kämpfen möchte,
nicbt die stärkste ist. das; sie in Washington nur wenige Vertreter hat und
daß namentlich der Präsident nicht den Muth besitzt, sich auf ihre Seite zu
stellen. Jede neue Nachricht aus dem politischen Centrum der Union, jede
neue Betrachtung der Lage der Dinge bestärkt in der Ansicht, daß die
Wiederherstellung der Union und nicht deren Zerfall in die jetzt kämpfen-
'den Hälften die Verewigung der Negerknechtschaft zur Folge haben würde,
und daß wir also nur von der Unabhängigkeit, nicht von der Niederlage des
Südens eine baldige Milderung und die schließliche Aufhebung jener „eigen¬
thümlichen Einrichtung" zu erwarten haben, die wir als Gegner aller Knecht¬
schaft verabscheuen. Auch in England wird dies von tiefer Blickenden ein¬
gesehen. Wir weisen nur auf die zahlreichen von uns hier benutzten Artikel
des „Economist" hin, welche diese Frage untersuchen. Allein es ist nicht an¬
zunehmen, daß die Mehrheit des englischen Volkes bereits diesen Standpunkt
einnimmt, und so lange dies nicht der Fall ist, wird ein Cabinet, welches
durch Bruch der amerikanischen Blockade die Südstaaten unabhängig macht,
der für einen so wichtigen Griff mehr als für irgend eine andere Maßregel
erforderlichen Stütze in der öffentlichen Meinung entbehren, seine Maschinerie
nur mit halber Kraft arbeiten.
Viertens, und das scheint uns der wichtigste Punkt von allen, ist es im
höchsten Grade wünschenswert!,, zunächst für England selbst, dann auch für
uns. daß die Nordamerikaner aus dem^jetzigen Conflict mit so wenig als
möglich Mißstimmung gegen ihre Vettern diesseits des Oceans hervortreten.
Unglücklicherweise existirt unter einer zahlreichen Klasse im Norden seit langem
schon viel übler Wille gegen England, und durch die natürliche Erregung,
die ein verzweifelter Bürgerkrieg hervorrief, ist diese Stimmung jedenfalls
vielfach — man vergleiche Lovejoys Expectorationen im Repräsentanten¬
hause — zur Erbitterung gesteigert worden. Bis jetzt haben die Engländer
nichts gethan, solchen Haß zu verdienen. Ihr Verhalten war rücksichtsvoll,
überlegsam und so weit als möglich nachgibig. Keine Nation ist von dem
anmaßenden, leicht übergreifenden, rasch mit groben Noten und Zeitungsartikeln
zu dienen bereiten John Bull so artig behandelt worden, als Amerika in
seiner jetzigen Krisis. Wenn die Londoner Presse ihre Meinung mit Offenheit
herausgesagt, „Times" bisweilen gehöhnt, „Herald" häßlich geschimpft hat.
so haben die Blätter der Uankecs weit giftiger und schneidender geantwortet,
und überdies hat England und Amerika ein gemeinsames Sprichwort, nach
welchem „harte Worte noch keine Knochen, zerbrechen."
In den einzigen beiden Fällen, wo es für England zu handeln galt,
bei der Anerkennung des südlichen Staatenbundes als kriegführender Macht
und bei der Forderung auf Herausgabe der südlichen Emissäre, konnte man,
das geben selbst verständige Amerikaner zu, kaum weniger thun, und hätte
man dieses Wenige kaum mit mehr Berücksichtigung des Selbstgefühls des
amerikanischen Volks thun können. Bis jetzt ist also nichts geschehen, wo¬
rüber man sich drüben überm großen Wasser mit Grund beklagen könnte, und
wenn der Friede wiederhergestellt ist, werden alle ruhigen Gemüther dort dessen
innewerden und im Stillen dafür dankbar sein.
Wollte England aber jetzt die Blockade für nicht vorhanden erklären, so
würde (selbst wenn daraus nicht unmittelbar ein Krieg sich entwickelte) nichts
die Amerikaner überzeugen, daß die dann sofort unabhängig gewordenen Con-
föderirtcn ihre Unabhängigkeit nicht dem verabscheuenswerthcn, treulosen und
selbstsüchtigen Albion verdankten. Sie würden sagen und es. wie man im
Welfenland unendliche Dinge bezeichnet, „bis an das Ende der Tage" glau¬
ben, daß sie hart daran gewesen, die Rebellen zu demüthigen und die glorreiche
Union wiederherzustellen, als England aus purem Neid aus ihre Größe und
aus schmutziger Gier nach gemeiner Baumwolle dazwischen getreten sei und als
verrätherischer Feind ihnen den bereits am Saum des Gewandes ergriffnen
Sieg (wir reden im Styl amerikanischen Gcdankenhochflugs) ans der Hand
gerissen, ihnen sieben ihrer schönsten Silbersterne aus dem Banner gestohlen
habe, um sie' auf seinen Märkten zu verwerthen. Solche Klagen würden un¬
berechtigt sein, aber selbst Engelszungeu würden sie den Amerikanern nicht
ausreden. Sie würden wie ein nagender Wurm an ihren Herzen fressen, sie
unaufhörlich nach Gelegenheit zur Rache suchen lassen und nicht eher ver¬
stummen, als bis die vermeintliche Verletzung mit Zinsen zurückgegeben wäre. —
Nun ist England jetzt vielleicht mächtiger wie je. Aber es hat keine Ur¬
sache, seine Gegner zu vermehren. Es kann in Noth kommen, wie jetzt
Amerika, es kann einen Bundesgenossen, der ihm die Wage hält, zu be-
kämpfen haben, wie jetzt Amerika. Es gibt auf der Landkarte Flecke, auf
denen die Augen englischer Minister mehr oder weniger dunkle Schatten sehen aus^
sen : das Mittelmeer, der Orient. Nußland, Ostindien, Canada, vielleicht se'lbst
Irland. Der Norden der Union wird nicht immer schwach bleiben, und es
kann sich einst — und wer weih, wie bald — verlohnen, ihn zum Freunde,
es kann sehr gefährlich werden, ihn zum Feinde zu haben, wenn jene Schat¬
ten, in Wirklichkeiten verwandelt, ihren Tanz beginnen.
Dem Blaubuche, welches den Bericht des Geueral-Postmeisters für das
Jahr 1860 enthält, entnehmen wir folgende Angaben:
Die erste Ermäßigung des Briefporto, die sogenannte Pfennigpost, trat
am 5. December 1839 in Kraft. Damals bestanden in dem vereinigten Kö¬
nigreiche etwa 4500 Stellen zur Annahme von Briefen; gegenwärtig zählt
man 318 Haupt- und 10623 Unter-Postämter, dazu 2473 Straßen-Briefkasten.
zusammen gegen 14,000 Sichten für Aufnahme von Briefen, zu denen jedes
Jahr,eine Anzahl neue kommen. Wandernde Postämter uns den Eisenbah¬
nen zum Sortiren der Briese werden immer zahlreicher und besser eingerichtet.
Der Nacht-Post-Zug von London nach Perth nimmt 12 Officianten, Sortirer
und Wächter in drei besonderen Wagen mit, außerdem noch drei Gepäck¬
wagen mit den Postfelleisen. welche man unterwegs nicht zu offnen braucht.
Bei Eintreffen einer starken Colonialpost, z. B. der australischen, wird das
Personal noch um 4 bis 5 Beamte verstärkt. Ein Apparat, um Brief-Packete
an Stellen, wo die Züge nicht anhalten, aufzunehmen und abzugeben,
Nxelilmg'ing' , leistet gute Dienste, und dient z. B. 'der neuen ir¬
ländischen Linie zwischen London und Holyhead an 15 Stationen, während
die Züge am Tage nur an drei, des Nachts an vier Stellen halten. Im
Ganzen bewirkt der Apparat gegenwärtig an 101 Stationen innerhalb
24 Stunden gegen' 500 Abgaben und Aufnahmen.
Die Briefpost durchläuft auf Eisenbahnen. Postwagen, Dampfer», Boten
und mit Fußboden täglich 144.000 englische (28.800 deutsche) Meilen, und
zwar auf Eisenbahnen 39,047, in Postkutschen, Omnibus, Postkarren 32,297.
zu Fuße 69,994, in Dampf- und Segelbooten 2,838 engl. Meilen. Die
Zahl der im vereinigten Königreiche abgelieferten Briefe war in dem Jahre
vor Einführung der Pfcnnigpost (1839) — 75.908,000; im Jahre 1860
564,002,000. Davon kamen durchschnittlich auf einen Kopf der Bevölkerung:
in England 22, in Irland 8, in Schottland 17 Briefe. Unter je 50 Briefen
kam nur einer von fremden Plätzen (außerhalb des vereinigten Königreichs).
Merkwürdig ist der briefliche Verkehr in London selbst, welches zu diesem
Zwecke in Post-Districte. jeder mit einem Districts-Postamt, eingetheilt ist.
Diese Stadtpost beförderte 1860 nicht weniger als 137 Millionen Briefe,
darunter 73,953,000 aach außen. 63,221,000 in der Stadt selbst, und von
letztem wieder 11^ Millionen, die in dem nämlichen District blieben, in
welchem sie aufgegeben wurden.
Nahe an zwei Millionen Briefe wurden den Schreibern als unbestellbar
zurückgegeben, davon drei Vertheile wegen mangelhafter Adresse; mehr als
10,000 Briefe waren ohne jede Adresse auf die Post gegeben worden. Und
in solchen Briefen, die weder bestellt noch, wegen mangelnder Angabe im
Briefe selbst, den Schreibern zurückgegeben werden konnten, befanden sich
Werthe im Belaufe von 460 Pf. Sterling (über 3000 Thlr.)
Der Gencralpostmeister klagt, daß noch immer sehr viele Werthbriefe
unrecommandirt aufgegeben werden und führt abschreckende Beispiele von
Verlusten an, welche die Betheiligten dadurch erleiden. Er empfiehlt außer¬
dem den Gebrauch von Couverten mit Stempel, da die Marken oft schlecht
aufgeklebt sind; im Jahre 1860 wurden über 50,000 Marken, die sich los¬
gelöst hatten, in den Briefkasten und Postfellcisen gefunden.
Zeitungen wurden 1860 gegen 71 Millionen Nummern. Bücherpackete
11.700,000 Stück befördert.
Die Leistung von Zahlungen durch Vermittelung der Post Simone^
0räors) wird durch Vermehrung der Stellen (Nouv^ Oräer (Mess), durch
Verbesserung und Vereinfachung der Einrichtungen dem Publicum immer zu¬
gänglicher gemacht. Es bestehen gegenwärtig für das vereinigte Königreich
2594 solche Stellen, ungerechnet jene für die Kolonien.
Durch Vereinfachung des Geschäftsbetriebs für die Zahlungsorders wird
gegenwärtig bei dem Hauptamte in London von 112 Angestellten das Dop¬
pelte der Arbeit bewältigt, für welche 1847 226 Angestellte nicht ausgereicht
hatten. Dafür sind die Angestellten jetzt besser bezahlt als damals. — Be¬
sonders stark ist die Zunahme der Zablungsordres in Portsmouth und Ply-
mouth, ein Zeichen, daß die Soldaten und Seeleute durch die Einrichtung
veranlaßt werden, von ihren Ersparnissen mehr als früher an ihre Familien
zu senden.
Bereits ist das Zahlungsordre-System auf Sendungen zwischen dem
Vereinigten Königreiche und Canada. Gibraltar und Malta ausgedehnt wor¬
den, und da es sich bewährt hat, so soll es nun durch das Colonialamt auch
auf die australischen Colonien und das Vorgebirge der guten Hoffnung an¬
gewendet werden. Bei allen Stellen des Londoner Districts und bei einigen
Hauptpostämtern in anderen Städten werden serner Briefmarken gegen Geld
nicht nur ausgegeben, sondern auch angenommen. Der Hauptzweck des Ver¬
suches ist, das Publicum zu veranlassen, statt der Münzen Briefmarken zu
kleineren Geldsendungen zu verwenden, und es wurden im Jahre 1860 nicht
weniger als sieben Millionen Marken bei den Londoner Postämtern gegen
Geld eingewechselt. Ein Parlamentsbeschluß, die Post auch für Erleichterung
kleiner Spareinlagen nutzbar zu machen, war der Ausführung nahe. (Jetzt
bereits in Wirksamkeit.)
Aus den Mittheilungen über die PostVerbindungen und Verträge mit
auswärtigen Staaten ist ersichtlich: daß jede Vermehrung der regelmäßigen
Dampferfahrten nach fernen überseeischen Plätzen eine bedeutende Zunahme
der Korrespondenz zur unmittelbaren Folge hat, während eine Ermäßigung
des Porto auf solchen Linien keine nennenswerthe Wirkung äußert; serner,
daß der Postverkehr mit Frankreich wesentlich beschleunigt und verbessert wor¬
den ist, daß Verhandlungen mit deutschen Staaten nur bei Hamburg, Bre¬
men und Lübeck einigen Erfolg gehabt haben, daß dagegen bei allen übrigen
deutschen Staaten, so wie bei den Vereinigten Staaten und den Niederlan¬
den kein Fortschritt in den Postconventionen zu erzielen war. Als ein Hin¬
derniß allgemeiner Einführung mäßiger Taxen nach auswärtigen Plätzen wer¬
den die hohen Transitgebührcn in manchen fremden Ländern bezeichnet, und
der Generalpostmeistcr wiederholt das frühere Anerbieten Lord Elgin's, mit
jeder fremden Regierung auf der Grundlage einer Belastung von 1 Penny
die Unze für je 250 Meilen Brieftransit, und 1 Penny das Pfund Druck¬
sachen zu unterhandeln. —
Die vertragsmäßigen Zahlungen der britischen Post an Dampferlinien
beliefen sich 1860 auf 827,800 Pf. Se., die sonstigen Kosten, z. B. für Agen¬
turen, auf 35,800 Pf. Se. — Die Portoeinnahme übersteigt nur auf den
Linien Dover-Calais und Dover-Ostende den Aufwand, und.liefert einen Ge¬
winn von 56,300 Pf. Se. — Alle übrigen Linien ergaben beträchtliche Ein¬
buße, 1860 im Gesamtbeträge von M,20v> Pf. Se.
Im Ganzen wird der Reinertrag der britischen Post im Jahre 1860
auf 1,102,479 Ps. Se. berechnet, und er rührt fast ausschließlich von inlän-
dischen Briefen her.
Unter dem Gcneralpostmcister stehen in Großbritannien und den Kolo¬
nien 25,282 Beamte und Angestellte, über deren Verhältnisse Manches für
deutsche Postbeamte Interessante in dem Berichte mitgetheilt wird. Wir er¬
wähnen schließlich nur, daß den Beamten die Versicherung ihres Lebens durch
kleine wöchentliche oder monatliche Abzüge un ihren Gehalten zur allmäligen
Ansammlung der Jahresvrümie erleichtert wird. Es scheint der Ueberlegung
werth, ob nicht in ähnlicher Weise andere Regierungen die kärglichen Ge¬
halte vieler Beamten erhöhen, dagegen die Pensionslast beseitigen könnten.
Die Habcrfeldtrciber. Ovcrbayerischcs Sittenbild von C. Kern. 3. Aufl.
Stuttgart, Hallbergcrsche Vcrlagsh. 1862.
Die Dorfgeschichten bilden in der literarischen Production der Gegenwart
ein eigenes Genre, welches noch alljährlich dem lesenden Publicum auf¬
wartet, und erinnert, ein treuherziges Gemüth und kräftige Gliedmaßen
anderswo zu suchen, als bei den verfeinerten Mitmenschen der Städte.
Im Ganzen ist die innere schöpferische Kraft, welche an neuen Dichtern solcher
Novellen in den letzten Jahren zu Tage gekommen ist, nicht bedeutend, und
die Berechtigung der Art wird auch aus anderem Grunde mit den Jahren
nicht größer. Denn die Zeit ist vorüber, in welcher deutsche Leser, ermüdet
und angewidert durch die bleichen Schatten der sogenannten Salonnovelle
und durch die verdorbene Kost französischer Küche in den ersten Dorfgeschichten
eine Rückkehr zur Natur und Wahrheit mit inniger Freude begrüßten. Die
Auffassung des Lebens, welche gebildeten Menschen eigen ist, hat sich voll¬
ständig geändert, und wenn auch der Gegenwart noch das rechte Behagen
fehlt, welches dem künstlerischen Schaffen nothwendig ist, so wird doch eine
frische Kraft, ein verständiges Urtheil über die eigenen Zustände und eine
reformatorische Arbeit, welch das Ungenügende derselben zu bilden sucht, über-
all sichtbar; ja das Bestreben, an dem eigenen Leben zu bessern, demselben
nach allen Richtungen höhern Inhalt, größere Energie zu geben, ist gerade das
charakteristische Kennzeichen der Gegenwart im Gegensatz zur nächsten Ver¬
gangenheit geworden. Dabei hat sich auch das Verhältniß der Gebildeten
zu den kleinern Kreisen des deutschen Lebens, dem Landmann, dem Ar¬
beiter, dem kleinen Bürger umgeformt. Während man sich vor zwanzig
Jahren noch über die naturwüchsige Kraft dieser Berufsklassen wie staunend
freute, so oft unsere Novellisten dieselbe anmuthig vorzuführen wußten, ist
man jetzt mitten in der männlicheren Arbeit, die Schranken, welche den kleinen
Mann immer noch von der Bildung der Begünstigten trennen, niederzureißen,
unsere Bedürfnisse, unser Wissens, unsern Idealismus auch in sein Leben
hineinzutragen.
Wenn aber die Dorfgeschichten für uns an Werth verloren haben, so
dürfen wir doch nicht undankbar sein gegen das Gute, welches sie uns ver¬
mittelten. Es ist wahr, nur in einzelnen kam ein starkes schöpferisches Talent
oder ein liebevolles Behagen, welches auch das Kleine poetisch verklärt, zu
Tage, und wir fürchten, daß unsere Nachkommen über den dichterischen Werth
dieses Genre ohne die Vorliebe urtheilen werden, welche noch uns anhängt.
Aber dieser Zweig der deutscheu Literatur hat unzweifelhaft das große Verdienst,
ein lebendiges Interesse an den Zuständen des Volkes in weiten Kreisen angeregt
zu haben. Tausenden kam zum Bewußsein, daß im Leben des Landmanns und des
kleinen Arbeiters die gute unverwüstliche deutsche Natur sich noch sehr eigenthümlich
offenbare. Der sociale Reformator, ja selbst die Staatsregierungen gewannen
neue Gesichtspunkte für Beurtheilung einheimischer, lange nicht beachteter Ver¬
hältnisse. Aber auch die deutsche Wissenschaft blickte jetzt mit schärferem Auge
auf einheimische Zustände, in denen sich Uraltes und höchst Charakteristisches
bis zur Gegenwart erhalten hat. Man hatte schon früher begonnen die alten
Traditionen in Liedern und Sagen, in Sprache, Gebräuchen, in Festen und
Feierlichkeiten, in der Dorsflur und dem Hausbau des Landmanns zu sammeln
und zusammenzutragen. Jetzt wurde der Eifer allgemein. Man hatte schon
früher die Landschaft und die natürlichen Bedingungen, unter denen das Land¬
volk der einzelnen Stämme seine Eigenthümlichkeit entwickelte, beobachtet.
Jetzt begann man überall die Physiognomie der verschiedenen Gegenden, Bodcn-
cultur, altheimische Industrie mit Liebe und Geschick darzustellen. Die reiche
Literatur des Landes und der Leute wurde durch die Freude an den Dorfge¬
schichten wesentlich gefördert. Häusig blieb sie Dilettantenarbeit, welche
mehr Unterhaltung als Belehrung bezweckte, aber oft wurde sie in ern¬
stem wissenschaftlichem Sinn unternommen. Dre Landeskunden folgten, grö¬
ßere Werke, welche das Charakteristische in dem Leben eines bestimmten Be¬
zirkes für die verschiedenen Wissenschaften zu fixiren suchen. Nicht zuletzt für
die Alterthumskunde, welche durch Beobachtung alter localer Eigenthüm¬
lichkeiten, aus Sagen, Volksgebräuchen, den Beeten der Dorfflur und den
Namen einzelner Acker- und Waldstücke bereits Schlüsse zieht aus eine entfernte
Vergangenheit, bis zu welcher die geschichtliche Ueberlieferung in der Regel
nicht hinaufreicht.
So ist der Schriftsteller, welcher jetzt Dorfgeschichten schreibt, in der un¬
bequemen Lage, daß gerade, was ihn zur Produktion reizt: das Eigenthüm¬
liche und Charakteristische im Leben einer bestimmten Landschaft, bereits an¬
derweitig nach vielen Richtungen Gegenstand eines ernsten Interesses gewor¬
den ist. Wenn er uns einen Hochzcitsbrauch. alte Sitte in einem Bauer¬
höfe, das Leben auf der Alm, die socialen Zustände armer Holzschnitzer un
Gebirge schildert, so begegnet dem Leser leicht, daß er die erfindende Zu¬
that des (5>zählevs als störend empfindet und ihm dankbarer wäre, wenn
er Selbsterlebtes und Geschautes gewissenhaft nach der Wirklichkeit so abzu¬
bilden wüßte, daß unsere Kenntniß nationaler Zustände, unter Umständen
auch die Wissenschaft einen Nutzen davon hätten. Wer jetzt noch eine Dorf¬
geschichte schreiben will, welche das beste Lesepublicum Deutschlands fesselt,
der bedarf nicht nur eine genaue Kenntniß einer Landschaft und ihres Volks¬
lebens, sondern in hohem Grade die Eigenschaften einer kräftigen Dichter¬
natur. Er muß verstehen, mühelos das allgemeine Menschliche, ewig Fes¬
selnde in den Besonderheiten der Erscheinung darzustellen. Er wird nicht nue,
wie alle Genremaler, Virtuosität in der Behandlung des Details nöthig haben,
sondern er wird auch nicht vergessen dürfen, daß ein Kunstwerk durch das
Absonderliche und Locale zwar Farbe und Stimmung, nicht aber den poetischen
Inhalt erhalten darf.
Diese Betrachtungen werden sich Jedem aufdrängen, der das oben.angezeigte
Buch liest. Der Verfasser desselben versteht lebendig zu schildern; er hat ein
gutes Auge, genaue Kenntniß der Landschaft und Volkssitten, er weiß die
Eindrücke, welche ihm die Wirklichkeit gegeben hat, recht hübsch und anschau¬
lich zusammenzustellen. Ueberall, wo er auf dem Boden der Thatsachen sich
bewegt, ist seine Erzählung interessant: die Beschreibung des Innthals, eines
Einödhoses, ländlicher Volksfeste und Gebräuche, wilder Naturereignisse, wie
sie der Gebirgslandschaft eigen sind, das ist vortrefflich. Besonders lehrreich
ist sein Bericht über die Volkssitte des Haberfcldtreibens, die alte Lynch¬
justiz einiger Landkreise der Overbaiern; man darf schließen, daß der Ver¬
fasser Gelegenheit gehabt hat, vielleicht aus den Criminalacten des Landes
seine Studien darüber zu machen.
Aber seine Fähigkeit, dichterisch zu erfinden, ist beschränkt. Er hat aller¬
dings lebendige poetische Anschauung von den Charakteren, welche er für
seine Erzählung braucht. Die charakterisirenden Züge, welche er seinen Landleuten
gegeben hat, machen den Eindruck der Wahrheit, und er weiß die Personen mit
Sicherheit in lebendigem Reden und Gebahren durch die Situationen zu
führen. Freilich nur die Kinder der Landschaft; denn die vornehmen Leute,
welche er wie als Gegenbild hereingesctzt hat, stechen unangenehm gegen die
einfachen und reinlichen Umrisse der Bolköcharaktere ab, es sind Carricaturen,
wie aus den Münchner Fliegenden Blättern, für kurzen Scherz unterhaltend
genug, in der episodischen Ausführung, welche er ihnen gönnt, nicht geistvoll, nicht
mehr wahr, und in peinlichen Widerspruch gegen die realistische Färbung derVolks-
siguren. Am schwächsten ist die Erfindung und Fortführung der Erzählung
selbst, nicht gleichmäßig ist der Faden gesponnen, die Spannung zu gering,, ja
man erfährt wichtige und entscheidende Motive erst wie gelegentlich am Schluß.
Auffallend gro>z ist dieser Mangel, obgleich in Deutschland nichts selten,
der Verfasser ist das Beispiel eines sehr achtungswerthen Talentes für Be¬
schreibung und Darstellung, dem diejenige Erfindungskraft, welche sich in der
Komposition einer Erzählung zeigt, sehr fehlt oder ganz unentwickelt ist.
So erhält der Leser sast bei jedem Abschnitt die Empfindung, daß durch
Urtheil und Kenntniß des Erzählers ein sehr anmuthiges und lehrreiches Buch
entstanden wäre, wenn derselbe sich entschlossen hätte, Leben und Treiben
einer oberbayrischen Landschaft in naturwahren Schilderungen, welche beschei¬
den und liebevoll die reale Wirklichkeit abzeichnen, der Schrift zu über¬
liefern. Gerade jetzt geschieht in Baiern Vieles für solche Schilderung heimi¬
scher Volkszustände. Jeder, der selbstständige Beobachtungen gut mitzutheilen
weiß, hat auf unbedingte Anerkennung zu rechnen. Nicht nur in seiner
Heimath, wo^die getreuen Bilder auch dieses Buches, wenn man nach der Zahl
der .Auflagen urtheilen darf, vielen Beifall gefunden haben, sondern auch
in dem übrigen Deutschland. Denn das alte Bock der Oberbaiern ist unter
den deutschen Stämmen für Ethnographie und Altetthumskunde einer der
wichtigsten. Es ist echtes Germanenblut mit geringen Zusätzen. Der bai-
rische Stamm war schon vor dem Einbruch der Hunnen in.seine gegenwär¬
tigen Sitze gezogen; er ist durch die Böckcrwanderung nicht zersetzt worden;
er hat durch das ganze Mittelalter gern seine Abgeschlossenheit und Selbst-
ständigkeit bewahrt; er ist auch im dreißigjährigen Kriege nur im nördlichen
ebenem Theile arg heimgesucht worden, seinen Kindern und Heerden wurde
die Flucht in die höheren Gebirgsthäler ein wenn auch unzureichender Schutz.
Der Obecbaier hat sich bis aus die neuere Zeit weniger mit Deutschen anderer
Stämme gemischt, als das mittle und nördliche Deutschland. Er hat in
manchem Gebiete der Proouelion, in Brauch, Sitte und Gemüth viel Eigenes
und Altertümliches bewahrt. Eine gewisse Kraft und Unabhängigkeit, die
freilich zuweilen in wilde Rohheit ausartete, hat sich gerade in den kleinen
Kreisen des Volkes dort bis zur Gegenwart erhalten, die ungeschickte Bean-
tenwirthschaft, welcheseit dem vorigen Jahrhundert auf das selbstwillige Trei¬
ben gesetzt wurde, vermochte der mittelalterlichen Ungebundenheit nur unvoll¬
ständig Herr zu werden. Freilich wird auch dort durch die mächtige Strömung
des modernen ^Lebens rasch umgeformt, den Schwärmen der Reisenden fol¬
gen langsamer Industrie, gewerbliche Bildung, neue Bedürfnisse und freiere
Anschauungen bis hoch hinauf in die Bergthäler.
Mit den schmackhaftesten Gaben des Meeres theilen die eßbaren Schwämme
das Schicksal, von der ungebildeten Menge mißachtet zu werden. Die Be¬
wohner der deutschen Walddörfer lassen alljährlich Millionen der wohlschmeckend¬
sten, nahrhaftesten Pilze neben den täglich betretenen Wegen verderben —
— nicht aus Furcht vor Verwechslung mit giftigen (einige der eßbaren sind
allgemein wohl gekannt), nur aus Geringschätzung. Es ist ein feinfühlender
Gaumen, der das zarte, leichte Arom guter Schwämme den beizenden Ge¬
nüssen vorzieht, in welchen der unwissende Landmann mit Vorliebe schwelgt.
Um so inniger ist die Verehrung, welche der gebildete Esser, seit den ältesten
Zeiten, für jene edlen Geschenke der Natur empfindet. Wie oft, mit welcher
Wärme erwähnen ihrer die classischen Dichter! Vor Allem der Königin der
Schwämme, der Trüffel. An sie, wie an alle bedeutenden Erscheinungen, hat
sich neben leidenschaftlicher Bewunderung fanatischer Haß. neben das redliche
Bemühen ihr Wesen zu erkennen die Bildung halb abgeschmackter, halb gro߬
artiger Mythen geheftet. Den zahllosen Aussprüchen verdienter Anerkennung
des edlen Gewächses steht die schwarze Verläumdung Lonitzers zur Seite, der
Genuß der Trüffeln verursache Epilepsie und Schlagfluß. Die treffliche vio¬
lette Trüffel von Perigueux hat ein Botaniker — es bleibe dahin gestellt ob aus
Haß oder aus Neid gegen die günstiger situirte Minorität, welcher deren öfterer
Genuß verstattet ist — die Trüffel der Vielfräße (gulonuw) genannt. Und welche
Fabeln über die Entstehung der Trüffeln! Römische Schriftsteller glaubten, daß
sie entstünden, wenn der Donner in die Erde schlüge: ein Aberglaube, der nach der
Angabe unverdächtiger Zeugen in den trüffelreichen Gegenden Südfrankreichs bis
auf den heutigen Tag sich erhalten har. Noch verbreiteter ist die Meinung, die
Trüffeln seien krankhafte Auswüchse der Wurzeln von Bäumen, Auswüchse, die in
ähnlicher Weise' durch den Stich von Jnsecten hervorgerufen würden, wie etwa
die Galläpfel. Die französische Akademie ist sehr oft durch die Einsendung
umfangreicher Abhandlungen behelligt worden, welche diesen Satz zu erweisen
sich bemühten. Die klareren Köpfe sind von je, seit dem Aufleben der beobach¬
tenden Wissenschaften, außer Zweifel darüber gewesen, daß man die Trüffeln,
gleich allen Pilzen, für eigenartige Pflanzen zu nehmen habe, die nur durch
Samen sich fortpflanzen. Aber bei der unterirdischen Lebensweise der Trüf¬
fel, der Schwierigkeit, junge Zustände derselben zu erlangen, blieb ihre Ent¬
wicklungsgeschichte lange dunkel und räthselhaft.Erst in neuester Zeit haben
die, zum Theil in den Trüffelgruben Poitous am Orte selbst angestellten Unter¬
suchungen der Brüder Tulasne gezeigt, daß die Entwicklung der Trüffeln in
allen wesentlichen Zügen mit dem Wachsthum anderer Pilze übereinstimmt.
Wie aber wachsen überhaupt die Pilze?
Auf dem Gipfel seiner Ausbildung angelangt, bringt der Pilz Samen
in ungemein großer Zahl*) l)ervor: aus dem Verbände mit der Mutterpflanze
sich lösende, die Fortpflanzung des Gewächses vermittelnde Körper von sehr
einfachem Baue (eine einzige Zelle, ein allseitig von einer einfachen oder
doppelten Haut umschlossener Hohlraum mit bildungsfähigem Inhalt), von
äußerster Kleinheit, sehr geringem Gewicht, großer Lebenszähigkeit. Die Leich¬
tigkeit, mit welcher jede Luftströmung diese Samen emporzuheben und fortzu¬
führen vermag, verbunden mit der massenhaften Erzeugung derselben er¬
klären befriedigend das Auftreten der verbreitetsten Schimmelformen auf
jeder dem Gedeihen des Schimmelpilzes günstigen, den Samen zugänglichen
Unterlage unter den verschiedenartigsten Verhältnissen. Durch unmittelbare
Versuche hat neuerdings Pasteur das massenhafte Vorkommen der Pilz¬
samen in bewegter Luft besonders anschaulich dargethan. Er leitete Luft,
welche er in einer Vorstadtstraße von Paris auffing, durch eine Röhre, in
welcher ein lockerer Bausch von Schießbaumwolle angebracht war. Der in
der Luft schwebende Staub blieb in der Baumwolle hängen. Nach Hindurch¬
leitung einer bestimmten Menge von Luft wurde die Schießbaumwolle in
Schwefeläther gelöst. Der in ihr aufgefangene Staub siel in, der klaren Lö¬
sung als Bodensatz nieder. Mikroskopisch untersucht, zeigte er in allen Fällen
unter Bruchstücken von Pflanzenfasern, Wolle, feinsten Sandkörnern und der¬
gleichen mehr auch Körper von dem wohl gekennzeichneten Aussehen der Samen
gemeiner Schimmelpilze. Wurde ein Glasröhrchen mit einem staubhaltigen
Baumwollenbausche in eine unmittelbar vorher zum Sieden erhitzt gewesene,
der Ernährung von Schimmelpilzen fähige Flüssigkeit gebracht, von welcher
der Zutritt in der Lust schwebender Pilzsamen im Uebrigen vollständig abge¬
sperrt war, und in der alle zuvor in ihr enthaltenen Keime durch das Kochen
zuverlässig getödtet worden waren, so trat regelmäßig die Bildung von
Schimmelpilzen ein, welche innerhalb des Glasröhrchens anhob und von da
durch die Flüssigkeit sich verbreitete: ein Versuch, der die Entwicklungsfähig¬
keit der in der Baumwolle aufgefangenen Körper zu Schimmelpilzen, die Identi¬
tät jener mit den Samen dieser in überzeugender Weise darthut. Eine
lange Reihe mit großer Umsicht angeordneter Versuche Pasteurs läßt aufs
Neue mit eindringlicher Schärfe die oft gemachte Erfahrung hervortreten, daß
Organismen nur da sich zeigen, wo ihre vorher gebildeten Keime lebensfähig
hingelangen können. Die Erfüllung des schier größten Wunsches der modernen
Naturforschung, der Entstehung eines Organismus, dem Zusammentreten des¬
selben aus noch nicht organisirten Stoffen beobachtend folgen zu können —
die Erfüllung dieses Wunsches ist gegenwärtig in weitere Ferne gerückt
als je.
Die an den einfachst gebauten, allgemein verbreiteten Schimmelpilzen ge¬
machte Erfahrung findet die berechtigtste Anwendung auf die Fortpflanzung
der zusammengesetzten, großen, an engere Wohnbezirke gebundenen fleischigen
Schwämme. Es wird nicht nöthig sein, mit mehr als einigen Worten
z. B. des viel gehegten Vorurtheils zu gedenken, welches den gemeinen Cham¬
pignon aus der Gährung des verrottenden Düngers erzeugt werden läßt. Un¬
zweifelhaft wird die Vegetation dieses Pilzes durch die Anwesenheit verwesen¬
der thierischer Auswurfstoffe im Boden begünstigt'. Aber schon ein sehr ge¬
ringes Maaß derselben genügt, diese Vegetation zu ermöglichen. Man trifft
den Pilz ab und zu, einzeln, an Wegrändern, in Chausseegraben. Ein einziger
Hut verstreut mehr als eine Milliarde von Samen, von denen ein großer
Theil vom Winde fortgeführt und über weite Flächen verstreut werden muß.
Viele mögen an Futterkräutern anhaften. Es ist bekannt, daß langes Aus¬
trocknen, daß der Durchgang durch den Darmkanal von Thieren die Keim¬
fähigkeit dieser Samen nicht beeinträchtigt. Was Wunder da, wenn in frisch
vom Stalle in Treibbeete gebrachten Noßdünger nach dessen Verrotten Champig¬
nons auftreten?
Kommt der Same eines Pilzes in seiner Weiterentwicklung günstige Ver-
hältnisse, so wächst eine eng umgrenzte Stelle seiner Haut (wo diese doppelt
ist, der innern Haut) zu einem langen, cylindrischen Schlauche, einem Pilz¬
faden aus, dessen Innenraum während der fortdauernden Verlängerung durch
Bildung von Querscheidewändcn in eine Reihe von Zellen sich theilt; der
durch Zweigbildung unterhalb der Spitze sich verästelt. Solche Pilzfäden
haben merkwürdige Eigenschaften. Die vieler Arten durchbohren harte, feste
Körper: die Häute der Zellen höherer Pflanzen, die Wände von Holzfasern
z. B. Etliche dringen tief in feste thierische Gewebe ein: in Haare, in Hufe,
in die lederharten Körpcrhüllen von Insecten; andere in die harten Satzmehl-
körner der Kartoffeln, in krystallisirten Zucker. Und auch die Pilzfäden der
fleischigen Schwämme, denen die Fähigkeit so arger Zudringlichkeit in der
Mehrzahl der Fälle abgeht, bahnen sich doch, trotz ihrer Zartheit (die Dicke
eines einzelnen Pilzfadens beträgt kaum je auch mir ein Zehntheil von dem
einer Bauwollenfaser) mit Leichtigkeit den Weg dnrch festes Erdreich. Sie
leben unterirdisch, mit seltenen Ausnahmen.
Wer im Lichte steht, stellt gern die eigene Individualität voran; gesellig,
in Schwärmen zusammenhaltend, das Selbst dem gemeinsamen Zwecke unter¬
ordnend haben vorzugsweise die Kinder der Finsterniß sich erwiesen. Die
Entwicklung so eines Pilznestcs hat viele Aehnlichkeit mit der gewisser Orden.
Die einzelnen schwachen Pilzfädcn thun sich zunächst zu Strängen zusammen.
Sie umwachsen einander in langgezogenen Schraubenlinien; innerhalb der so
gebildeten strickförmigen Körper bilden sich seitliche Abzweigungen der einzelnen
Fäden, die an der gemeinsamen Richtung des Lnngenwachsthums des Stranges
sich bctheiligend, dessen Fasern fester verfilzen. Der Strang verzweigt sich wie¬
derholt, mit abspreizenden, aufs Neue verzweigten Aesten, die vielfach wieder
verwachsend Maschen bilden, weit im Boden umhcrgreifend. Die Monate,
selbst Jahre lang geheim wuchernde Vegetation erweitert sich zu einem immer
größer« Kreise. Bon der Quelle aller an der Erdoberfläche thätigen Kraft
des Lebens, von der Sonne scheu abgewendet, zieht das Geflecht von Pilz-
säden allen den Stoff, den es in sich aufspeichert, aus der es umgebenden
Verwesung: aus der Zersetzung der abgestorbenen Planzentheile, die fort und
fort dem Boden zugeführt werden. In unausgesetzter, weitverbreiteter Thätig¬
keit wühlt und saugt die schmarotzende Kolonie. Man kann im Buchenwald
nicht den kleinsten Brocken Lauberde aufnehmen, der nicht von den spinneweb-
ähnlichen, durch die zwischen den einzelnen Pilzfäden eingeschlossene Luft silber¬
weiß gefärbten Strängen durchzogen wäre. Endlich ist dem Pilzgeflecht die
Kraft soweit gewachsen, daß es sich zum Hervortreten aus seiner lichtscheuen
Thätigkeit vorbereitet. An einem oder mehreren Punkten des ausgedehnten
Spinnwebennetzes treten Gruppen von Pilzfäden zu geordneteren Geflechten
bestimmter Form zusammen, bisweilen ganz fremde Körper einschließend,
wie Grashalme u. tgi. in. Es wird die Anlage des Schwammes gebildet.
Das Wie der Entwickelung ist noch wenig erforscht; genug daß schließlich
der Schwamm aus einem compacten Gewebe von Pilzfäden besteht, die theils
in Parallelreihcn geordnet, theils in regelmäßigster Weise verfilzt sind; indem
durch Erweichung und Zerfließen, in anderen Fällen durch Auseinandertreten,
selbst durch Zerreißen bestimmter Gewebsschichten eine Sonderung der Organe ein-
tritt; oft eine in die allseitig umschließende Hülle und den eigentlichen Schwamm.
Als letzte Enden gewisser solcher Fäden stellen sich die Zellen dar. in denen oder
durch welche die Fortpflanzungszelien, die Samen erzeugt werden. Ist der
Schwamm soweit vorgebildet, dann streckt er sich plötzlich in übermüthiger Kraft¬
entwickelung, nach allen Richtungen hin an Ausdehnung zunehmend (bei den Hut-
Pilzen zunächst den Strunk verlängernd dann den Hut ausbreitend), und tritt
keck ans Licht, den lang aufgesammelten aus der Verderbniß seiner Umgebung
gesogenen Reichthum an Nährstoffen 'den Blicken Aller frech zur Schau
bietend.
Aber da bricht über ihn das Verderben herein. Jbder Schwamm schmeckt
wenigstens irgend einem Geschöpfe gut, wenn auch viele den Menschen schlecht
bekommen. Es findet jeder Fliegenpilz seinen Pombal. und jeder Giftreiz¬
ker seinen Philipp den Schönen, sei es auch nur in Gestalt einer großen
Waldschnecke oder einer Schaar von Käferlarven. Und wo einer durch Zu¬
fall dem An- oder Aufgefressenwerden entgeht, da unterliegt er schnell der
innern Fäulniß. Die schlanken Glocken der Coprinen zerfließen schon zwölf
Stunden nach ihrem Hervortreten zu schwarzem tintenähnlichen Brei. Die
großen Hutpilze widerstehn nur dann irgend länger der Auflösung, wenn
rasch eintretende dürre Witterung ihnen ein Scheinleben fristet: ausgetrocknete,
lebendig todte Neste einer wenn auch unerquicklichen, doch bedeutungsvollen
Vergangenheit. Dann siedeln auf den Amaniten die Syzygiten, auf den
Russulen die Afterophoren sich an; schwächliche Epigonen: die modernen Jesuiten
auf den Trümmern des Gebäudes, dein der Geist des achtzehnten Jahrhun¬
derts den zermalmenden Stoß gab.
Die Trüffeln sind klüger als die Hutschwämme. Sie bleiben lichtscheu,
auch zur Zeit ihrer vollen Ausbildung. Sorgsam entzieht das heimtückische
Gewächs dem Menschen die Fülle des Aroms, die es im Geheimen bereitete.
Die spät den Botanikern gekommene Erkenntniß der Lebenserscheinungen des
vielberufenen PilzeT genial vorausahnend, gab Moliöre dem Prototyp
frommer Heuchler deu Namen der schwarzen Trüffel.*) Aber wie die Ge¬
schichte der Menschheit untröstliche Erscheinungen oft durch unholde Mittel
besiegte, so auch der Mensch die Verstocktheit der Trüffel durch mißgeachtete
Thiere: durch die Hülfe vou Hunden und Schweinen.
Die Keimung der Samen einer der eßbaren Trüffeln ist bis zur Stunde
noch nicht beobachtet; wohl aber die eines ihnen nächst verwandten unter¬
irdischen Pilzes, der Lalsg-miiiÄ vulMris, einer etwa nußgroßen. braunrothen,
feinwarzigcn, innen weißlichen, von zahlreichen mäandrisch gekrümmten Hohl-
räumen durchzogenen Trüffel von starkem, aber nichts weniger als angenehmem
Geruch, der ?ruM rouM der Poitevins, einer unzertrennlichen und unwill¬
kommenen Gefährtin der brauchbaren Trüffeln an deren südwesteuropnischcn
WohnMtcn. Es liegt kein Grund vor, daran zu zweifeln, daß die echten
Trüffeln ihr sich ähnlich verhalten. Der Gang der Keimung der Balsamina
ist der schon erwähnte, den Pilzen überhaupt gemeinsame. Was diesen frühe¬
sten Zuständen folgt, ist >durch die- Tulasneschen Beobachtungen in großer
Vollständigkeit bekannt. Die Erde der Lagerplätze der Trüffeln (franz.'Truffivres.
nat. Trifolaje) ist — was die violetten Trüffeln Perigvrds angeht — im
September von zahlreichen, weißen, cylindrischen Fasern durchzogen, weit
dünner als Zwirnfäden; ganz wie die Laubasche der mitteldeutschen Buchen¬
wälder. Diese Fasern sind Stränge aus Pilzfäden, die an den Enden der
Fasern zu einem lockeren Gewebe auscinaudertreten. Zu dieser Jahreszeit
findet man nur ganz junge, Hirsekorn- bis haselnußgroße Perigord - Trüffeln.
Sie sind allseitig umhüllt von einem weißlichen Filz, der aus wirren Fäden
besteht, denen der eben erwähnten Stränge ganz ähnlich. In dieser flockigen
Hülle zerstreut finden sich oft und zahlreich Trüffelsamen, um ihrer höchst
charakteristischen Form dem ersten Blick kenntlich, die von den Trüffeln her¬
stammen, welche im Winter des vorausgegangenen Jahres reiften. Die Fäden
des Filzgeflechts gehen geradezu in die Rinde der Trüffel em. Die fädlichen
Zellen ragen aus so vielen Stellen der Oberfläche derselben hervor, daß es bei
Betrachtung mit bloßem Auge unmöglich ist, und selbst bei mäßiger Vergrö¬
ßerung schwer hält, die Grenze zwischen Filzgeflecht und Trüffel zu bestimmen.
Die Trüffel selbst ist, gleich allen Schwämmen, auch ein silzähnliches
Geflecht guf fädlichen Zellreihen, nur von ungleich feinerem Baue als der
in der Jugend sie umhüllend weißliche Filz. In der harten Rindenschicht,
die bei den eßbaren schwarzen Trüffeln mit dicht gedrängten, pyramidalen Her¬
vorragungen besetzt ist. sind die Zcllreihen auch seitlich miteinander fest ver¬
klebt, und ihre Wände sind braun gefärbt, in der Masse erscheint die von
ihnen gebildete Rinde kohlschwarz. Das Innere ist von lockererem Gefüge;
die Zellreihen lassen sich unter dem Mikroskope mit Nadeln auseinandcrzichen.
Schon in früher Jugend der Trüffel zeigt diese innere Substanz eine Tren¬
nung in zweierlei Formen des Gewebes. Vielfach gekrümmte Platten eines
lockeren, in den Räumen zwischen den Zellfädcn luftführenden, darum wei߬
lichen Geflechtes verlaufen zwischen je zweien, ihnen nahezu parallelen Platten
saftreichen, festgeschlossenen Gewebes von dunklerer Farbe. Jene lufthaltigen
Räume sind es, welche in der reifen Trüffel die hellfarbigen Adern darstellen.
Aus dem saftreichen Gewebe zwischen ihnen sprossen, nach den lufthaltigen,
von lockerem Filze erfüllten Räumen hin, kurze Zellreihen hervor, deren End-
zeiten zu beträchtlicher Größe und zur Eiform anschwellen, und in ihrem
Immer» die Samen der Trüffeln erzeugen. Solcher Samen bilden sich u> jedem
der eiförmigen Fruchtschläuche mehrere; bis zu sieben, meistens vier. Die
mannigfaltige, zierliche Gestaltung der sehr entwickelten äußeren ihrer beiden
Häute gibt ein bequemes Mittel an die Hand, selbst kleine Bruchstücke von
Trüffeln, wie sie etwa in zugerichteten Speisen vorkommen, mit großer Sicher¬
heit auf die Stannnart zurückzuführen.
Es gibt außer den Trüffeln noch zahlreiche andere unterirdisch lebende
Pilze, im äußeren Ansehen den Trüffeln zum Theil sehr ähnlich, im inneren
Baue aber auffällig — die meisten durch die Anwesenheit lufterfüllter Hohl-
räume — von ihnen unterschieden; sämmtlich ungenießbar oder doch ohne
irgend hervorstechenden Geruch und Geschmack. Auch die Zahl der wirklichen
Trüffeln ist nicht klein: viele Arten aber sind fade; andere von unangenehmem
Arom, das ihnen wenig schmeichelhafte Beinamen verschafft hat, wie z. B. die
rübenduftende, die übelriechend«,- Trüffel. Für die Küche, und dadurch mittelbar
für den Handel von Werth sind nur wenige Formen: die weihe Trüffel Pie-
monts (I'udei' Nagimtu,in), die Pengord-Trüffeln ('lubizr nwlanvspoi-um und
drumiz.to); die deutschen schwarzen Trüffeln (lnder «.si-divum und mvL-m-
ein-ieum).
Bei einer Besprechung der Verdienste verschiedener Trüffelsorten gebührt
dem Ug-MÄtum billig der Borrang. Das Arom der weißen' piemon-
tesisch en Trüffel ist nicht nur ungleich stärker, sonder» auch seiner und ange¬
nehmer, als das ihrer Verwandten. Es gereicht ihr nicht zum Nachtheil,
daß ihrem Dufte ein ziemlich ausgeprägter Zwiebelgeruch beigemengt ist; um
so weniger, als dieser lini der Erwärmung bis zum Siedepunkte verschwindet,
während das eigenthümliche Trüffelarom zurückbleibt. Der Wohnbezirk der
echten weißen Trüffel ist eng begrenzt; sie wächst in der westlichen Lombardei,
häufig im piemontesischen Hügellande, selten und vereinzelt im östlichen Süd¬
frankreich bis zur Rhonemündung. Für gewöhnlich nicht gesellig, wie dies
die schwarzen Trüffeln sind, findet sie sich unter Pappeln, Ulmen, Eichen,
bisweilen selbst in Weinbergen und Ackerfeldern. Sie kommt mitunter selbst
im Norddeutschland frisch im Handel vor, aber zu hohem Preise, der etwa
das Dreifache von dem frischer schwarzer Trüffeln zu betragen pflegt.
Was Deutschland an weißen Trüffeln liefert, verdient wenig Lob. Es
ist ein Pilz, der selbst im Aeußeren der piemontesischen weißen Trüffel nur
wenig ähnelt (unregelmäßig knollenförmig, während die piemontcsische Art
abgeplattet-rundlich zu sein pflegt), die Farbe der Außenfläche mehr ins Gelbe,
minder ins Graue ziehend; auf Durchschnitten von grund.verschiedenen Ader¬
verlaufe, von den Botanikern in eine andere Gattung als die Trüffeln ver¬
wiesen, und OKoerom^ekis benannt. In Böhmen kommt er häusig vor, wird
dort oft zu Markte gebracht und ist zu „zu Saucen besonders beliebt." Er
findet sich von Thüringen an bis Oberitalien, fehlt ober in Frankreich. Ueber
den Geschmack läßt sich nicht streiten. Der Duft des Schwammes ist unleug¬
bar ein seur starker; aber der Monograph der trüffelartigcn Pilze, der Mai¬
länder Viltadini, dessen Geruchsinn a» der piemontesischen Trüffel geschult
sein mochte, nennt dessen Geruch geradezu ekelerregend, und wir möchte» ihm
nicht Midersprcche». — Der weißen Trüffel einigermaßen ähnlich ist die im
Alterthum hochbcrühmie irdische; ebenfalls der Gattung 'lubsr nicht angehörig,
die 'IvrkLAS. I^poris. Sie ist hänfig in ganz Nordafrika; ihre Verbreitung
erstreckt sich einerseits bis Damaskus, andererseits durch Spanien »ach Süd¬
frankreich, durch Sardinien bis zur Küste der Terra ti Lavoro, bis Terracina.
Sachverständige, die Gelegenheit hatten, sie frisch zu genießen, schildern ihr
Arom als zwar angenehm, aber sehr schwach. Die höchst anerkennenden
Aeußerungen Plinius' und Juvenal's über sie können sich unmöglich auf ihre
Verwendung als Gewürz, sondern nur auf ihre Verspeisung nach Art unserer
Hutschwnmme bezogen haben.
Die schwarzen Trüffeln mit facettirter, von vier- bis sechsseitigen pyra¬
midalen Erhöhungen besetzter Außenfläche sind die weitaus am häusigsten
verwendeten. Vier veischirdene Arten werden zur Speise benutzt; je zwei und
zwei derselben sind einander sehr ähnlich, vielleicht nur als Varietäten ver¬
schieden. Das eine Formenpnar, die echten Perigord-Trüffeln, drunurle
und mölimvLxcu'um, hat einen mehr südlichen Wohnbezirk. Sie, die aro¬
matischsten und darum werthvollsten, unterscheiden sich von den weiter nörd¬
lich vorkommenden auch in den kleinsten Fragmenten leicht dadurch, daß die
Außenfläche der Samen mit kurzen schlanken Stacheln bedeckt ist, während
die Samen der deutschen Trüffeln ein Netz weit vorspringender, in fünf bis
sechseckige Maschen geordneter Leisten tragen. brumalö, im Innern von
ins Graue ziehender Farbe, einem Gerüche, dem eine angenehme Herbe und
Säure beigemengt ist, geht minder weit nach Nordost, als das ihm nahe
verwandte tuber rQLliZ.ne>Lxmum. Jenes findet sich in Frankreich nur jenseits
der Loire, ferner durch die Provene verbreitet, häusig in Norditalien. Die
Verbreitungsgrenze des Inder melauosporum, der im Immer» violettbraunen
Perigord-Trüffel, im Geruch mit einer Beimengung vom Dufte der Erdbeeren,
wird durch eine Linie dargestellt, welche vom südwestlichen England über
Paris und Lyon nach dem Fuße der Alpe» der Dauphins, und jenseits des
Gebirges der Nordgrenze des norditalienischen Hügel- und Tieflandes entlang
geht. Die nordost-französischen und deutschen eßbaren schwarzen Trüffeln,
meist der Art I'üben' g,6Le,lonen, seltener dem kleineren tuber inesönteriemn zuge¬
hörig , flehen an Intensität des Aromes, wennauch nicht eben an Annehm¬
lichkeit desselben, hinter ihren südwestlichen Verwandten zurück. Sie kommen
übrigens auch an den Wohnplätzen der Perigord-Trüffeln und mit diesen ge¬
mischt häusig vor. In Deutschland selbst reicht ihre Verbreitung, die vor-
zugsweise durch Kalkgehalt des Bodens bedingt erscheint, bis an die äußerste
Grenze des mitteldeutschen Berg- und Hügellandes. Die frischen Trüffeln,
welche in norddeutschen Städten käuflich sind, stammen meist von den Kalk¬
hügel» und Hochflächen, welche den Harz umsäumen und zwischen diesem
und dem Thüringer Walde sich ausbreiten. Auch Baden und Böhmen liefern
reichliche Ausbeute.
Die Trüffeln lieben kalkhaltigen Mergelboden mit leicht durchlassendem
Untergrund; einen Boden, welcher durch mäßige Beschattung vor raschem Aus-
trocknen geschützt ist. Es liegt kein Grund vor, anzunehmen, daß ihr Vor¬
kommen vorzugsweise unter Bäumen auf einer andern Ursache beruht, als auf
der gleichartigen Erhaltung des Bodens in mäßiger Feuchtigkeit, welche der
Schutz des Baumschcittcns vermittelt. In den sonnigen soinmerregenarmen
Gegenden Südfrankreichs scheint der Schutz der Bäume der Trüffelvegctatiou
unentbehrlich zu sein. Es ist notorisch, daß in der Provence schon das Aus¬
ästen der Bäume eines Gehölzes, in dem Trüffeln vorkommen, den Ertrag der
Trüffelernte vermindert. In Mitteldeutschland wachsen Trüffeln nicht selten
im lichtesten Buschwald. selbst auf offener Haide. Es ist für das Gedeihen
der Trüffeln nickt erforderlich, daß der Boden, in dem sie wachsen, in unge¬
störter Ruhe liege. Trüffelgruben der Champagne, Poitou's und Perigords.
die alljährlich (im Spätherbste) tief aufgewühlt werden, geben demungeachtet
reiche Ernten. In der Champagne ist unter den Trüffeisuchcrn sogar die
Ansicht verbreitet, daß das herbstliche Umwühlen der Trufsiöre die Vegetation
der Trüffeln fördere. Nicht selten kommen Trüffeln (in unmittelbarer Nahe
der Gehölze) in Ackerboden vor, der erst im Herbst zuvor umgepflügt ward.
Es ist ein Aberglaube, daß die Vegetation der Trüffel im Boden derjenigen
der Kräuter auf der Oberfläche des Bodens Schaden bringe. Man findet sie
nicht selten uuter dichtem Rasen: so bei Karlsbad, einer überhaupt ziemlich
trüffelreichen Gegend. Die Trüffeln binden sich bei ihrem Vorkommen an
keine bestimmte Baumart. Sie siudeu sich unter Eichen, Weißbuchen. Hasel-
stauden. Kastanien, unter Buchsbaumgestrüpp in der Provence, unter See¬
strandkiefern in den Landes der Gascogne. Der Gehalt an Humus des Bo¬
dens, in dem sie vegetiren. ist oft überraschend gering. Die an Trüffeln
äußerst reichen Fundplätze um Loudun (einige Stunden südlich von der Loire
unterhalb Tours) bestehen aus einer wenige Zolle mächtigen Schicht einer
thonigscmdigen. eisenschüssigen Ackerkrume, mit kleinem Kalkgerölle durchstreut,
die eiuer dicken Bank eines zerklüfteten, durchlässigen Kalkmergels aufgelagert
'se. Die Analyse jenes magern, hockst unfruchtbaren Bodens ergab in 1000
Theilen 500 Theile Kalk, 325 Th. Thon und Eisenoxyd, 125 Th. Quarzsand,
und mir 25 Theile organischer Substanz. Die schwarzen Trüffeln wachsen
gesellig, in Gruppen von der Form eines mehr oder minder geschlossenen Kreises
entsprechend der Vegetation vieler über dem Erdboden erscheinenden Pilze,
deren aus den peripherischen Enden des unterirdischen Pilzgeflechts hervor¬
sprossende Pilzkörper aus knrzberasten Wiesen und Tristen die sogenannten
Hcxenkreise bilden.
Es ist unzweifelhaft, daß die Lebensweise der Perigord-Trüffeln (des
?ud«r brumiüö und melairosrM'um) eine einjährige ist. Im Frühlinge und
Sommer finden sich gar keine Trüffeln solcher Art; im Herbste nur ganz junge;
ausgebildete nur von Ende November ab bis Februar; im Mai nur noch
solche, die bereits in Zersetzung übergehen. Die Entwickelung der auch in
Deutschland vorkommenden Trüffeln ist minder streng an bestimmte Jahres¬
zeiten gebunden. Namentlich in wärmeren Gegenden, in Südfrankreich findet
man in den Trüffelgruben schon von Ende Mai an ziemlich erwachsene,
wenn auch noch unreife Exemplare solcher Trüffeln. Weiterhin kommen
reife und unreife (innen weißliche oder dunkler gefärbte) gemeng! vor, bis
endlich im Spätherbste alle Trüffeln innen dunkelfarbig sind. Nach Analogie
mit fleischigen Schwämmen im Allgemeinen, und der mit den so nahe ver¬
wandten Perigord-Trüffeln im Besonderen muß angenommen werden, daß
die unter deutschen Trüffelsuchern verbreitete Meinung, die Trüffeln seien mehr¬
jährig, kleinere könnten bis zum nächsten Jahre noch wachsen, irrthümlich ist.
Erst mit dem Reifen der Samen erlangt die Trüffel ihr Arom. Der
Grad der Reife gibt sich zu erkennen durch die hellere oder dunklere Färbung
des Innern, eine Färbung, die lediglich,auf der Anwesenheit reifer, außen
braunfarbiger Samen beruht. Die Samen einer und derselben Trüffel reifen
aber nicht gleichzeitig. Eine Trüffel kann schon brauchbar sein, wenn die
dunkeln Stellen ihres Fleisches noch sehr licht ambrafarbig aussehen. Von
zwei gleich frischen, unbeschädigten Trüffeln aber ist die mit dunkleren Fleische
stets die stärker duftende. Es ist eine Barbarei, Trüffeln mit noch weißem
Fleische, die noch gar keine reifen Samen enthalten, einzusammeln. Solche
Trüffeln sind die sogenannten Maitrüffeln, Naiana.us8 (junge Exemplare haupt¬
sächlich des urbe-r mesentericiim). die in der Provence in ziemlichen Mengen
gesammelt, in dünne Scheiben geschnitten und gedörrt in den Handel gebracht
werden. Das ja etwa vorhanden gewesene Arom mußte beim Trocknen ver¬
loren gehen: die als Delicatesse verkauften dürren Trüffclscheiben haben für
den Tisch nur als Substrat für pikante Gewürze Werth; etwa denselben,
wie die Stücken tagelang gekochten Handschuhleders, welche der Koch Fried¬
richs des Großen den Gästen seines königlichen Herrn eines Tages als Ra¬
gout versetzte. — Aber was schlimmer ist als die innere Werthlosigkeit der
zu früh ausgegrabenen Schwämme: das frühzeitige Umwühlen der Trüffel-
grübe beeinträchtigt sehr schwer die Ernte des nächsten Herbstes. So wenig
es den halbreifen, zur vollen Größe gelangten Trüffeln schadet, wenn sie ans
ihrer Lage gebracht werden, so entschieden nachtheilig wirkt eine Störung
auf die noch ganz jungen.
Das Auffinden von Trüffeln gelingt dem Menschen bisweilen auch Mit
alleiniger Hilfe seiner eigenen Sinnesorgane. Zwar sein Geruchssinn ist
nicht so fein, daß er. in aufrechter Haltung einher gehend, den Duft des im
Boden verborgenen Gewächses spürte. Aber ein geübtes Auge erkennt VN
einer kleinen, von Nissen durchzogenen Erhebung des Bodens die Stelle, wo
eine flachliegcnde Trüffel sich entwickelt hat. Das Aufsuchen nach diesem
Merkzeichen, die elrÄSsiz ä, ig, in-uMs. ist das gewöhnliche Verfahren der
Trüffcldicbe in Frankreich, die selbstverständlich eine ihnen unbehagliche Auf¬
merksamkeit erregen würden, wenn sie mit einem Hunde, oder gar mit einem
auf Trüffeln dressirten Schweine am Strick herum gehen wollten. Sie be<
kommen auf diese Art indeß nur die weniger werthvollen, auch in Deutsch¬
land heimischen Trüffeln; die werthgeschätztere violette Perigord-Trüffel liegt
viel zu tief (selten flacher als einen halben Fuß tief), um a, ig, maryne ge¬
jagt zu werden. Der Scharfsinn des unberechtigten Liebhabers des edlen
Pilzes hat sich aber zu helfen gewußt. Der Mensch ist es nicht allein, welcher
den Trüffeln nachstellt; sie haben auch unter den Jnsecten warme Verehrer.
Auch Käfer wühlen sich zu den Trüffeln, um ihre Eier hinein zu legen; ganz
besonders suchen aber sehr kenntliche Fliegen (mit langgestrecktem, gelblichem
Leibe, weit großer als Stubenfliegen) die Standorte von Trüffeln auf, um
dort ihre Eier abzulagern. Die ausschlüpfenden Larven finden dann schon
ihren Weg zu den Trüffeln. Der Trüffeldieb gräbt an den Orten nack, wo
solche Fliegen schwärmen; ja man sagt ihm dasselbe sinnreiche Verfahren,
dieselbe Anwendung der Fundamentaisütze der Trigonometrie nach, wie den
Bienenjägern der nordamerikanischen Wälder.
Die berechtigte Ausbeutung der Trüffelnester geht mit Hilfe höher orga-
nisirter Thiere vor sich: in ganz Deutschland und Nordostfrankreich und größ-
tentheils auch in Italien mit der von Hunden. In Südfrankreich benutzt man,
aus Bequemlichkeit vielleicht, um sich das eigene Graben zu ersparen, aus¬
nahmslos dressirte Schweine. Die Dressur beider Thiere trägt den Stempel
jener Einfachheit und Zweckmäßigkeit, welche die Erziehung der Bestien durch
den Menschen so oft vor der auszeichnet, die er seinen Kindern angedeihen
läßt. Man veranlaßt den Hund oder das Schwein, eine flach verscharrte
Trüffel aufzuwühlen, und belohnt das Gelingen beim Hunde durch Lieb-
kosungen, gelegentlich durch einen Leckerbissen, beim Schweine durch eine
Hand voll Futter; steigert allmälig die Schwierigkeit der Aufgabe, führt end¬
lich das Thier ins Freie und gewöhnt ihm hier das Auswühlen werthloser
unterirdischer Pilze ab. indem man in solchem Falle die nach jedem glück¬
lichen Funde zuertheilte Belohnung unterläßt. Man dressirt Hunde jeder
Nasse, nur nicht Jagdhunde (angeblich, weil deren angeerbter Instinct sie ver¬
anlaßt, jede Wildfährte einer Trüffelspur vorzuziehen), unter den Schweinen
gibt man solchen den Vorzug, die von einer schon geübten Mutter stammen.
Ein gutes Trüffelschwein dient vom achten Monat bis zum zwölften Jahre,
und bringt einen Preis von bis zu 200 Francs über den Fleischwerth. —
Jede? der Thiere hat eigenthümliche Vorzüge. Der Hund läßt die gefun-
denen Trüffeln unberührt; dafür scharrt er aber nur flachliegende aus. Bei
irgend tiefer gelegenen muß der Trüffeljäger selbst nachhelfen. Dem Rüssel
des Schweins entgeht auch die ellentief liegende Trüffel nicht. Aber das
Motiv seiner Thätigkeit ist der gemeinste Eigennutz. Wenn im Augenblicke
des Auffindens der Trüffel die gespannte Aufmerksamkeit des Herrn auch nur
auf einen Moment erlahmt, dann verschlingt das gierige Thier das köstliche
Gewächs; glücklich ist der Jäger, wenn es ihm gelingt, die Trüffel dem
Schweine dadurch aus dem Rachen zu reißen, daß er ihm das Ende eines
Stockes von der Seite her zwischen die Kinnladen zwängt. Keine Züchtigung
vermag dem Thiere diese Unart abzugewöhnen. Die bcstdresfirten sind so
weit gebracht, daß sie Leim Auffinden einer Trüffel mit der Nase auf den
Fund gedrückt eine sehr kurze Zeit unbeweglich verharren, oder daß sie eine
kaum merkliche Bewegung rückwärts machen. Stößt dann nicht der Trüffel¬
jäger das helfende Thier sofort mit dem Knie zur Seite, um sich der Trüffel
zu bemächtigen, so wird diese verschlungen. Es wird behauptet, daß man
diesen Mißstand dadurch heben könne, daß man dem Schweine einen Metall¬
ring um die Schnauze lege. Die Anwendung dieses Verfahrens ist indeß
durch keinen verläßlichen Zeugen beglaubigt.
Der hohe Ertrag, den eine reiche Trüffclgrube gewährt, hat'schon seit
Anfang des vorigen Jahrhunderts zahlreiche Versuche der künstlichen Cultur
der Trüffeln veranlaßt. Bis jetzt blieben sie alle ohne befriedigenden Erfolg,
es ist nirgends gelungen. Trüffeln in der Art in künstlich bereitetem Boden
zu erziehen, wie es mit den Champignons in ausgedehntesten Maße geschieht.
Bei Durchsicht der vielen veröffentlichten Recepte von Bodenmischungen und
Cultur drängt sich die Vermuthung auf. daß der Grund des Mißlingens im
Ueberreichthum des verwendeten Composts an Humus und an zu starker Be¬
wässerung bei ungenügender Durchlässigkeit des Untergrunds liege. — Dagegen
sind oft Trüffelcrnten erzielt worden, wenn man an geeigneten Orten in Parks
oder lichten Wäldern reife Trüffeln oder Stücke von solchen in die Erde ge¬
bracht hatte, und einige Jahre darauf gründliche Nachsuchungen vornahm —
Versuche die freilich für das Gelingen einer Cultur nichts beweisen, denn es
liegt die Möglichkeit nahe, daß an den gewählten Orten überhaupt und schon
vorher Trüffeln gewachsen waren. Eine der^sichersten Methoden zur Züchtung
der Trüffeln hat in Mittelsrankreich der Zufall und die Erfahrung kennen ge¬
lehrt. Wird aus kahlem, sterilem Kalkboden der Landschaften an der mittleren
und unteren Loire eine Eichenpflanzung angelegt, so sinden sich in dem künst¬
lichen Wäldchen nach einer Reese von Jahren zuverlässig Trüffeln, ohne daß
irgend welche künstliche Aussaat derselben erfolgt wäre. Zu der Umgegend
von Loudun hat dieses Verfahren eine sehr ausgedehnte Anwendung gesun¬
den. Man säet auf dürres ertragloses Weide- oder Haideland Eicheln. Die
aufsprossenden Bäume werden im lichten Stand gehalten. Schon acht bis
zehn Jahre nach der Aussaat erntet man Trüffeln in diesen Gehölzen, mit
stets steigender Ausbeute, wenn durch zweckmäßige Durchforstung Sorge getra¬
gen wird, daß die heranwachsenden Bäume den Boden nicht aUzudlcht be-
schatten. — Vielleicht erweist sich diese Bewaldung kahler Stellen auch in
Deutschland an manchen Orten einträglich; vielleicht vermittelt sie einst die
Wiederbetleidung der jetzt trostlos kahlen Rücken der Kalkhügel des niederen
Thüringens und des mittleren Böhmens.
Ueber die Verwendung der Trüffeln nur wenige Worte. Da wo sie am häufig¬
sten sind, werden sie vielfach unmittelbar als Soc>>e genossen: roh, geschält und in
feine Scheiben geschnitten als Grundlage eines Salats (ein schon von Juvenal ge¬
priesenes Gericht); in der Kaffeetrommel leicht.geröstet; in Wem gedünstet. Ihre
Seltenheit und Kostspieligkeit in Deutschland, verbunden mit dem Umstände,
daß bei jener Verspeisung das Arom des Pilzes bei Weitem nicht vollständig
ausgebeutet wird, lassen diese Zubereitung der Trüffeln für uus als nicht zu
rechtfertigenden Luxus erscheinen. Wir werden ste vorzugsweise als Gewürz
anzuwenden haben. Dabei sind zwei Regeln zu befolgen: mau nehme nicht
zu wenig Trüffeln und man sorge dafür, daß das flüchtige Arom derfelben
nicht entweiche. Diese letztere Aufgabe ist bei deu ftraßburger Pasteten durch
den luftdichten Verschluß der Terrinen, bei den Lyoner, mit Trüffeln ausge¬
stopfte» Truthühnern und Kapaunen durch die dicke, den Vogel umhüllende
Schicht von Fett gelöst. Im Hause wird man Fleisch aller An am zweck¬
mäßigsten in der Weise alt dem Arom der Trüffeln lmprägnuen, daß man
es mit zerschnittenen frischen Trüffeln in gut schließenden Blechbehältern ohne
überflüssigen Raum so lange einschließt, als die Kühle der Jahreszeit es
verstattet.
Der Duft der Trüffeln verflüchtigt sich mit der größten Leichtigkeit. Eine
angeschnittene frische Trüffel, frei hingelegt, verliert ihren Wohlgeruch fast
volijiändig binnen 48 Stunden. Werden frische Trüffeln zerschnitten mit
Wasser in die Destilirblcise gebracht und einer sehr mäßigen, noch nicht bis
zum Siedepunkte steigenden Wärme ausgesetzt, so enthält das übergegangene
Wasser allen charakteristischen Geruch der Trüffeln, die Stücke dieser selbst
sind geruchlos geworden. In dieser Eigenschaft des Aroms der Trüffeln ist die
große Schwierigkeit ihrer Aufbewahrung begründet. Die eingesetzten Trüffeln,
welche aus Frankreich in den Handel kamen, sind nach der theoretisch völlig
genügenden Appertschen Methode behandelt: in leicht verstöpfelten, weithalsi-
gen Glasflaschen im eigenen Dunste oder in Wein, oder in Oel gekocht, die
Flaschen dann vor dem Erkalten luftdicht verschlossen. Die praktische Aus-
führung des Verschlusses ist aber eine ganz unzureichende. Man beschränkt
sich darauf, den mit einem schlechten Pfropfen verschlossenen Flaschenhals in
geschmolzenen Flaschenlack zu tauchen. Der Lack splittert ganz gewöhnlich
beim Transport; es entsteht eine wenn auch enge Verbindung des Innen-
raums des Gefäßes mit der äußeren Luft, und das Arom verfliegt. Alle
uns vorgekommenen conservirten Perigord-Trüffeln waren geruch- und so¬
mit werthlos. Mit Sicherheit sind nur frische Trüffeln zu brauchen. Dafern
solche völlig unverletzt hob, und in trocknem Sande kühl aufbewahrt werden,
erhalten sie sich, ziemlich .lange: eine Frist von drei Wochen dürste nicht zu
hoch gegriffen sein.
Vor allen kryptogamischen Gewächsen haben die Trüffeln — dies am
Schlüsse unserer langen Besprechung zu deren Entschuldigung — die größte
nationalökonomische Wichtigkeit. Die Trüffelproduction Frankreichs ist sehr
bedeutend. Eine allgemeine Abschätzung erlauben die vorliegenden Daten
zwar nicht; einige Einzelbeispiele aber veranschaulichen sehr deutlich die Höhe
des Ertrages. Das kleine Departement Vaucluse (mit V» seiner Grundfläche
unbebauten Boden) liefert nach einer auf den mäßigsten Ansätzen beruhenden Rech¬
nung jährlich mehr als 60000 Pfund frischer Trüffeln; nilein im Städtchen Apt
kommt während eines Winters die Hälfte dieser Quantität auf dem Markte
zum Verkaufe, zu einem Preise, der nicht unter 2 Francs pro Pfund füllt, oft
erheblich höher ist. Der Jahresertrag an Trüffeln eines künstlich bewaldeten
Areals von nur 90 Ellen im Quadrat bei Cirny wird auf 100 Francs ver¬
anschlagt. — Noch weniger Genaues läßt sich über den Umfang der deutschen
Trüffelernte ermitteln. Da indeß angenommen werden muß, daß der ganze
Bedarf der deutschen großen Städte an frischen Trüffeln durch in Deutschland
gewachsene Trüffeln gedeckt wird, so ist der Schluß gerechtfertigt, daß auch
bei uns der Ertrag kein geringfügiger ist. Der Consum eines. Winters einer
Mittelstadt wie Leipzig kann nach uns gewordenen glaubhaften Mittheilungen
nicht niedriger, als zu 900 Pfund veranschlagt werden; er ist muthmaßlich
beträchtlich höher. Und dabei wolle man nicht übersehen, daß die Trüffelernte
in Deutschland unzweifelhaft einer sehr bedeutenden Steigerung, fähig ist.
Nun sage noch Jemand, daß das Herrenhaus oppositionell, oder daß es
nicht die festeste Stütze des Ministeriums sei! Am letzten Sonnabend hat das
hohe Haus aller solchen üblen Nachrede ein Ende gemacht. Den Gesetzent¬
wurf über die Ausdehnung der Reservepflicht von zwei auf vier Jahre haben
die Herren in einer halbstündigen Sitzung ohne alle Debatte erledigt und an¬
genommen. Daraus kann man sehen, wie Cavaliere Geschäfte besorgen.
Niemand hat die hohe Bortrcfflichkeit des Herrenhauses besser eingesehen, als
unser Kriegsminister Herr v. Roon. Nicht umsonst rühmte er, als er seinen
Gesetzvorschlag einbrachte, die „angenehme Temperatur" des Hauses. Die
Herren wollten das Compliment verdienen und haben gezeigt, daß für den
Kriegsminister unter ihnen eine wahre Treibhaustemperatur herrscht. Der
Gesetzentwurf ist am 23. Jan. eingebracht; das Herrenhaus weist denselben
an eine Commission, welche in einer einzigen Sitzung am 27. Jan. die Be¬
rathung erledigt. Der Berichterstatter Freiherr von Buddenbrock, ein bewähr¬
ter Staatsmann, schreibt einen kurzen Dithyrambus, — einen Bericht kann
man es eigentlich nicht nennen; denn der Hauptgegenstand der Vorlage, daß
die gesammte dienstpflichtige Mannschaft des Landes vom 25. bis zum
27. Jahr aus der Landwehr in die Linie versetzt werden soll, wird mit kei¬
ner Silbe erwähnt; — also auch nicht die mannigfachen volkswirthschaft-
lichen und finanziellen Bedenken, welche gegen die Durchführung dieser Ma߬
regel laut geworden, sind. Alle diese Bedenken werden unbesehen zu dem
ungewaschenen Zeug geworfen, durch welches die „Literaten" in ihren „Man¬
sarden" so falsche Begriffe verbreiten. Ueber solche Schreibereien denken die
Junker, wie die Mouche des Mittelalters über das Griechische: 6rg.ce«. srmt,
von log'urrtur. Wenn aber die Herren selbst anfangen zu schreiben, so gilt
von ihnen, was der ehrliche Holzapfel sagt- „Eure Schreibe- und Lesekunst,
damit könnt Ihr Euch sehen lassen, wo kein Mensch solche Dummheiten nö¬
thig hat." Nach solchen Grundsätzen ist der Bericht des Freiherrn v. Bud¬
denbrock gearbeitet. Der hauptsächlichste Vorzug eines derartigen Schrift¬
stückes ist, daß man nicht viel daran zu studiren hat. Ein fernerer Vorzug
des Berichts ist. daß er, weil er keine Gedanken enthält, auch nicht zur Ge¬
genrede auffordert. Beide Vorzüge haben sich durch den Erfolg bewährt.
Schon am 1. Februar hatten die Herren sich hinlänglich an kalt gesetzt; die
Sache kam im Plenum des Hauses zur Berathung, — oder vielmehr nicht
zur BerattMng. sondern nur zur Abstimmung. Denn Niemand^ sah sich ver-
anlaßt, das Wort zu ergreifen. Durch die Darstellung des Freiherrn von
Buddenbrock war das Thema erschöpft. Selbst Herr von Senffl-Pilsach, der
sich auf eine Rede präparirt hatte, und der sich sonst nicht leicht eine Gelegen¬
heit entgehen läßt, seine Weisheit zu, Markte zu dringen, wußte zur Auf¬
klärung der Sache nichts weiter beizutragen, und verzichtete auf's Wort. So
wurde das ganze Geschäft mit einem imposanten Schweigen abgemacht.
Ob die Regierung Ursache hat, sich zu diesem Boeren Glück zu wünschen?
Wir müssen es bezweifeln. Daß das Herrenhaus sehr entschieden für die
Armeeresvrm gestimmt ist, wußte man schon lange. Wir sind weit davon
entfernt, dem Hause daraus einen Bvrwurs zu machen. Die überwiegende
Meinung neigt sich überhaupt immer mehr dahin, daß die Armeereform prin¬
cipiell ganz richtig und nothwendig ist und daher auch angenommen werden
muß, über daß zu gleicher Zeit die Auswüchse derselben abgeschnitten werden
müssen, damit die allerdings nicht zu vermeidende Erhöhung der Lasten we¬
nigstens nicht über die finanziellen und wirlhschasclicheu Kräfte des Landes
hinaus gesteigert werde. Aber andrerseits steht doch eine sehr starke und nach¬
haltige öffentliche Meinung der ganzen Maßregel entgegen. Gewiß ist es
nun nicht die Pflicht des Herrenhauses, dem Strom der Meinung in jedem
Augenblick zu folgen. Ein starkes Oberhaus wird nie, wenn es un Interesse
des Landes nöthig ist, Bedenken tragen, sich einem Bolkswuusch entgegen zu
stemmen. Aber ein einsichtiger politischer Körper wird auch, wenn er eine
unpopuläre Maßregel beschließt, dies nie ohne eine eingehende Debatte thun.
Ein Vorgang, wie der in der vorgestrigen Sitzung des Herrenhauses, wäre un
englischen Oberhaus unmöglich. Dieses würde sich verpflichtet hallen, über
die Münde, weshalb es mit der Majorität des Landes in Widerspruch tritt,
sich offen auszusprechen. Es würde, wissen, daß eine solche cavaliermäßige
Behandlung der Geschäfte, wie sie hier beliebt ist, dem politischen Körper,
der sich dieselbe erlaubt, alle Achtung im Lande entzieht. Wäre ein Gesand¬
ter des Pyrrhus in dieser Sitzung des Herrenhauses gewesen, er würde ge¬
wiß nicht geglaubt haben, vor einer Versammlung von Königen zu stehen.
Im Abgeordnetenhaus gehen die Dinge ihren langsamen und geschäfts¬
mäßigen Gang. In der verflossenen Woche hat das Haus nur eine Sitzung
gehalten, in welcher Wahlprüfungen verhandelt wurden. In den Commis¬
sionen wird eifrig gearbeitet, aber sür die Plenarsitzungen fehlt es um Stoff,
weil die Berichterstatter im Abgeordnetenhaus noch nicht gelernt haben, so
rasch zu arbeiten, wie Herr v. Buddenbrock.
Zu erwähnen ist daher nur, daß zu gleicher Zeit zwei Anträge zur tur-
hessischeu Frage eingebracht sind, einer aus der Fraction Grabow und einer
aus der Fortschrittspartei. Der Unterschied der beiden Anträge liegt haupt¬
sächlich nur in der Fassung. Die einzige sachliche Differenz dürfte die sein,
daß der Antrag der Fortschrittspartei außer der Verfassung von 1831 noch
ausdrücklich das Wahlgesetz von 1849 hervorhebt, während der Antrag der
Grabowianer nur im Allgemeinen die „Miederherstellung des verfassungs¬
mäßigen Rechtszustandes in Kurhessen" verlangt, und es dahin gestellt sein
läßt, ob das Wahlgesetz von 1849 mit dahin gerechnet werden soll. Bekannt¬
lich war Herr v. Sckleinitz auf dieses Mahlgesetz nicht gut zu sprechen; es
galt ihm als zu demokratisch. Graf Bernstovff wird Wohl nickt besser darüber
denken. Man möchte hier lieber zu dem Wahlgesetz von 1831 zurückspringen,
welches konservative Garantien bietet; obgleich man sich nicht verhehlen kann,
daß dabei dem Princip der Nechtscontinuität. auf welchem die preußische Po¬
litik in der kurhessischen Sache beruht, die Spitze abgebrochen wird. Aber
diese Differenz ist nicht von der Bedeutung, daß darüber die liberalen Frac-
tionen sich spalten dürften. Der Hauptpunkt bleibt immer, daß der Grund¬
satz der Anknüpfung an das alte Recht gewahrt werde. Hierüber sind alle
liberalen Fractionen einig, und es wird die Aufgabe der Commission sein,
eine Formel zu finden, in welcher dieser Grundsatz einen präcisen und
entsprechenden Ausdruck erhält. Wer hier eigensinnig an Nebenpunkten
festhalten wollte, würde unverantwortlich handeln. Denn eine Uneinigkeit
der liberalen Fractionen könnte leicht die Folge haben, daß beide Anträge ver¬
worfen werden. Wenn die Fraction Grabow gegen die Fortschrittspartei und
diese wiederum gegen jene stimmt, und wenn, wie man vermuthen darf, die
Ultramontanen und Reactionäre sich gegen beide Anträge erklären, so würde
jedesmal die Majorität für die Verwerfung gestimmt haben.
Es ist daher nicht daran zu zweifeln, daß in dieser Frage die Rechte
und die Linke und die beiden Mittelfractionen sich einigen werden über das,
was für Kurhessen zu fordern ist. Schwieriger ist die Frage, durch welche
Mittel das Recht wiederhergestellt werden soll. Für gütliche Vorstellungen ist
man in Kassel taub; eine bewaffnete Intervention ist ein Gedanke, zu dem
man sich hier nicht versteigt. Es bleibt also nur die Nichtintervention übrig.
Bedeutet diese nothwendig die Erhaltung des jetzigen «Wtus ciuo? Dann
wäre den armen Hessen nickt zu helfen. Aber die Berliner Allgemeine Zei¬
tung wird wohl Recht haben, wenn sie in dem ganz consequenten Festhalten
an dem Princip der Nichtintervention das beste Mittel sieht, um die surhes¬
sische Frage zu erledigen. Die Konsequenz der Nichtintervention erfordert,
daß man auel die Intervention Anderer nicht duldet. Wenn der Kurfürst
von Hessen unermüdlich daran arbeitet, sich das Schicksal seines Großvaters
zu.bereiten, so wird endlich einmal der Zeitpunkt kommen, wo die Frage er¬
örtert werden muß, ob der Bundestag vorkommenden Falls sich wieder
ebenso benehmen würde, wie 1830 bei Gelegenheit der Thronerledigung in
Braunschweig, oder ob derMursürst noch einmal auf Strafbaiern würde rend-
nen können. Das Unrecht in Kurhessen ist unter preußischer Mitwirkung ge¬
schehen. Das Mindeste, was die Hessen erwarten können, ist also, daß Preu¬
ßen sie nicht an der Wiederherstellung des Rechts hindere und auch nicht
dulde, daß Andere sie daran hindern. Es müßte erklären, daß von Straf-
baiern unter keinen Umstünden die Rede sein kann. Um diesen Standpunkt
zu wahren, müßte vielleicht die Armee mobil gemacht werden. Wenn der
Landtag für einen solchen Zweck sich zu jedem Opfer bereit erklärt, so hat er
sicher das ganze Land auf seiner Seite. Sobald man nur einen Zweck sieht,
wird man auch in dem Militärbudget nicht mehr allzu genau sein.
Während diese Dinge noch in der Schwebe sind, hat Herr v. Beust uns
mit einem weiteren sehr reichen und schätzbaren Material über die Frage der
Bundesreform erfreut. Wer die letzten umfangreichen Veröffentlichungen des
Dresdner Journals überblickt, muß der Thätigkeit des Herrn v. Beust alle
Anerkennung schenken und begreift kaum, wie derselbe noch Zeit behielt, in
seinen Mußestunden sich mit den „Kleinigkeiten" des Marquis de Flers zu be¬
schäftigen. Aber ob seine Thätigkeit auch eben so ersprießlich als umfang¬
reich ist, das ist eine andere Frage. Hier neigt man sich im Allgemeinen zu
der Ansicht, daß er nur leeres Stroh gedroschen hat. Der Widerspruch, wel¬
chen der sächsische Minister den Bedenken des Grafen Rechberg entgegenstellt,
mag sehr scharfsinnig sein. Aber wer hat Zeit, sich an solchen unfruchtbaren
dialektischen Spielen zu ergötzen? Nachdem das ursprüngliche Beust'sche Re-
formproject von allen Seiten als todtgeborcn anerkannt ist, haben diese aus¬
führlichen diplomatischen Erörterungen über dasselbe nur geringes Interesse.
Nur zwei Punkte in der sächsischen Depesche vom 22. Novbr. v. I. verdienen
hervorgehoben zu werden. Erstlich das Erstaunen über den Garantiegedanken,
welches selbst Herr v. Beust beim besten Willen nicht unterdrücken kann. So¬
gar die Kreuzzeitung erklärte sich außer Stande, diesen Gedanken zu fassen,
und unsere gute Sternzeitung nannte ihn transscendentale Jetzt sehen wir,
daß auch Herr v. Beust über eine solche Zumuthung des Grafen Nechberg
wie aus den Wolken gefallen ist. Wenn so die besten Freunde Oestreichs
denken, so brauchen wir uns über dieses Thema nicht zu erhitzen. Zweitens
constatiren wir mit Vergnügen, daß auch Herr v. Beust die mystischen und
überschwenglichen Ansichten des Grafen Rechberg über die Bedeutung des
Bundespräsidiums nicht theilt. Die kritischen Bemerkungen, welche diesem
Gegenstand gewidmet werden, dürften aus dem gesummten Inhalt der ver¬
öffentlichten sächsischen Depeschen die meiste überzeugende Kraft haben.
Während unsere Staatsmänner sich mit solchen Seifenblasen beschäfti¬
gen, scheinen sie es nicht zu bemerken, daß durch ein Täschenspielerkunststück
uns ein Herzogthum geraubt werden soll. Denn das ist die Bedeutung dessen,
was jetzt in Kopenhagen geschieht. Herr Hall erklärt feierlich, daß er Schles-
wig nicht incorponren wolle und gleichzeitig vollzieht er die Incorporation.
Er erklärt, daß Dänemark nur durch den deutschen Bund dahin gedrängt sei,
Holstein und Lauenburg aus der Gesamlntstaatsverfassung auszusondern, und
gleichzeitig benutzt er den übrig gebliebenen Rumpf des Neichsraths, um Schles¬
wig in eine constitutionelle Verbindung mit Dänemark zu bringen. Man hat
sich in Deutschland daran gewöhnt, die Incorporation Schleswigs für gleich¬
bedeutend mit der Ausdehnung des dänischen Grundgesetzes von 1849 auf
Schleswig zu halten. Dies ist ein Irrthum. Diese Art der Incorporation
würde jetzt gar nicht nach dem Geschmack der Dänen sein. Denn gälte in
Schleswig das dänische Grundgesetz, so hätten die Schleswiger auch alle die
staatsbürgerlichen Freiheiten, welche das Grundgesetz in reichem Maße gewährt.
Mit der Preßfreiheit, dem Associationsrecht, der Petitionssreiheit hätten sie
die wirksamsten Waffen gegen die fortwährenden Uebergriffe der Dänen. Die
Art der Incorporation, welche die Dänen jetzt betreiben, ist viel schliPirler.
Vermittelst des Rumpfreichsraths wollen sie Schleswig constitutionell mit
Dänemark verbinden und es definitiv von Holstein und also von Deutschland
lösen. Das wird in diesen Tagen in Kopenhagen ausgeführt. Was man
von deutscher Seite dagegen unternehmen will, darüber verlautet noch nichts.
Das Mindeste, was wir erwarten dürfen, bleibt immer, daß, solange wir die
factischen Zustände nicht ändern können, wenigstens die rechtliche Lage nicht
zu unserem Nachtheil alterirt werde. Jetzt aber wäre eine unvergleichliche
Gelegenheit geboten, unsere alten Rechtsansprüche wiederherzustellen. Noch
stehen wir immer auf dem Boden des Uebereinkommens von 1852. Damals
hat Deutschland das theuerste Recht der Herzogtümer, ihr Recht auf Verbin¬
dung mit einander, aufgegeben. Aber dagegen hat Dänemark versprochen,
Schleswig nicht zu incorponren und keinen irgend dahin führenden Schritt zu
thu». Diese beiden Zugeständnisse bedingen einander. Wenn Schleswig nicht
mit Holstein verbunden bleiben durfte, so sollte es auch nicht in eine consti¬
tutionelle Verbindung mit Dänemark treten, wenigstens in keine nähere Ver¬
bindung, als in welcher auch Holstein mit dem Königreich steht. Mit diesem Grund¬
satz steht eine für Dänemark und Schleswig gemeinsame Volksvertretung, wie sie
jetzt in Kopenhagen geschaffen wird, in unlösbaren Widerspruch. Dänemark
sagt sich damit grundsätzlich von dem Abkommen von 1852 los. Wir haben
keine Ursache, es dabei festzuhalten. Denn wir haben damals das schwerste
Opfer gebracht, indem die Verbindung Schleswig-Holsteins aufgegeben wurde.
Völkerrechtliche Vertrüge binden gegenseitig oder gar nicht. Durch das jetzige
Vorgehen Dänemarks ist das Abkommen von 1852 außer Kraft gesetzt.
Deutschland hat jetzt zu constatiren, daß es durch seine damals gegebenen Zu-
sicherungen nicht mehr gebunden ist. Dann kann es die Wiederherstellung
des alten Rechtszustandes, wie er vor 1843 bestand, verlangen; es kann die
alte Fahne Schleswig-Holsteins wieder erheben. Für das Abkommen von
1852, eine Frucht der Olmützer Politik, konnte sich Niemand begeistern. Es
war ein trauriges Ziel, so lange wir für die Durchführung dieses Abkommens
kämpften. Jetzt können wir es bei Seite schieben; erst damit gewinnt die
Populär gehalten, geschmackvoll ausgestattet, reich mit wohlausgcsührten Holz¬
schnitten illustrirt, die wir indeß schon anderwärts verwendet gesehen haben.
Für gebildete Laien bestimmt, wohlgeschrieben, klar und einfach, reich an Be¬
lehrung über die verschiedenen in der Atmosphäre wirkenden Kräfte und Verhältnisse.
Das bekannte Werk (für die, welche es noch nicht kennen, sei bemerkt, daß es
sich besonders ausführlich mit der Geschichte Griechenlands, Alexanders des Großen
und der Nachfolger desselben beschäftigt, Rom aber unberücksichtigt läßt) bedarf kei¬
ner weiteren Empfehlung. Neu sind in der gegenwärtigen Auflage die am Schluß
gegebnen Randglossen zu den Tragödien des Euripides, den der Verfasser, wie uns
scheint, nicht ohne Erfolg, gegen manche Angriffe der Neuem zu vertheidigen sucht,
und die sehr interessante» Beiträge zur Geschichte des weiblichen Geschlechts bei den
alten Völkern.^i^<oj1Vit, ein'^ t-'.-y ^.>«^i,l>,!r.'!,u I'M?- ^ 11-!<>
Der Verfasser war russischer Minister der Aufklärung, und wer wissen will',
was in Rußland Aufklärung heißt, mag sein Buch lesen. Ein im deutschen Sinn
Ausgeklärter wird es mit Achselzucken, vielleicht mit Widerwillen schon nach den er¬
sten Seiten weglegen. Wären die gelehrten Anmerkungen und Excursc nicht, so
könnte man fast meinen, die Schrift sei das naive Tagebuch eines Handwerksbur-
sehen, dem irgend ein ungeschickter Bearbeiter etliche sentimentale Lichter ausgesetzt
hätte. Der Versasser glaubt an alle, selbst die sinnlosesten Legenden und geräth
vor allen, selbst den abgeschmacktesten Reliquien (z. B. der Fußtapfe, die Jesus bei
der Himmelfahrt aus dem Oelberg in den Stein gedrückt haben soll) in augenver-
drchendc Verzückung. Seine Kenntniß der Geschichte ist höchst mangelhaft, seine
Kritik dessen, was er sieht und hört, gleich Null (glaubte er doch unter anderm sei¬
nem Dragoman, daß am Jordan Tiger- und Löwenjagden stattfinden). Ueberdies
ist die Reise schon vor fast zwei Jahrzehnten gemacht und sehr Vieles veraltet. Wir
vermuthen, Uebersetzer und Verleger haben hier dem deutschen Publicum nur
eine Kuriosität bieten wollen. Dazu ist das Gefasel des Herrn Ministers der Auf¬
klärung aber doch zu wenig amüsant und vor Allem zu weitschweifig.
Ein recht gutes, in jetziger Zeit, wo ein Krieg europäischer Mächte mit Mexico
droht, besonders interessantes Buch, zum Theil aus langjährige eigne Beobachtungen,
zum Theil auf Studium von Quellen gegründet, die wenigen zugänglich sein möch¬
ten. Der Rio bravo bei Norte ist der Grenzfluß zwischen Texas und Mexico, und
so umfassen die Mittheilungen des Verfassers zunächst Land und Leute, Naturerzeug-
nisse und Sitten in den Nordprovinzcn Mexicos: Tamaulipas, Neu-Leon und Coha-
huila, sodann aber geht der Verfasser zu einer Schilderung Mexicos und der Mexi¬
kaner überhaupt über, und zuletzt folgt eine ausführliche Darstellung der Kämpfe,
durch die sich das Land von der Herrschaft Spaniens losriß, der Bürgerkriege,
welche darauf begannen, der Trennung und des Eintritts von Texas in die Union
der Vereinigten Staaten von Nordamerika, des Kriegs zwischen letzteren und Mexico
und der Parteikämpfe, welche vom Frieden von Guadelupc Hidalgo bis auf die
Gegenwart die Mehrzahl der Provinzen dieser unglücklichen Republik zerfleischten.
Die Leser fanden in idem letzten Heften bei -Besprechung der mexicanischen Frage
einen Auszug von dem, was der Verfasser über das mexikanische Militär sowie
über die Ursachen des Conflicts zwischen der jetzigen Regierung und den verbündeten
drei europäischen Mächten sagt. So sei denn das Buch den Lesern bestens em¬
pfohlen.
Der als Militärschriftstcllcr rühmlich bekannte Versasser hat. von Mazzini und
Bcrtcmi engagirt und anfänglich zur Leitung eines Angriffs der mazzinistischen Frei-
schaaren auf das päpstliche Gebiet bestimmt, dann aber nach Sicilien abgegangen,
den Feldzug Garibaldi's bis zur Einnahme von Capua und dem Eintreffen der
Piemontesen mitgemacht und dabei vielfache Gelegenheit gehabt, den Gang der Dinge
nicht blos, sondern zugleich die innern Ursachen und die leitenden Persönlichkeiten
zu beobachten. Vieles in seinen Mittheilungen ist entschieden werthvoll, sehr Vieles
von dem, was die deutsche Presse über die Hauptereignisse und Hauptpersönlichkeiten
des denkwürdigen Frcischaarenzugs (beiläufig meist nach sehr gefärbten englischen
und französischen Berichten) brachte, erscheint nach Nüstow's Darstellung in anderem
Lichte, Giltiges als Uebertreibung, Anderes als offenbare Fälschung der Thatsachen.
Meinen wir nun dem Verfasser im Wesentlichen seiner Erzählung Glauben beimessen
zu müssen, so möchten wir doch Bedenken tragen, sein Buch als Geschichtsquelle
zu empfehlen. Einmal theilen wir nicht entfernt seine Meinung von Cavour und
der piemontesischen Politik überhaupt, eine Meinung, die in der Hauptsache die der
mazzinistischen Partei ist. Sodann aber dürste ihn sein Selbstgefühl, welches in
dem Gang der Schilderung fast die Rolle des Leitsterns spielt und oft recht un¬
bequem wird, Manches, was er gethan, in günstigerer, und Manches, was Andere
geleistet, in unvorthcilhastercr Beleuchtung gezeigt haben, als billig ist. Wer die
nach dieser Bemerkung nothwendigen Aenderungen am Inhalt vorzunehmen weiß,
wird aus dem Buche jedenfalls ein wahrheitsgetreueres Bild der Eroberung Neapels
für das Königreich Italien entnehmen, als aus den Relationen, die uns bisher
darüber zu Gesicht gekommen sind. Der Ton aber, in dem der Berichterstatter zu
sprechen beliebt, seine Neigung zu schlechten Witzen, seine Liebhaberei für gemeine
Ausdrücke verlangt einige Ueberwindung und hätte besser wo anders als in einem
Buche abgelagert werden können, welches doch wohl für die gute Gesellschaft be¬
stimmt ist.
Wie schon früher bemerkt, Beobachtungen und Erlebnisse aus dem Bürger¬
kriege zwischen Carlisten und Christinos, den der Verfasser auf Seiten der letzteren
mitgemacht hat und welcher hier in einer Form, die halb Wahrheit, halb Dichtung
ist, in seinen Hauptmomenten und seinen bedeutendsten Persönlichkeiten erzählt wird.
Die Beschreibung des Lebens im Lager der Carlisten, der Hofhaltung des Präten¬
denten, der Gefechte, Schlachten, Belagerungen ist sehr lebendig, nicht minder die
Schilderung verschiedener Privatabentcner, und so ist das Ganze als Unterhaltuugs-
lectüre bestens zu empfehlen.
Diese Lieferungen bilden den ersten Band des Sammelwerkes, welches aus
15 Bände berechnet ist und bis Mitte I8K4 vollendet sein soll. Der erste
Band geht bis „Armenwesen." Wir behalten uns eine ausführliche Besprechung
des Unternehmens für die Zeit vor, wo einige Bände complet sein werden, und
bemerken vorläufig nur, daß die neue Auflage gegen die erste sowohl an Reichhal¬
tigkeit und Zweckmäßigkeit des Inhalts, als hinsichtlich der Form der einzelnen Ar¬
tikel wesentlich gewonnen hat, und daß auch die Ausstattung mit Karten und Ab¬
bildungen (theils Stahlstich, theils Holzschnitt) noch mehr als bei jener den Anfor¬
derungen der Zeit entspricht und nicht wie dort mehr Decoration als nothwendige
Ergänzung des Textes ist.
Geschickte Zusammenstellung der neuesten Forschungen auf dem Gebiete der
Mythologie der Griechen und Römer, lebendig und allgemein faßlich geschrieben
und mit gutgewähltem und hübsch ausgeführten Holzschnitten ausgestattet.
Das Beste, was wir bis jetzt über die große afrikanische Kolonie Frankreichs gelesen
haben. Der Verfasser besitzt die erforderliche Bildung, hat ein gutes Auge und weiß das
Gesehene hübsch zu schildern, das Erlebte anmuthig zu erzählen. Dazu kommt, daß er
von Algerien mehr gesehen hat, als alle uns bekannten deutschen Reisenden vor ihm,
da er nickt wie diese sich mit einigen Ausflügen durch die leichter zugänglichen Land¬
striche begnügt hat, sondern auch tief ins Innere, unter anderen in das Kabylcn-
land und uach mehren Oasen der Wüste vorgedrungen ist. Daß die Reise bereits
vor sechs Jahren gemacht wurde, thut dem Buche schwerlich Eintrag, da unter
Völkern des Orients und namentlich unter so wenig cultivirten wie den Arabern
und Mauren Algiers der Strom der Kulturgeschichte sich nur unmerklich bewegt.
Schildert die Beobachtungen des Verfassers in Rom und Neapel und gibt
Porträts von Pio Nouv und Antvnelli, Mazzini und Garibaldi im Lichte eines
avancirten Liberalismus, der bisweilen die realen Bedingungen des Handelns über¬
sieht, nah namentlich bei feinem Urtheil über die picmontesischc Politik stark her¬
vortritt. Im Uebrigen entwickelt er viel, manchmal zu viel Witz und Geist, so daß
mehre Seiten eitel Feuilleton und Arabeske, einige Kapitel (man vergleiche den Be¬
such bei Antonclli) pures Brillantfcuerwcrk sind, von denen man nicht viel mehr
behält als den Geruch des verpufften Pulvers. Andere Abschnitte dagegen sind sehr
lehrreich. Von besonderm Interesse waren uns die Auszüge aus Monsignorc Live-
rnni's Schrift über die römische Frage. Man hat About als übertreibender Pam-
Pbletistcn angesehen. Hier spricht ein hoher römischer Prälat über denselben Ge¬
genstand, und siehe da, er bestätigt das französische Pasquill vollständig. Wir be¬
halten uns einige weitere Mittheilungen aus dem Buche vor und geben hier nur
den Anfang des vierten Kapitels, welches „das weltliche Principal der heil. Kirche
die Beute einer Sippschaft und Clique unter dem Ministerium Antonclli" über¬
schrieben ist. „Wenn die französische Armee fortginge ohne einen starken Ersatz,
der dem römischen Klerus das Leben rettete, so wären im Laufe einer Woche alle
Priester und Mönche ermordet. Es ist nämlich nicht wahr, was die französischen
Apologeten sagen, daß der Gegensatz als ein künstlicher betrachtet werden müsse.
Dieser Gegensatz zwischen Volk und Regierung ist wahr und berechtigt, die Na.
gierung ist unerträglich, das Volt unzufrieden, unterdrückt, auf's Aeußerste gereizt.
Nur fremde Waffen vermögen den Statusquo zu halten, weil die Regierung ohne
alle materielle und moralische Gewalt ist. Ich bin weder liberal noch ein Feind
des Papstthums, wie meine Schriften bezeugen, weder betrogen noch getäuscht, habe
keine schielenden oder gewundenen Gedanken wider den heiligen Stuhl, ich habe stu-
dirt, kenne das Territorium (als Protonotar der Curie). Die Regierung des Car-
dinals Autonelli ist schlecht, nicht aus Mangel an Gesetzen, Institutionen, Codices,
Beispielen, sondern aus moderner Schuftigkeit (darattsria mocZsrng,)." Ein
Prälat darf das schreiben, nachdem Lord John Russell gesagt hat: „Das römische
Gouvernement sei das schlechteste und noch schlechter als das türkische." — „Das
Principal der heiligen Kirche", heißt es ferner, „ist in eine Schacher- und Wechsler-
gescllschaft aufgelöst, die Antvnelli und die römische Bank, das Monopol und die
Handelsfreiheit." Die römische Bank ist das Monopol der Familie Antvnelli, die
mit diesem und andern Mitteln das essende und trinkende Rom auf das Aeußerste
aussaugen, die Preise für die nothwendigsten Lebensbedürfnisse zu Gunsten ihres
Säckels auf das Ungeheuerste emporschrauben. Zehn Pfund Brot 25 bis 30 Ba-
ivcchi! ruft Livcrani aus. Man vergleiche doch nur die Brvtprcise mit den Korn¬
preisen auf dem großen Markt! Aller Zusammenhang, aller Sinn und Verstand
hört auf. Im Wi-meer von 185S auf 186S mußten die Franzosen täglich Tau¬
sende von Portionen Pasta unter die Hungerleider vertheilen, sie schützen also nicht
blos die Person des heiligen Vaters, sondern ernähren ihm auch noch seine Kin¬
der. Der gute Vater — it äsorkpito o mon^vo ?orit.iüoe, wie ihn Liverani nennt
— gibt 24,000 Scudi aus seiner Privatkasse zur Errichtung von Normal¬
bäckereien, zu Prämien für das wohlfeilste Brot, und siehe da, diese 24,000 Scudi
gehen direct in das durstige Schilf der Bank Antonclli's.
Der Verfasser ist als verdienstvoller Jugendschriftsteller bekannt. Wenn er
sich hier eine größere Aufgabe gestellt hat, so konnte es ihm nicht beifallen, als
Forscher aufzutreten. Seine Absicht war nur, was die gelehrte Forschung zu
Tage gefördert, in einer Auswahl des Wichtigsten zum Gemeingut zu »rächen, und
das ist ihm, soweit sich nach diesen vier Lieferungen (die bis auf Kurfürst Joa¬
chim II. gehen) urtheilen läßt, wohl gelungen. Er sieht die preußische Geschichte
mit den rechten Augen an, findet im Ganzen den rechten Ton für das Volk und
kann so auch außerhalb Preußen viel Gutes wirken. Freilich ist's ihm auch
leicht gemacht; denn welches deutsche Land hätte eine Geschickte, wie das der Hohen-
zollern, welches einen Fürsten auszuweisen, der sich auch nur entfernt mit dem gro¬
ßen Kurfürsten oder gar mit Friedrich dem Einzigen vergleichen ließe? Die beige-
gebncn Holzschnitte find großentheils hübsch, doch würde es nichts schaden, wenn
auf den Druck dieses artistischen Theils des Buches etwas mehr Sorgfalt verwendet
würde.
Bringt eine recht ansprechende Abhandlung von Talvj über die deutschen Schrift¬
stellerinnen bis auf den Beginn der classischen Periode, eine Charakteristik der Wirk¬
samkeit Daniel Mamin's von Hermann Reuchlin, die viel interessantes Detail ent¬
hält, ferner eine Skizze des häuslichen und öffentlichen Lebens der Römerinnen
im Alterthum von Heinrich Asmus, die auch andere Seiten des altrömischen Lebens
in gründlicher, geschmackvoller und für das größere gebildete Publicum verständ¬
licher Weise beleuchtet, endlich einen sehr lesenswerthen Aufsatz Heinrich Rückert's
über deutsches Nationalbewußtsein und Stammcsgcfühl im Mittelalter.
Jene hochgesegnete Epoche unserer Geistesbildung, die, mit Lessing beginnend'
sich in Schiller zu ihrer idealen Verklärung erhebt und in Goethe ihre Voll¬
endung feiert, soll in der harmonischen Verbindung der Standbilder dieser drei
Heroen jetzt hier ihre dauernde Verherrlichung finden- dem Standbilde Schillers,
zu dem am Jubelfeste des geliebten Dichters die allgemeinste und innigste Verehrung
den Grundstein legte, sollen die Standbilder Goethes und Lessings zur Seite
treten, und, mit ihm, dem Vorplatze des Königlichen Schauspielhauses dieser deut¬
schen Hauptstadt den reichsten und edelsten Schmuck verleihn.
So ist es jetzt entschieden; und wie die freudigen Opfer des Dankes für
Schiller längst gesammelt sind, und für Goethe in hoffentlich naher Frist ge¬
sammelt sein werden, so dürfen wir sie, der gnädigen Zustimmung unseres Königs
gewiß, nun auch für den Verfasser des Laokoon und der Hamburgischen
Dramaturgie, sür den Schöpfer der Minna von Barnhelm, der Emilia
Galotti, des Nathan, vereinigen; — für ihn, der in Sprache und Kritik bahn¬
brechend und gestaltend voranging, daß Schiller und Goethe mit ihren Siegen
folgen konnten, der unsere Kunst von den falschen Regeln des Auslandes entfesselte
und ihr den Verlornen Adel der Natur zurückgab, dessen ganzes Leben ein rastloser
Kampf für Wahrheit und Recht, für Licht und Schönheit war. der, nur auf sich
und seine Pflicht gestützt, die Ueberzeugungen seines deutschen Herzens unüberwind¬
lich vertheidigte und für immer unverlierbar machte.
Die Zeitgenossen haben den Lohn dieses Kampfes nicht gespendet, und auch
dem Vollendeten ist seither nur dort, w? er die Stätte seines unstörbaren Friedens
fand, ein würdiges Denkmal gesetzt worden.
Jetzt der Unvergünglichkeit seiner Verdienste den schuldigen Tribut der gemein¬
samen Huldigung darzubringen-, mit sein Andenke», mit den theuersten Erinne¬
rungen unseres nationalen Ruhmes vereinigt, in sichtlicher Erkennbarkeit den kom¬
menden Geschlechtern zu überliefern, ist das vaterländische Unternehmen, woran in
wetteifernder Treue Theil zu nehmen wir Alle, die in Lessing den großen Schrift¬
steller und Charakter verehren, Alle, die sich in ihm verpflichtet fühlen, Alle, die
das Bild des edlen Mannes in ihrem Herzen tragen, mit fester Zuversicht aufrufe».
Für Preußen, das ihm so werth war, und von dessen Friedrich er in
bewundernder Liebe sang-
Er ist der Fürsten Fürst, er ist der Held der Helden,
Er füllt die Welt und meine Brust!
sür Preußen ist unsere Zuversicht Gewißheit.
Schon gab unsere huldreiche Königin den ersten Beitrag.
Zur Empfangnahme der ferneren Beiträge und zu deren Einzeichnung in das
Beitrags-Verzeichniß für das Lessing-Standbild in Berlin werden, neben dem Schatz¬
meister, sämmtliche Unterzeichnete bereit sein.
Baudouin, Geheimer Commerzicn-Rath, Aeltesten-Vorsteher der Corporation der
Kaufmannschaft. Leipziger-Straße Ur. 110. 111. — von Beth ma n n-Hollweg,
Staatsminister und Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegen¬
heiten. Unter den Linden Ur. 4. — Blocmer, Ober-Tribunals-Nuth. (Vorsitzen¬
der,) Zimmer-Straße Ur. 68. — Le Coq, Kaufmann. Neue Friedrichs-Straße
Ur. 37. — Dr. Joh. Gust. Droysen, Professor. Victoria-Straße Ur. 13. —
Fried la end er, Geheimer Ober-Iustij-Rath. Askauischer Platz Ur. 3. — Dr. Ri¬
chard Gosche, Professor. Ritter-Straße Ur. 3S. — F. W. Gubitz, Professor
der Königliche» Academie der Künste. Koch-Straße Ur. 70. — Guttentag, Buch.
Händler und Stadtverordneter. Unterwasser-Straße Ur. 7. ^— He dem an», Bürger¬
meister und Geheimer Regierungs-Nath. Schöneberger-Straße Ur. 11. — Hübcner,
Oder-Bau-Director. Hirschel-Straße Ur. 4. — von Hülsen, General-Inten¬
dant der Königlichen Schauspiele. Dvrvthecn-Straße Ur. 13. — Dr-. Kraus niet,
Ober-Bürgermeister und Geheimer Ober-Regierungs-Rath. Mohren-Straße Ur. 41.
— Ernst Kühn, Buchdruckerei-Besitzer. Kronen-Straße Ur. 33. —- Ro¬
bert Lessing. Gerichts-Assessor. (Schriftführer.) Behren-Straße Ur. 63. — Dr.
O. Lindner (Stellvertreter des Schriftführers). Redaction der Vossischen Zei¬
tung. Breite-Straße Ur. 8. — Lüttig, Vorsitzender der Stadtverordneten-Ver¬
sammlung. Post-Straße Ur. 11. — I)r. G. Magnus, Professor, zeitiger Rector
der Königlichen Friedrich-Wilhelms-UniversttÄt. Kupfer-Graben Ur. 7. — Mendels¬
sohn, Geheimer Cvmmerzien-Rath. Jäger-Straße 51. — Jacques Meyer,
Fabrik-Besitzer. (Stellvertreter des Schatzmeisters.) Köpnicker-Straße Ur. 18—20.
— or. G. Parthey, Buchhändler, Mitglied der Academie der Wissenschaften.
Brüder-Straße Ur. 13. — I)r. von Peucker, General der Infanterie und Ge¬
neral-Inspecteur des militärischen Erziehungs- und Bildungswesens der Armee.
Bellevue-Straße Ur. 12. — Dr. von Raumer, Professor und Geheimer Rath.
Koch-Straße Ur. 67. — Leonor Nei chenheim, Cvmmcrzien-Nath. (Schatzmci^
ster.) Spandauer-Straße Ur. 16. sah äffer, Stellvertreter des Vorsitzenden der
Stadt-Acrvrdneten-Versammlung. Jäger-Straße Ur. 61. — I. E. schriller, Ge¬
heimer Ober-Post-Rath. Kvthencr-Straße Ur. 6. — Dr. Johannes Schulze,
wirklicher Geheimer-Ober-Regierungs-Nath. (Stellvertreter des Vorsitzenden.) Kupfer-
Graben Ur. 6. —^ Dr. öd. Simson, Appcllativnsgerichts-Vice-Präsident in Frank¬
furt a. d. Ö. — Dr. A. Tochter, Professor. Kommandanten-Straße Ur. 84. —
Dr. M. Veit, Stadtverordneter. Leipziger Platz Ur. 18.— Robert Warschauer.
Commerzicn-Rath, Stellvertreter des Aeltesten-Vorstehers der Corporation der Kauf¬
mannschaft. Behren-Straße Ur. 48. — von Webern, General-Lieutenant a. D.
Friedrichs-Straße Ur. 191. — or. A. T. Woeniger, Stadtrath. Louisen-Strnße
Ur. 36.
Die theils schon vollzogene, theils nahe bevorstehende Einführung des
allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuchs in dem größten Theile Deutschlands
wird es rechtfertigen, wenn wir in diesen Blättern nochmals auf dasselbe zu¬
rückkomme».
Die Empfindungen, mit denen das Publicum auf diese neueste That ein¬
heitlich nationaler Gesetzgebung blickt, sind verschiedene, je nachdem bei der
Beurtheilung mehr der politische oder der rein sachliche Gesichtspunkt vor¬
waltet. In politischer Hinsicht lassen sich dieser Schöpfung des Bundestages
hauptsächlich zwei Vorwürfe machen, die —- so verschieden ihre Ausgangs¬
punkte sind — beide darin übereinstimmen, daß sie, von dem inneren Werthe
des Gesetzes absehend, hauptsächlich gegen die Art des Zustandekommens
desselben gerichtet sind.
In der That können auf der einen Seite die ständischen Vertretungen
der einzelnen deutschen Bundesstaaten, wie dies auch theilweise geschehen ist,
mit Grund darauf hinweisen, daß durch ein legislatorisches Verfahren wie das
bei Abfassung des A.D. H.G.B, eingeschlagne die verfassungsmäßigen
Rechte der Kammern in den einzelnen Staaten wesentlich beeinträchtigt wer¬
den. Denn wenn auch den Kammern formell das Recht gewahrt sei, ein aus
diese Weise durch die Commissäre der einzelnen Regierungen berathenes Ge-
setzeswerk zu verwerfen, so könne doch dem großen Werthe einer einheitlichen
Gesetzgebung gegenüber Niemand daran denken, von diesem Rechte der Ab¬
lehnung wirklich Gebrauch zu machen und es bleibe daher selbst bei den
gegründetsten Bedenken gegen den Inhalt des Gesetzes kaum etwas Anderes
übrig, als den vorgelegten Entwurf einfach «n dive anzunehmen. Ein der¬
artiges Verfahren sei aber namentlich nach den Erfahrungen, die man bezüg¬
lich der Tendenz des Bundestages, seine Machtsphäre auf Kosten der constitu-
tionellen Rechte der einzelnen Landesvertretungen zu erweitern, bereits ander¬
wärts gemacht habe, in hohem Grade bedenklich.
Von der anderen Seite können diejenigen, welche die freie Vereinbarung
Preußens mit den übrigen deutschen Bundesstaaten als die einzige Form be»
trachten, in der sich, gleichviel auf welchem Gebiete, der nationale Fortschritt
zu vollziehen habe, sich von ihrem Standpunkte aus beklagen, daß Preu¬
ßen diesen bei der Schöpfung der allgemeinen deutschen Wechselordnung mit
so großem Erfolg betretenen Wege grade in einer so hochwichtigen Angele¬
genheit verlassen und durch Beschickung einer vom Bundestage zur Schöpfung
einer einheitlichen Gesetzgebung ausgeschriebenen Conferenz dem entgegenge-
setzten Principe gewissermaßen eine Concession gemacht habe.
Indessen läßt sich denjenigen, die um die Wahrung der constitutionellen
Rechte der Kammern in den Einzelstaaten voll Sorge sind, erwiedern, daß,
wo es sich um die nationale Einigung auf irgend welchem Gebiete handelt,
dem Patrioten schwerlich ein Opfer zu groß scheinen darf und daß übrigens
die deutsche Handelswelt es ihnen sicher keinen Dank wissen würde, wenn sie
das dargebotene Geschenk eines allgemeinen deutschen Handelsreches blos um
constitutioneller Bedenken willen ablehnen wollten.
Die Anderen aber, denen vor Allem der preußische Standpunkt am Her¬
zen liegt, mögen sich damit beruhigen, daß Preußens Verdienst um das Zu¬
standekommen des allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuchs nicht geringer als
um die Schöpfung der allgemeinen deutschen Wechselordnung und der ge-
sammten deutschen Nachdrucksgesetzgebung, glso alles dessen ist, was die Deut-
sehen überhaupt seit langer Zeit Gemeinsames auf dem Gebiete des Privat¬
rechts geschaffen haben. Gleich dem der Wechselconferenz im I. 1847 zu Grunde
gelegten Entwürfe ist auch der Entwurf, der dem A.D. H.G.P, zur Grund¬
lage gedient hat, von preußischen Rechtsgelehrten verfaßt, es ist serner der
Zusammentritt der Nürnberger Conferenz nicht minder als der Leipziger Con¬
ferenz hauptsächlich von Preußen betrieben; es ist weiter Preußens Com-
missär bei der Conferenz von derselben mit der wichtigen Rolle des Referen¬
ten betraut, und endlich ist das neue Gesetzbuch in Preußen zuerst und zwar
unter ausdrücklicher Betonung der Wichtigkeit dieses Schrittes für die Sache
der nationalen Einigung — von den Kammern einstimmig angenommen wor¬
den. Preußens Rolle ist daher auch hierbei eine so große und segensreiche
gewesen, daß ihm der aufrichtigste Dank aller derer gebührt, die in der na¬
tionalen Einigung der Deutschen aus dem Gebiete des Rechtes den Vorläufer
der Einigung auch auf anderen Gebieten erblicken. Aber auch der Dank
derer ist ihm gewiß, die, von allen dergleichen Erwägungen absehend, lediglich
die Sache selbst im Auge haben und sich darauf beschränken, das allgemeine
deutsche Handelsgesetzbuch ausschließlich vom Standpunkte des praktischen
Geschäftsmannes zu prüfen.
Die nachstehenden Zeilen sind dazu bestimmt, von diesem Gesichtspunkte
aus den Lesern dieser Blätter einen kurzen Umriß des Inhalts dieses wich¬
tigen Gesetzeswelkes zu geben.
Ueber die Entstehung des A. D.H. G.B- sei hier nur so viel bemerkt,
daß, nachdem die würtenbergische Regierung bereits früher die Anbahnung
einer gemeinsamen Handelsgesctzgebung wiederholt befürwortet, auch eine vom
Reichsministerium der Justiz zu diesem Zwecke ernannte Commission dahinzielende
Vorschlage im Jahre 1849 ausgearbeitet hatte, die preußische Regierung sich
zuerst wieder der Sache praktisch annahm, indem sie durch juristische Com¬
missarien unter Zuziehung von Sachverständigen einen Entwurf zu einem
H.G.B, ausarbeiten ließ, der im Jahre 1856 in der Hauptsache vollendet
war und um so eher als geeignete Grundlage einer gemeinsamen deutschen
Handelsgesetzgebung betrachtet werden konnte, als dabei die Hauptelemente
der in Deutschland überhaupt geltenden Rechte, nämlich das gemeine Recht,
das preußische Landrecht und das in den Ländern des französischen Rechtes
geltende System gleichzeitig berücksichtigt worden waren. In dessen Ge¬
mäßheit beschloß die Bundesversammlung (Bundesbeschluß vom 17. April
und vom 18. December 1856) aus eine anderweite Erinnerung der bäu¬
rischen Regierung die Niedersetzung einer Commission zum Zwecke der Ab¬
fassung eines Entwurfs zu einem A. D. H. G. unter angemessener Benutzung
des vorhandenen Materials und der ihr mitgetheilten Borarbeiten, und lud
die Bundesregierungen ein, demgemäß rechtsgeiehrte Commissarien und Sach¬
verständige nach der zum Sitze der Conferenzen erwählten Stadt Nürn¬
berg abzuordnen, und ihre Commissarien in der Weise mit Instruc-
tion zu versehen, daß dieselben über die vorkommenden Fragen in der
Regel ohne weitere vorgängige Rückfragen ihre Stimmen abzugeben ver¬
möchten.
Die ernannten Commissarien traten demnächst in Nürnberg zusammen und
beschlossen, nachdem die Conserenz am 15. Januar 1357 förmlich eröffnet
war. den preußischen Entwurf zur Grundlage der Berathungen anzunehmen,
den Bevollmächtigten Preußens gleichzeitig mit dem Referate, mit dem Vor-
sitze aber den östreichischen Bevollmächtigten zu betrauen.
Die einzelnen Stadien der umfangreichen und wegen der Mannigfaltig¬
keit der zu berücksichtigenden Rechte und Interessen äußerst schwierigen Arbeit
wollen wir hier nicht näher erörtern und nur bemerken, daß die am 2. Juli
1857 vollendete erste Lesung 93, die zweite am 3. März 1853 geschlossene
Lesung des Entwurfs aber 176 Sitzungen in Anspruch nahm und daß hier-
aus zunächst das Seerecht, und zwar in Hamburg, ebenfalls auf Grundlage
des preußischen. Entwurfs in zweimaliger Lesung in der Zeit vom 26. April
1858 bis 22. August 136« endgültig festgestellt wurde.
Jetzt trat aber eine für das Zustandekommen des ganzen Werkes ge-
fährliche Krisis ein, die hier nicht in den Einzelheiten beleuchtet werden kann,
die aber einen neuen Beleg dazu liefert, wie unsäglich schwierig es ist, ein-
seine Regierungen, selbst wo es sich um die wichtigsten Interessen des deut¬
schen Volkes handelt, zu einiger Nachgiebigkeit zu vermögen.
Da es nämlich auf der Hand lag. daß das gemeinsame Werk nie zu
Stande kommen würde, wenn jede der bethätigten Regierungen hartnäckig auf
ihrem Standpunkte beharren und an den von ihren Commissarien ver-
fochtenen Principien festhalten wollte, so hatte sich die preußische mit der
östreichischen und baierischen Negierung dahin verständigt, nicht nur selbst
die etwaigen Erinnerungen gegen den Entwurf der zweiten Lesung möglichst
zu reduciren und die dritte Lesung lediglich auf die Erledigung dieser Er¬
innerungen zu beschränken, sondern auch die anderen betheiligten Regierungen
im Interesse des Zustandekommens eines gemeinsamen Rechtes zu einem
ähnlichen Verhalten aufzufordern. Es ergab sich aber bald, daß die Ueber¬
zeugung von der Nothwendigkeit dieses Verfahrens von mehreren anderen
Regierungen nicht gleichmäßig getheilt wurde, da die Zahl der im Ganzen
gegen den Entwurf zweiter Lesung erhobenen Einwendungen eine ganz un-
verhältnißmüßige war und sogar die Zahl der sämmtlichen Artikel des Ent¬
wurfs erheblich überstieg. Die Regierungen von Preußen, Oestreich und
Baiern sahen sich daher veranlaßt, ihre Ansicht über die Möglichkeit des Zu¬
standekommens des Handelsgesetzbuchs in gleichlautenden Noten an die übri¬
gen Bundesregierungen darzulegen und dabei zugleich ihrerseits mit gutem
Beispiele voranzugehen, indem Oestreich auf alle und jede Einwendung ge¬
gen den Entwurf zweiter Lesung verzichtete, Preußen und Baiern aber je¬
des nur sechs Erinnerungen festhielt. Als es endlich hierauf zur dritten Le¬
sung in Nürnberg kam (19. November 1860), wurde zwar das von dem preu¬
ßischen Abgeordneten in Gemäßheit der ergangenen Noten vorgeschlagene ab¬
gekürzte Verfahren von einzelnen Staaten, unter denen sich namentlich Han¬
nover hervorthat, heftig bekämpft, schließlich aber dennoch, wiewohl unter
fortwährendem Einspruch dieser Staaten sowohl gegen das Verfahren selbst
als auch gegen die formelle Richtigkeit der von dem bairischen Justizminister
als Ehrenpräsidenten geleiteten Abstimmung, die dritte Lesung im Sinne
Preußens, Oestreichs und Baierns vorgenommen und die Konferenz mit der
589. Sitzung geschlossen, demnächst aber von der Bundesversammlung an
sämmtliche Bundesregierungen die Einladung erlassen, dem Entwürfe in ihren
Landen baldmöglichst und ungeändert Gesetzeskraft zu verschaffen.
Schließlich ist noch zu erwähnen, daß das A. D. H. G. in Sachsen, in
Gemäßheit des Einführungsgesetzcs vom 30. October 1361, am 1. März
1862 in Kraft treten wird und daß es außer hier in der Mehrzahl der Bun¬
desstaaten, namentlich auch in Preußen, Oestreich. Baiern, Würtemberg und
Nassau unverändert angenommen und beziehentlich eingeführt worden ist.
Dagegen sind neueren Zeitungsnachrichten zufolge die drei Hansestädte, Han-
mover, Oldenburg und Mecklenburg abermals zusammengetreten, um über an¬
geblich nothwendige Modificationen des Entwurfes gemeinsame Beschlüsse zu
fassen; die Idee eines allgemeinen deutschen Handelsrechtes scheint dem¬
nach auch jetzt noch vorläufig ein frommer Wunsch bleiben zu sollen.
Der Inhalt des Handelsgesetzbuchs zerfällt in fünf Bücher, von denen
das erste (Art, 4 bis 84) vom Handelsstande, das zweite (Art. 85 bis 249)
von den Handelsgesellschaften, das dritte (Art. 250 bis 265) von einer spe¬
ciellen Art derselben, nämlich der s. g. stillen Gesellschaft, das vierte aber
(Art. 27! bis 431) von den Handelsgeschäften handelt. Das fünfte Buch be¬
handelt in Art. 431 bis 911 das Seerecht und bedarf, da diese Materie für
das Binnenland nur ein sehr untergeordnetes Interesse hat, hier keiner
näheren Erörterung.
Dem Zwecke dieser Zeilen entsprechend werden wir uns in der Haupt¬
sache darauf beschränken, aus denjenigen Bestimmungen des H. G. B., die von
dem bisher geltenden Rechte am meisten abweichen, die wichtigsten auszu¬
wählen-, der Fortschritt in legislatorischer Beziehung wird sich dabei von selbst
ergeben.
Der Art. 1 der allgemeinen Bestimmungen stellt in ähnlicher Weise wie
dies bei dem neuen bürgerliche« Gesetzbuche für Sachen bezüglich des Ge¬
wohnheitsrechtes überhaupt ausgesprochen ist, das Princip auf, daß die Han-
delsgebräuchc den Bestimmungen des Handelsgesetzbuchs nicht derogiren sollen,
was um so zweckmäßiger ist, als entgegengesetzten Falles und wenn man den
Handelsgebräuchen auch gegenüber dem H. G. B. derogirende Kraft beilegen
wollte, der Zweck des H. G. B., nämlich ein gemeinsames, in ganz Deutsch¬
land geltendes Handelsrecht herzustellen, unmöglich erreicht werden könnte;
daß dagegen dem bürgerlichen Rechte durch die Handelsgebränche derogirt
werde, ist in demselben Artikel ausdrücklich ausgesprochen und bei der singu-
lären Natur des Handelsrechtes vollkommen in der Ordnung.
Art. 2 bestimmt, daß an der Wechselordnung durch das H. G. B. etwas
nicht geändert werde und
Art. 3 ordnet an, daß in Ermangelung eines besonderen Handelsge¬
richtes an dessen Stelle in allen Fällen, wo das H. G. B. von dem H. G.
spricht, das gewöhnliche Gericht zu treten habe. Für Sachsen ist gleichzeitig
in § 5 des Einführnngsgesetzes und § 1 der Ausführungsverordnung ange¬
ordnet worden, daß an allen Orten, wo ein Bedürfniß sich herausstelle, und
zwar zunächst an denjenigen Orten, wo sich Bezirksgerichte befinden, Han¬
delsgerichte errichtet werden sollen, während bisher ein Handelsgericht nur in
Leipzig bestand. Hiermit ist einem längst fühlbar gewesenen dringenden Be¬
dürfnisse abgeholfen, zugleich aber durch die Bestimmung, daß die zu den
Handelsgerichten zuzuziehenden Mitglieder aus dem Handelsstande gleich den
rechtskundigen Mitgliedern derselben stimmberechtigt fein sollen, die Reform
der Handelsgerichte selbst in zweckmäßiger Weise angebahnt worden.
Der erste Titel des ersten Buches handelt von den Kaufleuten insbe¬
sondere und trifft namentlich bezüglich der Handelsfrauen die zweckmäßigsten
Bestimmungen, unter denen einer neueren Entscheidung des Leipz. App. Ge¬
richtes gegenüber (mitgetheilt im Wochenblatt für merkwürdige Nechtssälle
N. F. 9. Jahrgang Uf. 38 S. 298) unter anderen hervorgehoben werden
mag , daß nach Art. 9 auch verhenaihete Handelsfrauen selbständig vor Ge¬
richt auftreten können und daß nach Art. 8 für Handelsschulden einer verhei-
ratheten Handelsfrau deren ganzes Vermögen ohne irgend welche Rücksicht
auf die Verwaltnngsrechte und den Nießbrauch des Ehemanns hasten soll.
Das im zweiten Titel eingeführte Institut der Handelsregister d.
öffentlicher Register, in denen die Handelsgerichte alle auf die Errichtung und
Auflösung einer Handelsfirma sowie auf die Ertheilung oder das Erlöschen
einer Procura bezüglichen Thatsachen einzutragen und zu veröffentlichen haben,
wird sicherlich je länger je mehr als dem Interesse des Handelsstandes ent¬
sprechend anerkannt werden, zumal die Frage, welche Folgen die unterlassene
Anzeige eines für den Eintrag bestimmten Factums Seiten dei Betheiligten
für diese selbst und Dritte haben solle, durchaus zweckmäßig dahin beant¬
wortet worden ist, daß je nach der Wichtigkeit oder der besonderen Natur des¬
jenigen Ereignisses, welches hätte eingetragen werden sollen, die Unterlassung
der Anzeige desselben bei dem Handelsgerichte entweder blos mit einer Ord-
nnngsstrafe zu ahnden ist, oder die civilrcchtliche Ungültigkeit des trotz der
NichtVeröffentlichung im Handelsregister abgeschlossenen Rechtsgeschäftes zur
Folge hat, oder endlich zwar auf die Billigkeit des Rechtsgeschäfts ohne Ein¬
fluß ist, aber für die Betheiligten in anderer Weise nachtheilig wird.
Die Bestimmungendes Titels S über die Handelsfirmen sowie des 7. Ti¬
tels über die Sensale bieten für unserer« Zweck nichts Besonderes dar, wie
denn auch dasjenige, was im 4. Titel über die Einrichtung, und- Führung
der Handelsbücher angeordnet ist. schon seither als Handelsbrauch wohl
allgemein beobachtet wurde; dagegen ist aus den Bestimmungen des 5., Titels
über die Procuristen hier zu bemerken, daß durch das Handelsgesetzbuch der
Geschäftskreis der Procuristen genau regulirt und zwar in den meisten Be¬
ziehungen gegen die bisherige Praxis erheblich erweitert worden ist, da nach
Art. 42 des H.G.B, der Procurist mit Ausnahme der Veräußerung und
Verpfändung von Grundstücken, wozu er einer besonderen Ermächtigung, be¬
darf, zu allen gerichtlichen und außergerichtlichen Geschäften und Rechts¬
handlungen, die im Betriebe eines Handelsgeschäftes vorkommen, berechtigt
ist. Eine Beschränkung des Umfangs der Procura in Betreff der Zelt, auf
welche, oder der Orte, an denen sie ausgeübt werden soll, ist Dritten gegen-
über nicht minder wie die Beschränkung, daß die Procura etwa nur für ge¬
wisse Geschäft« oder Arten van Geschäften gelten solle, ungiltig.
Endlich ist aus diesem Titel hervorzuheben, daß derselbe in Art. 50 and
51 manch« bisher controverse Fragen entscheidet und in Art. 52 das vom
römischen Rechte abweichende Princip aufstellt, daß durch die von Procuristen
gemäß der Procura abgeschlossenen Rechtsgeschäfte einzig und allein der Prin¬
cipal dem Dritten gegenüber berechtigt und verpflichtet wird, und zwar selbst
dann, wenn das Geschäft nicht ausdrücklich im Namen des Principals ge¬
schlossen worden ist.
Der sechste Titel handelt von dem rechtlichen Verhältnisse der Hand¬
lungsgehilfen gegenüber Dritten und dem Principale und enthält gleichzeitig
über Auflösung des Dienstverhältnisses derselben zweckmäßige Bestimmungen.
Das 2. und 3. Buch behandelt die Rechtsverhältnisse der Handelsge¬
sellschaften, bekanntlich eine der bestrittensten Rechtsmaterien; es konnte daher
nicht fehlen, daß bei der fundamentalen Verschiedenheit der hierüber gelten¬
den Bestimmungen der drei verschiedenen, bei Abfassung des Entwurfs zu
Grunde gelegten Rechtssysteme eine Einigung nur schwer zu erzielen war.
Für unseren Zweck genügt es hier hervorzuheben, daß die Ausfassung des
preußischen Entwurfs, wonach übereinstimmend mit der Praxis des franzö¬
sischen Handelsrechtes die Handelsgesellschaft in gewissem Sinne als juristische
Person betrachtet wird, im Wesentlichen in das Handelsgesetzbuch ^— freilich
Nur nach hartem Kampfe und erst bei der dritten Lesung — übergegangen ist.
Hiernach kommt der Handelsgesellschaft eine Art selbständiger Persön¬
lichkeit zu, vermöge deren sie ein besonderes von dem Privat-Äermögen der
einzelnen Gesellschafter getrenntes Vermögen besitzt und selbständig besondere
Rechte und Pflichten hat. Die Handelsgesellschaft kann daher (Art. 11,1)
unter ihrer Firma Rechte erwerben und Verpflichtungen eingehen, Eigenthum
und andere dingliche Rechte an Grundstücken erwerben, sowie vor Gericht
klagen und verklagt werden; ihr ordentlicher Gerichtsstand ist bei dem Gericht,
in dessen Bezirke sie ihren Sitz hat, gleichviel ob auch der persönliche Ge¬
richtsstand für die einzelnen Gesellschafter vor diesem Gerichte begründet ist
oder nicht. Andrerseits steht den Mitgliedern der Gesellschaft nicht ein an¬
theiliges Recht an den einzelnen Bestandtheilen des GeseUschaftsoermögcns
zu. sondern nur ein Rechnungsantheil an dem Ergebniß der schließlichen Aus¬
einandersetzung, und es können daher (Art. 119) die einzelnen Gesellschafter
und deren Privatgläubjger auch nur dasjenige in Anspruch nehmen, was
ihnen nach Befriedigung der sämmtlichen Gesellschaftsglüubiger aus dem Ge-
sellschaftsvermögen antheilig zufällt. Keineswegs aber sind die Privatgläu¬
biger eines Gesellschafters befugt, die zum, Gesellschaftsvermögen gehörigen
Sachen, Forderungen oder Rechte oder einen Antheil an denselben zu ihrer
Befriedigung oder Sicherstellung in Anspruch zu nehmen: Gegenstand der
Execution, des Arrestes oder der Beschlagnahme kann für sie vielmehr nur
dasjenige sein, was der Gesellschafter selbst an Zinsen und an Gewinnan¬
theilen zu fordern berechtigt ist, und was ihm bei der Auseinandersetzung
zukommt. Auch findet (Art. 121) eine Kompensation zwischen Forderungen
der Gesellschaft und Privatforderungen des Gesellschaftschuldners gegen einen
einzelnen Gesellschafter während der Dauer der Gesellschaft weder ganz noch
theilweise statt, und endlich werden (Art. 122) im Falle des Konkurses der
Gesellschaft die Gläubiger derselben aus dem Gesellschaftsvermögen abgeson¬
dert befriedigt und können aus dem Privatvermögen der Gesellschaft nur we¬
gen des Ausfalls ihre Befriedigung suchen. Das sächsische Einführungsgesetz
hat hierzu § 11 die höchst zweckmäßige Bestimmung getroffen, daß, wenn über
das Vermögen einer Handelsgesellschaft Konkurs eröffnet wird, der Konkurs
zugleich über das Privatvermögen eines jeden persönlich haftenden Gesell¬
schafters eröffnet werden soll; doch steht solchenfalls den Privatgläubigern der
persönlich haftenden Gesellschafter ein Absonderungsrecht in Bezug auf das
Privatvermögen der letzteren zu.
Die obigen Sätze enthalten zum größten Theil in der That nicht mehr
und nicht weniger als eine gänzliche Umwälzung des gemeinen Rechtes, und
es bedürfte daher des energischsten Zusammenwirkens Oestreichs, Preußens
und Beuerns, um sie in der Conserenz durchzusetzen: es unterliegt aber keinem
Zweifel, daß sie unseren heutigen Verkehrsverhältnissen und namentlich den
Ansichten und Wünschen des Handelsstandes selbst durchaus entsprechen.
Nicht minder erheblich sind dre Aenderungen des bisherigen Rechtes
in Bezug auf die einzelnen Formen der Handelsgesellschaften.
Das Handelsgesetzbuch unterscheidet nämlich fünf Arten von Handels¬
gesellschaften, die eigentliche oder offene, und ,in Gegensatze dazu die stille
Gesellschaft, ferner die Kommanditgesellschaft, die Kommanditgesellschaft auf
Actien und endlich die eigentliche Actiengesellschaft,
Bezüglich der ersten Art, der sogenannten offenen Handelsgesellschaften,
ist in der obigen Darstellung der allgemeinen Grundsätze, wie sie auf alle
Handelsgesellschaften gleichmäßig Anwendung leiden, das Bemerkenswerteste
bereits hervorgehoben worden, da sich die offene Gesellschaft des Handels¬
gesetzbuchs außer in jenen Grundzügen nicht weiter von der des bisherigen
Rechtes unterscheidet. Doch mögen hier noch folgende Bemerkungen Platz
finden. Die Legaldefinition der offenen Gesellschaft ist in Art. 85 dahin auf¬
gestellt, daß eine offene Handelsgesellschaft vorhanden ist, wenn zwei oder
mehrere Personen ein Handelsgewerbe unter gemeinschaftlicher Firma betrei¬
ben und bei keinem der Gesellschafter die Betheiligung auf Vermögensein¬
lagen beschränkt ist. Zur Giltigkeit des Gesellschaftsvertrags bedarf es, wie
gegen den Vorschlag des preußischen Entwurfs festgesetzt wurde, der schrift¬
lichen Abfassung oder anderer Förmlichkeiten nicht. Die Rechtsverhältnisse
der Mitglieder der offenen Gesellschaft unter einander sind in Art. 90 —109
dahin geregelt worden, daß dieselben sich zunächst nach dem Gesellschaftsverträge
richten und nur in Ermangelung desfallsiger Bestimmungen desselben nach den
einschlagenden Vorschriften des H. G. V. beurtheilt werden sollen. Zu er¬
wähnen ist aus den letztern nur. daß nach Art. 96 ein Gesellschafter ohne
Genehmigung der anderen Gesellschafter weder in dem Handelszweige der
Gesellschafter für eigene oder Rechnung eines Dritten Geschäfte machen, noch
an einer anderen gleichartigen Handelsgesellschaft als offener (wohl aber als
stiller) Gesellschafter Theil nehmen darf; daß serner nach Art. 100. wenn mehreren
Gesellschaftern die Geschäftsführung ohne die ausdrückliche Beschränkung, daß
keiner allein ohne den anderen handeln solle, übertragen worden ist, zwar jeder
derselben allein alle zur Geschäftsführung gehörenden Handlungen vor¬
nehmen kann, jedoch im Falle einer derselben Widerspruch gegen die Vor.
nähme einer Handlung erhebt, dieselbe unterbleiben soll und daß überdies
(Art. 104) zur Bestellung eines Prokuristen die Einwilligung aller geschäfts¬
führenden Gesellschafter nöthig ist, der Widerruf der Procura dagegen von
jedem der zur Ertheilung befugten Gesellschafter geschehen kann. Endlich
sind die Grundsätze über die Aufstellung der Jahresbilanz und die Berechnung
der Gewinn- oder Verlustantheile der einzelnen Gesellschafter abweichend vom
gemeinen Rechte im Ganzen den bisherigen Gebräuchen der Handelswelt
nachgebildet worden. Ju Betreff des Rechtsverhältnisses der Gesellschaft zu
dritten Personen sind die schon bisher geltenden wichtigen Grundsätze, daß
die einzelnett Gesellschafter für die Gescllschaftsschulden solidarisch und mit
ihrem ganzen Vermögen hasten und daß, wer in eine bestehende Gesellschaft
eintritt, auch sür alle von der Gesellschaft vor seinem Eintritts eingegangenen
Verbindlichkeiten haftet, in Art. 112 und 113 wiederholt und in Art. 123 bis
143 eingehende Vorschriften über die Auflösung und die Liquidation der Ge¬
sellschaft gegeben worden, von denen hier namentlich die Bestimmung des
Art. 126 hervorzuheben ist, wonach es dem Privatgläubiger eines Gesell¬
schafters, nach fruchtlos vollstreckter (Zxecution in das Vermögen des letzteren
und nachdem er die Execution in das dem Gesellschafter' bei dereinstiger Auf¬
lösung der Gesellschaft zukommende Guthaben erwirkt hat, freistehen soll, die
Gesellschaft aufzukündigen und deren 'Auflösung zu verlangen. Das Bedenk¬
liche dieser Vorschrift wird jedoch dadurch gemildert, daß solchenfalls die Auf¬
kündigung mindestens 6 Monate vor Ablauf des Geschäftsjahres geschehen
muß. sowie daß nach Art. 132 die übrigen Gesellschafter auf Grund eines
einstimmigen Beschlusses statt,der Auflösung der Gesellschaft die Auseinander¬
setzung und die Auslieferung des auf den Schuldner fallenden Antheils an
dessen Privatgläubiger vornehmen können; der betreffende Gesellschafter ist
dann natürlich als aus der Gesellschaft ausgeschieden zu betrachten. Endlich
ist in Art. 146 die höchst vernünftige Bestimmung getroffen worden, daß.
während bisher die Klagen gegen einen Gesellschafter aus Ansprüchen gegen
die Gesellschaft gleich allen übrigen Klagen erst in der für Klagen überhaupt
vorgeschriebenen Verjährungszeit, in Sachsen z. B. erst in öl Jahren, 6 Wochen,
3 Tagen verjährten, in Zukunft derartige Klagen bereits in 5 Jahren nach
Auflösung der Gesellschaft oder nach dem Ausscheiden des Gesellschafters oder
seiner Ausschließung aus der Gesellschaft verjähren sollen, womit unzweifel¬
haft einem längstgefühlten und höchst berechtigten Wunsche der Handelswel)
entsprochen ist.
Noch eingreifender wird das bisherige Recht in Bezug auf zwei andere
Arten der Handelsgesellschaften, nämlich die Commandit- und die stille Ge¬
sellschaft geändert. Während nämlich einerseits nach gemeinem deutschen
Rechte beide Gesellschaftsarten überhaupt durchaus identisch sind und andrer¬
seits, im Gegensatze zum rheinischen .Rechte, die stille oder Commanditge-
sellschaft des gemeinen deutschen Rechtes den Charakter einer Handelsgesell¬
schaft nur nach innen d. h. ini Verhältniß der Gesellschafter zu einander an
sich trügt, dagegen Dritten gegenüber gar keine Gesellschaft bildet, hat man -
sich im Handelsgesetzbuch dafür entschieden, die Lehre von der stillen und
Cvmmanditgesellschaft nach beiden Seiten hin in der Weise zu reformiren,
daß beide Gesellschaften von nun an streng getrennt erscheinen und zwar so,
daß die stille Gesellschaft des Handelsgesetzbuchs der stillen Gesellschaft des
gemeinen Rechtes entspricht, dagegen die Cvmmanditgesellschaft des Handels¬
gesetzbuchs dem französischen Rechte nachgebildet ist. Das Charakteristische
der stillen Gesellschaft liegt demnach darin, daß die Betheiligung des einen,
nämlich des s. g. stillen Gesellschafters Mit einer Vermögenseinlage an dem
von einem Andern unter seiner Firma betriebenen Handelsgeschäfte zunächst
und in sofern die geschehene Association nach außen hin gar nicht als solche
auftreten soll, nur zwischen den beiden Contrahenten rechtliche Wirkung her¬
vorbringt, wogegen die Commauditgesellschast umgekehrt gerade den Zweck
hat. nach außen hin, dem Publicum gegenüber, öffentlich zu constatiren, daß
außer dem Vermögen des gcschäftsführenden Gesellschafters, des s. g. Com-
plementars, auch die Vermögenseinlagen der andern Gesellschafter, der s. g.
Commcmditisten für die Schulden der Gesellschaft haften. Dem entsprechend
mußten denn auch die Vorschriften des Handelsgesetzbuchs über die Firmirung
und den Eintrag in das Handelsregister sowie über die rechtliche Natur der
Vermögenseinlage» des stillen Gesellschafters, beziehentlich des Commanditisten.
bei beiden Gesellschaften verschieden ausfallen. Wir müssen uns bezüglich
der ersteren darauf beschränken hervorzuheben, daß, während bei der stillen
Gesellschaft nach Art. 251 und 257 eine das Verhältniß einer Handelsgesell¬
schaft andeutende Firma gradez» verboten, auch ein auf die Association be¬
züglicher Eintrag in das Handelsregister nicht gestattet ist. umgekehrt die
Firma der Commanditgesellschaft zwar ebenfalls nicht die Namen des oder
der Commandilisten enthalten darf (Art. 1K8). wohl aber außer dem Namen
des persönlich haftenden Gesellschafters gleichzeitig einen das Verhältniß einer
Gesellschaft andeutenden Zusatz enthalten muß. und daß bei der Anmeldung
in das Handelsregister (nach Art. 151) außer den Namen der persönlich haf¬
tenden Gesellschafter zugleich die Namen und Vermögenseinlagen der einzelnen
Commandilisten angegeben werden sollen. Was dagegen die rechtlichen Ver¬
hältnisse der stillen Gesellschafter und Commanditisten zu den persönlich haf¬
tenden Gesellschaftern und Dritten gegenüber, sowie die rechtliche Natur ihrer
Vermögenseinlagen betrifft, so ergibt sich aus den Bestimmungen des Han¬
delsgesetzbuchs die wichtige Unterscheidung, daß der Commanditgesellschaft
gleich der offenen eine selbständige Persönlichkeit zukommt, vermöge deren
sie unter ihrer Firma Verbindlichkeiten eingehen. Eigenthum und andere ding¬
liche Rechte an Grundstücken erwerben und vor Gericht klagen und ver¬
klagt werden kann, sowie daß die Einlagen der Commanditisten einen Theil
des Gesellschaftsvermögens bilden, daß dagegen umgekehrt die stille Gesell¬
schaft ein derartiges von dem Vermögen des Geschäftsinhabers getrenntes
Vermögen nicht besitzt vielmehr der Einlagebetrag des stillen Gesellschafters
in jeder Beziehung in das volle Eigenthum des Geschäftsinhabers übergeht.
Hieraus ergibt sich sodann die weitere Folgerung, daß, während der Commcm-
ditist bezüglich seiner Einlage, da dieselbe einen Theil des Gesellschaftsver¬
mögens bildet, einerseits gegen alle etwaigen Ansprüche der Privatgläubiger
des Komplementärs vollkommen gesichert ist, andrerseits aber auch nach Höhe
dieser Einlage für die Gesellschaftsschulden unbedingt haftet, umgekehrt der
stille Gesellschafter nach beiden Seiten hin anders gestellt ist: da seine Ein¬
lage Eigenthum des Geschäftsinhabers wird, so hat er im Falle des Con-
curses des letzteren natürlich auch kein Recht, eine Sonderung der Geschäfts-
von den Privatgläubigern, oder des Handels- von dem übrigen Vermögen und
seine prioritätische Befriedigung ans diesem letzteren zu beanspruchen, anderer¬
seits aber ist er insofern wieder besser als der Commanditist gestellt, als er
vermöge seines persönlichen Forderungsrechtes an den Geschäftsinhaber be¬
züglich seiner Einlage nach Art. 258 auch den Handelsgläubigern gegenüber
nicht als Gesellschafter angesehen wird, sondern gleich denselben we^en seiner
Einlage, insoweit dieselbe den Betrag des auf ihn fallenden Antheils am
Verluste übersteigt, mit beim Concurse liquidiren darf. Im Uebrigen haben
beide, der Commanditist und der stille Gesellschafter, unter Anderem miteinander
gemein, daß sie nicht persönlich, sondern nur mit ihrer Einlage, beziehentlich
mit dem versprochenen Betrage für die Gesellschaftsschulden haften, daß es
zur Giltigkeit des Gesellschaftsvertrages weder im einen noch im anderen
Falle der schriftlichen Abfassung oder sonstiger Förmlichkeiten bedarf und daß
der Tod des Einen oder des Anderen an sich nicht die Auflösung der Ge¬
sellschaft zur Folge hat.
Eine besondere Art der Commanditgesellschaften bildet die Commandit-
gesellschaft auf Actien, deren gesetzliche Regulirung durch die Nürnberger Con-
ferenz umsomehr mit Dank anzuerkennen ist, als es bisher an einer eingehen¬
den Gesetzgebung in dieser Beziehung fehlte, gleichwohl aber diese Art der Ge¬
sellschaftsformation durch das praktische Bedürfniß hervorgerufen und be¬
reits hier und da in das Leben getreten war. Die. Kommanditgesellschaft
auf Actien hat begriffsmäßig das Eigenthümliche, daß das gesammte Ge-
sellschastscapital (nicht blos die Einlagen der stillen Gesellschafter) in Actien
zerlegt ist, was bei der dadurch den stillen Gesellschaftern gegebenen Mög¬
lichkeit, ihre Rechte an das vermögen der Gesellschaft mittelst Begehung ihrer Ac¬
tien ohne weitere Beschränkungen an Dritte zu übertragen, nicht nur im Interesse
des Verkehrs als ein erheblicher Fortschritt gegen die eigentliche Kommanditge¬
sellschaft zu betrachten ist, sondern sich auch speciell in Bezug aus die Commandi-
tisten durch die Erwägung rechtfertigt, daß es für den Dritten, welchem
der Commanditist in allen Fällen doch nur mit seiner Einlage haftet, gleich-
giltig sein kann, in welcher Form diese Einlage geleistet worden ist. Der
preußische Entwurf hatte denn auch, von diesem Gesichtspunkte aus¬
gehend, die Zerlegung des gesummten Gesellschaftscapilals, also auch
der Capitalantheile der verantwortlichen Gesellschafter, in Actien gestattet
und den mannigfachen im Interesse eines soliden Geschäftsbetriebes hiergegen
angeregten Bedenken durch strengere Form- und Controlvorschristen, sowie
durch das unbedingte Beibot der Ausstellung von Actien an xvrteur abzuhelfen
gesucht. Die Conferenz trat jedoch dem Entwürfe in diesem Punkte nicht bei,
sondern beschränkte, unter gleichzeitiger Beibehaltung der sonstigen in dem
Entwürfe vorgeschlagenen Sicherheitsmaßregein, die Zerlegung der Capital-
antheile in Actien ausschließlich auf diejenigen der stillen Gesellschafter (Art.
173), wogegen die Ausgabe von Actien aus die gesellschaftlichen Capitalan¬
theile der persönlich haftenden Gesellschafter in Art. 18t gradezu verboten
und überdies angeordnet wurde, daß auch diese den gedachten Gesellschaftern
zustehenden Capitalanthelle von denselben, solange sie in diesem ihrem Rechts¬
verhältnisse zur Gesellschaft stehen, nicht veräußert werde» dürfen. Es läßt sich
nicht verkennen, daß durch diese Bestimmungen gewissen finanziellen Opera¬
tionen, zu denen sich sonst die verantwortlichen Gesellschafter nur zu leicht
verlocken lassen könnten, am wirksamsten vorgebeugt ist. Denselben Zweck
der größeren Solidität des Verkehrs verfolgt auch die Bestimmung des Art.
173, daß selbst die Actien oder die Actienantheile der stillen Gesellschafter bei
Strafe der Nichtigkeit nicht auf den Inhaber, sondern ans Namen lauten
müssen und nicht ans einen geringeren Leitrag als 200 Vereinsthaler gestellt
sein dürfen, sowie die Vorschrift des Art, 174, daß Commanditgcsellschaftcn
auf Actien nur mit Genehmigung des Staates errichtet werden dürfen, und
endlich die Bestimmungen desselben Artikels und der Art. 175 bis 179 über
Form und Inhalt des Gesellschaftsvertrages sowie über die Einträge in das
Handelsregister. Uebrigens sind die Actien oder Actienantheile (Art. 182)
untheilbar, können aber gleich den Wechseln durch einfaches Indossament und
ohne eine weitere Förmlichkeit als die übertragen werden, daß der Uebergang
des Eigenthums der Actien — unter Vorlegung derselben und unter Nach¬
weis des Uebergangs — bei der Gesellschaft anzumelden und im Actienbuche
zu bemerken ist.
Endlich enthält Art. 184 die wichtige Bestimmung, daß, solange der
Betrag einer Aktie nicht vollständig eingezahlt ist, der ursprüngliche Zeichner
zur Einzahlung des Rückstandes an die Gesellschaft verpflichtet ist und von
dieser Verbindlichkeit nicht einmal durch die Gesellschaft selbst befreit werden
kann. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß auch diese Bestimmung ganz
im Interesse der Gcsellschaftsgläubiger liegt, denen nickt damit gedient sein
könnte, wenn an die Stelle der ursprünglichen zahlungsfähigen Actienzeichner
später unbemittelte Personen träten. Die Art. 185—206 regeln die Rechts¬
verhältnisse der Commanditisten den Complemcntaren und dritten Personen
gegenüber, sowie die Auflösung und Liquidation der Gesellschaft in einer
Weise, die im Ganzen den bisher bereits bei Actiengesellschaften überhaupt
geltenden Bestimmungen entspricht; der leitende Gesichtspunkt, der rin sächsi¬
schen Einführungsgesetze durch die in § 14 für gewisse Fälle betrüglichcn
oder sonst ordnungswidrigen Gebahrens Seitens der Complementare ange¬
drohten Gefängniß- resp. Geldstrafen einen noch schärferen Ausdruck als im
H. G. B. selbst erhalten hat, waren dabei auch hier, ebensowohl die Comman¬
ditisten gegenüber den Complementaren als das Publicum und speciell die
Gesellschaftsgläubiger gegenüber der Gesellschaft möglichst sicher zu stellen.
Mit der eben skizzirten Acticncommanditgcsellschaft nahe verwandt ist die
in Art. 207 — 249 behandelte eigentliche Aktiengesellschaft, von der ersteren
jedoch namentlich dadurch unterschieden, daß bei der eigentlichen Actiengesell-
schaft Art. 207 sich sämmtliche Gesellschafter nur mit Einlagen betheiligen.
ohne persönlich für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft zu hasten, und daß
demgemäß auch das gestimmte Gesellschaftscapital in Actien oder auch in Actien¬
antheile zerlegt wird. Die staatliche Genehmigung zur Errichtung der Ge¬
sellschaft ist auch hier wie bei der Kommanditgesellschaft aus Actien im All¬
gemeinen als nothwendig vorausgesetzt, der Particulargesetzgebung jedoch
vorbehalten worden, das Gegentheil zu bestimmen. Im Uebrigen sind im
Ganzen diejenigen Grundsatze in diesen Titel aufgenommen worden, die bis¬
her schon ziemlich allgemein galten und namentlich da, wo, wie in Sachsen,
die Genehmigung der Staatsregierung auch bisher zur Errichtung von
Actiengesellschaften mit Actien an porteui' eingeholt werden mußte, zur
Anwendung gebracht wurden. In Bezug auf die Einträge im Handels¬
register und deren Veröffentlichung sind die Actiengesellschaften den übri¬
gen Handelsgesellschaften gleichgestellt und in Art. 214 sogar angeordnet
worden, daß jeder Beschluß der Generalversammlung, welcher die Fortdauer
der Gesellschaft oder eine Abänderung der Bestimmungen des Gesellschasrs-
vcrtrages zum Gegenstande hat, im Handelsregister eingetragen und im Aus¬
zuge veröffentlicht werden soll; da der Gesellschaftsvertrag (Statut) und die
Genehmigungsurkunde nach Art. 210 ebenfalls bei den competenten Han¬
delsgerichten eingetragen und auszugsweise veröffentlicht werden müssen, so
war die erste Bestimmung nur eine Consequenz davon. Was übrigeus
die Art. 203 und 214 vorgeschriebene notarielle Beurkundung des Gesell-
schaftsvertrages und der gedachten Generaiv^rsammlungsbeschlüsse anlangt,
so wird es natürlich da keiner besonderen, nachträglichen notariellen Abfassung
bedürfen, wo, wie in Sachsen, bereits bisher ein Notar zur Abfassung des
Protokolls über die Verhandlungen der Generalversammlungen zugezogen
wurde.
Aus dem Abschnitt über die Rechtsverhältnisse der Actionäre ist hier be¬
sonders hervorzuheben, daß denselben Zinsen von bestimmter Höhe nach Art.
217 nur für den Zeitraum vor der Eröffnung des vollen Geschäftsbetriebes
ausbedungen oder gezahlt und daß Abschlagszahlungen auf die muthmaßliche
Dividende, im Gegensatze zu der bisher üblichen Praxis, nicht gewährt wer¬
den dürfen; namentlich wichtig aber ist, daß nach Art. 222 die bis zur Aus¬
gabe der eigentlichen Actien zu ertheilenden Interimsscheine nicht auf den
Inhaber lauten dürfen, so wie daß der Zeichner der Actie für die Einzah¬
lung von 40 Procent des Nominalbetrages der Actie unbedingt verhaftet
bleibt und von dieser Verpflichtung weder durch Uebertragung seines Rechtes
auf einen Dritten sich befreien noch Seiten der Gesellschaft entbunden werden
kann, daß vielmehr der Zeichner der Actie, wenn er wegen verzögerter Ein¬
zahlung seines Unrechtes aus der Zeichnung verlustig erklärt wird, dessenun-
geachtet zur Einzahlung von 40 Procent des Nominalbetrags verpflichtet bleibt.
Erst nach erfolgter Einzahlung dieses Betrags kann 5er Zeichner der Actie,
wenn dies im Statute angeordnet ist, von noch mehreren Einzahlungen be¬
freit werden. Diese Bestimmungen gelten jedoch nur dann, wenn es sich um
Actien g.u portsur handelt; sind dieselben auf Namen gestellt, so kommen
nach Art. 223 diejenigen Bestimmungen zur Anwendung, die bei der Comman-
ditgesellschaft auf Actien gelten und oben angeführt worden sind. Auch ist
der Particulargesetzgebung in Art. 249 vorbehalten worden, die in Art. 222
vorgeschriebene Einzahlung von 40 Procent des Nominalbetrags der Actie bis
auf 25 Procent herabzusetzen. Der dritte Abschnitt über die Rechte und Pflich¬
ten des Vorstandes enthält in Art. 227 bis Art. 242 die auffallende Bestimmung,
dah zu Borstandsmitgliedern auch Nichtactionäre gemahlt werden dürfen; es
verschwindet jedoch das Bedenkliche dieser Anordnung vor der Erwägung, dah
i» praxi die Actionäre in ihrem eigenen Interesse sicherlich immer nur Ac-
ticmäre in den Vorstand wählen werden, und dah es übrigens jedenfalls der
Staatsregierung vorbehalten bleibt, ihre Genehmigung der Statuten an die
Bedingung zu knüpfen, daß zu Vorstandsmitgliedern nur Actionäre erwählt
werden dürfen. Dagegen wird es allgemein Billigung finden, dah in Art.
240 dem Vorstande dann, wenn sich das Grundcapital nach der letzten Bilanz
um die Hälfte vermindert hat, bei Strafe persönlicher und solidarischer Haf¬
tung für den durch die Unterlassung der Anzeige entstandenen Schaden auf¬
gegeben ist, der deswegen einzuberufenden Generalversammlung sowie der zu¬
ständigen Verwaltungsbehörde hiervon, sowie wenn das Vermögen der Ge>
sellschaft nicht einmal die Schulden mehr deckt, dem Gerichte (diesem behufs
Eröffnung des Concurses) Anzeige zu machen. Die Verwaltungsbehörde kann
übrigens solchenfalls die Auflösung der Gesellschaft verfügen.
Schließlich muh noch besonders hervorgehoben werden, dah die vorstehen¬
den Bestimmungen selbstverständlich nur auf solche Actiengesellschaften Anwen¬
dung leiden, die im Sinne des Handelsgesetzbuchs als Handelsgesellschaften
anzusehen sind und daß daher Actiengesellschaften. die sich beispielsweise ledig¬
lich und Gewinnung von Kohlen und deren Vertriebe beschäftigen, gleich allen
anderen Producenten nicht davon getroffen werden.
Das vierte Buch des allgemeinen Handelsgesetzbuchs behandelt die Han¬
delsgeschäfte, und zwar im ersten Titel die Handelsgeschäfte im Allgemeinen,
in den vier folgenden Titeln aber die Hnnptarten derselben, nämlich den Kauf,
das Commissions-, das Speditions- und das Frachtgeschäft.
Wir müssen uns darauf beschränken, aus der Fülle des Stoffs das für
unseren Zweck Wesentlichste herauszuheben.
Der Begriff der Handelsgeschäfte wird dahin aufgestellt, daß nach Art. 271
der Kauf oder die anderweite Anschaffung iz. B. Tausch u. dergl. in.) von Waaren
oder anderen beweglichen Sachen zu in Zw cake der W eiterv e ra u her u n g, fer¬
ner die Uebernahme einer Lieferung derartiger Artikel, welche der Uebernehmer zu
eben diesem Zwecke anschafft, sowie die Uebernahme einer Versicherung gegen
Prämie, die Uebernahme der Beförderung von Gütern oder Reisenden zur See
und endlich das Darleihen gegen Verbodmung absolut als Handelsgeschäfte zu
betrachten sind, während eine Reihe anderer in Art. 272 aufgeführter Geschäfte,
z. B. die Bankier- oder Geldwechslergeschäfte, ferner die Verlags- sowie die
sonstigen Geschäfte des Buch- und Kunsthandels nur dann als Handelsge¬
schäfte gelten sollen. wenn sie gewer b sua ß ig betrieben werden. Endlich ist
durch Art. 273 noch im Allgemeinen bestimmt worden, daß als Handelsge¬
schäfte alle einzelnen Geschäfte eines Kaufmanns anzusehen sind, welche zum
Betriebe seines Handelsgewerbes gehören. Dagegen sind Verträge über unde
wegliche Sachen unter allen Umstände» keine Handelsgeschäfte. Es läßt sich
nicht leugnen, daß die vorstehend angedeutete BcgriffSaufstelluug der Handels¬
geschäfte nach manchen Seiten hin schwankend ist und zu Bedenken Anlaß
gibt, wie denn namentlich das Mißliche des Umstandes, daß die in Art. 271
aufgeführten Geschäfte lediglich durch die Voraussetzung einer bestimmten,
bei ihrer Eingehung vorhanden gewesenen Absicht des einen Contrahenten,
nämlich der Absicht der Weitcrveräußerung, deu Charakter von Handels¬
geschäften erhalten sollen, in der Konferenz selbst hervorgehoben wurde; indeß
geben die Motive des preußischen Entwurfes und die Conferenzprotokvlle
so eingehende Erläuterungen zu den Dispositionen des Gesetzbuchs, daß eine
falsche Auffassung und Anwendung der letzteren durch den Richter, namentlich
wenn die Handelsgerichte erst eine zweckmäßigere Organisation erhalten haben
werden, kaum zu befürchten steht, und soll hier in dieser Hinsicht aus den.Mo¬
tiven und Protokollen beispielsweise nur hervorgehoben werde», daß der
Gesetzgeber die Absicht des Gewinnes bei jedem Handelsgeschäfte als selbst¬
verständlich voraussetzte und daß Anschaffungen für den eigenen Haushalt
des Kaufmanns nicht unter den Begriff von Hauoelsgefchäften fallen. End¬
lich ist aus oiesem Abschnitt zu erwähnen, daß nach Art. 276 die Qualität
eines Geschäftes als Handelsgeschäft nicht davon abhängt, ob derjenige, der
das Handelsgeschäft vornimmt, hierzu aus gewerbepolizeilichen oder anderen
Gründen nicht besvgt war, und daß nach Art. 277 bei jedem Rechtsgeschäfte,
welches auf der Seite eines der Contrahenten ein Handelsgeschäft ist, im All¬
gemeinen die Bestimmungen des H. G. B. in Beziehung auf beide Contra-
henten gleichmäßig angewendet werden sollen.
Der 2. Abschnitt dieses Titels beschäftigt, sich damit in Artikel 273 — 316
eine Anzahl gewisser fundamentaler Rechtsregeln für alle Arten von Handels¬
geschäften aufzustellen, an deren Spitze in Art. 278 und 279 der wichtige
Satz steht, „daß bei Beurtheilung und Auslegung der Handelsgeschäfte der
Richter den Willen der Contrahenten zu erforschen und nicht an dem buch¬
stäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften hat," sowie daß dabei „in Betreff
der Bedeutung und Wirkung von Handlungen und Unterlassungen auf die, im
Handelsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen
ist/' Beide Sätze sind durch die singuläre Natur der Handelsgeschäfte geboten
und werden richtig angewandt sicherlich nicht verfehlen die Spruchpraxis in
Handelssachen mehr dem Bedürfnisse und den gerechten Wünschen des Handels¬
standes conform zu machen, als dies bisher im Allgemeinen der Fall war. Die
übrigen Vorschriften dieses Abschnittes können wir natürlich hier nicht im Ein¬
zelnen verfolgen, wollen uns jedoch nicht versagen, hier wenigstens die Be¬
stimmung des Art. 295 hervorzuheben, wonach die Borschrift des gemeinen
Rechtes, daß eine Quittung erst 30 Tage nach ihrer Ausstellung Beweiskraft
erlangt, aufgehoben und an deren Stelle die einzig vernünftige Regel gesetzt
ist. daß die Beweiskraft einer Quittung an den Ablauf irgend einer ZeUfnst
nicht gebunden lst, sondern sofort nach Ausstellung der Quittung eintritt. Im
Uebrigen müssen wir uns aus die Bemerkung beschränken, daß die Borschnsien
dieses Abschnitts sämmtlich darauf berechnet sind, den Handelsverkehr möglichst
M erleichtern und ihn von den Fesseln des bürgerlichen gemeinen Rechtes so¬
weit thunlich zu befreien. Es bleibt zwar immer der Uebelstand, „daß, weil
es an einem allgemeinen deutschen Obligationenrecht und somit an einen, ge¬
meinsamen Rechte, welches in sudMium gleichmäßig zur Anwendung kommen
könnte, zur Zeit'noch fehlt, bei der Interpretation und praktischen Anwen¬
dung des Handelsgesetzbuchs eine .Verschiedenheit der Spruchpraxis insofern
nicht ausbleiben kann, als natürlich jedes Territorium sein Particularrechl als
dasjenige betrachtet, welches in sndsiäinm zur Anwendung zu kommen hat;"
allein dies ist ein Borwurs, der das Handelsgesetzbuch an sich nicht trifft, son-
dem mit unserm nationalen Mißgeschicke überhaupt zusammenhängt. Auch
steht zu hoffen, daß grade dieser Uebelstand und der Umstand, daß der Schöpf¬
ung eines gemeinsamen deutschen Obligativnenrechies verhältnißmüßig geringere
Hindernisse als der Einigung über alle andern Rechtsmaterien entgegenstehen,
dazu führen werden, über kurz oder lang auch den Entwurf eines allgemeinen
deutschen Obligationenrechtes in Angriff zu nehmen.
Der 3. Abschnitt Art. 317 —323 handelt von der AbschUeßung der
Handelsgeschäfte und stellt den wichtigen — wenigstens für das Rechts¬
gebiet des preußischen Landrechtes neuen — Satz aus, daß zur Giltigkeit der Ver-
trüge bei Handelsgeschäften die schriftliche Abfassung oder andere Förmlich¬
keiten nicht nöthig sind. Für die Länder des gemeinen Rechtes neu dagegen
ist die Borschrift des Art. 31ö, daß bei einem unter Abwefenoen gestellten
Antrage der Antragende bis zu dem Zeitpunkte an feinen-Antrag gebunden
bleiben soll, wo er bei ordnungsmäßiger, rechtzeitiger Absenkung der Antwort
Seiten dessen, dem er den Antrag gemacht hat, den Eingang der Antwort er¬
warten darf.
Die im 4. Abschnitt Art. 324 — 336 aufgestellten allgemeinen Vorschriften
über Zeit und Ort der Erfüllung von Handelsgeschäften bringen mehrere bisher
controverse Fragen zur Entscheidung und zeichnen sich im Ganzen durch Ver¬
einfachung der hier einschlagenden, bisher giltig gewesenen Gesetzgebung aus.
Die Lehre vom Kaufe, die im 2. Titel Art. 337 ^-359 abgehandelt wird,
lehnt sich mehr als irgend eine andere Materie des Handelsrechtes an das
allgemeine bürgerliche Recht an: die Aufgabe der Conferenz bestand daher
hauptsächlich in der gesetzlichen Regulirung solcher Punkte, bezüglich deren
ein Abweichen por den Grundsätzen des bürgerlichen Rechtes durch die singu-
läre Natur des Handelsverkehrs geboten schien, oder wo die Verschiedenheit
der Particulargesetzgebungen die Aufstellung einer allgemein giltigen Norm
wünschenswerth machte. Bei den ausgezeichneten wissenschaftlichen und legis¬
latorischen Vorarbeiten grade auf diesem Gebiete steht zu erwarten, daß das
Handelsgesetzbuch in dieser Lehre nicht minder den Anforderungen der Wissen¬
schaft als dem praktischen Bedürfnisse entsprechen M'rde., In letzterer Be¬
ziehung soll hier nur darauf aufmerksam gemacht werden, daß nach Art. 354,
wenn der Käufer in>t Zahlung des Kaufpreises im Verzüge und die Waare
noch nicht übergeben i,se. es dem Verkäufer freisteht, nach seiner Wahl ent¬
weder die Erfüllung des Vertrages und Schadenersatz wegen verspäteter Erfül¬
lung zu verlangen, oder die Waare für Rechnung des Käufers zu, verkaufen
und Schadenersatz zu fordern, oder von dem Vertrage abzugehen, gleich als ob
derselbe nicht geschlossen wäre.
Im 3. Titel Art. 360 — 373 wird die Lehre vom kaufmännischen .Com¬
missionsgeschäfte behandelt, dessen gesetzliche Norrnirung um so anerkennens-
werther ist, als die innerliche Verschiedenheit der kaufmännischen Commission
von dem Mandate des bürgerlichen Rechtes zeither in der Spruchpraxis nicht
immer eme der Wichtigkeit dieses Nechtsinstitutes sowie den Wünschen und
Bedürfnissen der Betheiligten entsprechende Berücksichtigung fand. Abwei¬
chungen von den Ansichten der Handelswelt bei dieser Lehre, wie sie z. B.
in Art. 372 vorkommen, sind nicht sowohl aus einem vornehmen Jgnoriren
der betreffenden Ansichten« als aus wissenschaftlichen Gründen beliebt worden.
Als besonders wichtig heben wi.r hervor, daß nach Art. 370 das ekel creÄML
Stehen des Kommissionärs sich im Allgemeinen keineswegs von selbst ver¬
steht, sondern nur dann eintritt, wenn es von dem Commissionär übernom¬
men worden oder am Orte seiner Niederlassung Handelsgebrauch ist , sqwie
daß nach Art, 367 der Kommissionär wegen Unterlassung der Versicherung
des Gutes nur. dann haftet, wenn er von dem Committenten zur Versicherung
besonders beauftragt war; die Frage dagegen, ob der Commissi.onür zur Ver¬
sicherung auch ohne desfallsigen Auftrag berechtigt sei, wurde im Handelsge¬
setzbuch absichtlich nicht speciell entschieden, man wird aber, da der Commit-
tent dem Kommissionär den nützlichen Aufwand zu ersetzen hat, die Berech¬
tigung des Comnussionärs zur Versicherung des Gutes wenigstens überall da
nicht absprechen dürfen, wo die Versicherung der Sorgfalt eines ordentlichen
Kaufmanns entsprechend war. Die Statuirung eines Pfandrechtes für den
Commissionär an dem Commissionsgute wegen aller seiner auf das Com¬
missionsgeschäft bezüglichen Forderungen an den Committenten. sowie die
Einräumung des Rechtes an den Commissionär, sich wegen dieser Ansprüche,
beim Verzug des Committenten in Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem
Commissionsgute bezahlt zu machen, war schon zeither in der Particularge-
setzgebung hier und da anerkannt und ist im Interesse des Commissionärs
dringend geboten. Aus denselben Gründen wie dem Commissionär ist in
Art. 382 auch dem Spediteur sowie dem Zwijchenspediteur ein Pfandrecht an
dem ihm zur Besorgung übergebenen Gute, sofern er dasselbe noch in seinem
Gewahrsam hat oder sonst in der Lage ist, darüber zu verfügen, wegen der
in dem Artikel aufgeführten Ansprüche eingeräumt worden; und auch sonst
kommen, soweit der von dem Speditionsgeschäfte handelnde 4. Titel keine
besonderen Bestimmungen enthält, für das letztere die für das Commissions¬
geschäft geltenden Grundsätze zur Anwendung. Zu bemerken ist namentlich,
daß der Spediteur für jeden Schaden haftet. welcher aus der Vernachläs¬
sigung der, Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns bei Führung seines Ge¬
schäftes entsteht und daß er die Anwendung dieser Sorgfalt gegebenen Falls
zu beweisen hat.
Was das im letzten Titel dieses Buchs behandelte Frachtgeschäft und
namentlich das Frachtgeschäft der Eisenbahnen (Art. 422—431) anlangt, so
kann es nicht unsere Aufgabe sein, den Streit hier nochmals aufzunehmen,
den die bezüglichen Bestimmungen des Handelsgesetzbuchs bekanntlich seiner¬
zeit hervorgerufen haben. Die dabei zunächst interessirten Parteien, die Eisen¬
bahnverwaltungen und die Handelskammern, haben ihrerseits Alles gethan,
um ihren entgegengesetzten Wünschen und Ansichten Eingang bei der Cor>
ferenz zu verschaffen, und es war hierdurch sowie durch die sonstige, außer¬
ordentlich zahlreiche Gelegenheitsliteratur der Konferenz ein so reichliches Ma¬
terial zur Beurtheilung der Differenzpunkte an die Hand gegeben, daß. wenn
die bei der dritten Lesung definitiv angenommenen Bestimmungen des Han¬
delsgesetzbuchs schließlich wohl keine der streitenden Parteien ganz befriedigen
dürften, der Grund davon wenigstens nicht in einer mangelhaften Kenntniß
des Sachverhältnisses zu suchen sein dürfte.
Wir beschränken uns auf einige kurze Angaben aus diesem Titel.
Der Frachtbrief muß zwar auf Verlangen des Frachtführers demselben
nach Maßgabe der dafür in Art. 392 gegebenen Vorschriften ausgestellt wer-
den, zur Giltigkeit des Frachtvertrags an sich ist er aber so wenig noth¬
wendig, daß er vielmehr nur als Beweis über den Vertrag dient Und Fracht¬
verträge gleich allen anderen Verträgen mit voller Giltigkeit mündlich ge¬
schlossen werden können.
Art. 394 enthält die sehr vernünftige Bestimmung, daß, wenn der Fracht-
führer an dem Antritte oder der Fortsetzung der Reise durch Naturereignisse
oder sonstige Zufälle zeitweilig verhindert wird, der Absender die Aufhebung
diese? Hindernisses nicht abzuwarten braucht, sondern von dem Vertrage sei¬
nerseits zurücktreten darf, vorbehaltlich natürlich der Entschädigung des Fracht¬
führers für die demselben bezüglich der vorbereiteten oder bereits zurückgelegten
Neise erwachsenen Kosten und sonstigen Ansprüche.
Die Haftbarfeit des Frachtführers ist in Art. 355—399 dahin normirt
worden, daß derselbe für den Schaden, welcher durch Verlust oder Beschä¬
digung des Frachtgutes seit der Empfangnahme bis zur Ablieferung entstanden
ist, unbedingt haftet, sofern er nicht beweist, daß der Verlust oder die Be¬
schädigung durch höhere Gewalt oder durch die natürliche Beschaffenheit des
Gutes oder durch äußerlich nicht erkennbare Mängel der Verpackung entstan¬
den ist; für Kostbarkeiten. Gelder und Werthpapiere haftet er nur dann,
wenn ihm diese Beschaffenheit oder der Werth des Guts angegeben ist. durch
welchen letzteren Satz dem Frachtführer indirect gleichzeitig die bisher z. B.
in den Eisenbahn-Reglements in Anspruch genommene Befugniß abgesprochen
wird, den Transport dieser Art von Gegenständen ganz abzulehnen. Der Be¬
rechnung des erlittenen Schadens oder Verlustes ist nach Art. 396 und 397
nur der gemeine Handelswerth des Gutes zu Grunde zu legen und dabei
dasjenige in Abzug zu bringen, was in Folge des Verlustes oder der Be¬
schädigung an Zöllen und Unkosten erspart worden ist. Der Frachtführer
haftet überdies für den durch Versäumung der bedungenen oder üblichen
Lieferungszeit entstandenen Schaden, er haftet für seine Leute und alle andern
Personen, deren er sich bei Ausführung des Frachtgeschäftes bedient hat. und
er haftet endlich, wenn er zur gänzlichen oder theilweisen Ausführung des
von ihm übernommenen Transportes das Gut einem anderen Frachtführer
übergibt, für diesen und alle etwa folgenden Frachtführer bis zur Ablie¬
ferung. Umgekehrt tritt jeder Frachtführer, welcher auf einen anderen Fracht¬
führer folgt, dadurch, daß er das Gut mit dem ursprünglichen Frachtbrief an¬
nimmt, seinerseits in den Frachtvertrag gemäß dem Frachtbrief ein und über-
nimmt daher nicht nur selbst die Verpflichtung, den Transport frachtbriefge¬
mäß auszuführen, sondern hat auch in Bezug auf den von den früheren
Frachtführern bereits ausgeführten Transport für die Verbindlichkeiten der¬
selben einzustehen. Dagegen hat der Frachtführer nach Art. 409 wegen aller
durch den Frachtvertrag für ihn begründeten Forderungen ein Pfandrecht an
dem Frachtgute, das auch nach der Ablieferung noch fortbesteht, insofern es
binnen 3 Tagen nach der Ablieferung geltend gemacht wird und das Fracht¬
gut noch bei dem Empfänger oder bei einem Dritten sich befindet, der es für
den Empfänger besitzt. Liefert der Frachtführer das Gut ohne Bezahlung ab
und macht er das Pfandrecht nicht binnen 3 Tagen nach der Ablieferung gel-
tend, so bleibt zwar sein Anspruch gegen den Empfänger in Kraft, allein er
sowohl als die vorhergehenden Frachtführer und Spediteure werden des Re¬
gresses gegen die Vormänner, also namentlich auch gegen den Absender ver¬
lustig. —
Die vorstehend angedeuteten Bestimmungen haben nach Art. 421 auch
auf Frachtgeschäfte von Eisenbahnen und anderen öffentlichen Transportan-
stalten, mit Ausnahme der Posten, Anwendung zu finden: es kommen aber für
die Eisenbahnen noch besondere in Art. 422—431 aufgeführte Bestimmungen
zur Anwendung, von denen namentlich die in Art. 423 aufgestellte Vorschrift
von entscheidender Wichtigfeit ist, daß die zum Gütertransporte für das Pu-
blicum eröffneten Eisenbahnen nicht befugt sind, die Anwendung der über die
Verpflichtung des Frachtführers zum Schadenersatze im Handelsgesetzbuche auf¬
gestellten Normen zu ihrem Vortheile durch Verträge (mittels Reglements oder
durch besondere Übereinkunft) im Voraus auszuschließen oder zu beschränken
und daß Ausnahmen hiervon nur insoweit zulässig und die darüber abge¬
schlossenen Verträge nur insoweit giltig sind, als dies im Handelsgesetzbuche
selbst und zwar in Art. 424 bis 430 normirt ist. Der Streit, in wie weit
die in diesen Artikeln zu Gunsten der Eisenbahnen ausgestellten Ausnahmen
von der allgemeinen Haftpflicht des Frachtführers gerechtfertigt sind, ist zwar
noch keineswegs beigelegt, allein gegenüber dem Umstände, daß das Handels¬
gesetzbuch nicht mehr ein bloßer Entwurf, sondern für den größten Theil
Deutschlands bereits geltendes Recht ist. zunächst von wenig praktischem
Hui-lok, I'Hgliso et ig, sooiötö obrütisimss oll 1361. I^six^ig, ^. LrooKbaus —
?aris, nichst I.so? I'röros 1861.
Guizot hatte bekanntlich am 20. April v. I. in der öffentlichen Sitzung
der Gesellschaft für Aufmunterung des Elementarunterrichtes unter den fran¬
zösischen Protestanten sein tiefes Bedauern ausgesprochen über die Gefahren,
Welche gegenwärtig die katholische Kirche bedrohen. Gegen das ganze ckrist-
liebe Gebäude sind nach seiner Ansicht die Schläge gerichtet, die zunächst den
einen oder anderen Theil desselben treffen. In solchen Prüfungen seien wir
also der katholischen Kirche unsere Sympathien schuldig. In demselben Sinne
hatte er sich nicht lange vorher bei der Aufnahme Lacordaire's in die Aka¬
demie ausgesprochen. Vor einem halben Jahrhundert sei Italien ähnlichen
Erschütterungen ausgesetzt gewesen. Damals aber seien sie unter ihrem wah¬
ren Charakter erschienen; der berühmte Publicist der Liberalen (B. Constant)
habe sie als Acte der Usurpation und Eroberung bezeichnet. „Verdienen,"
fährt Guizot fort, „dieselben Thatsachen nicht mehr denselben Namen? Haben
sie ihre Natur verändert, weil nicht mehr Frankreich sie offen für seine Rech¬
nung ausführt und sich die Früchte derselben aneignet? Oder sollten diese
Gewaltthaten etwa legitim geworden sein, weil man sie heut im Namen der
Demokratie und kraft dessen, was man ihren Willen nennt, ausübt?" Natür¬
lich fanden diese Anschauungen unter den Ultramontanen ebenso lebhaften
Beifall, als sie von den französischen Glaubensgenossen Guizot's aufrichtig
bedauert und eifrig bekämpft wurden. Auf alle Einwendungen antwortet die
vorliegende Schrift, die vom Standpunkte einer umfassenden politisch-kirch¬
lichen Anschauung aus die brennenden Tagesfragen zu beurtheilen unter¬
nimmt.
Die Schrift erörtert in vierundzwanzig Kapiteln, die unter einander mehr
in einem inneren, als äußeren Zusammenhange stehen, in der kräftigen dog¬
matischen Weise, die Guizot eigenthümlich ist, eine Reihe von Fragen über
das Verhältniß der Kirche zum Staate, der Kirchen unter einander, über die
verschiedenen Richtungen in den einzelnen Kirchen, über Völkerrecht und Frei¬
heit. An diese allgemeinen Erörterungen schließen sich dann die Ansichten des
Verfassers über französische Zustände (doch werden diese nur sehr leise berührt),
die italienischen Verhältnisse und insbesondere über die Zukunft des Papst¬
thums an. Selbstverständlich können wir auf dem beschränkten Raum von
l?0 Seiten keine vollständige Entwicklung der^vorgetragenen Ansichten erwar¬
ten; auch lag eine solche gar nicht in der Absicht des Verfassers, der kein
kirchlich-politisches System aufstellen, sondern in mehr aphoristischer Weise
seine Gedanken über Kirche und Staat aussprechen wollte. Daß diese Ge¬
danken einen objectiven Charakter tragen, liegt nicht in der Behandlung des
Gegenstandes, sondern in der abgeschlossenen und festen geistigen Individua¬
lität des Verfassers, in der Kraft der Ueberzeugung, die jedem Satze den
Stempel einer unerschütterlichen dogmatischen Sicherheit aufdrückt. Guizot
demonstrirt nicht, er behauptet; aber er weiß in seine Behauptungen das
ganze Gewicht seiner bedeutenden Persönlichkeit zu legen, deren Ausdruck mehr
noch als der Gedanke selbst auf den Leser wirkt.
Dessenungeachtet dürfen wir wohl behaupten, daß das Buch wenig zur
Lösung der großen Fragen, die es behandelt, beitragen wird. Zwar tragen
Guizot's Betrachtungen so sehr den Stempel einer auf lauger Erfahrung und
tiefem Studium begründeten Einsicht, daß man sich ihrer Richtigkeit unmög¬
lich verschließen kann. Aber die Betrachtungen sind zu allgemein, um den
realen Kern der behandelten Fragen zu treffen; sie sind weder umfassend, noch
tief genug, um von einem über dem Parteigetriebe der Gegenwart erhabenen,
geschichtlichen Standpunkte eine Lösung der behandelten Fragen vorzubereiten,
oder auch nur ahnen zu, lassen. Wenn der Verfasser den willkürlichen Gang
der Begebenheiten nach Doctrinen mißt, die in der Natur der Dinge beruhen,
so ist dies offenbar ein ganz richtiges Verfahren; aber wir können Nicht zu¬
geben, daß seine Auffassung der Natur der Dinge überall die richtige ist;
Vor Allem übersieht er, daß die Natur der Dinge selbst nichts unwandelbar
Festes ist, sondern daß sie vielfach durch den Gang der Begebenheiten^ den
sie allerdings im Wesentlichen bestimmen soll, verändert und modiftcirt wird.
Daher gelingt es ihm nicht, seine Kritik vor allen Einwendungen sicher zu
stellen.. Noch viel weniger aber werden wir überzeugt, daß seine positiven
Anschauungen und Rathschlage den in den Verhältnissen liegenden Bedingun¬
gen und Antrieben entsprechen.
Wollten wir die einzelnen vom Verfasser berührte n Gegenstände bespre¬
chen, so müßten wir dem Buche ein Buch, entgegensetzen. Wir begnügen wu-s
daher damit, einige Hauptpunkte hervorzuheben und an ihnen die Ansichten
Guizot's zu beleuchten.
Versuchen, wir, die rein kirchlichen Fragen, so weit es möglich ist, von
den politischen zu trennen. Guizot, von seinem streng dogmatischen Stand¬
punkte ans, sieht eine große Gefahr für die protestantische Kirche in den An¬
griffen, mit denen Rationalismus, Skepticismus, Panthsism.uA ihr innerstes
Lebensprincip bedrohen. Den kräftigen. Angriffen gegenüber ist der Wider
stand, vielfach durch Gleichgiltigkeit und Sorglosigkeit gelähmt, Verhältniße
mäßig schwach. Während so die protestantische Kirche in ihrem inneren Be¬
stände gefährdet wird, ist die katholische Kirche in ihrem äußeren Bestände,
ihrer Verfassung schwer bedroht. Die gegen jede der beiden Sonderkirchen
gerichteten Angriffe erschüttern die gesammte christliche Kirche, woran-s folgt,
daß kein aufrichtiger Anhänger der einen Kirche sich gleichgiltig g.egen die
Leiden der andern verhalten darf. Diese Gefahren können und werden über¬
wunden werden durch die Freiheit der Kirchen ; diese Freiheit aber besteht
nicht sowohl darin, daß den einzelnen Gliedern derselben kein Zwang in ihrem
Gewissen angethan werde, als vielmehr darin, daß die Kirchen selbst ihre
Angelegenheiten nach ihrem Ermessen und gemäß der ihrem Wesen entspre¬
chenden Grundsätze ordnen dürfen. Es ist also die weltliche Souverainetät
des Papstthums, insofern der Bestand des Katholicismus geschichtlich aufs
Engste mit ihr verknüpft ist, eine der Grundbedingungen der Freiheit der ka¬
tholischen Kirche.
Unsere Bedenken gegen diese jnur in ganz allgemeinen Umrissen wieder¬
gegebene Argumentation richten sich zunächst gegen die, wie uns scheint, aus
einer äußerlichen und unprotestantischen Auffassung hervorgegangene Ansicht
über die Gefahren, welche den inneren Bestand der protestantischen Kirche be¬
drohen sollen. Guizot's Orthodoxie ist, wenn auch zu einer milden und ver-
söhnlichen Praxis geneigt, da sie von der Kirche eine schonende und vor>>ad-
lige Behandlung dlssentirender Richtungen fordert, doch im Princip kaum
weniger ausschließlich, als die der römischen Kirche. Das Dogma ist ihm
die einzige Substanz des religiösen Bewußtseins. Das tiefe Ringen, welches
das Berhältniß von Geist und Natur, Gott und Welt, mit Ernst und vom
Streben nach Wahrheit getrieben, zu ergründen sucht, erscheint ihm, sobald
es mit dem Dogma in Widerspruch geräth, als Manifestation eines irreli¬
giösen Geistes und also als unberechtigt innerhalb der Kirche. Er verkennt,
oder erkennt es wenigstens nicht- genügend an, wie gerade die Arbeit der
Wissenschaft mächtig einwirkt auf die Vertiefung des religiösen Bewußtseins,
das unter der ausschließlichen Herrschaft des Dogma's mehr als einmal der
Gefahr ausgesetzt gewesen ist, zu verknöchern und zu vertrocknen. Die rast¬
lose Thätigkeit der deutschen Wissenschaft auf dem übersinnlichen Gebiete, die
Vertiefung, welche die Frucht jeder wahren und ernsten Arbeit ist, läßt er
unbeachtet. Die religiöse tLntwickiung ist ihm (wenn er es auch nicht mit
den Worten ausspricht) gewissermaßen in den symbolischen Büchern der re-
forumten Kirchen beschlossen.
Wenn der Verfasser die Heilung der kirchlichen Schäden von der Freiheit
der Kirche hofft, so'kann man ihm darin, wenn auch nicht ganz unbedingt,
und vielleicht nicht völlig in seinem Sinne, beistimmen. Die Freiheit der
Kirche ist zunächst ein völlig abstractes, und deshalb sehr vieldeutiges und
von den entgegengesetzten Parteien proclamirtes Princip, aus dem die ver¬
schiedensten concreten Gestaltungen sich ableiten lassen. Wir müssen es des¬
halb, im Widerspruche mit vielen Freunden, beklagen, daß dies Princip viel¬
fach als Norm für die Anordnung der kirchlichen Verhältnisse aufgestellt wor¬
den ist. ehe sich klare und allgemein anerkannte Vorstellungen über die
Vorbedingungen zu einer freiheitlichen Gestaltung der Kirche haben bilden
können. Ob der Kirche, oder um uns bestimmter auszudrücken, dieser oder
.jener protestantischen Landeskirche, die Freiheit zum Segen oder Unsegen ge¬
reichen wird, hängt vorzüglich von der Verfassung derselben ab. Wo der
Staat der Kirche die Freiheit ohne Mitgabe einer das Gemeindeleben wahr¬
haft und durch alle Schichten fördernden Verfassung verleiht, ist die Freiheit
ein Geschenk von zweifelhaftem Werthe, ein oft gefährliches, oft compromit-
tirendes Geschenk. Der protestantische Staat hat, natürlich von zahlreichen
Ausnahmen abgesehen, sein Hoheitsrecht über die Kirche meist in freisinniger
und besonnener Weise ausgeübt. Uebergibt er die Kirche der souverainen Lei¬
tung geistlicher, ihm nicht verantwortlicher Behörden, w hat er der Kirche
allerdings dem Namen nach die Freiheit, in der That aber statt eines mit--
den, umsichtigen, zu steter Ausgleichung collid>re»der Interessen geneigten und
fähigen Schützers einen schroffen, von einseitigen Anschauungen beherrschten,
einer freien und versöhnlichen Auffassung entstehender Conflicte abgeneigten
Herrn gegeben und den Grund zu einer protestantischen Hierarchie gelegt.
Denn kein abgeschlossener Stand, und, mögen seine einzelnen Glieder von
der mildesten Gesinnung und den reinsten Absichten beseelt sein, vermag aus
die Dauer der Versuchung zu widerstehen, seine Herrschaft zur Unterdrückung der
Beherrschten anzuwenden. Auch wir sind mit Guizot der Meinung, daß die
Kirche, um ihre Aufgaben zu erfülle», der Freiheit bedarf; aber wir messen
der Freiheit nur dann einen Werth bei. wenn sie unter dem Schutze einer
den Grundsätzen des Protestantismus entsprechenden Verfassung steht.
Wenn ferner Guizot von den Protestanten fordert, daß sie das Recht
der katholischen Kirche, ihre Angelegenheiten nach ihren eigenen Principien
zu ordnen, unbedingt anerkennen, so läßt sich auch diesem Satze die Leistim-
mung im Allgemeinen nicht versagen; wohl aber erscheint es mehr als be¬
denklich, den Protestantismus zur Unterstützung der römischen Hierarchie auf¬
zurufen. Die Hierarchie verfährt, wo sie kann, angreifend gegen den Prote¬
stantismus. Welchem Widersprüche setzt man sich also aus, wenn man von
der protestantischen Kirche fordert, daß sie der Hierarchie ihren Schutz biete
während sie gegen dieselbe aller Orten eine» unausgesetzten Vertheidigungs-
kampf zu führen hat! Dies heißt doch, Unmögliches fordern! Mag jede
Kirche der anderen das Recht, ihre eigene Sache zu vertreten, unverkümmert
lassen! Weiter aber geht die Forderung der Gerechtigkeit nicht. Nimmer¬
mehr kann dem Protestantismus zugemuthet werden, die Sache der katho¬
lischen Kirche wie seine eigene anzusehen. Würde sie etwa auf Gegenseitig¬
keit rechnen können? Dies wagt doch auch Guizot nicht vorauszusetzen. Es
schwebt ihm hier, wie an einige» anderen Stellen, die Idee vo» der Soli¬
darität der conservativen Interessen vor, die, zu allen Zeiten gefährlich und
schädlich, gegenwärtig, wenn sie ins Leben treten könnte, binnen Kurzem den
gewaltsamen Umsturz aller bestehenden staatlichen und socialen Verhältnisse
herbeiführen würde.
Gesetzt aber auch, was wir weit entfernt sind, anzuerkennen, die gegen¬
wärtige Frage der Dinge machte ein augenblickliches Zusammenwirken der
beiden Kirchen gegen einen gemeinsamen Feind nothwendig, so bleibt doch
immer noch die Behauptung zu erweisen, daß der Bestand der katholischen
Kirche von der weltlichen Souverainetät des Papstes abhängig ist, und daß
die Beseitigung derselben nicht zu einer Reform des Katholicismus, sondern
zum völligen Umsturz desselben führen müsse. Diese Besorgniß erscheint aber
als nicht begründet. Der Papst als weltlicher Herr ist schon seit Jahrhun¬
derten nichts weniger als selbständig gewesen. Bald ein Werkzeug in Frank¬
reichs, bald in Oestreichs Händen, gelegentlich auch dein Einflüsse der na¬
tionalen italienischen Bestrebungen unterworfen, ist die Hierarchie in alle In¬
triguen einer verwickelten und keineswegs moralischen Staatskunst verflochten
worden, hat sie, um in dem Ringen der rivalisirenden, Mächte sich zu be¬
haupten, sich in die widerspruchvollsten, dem geistlichen Ansehen der Kirche
verderblichsten Stellungen drängen lassen. So schwebt die Curie, ein Bild
des tiefsten inneren Verfalles, zwischen dem Elende einer ohnmächtigen Sou¬
verainetät und den ungezügelten Ansprüchen auf universale Weltherrschaft,
ein Spielball in der Hand der Mächtigen dieser Welt, und doch erfüllt von
dem anmaßlichen Dünkel, den die Machtfülle einer längst vergangenen Zeit
in ihr zurückgelassen hat. Der Priesterstaat in Rom ragt wie eine vereinzelte
Ruine der Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Die geschichtliche Vor¬
aussetzung seiner Existenz, ein weltbeherrschendes, aber der geistlichen Macht
dienstbares Kaiserthum, liegt unter den Trümmern des Mittelalters begrabe».
Der größte Papst, den die Geschichte seit der Periode der Gregore und Jnno-
cenze aufzuweisen hat, Julius II., hat dies mit genialen Blicke erkannt und
nach dieser Erkenntniß gehandelt. Sein Plan war, dem Papstthum eine na¬
tionale Grundlage zu geben, Italien unter der dreifachen Krone zu vereinigen.
Seine Entwürfe, durchkreuzt von den französischen und östreichischen Plänen
auf Italien, wurden mit ihm zu Grabe getragen. Seine Nachfolger mu߬
ten sich in ihrer Politik durch die Habsburgischen Weltherrschaftspläne be¬
stimmen lassen. Die universale Tendenz der Curie mußte wieder um so
schärfer hervortreten, je heftiger ihre universale Berechtigung von der großen
Reformbewegung des 16. Jahrhunderts bestritten wurde; ihre nationalen
Bestrebungen aber mußten um so mehr zusammenschrumpfen, je weniger sie
bei dem Uebergewichte Habsburgs in Italien Raum fanden, sich zu ent¬
wickeln. Die italienische Nation war trotz ihres geistigen Aufschwunges zu
schwach und sittlich und politisch zerfahren, um im 17. und 18. Jahrhundert
einer selbständigen Politik als alleinige Stütze zu dienen. So sah die Curie
sich darauf beschränkt, die kirchlich - reactionären Dienste des Hauses Habs¬
burg sich gefallen zu lassen, und zum Dank dessen Politik zu fördern, mit dem
stillen Vorbehalte natürlich, gegen den anspruchsvollen Protector, wenn die
Lage es erlaubte, sich auch den Gegnern des Habsburgischen Hauses anzu¬
schließen. Das unvermeidliche Ergebniß war eine Schaukelpolitik, in der es
darauf ankam, den Einfluß der östreichischen und französischen Macht zu
balanciren, eine Politik, zwar zähe, aber ohne großartige Anschauungen und
ohne bestimmte Ziele. Noch einmal in unserer Zeit schien die Stimme der
Nation den Papst zur Leitung des nationalen Aufschwunges zu berufen, als
Pius IX. den heiligen Stuhl bestieg. Nicht blos an der Persönlichkeit des Pap¬
stes scheiterte der Versuch, auch nicht allein an den europäischen Verhält¬
nissen, sondern vorzugsweise an dem inneren Widerspruche, der darin lag,
von einer abgelebten Gewalt die Hebung der alten Leiden und die Anbah¬
nung neuer Zustände zu erwarten. Die Bestrebungen, welche in Julius' II.
Zeit an äußeren Verhältnissen sich gebrochen hatten, mußten im 19. Jahr¬
hundert an der innerlich aufs Tiefste veränderten Natur der Dinge zu Grunde
gehen.' Inmitten der Veränderungen. welche die Staatsidee des 18. Jahr¬
hunderts über Europa gebracht hatte, war das Bestehen geistlicher Sou-
verainetäten, deren Trümmer in Deutschland von den Bildungen des moder¬
nen Staates bereits so überwachsen waren, daß man nicht mehr die Spuren
derselben erkennen konnte, ein den bestehenden Verhältnissen vollkommen wi¬
dersprechender Anachronismus, und Thorheit und phantastische Schwärmerei
war es, von einer Macht, deren innere, schöpferische Lebenskraft längst abge¬
storben war, eine nationale Regeneration zu hoffen. Der Piuscultus hat
nur dazu gedient, den Beweis zu liefern, daß das Papstthum völlig unfähig
ist, sowohl neue nationale Gestaltungen zu erzeugen, als auch inmitten der¬
selben seine alte Stellung zu behaupten. Die Lebensbedingung der weltlichen
Macht des Papstthums wird und muß unabänderlich dieselbe bleiben, die sie
seit Jahrhunderten gewesen ist. Die Curie hat, um ihre Existenz zu erhal¬
ten, der in Italien grade herrschenden Macht zu dienen; wird ihr der Dienst
lästig, so bleibt ihr nur übrig, für den Einfluß und die Herrschaft der riva-
lisirenden Macht zu wirken. Diese Situation ist unauflöslich verbunden mit
der weltlichen Souverainetät des Papstthums, und in der Fortdauer einer so
beschaffner Souverainetät sieht Guizot eine Lebensfrage für die katholische
Kirche.
Ist dies aber ein der Würde der Kirche, ein den geistlichen Interessen der
Gläubigen entsprechender Zustand? Die Antwort darauf können wir uns er¬
sparen. Wir werden wohl, ohne Widerspruch zu finden, behaupten dürfen,
daß ein der weltlichen Macht beraubter, unter dem Schutze Italiens stehen¬
der Papst, die geistlichen Interessen des Katholicismus in geistlicherem
Sinne wahrnehmen kann, als der Pricsterfürst. der in allen seinen Erwägun-
gen von der Rücksicht auf seine weltliche Macht geleitet wird, der aber
dessen ungeachtet zu einer wirklich selbständigen weltlichen Stellung gar
nicht gelangen kann, der nur gelegentlich aufhört, der Vasall Oestreichs zu
sein, um der Vasallenschaft Frankreichs zu verfallen. In der That besteht
der reelle Werth der päpstlichen Souverainetät nur darin, daß das Ober-
Haupt der Kirche mit den übrigen souverainen als Macht zu Macht auf
diplomatischem Wege verhandeln kann. Wird ihm dies Recht in seiner geist¬
lichen Eigenschaft, unabhängig von seiner weltlichen Stellung, garantirt, so
kann die Freiheit seiner Stellung offenbar nur dadurch gewinnen, wenn er
einen Besitz aufgibt, den er nur durch die Hilfe einer fremden Macht be¬
haupten kann, und der an demselben Tage, an dem der letzte Soldat der
Schutzmacht die heilige Stadt verläßt, durch einen einzigen Anstoß in Trüm¬
mer fallen würde.
Stellt man die römische Frage so, wie sie in der That gestellt werden
muß: Welche der drei Mächte, Oestreich, Frankreich, Italien, eignet sich am
meisten dazu, die Schutzmacht des Papstes zu sein? — so kann die Antwort
kaum zweifelhaft erscheinen. Italien würde aus Rücksicht auf die übrige ka¬
tholische Welt zu der zartesten Behandlung seines Verhältnisses zu dem Ober¬
haupte der Kirche genöthigt sein. Italien ist ferner, wie Guizot dies, frei¬
lich ohne die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, selbst erörtert, seiner Na¬
tur nach aus eine Defensivstellung angewiesen. Abgesehen von seinem ge¬
fährlichen, und den europäischen Frieden in viel höherem Grade als die Ver¬
wickelungen der römischen Frage bedrohenden Streben »ach Lenetien, könnte
es nur noch daran denken, aus die Schweiz eine Pression auszuüben, eine
Gesahr, die mir nicht zu gering anschlagen, die aber den Satz unangetastet
läßt, daß das Papstthum unter Piemont's Schutz weniger in Gefahr ist. zu
politischen Diensten gezwungen zu werden, und befähigter, sich ganz der Lei¬
tung der Kirche hinzugeben, als unter »dem Drucke, den Oestreich und Frank¬
reich auf dasselbe auszuüben bemüht sind.
Werfen wir nun im Folgenden noch einen Blick auf die rein politische
Seite der italienischen Frage.
Guizot unterscheidet an der italienischen Bewegung eine berechtigte und
eine unberechtigte Seite. Berechtigt erscheint ihm der Wunsch der Italiener,
sich von der Fremdherrschaft zu befreien, unberechtigt das Streben nach po¬
litischer Einheit, sowohl weil dasselbe im Widersprüche mit dem Völkerrechte,
als auch mit der Natur der Dinge, den historisch-geographischen Verhältnissen
des Landes und dem Charakter -der Nation stehe.
Gewiß steht Alles, was seit-einer Reese von Jahren in Italien geschehen
ist, in schreienden Widerspruche mit den Bestimmungen des Völkerrechtes.
Die nachträgliche Bestätigung des Geschehenen durch die sogenannten allge¬
meinen Abstimmungen, weit entfernt, die vollendeten Thatsschen zu legalisiren,
drückt ihnen nur den Stempel eines Princips auf, welches bedenklicher und
compromittirender für die Sache der Italiener ist, als die Thatsachen selbst.
Wir fragen aber: War es etwa ein legitimes Verfahren, Oestreich die Lom¬
bardei zu entreißen, auf die dasselbe nicht schlechtere Ansprüche hatte, als die
vertriebenen Fürsten eins ihre Throne? War das Verfahren gegen Oestreich
vielleicht dadurch legnlisirt, dah dasselbe die Thorheit begangen hat, durch
einen übereilten Angriff Piemont die Verantwortlichkeit für die militärische
Initiative abzunehmen? oder hat Frankreich den gegen Oestreich gerichteten
Bestrebungen Sardiniens mit seinem Schutze zugleich die völkerrechtliche Sanc¬
tion ertheilt? Wenn Guizot mit einer gewissen Befriedigung auf die Befrei«
ung der Lombardei blickt, so kann er, ohne sich einer Inconsequenz schuldig
zu machen, die späteren Annexionen, die allerdings nicht mehr in Frankreichs
Interesse tagen, nicht wegen ihres völkerrechtswidrigen Charakters verdammen.
Die Unzufriedenen der Lombardei haben in Frankreich, die Unzufriedenen der
kleinen Staaten und Neapels in Sardinien einen Beschützer gesunden. Be¬
gründet dies völkerrechtlich einen wesentlichen Unterschied?
Aber eure einheitliche Gestaltung Italiens widerspricht nach Guizot auch
den geographischen Verhältnissen und der geschichtlichen Entwickelung; die einzige
der Natur der Dinge entsprechende politische Gestaltung ist die Konföderation.
Nun sind wir weit entfernt, den Gang, den die italienischen Angelegenheiten
bisher genommen haben, als einen ganz glücklichen, der Nachahmung würdigen
bezeichnen zu wollen. Die Masse ungleichartiger, nach Bildung und Tra¬
ditionen verschiedener, zum Theil roher, zum Theil verfeinerter, aber energie¬
loser Elemente, die sich um den politisch reisen, lebenskräftigen Kern gelegt
hat. droht diesen durch ihre ungefüge Last zu ersticken; besonders der Gegen¬
satz zwischen Norditalien und Neapel, der schroffer ist, als irgend eine Stam-
mesverschiedenheit in Deutschland, kann nur durch die Anwendung, der ener¬
gischsten Maßregeln, in Verbindung mit der rücksichtsvollsten Besonnenheit,
überwunden werden. Ein Menschenalter kann darüber vergehen, ehe die Zu¬
ckungen der Revolution, die an der Einigung mitgearbeitet hat. sich beruhigen,
ehe geordnete, feste Zustände an Stelle des für die nächste Zeit unvermeid¬
lichen Hin- und Herschwankens zwischen Anarchie und militärischem Despotis¬
mus treten können. Es ist unzweifelhaft, daß sich Wege erdenken lassen, auf
denen das Ziel einer nationalen Consolidirung sich sicherer, maßvoller und mit
einer größeren Schonung berechtigter Eigenthümlichkeiten Hütte erreichen las¬
sen, als auf dem Wege, auf welchen der Drang der Umstände nicht minder,
als der eigne Wille Sardinien geleitet hat. Der Drang der Umstände, sagen
wir; denn „die revolutionären Bewegungen in den andern Staaten Italiens
ließen Sardinien nur die Wahl. Ambos oder Hammer zu sein. Gewiß hat mensch¬
liche Willkür in den italienischen Angelegenheiten ein verwegenes Spiel ge-
spielt. Aber sie wäre schwach und erfolglos gewesen, wenn sie nicht durch
das Gewicht zwingender und unwiderstehlicher Verhältnisse unterstützt wor¬
den wäre. Es ist ein Gesetz der Weltordnung, dem die italienischen Dy¬
nastjen verfallen sind: wo ein berechtigtes Streben unterdrückt wird und sicher
ist. stets unterdrückt zu werden, macht es sich in wilden Zuckungen Luft und
überspringt das Ziel, bei welchem es im ruhigen Entwickelungsgange Halt
gemacht haben würde. So geschah es in Italien, und ein Glück war es un¬
ter diesen Umständen, daß Sardinien stark genug war, sich des aufs Höchste
gespannten nationalen Gedankens zu bemächtigen und das Land vor den
äußersten Konsequenzen einer Alles verschlingenden und vernichtenden Revo¬
lution zu bewahren. Die Durchführung der Idee des Bundesstaates war
1848 gescheitert; die nationalen Bedürfnisse blieben unbefriedigt. Ließ sich er¬
warten, daß die nächste Erhebung der Nation sich geringere Ziele stecken
würde? Man war überzeugt von der Unmöglichkeit der Konföderation, weil
man wußte, daß die Regierungen derselben den äußersten Widerstand entgegen¬
setzen würden. Wider den Willen der Regierungen war aber jede Form der
nationalen Einigung eher zu erreichen, als die Föderation. So steigerte der
Widerstand, den die nationalen Bestrebungen fanden, dieselben bis zur Idee
des Einheitsstaates. Es handelte sich gar nicht mehr um die Frage: ob Kon¬
föderation oder Einheitsstaat? sondern ob demokratische Republik oder con-
stitutionelle Monarchie, ob Mazzini oder Victor Emanuel und Cavour? In
dieser Lage konnte Victor Emanuel nicht zweifelhaft sein über die zu treffende
Entscheidung, wenn wir auch ohne Bedenken zugeben, daß die energischen
Leiter der sardinischen Politik mit geheimem Entzücken an eine Alternative tra¬
ten, die ihnen nur die Wahl ließ zwischen Vernichtung und der vollen Be¬
friedigung ihrer ehrgeizigsten Wünsche. Dessenungeachtet beklagen wir mit
Guizot den Gang, den die Begebenheiten genommen haben, halten es aber
auch für unzweifelhaft, daß das Geschehene nicht rückgängig gemacht werden
kann, ohne die Nation dem furchtbarsten Abgrunde zuzuführen und zugleich
den Frieden Europa's auf das Bedrohlichste zu gefährden. Denn nothwendiger
Weise würde eine Niederlage Sardiniens in der neapolitanischen und ein
Scheitern desselben in der römischen Frage auch die bisher scheinbar sicher ge¬
wonnenen Resultate rückgängig machen. Italien würde von Neuem der Kampf¬
platz für die herrschsüchtigen Pläne Oestreichs und Frankreichs werden, und
dem Mazzinismus bliebe es vorbehalten, das Werk zu versuchen, welches die
Monarchie nicht hat vollenden können. Es ist klar, daß eine solche Wendung
der Dinge (und sie kann unter den angegebenen Umständen gar nicht aus¬
bleiben) einen ganz unberechenbaren Einfluß auf die Consolidirung nicht blos
der italienischen, sondern der europäischen Demokratie ausüben würde. Die
Mittelpartei würde, ihrer Waffen beraubt, vom Kampfplatze verschwinden, und
die unheilvolle Konstellation, die aus dem Kampfe der Extreme hervorgehen
muß, wäre unvermeidlich: während doch die europäische Staatskunst mit aller
Kraft dahin arbeiten muß, nicht diesen Kampf hinauszuschieben (denn damit
ist wenig gewonnen), sondern überall solche Zustände herbeizuführen, die
den Extremen auch den Schein der Berechtigung nehmen und ihre Wurzel
völlig zerstören.
Wenn es nach dem Gesagten klar ist, daß die Einheitsidee in Italien
aus der Unmöglichkeit, für eine föderative Gestaltung der Nation den Booen
zu gewinnen, entsprungen ist, so wird man auch ohne nähere Prüfung
nicht umhin können, Guizot's Cvnföderationsplüne für einen Anachronismus
zu halten; dies darf uns indessen nicht abhalten, auf Guizot's positive Vor-
schlage näher einzugehen, weil es sehr lehrreich ist, klar zu erkennen, aus
welchen Gesichtspunkten' der bedeutendste Staatsmann der älteren franzö¬
sischen Schule die Gestaltung des Nachbarlandes betrachtet.
Ein Hauptvorzug der consöderativen Gestaltung der Nation soll darin
bestehen, daß auf diesem Wege die römische Frage eine ungezwungene Lö¬
sung finden kann. Allerdings sieht Guizot sehr wohl ein, daß ein absolut
regierter Staat sich nicht in eine Conföderation constitutioneller Staaten ein¬
fügen läßt, ohne ein Heerd beständiger revolutionärer Bestrebungen zu wer¬
den; dessenungeachtet ist er durchaus nicht der Meinung, daß, um die Un-
gleichartigkeit der Staatsformen zu beseitigen, der Constitutionalismus in
ganz Italien aufzuheben sei. Es gilt vielmehr ein Auskunftsmittel zu fin¬
den. Guizot fordert, daß überall im Kirchenstaate an die Stelle des bisheri¬
gen patriarchalischen Priesterregiments die ausgedehnteste communale, ja. er
scheut den Ausdruck nicht, republikanische Selbstverwaltung der einzelnen Ge¬
meinden trete. Eine zweite Forderung, deren Erfüllung der Verfasser indes¬
sen selbst kaum zu hoffen wagt, ist, daß die Curie sich überhaupt zu einer
freieren, wahrhaft liberalen Auffassung der kirchlichen und weltlichen Behält¬
nisse erhebe. Um von allen anderen Schwierigkeiten jener Combination ab¬
zusehen, werfen wir nur die Frage auf: Kann das Papstthum, dessen Macht
einzig in der Zähigkeit beruht, mit der es seine Ansprüche, sie mit der Un¬
fehlbarkeit des Dogma's stempelnd, festhält. — kann und wird das Papst¬
thum freiwillig (und aus die Freiwilligkeit kommt es doch von Guizot's
Standpunkte aus ganz besonders an) sich in die Umwandelung seiner abso¬
luten Herrschaft in ein blos nominelles Souveraiuetätsverhältniß fügen? Wir
bezweifeln es; und noch mehr bezweifeln wir, daß es jemals in seiner kirch¬
lichen und weltlichen Politik einer freisinnigen Anschauung Raum geben wird.
Nicht, als ob das Papstthum seiner Natur nach politisch conservativ. oder
gar, wozu man es von gewissen Seiten gern stempelt, der Hort des conser-
vativen Princips wäre. Es ist im Gegentheil auf einem Punkte des Welt¬
balls absolutistisch, dort reactioncir. anderswo revolutionär, der Patron des
ausschweifendsten Nationalitätenschwindels, ganz wie sein hierarchisches In¬
teresse es erfordert. Nur dem einen Princip, für welches Guizot seit dem
Beginne seiner staatsmännischen Laufbahn gekämpft hat, dem Principe einer
verfassungsmäßigen Freiheit, muß es feindlich entgegenstehen. Denn dieselben
Gesetze, die in, constitutionellen Staate die Willkür der Staatsgewalt be-
schränken, sind auch eine Schranke für die Ansprüche der Kirche, die' sich lie¬
ber dem unbequemer Edicte eines absoluten Monarchen für den Augenblick
fügt, als sie das billige Gesetz eines constitutionellen Staates anerkennt.
Jenes ist eine Thatsache, die durch diplomatische und persönliche Einflüsse
leichter rückgängig gemacht werden kann, als ein Gesetz, welches dem Schutze
einer in den seltensten Fällen klerikalen Ansprüchen geneigten parlamentarische»
Versammlung anvertraut ist. Die kirchlichen Wirren in einigen süddeutschen
Staaten liefern den besten Kommentar zu dieser Ansicht.
Geben wir indessen zu, daß die natürliche Abneigung, der Curie gegen
das constitutionelle Staatsprincip und ihre Unfähigkeit, sich den Bedingungen
desselben zu unterwerfen', die Bildung eines italienischen Bundes, wenn auch
erschweren, doch nicht unmöglich machen, und sehen wir nun, wie Guizot sich
seine Conföderation gedacht hat; denn der Begriff eines Staatenbundes, oder
auch Bundesstaates, ist so weit, daß er den verschiedenartigsten Gestaltungen
iliaum läßt. Leider hat Guizot die ihm vorschwebenden Ideen nicht genauer
entwickelt. Dessenungeachtet werden wir uns eine annähernde Vorstellung von
denselben machen können, wenn wir erwägen, welche Leistungen er von der be¬
absichtigten Consöderation fordert, und vor Allem, wenn wir die Beschaffenheit
der Elemente betrachten, die er zu einem Bunde vereinigen will. Denn daß
der Charakier eines Staatenbundes mehr noch, als durch die Bundesacte, durch
die Traditionen und die relativen Machtverhältnisse der einzelnen verbündeten
Staaten bestimmt wird, unterliegt keinem Zweifel. Als Zweck des beabsich¬
tigten Bundes stellt nun Guizot die Unabhängigkeit Italiens nach außen, die
Freiheit im Innern auf. Auch diese Borstellung ist noch zu unbestimmt, um
uns mehr, als die allgemeinsten Umrisse des Guizot vorschwebenden Bildes
erkennen zu lassen. Sehen wir also, welche Elemente den neuen Staaten-
bund zu bilden bestimmt sind.
Da Guizot nicht daran denkt, alle Erwerbungen Piemonts rückgängig zu
machen, so würde von den kleinen Staaten vielleicht Toscana übrig bleiben.
Die übrigen Bundesglieder wären der Kirchenstaat, Sardinien, Neapel und
(fügen wir hinzu) vielleicht noch Sicilien als abgesonderter Staat (denn an
Oestreich für Benetien hat Guizot natürlich nicht gedacht). Diese vier oder
fünf Staaten sollen den Bund bilden. Eine bedenkliche Combination! Tos¬
cana ist politisch unbedeutend, der Kirchenstaat zwar innerlich schwach, aber
seiner kirchlichen Stellung wegen überaus anspruchsvoll; Neapel und Sardi¬
nien, die Grohstaaten des Bundes, würden unfehlbar in fortdauernder Riva¬
lität ihre erste und vornehmste Bundespflicht sehen. Man sieht, das wäre die
Verwirklichung der Triasidee in ihrer reinsten Gestalt. Die vom Tage der
Gründung an mit Nothwendigkeit hervortretende Eifersucht der beiden
Großstaaten würde die beiden Mittelstaaten (unbequeme Kleinstaaten sind
außer der Republik San Marino nicht vorhanden) sofort und dauernd in die
angenehme Lage bringen, ihr Vermitlleramt zu üben, und in die Hände
der Schwachen würde die Macht gelegt werden, den Starken ihre Gebote
zu dictiren, insofern nämlich die starken fich dies gefallen lassen; von Pie-
mont läßt sich voraussehen, daß es die Geduldprobe schlecht bestehen würde.
Kurz statt die Einigung festzustellen, würde der Bund nur die Zersplitterung
organisiren, statt die Freiheit zu gründen, würde er dem Mazzinismns die
Wege bahnen, die gegenwärtig Piemont mit Aufbietung aller Kräfte ihm ver-
schlossen hält.
Diese Combination soll nach Guizot nichl blos den Freiheitsbedürfuissen
Italiens Genüge leisten, sie soll auch die beste Bürgschaft für die Unabhängig-
feil der Nation bieten. Italien sei seiner ganzen Lage nach auf die Defen¬
sive angewiesen. Um diese Weltstellung auszufüllen, bedürfe es weder centrali-
sirter Staatseinrichtungen, noch starker militärischer Kräfte, 'daher sei der
Staatenbund die normale Verfassung für Italien. Die Richtigkeit der Ansicht,
daß das moderne Italien von der Natur nicht zu einem erobernden Staate
bestimmt sei, muß ohne Bedenken zugegeben werden. Es >si aber ein Irr¬
thum, daß eine Nation, die ihrer Natur nach auf die Defensive angewiesen
ist, deshalb einer starken Entwicklung ihrer militärischen Hilfsmittel und vor
Allem einer einheitlichen Verfügung über dieselben entbehren könne. Die von
Guizot angeführten geschichtlichen Beispiele haben keine genügende Beweis¬
kraft. In Griechenland wurde der Mangel einheitlicher Concentration bis zu
einem gewissen Grade durch das wenigstens dem Ausland gegenüber außer¬
ordentlich starke, ja schroffe Nattonalgesühl ersetzt; dessenungeachtet nöthigte
auch Griechenland die äußere Gefahr, aus einheitlichere Einrichtungen zu
denken; daß diese Versuche sich uur aus die Herstellung vou Sonderbündnissen
richten konnten, ja daß die wahrhaft nationalen Bedürfnisse, wen» überhaupt,
nur auf dem Wege der Sonderbündnisse Befriedigung zu finden hoffen durf¬
ten, hatte seinen Grund lediglich in dem sür Griechenlands Geschichte so ver-
hängnißvollen Dualismus, der durch die Mittelstaaten nicht, wie der Trias¬
theorie entsprechen würde, ausgeglichen, sondern zum vernichtenden Bürgerkriege
gesteigert wurde. Weil an diesem unseligen Verhältnisse alle Einigungsver¬
suche scheiterten, weil jede innere Katastrophe das Band zwischen den einzelnen
Staaten mehr und mehr lockerte, deshalb ist Griechenland zu Grunde gegan¬
gen. Das Beispiel ist also doch gewiß nicht für die Vorzüge eines lockeren
Bundesverhültnisses beweisend. Ebensowenig die Niederlande, welche ihre
Sicherheit lange Zeit hindurch ihrer Unangreifbarkeit als Seemacht verdankten,
grade aber durch die Gefahr, die von Frankreich drohte, getrieben.wurden,
ihrem Bundesverhältnisse eine einheitlichere Gestaltung zu geben.. Die Schweiz
aber, ein völkerrechtlich neutraler Staat, wird nicht durch ihre Zersplitterung,
sondern durch die gegenseitige Eifersucht der europäischen Mächte geschützt.
Und trotz dieses mächtigen Schutzes hat auch hie, Schweiz die Nothwendigkeit
einer größeren Bundesgewalt gesuhlt; und wer möchte bei der gegenwärtigen
Lage der Weltverhältnisse bestreiten, daß sie von einem richtigen Gefühle ge¬
leitet worden ist? Ueber Amerika brauchen wir kein Wort zu verlieren. Kaz»
es ist eine Lebensbedingung für jede Nation,, auch für die friedlichste, genüg¬
samste, die Leitung ihrer Bertheidigungsmittel in einer Hand zu. concen-
triren.
An der Möglichkeit eines Bundesverhältnisses, in dem die politische und
militärische Initiative in eine starke Hand gelegt ist, zu zweifeln, fällt uns
nicht ein; das hieße an der Zukunft unsrer eignen Nation verzweifeln. Aber,
abgesehen von der Unmöglichkeit, jetzt »och, nach der Vertreibung, der italie¬
nischen Fürsten, eine kräftige, Conföderation zu gründen, ist es klar, daß
Guizot an ein derartiges Bundesverhältniß gar nicht gedacht hat. Er for¬
dert vielmehr einen Bund, der seine Unabhängigkeit nicht in seiner Stärke,
sondern in seiner Schwäche, in der Unmöglichkeit, angreifend aufzutreten, fin¬
den soll. Wir glauben un Gegentheil, daß keine Nation in Europa mehr
Ursache hal, ihre Kräfte zu entwickeln und zu concentriren, als die italienische,
wenn sie ihre Unabhängigkeit behaupten und nicht blos für den Augenblick,
sondern auch für die Zukunft den sie unvermeidlich bedrohenden. Gefahren ge¬
wachsen bleiben will. Denn obschon seiner Natur nach auf eine friedliche
Politik angewiesen, ist doch, nächst Deutschland, kein Land Europa's mehr der
Gefahr fremder Angriffe und siemder Einmischung ausgesetzt, als Italien;
die neueren Ereignisse haben in der Beziehung seine Lage durchaus nicht
verbessert.
Denn Italien ist noch heut, wie vor 300 Jahren, für die beiden großen
Rivalen Oestreich und Frankreich der stets bereite, stets verlockende Kampfplatz,
eine offene Wunde im europäischen Staatensysteme, die einen dauernden, auf¬
richtigen Weltfrieden vollkommen unmöglich macht. Dieser unerträglich« Zu¬
stand kann und wird erst dann aufhören, wenn Italien stark genug ist,, jedem
der beiden Rivalen die Spitze zu bieten, ohne nöthig zu haben, die Hilfe des
andern anzurufen. In Frankreichs Interesse liegt es natürlich, die Erreichung
dieses Zieles, d. h. die Emancipirung Italiens von Frankreichs zu hindern,
oder wenn dies nicht möglich sein sollte, zu verzögern. Das ist nicht etwa
Napoleonische, es ist ächt französische Politik; Orlea>usem, Legitimisten, ja
selbst die Republikaner würden, wenn sie am Nuder wären, Italien gegen¬
über keinen andern Standpunkt einnehmen. Guizot's Argumente (und das
ist der Hauptpunkt, aus den es bei Beurtheilung, seiner Ansichten ankommt)
müssen dem französischen Politiker ohne Weiteres einleuchten-, für den Nicht-
franzosen aber entbehren sie gerade deshalb jeder Beweiskraft, oder beweisen
vielmehr das Gegentheil von dem, was sie beweisen sollen. Frankreichs Po¬
litik ist in ihrem innersten Kern organisirt. Auch die friedlichste Regierung,
die das Schwert in der Scheide rösten läßt, der jeder Gedanke an Krieg und
Eroberung ein Greuel ist, wird doch nicht daran denken, völlig dem überaus
anspruchsvollen und weitgreifenden Etwas zu entsagen, welches der Franzose
den legitimen Einfluß Frankreichs in Europa nennt. Um diesen legitimen Ein¬
fluß ohne Waffengewalt sicher zu stellen, ist es nothwendig, die Nachbarlän¬
der in einem Zustande permanenter Schwäche und Zersplitterung zu erhalten,
ihnen den Defcnsivcharakter aufzudrücken. Diesem Principe gemäß erklärte
1848 der republikanische Minister Bastide eine einheitliche Consolidirung
Deutschlands für einen es-sus dslli, sprach der Friedensapostel Lamartine
Piemonts Bestrebungen gegenüber zuerst die berühmte Pfand- und Ausglei¬
chungstheorie aus. Jede Vergrößerung Piemonts alterire die Machtstellung Frank¬
reichs, das für den Fall einer solchen Vergrößerung sofort die Hand auf die
beiden Pfänder. Nizza und Savoyen. zu legen habe. Der Imperialismus
hat es nicht verschmäht, die Theorien des Republikaners praktisch zur Anwen¬
dung zu bringen.
Es besteht für uns gar kein Zweifel darüber, daß Napoleon wesentlich
auf demselben Standpunkte, dem der altfranzösischen Politik, steht, nur daß
er weniger Bedenken als irgend eine der Regierungen seit 1848 trägt, vor¬
kommenden Falles die Ausgleichungßtheorie anzuwenden, und daß er leichter
als eine von ihnen den Uevcrgang aus der Politik des diplomatischen Ein¬
flusses zu der der bewaffneten Einmischung und Eroberung zu finden weiß.
Die Kriegspolitik steht ihm aber erst in zweiter Linie, ist gewissermaßen seine
Reservepolitik, die er gelegentlich, z. B. in der Rede des Prinzen Napoleort.
mit ihrem gan'zen Zubehör von Nationalitätenbefreiung und revolutionärer
Propaganda der Welt als Schreckbild aus der Ferne zeigt, die er aber ent¬
schlossen ist, nur im äußersten Nothfalle zur That werden zu lassen. Der Um¬
stand, daß eine solche Politik, einmal mit Entschiedenheit eingeschlagen, ihn,
da er vor Allem bemüht sein muß. seiner Dynastie eine feste, conservative Grund¬
lage zu geben, zum Führer aller revolutionären Elemente machen und den
Wechselfällen des verzweifeltsten Kampfes preisgeben würde, hält ihn zurück,
den ersten Schritt auf der abschüssigen Bahn anders als unter dem Drucke
eines unwiderstehlichen Zwanges zu thun. Nicht immer lassen sich die geru¬
fenen Geister beschwören, und nicht immer läßt ein.Krieg sich localisiren.
Demnach ist in erster Linie Napoleon's Bestreben, die Einheit Italiens zu
hindern. Das Festhalten der französischen Besatzung in Rom reicht zunächst
aus, um diesen Zweck zu erreichen. Die Maßregel hat außerdem den Vor-
zug. sich der europäischen Politik durch ihren scheinbar conservcitiven Charak¬
ter zu empfehlen. Sie bietet ihm aber (und das ist eben der charakteristische
Zug der Napoleonischen Politik, die sich stets zwei Wege offen halten muß)
zugleich einen vortrefflichen Hebel, sofort mit dem Systeme zu wechseln, und.
wenn sein Vortheil es erheischt, aus der Politik des legitimen Einflusses zu
der Eroberung überzugehn. Für diesen Fall ist es für ihn von der äußersten
Wichtigkeit, der Hilfe Italiens sicher zu sein. Auf die Dankbarkeit Italiens
kann er nicht unbedingt rechnen; schon macht sich dort mehr und mehr die
Ansicht geltend, daß der Zoll der pflichtmäßigen Erkenntlichkeit dnrch die Ab¬
tretung Nizza's und Savoyens bereits abgetragen sei. Italien darf aber
nicht in eine Lage kommen, die ihm die Wahl zwischen Napoleon und sei¬
nen Gegnern möglich macht. Die Erfüllung der italienischen Wünsche wird
deshalb nickt, wie Guizot es wünscht, unwiderruflich abgeschnitten, sie wird
zunächst nur hinausgeschoben, und aus der Ferne als ein Lohn gezeigt, für
Dienste, die Frankreich in einer europäische» Krisis von Italien beansprucht.
Von Europa soll nach Napoleon's Willen Italien Vernichtung, von Frankreich
die Verwirklichung seiner Hoffnung erwarten. Dies ist die europäische Seite
der italienischen Frage.
Augenscheinlich unterscheidet sich daher Guizot's Auffassung der italieni¬
schen Verhältnisse von der Napoleonischen nur dadurch, daß Napoleon in der noch
unüberwundenen Dvppelseitigkeit seiner Stellung einen doppelten Weg sich
offen erhält. Principiell stehen dagegen beide auf demselben Standpunkt;
beide sehen in der Consolidirung Italiens eine Schranke für den Einfluß
Frankreichs. Und das ist, wen» man, von allen augenblicklichen Verwickelungen
absehend, den Kern der Frage, das Bleibende und Dauernde in dem Wechsel
nome»ta»er Anforderungen ins Auge faßt, von französischem Standpunkte aus
die correcte Auffassung. Guizot's italienisches Programm ist »icht, wie man
es nach manchen allgemein gehaltenen Kapiteln zu glauben geneigt sein möchte,
von allgemeine» nebelhaften Tendenzen, es ist von der Erwägung der klar
erkannten Interesse» Frankreichs eingegeben und mahnt uns daher dringend,
auch unsererseits die italienische Frage, ohne tendenziöse Nebenrücksichten. nur
von dem Standpunkt unseres Interesses aus nufzufasscu und zu beurtheilen.
Sins dem soeben uns übersandten fünften Jahresbericht des Ausschusses des
Luther-Denkmal-Vereins entnehmen wir folgende Thatsachen des mit dem 18. Ja¬
nuar 1862 zu Ende gegangenen letzten Verwaltungsjahrcs.
Die finanziellen Mittel des Vereins haben in dein genannten Zeitraum nicht
unbeträchtlich zugenommen, zu der vorjährigen Gesammtsumme der Einnahmen
von circa 141,««0 Fi. sind theils durch Beiträge, theils durch Verkauf von Ab¬
bildungen des Denkmals, fast 15,000 Fi. hinzugekommen, so daß die Gesammt-
summe der Einnahmen jetzt über 150,000 Fi. beträgt. Noch sehlen etwa 34,000,
doch hofft man dieselben durch weiter eingehende Beiträge, durch Verkauf der noch
übrigen Abbildungen und durch den Zinsenertrag der angelegten Gelder decken zu können.
Die Ausführung des Denkmals, nach Rietschel's Tode dessen Schülern Kietz
und Donndorf anvertraut, schreitet rasch vorwärts. Die Statuen Luther's und
Winkes's wurden noch von Rietschel selbst vollendet, die von Huß und Savanarola
werden in wenigen Wochen ebenfalls fertig fein. Auch die Gußarbcitcn haben in
erfreulicher Weise begonnen, die Lutherstatue ist in der gräflich Einsiedeleien Kunst-
gießcrei zu Lauchhammer glücklich gegossen worden und vollständig gelungen. Die
Granitarbciten, von den Herren Stahlmann und Wölfel in Bayreuth übernommen,
sind im besten Fortgang begriffen. Die Granitblöcke, welche zu den Postamenten,
Stufen und Zinncnmaucrn verwendet werden, sind aus dem Fichtelgebirge schon
großenteils gewonnen, ein Postament ist bereits ganz fertig geschliffen und polirt,-
und mehrere andere sind gleichzeitig in Bearbeitung.
Während nun alle Hände beschäftigt sind, das große protestantische Kunstwerk
seiner Vollendung entgegenzuführen, ist der zur Aufstellung desselben geeignete Platz
noch nicht erworben. Die würdigste und zugleich die schönste Stelle ist zwar ge¬
funden, aber sie steht noch nicht zur Verfügung.
Wenn es früher zweifelhaft schien, in welchem Local Luther vor Kaiser und
Reich gestanden, so ist dies jetzt entschieden. Georg Spalatin, der Freund Luther's
und Geheimschreiber Friedrich's des Weisen, der selbst hier auf dem Reichstag zugegen
war, bezeichnet in seinen Annalen der Reformation mit bestimmten Worten den
„Vischvfshof" als den Ort, wo Luther vor den Fürsten und Ständen des Reichs
sich verantwortet, und nicht minder unzweideutig erzählt es Friedrich Zorn, der
wohlunterrichtete Rector und Chronist der Stadt Worms, der von 1538 bis 1010
lebte. Ebenso sicher ist endlich auch die Thatsache, daß der Bischofshof auf derselben
Stelle sich befunden hat, wo jetzt der Heylsche Garten liegt.
Zu dieser historischen Bedeutung des Platzes kommt aber noch, daß sich in ganz
Worms kein Ort so gut wie dieser zur Aufstellung des Lutherdcnkmals eignet.
Um dasselbe in einem angemessenen Augenwinkel betrachten und überhaupt vollständig
als Ganzes übersehen zu können, ist es nothwendig, daß man von allen Seiten
die doppelte Entfernung, welche die Länge und Breite der Dcnkmalsgrundfläche aus¬
macht, einzunehmen im Stande sei. DicsW das Maß der äußersten Beschränkung,
dies die geringste Anforderung, welche der Künstler an den Raum, auf welchem sein
Werk aufgestellt wird, machen muß. Da nun das Denkmal in seiner quadrat-
mäßigen Grundfläche 40 Fuß rheinisch nach Länge uiid Breite beträgt, so muß der
Abstand von demselben bis zur nächsten Begrenzung nach jeder Seite hin wenigstens
80 Fuß betragen, der Platz also eine Länge und Breite von mindestens 200 Fuß
haben. Keiner von den in der Stadt Worms befindlichen öffentlichen Plätzen er¬
füllt diese Bedingung. Alle sind sie zu klein, wenigstens zu schmal, und wollte
man sie durch Wcgreißung der zunächst gelegenen Häuser erweitern, so würden sie
entweder immer noch nicht groß genug oder doch unschön und unregelmäßig wer¬
den. Die Herren Kictz und Donndorf, welche die Stadt Worms nach einem Passen¬
den Ort für Aufstellung des von ihnen auszuführenden Denkmals untersucht und
alle öffentlichen Plätze gemessen haben, bewiesen in ihrem Gutachten auf das Über¬
zeugendste, daß der Heylschc Garten, welcher eine Länge und Breite von 400 Fuß
hat, schon dieser seiner Ausdehnung halber die einzige Stätte innerhalb der Stadt
ist, auf welcher das Lutherdenkmal aufgestellt werden könnte. Dazu kommt, daß
auch die Umgebung eine durchaus würdige, der Bedeutung des Denkmals ent¬
sprechende ist, und daß durch die entfernter liegenden Baulichkeiten des Domes die
monumentale Wirkung des Kunstwerks in keiner Weise gedrückt oder beeinträchtigt
wird. Erwägt man endlich noch, daß alle sonstigen Mißstände, welche bei Aufstel¬
lung von großen Sculpturwcrken in kleinen Städten so schwer zu umgehen sind,
hier als vollständig beseitigt erscheinen, so muß man den Heylschen Garten als die
einzig mögliche Stätte für die Aufstellung des Luthcrdenkmals in Worms be¬
zeichnen.
Der gedachte Garten befindet sich im Besitz einer protestantischen Familie, Und
so hatte man Hoffnung, die jetzige Eigenthümern werde im Hinblick darauf, daß es
die Reformation ist, welche das Denkmal feiert, sich zur Abtretung ihres Eigenthums
bereit finden lassen. Für diesen Fall sollte der Garten angekauft, die darauf be¬
findlichen Gebäude entfernt und das Ganze als Parkanlage, in deren Mitte das
Denkmal zu stehen käme, rings mit einem eisernen Gitter umgeben werden.
Der Ausschuß wandte sich nun brieflich an die gegenwärtige Besitzerin, trug
ihr die Gründe sür die Wahl des Gartens und den Plan der Umgestaltung dessel¬
ben vor und erbot sich, sür das ganze Gebiet, welches einen Flächenraum von 1643
Quadratklafter enthält, einen andern, nicht weit entfernten größeren Garten zur
Verfügung zu stellen, Alles, was sich in jenem an Gebäuden und Pflanzen befinde,
in diesen neuen Garten verlegen und geschmackvoll Herrichten zu lassen, so daß der
letztere jenem nicht nur in keiner Weise nachstehen, sondern sogar der bessern Qua¬
lität des Bodens halber einer höhern Cultur sähig sein würde. Lege die Besitzerin
aber keinen besonderen Werth darauf, wieder zu einem Garten wie der ihrige zu
gelangen, so mache man ihr das Anerbieten, ihr im Jahre 1865, wo das Funda¬
ment zu dem Denkmal gelegt werden solle, die Summe von 30,000 Gulden aus¬
zuzahlen. Den Affectionswerth, den die schöne Besitzung (sie ist ein wohleingc-
richteter Kunstgärten) sür die Familie habe, könne man durch irgend eine Geldsumme
nicht vergüten. Indeß bleibe derselben sür dieses Opfer das Verdienst, einer großen
und heiligen Sache den wesentlichsten Dienst geleistet zu haben, der Ruhm, ihren
Namen bis auf die spätesten Geschlechter mit der Geschichte dieses Denkmals in Ver-
bindung gebrach« zu sehen, und der Dank der gesammten protestantischen Chri¬
stenheit.
Das Schreiben, welches das Anerbieten enthielt, ging am 6. Mai,an die jetzige
Eigenthümer«« des Gartens Frau Cornelia Hehl ab, aber bis jetzt ist eine schrift¬
liche Rücküußerung darauf nicht erfolgt, und mancherlei Anzeichen lassen schließen, daß
die Familie auf den Wunsch des Ausschusses einzugehen nicht geneigt ist, doch
gibt letzterer „>die Hoffnung noch nicht auf, daß die Opferwilligkeit in der letzten
Stunde sich noch einstellen werde, wo die Familie Heyl die Ueberzeugung gewonnen
haben wird, daß außer diesem Garten ein sonst geeigneter Platz zur Ausstellung des
Denkmals innerhalb der Stadt nicht zu finden ist."
Was die Schuld trägt, daß die Familie diese Ueberzeugung noch nicht ' erlangt
hat, ist uns unbekannt. Man sollte meinen, das Anerbieten des Ausschusses sei
sehr annehmbar, das Opfer nicht besonders schwer, der Dienst, der durch einen guten
Entschluß der Stadt, der Kunst und der protestantischen Kirche- geleistet würde, so
ehrenvoll, daß von langer Ueberlegung kaum die Rede sein möchte. Das Bewußt¬
sein, auf demselben- Boden zu stehen, wo Luther fein welthistorisches „Ich kann nicht
anders" gesprochen, würde hohen Zauber auf das Gemüth des Beschauers ausüben
und die Monumentalität des Werkes wesentlich steigern. Die Stätte des alten Bi-
schofshvses ist jetzt ein großer und schöner Garten, und Rretschcl's mächtiges Werk,
da» großWtigste, welches die gcscnnmte neuere Plastik auszuweisen hat, würde hin
mit seinen ehrfurchterweckenden Hervengestaltcn dieselbe weihevolle Umgebung finden,
die einst die Götterbilder der antiken Kunst in den stillen abgeschiedenen Tempelhainen
fanden. Um solche Doppelwirkung zu ermöglichen, würde es für einen hohen Sinn
keiner großen Entsagung bedürfen. Die Familie tritt einen gut eingerichteten Kunst¬
gärten ab und- kauft dasür einen bessern und zugleich das befriedigende Bewußtsein
ein, ihrer Kirche die ihr gebührende Ehre gegeben, dem ersten Kunstwerk der Gegen¬
wart die einzig rechte Stelle gewährt und sich den Dank ihrer Mitbürger uno aller
Protestanten erworben zu haben. Entgegengesetzten Falles behält die Familie ihren
Gatten; um das Bewußtsein aber, durch die Weigerung einen schönen und großen
Gedanken vereitelt zu haben und diesen Vorwurf so lange an sich haften zu sehen,
als das Denkmal steht, möchten wir sie nicht beneiden.
Acht Criminalgeschichtcn, von denen die interessantesten und am ausführlichsten
behandelten in die letzten drei Jahre fallen. Diese letzteren sind: der Fall, wo das
Mitglied des. Repräsentantenhauses SickleS in Washington den Staatsanwalt Grey,
einen Freund, der ihm die Frau verführt, auf offner Straße niederschoß und voll¬
kommen freigesprochen wurde, der Giftmord des Doctor Jahr im Dessauischen, die
Vergiftung des Barbiers Gottschall in Jena durch dessen Frau und deren Geliebten
Eduaro Rohrer und der bekannte Proceß Rolle, ein Fall des seltensten Jndicienbe-
weises, dem an Werth für den Eriminalisten nur der Jcchn'sche gleichkommt. Letz¬
terer ist-zugleich für Aerzte und Chemiker von großer Bedeutung, weil es hier zum
ersten Mal gelungen ist, das unter dem Namen Coniin bekannte flüssige Alkaloid
(aus Schierling gewonnen) in einem Leichnam aufzufinden.
Diese Hefte des verdienstlichen Sammelwerks enthalten wieder mehre gute Auf¬
sätze zum Verständniß von Zeitfragen, von denen wir namentlich den über die Ent¬
wickelung Rußlands seit der Thronbesteigung des fetzigen Kaisers hervorheben.
'
Ist der öl. Band der Sammlung amerikanischer und englischer Autoren, die
unter dein Titel „vürrs, OoUsotLou ot' Ltauü»rÄ ^morioau »oÄ tiritislt ^.Mdors"
in obengenannten Verlag erscheint, und hat namentlich als Versuch, eine (wohl nur
in Amerika unter Gelehrten aufgestellte) Doctrin poetisch zu verwerthen, Interesse.
Die Novelle beantwortet die Fragens „können menschliche Wesen durch Gift oder auf
andere Weise dahin gebracht wervcn, baß sie die Eigenschaften niedrer Wesen zeigen ?
können solche Eigenschaften vererbt werden? können solche Eigenschaften so in die
menschliche Natur eingehen, daß der Wille sie nicht zu bewältigen vermag, ein durch
sie verübtes Verbrechen also keine Strafe verdient?" durch die Geschichte eines Mäd¬
chens, die von ihrer an Schlangengift gestorbenen Mutter das Wesen, soweit mög¬
lich auch die äußere Gestalt, namentlich aber auch die unheimlichen Neigungen einer
Klapperschlange geerbt hat. Diese Tendenz der Dichtung ist wunderlich genug, man
sieht, daß die Romantik sich zu den Yankees geflüchtet hat; aber die Durchführung
zeugt von großem Talent, und es ist Schade, daß der Berfasser seine Begabung nicht
einem gesunderen Gebiet zugewendet hat. Der Schluß der Geschichte »ach dem Tode
der Heldin (sie stirbt an gebrochnem Herzen) ist zu lang ausgedehnt, da mit Elsie
Verner das Interesse an der Sache ziemlich ganz erliseyl.
Indem wir uns vorbehalten, nach Vollendung des dritten Bandes diesen Ab¬
schnitt des bekannten, nach seiner Anlage, Behandlung der Quellen und Form der
Erzählung früher von uns'bereits besprochnen Geschichtswerks ausführlich zu beur¬
theilen, sei hier nur bemerkt, daß diese erste Hälfte die wichtige Epoche der Erhebung
des Papstthums unter Hildebrand und die Ereignisse in Deutschland und Italien
unter Heinrich dem Vierten bis zu dessen Lossprechung vom Banne behandelt.
Eine Woche großer politischer Aufregung ist den Deutschen vorüberge-
gangen. Nicht die Parteien im Volke, sondern in den Kabinetten haben ein
Kampfgetöse verursacht, welches durch ganz Europa schallte und Folgen nach
sich ziehen muß. an welche der Verfertiger jener gleichlautenden Noten schwer¬
lich gedacht hat.
Die Partei deutscher Patrioten, deren Interessen auch d. Bl. dient, hat
jede Ursache, dem Grafen Nechberg, soweit er Ucheber dieser unerwarteten
Lebensäußerungen war, ihren Dank auszusprechen. Ob derselbe sich als
Leiter der auswärtigen Angelegenheiten des Kaiserstaats den Dank der Völker
Oestreichs verdient hat, mögen Andere beurtheilen, uns hat er mehremal bei
diplomatischen Acten eine ungewöhnliche Eigenschaft bewährt, die Eigenschaft,
seinen Gegnern größere Dienste zu leisten, als sie sich selbst zu leisten in der Lage
waren. — von dem geheimnißvollen Brief bei dem Frieden von Villaframa und
jenen seltsamen Manifesten des 12. Juli 1859 an. welche den preußischen Hof und
die preußische Armee so tief verletzten, daß seitdem kaum noch von einer östreichi¬
schen Partei in diesen Kreisen die Rede sein konnte, bis zu der unhöflichen Note
gegen das kleine Coburg, welche dort die Bürger so sehr kränkte, daß vornehmlich
deshalb die vielbesprochene Militärconvention mit Preußen bereitwillige An¬
nahme fand. Jetzt wieder ist durch eine unerwartete Offensivbcwegung der
kaiserlichen Regierung und der Würzburger das Selbstgefühl der preußischen
Regierung und ihres Volkes so kräftig aufgeregt worden, daß die Ruhe und
der leise Schlummer, in welche die deutsche Frage zu fallen drohte, hoffentlich
für lange zerstört worden ist. Mit Recht sieht die deutsche Presse in den gleich¬
lautenden Noten ein folgenschweres Ereigniß, welches die Entwickelung der
großen deutschen Angelegenheit um einige Schritte fördern muß.
Die Lage war vor den Noten für die östreichische Partei so günstig, als
eine Partei nur wünschen kann, welche gegen einzelne höchste Bedürfnisse des
Volkes zu reagiren genöthigt ist und deshalb auf bedeutende Erfolge und sichere
Siege überhaupt nicht zu hoffen hat. Es war Aussicht, die gegenwärtige
Lage auf Jahre zu conserviren. Preußen ist in einer innern Bewegung be¬
griffen, welche die junge ungeübte Volkskraft dieses Staates auf einige Zeit für
die eigenen Angelegenheiten in Anspruch nehmen mochte. Die Negierung,
nicht ohne Mißtrauen gegen die Stimmungen und Wünsche der drängenden
Parteien, hatte mehrere Momente, in denen sie geneigter war. sich die In-
teressen der conservativen Partei zu versöhnen, als den Forderungen der Li¬
beralen Concessionen zu machen. Nicht unbegründet war die Sorge, daß dort
die ganze Staatsmaschine noch einmal in eine Zeit der Unthütigkeit. Schwäche und
Unbedeutendhett zurückfallen könnte. Diese Aussicht ist seit voriger Woche
wesentlich verringert. Ueber den Differenzen, welche dort in einzelnen Fragen
zwischen der Krone und dem Volk, ja selbst zwischen den liberalen Parteien
stattfanden, ist jetzt das Gefühl einer gemeinsamen Kränkung lebendig ge¬
worden, der Stolz der Regierung und eines hochgesinnten Volkes ist verletzt
und beiden eindringlich gemacht, wie sehr ihre Pflicht ist. zusammenzuhalten.
Aber die Staatsmänner Oestreichs hatten wahrscheinlich ein weiteres
Ziel, welches ihnen die Stimmungen in Preußen gleichgiltig erscheinen ließ.
Die Note war wohl nur der erste klug« Schritt, ihr geheimer Zweck sollte sein,
die Majorität der deutschen Regierungen durch diesen gemeinsamen Act fester
an Oestreich zu binden, den Gegensatz derselben zu Preußen bis ins Unversöhn¬
liche zu spannen. Denn seit dem gemeinsamen herausfordernden Schritte, wel¬
cher bei Preußen die entsprechende Antwort nach sich gezogen hat, ist thatsächlich
jene Mittelstellung der Würzburger aufgegeben, welche sie, vor andern Bciicrn,
durch mehrere Jahre einzunehmen bemüht waren. Sie gleiten jetzt in dem
Fahrwasser östreichischer Interessen dahin, und die Politiker in Wien ver,
mögen, was noch im Herbst abenteuerlich und unerreichbar schien, zu hoffen:
die Garantie ihrer außerdeutschen Besitzungen durch eine Anzahl deutscher
Staaten. Daß in diesem Augenblick die verhängnißvolle Unternehmung, welche
den deutschen Bund in die Luft sprengen würde, so weit gediehen ist, als
östreichisch gesinnte Blätter zu behaupten wagen, glauben wir nicht. Käme
es aber wirklich dahin, dann würde das Schicksal Deutschlands durch die
Blindheit der Menschen in einer sehr unerwarteten Weise zur Erfüllung gebracht
werden. Oestreich müßte die bittere Erfahrung machen, daß solche Hilfe seiner
Verbündeten ihm tödtliche Gefahre» bereitet, statt Nutzen zu bringen, und die
Dynastien der Mittelstaaten würden sich der einzigen Garantie berauben,
welche sie für ihre Dauer haben, der Thatsache, daß ihre Existenz nicht nur
jetzt, auch in der Zukunft Deutschlands wichtigen Interessen ihrer Völker för¬
derlich wäre.
Unterdeß haben wir das Recht, mit erhöhtem Vertrauen in die Zukunft zu
blicken. Der Sturm, den die Gegner erregten, ist zu einem frischen Fahrwind ge¬
worden, der unser Schiff vorwärts treibt. Es ist die schöne Pflicht der Wochen-
Presse, aus dem kleinen Hader und den Verstimmungen des Tages das Urtheil
der Leser hinauszuführen auf die allmäligen unzerstörbaren Erfolge, welche
die großen politischen Fragen unter den Tageskämpfen erreichen. Wer die
Idee der deutschen Einheit, wie sie grade jetzt vor 14 Jahren in den Februarwochen
des Jahres 1348 lebendig wurde, mit dem gegenwärtigen Standpunkte ihrer
Entwickelung vergleicht, der muß bei unbefangenem Urtheil sich des großen
und unwiderstehlichen Fortschrittes freuen, den sie gemacht hat. Vor 14 Jah¬
ren noch gährte ein wüstes Chaos entgegengesetzter Stimmungen, Wünsche
und Forderungen. Die Nationalversammlung zu Frankfurt schuf die erste deut-
sche Parteibildung, und mehr a!ö das. sie formulirte die erste Forderung der
Nation im Jahre 1849 mit einer Klarheit und Präcision, welche wenig zu
wünschen übrig ließ.
Aber die preußische Regierung fügte sich nur widerwillig der unabweisbaren
Logik einer neu erkannten Wahrheit. Alle Neigungen des Gemüths. tief gekränk¬
tes Selbstgefühl der Regierenden, Haß der Privilegirten. Mißstimmung des
Heeres, die alten russischen und östreichischen Traditionen zogen davon ab.
Schwache und halbe Versuche, die neue Idee doch durchzuführen, endigten
mit einer großen diplomatischen Niederlage.
Langsam und unbehilflich entwickelte sich in den nächsten Jahren das par¬
lamentarische Leben Preußens. Dort, wie in dem ganzen übrigen Deutschland
bildeten sich unterdeß, gehemmt und vielbeschräi.le. die ersten Grundlagen sür eine
praktische und systematische Agitation: die Presse und die innere Theilnahme
des einzelnen Privatmannes an dem Schicksale des Staats. Noch einmal ge¬
lang es Oestreich und den Königreichen, den alten Bundestag zu restauriren.
er versuchte vergebens der Nation einen Antheil an sich einzuflößen. Bei Mil¬
lionen war auf wilde Gemüthsbewegungen zuerst die natürliche Erschlaffung,
dann kühle Ernüchterung gefolgt; trotz aller Hindernisse that die deutsche Tages¬
presse ni ehrenwerther Weise ihr« Pflicht, zu lehren und zu bilden. Die rohe
Demokratie von 1848 verschwand, nicht nur durch die Zwangsmaßregeln der Regie¬
rungen, noch mehr durch die Erfahrungen schwerer Jahre und die vergrößerte
Einsicht. Das Veretnsleben entwickelte sich nach allen Richtungen; ein Kreis gei¬
stiger und materieller Interessen nach dem andern zog die Gleichgesinnten zusammen.
Auch in Preußen begann das Gefühl der Genesung allgemeiner zu wer¬
den. Erst zwei Jahre sind es. seit dort die Erschlaffung, welche den Tagen
von Olmütz folgte, aufgehört hat, und schon jetzt hat der preußische Minister
des Auswärtigen freiwillig, nach innerer Ueberzeugung die Aufgabe Preußens
und seine Theorie von der Zukunft Deutschlands fast genau so formulirt,
wie vor 13 Jahren die Mittelparteien im deutschen Parlament. Was damals
aus dem Volke herauswuchs als neue Erkenntniß, als ein unerhörter Fund,
als eine Forderung» welche den Negierungskrcisen in Preußen fast ebenso ver¬
haßt war. wie den Mittelstaaten, das ist jetzt nicht nur das Ziel einer tief¬
gehenden gesetzlichen Agitation im Volke, sondern eine Lebensforderung des
preußischen Staats geworden, für deren Durchführung die Regierung sich in
iincer Weise aufrichtig andr und arbeitet.
Noch höher sind die Eroberungen anzuschlagen, welche die Idee eines denk-
schen Bundesstaates bei einzelnen anderen Regierungen gemacht hat. Unter
den Mittelstaaten zumeist in Baden. Dort hat sich aus verworrenen Verhältnis¬
sen, nach ernsten persönlichen Erfahrungen, aus innern Conflicten mit der kirchli¬
chen und politischen Reaction der Charakter eines Fürsten entwickelt, wie ihn sein
Volk nicht heilbringender wünschen kann: ehrlich, besonnen, zuverlässig, mit
warmem Gemüth und vorsichtigem Urtheil. Er hat seine Beamten gut
gewählt, er weiß sie auch zu halten und zu stützen, und er gewährt ihnen
in ihrem Ressort vertrauend die volle Selbständigkeit, welche sür consequen-
tes Schaffen nothwendig ist. Von besonderem Werthe aber für die Deutschen
ist die innige Verbindung geworden, in welche der Großherzog mit einer talentvol¬
len und sehr originellen Persönlichkeit aus den Reihen der jüngern deutschn, Diplo¬
matie getreten ist. Franz von Roggenbach, dessen Denkschrift vom 28. Januar über
die deutsche Frage grade jetzt ein sehr gerechtfertigtes Aufsehn macht, ist wahr¬
scheinlich dazu berufen, in der nächsten Zukunft Deutschlands eine wichtige Rolle
zu spielen. Im blühenden Mannesalter, aus altem Badischen Geschlecht,
dessen Traditionen von der politischen Richtung, welcher er angehört, weit
abliegen, hat er seine erste diplomatische Schule in den Jahren der beginnen¬
den deutschen Bewegung gemacht. Während der Zeit der Reaction ohne
amtliche Stellung, verfolgte er doch mit gespannter Theilnahme die Parteien
der Höfe, alle Lebensäußerungen des Volkes. Ein glänzender Geist und eine
ungewöhnliche gesellschaftliche Begabung machten ihn zu einem willkommenen
Gast der Salons von Paris und London, in den Tuilerien wie in Windsorschloß.
Kaum verstand Jemand besser zu hören, die verschiedenartigsten Verbindungen
zu unterhalten. Dabei aber blieb der Grundzug seiner Natur, ein begeisterter
Idealismus, nur gebändigt durch die harte Schule der Geduld und Entsagung,
welche jeder deutsche Staatsmann durchmachen muß. Sein edles, aber weiches
Gemüth, eine sogar unter den Deutschen ungewöhnliche Selbstlosigkeit und
dabei eine Ader von heimlicher Schwärmerei ließen ihn in den vergangenen trü¬
ben Jahren wohl zuweilen als eine der inspirirter und fein organisirten Ge¬
stalten erscheinen, welche in der Regel dazu bestimmt sind, den Kampf
gegen die Beschränktheiten ihrer Zeit mit tiefen Schmerzen zu bezahlen.
Aber in der That ist noch zweifelhaft, was in ihm stärker arbeitet, die stille
begeisterte Wärme, oder die gewandte Erfindungskraft des klugen Hauptes,
welches reich an Plänen, um Mittel und Wege nicht leicht verlegen ist.
Kommt ihm allmälig zu solcher Natur noch der letzte Erwerb, für einen
Mann seiner Anlage nicht der leichteste, die Dauerhaftigkeit, dann mag er
eine der bedeutendsten Gestalten für unser Volk werden. Die Jahre, welche
Männer wie ihn und, mit anderer Anlage. Bennigsen heraufgebracht haben,
— von Anderen zu schweigen — waren ohne große Siege, aber sie waren uns
nicht verloren.
Wer also unbefangen den Grad der Einsicht, die Parteibildung und die
Charaktere abschätzt, welche seit 14 Jahren die Auffassung der deutschen Frage
verändert haben, der wird sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß sie durchaus
nicht Rückschritte gemacht hat. Außer den Politikern, welche die große Schule
von 1848 in der Majorität des Frankfurter Parlaments durchgekämpft haben, sind
jüngere Kräfte in den Kampf getreten, so außerhalb Preußens die souveraine
von Baden. Weimar. Gotha; Minister, wie Watzdorf. Seebach. Noggenbacb.
nicht zuletzt die Führer des Nationalvereins. Auch in den Kammern der ein¬
zelnen Staaten ist die Partei der Unitarier fast mit jeder Sitzung stärker ge¬
worden, außer in Hessen-Kassel auch in Nassau. Darmstadt und Hannover, sie
ist sogar in Baiern, Schwaben und Sachsen organisitt, wo sie vor wenig Jah¬
ren kaum einen Vertreter zählte.
Freilich wird noch mancher Tropfen deutschen Wassers ins Meer hinab¬
rinnen, bis zu der Erkenntniß des Wünschonswcrthen und zu dem guten Wil¬
len auch das kommt, was der deutschen Natur vorzugsweise die Energie gibt,
Begeisterung und ein heftiger Zorn. Aber wir lassen uns solche Eigen¬
thümlichkeit unsers Wesens, welche das Ausland den Deutschen grade jetzt
nicht ohne Spott vorhält, sehr gern gefallen, denn wir finden darin sowohl
einen besonderen Vorzug unserer Natur, als eine Bürgschaft dauerhafter Bes¬
serung. Der Weg, auf welchem wir Deutsche uns seit zwei Jahrhunderten aus der
Vernichtung hervorgearbeitet haben, hat uns allerdings die Neigung zurückge¬
lassen, unsern Standpunkt in jedem Augenblicke mit einer behaglichen Brette
auseinanderzusetzen und in dialektischen Processen, welche in der Politik Noten,
Kammerreden und Journalartikel heißen, vor unseren Gegnern darzustellen.
Daß Wir darüber aber nicht die Fähigkeit verloren haben, im entscheidenden
Augenblick, mit Hintenansetzung unserer Persönlichkeit, etwas zu wagen, das
haben wir in diesem Jahrhundert, seit den fünfzig Jahren, wo wir uns wie¬
der als Nation empfinden, im Guten und Schlimmen mehr als einmal bewiesen.
Die deutsche Frage aber ist am wenigsten eine solche, welche durch Ber-
serkcrthum und heftigen Anlauf entschieden werden kann. Immer wieder soll
gesagt werden, daß wir, im Großen betrachtet, durchaus nicht in der Lage
der Italiener sind, unerträgliche Mißregieruug oder fremde Herrschaft abzu¬
schütteln. Wir wollen nur angestammten Regierungen, mit denen ihre Volker
zum großen Theil fest veiwachsen sind, die Ueberzeugung mittheilen, wie es
für sie selbst, für ihre Kraft und Dauer, und was uns allerdings noch wich¬
tiger ist. für das Wohl ihrer Völker und der deutschen Nation nothwendig
wird, daß sie einzelne Privilegien der Souveränität zum Besten des Ganzen
abgeben. Und wir sind trotz allen Noten und trotz dem heftigen Widerwillen,
welchen sie jetzt gegen einen Anschluß an Preußen empfinden, durchaus nicht
in der Lage, die Hoffnung auf friedliche Beseitigung der Gegensätze aufzugeben.
Allgemein ist niber bei Freunden und Gegnern die Ueberzeugung, daß
jede wesentliche Förderung der deutschen Frage von den Fortschritten ab«
hängt, welche der preußische Staat in seiner innern Entwicklung Macht, Und
nicht minder lebhaft wird außerhalb Preußens empfunden, daß dieser größte
Staat in Mehrer wichtigen Elementen seines Daseins bis jetzt hinter den An¬
forderungen der Gegenwart zurückgeblieben, wenigstens nicht so weit den klei¬
neren vorausgekommen ist, daß er als Führer und Vorbild Mit vollem Ver¬
trauen betrachtet werden konnte. Die lange Negierung Friedrich Wilhelm des
Dritten, so segensreich ihr friedlicher Verlauf dem Volke erschien, war wenig
geeignet, Feldherrn, Staatsmänner, politische Charaktere zu ziehen. Die ex-
perimentirende Herrschaft seines geistvollen und unglücklichen Nachfolgers, welche
überall aufregte und gegen das altpreußische Wesen reagirte, gewährte zwar
dir Formen eines Verfassungsstaates, aber sie gönnte dem Volke nur wenige
von den befreienden und erhebenden Stimmungen, welche im politischen
Leben ebensowohl die Vorbedingung als die Folge jedes großen Fortschritts
sind. Wie aus schwerer Krankheit Genesende trete» jetzt die Preußen in dem
Haus der Abgeordneten und in ihren Vereinen zusammen. Noch fehlt dort zu
sehr das frische Selbstvertrauen, welches der jungen Kraft dieses Staates geziemte.
Es wat kein Zufall, daß dort in weiten Landschaften durch vierzehn Jahre,
seit der vereinigte Landtag zum ersten Mal einberufen ward und die Preußen ihre
Vertreter nach Frankfurt sandten, bis zur letzten Abgeordnctenwahl kaum ein jun¬
ges Talent in der Diplomatie, auf der Tribune, oder in der Presse sich emporrang.
Die ganze geistige Bewegung unterhielten die Führer, welche 1847 und 1848 meist
aus deu LaNdedclleutcn und Beamten für das neue Leben fast zufällig gewählt
worden waren. Erst die Neuwahlen des letzten Herbstes haben mit einer ge¬
wissen Reichlichkeit neue Kraft der Nation auf die Tribüne gesandt. uUd die
Verhandlungen des Abgeordnetenhauses, wie arm an Resultaten sie bei der
Ungefügigkeit der unfertigen Verfassung sein Mögen, werden wenigstens als
politische Schule ihre segnende Wirkung ausüben. Allerdings ein ungenügender
Gewinn so großer Arbeit.
Langsam wird es auch dort besser. Aber die innern preußischen Con-
flikte lähmen weit mehr als alle Regierungen der Mittelstaaten die Fortbil¬
dung der deutschen Frage.
Denn der deutsche Bundesstaat wird mit jedem großen Schritt, den Preu¬
ßen in der eigenen Entwickelung vorwärts thut, seiner Lösung näher geführt werden.
Am 2. September 1861 bat Graf Eulenburg einen Vertrag mit China
unterzeichnet, welcher., wenn man von Oestreich und Holstein absieht, als der
erste deytsche Handelsvertrag betrachtet werden darf; denn der preußische Ge.
sandte bat nicht nur für Preußen und die Zollvereinsstaaten, sondern auch
für dje Hansestädte und beide Mecklenburg abgeschlossen. In Japan war
dies bekanntlich nicht gelungen. Yqs complicirte Staatensystem Deutschlands
war den dortigen Unterhändler», nicht begreiflich zu machen, sie behaupteten,
die Aufzählung so vieler Staaten, welche einen neuen Vertrag mit Japan ma¬
chen wallten, wurde die öffentliche Meinung beunruhigen, und deshalb könne
nur mit Preußen als dem eigentlichen Vollmachtgeber abgeschlossen werden.
Graf Eulenburg konnte begreiflich nicht durch die Weigerung, auf diese Be¬
schränkung einzugehen, den ganzen Zweck seiner Mission vereiteln und mußte
den Vertrag allein für Preußen unterzeichnen in der Hoffnung, daß derselbe
unter günstigern Umständen auf ganz Deutschland ausgedehnt werden könne.
In China war die Lage vortheilhaft für die Unterhandlung, die Hanse¬
aten siud durch ihre Hänser und namentlich durch ihre bedeutende Frachtfahrt
so bekannt, daß die Chinesen sie nicht füglich ignoriren konnten, sy kam der
Vertrqg. wenn auch nach langwierigen und schwierigen Verhandlungen für alle
deutschen Staaten in Tientsin zu Stande.
Wir geben nachstehend eine Uebersicht seiner wichtigsten Bestimmungen.
Art. I sichert den beiderseitigen Unterthanen vollen Schutz für Eigenthum
und Personen.
Art. 2 gibt dem König von Preußen das siecht, einen diplomatischen
Agenten zu beglaubigen, welcher in der Hauptstadt wohnen darf und nach
Art. 3 alle Vorrechte und Freiheiten genießen soll, welche das Völkerrecht den
Gesandten gewährt. Dies Zugeständnis; wurde von dem preußischen Vertreter
beharrlich verlangt, da es England, Frankreich. Rußland und Amerika ge¬
wacht war, und nach hartnäckigem Widerstand durchgesetzt; da es aber nicht
die Absicht war, sofort einen Gesandten zu senden, so konnte er leicht den
Chinesen darin entgegenkommen, durch einen Separatartikel die Beglaubigung
eines diplomatischen Vertreters noch für einige Zeit hinauszuschieben, wenn
gleich uns fünf Jahre gls ein etwas langer Termin erscheint. Es steht übri¬
gens dahin, ob außer einem Generalconsul ein Gesandter zur Vertretung
deutscher Interessen nothwendig erscheint. Sehr zweckmäßig ordnet Art. 4
das Consulatswesen. Es hätte den Chinesen gründlich den Verkehr mit
Deutschland verleiden müssen, wenn jeder deutsche Staat in jedem Hafen sei¬
nen eignen Konsul hätte ernennen wollen, es hätte natürlich nicht an Be¬
werbern gefehlt, welche der consulcinschen Privilegien theilhaftig zu werden
gewünscht, und die Welfenkrone hätte sich schwerlich die schöne Gelegenheit ent¬
gegen lassen, auch in Ostasien ihre unveräußerliche Souveränetät zu constatiren.
Es war aber die Slipulirung eines solchen Rechtes unmöglich, da es bisher
Niemandem zugestanden war. vielmehr gefordert war. daß alle Consuln be¬
stellte Beamte sein müßten, weil sie umfassende Iurisdictionsrechte über ihre
Angehörigen zu üben berufen sind: wer sollte, im Falle ein Oldenburger
mit einen, Preußen in Streit gerieth, als Richter auftreten, wenn es einen
preußischen und einen oldenburgischen Consul gab? jeder Theil hätte > den
Consul des andern perhorrescirt. Es ist daher festgesetzt, daß für ganz China
nur ein Generalconsul und für jeden dem Handel geöffneten Hafen nur ein
Consul seitens der contrahirenden Staaten bestellt werden soll. Danach ist
rechtlich allen die Befugniß zur Ernennung von Consul» vorbehalten, aber
sie müssen sich verständigen, gemeinsam einen zu ernennen. Wenn dennoch
die chinesische Negierung darauf eingegangen ist. in einem Separatnrtikel den
Hansestädten das Recht zuzugestehen, in jedem Hafen einen Consul zu ernen¬
nen, so ist der Grund davon in der bedeutenden Ausdehnung zu finden, welche
der Handel und die Nhederei dieser Republiken in jenen Gegenden gewonnen
hat. Man begreift es, daß. so lange sie noch selbständig im Auslande ver¬
treten sind, sie auf freie Bewegung nach dieser Seite hin Gewicht gelegt ha¬
ben; es ist aber zu hoffen, daß sie doch thatsächlich danach streben werden,
ihre consularischc Vertretung dem zollvereinischen Consul zu übertragen, wie
auch umgekehrt Preußen wahrscheinlich am besten fahren wird, wenn es seine
Consulate handelskundigen Consuln überträgt. Möchten alle Regierungen sich
recht von der Ueberzeugung durchdringen lasse», daß jede Versplitterung deut¬
sche» Kräfte ihren eig»e» Unterthanen nur schadet; die Interessen des deutschen
Handels erheischen nicht mehr als einen Consul in jedem Hasen, mehrere
schwächen sich gegenseitig in ihrer Action, zumal da Eifersüchteleien und Rei¬
bungen nicht ausbleiben.
Art. 6 nennt die Häfen und Städte, welche dem Handel der contrahirenden
Staaten eröffnet sein sollen, nämlich: Canton, Swatan, Umoi. Futschau,
Ningpo, Shanghae, Tongtschan, Tientsin. Niutschwang. Tschinkiang. Kilt-Kiang,
Hvngkon, Kiangtschan, Taiwan und Tamsui. Daselbst dürfen sie sich mit ih¬
ren Familien niederlassen, Grundbesitz erwerben. Kirchen bauen und sich über-
haupt frei bewegen. Nach der Hauptstadt Chinas dürfen Deutsche nicht kom¬
men, um dort Handel zu treiben. Zwischen jenen Orten und nur zwischen jenen
ist den Unterthanen der contrahirenden deutschen Staaten auch die Küstenfahrt
gestattet. Schiffe, welche an andern Punkten landen, sollen von der chinesischen
Regierung confiscire werden dürfen.
Art. 8. stellt den Deutschen frei, auf eine Entfernung von 100 Li und
einen Zeitraum von nicht mehr als 5 Tagen in tue Nachbarschaft der dem
Handel offnen Häfen Ausflüge zu mache». Sie müssen dazu mit Passen ihrer
Vertreter, die von der chinesischen Behörde visirt sind, versehen sein.
Art. 10. garantirt den Bekennern und Lehrern der christlichen Religion
volle Sicherheit.
Art. 11—28 regeln sehr im Einzelnen das Verfahren bei der Ein- und
Ausfuhr der Waaren. Der Peinlichkeit der Chinesen hat dabei manches Zuge¬
ständnis; gemacht werden müssen, was indeß auch von andern standen ge-
fordert ist, und ein solider Handel wird dadurch nicht gehindert. Dem Ver¬
trage ist ein vollständiger Zolltarif und ein Handelsreglement beigefügt, unter
den zollfreien Waaren finden sich mehrer« recht wichtige Artikel, wie Reis und
alle Cerealien, Messerschmiede-, Glas- und Krystall-, Gold- und Silberwaaren.
Die Einfuhr von Pulver, Salpeter, Schwefel, Waffen und Salz ist verboten,
die von Opium ist jetzt gegen den hoben Zoll von 30 Taöls per Pikul ge-
stattet (ca. 60 Thlr. p. 125 Pfund), doch darf der deutsche Kaufmann es nur im
Hafen verkaufen, ins Innere soll es nur von Chinesen und als chinesisches
Eigenthum verführt werden können, wobei die Negierung es beliebig mit
Dnrchgangszöllcn belasten darf; von allen andern Waaren wird die Hälfte des
Eingangszolles als Transitzoll erhoben, von zollfreien Gütern 2V- °/° des Wer¬
thes. Die Ausfuhr vou Kupfermünzen und allen Cerealien, namentlich Reis,
ist verboten nach allen fremden Häfen, gestattet dagegen von einem zum an¬
dern chinesischen Hafen.
Art. 31 und 32 geben die gebräuchlichen Zusicherungen für den Fall von
Strandungen und Havarien, sowie für die Auslieferung von Deserteuren.
Art. 30 gestattet den deutschen Kriegsschiffen, welche zum Schutz des Handels
kreuzen oder mit Verfolgung der Seeräuber beschäftigt sind, alle chinesischen
Häfen ohne Unterschied zu besuchen, ohne daß Abgaben von denselben erhoben
werden könnten; in Art. 33 verspricht außerdem die Regierung Alles aufzu¬
bieten, die Seerüuberei in chinesischen Gewässern zu unterdrücke», die Räuber
zu bestrafen und geraubte Waaren zurückzuiieser». Kann sie weder der Räu¬
ber habhaft werden, noch sämmtliche geraubte Gegenstände wieder erlangen,
so sollen die chinesischen Behörden den Landesgesetzen gemäß bestraft werden,
ohne jedoch zum Ersatz des Raubes verpflichtet zu sein.
Art. 34—39 behandeln die Beziehungen zwischen den Unterthanen der
contrahirenden deutschen Staaten und den Chinesen. Hierbei zeigt sich recht die
Wichtigkeit der Consuln und die Nothwendigkeit einer einheitlichen Vertretung;
denn sie bilden den Durchgangspunkt für alle» geschäftlichen Verkehr. Will
sich ein Deutscher an. qine chinesische Behörde wenden, so. muß er seine Vor¬
stellung vom Consul prüfen lassen, der sie weiter vefördM wenn er sie b.U>-
liHt^. Bei MißHelligkeiten zwischen Deutschen und Chinesen wird der Consul
zuerst eine gütliche Ausgleichung versuchen und. falls tiefet.de. nicht gelingt, mit
iMv. betreffen bey chinesischen Beamten gemeinsam schlichten,. Deutsche, welche
sich gegen el^ne,n, Chinesen. ni,ner, verbrecherischen Handlung schuldig wachen,
sollen, nach den Gesetzen ihres Staates vom Consulqrbeamten bestraft werden,
derselbe ist auch Richter über die Streitigkeiten seiner Angehörige,»! unter sich.,
die. chinesischen Behörden dürfen sich, syr.ein nichts mischen. Dieselben verpflich¬
ten sich allen deutschen, Unterthanen Schutz für Personen und Eigenthum an-
gedeihen zu lassen, flüchtige chinesische Schuldner zur Zahlung anzuhalten u. s. w.
Art. 40 gibt die wichtige Zusicherung, daß den deutschen Staaten und
ihren Unterthanen volle und gleiche Theilnnhipe an. allen Privilegien. Frei¬
heiten und Vortheilen zustehen soll,, welche der Regierung oder den Unter¬
thanen irgend'eiM andern. Nqtion gewährt sind oder noch gewährt werden
mögen. Art. 41 und 4.2 setzen die Dauer. Kündigung, und Ratification des
Vertrages fest.
Man wird aus. Vorstehendem ersetzen, daß die Reckte der Vereinigten
Staaten Von, Deutschland auf eine Grundlage gestellt sind, welche ihren An¬
gehörigen die Concurrenz mit andern Nationen vollständig möglich macht.
Sind einige derselben., namentlich die, Engländer, uns überlegen, indem sich
die Chinesen an- ihr.e, Wgaren gewöhnt haben, so haben wir bei vielen Ar¬
tikeln durch die wohlfeileren Preise Chancen, sie zu schlagen. Hierfür gibt
der Bericht beachtenswerthe Winke, welcher von den technischen Mitgliedern
der Expedition, den Herren Grube und Jacobs, über die Handelsbeziehungen
zriiu östlichen Wen abgestattet ist.
Der Wichtigste Einfuhrartikel sind Gewebe, und von diesen^hahen deutsche
Wollenwaaren die meiste Aussicht auf einen günstigen Markt, während in
Baumwollenwaaren und Garn England in einer Weise den Markt beherrscht, welche
deM.Verfasser vorläufig wenig Aussicht aus erfolgreiche Concurrenz läßt. Von
allen tuchartigen Stoffen finden in China den besten Absatz die sogenannten
Lpanisd Ltiixes, eine leichte, ziemlich dünne, den Uebergang von Flanell zu
T.und bildende ganz wollene Waare, wovon jetzt ca. 50.000 Stück jährlich ein¬
geführt werden, Deutsche Fabriken haben sich schon in.it der Anfertigung
dieses Stoffes beschgftigt. ohne jedoch rechten Erfolg, zu haben; der Bericht
gibt als Grund an, dqß dieselben in Länge, und Breite nicht reel^ seien,
was bei einem Volke welches so peinlich auf Jnnehaltuug aller Vorschriften
bei Aufmachung einer Waare siehj wie die, Chinesen, den Absatz, sofort stocken
macht; dies zeigt, sich, auch, bei der Verpackung, und Zeichnung, wo, die chine¬
sischen Kunden geiM das verlange^, was hergebracht ist. Di> meisten eng?
lischen Qualitäten sind seit Jahr und Ma. bekannt und durch die außeror-
dentliche Gleichmäßigkeit und Genauigkeit, mit der eine Tetrd'ung aufgemacht
ist wie die andere, haben sie die Chinesen so verwöhnt, daß sie Alles, was
nicht so ist. mit Mißtrauen ansehen Und noch mißtrauischer werden, wenn sie W
einmal getäuscht haben. Die Thatsache, daß der Verbrauch dieses Artikels
nM jedem Jahre wächst, muß unsre Fabrikanten veranlassen. alle Kräfte auf¬
zubieten, um den Engländern erfolgreiche Concurrenz zu machen.
Dieselben Gründe können es nicht sei», weiche deutsche Tuche bis setzt in
so geringem Maße an den chinesischen Markt dringen, da dieselben in Ame¬
rika England ganz geschlagen haben, wobei noch nicht einmal in Anschlag gebracht
ist. daß bedeutende Sendungen deutscher Tuche ungefärbt nach England gehen
und von dort appretirt als englische in die Welt geschickt werden. Es kann
also nur an mangelndem Unternehmungsgeist und der Bequemlichkeit biegen,
welche verschmäht auf die Eigenthümlichkeiten einzugeben, die der chinesische
Kunde verlangt. „Die Fabrikation der Zephyre", sagt der Bericht, „liegt
meistens in den Händen kleinerer Tuchmacher und solcher Leute, welche nicht
im Stand sind ein Geschäft. nach China direct zu machen oder überhaupt
nur einen Ballen nach China nach Vorschrift aufzumachen. Alle diese Qua-
litäten werden auch für andere Gegenden durch Zwischenhäute gekauft; will
nun ein Kommissionär einen Versuch für China machen und verlangt die
Waare bei gleicher Qualität 61 Zoll, anstatt 48 oder 50 breit, so kann er
sicher sein, daß die Meisten sich gar nicht daraus einlassen. Sie arbeiten wie
Vater und Großvater ihre gewohnte Qualität und hassen die Mühe, ihren
Webstuhl anders einzurichten, obschon diese in nichts Anderem besteht, als das
Geschirr 2500 Fäden hoch zu machen, während es vorher vielleicht 1900 bis
2000 doch war. Läßt sich aber wirklich Einer darauf ein, so fangen die
Verdrießlichkeiten erst recht an: sind die Probestücke gut und einigt man
sich.über den Preis für eine größere Partie, so wird nach allen Seiten hin
gespart, an Kette wie Einschlag, um etwas mehr zu verdienen, und man be¬
kommt schließlich eine ganz andere Waare, als man bestellt hat."
Die Hauptsache scheint uns danach zu sein. daß die Theilung der Arbeit
richtiger durchgeführt werde als bisher. Ein Fabrikant ist selten geeignet. ti°
reel'e Geschäfte nach China zu machen, deutsche Häuser in den Hafenplätzen
müssen die Sache in die Hand nehmen, die Waare in den Fabnkortcn ge-
MN nach den dort nöthigen Vorschriften machen lassen, und sie selbst ver¬
packen, dann würden deutsche Tuche die englischen in China so gut schlagen
könne» wie in Amerika, während jetzt die letztern eine Art Monopol genießen
»ello im Süden auch die russische Waare verdrängt haben. Im Norden be¬
hauptet letztere den Markt und wird auel schwer von der unsrigen zu verdrän¬
gen das russische Geschüft basirt auf dem Tauschhandel in Kiächta und
die Russen können die Tuche billig geben, da der Karavanenthee außergewöhn¬
liche Begünstigungen genießt und der Nutzen am Thee den niedrigen Preis
der Tuche überwiegt. Der Bericht meint indeß nach einer sorgfältigen Berechnung,
daß der Versuch einer Concurrenz zu machen sei. Er gibt dann noch genaue Nach¬
richten über die Chancen anderer Wollwaaren, wie Flanelle, Lastings, Tibets u. s. w.
Für Strumpfwaaren ist China kein Markt, da die Chinesen nicht an gewebte
Strümpfe zu gewöhnen sind, sondern nur gefütterte Socken aus Shirting tragen.
Glaswaaren dagegen gehen schon in recht ansehnlicher Menge von Dentschland
dorthin. Stobwassersche Lampen sind bereits wohlbekannt, von Bernstein wer¬
den am meisten Schnupftabalflacons und gelbe ovale Perlen gesucht; die
leichten deutschen Bijouteriewaaren passen wenig für die dortigen Sitten-, die
ansässigen Europäer geben den massiveren englischen und französischen Arbei¬
ten den Vorzug, die durch Controlstempel Garantie für richtigen Feingehalt
bieten. Im Allgemeinen gilt als Regel, daß in Waaren, weiche die Chinesen
auch machen, die Concurrenz da unmöglich ist, wo die Handarbeit überwiegt
und ihr Werth den Werth des Materials und der Maschinenarbeit wesentlich
übersteigt, da aber, wo mechanische Fabrikeinrichtungen die Hauptarbeit aus¬
führen, hat unsre Industrie Aussicht auf Erfolg. Blei ist ein wichtiger Ein¬
fuhrartikel, namentlich für die Ausfütterung der Theckisten, ebenso bei dem
rasch steigenden Schifffahrtsverkehr Provisionen, besonders Pöckelfleisch, Käse,
Hülsenfiüchte. Zwieback, ^iqueure und Bier, woran die Chinesen viel Ge¬
schmack finden; dasselbe muß aber stark sein, um den Transport zu tragen.
Die Bereitwilligkeit, genau nach den chinesischen Forderungen zu arbeiten, ist
die eine Hauptbedingung eines schwunghaften deutschen Geschäftes, die andre
steigender Verbrauch chinesischer Erzeugnisse; denn ein umfangreicher Verkehr
kann nur gedeihen, wenn Ein- und Ausfuhr sich im Wesentlichen decken; hat
doch der europäische Geldmarkt es vor einigen Jahren schmerzlich empfinden
müssen, als bei dem schlechten Ausfall der Seidenernte so viel Silber nach
China ging, um die dortigen Einkäufe zu bezahlen. Die beiden Hauptaus-
fuhrartitel Chinas sind für uns Thee und Seide. Leider ist der Consum des
erstem Artikels in Deutschland noch ein sehr geringer, der einzige deutsche
Markt für Thee. Hamburg, steht daher ganz in der Abhängigkeit von London,
welches überhaupt, von Rußland abgesehen^ alle Märkte Europas in diesem
Artikel beherrscht; der Verbrauch müßte in Deutschland von den höhern Krei¬
sen in die Massen dringen, um die Ausdehnung zu gewinnen, welche Ham¬
burger Häuser veranlassen könnte, größere Ladungen zu lausen. In ähnlicher,
wenn auch nicht gleicher Abhängigkeit vom englischen Markt steht Deutsch¬
land in Bezug auf Seide. China erzeugt davon ca. 500,000 Ballen, welche
früher ausschließlich im Lande verbraucht wurden, von denen aber jetzt ca.
90.000 Ballen nach Europa gehen. Der Ausfall der europäischen Ernten
und die gesteigerte Nachsteige richteten das Augenmerk unsrer Fabrikanten da¬
hin, woher die Engländer seit langen Jahren starke Bezüge machten, der
Ankauf in London muß aber den Rohstoff natürlich um so viel vertheuern,
als Unkosten und Verdienst des dortigen Importeurs beträgt, dieser Umweg
muh also vermieden werden, um chinesische Seide mit Vortheil zu beziehen.
Auch hier wie bei dem Versand unsrer Manufacturwaaren kommt es auf rich¬
tige Vertheilung der Arbeit an. Ein Fabrikant, der nicht einen sehr großen Be¬
trieb hat> kann selten 6—8 Monate vorausbestimmen, welche Sorten und
Menge von Rohseide er brauchen wird, und bezieht daher lieber vom englischen
Markt, von wo er seine Waare in 14 Tagen haben kann. Es müssen sich da¬
her deutsche Häuser in Hafenplätzen mehr auf den bloßen Seidenhandel wer¬
fen und den Fabrikanten den Rohstoff billiger bieten, als sie ihn in England
finden. — Wolle ist bisher wenig ans China ausgeführt, kann aber für den
Norden, der weder Thee noch Seide erzeugt, ein sehr wichtiger Artikel werden.
Die Chinesen haben ihre Wollen bisher nur zu ganz geringen Geweben ver¬
arbeitet, sie werden aber ihre Aufmerksamkeit der Erzielung eines feinern Roh¬
stoffes unzweifelhaft zuwenden, wenn sie sehen, daß er von Europäern gekauft
wird. In Kolonialwollen, namentlich australischer, ist England ebenfalls bisher
tonangebender Markt gewesen, es liegt aber kein Grund vor, weshalb wir
nicht direct beziehen sollten. Herr Jacobs räth, sich dafür so einzurichten, daß
die Sendungen zur Zeit des Wollenmarkts nach Berlin kommen, wo gewöhn¬
lich der Ausschlag für die Saison gegeben wird, und wo die Preise seit
Jahren trotz hoher Conjunctmen weit über das hinausgegangen, was die
Producenten erwarteten, weil der Consnm die Zufuhr start überstieg; es wür¬
den deshalb die Sendungen neuer im Markt noch nicht erschienener Wollen ans
eine den Verhältnissen mehr entsprechende Regulirung der Preise günstig ein¬
wirken.
Was die Schifffahrt betrifft, so bestätigt der Bericht die bekannte erfreuliche
Thatfache, daß die deutsche Rhederci in China eine sehr bedeutende Stellung
einnimmt, namentlich ist die Küstenschifffahrt zu drei Viertheilen in deutschen
Händen, zunächst weil die deutschen Schiffe meistens die richtige Größe für
diesen Handel haben, sodann weil unsre Copitäne die chinesischen Kaufleute
anständiger und besser behandeln als alle übrigen. Den größten Antheil an
dieser Bewegung deutscher Flaggen hat Hamburg, nach ihm Bremen und
Oldenburg, es ist aber kein triftiger Grund vorhanden, weshalb die preußische
Marine dort so schwach vertreten ist: China ist ein holmrmes Land, und bal-
tiiches Bauholz oder Kohlen geben immer eine Hinfracht, welche sich gut ver¬
kaufen laßt, außerdem sollten preußische Schiffe es benutzen, daß sie jetzt zwi¬
schen China und Japan fahren können.
Die drei wichtigsten Handelsplätze Chinas sind Hongkong, Shanghae und
Canton. Ersteres, eine ein der östlichen Seite der Mündung des Cantonflusses
Gelegene Insel, ist seit dem Vortrage von Nanking englische Besitzung, Frei¬
hafen und Sitz der englischen Regierung in China überhaupt, dort kommen
die europäischen Nachrichten zuerst an, von dort wird das ganze Geschäft dis-
ponirt, alle für den Süden bestimmten Waaren werden, wenn sie nicht schon
vom Schiffe verkauft sind, in Hongkong gelöscht, wo sie sicher liegen und
wegen des Frciha'eus ohne Unkosten und Abgaben versandt werden können.
Die auf der westlichen Seite des Flusses liegende portugiesische Besitzung
Macao hat ihre Be'euwng wesentlich verloren, seit Hongkong englisch wurde.
Shangchae ist nach der Ansicht des Berichterstatters die wichtigste Stadt
Ostancns, da ihre Lage in unmittelbarer Nähe der Thee- irrt Seidendistrikte,
sowie die klimatischen Verhältnisse der Provinzen, die sie versorgt, ihr das
Uebergewicht über alle andern Häfen sichert. Fast alle Häuser in Japan sind
Filiale der hiesigen, für deutsche Industrie bietet sie die besten Abzugsquellen.
Canton hat durch die Rebellion verloren, indem dieselbe einen Theil des
Geschäftes nach Hongkong getrieben, wird aber ein wichtiger Platz bleiben,
weil sich naturgemäß dort das Geschäft nach dem Süden concentriren muß;
es ist der Hauptplatz chinesischer Industrie.
Wir hoffen, daß die preußische Regierung den so verdienstlichen Berichten
der technischen Commission eine größere Öffentlichkeit geben wird, wenn sie
den Bertrag dem Landtage vorlegt. Sie wie Graf Eulenburg und alle bethei¬
ligten Mitglieder der Expedition haben sich durch die Lösung ihrer mühevollen
Aufgabe ein Recht aus Deutschlands Dank erworben, um so mehr, als Preu¬
ßens eigene Interessen schwerlich geboten, bedeutende Opfer für die Erreichung
dieses Bertrages zu bringe». Indem die preußische Regierung dies doch that'
unterzog sie sich aufs Neue der wahrhaft nationalen Ausgabe, mit ihren Mit¬
teln Deutschland die Stellung anzubahnen, welche ihm an einem so wichtigen
Punkte des Weltverkehrs gebührt.
Wenn es verschiedene Dinge, Bauten. Gegenden. Gemälde, Gesichter
gibt, die sich von nahe gesehen, wenn es andere gibt, die sich von ferne be¬
trachtet besser aufnehmen. so gehört die Regierung des heiligen Vaters offen-
bar zu den letzteren. Je weiter von Rom, desto mehr Verehrung vor ihr,
je näher, desto weniger. Vielleicht traurig, aber wahr — vielleicht wahrer
als traurig für den Protestanten!
Die wärmste Zone liegt an der Peripherie des Kreises, der auf die ewige
Stadt als seinen Mittelpunkt blickt. Im fernen Amerika nahm der herum¬
gehende Klingelbeutel des Peterspfennigs die reichsten Spenden in Empfang,
in Spanien, Irland und Polen wird jedenfalls am inbrünstigsten für tue Ge¬
nesung des kranken Mannes an der Tiber gebetet.
Beträchtlich kühler schon ist die Temperatur in Frankreich und Deutschland.
Zwar gibt sich die Partei der politischen und kirchlichen Dunkelmänner mit
vielem Eifer und nicht ohne Geschick dem Geschäft künstlicher Wärmeerzeugung
hin, zwar thut man das Mögliche mit Schönfärben, aber wer kann die Natur
zwingen? In Frankreich erlebte man ein lang unterhaltenes Kreuzfeuer Hirten-
brieflicher Karthaunen, geladen mit gottseliger Malice, Demonstrationen im
Senat, Demonstrationen im Gesetzgebenden Körper, Feuerwerk mit Weihrauch
in der Presse, und wir wollen gern annehmen, daß viele davon für Rom
warm wurden, noch mehre daran Gefallen fanden. Hat das bekannte „I^a,vo
tes Mains, ?ilattz!" als Muster tragischer Komik doch uns selber höchlich ver¬
gnügt. Aber eigentlich war Alles doch nur Hnmbug gegen Humbug, und
Niemand wird uns einreden, daß all das Heizen und Hetzen der Veuillot. der
Dupanloup, Poujoulat und Montalembert auf d>e, welche nächst dem Kaiser
die Entscheidung der Sache in der Hand haben, auf die Klasse der Gebildeten,
auch nur halli so viel Eindruck gemacht hätte, als die einzige Broschüre Eo mort
Abouts, so wenig innern Werth diese auch vergleichsweise gehabt haben mag.
In Deutschland finden sich einige warme Oasen, Westphalen und Rhein¬
land, Tirol und das brave Altbayern zum Beispiel, wo dörfliche Einfalt und
Pfahlbürgerlicher Biedersinn, unaugekränkelt vom Geist der Zert. sich Rom noch
alK ein Stück auf die Erde gefallnen Himmel, den Papst noch nur einem Hei¬
ligenschein so groß und prächtig wie ein Sonnenaufgang, die Cardinäle mit
etwas kleineren und bleicheren Glorien umgeben vorstellen können, und wo
kindliche Gemüther ihren Pfarrern noch glaubten, wenn sie eine vernünftige
Regulirung der italienischen Verhältnisse, die eine Expropriation der römischen
Eurie einschließt, in einem Ton verdammten, als gälte es. gegen einen Griff
nach Sanct Peters Paradicscsschlüssel, gegen Beraubung des großen, aus den
überschüssigen guten Werken der Heiligen zusammengeflossenen Gnaden- und
Ablaßschatzes der Kirche, gegen gottloses Ausblasen aller ewigen Lampen der
Christenheit zu eifern. Im Allgemeinen indeß verhielt man sich auch hier
ungemein kühl. Päpstliche Werber recrutirten ein paar Hundert verlaufene
Burschen für die Thermopylen von Castel Fidardo. Der Sack mit dem deut-
lchen Peterspsennig aber war der magerste unter seinesgleichen, und mitten
eins dem urfrommen Altbayerland erhob sich eine Stimme in der Wüste,
erhob sich Döllinger's Stimme — grausenvoll zu sagen — gegen die
weltliche Herrschaft des Papstes.
Lassen wir das Auge die Alpen überschreiten, so entdecken wir sofort, daß
hier die Gleichgiltigkeit gegen das Papstthum überhaupt am kältesten, der
Haß gegen das weltliche Papstthum am heißesten ist. Und zwar steigert sich
jene Kalte wie diese Wärme mit der Annäherung an Rom, daß man es mit
dem Thermometer messen könnte. In Italien überhaupt wenig Liebe und
viel Haß, im Kirchenstaat weniger Liebe und mehr Haß, in der ewigen Stadt
selbst Gefrierpunkt von jener und Siedepunkt von diesem. Hier geben der
Priesterherrschaft trotz einer wachsamen Polizei zehntausend Bürger zum Theil
aus den höchsten Ständen durch Adressen an Napoleon und den König von
Italien ein doppeltes Mißtrauensvotum. Hier ist das Wort „mores al preti!"
zum täglichen Gebet der Massen geworden. Hier, aus nächster Nähe des
Vaticans, erschien im vorigen Jahre das Buch, welches wir dem Folgenden
zu Grunde legen, das Stärkste, was in den letzten Decennien gegen die Politik
der römischen Curie veröffentlicht worden ist. die Schrift Liveranr's: „II
?gMt,o, l'Impero e it Keg'no ä'ItMa."
Der Verfasser ist kein oberflächlicher Literat. kein witzelnder ungläubiger Vol-
tairianer, kein bezahlter Pasquillant, wie die journalistischen Gehilfen der
deutschen Reaction — betläufig selbst Ltteratcn, selbst ohne Glauben, selbst für
Honorar arbeitend und selbst start im Pasquiltschreiben, nur meist ohne Witz —
About bezeichneten. Monsignore Francisco Liveraui. Canonicus der Basilica
Santa Maria Maggiore, Hausprülat und Protonotarius des heiligen Stuhles,
ist ein geachteter Gelehrter, ein gründlicher Kenner der römischen Verwaltung,
ein rechtgläubiger Katholik vom reinsten Wasser, ein ernster gewissenhafter
Charakter. Er wurde zur Abfassung seiner Schrift von keinerlei Ehrgeiz ge¬
trieben. Der einzige sichere Lohn, der ihm dabei vor Augen stehen konnte, war der
Verlust seiner Aemter und Würden und die Verbannung aus seinem bisherigen
Wirkungskreise. Ja mehr noch, Livcrani ist in gewissem Maß ein Verehrer der Persön¬
lichkeit des jetzigen Papstes, den er schon als Bischof kannte, dein er sich verpflichtet
fühlt, und wenn ihm einmal der Ausdruck „der altersschwache und möuchtschc
Pontifex" entschlüpft, so macht er dies durch lange Lobreden wett, die P>o
Nouv als einen der liebenswürdigsten, sanftesten und frömmsten unter den
Trägern der dreifachen Krone feiern.
Und doch ist sein Buch die härteste Verurtheilung der Zustände in und
um den Va.dicam. die schwerste Anklage der dortigen Wirthschaft vor dem Forum
Europa-s, fast in jeder Zeile ein schneidender Schmerzensschrei, beinahe in
jeder Wendung ein Gebet: Herr, erlöse uns von dem Uebel! Der kecke Spott,
die geistreiche Ironie About's werden Manchen ergötzt haben, auf den Ange"-
griffnen und seine Partei wirkten sie wohl nur wie die Pfeilschüsse und Schleu-
verwürfe eines leichten Plänklers. Der römische Monsignore dagegen mit
seinem langathmigen, etwas alterthümlichen Pathos, seiner tiefinnerlichen Ent¬
rüstung, seinen oft naiven Bekenntnissen stürmt auf unser Urtheil wie ein
schwerer Hoplit heran.
Das weltliche Papstthum ist krank, ist am Verscheiden. Man wird es
begraben müssen, wenn seine Gönner und Aerzte nicht bald ein Mittel aus¬
findig machen, ihm neue Lebenskraft einzuflößen. Der Wiener Trank der
Restauration wird es nicht thun. Er kann nur der Krankheit das Leben
fristen. Heilen würde nur die Arznei der Reform, und für diese hat der
Kranke nur ein Wort, wird und kann er immer nur ein Wort haben: von
possumus!
„Die Restauration", so ruft Liverani dem Grafen Montalembert, der
Realist dem romantischen Idealisten, der Römer dem Römling zu, „die Restau¬
ration bei uns heißt eine unversöhnliche Aechtung, welche den Vätern die Fa¬
milie, den Söhnen den Lebensunterhalt. Allen das Vaterland, das Behagen
des Hauses und jene Luft und jenen Himmel entreißt, den die Vorsehung
für uns erschaffen hat. Die Restauration heißt die Croaten. die in der Romagna
tagtäglich ohne Rücksicht auf Alter, Rang und Geschlecht Ruthenstreiche aus¬
theilen. Die Restauration heißt Verbannung, Einkerkerung, Gütcreinzichung,
Hirtenbriefe, unterirdische Verschwörungen (Carbonari). geheime Verbindungen
(Sanfedisten). die in jede Faser des menschlichen Verkehrs eindringen und
unsre ohnehin schon verdorbenen und verkommenen gesellschaftlichen Zustände
noch mehr zerfressen und beschmutzen. Die Restauration, das bedeutet gebrochne
Zusagen der Fürsten, verletzte Eide der Könige, neue Antonelli. neue Galli
(s. u.), neue Banken, neue Monopolisten, <M äsvoiÄlit pledem in«zam ut eseam
p-mis. Die Restauration, das bedeutet sür uns Dolche, Kartätschen, Musketen.
Bomben und alle Gräuel des Bürgerkriegs, Heimsuchung des platten Lande
durch Räuber, der Städte durch Meuchelmörder, Verwandlung des ganzen Ge-
viets in einen Schauplatz grauenvoller Verbrechen. Die Restauration, das
bedeutet einen unaufhörlichen Wechsel von Aufstand und Aechtung. von Em¬
pörungen. Monitorien und Excomunicationen. verlachten Bullen, Zeitungswitzc-
leien über die Responsen der Penitenzeria. Abwendung unserer Jugend von
den Werken der Gottesfurcht, vielleicht auf Nimmerwiederkehr. Es ist jetzt
das dritte oder vierte Mal. daß uns das Schauspiel eines vom Papst ver¬
fluchten Italiens betrübt. Das gegenwärtige Bullarium ist nur noch ein
Nachschlagebuch von tadelnden Urtheilen, die Zeitgeschichte nur noch eine Ver¬
spottung und Verhöhnung derselben. Und nun frage ich Sie. als Staatsmann
von gesundem Menschenverstand, als katholischen Philosophen, ob Sie den er¬
forderlichen Muth besitzen, um den Feinden Frankreichs so viel Uebles anzu-
wünschen, als Sie sich nicht entblöden, den Italienern in Aussicht zu stellen.
Ich frage Sie. ob ein solches System länger dauern sann, ohne die Christen¬
heit in der Tiefe ihres Herzens zu treffen."
Das also wäre die Z u kunst Roms und Italiens, die nach der Meinung
unseres Prälaten, der alle Kenner der italienischen Geschichte im Wesentlichen
beipflichten werden, in der Flasche mit dem Wiener Trank bereit gehalten wird.
Sie würde dem Volke Italiens von Neuem Alles nehmen, was das Leben
werth macht, und dem Papste nichts geben, als eine kurze Frist bis zu neuen
Krisen. Betrachten w>r jetzt mit Livercmi die Gegenwart, so werden wir
bei aller Abneigung vor Uebertreibungen begreifen, daß Palmerston sagen
konnte, Rom sei nie besser regiert worden als unter Mazzini*), und daß Rus¬
sell's Vergleich zwischen der päpstlichen Wirthschaft und der türkische» zu Gun¬
sten der letzteren auffiel. Und so werden wir den Schluß, zu dem unser Be¬
richterstatter gelangt! „Das Haus des Stellvertreters Christi ist ein Sumpfpfuhl
und eine Kloake von Skandal und schändlicher Ruchlosigkeit" nicht recht ästhe¬
tisch, vielleicht etwas unreinlich, aber kaum ungerecht finden.
Es klingt stärker, als wir in der Ferne uns ausdrücken würden, wenn Liverani
das vierte Kapitel seiner Schrift „das weltliche Fürstenthum der heiligen Kirche
die Beute einer Vetternschaft und Rotte unter dem Ministerium Antonelli"
überschreibt und der dort herrschenden Sippschaft wiederholt das Prädicat
„schuftig" ertheilt. Aber wenn wir mit ihm naher an dieses Regiment heran-
treten, werden wir doch kaum umhin können, seinen Eifer zu theilen und den
guten Ton — wenn auch nur im Stillen — bei Seite zu setzen vor der Noth¬
wendigkeit, das Kind beim rechten Namen zu nennen. Im Nachstehenden
thun wir dies mit gewohnter Kaltblütigkeit und möglichster Rücksichtnahme
auf die Empfindung derer, die mit der vollen Wahrheit über das weltliche
Papstthum auch das geistliche verletzt sehen.
Es gab unter Benedict dem Dreizehnter eine Zeit, welche Montesquieu
als „die niederträchtige Tyrannei Bencvcnts" und Muratori als die Zeit der
„beneventinischen Aasgeier" bezeichnete, weil eine Clique von Prälaten aus
Benevent damals Kirche und Staat Roms an sich gerissen hatte, um sie auf
das Rücksichtsloseste für ihre persönlichen Zwecke auszubeuten. Diese greuel-
volle Periode scheint jetzt zurückgekehrt zu sein, nur mit dem Unterschied, daß
die Geier nicht aus Benevent, sondern von dem Felsen stammen, auf welchem
das bekannte Näubernest Sonnino liegt.
Nach den Beschlüssen der Kirchenversammlung von Basel und Kosemitz
sind allen höhern Beamten des heiligen Stuhles aus der gesammten katho-
lischen Christenheit zu wählen, und wir wissen, daß diese Vorschrift früher
wirklich in gewissem Maß befolgt wurde. Später beachtete man das Gesetz
weniger. Jetzt — man vergliche die Listen Liverani's — sind fast alle Stel-
len und Würden im Patrimonium Petri mit Männern aus Rom selbst und
dessen nächster Umgegend und die wichtigsten und einträglichsten davon (das
Waffenministerium ausgenommen) mit Gliedern der Clique von Sonnino,
d. h. mit Angehörigen der Familie Antonelli besetzt.
Wir sehen uns das Collegium der Cardinäle an und bemerken, daß die
weitüberwiegende Mehrzahl der Eminenzen aus den Abruzzen, aus Campanien,
der Comarca und Rom selbst stammt, daß die edelsten Provinzen und Städte
Mittelitaliens. Bologna, Ferrara, Ravenna, Forli, Urbino. Pesaro und Perugia
Niemand in der Prälatur haben, daß der in der Ferne lebende Cardinal
Wiseman der einzige wirkliche Gelehrte unter den hochwürdigsten Röth-
mänteln ist. Die besten von den in Rom wohnenden Cardinälen sind
der Benctianer nardi und der Corse Peraldi, obgleich sie schroffe Reactio-
näre sind. Unter den übrigen gibt es weder eiuen hervorragenden Theo¬
logen noch einen bedeutenden Juristen noch sonst ein Talent der Erwäh¬
nung werth. Pocht man bei ihnen an, so trifft man höchstens etwas
Advocatenpfiffigkeit und Kanzleigewandtheit. Ja von Antonelli erzählt Li-
verani sogar eine Anekdote, aus der man schließen möchte, der Premierminister
Pio Nouv's könne nicht einmal richtig Latein lesen.
Wir schlagen das Verzeichniß der höhern Staatsbeamten auf und lesen:
Giacomo Antonelli. Staatssecretär und Präfect der heiligen apostolischen
Paläste, aus Sonnino, Graf Filippo Antonelli. Finanzrath und Gouverneur
der römischen Bank, Bruder des Borigen, aus Sonnino. Graf Luigi Anto¬
nelli, Conservator. d. h. Verwalter der Stadtkasse von Rom. Brütet des
Vorigen, aus Sonnino. Ein anderer Bruder ist Großhändler mit Lebens¬
mitteln, und zu seinen Gunsten werden, je nachdem seine Magazine leer oder
gefüllt sind, die auffallendsten Ausfuhrverbote erlassen, die unbegreiflichster!
Zollerleichtcrungen verkündigt. In der That, man darf sich beinahe wundern,
daß der Premierminister nicht auch seinen Herrn Oheim, den vielgenannten
Räuberhauptmann Gasparrone mit einer Stelle bedacht hat, der wegen Mor¬
des zu Civita Castellana im Thurm sitzt. Die Verwaltung des Kirchenstaats
und die Familie Antonelli wären dann völlig ein und dasselbe.
Indeß ist schon die jetzige Zusammensetzung der Firma Antonelli gut
genug für diese und schlimm genug für das römische Volk. Die Bank ist
das sagt nicht blos Livcrani — vollkommen zum Monopol der Gebrüder von
Sonnino geworden, und sie nutzen mit ihr den Rest des Kirchenstaats nach
wahrhaft türkischer Methode aus. Das Statut derselben wurde von Giova-
n arti entworfen, den man wegen Betrugs einsperren mußte, und von dem
früheren Finanzminister Guill unterzeichnet, den der Papst wegzujagen ge-
nöthigt wurde, weil der Biedermann Miene machte, das Institut ohne Rück¬
sicht auf Antonclll's Interessen auszubeuten. Der Name des heiligen Vaters
steht neben dem eines Galli, eines Giovanardi. „Die schändlichsten Schurken!"
ruft Liverani's Erbitterung aus. Man emittirt auf einmal Noten im Betrag von
fünf Millionen Scudi. eine Summe, die durch das Bedürfniß nicht entfernt
gerechtfertigt ist. Die Folge ist, daß die Preise aller Waaren sofort in er¬
schreckendem Grade steigen, und daß die Kirchengüter bei Erneuerung der
Pachtverträge ein schönes Geschäft machen, nur die Löhne bleiben dieselben.
Dann werfen sich die Antonelli auf die Waaren selbst und vorzüglich auf die
wichtigsten derselben, auf die Lebensmittel. Bruder Filippo. der Bankgouverneur,
öffnet und schließt, je nach dem Interesse der Firma, den Sack mit dem Tausch¬
mittel, Bruder Luigi, der Conservator, wirkt emsig für das Geschäft als Leiter
der Getreidepolizei. Jener operirt auf die Schaar der Müller, Bäcker, Fleischer
und Obsthändler, dieser versammelt die Höker und Zwischenhändler unter
seine Flügel. So ist das Volk, soweit es aus essenden und trinkenden In¬
dividuen besteht, vollständig in den Händen der Finanziers von Sonnino.
und es muß hungern, wenn es den Zoll des Cardinal - Staatssecretärs nicht
bezahlen kann. „Zehn Pfund Brot 25 bis 30 Bajocchi!" seufzt Liverani's.
betrübte Seele. Vergleicht man die Brotpreise mit den Getreidepreisen auf
dem großen Markt, so hört aller Zusammenhang auf, so stehen Sinn und
Verstand still.
Die Antonelli nahmen ferner den Torlonia die Regie des Salzes und
die des Tabaks ab, sie vertheuerteu Oel und Wein, sie speculirten in den
Verschiedensten andern Lebensbedürfnissen und sicher meist mit Glück für ihre
Kasse. Dennoch wollen sie arm sein, und da sie sich sorgfältig hüten, ihren
Reichthum durchblicken zu lassen, so glauben ihnen die. welche glauben wollen.
Aber die Römer haben gute Augen und Ohren, und sie wissen, daß die Brü¬
der täglich Geld .in Häusern und Actien anlegen, ja es geht das Gerücht,
die Firma habe bereits ein paar Millionen ihrer Ersparnisse in der englischen
Bank deponirt. was wir bis auf genügenden Beweis für ein Wenig hochge-
griffen, wenn auch keineswegs für unmöglich, halten wollen.
Veuillot hat den Cardinal-Stnatssecretär Pio Nouv's einen Heros genannt.
Nach den Mittheilungen Liverani's werden wir dem französischen Panegyriker inso¬
fern nicht Unrecht geben dürfen, als eine solche Ausnutzung ministerieller Befugniß
weit über gewöhnliches menschliches Thun und Begreifen hinausgipfelt.
Die „Grenzboten" haben in einem früheren Aufsatz (Iaiirg, 1360. 1.
Viertelj. S. 281 ff. und S. 331 ff.) die gesammte Wirthschaft im Kirchen¬
staat ausführlich geschildert, und da Liveram das Wesentlichste des dort Ge-
sagten nur in andrer Form wiederholt, so beschränken wir uns darauf, aus
seiner Darstellung noch einige Personalien und namentlich noch die Charak¬
teristik der andern Hauptpartei in der Umgebung des heiligen Vaters zu ent¬
nehmen, die von dem Monsignore zum Unterschied von Antonelli und Genossen,
der Partei der Bankiers, die Partei der Priester genannt wird, aber leider so
wenig wie jene dazu angethan ist. unsre bisherige Meinung von den römi¬
schen Zuständen zu bessern.
An der Spitze der Priesterpartei steht nach Liverani „ein Amphibium",
welches vermöge seines geringen Verstandes und der Gunst des Papstes bis-
weilen nützt, bisweilen schadet, der Cardinal Patrizi. Andere hervorragende
Mitglieder dieser Gesellschaft sind Monsignore Capalti, von dem es uns leid
thut, daß unser sachkundiger Berichterstatter keine mildere Bezeichnung zur ihn
fand, als die eines Charakrers „von schwärzester Schurkenhaftigkeit". und der
Bischof Cardoni, „dessen Gottesfurcht", nach Ansicht Liverani's, „mit dem Pro¬
fit wächst." Keiner von diesen Prälaten besitzt ungewöhnliche Fähigkeiten, es
wäre denn die des Ränkespinncns zum eigne» Vortheil, keiner ist auch nur
im Stande, mit Erfolg zu predigen. Dennoch erweist der Papst ihnen Ver¬
trauen und fügt sich ihren Intriguen in den wichtigsten Fragen der Ver¬
waltung.
Wir schweigen von andern unheimlichen Hausgenossen des Vaticans,
von dem Zusammenhang zwischen dem päpstlichen Waffenministcr und den
Näuberhauptleuten. die im Solde und unser der Fahne der Bourbonen Süd-
italien brandschatzten, von dem Proceß des Marchese Campana und dessen
wundersamen. Ausgang, und erwähnen nur kurz den hübschen Vergleich, den-
Liverani zwischen den Höflingen der Umgebung Bencoicls des Dreizehnter und
den Kämmerlingen in der Hofhaltung Pio Nouv's anstellt. Wie der berüch¬
tigte Cardinal Coscia in Antonelli sein Seitenstück findet, so tritt hier der
Ritter Filippani, „zugleich Spediteur und Vorschneider", wie ein zweiter Bischi
auf, während die vieldeutige Persönlichkeit des Signore Balodelli. ein „Ge¬
misch von Ingenieur. Beamten und Hofschranzen," und der „phantastische,
faselnde" Stell« an andere Charaktere des päpstlichen Hofes im dritten De-
cennium des vorigen Jahrhunderts erinnern. „Alle miteinander", sagt Li¬
verani am Schluß seines Vergleichs bitter, „wiegen nicht eine Drachme, und
dennoch üben sie unablässig einen übermächtigen Einfluß auf das Gemüth
des Papstes, der gleichwohl vor keinem unter ihnen Achtung empfindet."
Fürwahr, ein wenig anmuthiges Bild, dieses Gemälde des Papstthums
in der Gegenwart! Wenn der französische Bischof, der vor Kurzem Victor
Emanuel mit Herodes. Kaiser Napoleon mit Pilatus und Pio Nouv mit dem
zum Kreuz geführten Christus zu vergleichen die Kühnheit besaß. Recht hätte,
so könnte man sich versucht fühlen, sein Gleichniß durch Vorführung auch der
Schelcher zu vervollständigen. Als starken Ausdrücken abhold und überdies
nur entfernt an der Sache betheiligt. würden wir es in diesem Fall dem
Geschmack der Leser überlassen, welchen von den Häuptern der beiden Haupt¬
parteien der Priester und der Finanzmänner sie sich auf die rechte, welchen
sie sich auf die linke Seite denken wollen. Indeß scheint das Bild unsres
französischen Eiferers ein klein wenig zu hinken. Prüfen wir es drum. Ver-
gegenwärtigen wir uns den Dulder von Golgatha vor der Zeit seiner Kreu¬
zigung, und lassen wir uns daneben von Liverani den Stellvertreter desselben
in Rom malen. Der Anfang scheint nicht sehr für uns zu sprechen, aber
erwarten wir das Ende der Charakteristik.
„Unschuld und Sittenreinheit, Liebe zu den heiligen Bräuchen, Leichtig¬
keit und Anmuth der Sprache, die Kunst aus dem Stegreif zu sprechen, die
Salbung und Sanftmuth der Geberden beim Gebet, ein Wohlklang des
Gesanges, eine erhabene Majestät in den Functionen am Altar, der Eifer,
mit dem er an viele Dinge zur Ehre Gottes (die Concordate und jetzt
die Heiligsprechung der japanesischen Märtyrer z. B.) ging, ohne selbst
die gewagtesten (das Dogma von der unbefleckten Empfängnis, Mariens
z. B.) zu fürchten — das ist ein kleines Bild der Vorzüge unseres Pius.
Keine Begünstigung von Verwandten, kein Schatten von Habgier oder Sucht
nach dem Ansammeln von Schätzen, der Werth von Gold und Silber nur
gekannt, sofern es in die Hände der Armen oder zu Schmuck und Zier des
Heiligthums absticht. Unermüdliche Geduld, Gehör zu geben und Zutritt zu
gestatten, zugleich aber starkes Interesse für die unbedeutendsten Kleinigkeiten
und die niedrigsten Klatschgeschichten. Beurtheilung der Menschen und Dinge
mehr nach dem Aeußeren und den zufälligen Umständen, als nach ihrem Wesen.
Zugänglichkeit für üble Eindrücke und schlimme Vorurtheile, zäh und jäh bei
Entschluß und Entscheidung, ebenso hartnäckig im Widerwillen, leicht gewonnen
vermöge plötzlicher Zuneigungen und vom Genie. Argloses Zurschautragen an¬
genehmer und widerwärtiger Eindrücke, verborgenster Herzensregungen in der
Miene, was doch gleichbedeutend ist mit Ueberlassung der Schlüssel zu dem¬
selben an Schurken und höfische Schlauköpfe, welche sein Inneres auf seiner
Stirn lesen. Daher in seiner Gegenwart allezeit feucht stierende Augen, halb
geöffnete L'Ppen. gebogene Hälse, halb angespannte Muskeln, stete Bereit¬
schaft, dahin zu eilen, wohin das erhabene Antlitz des Papstes sich neigt und
mit Lobhudelei seine Begehren zu wiederholen, sollten sie auch den Unter¬
gang herbeiführen. Ein rasch fertiger Richter über den Werth Anderer, aber
mehr nach Schein und Haltung, nach dem sokratischen Gesicht, dem kahlen
Kops, der wohltönenden Stimme, als nach Gaben des Geists und der Seele;
abgeneigt, seine Gunst dem zuzuwenden, der sie nicht gut zu bewahren weiß,
und darum voll Mißtrauen und Verdacht dem Ehrlichen, unvorsichtig und
wehrlos dem Verschlagnen gegenüber; tugendhaft, aber von einer Tugend
laut, rauschend, wohltönend wie seine schöne Stimme; voll Empfindsamkeit,
voll Begier, das Gute zu thun, aber so. daß tausend Zeitungen die Kunde
davon durch die ganze Welt trage», tausend Inschriften. Wappen und Denk«
münzen die Vergeßlichsten und Gleichgiltigsten daran erinnern müssen.
Wechselnd in Urtheilen und Entschlüssen, je nach dem Stande des Wetters,
dem Zuge der Wolken, dem Aussehen des Himmels, dem Fibriren der Ner¬
ven und Blutgefäße, nach dem pathologischen Zustande eines siechen Körpers
erleidet sein moralischer Mensch alle Einflüsse eines kranken Organismus.
Bei aller seiner Sanftmuth und Herzensgüte ist man Niemals gesichert vor
einem verletzenden Worte, einem plötzlichen Ausbruch von Jähzorn oder sonst
einem wenig rücksichtsvollen und liebreichen Thun."
„Diese Fehler", fährt unser Charakterzeichner fort, „sind keine Laster.
Sie sind der Dunst und Staub, von dem sich die arme Menschheit, so voll¬
kommen sie sem. so hoch sie stehen mag. nicht läutern und befreien kann.
In der Hand ehrlicher und gewandter Minister könnten sie selbst zu Tuge»-
den werden und als Same zu edeln Thaten dienen. Allein er ist ein Opfer
der Arglistigen geworden, die aus ihm ein Spiel widerstrebender und stets
schlechter Begierden gemacht haben. Pius der Neunte war fünfzehn Jahre
hindurch der Spielball elender Menschen jeder Art, jedes Landes, jeder
Partei und Seele. die sich unaufhörlich abmühten, einander seine Gewo¬
genheit zu stehlen, um sie ins Gemeine zuziehen und unter die Füße zu
treten."
Liverani meint in diesen Zügen Benedict den Dreizehnter wiederzuer¬
kennen. Andere haben eine auffallende Aehnlichkeit mit Ludwig dem Sech¬
zehnten herausfinden wollen, noch Andere werden sich durch diese Zeichnung
vielfach an einen gekrönten Herrn errinnert sehen, der unsrer Zeit und unserem
Lande noch näher stand. Auch wir halten den letzteren Vergleich nicht für
ganz unangemessen, statt aber hier ausführlicher auf ihn einzugehen, wollen
wir bemerken, daß uns noch ein anderes Königsbild einfällt. Goldene Adern,
silberne Adenr, kupferne und andre Adern von geringem Metall, wenig Halt,
wenig Widerstandskraft, kein einheitlicher Charakter und darum äußeren Ein¬
flüssen preisgeben — es ist der aus allerlei Erz zusammengesetzte König im
Goethescher Märchen, und nach dem Vorigen fehlt auch die große Schlange
nicht, die ihm zuletzt das Gold aus den Adern und Gebeinen leckt. Von
dem Vergleich des französische» Prälaten zwischen Christus und seinem Stell¬
vertreter bleibt wenig mehr übrig, als die Wirkung der Keckheit, die ihn
eingab.
Oder hätte Liverani zu dunkle Farben gebraucht? Vergleichen wir sein
Porträt mit der Biographie Mastai Ferretti's, die Karl Grün in seinem neu-
lich von uns angezeigten Buch*) nach Francesco Dall'Ongaro gibt, und wir
werden inne werden, daß unser Monsignore durchgehends von der Palette des
Respects gemalt hat. Grün gehört nicht zu dieser Schule, er ist vielleicht in
seinen Nebenbemerkungen frivoler als billig, und so werden wir, den oben
angedeuteten Grundsätzen getreu, sein Bild Pio Nouv's nicht vollständig, son¬
dern nur in den Grundzügen geben Daß es in diesen dem Original noch
mehr entspricht, als das Liveranische. möchten mir nicht bezweifeln.
Wir citiren von jetzt an Grün's Buch, wie bemerkt, mit Weglassung des
Anstößigen, und nur die Hauptsachen heranöhcbend.
Giovanni Mastai Fcrretti wurde 1792 zu Sinigaglia geboren. Seine
Familie gehört zum Adel und besaß eine» gewissen Grad von Reichthum,
Mit elf Jahren wurde der Knabe in das Iesuitencvllegium von Volterra ge¬
schickt. Jesuitisch gebildet sind alle unsere katholischen Lichter von heute.
Keine andere Erziehung macht so fähig zum Abkommen mit den Mächten die¬
ser Welt, keine läßt so viel profanen Lehrstoff zu, ohne daß diese Materie je¬
mals ihre eigne Idealität, nämlich das Licht producirte. Zunächst waren die
Lehrer wenig zufrieden mit ihrem Zögling. Er war aufmerksam, nicht-un¬
fleißig, aber mehr aus Pietät als aus Wißbegierde. Er war im Grunde
von mittelmäßigen Geistesgaben, schlicht, unentschlossen, wie er es immer ge¬
blieben ist. Mit siebzehn Jahren bekam er obendrein die ersten epileptischen
Zufälle, die ihn nöthigten, das Colleg zu verlassen. -Die Aerzte schickten ihn
nach Sinigaglia zu seiner Familie zurück, wo ihm ein sorgfältiger Müßiggang
auferlegt wurde. Er ging aus die Jagd, spielte Ball, und zwar mit Vor¬
liebe und Leidenschaft; denn seine körperliche Eleganz kam dadurch zur Gel¬
tung. Auch die Liebe gesellte sich zu diesen nobeln Passionen, aber das ernst¬
lichste der verschiedenen Verhältnisse, die der junge Mann einging, war nicht
glücklich. Die Prinzessin Albani. eine berühmte römische Schönheit, wurde
die Frau eines Andern. Ebenso wenig gönnte das Schicksal den Jüngling
dem Kriegsgatt. Mastai zählte 23 Jahre, als der König von Neapel (1815)
das „Königreich Italien" aufs Korn nahm und in den Marken erschien.
Giovanni machte die Bekanntschaft etlicher seiner Offiziere und schwärmte
für die Uniform, ein Oheim verschaffte ihm eine Leutnantsstelle in der päpst¬
lichen Nobelgarde; als aber der Minister von seiner Epilepsie hörte, wehrte
er ihm kategorisch den Eintritt.
Mastai wurde melancholisch und empfand jetzt Neigung zum Priester¬
werden. Seine unvollendeten Studien hielten ihn davon nicht ab; denn in
der Hauptstadt der katholischen Christenheit hat man das Studiren abgeschafft.
Im Hospiz Taka Giovanni erzog der angehende Geistliche die Waisenknaben
und — nach der antiken Wahrheit äoeencko Ziseimus — zugleich sich selbst.
In der herben Regelmäßigkeit dieser Existenz sammelte sich der bisher Zer-
streute, und selbst seine Epilepsie schwand allmälig.
Ein wenig von den göttlichen Dingen unterrichtet, begab er sich nach
San Carlo al Corso, um Conferenzen zu halten, bei denen seine schöne
Stimme ihm zu Gute kam. Ein zahlreiches Auditorium drängte sich um den
eleganten Herrn, der so gravitätisch einherschriit, so angenehm im Fluß der
Rede dahinschmolz, dessen Silberton das Ohr des weiblichen Geschlechts be-
zauberte. Nachdem er die Ordination empfangen, spielte er in Sinigaglia
bei einem geistlichen Schauspiel mit, der einstige flotte Ballspieler jetzt in der
Mönchskutte die Rolle des Sünders. Man klatschte und weinte, es geschahen
Zeichen und Wunder, der Geist der Weissagung stellte sich ein. Eine Jung¬
fer Ferretti ward hellsehend und prophezeite dem Mastai die glänzendste Zu¬
kunft. Nach seiner Rückkehr in die heilige Stadt wurde Mastai Canonicus
von Santa Maria Jnviolcita; jetzt führte er seinen wahren Titel, er war
der Ritter der heiligen Jungfrau geworden, für die er später so Großes voll¬
brachte. Zunächst aber ging er mit Monsiguore Muzzi, jder als apostolischer
Vicar nach Chile geschickt wurde, in die neue Welt. Von dort heimgekehrt,
wurde er zum Director des berühmten Hospizes San Michele ernannt, einer
der mächtigsten Stiftungen Roms: Kollegium, Gefängniß. Jnvalidenhospital
und Besserungsanstalt für Weiber. Mastai nahm jetzt den Ton der Autorität
an, und wenn dieser nach unten nicht sonderlich gefiel, so desto besser nach
oben — er wurde Erzbischof von Spoleto. In dieser Eigenschaft fand er
1831 beim Aufstand der Marken und der Romagna Gelegenheit, ein Vorspiel
der schwankenden Rolle auszuführen, die er spater als Papst spielte. Er suchte
zu vermitteln und hielt sein Ohr nach beiden Seiten. Er hörte die begrün¬
deten Klagen der Neuerer, hörte die monotone Stimme der Gewalt. Er be¬
waffnete die Nationalgarde unter der Bedingung, daß sie die päpstliche Co-
ccude trage, entsetzte allzuhartc Gouverneure, war aber zugleich im geheimen
Einverständniß mit den rettenden Bayonnetten der Oestreicher. Die Folge war,
daß er es nach beiden Seiten hin verdarb, sich bei der Regierung wie bei
dem Volke mißliebig machte. Nicht in die außerordentliche Untersuchungs¬
und Straftommission in den Marken gewühlt, hatte er keinen Antheil an dem
Blutbade, das die Reaction dort anrichtete, aber er protesrirte auch nicht, und
völlig unpopulär geworden, wurde er als einfacher Bischof nach Jmola ver¬
setzt. Er war damit bestraft und belohnt zugleich; denn die Bischöfe von
Jmola sind päpstlicher Same, auch Pius der Siebente erhielt als Bischof von
Jmola die Tiara.
In der neuen Stellung schmollte er, hüstelte etwas mit den Liberalen,
murmelte von nothwendigen Reformen und ging, als die Hetzjagd auf die
Carbonari zu arg wurde, zur Opposition über; die Jesuiten gleichfalls, sie
sahen ein, daß die Politik des unbarmherzigen Gregor der Klugheit weichen
müsse.
Der Papst Capellari starb zu einer Zeit, wo ganz Italien kochte und sich
zu neuem revolutionären Ueberschäumcn anschickte. Die Bewogung. die im
Norden und Osten des Kirchenstaats nusbrechen sollte, unterblieb, man war¬
tete die Wahl des neuen Papstes ab. Es war, als ob aus dem Conclave
der Cardinäle ein Heiland hervorgehe» sollte. In Frage standen der Cardi¬
nal Lambruschini, der die Politik des sechzehnten Gregor fortgesetzt hätte,
und der Cardinal Micara, der dem Volk wie ein neuer Sixtus der Fünfte
erschien. Keiner von beiden erlangte die Mehrheit der Stimmen, der Bischof
von Imola, der gerade Scrutolor war, las Zettel auf Zettel mit seinem Na¬
men beschrieben ab. Als er genug Stimmen zu haben glaubte, sank er ohn¬
mächtig in seinen Sessel. Die Kirche hatte einen neuen Stellvertreter Christi,
der Kirchenstaat einen neuen Fürsten, der sich Pius der Neunte nannte.
Zwei Rathgeber wählte sich Pius, einen geistlichen und einen weltlichen,
den Abbate Graziosi zum Beichtvater, den Cardinal Gizzi zum Staatssccretär.
Das Volk begann zu hoffen. Der neue Papst hatte so noble Manieren, war
so salbungsvoll elegant, sy>ach so fließend und mit so schöner Stimme. Er
mußte allerdings mehr leisten, wenn er die Hoffnung Italiens erfüllen wollte,
aber nicht lange, so schien es in der That, als ob er mehr, viel mehr leisten
werde. Er entschloß sich, eine Amnestie zu ertheilen.
Der Papst als weltlicher Fürst soll regieren in einem unentwirrbaren
Netz von Formeln. Einflüssen, Intriguen,, Cardinälen. Prälaten, Kollegien
und Congregativnen. er steht plötzlich mitten in einer uralten Maschine, von
der er selbst nur ein Rad bildet, er muß beim Regierungsantritt dem heiligen
Kollegium schwören, die Nechte, Besitzungen und Gewohnheiten der Kirche
unversehrt aufrecht zu erhalten. Damit soll der Weiseste und Entschlossenste
einmal reformiren. geschweige ein sanfter Paladin der heiligen Jungfrau.
Dennoch ließ sichs hier fast so an, als ob dies möglich wäre. Oestreich und
die gesammte Anhängerschaft des verblichnen Gregor boten das Aeußerste auf,
die Amnestie zu hintertreiben. Als die Cardinäle darüber abzustimmen auf-
gefordert wurden, gaben fast alle eine schwarze Kugel, aber der Papst legte
sein weißes Barct auf die Schüssel und sprach lächelnd: „Alles ist weiß —
einstimmig angenommen."
Am 16. Juli 1846 erschien das Motuproprio gedruckt an den Straßenecken
von Rom. Es ist der einzige freie reformatorische Act des Papstes Pius,
seine Ehrensäule in der Geschichte. Ein Jahrhundert von Leiden und Qual
war durch einen Augenblick der Milde getilgt. Das Volk jubelte. Pius
schwelgte im Weihrauch einer unerhörten Popularität. Gioberti triumphirte;,
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denn sein ..Papstkönig" war erstanden. Das Guelfenthum herrschte mit einem
Schlag, und Pio Nouv hieß die Parole auf der ganzen Halbinsel. Kein
Fürst stand im Wege, außer etwa Karl Albert, der finstre Brüter, der auch
am östreichischen Joche rüttelte. Das Guelfenthum hat seine letzte Probe de.
standen und ist für immer abgethan, Gioberti hat das kläglichste Fiasro ge¬
macht.
Die öffentliche Meinung schwärmte noch geraume Zeit für den „schönen
und guten Papst." dann verlangte sie zwischen Jubelrufen erst schüchtern,
endlich lauter Reformen, wahrend auf der andern Seite Oestreich und seine
Partei dringend und immer dringender zur Umkehr auf dem betretnen Wege
mahnte. Pius zauderte, horchte nach beiden Seiten und schwankte endlich
nach der Seite hin, wo die lautesten Ovationen zu erwarten waren. Er Hab
den Römern gewisse Reformen, das Censurgesetz, die Consulta, den Staats-
rath, den Ministerrath, er gestattete ihnen die Errichtung einer Bürgerwrhr.
protestirte gegen das Einrücken der Oestreicher in Ferrara, verlieh, als alle
Fürsten Italiens aus Angst vor der Revolution constitutionell wurden, sogar
eine Constitution und erklärte endlich dem Erbfeind der italienischen Unab¬
hängigkeit den Krieg. Aber in allen diesen Maßregeln war der Papst un¬
sicher, lau, ängstlich und mißtrauisch. Wo sie nicht Aeußerungen des Stre-
bens nach mehr Ovationen waren, wurden sie mit widerwilliger Hand und
dem stillen Vorbehalt ins Werk gesetzt, sie gelegentlich auf nichts zurückzufüh¬
ren. Als Durando den Helm des Scipio aufsetzte, um mit den römischen
Crociati den Brüdern in der Lombardei zu Hilfe zu ziehen, baten die in Rom
befindlichen italienischen Flüchtlinge Pius, ein italienisches Parlament zu be¬
rufen. Der Papst lächelte noch einmal allergütigst. Der glänzendste Traum
schwebte vor seinen Augen: Oberherrlichkeit des Pontifex über die ganze Halb¬
insel. Italien gehorsam zu seinen Füßen, die ganze Christenheit von starker
Hierarchie regiert; Hildebrand und Bonifaz der Achte zugleich, erflog er das
Ziel im Frieden, unter dem lauten Jubel Italiens, Europa's, der Welt.
Einer der finstersten Cardinäle fuhr durch diese rosige Traumwelt:
„Heiligkeit, in geistlichen Dingen tonnen Sie binden und lösen, aber in welt¬
lichen ist der Pontifex der Mandatar seiner Genossen, weiter nichts. Sie
können nichts nachgeben und ändern. Sie müssen erhalten. Wir haben den
Eid Eurer Heiligkeit und das Recht zu glauben, daß er nie verletzt wird!"
— „Und dann?" — „Sie müssen den Krieg gegen Oestreich verdammen, die
Truppen zurückrufen. Piemont excommuniciren, den König von Neapel her-
stellen." — „Lieber abdanken!" rief Pius. — „Die Abdankung kann nicht
angenommen werden, bis Alles sich wieder im solus puo ante befindet."
— „Lassen Sie mich mein Gewissen befragen." — „Das heilige Collegium
hat das seinige schon befragt."
Das war im April 1848, und Alles, was der Papst seitdem gesagt und
gethan hat. trägt den Stempel jenes Gesprächs. Die ersten Schritte nach
rückwärts wurden zögernd gethan, und so vermochten sie Oestreich nicht zu
befriedigen, während sie das römische Volk in seinen Ovationen und Anbe¬
tungen lau und immer lauer werden ließen, bis es endlich nach Rossi's
Schaukelsystem, das die päpstliche Gewalt, das Interesse des heiligen Colle-
giums und die Bedürfnisse des Volkes gegeneinander zu balanciren versuchte,
in offne Empörung ausbrach. Der Papst rief, scheinbar nachgebend, den libe¬
ralen Mamiani in sein Cabinet zurück und bereitete unterdeß seine Flucht nach
Gaeta. in die Amic der Reaction vor, die von der Ausführung dieses Plans
um statt seiner die Herrschaft übernahm und sie in der Person Antvnelli's bis
heute dermaßen geführt hat. daß von Pius in der Geschichte nur noch bei¬
läufig die Rede war. Der Jesuitismus sagt: der Mensch sei ^xsi-mas ac
es.Äavei'", gleichwie ein Leichnam; er hat ein Beispiel gegeben. Diesmal war
der Mensch ein Papst.
Am 9. Februar 1849 wurde in Rom die Republik ausgerufen. Die
Franzosen kamen, sie zu vernichten, damit nicht die Oestreicher kämen. Zwei
Monate wehrte sich die Stadt mit seltenem Heldenmuth. Die große Nation
lernte vor ihren Mauern die „bittern Schritte der Flucht" keimen, der König
von Neapel entwich den Roth Hemden Garibaldi's bei Velletri in unrühmlicher
Weise („auf acht Füßen" sagt Reuchlin), endlich fiel die Stadt, und seitdem
hat sich dort so gut wie nichts verändert. Es hat einige Motuproprio's ge¬
geben, einen Brief an Edgar Ney, einige andere Rathschläge von Paris her.
aber im Wesentlichen ist es beim Alten geblieben. Non pos8uirms! Der
Kirchenstaat läßt sich nicht reformiren. weil er der Kritik nicht verfällt; wie
kann man kritisiren, was direct vom heiligen Geiste stammt! Es ist mit den
dortigen Verhältnissen wie mit den Jesuiten: sint ut sunt aut nov sive.
Gioberti hat sich ein langes Leben hindurch abgemüht, zwischen Jesuitismus
und Katholicismus, Loyola und Rom zu unterscheiden. Die Geschichte des
neunten Pius ist eine schonungslose Verurteilung solcher Sophistik. Pio Nouv
in seiner Weise will liberal sein, und der Jesuitismus stellt ihn unter Curatel.
Pio Nouv wird von den politischen Jesuiten nach Gaeta entführt, muß dort
Urphede schwören: Antonelli auf ewig. Er hat seinen Eid gehalten, er hat
nichts mehr gegen den Willen des heiligen Kollegiums gethan, aber auch
nichts mehr dafür. Als Frankreich nicht mehr gute Miene zu diesem Spiel
machte. Umbrien und die Marken dem König von Italien huldigten, gedach¬
ten die frommen Väter von der Vormundschaft einen neuen Staatsstreich mit
ihrem Mündel auszuführen. Er sollte abermals fliehen, seine „Freiheit ret¬
ten/' diesmal in eine östreichische Festung, von dort den Kreuzzug predigen,
die Welt darüber und darunter kehren. Aber der alte Mastai wollte nicht
mehr. „Fono troppo vseelrio," antwortete er der Zumuthung. „per -zwo-
cars la eomsÄm un» sseoncla, volo." Dann wurde er krank, wieder gesund
und abermals krank. Im Cardinaiscollegium ist von wenig Anderm mehr die
Rede als von der Wahl eines neuen Papstes.
Italien aber denkt nickt an solche gleickgiltige Dinge. Die ganze Halb¬
insel mit Ausnahme des Vatikans, des Quinnals und einiger Hundert nea-
politanischer Brigantcn betet zum savoyiscken Kreuze, dem alten Symbol der
toskanischen freien Gemeinden. Die päpstliche Regierung ist ultramontcin.
ihre letzten Anhänger wohnen jenseits der Berge. . . .
Soweit Grün. Seitdem haben wir ein abermaliges non possuirms der
Sachwalter des päpstlichen Rechts gegenüber der Gerechtigkeit gehört,
welche der Geist der Weltgeschichte ist.
Mitte Januar hatte der französische Gesandte v. Lavalette eine Unter¬
redung mit Antonelli. um demselben den Wunsch seines Souveräns vorzu¬
tragen, daß Rom sich mit Italien versöhne, d. h. daß für Hingabe des welt¬
lichen Papstthums die Sttberheit und Unabhängigkeit des geistlichen Papst¬
thums vom König Italiens eingetauscht werde. Bei früheren Besprechungen
mit dem Papst selbst hatte der heilige Vater dieselben Vorschläge „mit rüh¬
render Bereitwilligkeit" und „mehr betrübt, als überrascht" angehört und in
gewohnter, durch sein ganzes Leben bethätigter Weise nur erwidert: „War-
ten wir die Ereignisse ab." Anders jetzt, wie immer Antonelli, das eigent¬
liche Mundstück des weltlichen Papstthums. Seine Antwort lautete kurz und
bündig: Jede Transaction zwischen dem heiligen Stuhl und denen, die ihn
beraubt haben, ist unmöglich. Weder dem Papst noch dem heiligen Kolle¬
gium steht es zu, auch nur den kleinsten Theil des Gebiets der Kirche ab¬
zutreten."
Der Beauftragte Napoleon's machte bemerklich, daß er die Rechtsfrage
außer Spiel lasse, daß er der päpstlichen Regierung lediglich Gelegenheit bie¬
ten wolle, aus der Lage zu kommen. die für ihre Interessen so traurig und
für den Frieden der Chrisienwelt so bedrohlich sei. Der Cardincü-Staats-
secretär dankte ironisch für das gezeigte Interesse, indem er hinzufügte, es sei
ungenau, daß zwischen dem Papst und Italien Uneinigkeit herrsche. Wenn
der heilige Vater mit dem Turiner Cabinet gebrochen habe, so seien die Be¬
ziehungen zu Italien vortrefflich. Er selbst sei Italiener, und der Erste der
Italiener dulde unter diesen Leiden, stehe mir Schmerz bei den grausamen
Prüfungen, welche die italienische Kirche betroffen.
Dann schloß der Sprecher des heiligen Collegiums: „Auf Unterhandlungen
mit den Räubern werden wir uns nicht einlassen. Jeder Vergleich auf diesem
Gebiet ist undenkbar. Der Papst wie die Cardinäle verpflichten sich vor ihrer
Ernennung eidlich, nichts von dem Territorium der Kirche abzutreten. Der
heilige Vater wird also kein derartiges Zugeständnis; machen. Auch ein
Conclave würde dies nicht thun dürfen, ebensowenig ein neuer Papst wie
seine Nachfolger von Jahrhundert zu Jahrhundert."
Das heißt, wenn irgend etwas, ein klarer und energischer Bescheid, und
was mehr ist. es enthält die volle Wahrheit.
Vater Non-Possumus wurde wiederholt ersucht, sein Regiment dem Geist
der Zeit anzupassen, und er kennt als Ewiger und Unveränderlicher keinen Geist
der Zeit, er antwortete, wo es nicht anders ging, mit Reformen, die bloßer
Schein waren. Vater Non-Possumus wurde angegangen, dem Kaiser zu ge¬
ben, was des Kaisers ist, und als Stellvertreter Gottes zu behalten, was Got¬
tes ist; er entgegnete non xossumus und verlor in Folge dessen einen großen
Theil dessen, was nach der Ansicht der Italiener des Kaisers und einen noch
gioßern Theil dessen, was Gottes ist, d. h. der Achtung vor der geistlichen
Würde des Papstthums. Vater Non-Possumus erhielt von zehntausend seiner
Kinder ein Mißtrauensvotum, dessen Revers ein Vertrauensvotum für seinen
Sohn V>c>or Emanuel war. Er blieb bei seinem non xossumus. Vater Non-
Possumus bekam als Neujahrwunsch von Paris die dringende Mahnung, sich
mit Italien zu versöhne», und wieder war's ein von possumus, das er zur
Antwort gab. Er kann nicht anders, er darf nicht anders, er hat's ge¬
schworen.
Vater Non-Possumus ist nicht der jetzige Papst, nicht über¬
haupt ein Papst, er ist der Geist des Mittelalters auf dem Stuhl
des heiligen Petrus, und mit dem ist kein Transigircn. Er hat sein
Gewissen, er hat sein Recht, und das will er behalten. Es wird somit nichts
übrig bleiben, als daß die, welche sein Gewissen nicht besitzen, seinen Eid
nicht geleistet haben, ihm helfen, dem geistlichen Papstthum die Last des
weltlichen, unter der es leidet, ohne sie loswerden zu können, abnehmen und
damit ihm selbst und der ganzen katholischen Christenheit den gestörten Seelen,
frieden wieder geben.
Auf den Scheuncnhösen bei Dresden zeigt der Friedhof noch einen der
alten Todtentänze. Freund Hain mit der Hippe führt einen Reigen von allerlei
Volk. Vornehmen und Geringen, Geistlichen und Weltlichen und sagt zu jedem
Theilnehmer der Polonaise ein schöngercimtes Sprüchlein. Dieser Todtentanz
erschien uns oft schon als eine Allegorie unsrer Zeit. Der Bauer unter den
letzten Tänzern könnte die todte Leibeigenschaft bedeuten, der Bürger das ster¬
bende Zunftwesen, der Kriegsmann neben ihm vielleicht den letzten Schlüsscl-
soldaten. Weiter nach oben zu treffen wir einen mürrisch blickenden Ritter,
wohl das untergehende Junkerthum. Noch weiter hinauf in der Kette er¬
scheinen Herren von fürstlichem Stand, unter denen wir uns an alle Persön¬
lichkeiten erinnert finden können, die in den letzten Jahrzehnten, weil sie mit
ihrem Dichte» und Trachten dem Mittelalter angehörten, vom Geist der Zeit
von ihren Thronen abberufen wurden: spanische Bourbonen. französische
Bourbonen, neapolitanische Bourbonen, ein Wels und ein Wasa. ein Dom
Miguel und ein Don Carlos, Könige, Großherzoge. Herzöge und wie sie sonst
betitelt waren, die Geistes- und Schicksalsvcrwandten.
An der Spi-ezc des Dresdener Tvdtentanzes schreitet mit Tiara und
Krummstab der Papst, und der Tod ruft ihm in wohlgefügten Alexan¬
drinern zu:
Vater Non-Possumus lebt noch, wird nach Antonelll's Bescheid ewig le¬
ben. Indeß will uns bedünken. als habe der artige Ton, in welchem sich die
bittere Zumuthung in Lavalette's Sühneversuch bewegte, eine verdächtige Achil-
l'lebten mit dem milden Styl, in welchem der Dresdener Tod, natürlich ein
DeVs Abgeordnetenhaus hat in der kurhessischen Sache seine Schuldigkeit
gethan. In der Debatte am letzten Freitag und Sonnabend sind alle Seiten
dieser so vielfach eoörterten Frage nochmals durchgesprochen und in's hellste
Licht gestellt. Die Redner von der liberale» Seite sprachen eben so gemäßigt
wie entschieden. Nicht nur durch die Zahl der Stimmen haben die Liberalen
gesiegt; auch das Gewicht der Gründe war überwältigend gegen die ultra-
»villane und reactioncne Partei. Mit besonderer Genugthuung eonstatnen
wir. daß die kleine Differenz, welche bei der Einbringung des Antrags noch
zwischen der Frciction Grabow und der Fortschrittspartei vorhanden war,
jetzt bei der Debatte gänzlich zurücktrat. Alle liberalen Fractionen traten in
dieser Ehrensache Preußens als eine geschlossene Einheit, auf. Mit 241 gegen
58 Stimmen ist das gute Recht Kurhesseus anerkannt. Die Minorität besteht
aus den Ultramontanen und den wenigen Neactionären. Selbst diese wagten
nicht als Vertheidiger des Bundestags und der Herren Rechberg und Uhden .
auszutreten, oder gar sich für Hassenpflug und die kurhessische Regierung zu
engagiren. Sie versuchten vielmehr eure vermittelnde Stellung einzunehmen,
welche aber in dieser Sache vollkommen unhaltbar ist.
Denn die Frage über Recht oder Unrecht liegt hier so einfach, daß ein
schwanke» ganz unmöglich ist. Wer sich in der Rechtsfrage auf die Seite
der kurhessischen Negierung stellt, dem fehlt es entweder an Verstand oder an
Aufrichtigkett. Der Bundestag hat durch seine Beschlüsse von 1852 und 186»
unzweifelhaft seine Competenz überschritten, und hat sein eigenes Grundgesetz,
nämlich den Art. 56 der Wiener Schlußacte, verletzt. Nach Art. 56 können
u, anerkannter Wirksamkeit bestehende landstünbifche Verfassungen nur auf
verfassungsmäßigen Wege wieder abgeändert werden. Die hessische Verfassung
von 1831 bestand seit 20 Jahren in anerkannter Wirksamkeit: Also konnte
sie nur auf verfassungsmäßigen Wege. d. h. mit Zustimmung der verfassungs-
mäßigen Vertretung des Landes abgeändert oder gar aufgehoben werden.
Wenn der Bundestag durch seinen Beschluß vom 27. März 1852 die recht¬
mäßig bestehende kurhessische Verfassung aufgehoben und durch seinen Beschluß
vom 24. März 1860 die kurfürstliche Regierung ermächtigt hat, irgend eine
neue Verfassung zu octroyiren, so war der Bund zu solchen Beschlüssen nicht
competent. Diese beiden Beschlüsse sind also null und nichtig, und die kur-
hessische Verfassung von 1831 sammt dem Wahlgesetz von 1349 besteht un¬
unterbrochen in rechtlicher Kraft, wenn auch ihre thatsächliche Wirksamkeit
augenblicklich durch die Gewalt der Umstände suspendirt ist. Wer also wünscht,
daß Recht und Ordnung erhalten und daß die Bundcsgrundgesctze beobachtet
werden, der muß dahin wirken, daß die Hindernisse, welche der Verfassung
von 1831 noch entgegenstehen, baldmöglichst aus dem Wege geräumt
werden.
Alles dies ist vollkommen einleuchtend. Aber diejenigen werden wohl
Recht haben, welche behaupten, daß die kurhessische Frage von Anfang an
nicht ausschließlich und nicht einmal vorzugsweise eine Rechtsfrage, sondern
daß sie zugleich eine Machtfrage war. Die kurhessische Verfassungsfrage ist
der Punkt, an welchem die Machtstellung Preußens in Deutschland entschieden
worden ist. und wieder entschieden werden wird. Der Streit in Kurhessen
ward muthwillig vom Zaun gebrochen, um Preußen zu demüthigen. Also
muß Preußen das Recht i» Kurhessen wieder herstellen, um seine richtige
Stellung in Deutschland wieder zu gewinnen.
In der Blüthezeit der Reaction, als die Schande sich groß machte und
auch bei Tage bloß ging, hat Herr v. d. Pfordten sich öffentlich damit ge¬
rühmt, daß die kurhessische Frage angezettelt sei. um die deutsche Verfassungs-
frage gegen Preußen zu entscheiden. Jetzt freilich möchte man das nicht gerne
Wort haben; jetzt mochte man der Schande den Schleier der Nacht über Kopf
und Ohren ziehen. Aber der Verlauf der Sache von der Bregenzer Ver¬
schwörung bis zu den Strafbaiern ist nur zu bekannt. Hassenpflug hatte den
Auftrag, seine Stände zur Widersetzlichkeit aufzuhetzen, bannt der Numpfbun-
destag einen Vorwand habe, zu interveniren. Eine solche Aufgabe ist nur
schwer für den, der ein Gewissen hat. Für Hassenpflug war sie leicht. Er legte
den Ständen kein Budget vor; also war es den Ständen unmöglich, ein Bud¬
get zu genehmigen ober Steuern zu bewilligen, welche gar nicht ordnungs¬
mäßig beantragt waren. Dies war der Dienst, welchen Hassenpflug den Bre¬
genzer Verschwornen zu leisten hatte. Am 17. September 1850 hielt der kur¬
hessische Minister zu Frankfurt >n einer Versammlung, welche sich für den
Bundestag ausgab, einen langen Vortrag über die Lage Kurhesseus, deren
Schwierigketten er selbst auf die frivolste Weise geschaffen hatte. Hier galt
es el» Unrecht auszuführen; hier konnte der Bund ausnahmsweise einmal schnell
Handel». Der Gesandte für Lichtenstein, damals die einzige staatswissenschaft-
liche Autorität für die Bregenzer, erstattete Bericht und befürwortete das Ver¬
langen Ku» Hessens. Schon am 30. September 1350 ward die Intervention
beschlossen. Der weitere Verlauf der Sache vergißt sich nicht leicht, so lange
die Schande Preußens nicht wieder ausgetilgt ist. Mit überraschender Schnel¬
ligkeit gelangte» wir über Bronzcll »ach Olmütz.
Die Bundeswidrigkeit der kurhessischen Verfassung war also eine vom
Zaune gebrochene Erfindung; sie wurde »ur in Gang gebracht, damit Fürst
Schwarzenberg sein Programm „avilir 1a l^i'ussö" ^ausführen könne. Man
hätte diese Erfindung nicht gemacht, wenn man nicht die Unfähigkeit der da¬
malige» Staatsmänner Preußens gekannt hätte. Herr v. Manteuffel hatte so
viel als Spritzenmeister zu thu», um den angeblichen Brand im Innern zu
löschen, daß er in Olmütz demüthig Buße that für die Sünden von'Radowitz,
nur um mit der kurhessischen Sache nicht weiter behelligt zu werden. Aber
damit war Fürst Schwarzenberg noch nicht zufrieden. Manteuffel hatte sich
unterfangen, die Kurhessen gegen Oestreich zu vertheidigen; zur Strafe mußte
er nun selbst in Hessen als Spritzenmeister auftreten und die Durchführung
des Unrechts erzwingen helfen. Vermuthlich um sich über die Schande zu
trösten, erfand Manteuffel dann die Theorie von der Revolution in Schlaf¬
rock und Pantoffeln.
Hier liegt der Grund, weshalb die hessische Verfassungsfrage eine so
ausnahmsweise große Bedeutung hat. In Hannover, in Mecklenburg, in
Anhalt und — man darf fast fragen, wo nicht in Deutschland? — sind Ver¬
fassungen verletzt. Aber in Kurhessen war die Verfassungsverletzüng nur das
Mittel zur Vernichtung der preußischen UmonspoUtik und zur Herabdrückung
der Machtstellung Preußens in Deutschland. Aus diesem Grunde muß Preu¬
ßen, wenn es seine richtige Politik wiedergewinnen will, das Recht in Kur¬
hessen wiederherstellen. Aus demselben Grunde sind Oestreich und die Würz¬
burger Regierungen die natürlichen Gegner des turhessischen Rechts. An und
für sich würden diese Regierungen gewiß nicht viel gegen die Verfassung von 1831
und selbst gegen das Wahlgesetz von 1849 einzuwenden baben. Neuerdings hat
noch die vortreffliche badische Denkschrift gezeigt, daß es mit der angeblichen B»n-
deswidrigkeit dieser Verfassung nicht viel auf sich hat, und daß alle die Bestim¬
mungen, welche man als gegen die Bundcsgrundgcsetze verstoßend bezeichnet
hat, eine bundesmäßige Prüfung wohl aushalten und sich auch sämmtlich in
anderen deutschen Verfassungen, welche noch jetzt unangefochten bestehen, wie¬
derfinden. Also gegen die kurhessische Verfassung an sich würden Oestreich und
die Würzburger Coalirten schwerlich viel einzuwenden habe», wenn sie damit
sich einen kleinen populären Nimbus verschaffen könnten. Aber Preußen hat
1859 die kurhessische Frage wieder auf die Tagesordnung gesetzt; darum ist
sie in Würzburg von vornhnein verurtheilt.
Also ist Kurhessen das Feld, wo Preußen seine Stellung in Deutschland
wieder erobern muß. Das Abgeordnetenhaus hat dies vollkommen begriffen.
Mit 241 gegen 58 Stimmen erklärt das Haus es als dringend geboten, daß
die Regierung mit allen ihren Mitteln auf die Wiederherstellung des verfas¬
sungsmäßigen Rechtszustandes in Kurhessen, insbesondere auf eine sofortige
Berufung der hessischen Volksvertretung auf Grund der Verfassung vom 5. Jan.
1831, der in den Jahren 1848 und 1849 dazu gegebenen Erläuterungen und
daran vorgenommenen Abänderungen und des Wahlgesetzes vom 5. April
1849 hinwirke. Dürfen wir hoffen, daß unsere Regierung, gekräftigt durch
die Zustimmung der Volksvertretung, nunmehr im Sinne dieses Beschlusses
handeln wird? Leider berechtigt das Auftreten des Grafen Bernstorff uns nicht
zu solcher Hoffnung. Nicht einmal über das Ziel ist er mit dem Abgeord¬
netenhaus einig. Zwar auch er will die Wiederherstellung des verfassungs¬
mäßigen Rechtszustandes, aber er hat bis jetzt noch nicht zu einer klaren An¬
schauung darüber komme» können, ob das Wahlgesetz von 1849 mit dazu
gehört oder nicht, obgleich doch selbst die kurhessischc Negierung nie geleugnet
hat, daß das Wahlgesetz von 1349 ans verfassungsmäßigen Wege zu Stande
gekommen ist. Noch unmittelbar vor der Abstimmung hielt Graf Bernstorff
es für seine Pflicht, ausdrücklich gegen eine Bemerkung, des Berichterstatters
hervorzuheben, daß die Frage des Wahlgesetzes für die Regierung eine offene
sei. Die Minister, welche zugleich Abgeordnete sind, verließen vor der Abstim¬
mung das Haus. Sie befanden sich allerdings in einem mißlichen Dilemma.
Sie wollten nicht für das Wahlgesetz von 1849 , und doch auch, nicht gegen
den kurhessischen Antrag im Ganzen stimmen; also stimmten sie gar nicht.
Noch weniger als hinsichtlich des Zieles, dürfen wir hinsichtlich der Mit¬
tel auf einige Entschiedenheit hoffen. Herr v. Carlowitz hat über diese Seite
der Sache mit genügender Deutlichkeit gesprochen. Wenn Preußen einen Er¬
folg erreichen will, gibt es nur zwei Wege, Entweder man muß erklären,
daß. wenn in Hessen Unruhe» ausbrechen sollten. Preußen der hessischen Negie¬
rung nicht helfen und auch nickt dulden werde, daß dies von Seiten anderer
Regierungen geschehe. Oder Preußen schickt eine bestimmte Forderung als
Ultimatum noch Kassel und wenn hierauf nickt die nöthige Remedur
erfolgt, stellt es durch bewaffnetes Einschreiten das gebeugte Recht wieder
her. Nur der letztere Weg scheint einer großen Macht würdig. Auf dein ersteren
Weg würde man eine Flamme anschüren, während man den Funken noch
leicht ersticken kann. Aber Gras Bernstorff, so weit wir sehen, wird keinen
von diesen beiden Wegen einschlagen. Er sprach von Verhandlungen, die um
Bundestag schweben; wahrscheinlich die über den bekannten badischen Antrag.
Dieser ist — am 4. Juli v. I. gestellt. Seitdem, »ach mehr als sieben Mona¬
ten, ist noch nicht einmal ein Bericht erstattet. Wer den Gang der Dinge am
Bundestag kennt, kann sich darüber nicht wundern. Die Majorität ist gegen
Preuße»; also wird der badische Antrag verschleppt, und wenn das nicht länger
geht, wird er verstümmelt oder verworfen. Darauf sollen wir nnn warten,
und inzwischen wird Herr v. Baumbach. der Genosse Hassenpflugs, mit einem
preußischen Orden decorirt, und in Kassel vertritt uns Herr von Sydow, der
imnierhin ein rechtschaffener Mann sei» mag. aber dein wir doch lieber unsere
Interessen i» Lissabon, als die i» Kassel anvertrauen mochten-
Und dock ist gerade jetzt der Augenblick, wo Preuße» mit festem Entschluß
sich seine Stellung in Deutschland erkämpfen muß, wen» es nicht weit, sehr
weit zurückweichen will. Der Schlag, welche» Oestreich und die Würzburger
Coalirten durch die identischen Noten vom 2. Febr. gegen Preußen gerichtet
habe», muß durch einen Gegenschlag erwiedert werden, durch den Preußen aus
der Defensive >» die Offensive kommt. Wir sind nicht mehr in der ersten Auf
regung, welche sich natürlich an die Nachricht von diesem östreichisch-würzbur-
gischen Coniplott knüpfte. Seitdem die identischen Noten veröffentlicht sind,
wisse» wir, daß ihr Inhalt nicht so gefährlich ist, wie es anfangs schien. In
der Negation sehr statt, sind sie in der Position sehr schwach. Sie protestiren
entschiede» gegen den schwächliche» Unionsgedanken Bernstorff's, und propo-
niren dagegen Cvnferenze» auf einer Basis, welche ebenso unmöglich wie für
Preuße» uneinnehmbar ist. Daß es zu diesen Conferenzen nicht kommen wird,
versteht sich von selbst. Wer möchte die Dresdener Farce von 185t noch ein¬
mal aufiühren? Die Acten aus jener Zeit können also unausgestäubt liegen
bleibe».
Auch hat Preußen bereits erklärt, daß es die Berathungen auf der von
Oestreich und Würzburg vorgeschlagenen Grundlage ablehnt. Die Antwort,
welche Graf Bernstorff dem Grafen Rechbcrg und seinen Genossen hat zusam¬
men lassen, hat einen sehr guten Eindruck gemacht. Sie ist kalt und bestimmt
abweisend und in dem vornehmen Ton gehalten, wie er sich solcher Gesell-
schaft gegenüber geziemt. Aber damit ist die Sache nicht erledigt; wollte Graf
Bernstorff nun die Hände in den Schooß legen und den nächsten Streich seines
Gegners abwarten, so würde er es machen, wie jener ungeschickte Faustkämpfer,
von dem Demosthenes spricht : „Bei den Barbaren sucht der Getroffene immer
die Stelle zu schützen, auf welche der Schlag gefallen ist, und schlägt ihn sein
Gegner irgendwo anders hin, so nehmen die Hände auch diesen Weg; aber
einem Streiche vorzubeugen und ihn dem Gegner an den Augen abzusehen,
das können und wollen sie nicht."
Denn das steht fest: wenn Preußen den nächsten Streich nicht führt, so
wird es nur seinen Gegnern Muth machen ihn zu führen. Das Feindselige
der Noten vom 2. Febr. liegt gar nicht so sehr in ihrem Inhalt als in ihrer
Entstehung. Preußen wird durch Herrn v. Reuse provocirt, seine Ansichten
über die deutsche Bundesreform zu entwickeln. Graf Bernstorff thut dies in
der harmlosesten Weise, und entwickelt die abgeschwächteste Verdünnung des
Unionsgedankens als eine Theorie, an deren Verwirklichung er vorläufig noch
gar nicht denkt. Eine schwächere Antwort konnten die Würzburger nicht
erwartet haben. Doch ist diese Bernstorff'sche Depesche der Vorwand,
daß die Herren Rechberg und Bornes und Pfordten und Dalwigk die Köpfe
zusammenstecken und gemeinschaftlich eine Protestnote aussinnen. Daß es
diesen Herren nicht um eine Bundesreform Deutschlands zu thun ist, weiß
jedes Kind. Was sie wollen, ist die Demüthigung Preußens, und sie hassen
Preußen, weil dies die einzige Macht ist, an welche die Hoffnung auf eine
Zukunft Deutschlands anknüpfen kann. Preußen soll auf das Niveau der
Bedeutungslosigkeit, auf dem es von 1852 bis 1857 war, herabgedrückt wer¬
den, und wenn dies erreicht ist. soll es Vasallendienste für Venetien thun.
Aber was gibt dem zerrissenen, um seine Neugestaltung ringende» Oest¬
reich, was gibt den Mittelstaaten, welche zu einer wirklichen Selbstständigkeit
ganz unfähig sind, den Muth zu einem solchen Auftreten gegen Preußen?
Nur aus den Fehlern, welche Preußen in den letzten Jahren und namentlich
in den letzten Monaten gemacht hat, schöpfen seine Gegner den Muth zu ihrer
Feindseligkeit. Wenn nicht Graf Bernstorff dem Barbaren des Demosthenes
gleichen will, so muß er diese Fehler endlich vermeiden, <o muß er endlich
lernen, die wahre Basis der preußischen Macht zu finden. Wenn Manteuffel
Preußen tief erniedrigt hat, so hat die neue Aera es nur so weit wieder auf¬
gerichtet, um alle feindseligen Kräfte zu stacheln und zu vereinigen. Seit drei
Jahren hat Preußen den Particulmismus bedroht, ohne ihn zu schrecken.
Unsere jetzige Regierung versteht weder durch eine populäre Haltung die Nation
an sich zu fesseln, noch durch eine imponirende Haltung die Gegner im Zaum
zu halten. Das Unglück des Ministeriums Auerswald ist. daß seine Feinde
es nicht fürchten und seine Freunde nichts von ihm hoffen. Halb und halb
neigt es sich zu einer deutschen Politik hin, welche nur mit der vollen
Zustimmung'und mit der vollen Kraft der Nation durchgeführt werden
kann; und wenn dennoch die Sympathien der Nation dieser unentschlos¬
senen Stimmung sich entgegenbringen und sie zu einem rascheren Schritt
mit fortzureißen hoffen, so besteht die Antwort in einer kalten, vornehmen,
zugeknöpften Zurückweisung. Der Nationalverein wird geduldet, weil er
unter keinen Paragraphen des Strafgesetzes fällt; — aber ihn begün¬
stigen? Man würde die Zumuthung mit Entrüstung zurückweisen. „Cor-
recte" Leute danken Gott, daß sie nicht sind, wie jene. Die Anhänger der
Fortschrittspartei, welche noch eben bei der kurhessischen Debatte bewiesen
haben, daß sie die besten preußischen Patrioten sind, werden von der Regie-
rung leidenschaftlich zurückgewiesen, sie werden selbst gegen Ultramontane und
Feudale zurückgesetzt. Und wie ist es nun seit der Eröffnung des Landtags
weiter gegangen? Ueber Ministerverantwortlichkeit und Oberrechnungskammer
werden Gesetzentwürfe vorgelegt, welche die Verfassung rückwärts revidiren.
Wäre nicht die Kreisordnung vorgelegt, so würde das Herrenhaus unbedingt
ministerieller erscheinen als das Abgeordnetenhaus. Dem Herrenhaus macht
der Kriegsminister ein unvergeßliches Compluuent. und dem Abgeordneten¬
haus versetzt er aus der Ferne einen Tritt, den er irgend einem Gardelieute-
nant abgesehen haben muß. Kurz das Ministerium geht laugsam und sicher
bergunter und löst sich mehr und mehr von den Wurzeln seiner Kraft.
Dieser Zustand der Dinge gibt den Würzburger Coalirten den Muth zu
ihrer Demonstration. Sie haben ihren Zweck erreicht, wenn die Dinge in
Preußen weiter rückwärts gehen. Aber die Noten vom 2. Febr. schlagen zum
Schaden ihrer Urheber aus, wenn die preußische Regierung sich ermannt und
sich ihrer natürlichen Vasis wieder nähert. Graf Rechberg und die Würzburger
müssen schon eine sehr geringe Meinung vom preußischen Ministerium haben;
denn offenbar haben sie vermuthet, daß die Insulte vom 2. Febr. das¬
selbe nicht vorwärts, sondern rückwärts treiben werde. An Graf Vernstorff
ist es. diesen Calcul zu nichte zu machen. Sein erster Schritt, die Antworts¬
note vom 14. d. M. ist gut. wenn auch etwas zu langsam erfolgt. Auf
dies Wort muß rasch ein empfindlicher Schlag folgen. Die beste Gelegenheit
dazu bietet Kurhessen, seitdem die kurfürstliche Regierung mit der von ihr
selbst octroyirten Verfassung nicht mehr regieren kann. Ein zweiter Schritt,
.auf den jetzt die ganze Situation hindrängt, ist die Anerkennung des König¬
reichs Italien. Preußens und Deutschlands Interesse verlangt dies, und für
den Grafen Rechberg wäre es die passende Antwort, damit endlich einmal die
Bettelei um eine Garantie für Venetien aufhöre. Wenn nickt in den nächsten
Tagen dies? Anerkennung ausgesprochen wird, so wird das Abgeordnetenhaus
mit überwältigender Majorität einen Antrag darauf beschließen
it?IIH',k . j!it> /U l? !>ib»z'.ki!i!>>''ik'».''u
Gewissermaßen eine Fortsetzung des Hallamschen Werkes. Doch entspricht der
Titel dem Inhalt nicht vollständig, er sollte vielmehr „die Veränderungen an der
englischen Verfassung seit der Thronbesteigung u. f. w." heißen, da die Geschichte
jedes einzelnen Theils der Verfassung gesondert abgehandelt, im ersten und zweiten
Kapitel der Einfluß der Krone aus die Staatsangelegenheiten, im dritten die Ent¬
wickelung der Gesetze in Betreff der Uazurechnungsfähigkeit oder Minderjährigkeit des
Souveräns (Rcgentschaftsgcsctze), im vierten die Ausbildung der Verfassung in Be¬
zug auf die Einkünfte der Krone, die Apanagen, die Pensionen und die Rechte des
Königs über die Glieder seiner Familie, im fünften die Umgestaltung des Ober¬
hauses, im sechsten die des Unterhauses in den letzten hundert Jahren und im sie¬
benten und letzten die wechselnden Beziehungen des Parlaments zu der Krone, dem
Landesgesetz und dem Volke besprochen werden. Indeß wollen wir darum mit dem
Verfasser nicht rechten. Ein volles Bild der Zeit in jeder Periode erhalten wir auf
diese Weise nicht, auch nöthigt diese Methode zu Wiederholungen, aber die Geschichte
der einzelnen Gegenstände wird dafür um so besser übersehen. Im Uebrigen empfiehlt
sich das Buch durch gründliche und lichtvolle Darstellung Allen, welche an dem
öffentlichen Leben Interesse nehmen, und vorzüglich denen, die berufen sind, in das
Verfassungsleben ihres Landes und Volkes thätig einzugreifen. Namentlich aber
möchten wir die Lectüre desselben allen denjenigen ans Herz legen, die aus andern
Quellen nicht gelernt oder wieder vergessen zu haben scheinen, daß Rom nicht an
Einem Tage gebaut und die englische Freiheit nicht im Handumdrehen errungen und
befestigt worden ist. Diesen Anmuthiger wird eine aufmerksame Betrachtung der
hier mitgetheilten Thatsachen sehr wohl thun, indem sie sie erinnern wird, daß die
englische Verfassung, obwohl sie nicht wie in Preußen von dem König gegeben, son¬
dern von dem Volke erobert worden, noch hundert Jahre nach der Revolution von
schlimmerer Gefahr bedroht war, als die jetzige preußische, daß es einen Lord Bude
und einen Lord North gab, daß die nothwendigen Reformen erst durch lange Kämpfe
zwischen Krone, Adel und Volk errungen wurden, und daß die Wahlgesetze in Preu¬
ßen von Anfang des Vcrfassungslevcus bei Weitem gerechter gewesen sind als bis vor
wenigen Jahrzehnten die im freien England. Diese Lectüre wird und soll die in
der Gegenwart sich regenden Wünsche nach einem baldigen Ausbau der preußischen
Verfassung nicht zurückdrängen, wohl aber ist sie geeignet, Trost über manches Mi߬
lingen zu geben und Geduld und Ausdauer zu lehren.
Der Verfasser, früher, bei der amerikanischen Legation in Berlin angestellt, steht
aus der Seite des Südens. Die Vertheidigung des Rechts desselben ist nicht weit
her; über den Krieg und dessen wahrscheinlichen Ausgang dagegen spricht die Schrift
in einer Weise, mit der wir im Wesentlichen einverstanden sind.
Bringt vielfache neue Beweise für die in der bekannten ersten Schrift über die
Brüderschaft ansgesprochnc, von Wiehern und seiner Partei angefochtene Behauptung,
daß die Rauhhäuslcr-Gcsellschqft ein protestantischer Orden und daß die Verwendung
derselben im Staatsdienst, wegen ihres eigenthümlichen, von ihr selbst in ihre» Ord¬
nungen dargelegten Charakters, mit Gefahren verbunden sei.
Die Illustrationen zu dieser Ausgabe der Besclerschen Uebersetzung werden in
etwa 200 historisch denkwürdigen Portraits bestehen, die nach guten Originalen von
geschickten Künstlern gezeichnet, mit Randzeichnungen versehen und i» Holz geschnit¬
ten sind. Die erste Lieferung enthält die Portrait's von John Haupten nach Hou-
braken, von Jcffrcys nach Erthig (der berüchtigte Blutrichter zeigt ein merkwürdig
sanftes, etwas nachdenkliches Gesicht), von Richard Baxter nach White, ferner das
Bild der Elcanor Gwynn nach Lely, das Bild des Viceadmiral Rooke nach Dcchll
und das des Generals Talmash nach Knellcr. — Die Portrait-Galerie erscheint auch
für sich, und zwar für die Besitzer aller in Deutschland herausgekommenen Ausgaben
des Macaulayschcn Geschichtswerks, deren verschiedenen Formaten der Druck ange¬
paßt wird.
An Beitrügen zur Deutschen'Flotte gingen in Zwickau ein: Von Bürger¬
meister L, Streit in Zwickau 3 Thlr. Chr. Fischer. Fabrikbesitzer, 50 Thlr. W.
Roch, Advocat, 3 Thlr. L. Mosebach, Kaufmann, 3 Thlr. E. Iungnickel. Gerichts-
rath, 2 Thlr. F. E. Pietzsch, Kaufmann. 3 Thlr. M. E. Körner, Stadtrath, 2 Thlr.
Von Kaufmann Scharlach auf einer Hochzeit im Anker gesammelt, 9 Thlr. Seile
aus Leipzig, Iouchimi aus Braunschweig u. Buhl aus Dresden, Kaufleute, 20 Ngr.
Kloditzsch, Dörfel, Rvckstroh, Mcichsner, Neubauer, Schürer u. Hüber, Bergarbeiter,
14 Ngr. 5 Pf. Claus <K Comp., Fabrikanten in Schedcwitz, 5 Thlr. G. Claussen,
son. Fabrikant in Zwickau, 2 Thlr. Drechsel sen., Tapezierer, 4 Thlr. Drechsel ^un.,
Tapezierer, 2 Thlr. Abbe, Dr. xtul., 1 Thlr. E. R. 1 Thlr. v. V. e. U. 15 Ngr.
Anis. Ertrag eines in Marienthal gehaltenen Concertes des Bockwa-Oberhohndorfer
Bergmusikchvrs, 7 Thlr. 22 Ngr. Fiedler. Stadrath, 2 Thlr. Scharf. Advocat, 4 Thlr.
Durch denselben, Ertrag eines zu diesem Zweck veranstalteten Spieles, 1 Thlr. 25 Ngr.
R. Zückler Sön., Buchdruckereibesitzer, 5 Thlr. R. Zückler ^un., Buchdruckereibesitzer,
1 Thlr. E. Zückler, Apotheker. 1 Thlr. Ad. W. Varnhagen, Kaufmann, 3 Thlr.
Moritz Ernst Kunze, Kaufleute. 1 Thlr. 10 Ngr.Bamberger. Stadtrath, 5 Thlr. Von einem
jungen Ehepaar durch Wiener, 15 Ngr. Aus dem Rathskeller gesammelt durch H.T. t Thlr.
7 Ngr. H. Pfau, Kaufmann, 2 Thlr. E. Those, Stadtrath, 5 Thlr. R. Th. 2 Thlr.
Schickebantz, Kaufmann, 2 Thlr. H. M. 1 Thlr. Groß, Schwanenschlvßbesitzer, 3 Thlr.
Ungenannt 1V Ngr. L. Lorenz 5 Ngr. Bar, Spvrtelkassirer, 1 Thlr. Hunger, Ge-
neidehändler, 1 Thlr. R. W. Jahr, Kaufmann, 20 Ngr. Grüne, Apotheker, 5 Thlr.
Dietrich, Bergarbeiter, 1 Ngr. L. 1 Thlr. Von einer fideler Gesellschaft auf dem
Bahnhofe in Zwickau 10 Thlr. Klitzsch, Dr. rM. 1 Thlr. E. sah. 1 Thlr. R. E.
Hengstbach, Kaufmann, 1 Thlr. E. W. Stengel 10 Thlr. Andrä 7 Ngr. 5 Pf.
Von S. 1 Thlr. Von N. N. 1 Thlr. F. A. R. 7 Ngr. 5 Pf. Von Stammgästen
des Herrn Förster 12 Ngr. Im Gasthof zum Löwen gesammelt 24 Ngr. 1 Pf.
Im Gewerbeverem gesammelt 2 Thlr. 19 Ngr. 3 Pf. Bei einen geselligen Verein
der Schuhmacher gesammelt, 1 Thlr. 11 Ngr. 5 Pf. Ungenannt, 25 Ngr. E. Rühl
^un., Uhrmacher, 1 Thlr. Von einer Gesellschaft bei Eger gesammelt 8 Mgr. Von
einer Geburtstags-Gesellschaft im Schwan 4 Thlr. SmiMM: 186 Thlr. 9 Ngr. 9 Pf.
Diese Summe wurde dem Leipziger Flvttencomitö übersandt, um mit dessen
nächster Sendung dem preußischen Marineministerium überschickt zu werden.
An Stelle jener ängstlichen widerwilligen Aufmerksamkeit, die Europa seit
1815 den russischen Dingen nicht versagen konnte, trat mit dem Regierungs¬
antritt Alexander's des Zweiten ein gewisses tlieilnehmendes Interesse. Nichts
war natürlicher. Der Kaiser hatte laut entschiedenen „Bruch mit der Ver¬
gangenheit verkündet," sein Volk war ihm jubelnd zugefallen. Fieberhafte
Neformthätigkeit begann auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Regie¬
rung und Volk schienen wetteisern zu wollen in unbefangener Selbstkritik und
rückhaltloser Aufrichtigkeit der Bekehrung. Staunen mußte die selbstbewußte
Kühnheit erregen, mit der man den Neubau des gesammten Staatswesens
als das letzte Ziel hinstellte und es zu erreichen einen wahrhaft verhängniß-
vollen Schritt, die Lösung eines socialpolitischen Problems von so unerme߬
licher Tragweite wie die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht scheute. Wir
sahen uns vergebens nach einer Negierung um, der wir gleiche Entschlossenheit
hätten zutrauen können. So schien es denn eine ausgemachte Sache: Nu߬
land, der Stockreactiouär, war über Nacht liberal geworden, und Europa ver¬
zieh ihm gerührt alle seine Sünden.
Gespannt und voll Theilnahme sahen wir der Entwicklung der Dinge zu.
Ob auch hier aus der Reform die Revolution werden oder ob es der auto¬
kratischen Gewalt gelingen würde die Bewegung in der vorgezeichneten Bahn
zu halten? Fast, so schien es. sollte die letztere Ansicht Recht gewinnen. Jahre¬
lang wurde kein äußeres Anzeichen revolutionärer Gelüste sichtbar. So war
das Interesse Europa's, vielfach durch andere Erscheinungen bedeutsamster Art
in Anspruch genommen, merklich abgestumpft — als es im October 136 l
Plötzlich wieder erweckt ward.
Man hörte von tumultuarischen Auftritten in Se. Petersburg. Moskau
und den übrigen russischen Universitätsstädten; andere Symptome bedenklicher
Natur, die bald hier bald da auftauchten, schienen damit in engem Zusammen¬
hang zu stehn. Wir Europäer, bekanntlich Sachverständige in revolutionären
Dingen, waren gleich einig, die Frage sei jetzt entschieden. Rußland werde
das Fegfeuer politischer Umwälzungen, vielleicht gräuelvoller Erschütterungen
durchmachen müssen, wie wir andern auch. Was so in Westeuropa erst neuer¬
dings feststehende Ansicht wurde, davon war man in Rußland selbst schon
längst überzeugt. In Petersburg galt die Revolution schon vor zwei Jahren
für unvermeidlich; sie war öffentliches Geheimniß, lange bevor sich ihre Vor¬
boten einstellten. Kenner russischer Zustände datiren sie von der Thronbe¬
steigung Alexander's des Zweiten.
Kommt man darin überein. daß die Revolution überhaupt bevor¬
stehe, so gehen die Meinungen anseinander, sobald man versucht tiefer in
das eigenthümliche Wesen des beginnenden Umwandlungsprvcesses einzudrin¬
gen, sich über seinen sittlichen Kern, seine leitenden Ideen und seine treiben¬
den Kräfte, seine geistigen und materiellen Voraussetzungen klar zu werden und
daraus auf seine Ergebnisse und deren weltgeschichtliche Bedeutung zu schließen.
Einerseits macht man sich die Sache leicht- die russische Bewegung wird nach der
bekannten liberalen Schablone zugeschnitten und beurtheilt. Rußland, meint man,
werde als demokratischer Phönix aus der Asche des Absolutismus emporsteigen
und dann erst anfangen der Unabhängigkeit Europa's wahrhaft gefährlich zu sein.
Andrerseits weiß selbst der gründliche Deutsche über jene Verwirrung nicht
hinaus zu kommen; wir meinen über die Zukunft urtheile» zu können, ohne
uns über die gegenwärtigen Zustände, deren Ergebniß sie doch nur sein wird,
klar zu sein.
Bei dem Mangel an zuverlässigen officiellen Angaben und der Unzu¬
gänglichkeit der vorhandenen Quellen verdanken wir unsere Wissenschaft von
dem russischen Leben vorzüglich den Berichten von Reisenden, von denen die
meisten sich nur an die Außenseite des Lebens hielten, manche nicht sehen
wollten was offen zu Tage lag. andere wiederum sahen was nicht zu sehen
war, keiner aber Alles sah, was er sehen konnte, noch so tief als er sehen
muß.te, um ein Vcrständnjß für ,dje Eigenthümlichkeit moskomitischen Wesens
zu gewinnen. Ueberall eine Menge treffender Bemerkungen im Einzelnen, oft
Überraschend geistreich und den Kern der Frage anstreifend, nirgends Einsicht,
guter Wille und Muth genug, die strengen Konsequenzen richtiger Anschau¬
ungen zu ziehen. Unter diesen Umständen bildeten sich denn ganz natürlich
Hie widersprechendsten Meinungen und seltsamsten Hypothesen, die bona side
aufgestellt und geglaubt wurden Das eine Mal nannte man die Russen
asiatische Barbaren, redete laut von dem uuversöhn.lichen Gegensatz zwischen
Europäerthum und „Byzantinismus", und deutete gleich darauf ganz unbe¬
fangen aus eiyc künftige Entwicklung des Woh^vwiterthuins im europäisch
liberalen Sinn. Das andre Mal fühlte man das Bedürfniß, die unselige Russen¬
furcht, welche uns bis !Mte des vorigen Jahrzehnts beherrschte, philosophisch
zu rechtfertigen; zu dem Ende wetteiferten unsere fruchtbare abendländische
Phantasie und tiefsinnige Weisheit, die nackte gemeine Prosa des russischen
Mesons mit einem Strahlenkranz großartiger Eigenschaften zu umgeben und
ihm eine unermeßliche Perspective zukünftiger Macht und Größe zu eröffne».
Solche Ansichten, von Autoritäten in orientalischen Dingen wie Fallmerayer
ausgestellt, waren nicht geeignet das gebrochne Selbstvertrauen Europa's wie¬
der zu beleben; sie haben im Gegentheil viel dazu beigetragen, das damals
oft gehörte Wort von dem „Koloß mit den thönernen Füßen" unverstanden
und wirkungslos verhallen zu lassen. Erst durch den orientalischen Krieg mit
seiner furchtbaren Logik der Thatsachen wurde das Abendland zu tiefster Be>
schämung darüber aufgeklärt, daß es vierzig Jahre lang vor einem Svukge-
bilde der eigenen Phantasie gezittert habe.
Hierin also haben wir uns schon einmal eines großen und verhängniß-
vollen Irrthums schuldig gemacht. Nun haben wir uns ohne Weiteres Hals
über Kopf in eine neue Anschauung hineingestürzt, in der wir heute so fest
sitzen wie nur je in der alten. Wir sind gegen unsre Gewohnheit diesmal
nicht vorsichtig geworden. Die Gefahr erneuten Irrthums liegt aber um so
näher, als es sich diesmal um den Liberalismus handelt. Europa hegt be¬
kanntlich eine blinde Zärtlichkeit für dieses Kind seiner Schmerzen und traut
ihm Wunderkräfte zu: Rußland gebe sich in seine Hände, und es werde ge¬
sunden.
' Aber das Wesen der freien Formen besteht eben darin, daß sie mit Noth¬
wendigkeit von innen herauswachsen, daß sie das Ergebniß und die Erschei¬
nung der selbstthätigen und selbständigen Entwicklung des zur Freiheit an¬
gelegten Geistes sind. Von außen kann selbstverständlich die freie Form einem
Volk nicht zugebracht werden; will man sie dennoch mit Gewalt einpflanze»,
so zerstört man statt auszubauen.
Soll also von dem liberalen Aufschwung des russischen Volks etwas Be¬
stimmtes sich aussagen lassen, so handelt es sich vor Allem um die Frage:
Besitzt das russische Volk diese Entwicklungsfähigkeit im europäischen Sinn,
und wenn nicht, welches wird die Bedeutung des Liberalismus und welches
der Gang und das Ergebniß der russischen Revolution sein?
Sehen wir uns zunächst bei den Vertretern der Ansicht, welche das Heil
Rußlands vom Liberalismus erwartet, nach dieser Cardinalfrage um, so muß
es uns als höchst seltsam erscheinen, daß eine solche Frage für sie gar nicht
existirt. Sie sehen überall nur äußere Hemmnisse der Entwicklung; daß es
deren auch innere, im Wesen des Volks selbst begründete geben könne, da-
ran scheinen sie nicht einmal zu denken. Am bestimmtesten oder, wenn man
lieber will, am naivsten findet sich diese auf ein blindes Vertrauen zur All-
Macht freier Formen gegründete Anschauung ausgeprägt in dem bekannten
Buche des Fürsten P. Dolgorukow: 1a v6red6 sur ig, KuSsis, das uns daher
schon der mustergiltige Ausdruck derselben ist. Der Fürst also legt die Seba-
den seines Vaterlandes vor aller Welt schonungslos bloß, findet aber zugleich
im Liberalismus das untrügliche Heilmittel. Allein seine eigene Auseinander¬
setzung erregt wider sein Wissen und Wollen die stärksten Bedenken gegen
die nothwendige Vorbedingung derselben, die Entwicklungsfähigkeit des Volkes
selbst, die ihm dabei eben gar nicht in den Sinn gekommen zu sein scheint.
Denn wie argumentire der Fürst?
Die gründliche Verderbtheit des russischen Staatswesens, sagt er. ist nicht
zu leugnen; aber wer ist schuld daran? Niemand anders als das herrschende
System. Der Absolutismus ist die giftige Wurzel alles Uebels. Dieser hat
das russische Wesen zum Gegenstand des Ekels und Abscheu's für ganz En>
ropa gemacht, Niederlage und arge Demüthigung vom Reiche nicht abwenden
können, dessen Ansehn und Macht auf lange vielleicht gefährdet, indem er
eine Bewegung heraufbeschworen, die unzweifelhaft in eine Revolution von
unberechenbaren Folgen auslaufen wird. schweren Irrthums dagegen würde
sich schuldig machen, wer etwa auch dem Volke Schuld geben wollte an der
rettungslosen Fäulnis; der Zustände, unter denen es lebt. Weiß man nicht,
daß das Volk nichts ist als willenloses passives Werkzeug in der Hand des
allmächtigen Despotismus? Wie konnte es für Zustände verantwortlich sei»,
die ihm'gewaltsamer Weise aufgenöthigt worden sind, wie es gerade dem
egoistisch-gemüthlosen Interesse des „Systems" zu entsprechen schien? Nein,
das Volk ist unschuldig an diesen Gräueln. Es ist gut und kerngesund und
hat Anwartschaft auf eine große Zukunft. Man gewähre also diesem treff¬
lichen Volte eine liberale Regierungsform, und man wird über seine rasche
Entwicklung staune«.
Man sieht: den Fürsten, der so gläubig-verzückt in den offenen Himmel
des Liberalismus starrt, kümmert es wenig, daß nach den Gesetzen irdischer
Logik seine Behauptungen im handgreiflichsten Widerspruch zu einander stehn.
Mit der größten Ruhe stellt er Thatsachen und Hoffnungen zusammen, die sich
absolut nicht vereinen lassen.
Die Ansicht, welche Dolgornkow vertritt, sieht im gesammten russischen
Staatsleben nur einseitige Willensäußerungen des herrschenden Systems. Uns
aber ist diese ungeheure-Concentration der Gewalt in einer Hand ein sicheres
Zeichen, daß dem Volke die Fähigkeit zu selbständiger, organischer Entwick¬
lung freier Formen entweder abhanden gekommen ist oder immer gefehlt hat.
Untersuchen wir die russischen Dinge näher, so wird sich eben der nothwen¬
dige Zusammenhang des Volksbewußtseins mit dem herrschenden System und
den Erscheinungen des öffentlichen Lebens finden, den jene Ansicht ungereim¬
ter Weise leugnet. Und wie viel oder wie wenig an der alten Phrase von
der Trefflichkeit des russische» Volks ist. das bedars endlich auch einmal des
nähern Zusehns.
Was ein Volk ist, welche praktische Fähigkeiten es in sich trägt, wie
weit die Staatsform, die seit Jahrhunderten ihm aufgedrückt ist, seinem Wesen
entspricht, das zeigt naturgemäß am schärfsten und klarsten der Verlauf seiner
Geschichte.
Eine Bemerkung Dolgorukow's paßt vortrefflich, uns mitten in den eigent¬
lichen Gang derselben zu führen.
„Vor tausend Jahren", so schließt der Fürst sein Buch, „schickten die
Slaven Gesandte zu Rurik und seinen Brüdern und ließen ihnen sagen:
unser Land ist groß und fruchtbar, aber es herrscht Anarchie bei uns; kommt,
befreit uns von dieser Geißel. Nach tausendjährigem Bestehn, nach Er¬
schöpfung aller Formen des Despotismus befindet sich Rußland wieder am
Rande des Abgrundes, und wir sprechen zu Alexander dem Zweiten: Majestät,
unser Land ist groß und fruchtbar, aber Willkür und Käuflichkeit herrschen
darin: befreien Sie uns von dieser Geißel, gewähren Sie uns eine Regierungs-
form gegründet auf Gesetzlichkeit, das Bedürfniß der Zeit."
Also jetzt wie damals wendet man sich an die oberste Staatsgewalt, um
Rettung aus unseligen Zuständen zu erlangen. Aber hoffte man damals
von dem erst werdenden Herrschergeschlecht« die Sicherheit einer festen ein¬
heitlichen Regierung, so verlangt man jetzt von der "festgewurzelten rücksichts¬
losen Macht das Geschenk der Freiheit. Aber eben in dieser Form, in der
man die Freiheit erwartet, zeigt sich, daß der Despotismus seit tausend Jnhren.
von Rurik bis auf Nicolnus, gewaltig zugenommen hat an Macht und An-
sehn. — -— Und in der That, verfolgt man den Gang der russischen Ge¬
schichte in ihren großen Zügen, so zeigt sich als Grundgesetz ihrer Entwick¬
lung die immer steigende Tendenz der Concentration aller lebendigen Ele¬
mente des Volksorganismus auf einen Punkt, die Richtung aus die „Einheit
der Gewalt" in allen Erscheinungen des Staatslebens; oder mit andern
Worten: die russische Geschichte von Anbeginn bis heute ist nichts als die
Entwicklung der Staatsgewalt zum Despotismus.
Rurik und seine Brüder mögen mit den Slaven, die sie von der Anarchie
befreit hatten, Willkürlich genug umgegangen sein: Despoten im eigentlichen
Sinn waren sie nicht. Es steht fest, daß iach germomscher Art ihre Macht¬
vollkommenheit sehr wesentlich durch ihr Heergefolge beschränkt war. Unter
ihren Nachfolgern hat dieser Brauch dann noch ziemlich lange fortbestanden,
bis er endlich mit der fortschreitenden Zersetzung des germanischen Elements,
wie sie die Mischung mit slavischem Blut zur Folge haben mußte, zur leeren
Form herabsank; denn der slavischen Weltanschauung, wie jeder asiatischen,
ist, die Jvee einer Theilung der Gewalt immer fremd gewesen. Befreiten sich
so die russischen Großfürsten schon ziemlich früh von jeder äußern Schranke
ihrer Herrscherrecktc, so stießen ihre despotischen Gelüste im Volksbewußtsein
doch noch auf lebendige Elemente des Widerstandes, der sich nicht ganz und
auf einmal brechen ließ. Wir wissen, daß damals noch nicht fürstliche Will¬
kür an Stelle jenes alten Gewohnheitsrechts getreten war, das Wladimir
der Große sammeln ließ; wir wissen ferner von blühenden städtischen Ge¬
meinwesen, deren fast republikanische Selbständigkeit und Selbstverwaltung
die Großfürsten voll Ingrimms dulden mußten. Vor Allem ist hier Novgorod
zu nennen. Ein Gegengewicht gegen despotischen Druck lag endlich in der
großen Anzahl unabhängiger Fürstenthümer, die Wladimir der Große ge¬
schaffen hatte. Es war immer möglich, sich der Tyrannei des einen oder des
andern Theilfürsten durch Flucht ins „Ausland" zu entziehen; die Besorgniß,
seine reichsten und angesehensten Unterthanen an einen gehaßten Vetter zu
verlieren, mochte Manchen Ausbruch brutaler Herrschcrlaune verhindern.
Aber das slavische Wesen, welches seine Kraft nie in der Persönlichkeit,
sondern stets nur in der Masse zu suchen gewohnt war, konnte die Heraus¬
bildung staatlicher Sonderexistenzen auf die Dauer nicht ertragen: unverkenn¬
bar ging, in diametralem Gegensatz zu den gleichzeitigen Bestrebungen in
Westeuropa, der Zug der Geschichte auf Wiederherstellung der Staatseinheit,
wie sie bis zu Wladimir's Tod bestanden hatte.
Hierzu sollte dos 200jährige Joch der Mongolen nicht wenig mitwirken.
Die Großfürsten von Moskau nämlich, schlauer und kräftiger als ihre Vettern,
wußten den Einfluß, den sie bei! den Khanem der goldenen Horde allmälig
durch die schimpflichsten Demüthigungen gewonnen, zur Vernichtung der übri¬
gen Gewalthaber zu benutzen. Nachdem dann Johann der Dritte die Herr¬
schaft der Mongolen abgeschüttelt hatte, war die „russische Einheit" vollendet
und alle Gewalt wieder in einer Hand vereinigt. Aber diese Gewalt hatte
ihr Wesen völlig verändert: aus einer doch immer ziemlich maßvoll geHand-
habten Alleinherrschaft, die ihres germanischen Ursprungs nicht ganz vergessen
hatte, war schrankenloser asiatischer Despotismus geworden. Auch hierin war
die Mongolcnherrschaft nicht ohne Einfluß geblieben. Die furchtbare Ver¬
heerung des sittlichen Bewußtseins im Volke, welche der unerträgliche Druck
dieser Barbaren zu Wege gebracht, war von den Großfürsten sehr geschickt sür
ihre Zwecke ausgebeutet worden. Jeder Schein eines Rechts, jede Regung
von Selbständigkeit, die frühere Zeiten noch gekannt, hatten sie niedergetreten.
Als auch Novgorod gefallen war, da wußte Jedermann, daß nur Ein Wille
in Rußland galt: weder Hand noch Mund rührte sich mehr als die Barbari-
sirung der Nation durch ein unmenschliches Strafsystem vollendet und durch
Einführung der körperlichen Züchtigung für alle Klassen der Gesellschaft die
allgemeine Ehrlosigkeit von Staatswegen proclamirt wurde.
Daß selbst der hohe Adel (die „mediatisirten" Prinzen aus dem Hause
Rurik Md die Bojaren) dieser unparteiischen Maßregel unterworfen ward,
läßt die geringe Bedeutung jenes Standes der czarischen Allmacht gegenüber
deutlich erkennen. In der That konnte von einer Aristokratie keine Rede mehr
sein, seitdem sie von Johann dem Dritten in eine erbliche Beamtenkaste umgewandelt
worden; fortan galt der Edelmann als solcher nur in so sern er zugleich Staats¬
diener war. Eine bevorzugte ^Lebensstellung konnte Niemand mehr kraft seiner
Geburt beanspruchen; sie war lediglich als Ausfluß czarischcr Machtvollkommen¬
heit, als Belohnung geleisteter Dienste zu betrachten. An der Willfährigkeit
dieses Sclavenadels konnte nur einem Usurpator wie Boris Godunow gelegen
sein. Und wenn er ihm eine Concession machte, so geschah auch das despo¬
tischer Zwecke halber. Den Knecht wußte er zu gewinnen, >»dem er ihm Knechte
gab. Mit der Aufhebung des alten Wanderrechts der russischen Bauern ward
die Leibeigenschaft thatsächlich begründet und damit dem letzten Rest freier Be¬
wegung im Volke ein Ende gemacht; denn bisher hatte der Bauer vielleicht
am wenigsten von dem despotischen Druck empfunden, der die höheren Stände
längst entwürdigte. Uebrigens war der Vortheil, welcher dem Adel aus der
ganzen Maßregel erwuchs, wesentlich nur ein ökonomischer. Schon der Um¬
stand, daß sie nur den kleinen Grundbesitzern zu Gute kam, die Bojaren aber
gänzlich davon ausgeschlossen waren, zeigt, daß eine Kräftigung der politi¬
schen Stellung des Adels damit keineswegs beabsichtigt war. In der That
verblieb es durchaus bei dem alten demüthigenden Verhältniß. Gleichwohl
gaben die Bojaren ihre traditionellen Ansprüche auf Einfluß nicht auf; und
es kam eine Zeit, wo alle äußern Umstände diese Bestrebungen so sehr begün¬
stigten, daß eine Krisis des Despotismus unvermeidlich schien.
Während jener blutigen Wirren, welche die Zeit vom Erlöschen des Hau¬
ses Rum? bis zur Thronbesteigung der Familie Romanow kennzeichnen, konnte
es den Bojaren als der immerhin reichsten und einflußreichsten Volksklasse
nicht schwer fallen, thatsächlich alle Macht an sich zu reißen. Keine der
wiederholten Czarwahlcn jener Tage war ohne ihre Zustimmung zu Stande
gekommen. Jedesmal schlossen sie förmliche Verträge mit dem Gewühlten, in
welchen ihnen ein bedeutendes Maß von Einfluß zugesichert wurde; nnr gegen
das Versprechen nicht ohne Mitwirkung einer Ständeversammlung d. h. der
Bojaren regieren zu wollen ist Michael Romanow im Jahre I6t3 auf ven
Thron gelangt.
Sechs Jahre lang blieb der Vertrag mit den Ständen in Kraft: der
Despotismus, so schien es, hatte sich selber aufgegeben. Aber bald zngte sich,
nur so lange als es an einer geeigneten Persönlichkeit fehlte, seine Ansprüche
geltend zu machen. Kaum war nämlich Pyilaret Romanow, der energische
u,ut, rücksichtslose Vater des schwachherzigen Czaren, aus polnischer Gefangen¬
schaft zurückgekehrt, als er einen Staatsstreich machte und die Rechte der Stände
auf eine blos berathende Stimme reducirte, was selbstverständlich glcichbcdeu-
tend mit ihrer völligen Nullität war. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich deutlich, wo
der wahre Schwerpunkt der Macht lag, und wie wenig dem Volk an dem „Stück
Papier" gelegen war, das die Bojaren für die Magna Charta der russischen
Freiheit angesehen wissen wollten. Widerstand wurde nirgends versucht. Man
schickte die angesehensten Bojaren in die Verbannung und zwang die Mitglie¬
der jener Ständeversammlung, von welcher der beschränkende Staatsvertrag
ausgegangen war. ihre Unterschrist nunmehr unter einen neuen octrvyirten zu
setzen, worin der absoluten Gewalt vollkommen freie Hand gegeben war. Von
Zeit zu Zeit berief man die gespensterhafte Volksvertretung dann noch zusam¬
men, um sie zu den Maßregeln der Regierung Ja sagen zu lassen: wirklichen
Einfluß hat sie nie mehr gewinnen können. Unbekümmert und unbehindert
schritt der Despotismus auf seiner Bahn vorwärts. Noch unter der Regie¬
rung Michael's hob Philaret Romanow die von Johann dem Vierten wiederherge¬
stellten Schwurgenchte endgiltig aus und fetzte die Vereinigung der richterlichen
und der administrativen Gewalt in den Händen der Provincialstatthal-
ter durch.
So schien zu Ende des 17. Jahrhunderts das System unbedingter Will¬
kür die Grenzen des Möglichen erreicht zu haben: in blinder Ergebenheit
legte die Nation was sie an sittlicher und physischer Kraft besaß dem Despo¬
tismus zu Füßen. Aber noch blieb ihm Eines zu thun übrig: so schrankenlos
seine Gewalt nach innen war. so ohnmächtig zeigte er sich nach außen; denn
noch verstand er es nicht, jene willige, aber rohe und ungefüge Kraft zu orga-
nisiren und zu verwenden. Diese letzte und abschließende Vollendung des des¬
potischen Regiments war Peter dem Großen vorbehalten. Er hat den Des-
potismus disciplinirt und damit in die sichere Bahn geleitet, die er seitdem
nicht mehr verlassen hat. Macht nach außen um jeden Preis ward von nun
an das Ziel, dem alle übrigen Zwecke des Staats als bloßeMittel unterge¬
ordnet wurden. Auch die Civilisation. Nicht um ihrer selbst willen, sondern
weil sie ihm Machtmittel war, hat Peter sie gewollt. Und nicht durch Frei¬
heit, meinte er, werde Nußland groß, sondern durch „Ordnung". Darum hat
er unter europäischer Cultur auch wesentlich europäische Disciplin verstanden:
ein wohlgedrilltes Heer und eine Staatsmaschine nach abendländischer Schab¬
lone, darauf war sein Hauptaugenmerk gerichtet. Die freiheitlicher Entwick¬
lung günstigen Momente westlicher Bildung hat er zwar benutzt, aber nur so
weit es ihm zur Ausbildung oder Ablichtung jener beiden Hauptsactoren seiner
Macht nothwendig schien: begünstigt hat er sie nie. Maschinenmäßige Disci¬
plin sollte es möglich machen, Rußlands Gesammtkrafr in jedem Augenblick
auf einen einzigen Punkt zu concentriren: und Jedermann und jedes Ding
in Nußland unter diese Disciplin zu zwingen, dazu hat er das despotische
Princip bis zu seinen letzten Consequenzen getrieben. Das ganze Reich solle
ein Lager, ein Jeder darin Soldat sein, in der Kaserne oder im Bureau; um
rastloser lebenslänglicher Dienst Existenzberechtigung im Staate gewahren.
Praktischer Ausdruck dieser Anschauung wurde jene Rangordnung, -durch welche
das russische Volk bis auf den heutigen Tag in 14 große Klassen eingetheilt
wi-rd. Besondere Ukase verschärften die Dienstsclaverei des Adels bis zum
Unerträglichen. Jeder vorhandene Druck ward verzehnfacht, Sitte und Her¬
kommen ebenso rücksichtslos unter die Füße getreten als Gesetz und Recht.
Gegen Ende seiner Regierung, als alles Murren verstummt, aller Widerstand
mit unmenschlicher Härte gebrochen war, meinte Peter. Rußland habe keinen
Herrn, denn es habe deren zwei: einen über die Leiber und einen über die
Seelen. Ein Herr oder keiner! Er entsetzte das geistliche Oberhaupt des Reichs,
den Patriarchen von Moskau, seiner Würden und bekleidete sich selber damit.
Wie-nur Wenige durfte er bei seinem Tode sich sagen, daß er im'Großen
und Ganzen das Ziel seines Strebens erreicht habe. Es war ihm gelungen,
jene furchtbare, aber vielfach nur ideelle Macht, die er überkommen, zum prak¬
tischen Ausdruck zu bringen. Rußlands Gesammtkraft 'konnte von nun an Sön
jeder Zeit auf einen Punkt concentrirt werden. Und eine so ungeheure Ener¬
gie hat er in das „System" gelegt, mit einem solchen Nimbus der Allmacht
'es umgeben, daß selbst so schwächliche Repräsentanten wie die nächsten Nach¬
folger Peter's dies -ehern« Gefügt leicht -zusammenhalten konnten. Principieller
Steigerung war der Despotismus freilich nicht mehr fähig; Peter 'hatte seine
Entwicklung bis um die Grenze des Denkbaren gesührr. Es trat sogar mit
den Fortschritten äußerer Europäisirung eure Milderung der alten barbarischen
Formen ein. So wurde z. B. unter Peter dem Dritten der Adel von der körperlichen
Züchtigung befreit, welcher er seit der Mongolenzeit unterworfen gewesen.
Katharina die Zweite pflegte sich in liberalen Redensarten zu gefallen: bekanntlich
hat sie mit Voltaire in diesem Sinn correspondirt, sich von Diderot Univer-
sitätspliwe und Entwürfe zur Erziehung der Jugend ausarbeiten lassen und
d'Alembert zum Hofmeister ihres Sohnes machen wollen. Manchmal hatte
es sogar den Anschein, als ob aus den Worten Thaten werden sollten. Mit
großem Geräusch berief sie eine Deputirtenversammlung nach Moskau, welche
über ein neues Gesetzbuch zu berathen hatte. Freilich ging dieselbe ganz un-
verrichteter-Sache auseinander: es war der Regierung keinen Augenblick Ernst
mit der Sache gewesen. Dasselbe heuchlerische, lediglich auf Täuschung Europa's
abgesehene Spiel trieb sie mit der Octroyirung der Provincialverfassungen,
durch welche den verschiedenen Gouvernements auf dem Papier ein sehr aus-
gedehntes Selbstverwaltungsrecht eingeräumt ward. Aber auch eben nur auf
dem Papier. In Wirklichkeit blieb nach wie vor die unumschränkte Macht
der Generalgouverneure bestehn, und es zeigte sich wieder einmal die klägliche
Ohnmacht des Adels, dem in jenen Verfassungen besondere Rechte zugestanden
waren. Es ist Katharina nie eingefallen, auch nur ein Titelchen ihrer
Machtvollkommenheit thatsächlich aufzugeben. Ihr ganzes Streben war auf
äußere Machtstellung Rußlands gerichtet, und sie war eine zu gute Schülerin
Peter's des Großen, als daß sie etwas von der Disciplin geopfert hätte, durch
die er jene Macht begründet hatte. Unter Paul trat dann das System, wel¬
ches Katharina kluger Weise mit humanen Formen zu verhüllen gestrebt,
wieder in seiner ganzen astatischen Brutalität hervor, um unter Alexander dem
Ersten eine neue freisinnige Tünche zu erhalten; eine Tünche, die Nikolaus bekannt¬
lich gleich wieder zu beseitigen wußte, was freilich nicht schwer war, da sie
immer nur in Worten bestanden hatte. Die Welt hat Nikolaus verdammt
und ihn einen schlimmeren Tyrannen als Nero genannt; und doch hat er
nichts gethan, was nicht das System mit sich gebracht hätte. Nur in der
Anwendung der Mittel, nicht im Princip hat sich seine Regierung von der
seines Bruders unterschieden. Unmittelbar nach Nikolaus' Thronbesteigung
brach die bekannte Verschwörung aus; der letzte und unglücklichste der unzäh¬
ligen Versuche, die der russische Adel im Laufe der Zeilen gemacht hat, um
bald unter dieser, bald unter jener Form Einfluß auf den Gang der öffent¬
lichen Dinge zu gewinnen. Und diesmal, unter der gesteigerten Einwirkung
westeuropäischer Ideen, trat derselbe in einer Gestalt auf, die, wäre die
Negierung nicht energisch eingeschritten, das herrschende System ernstlich ge¬
fährden konnte. Unter diesem Eindruck, der ihn nie mehr verließ, hat
Nikolaus dann eine 30jährige Schreckensherrschaft geführt über Nußland und
über Europa, die vielfaches Mißverständniß der russischen Dinge veranlaßt
hat. Man hat sie nämlich für eine wesentlich persönliche gehalten, während
sie doch weit mehr die äußerste Consequenz eines in tausendjähriger Entwicklung
erstarkten Princips war; eine Consequenz freilich, wie sie nur von einer unge¬
wöhnlich energischen Individualität gezogen werden konnte.
In der That, wenn Nikolaus die Anfänge russischer Herrschermacht mit
der eigenen verglich, so durfte er mit Recht sagen: die Willkür ist nichts
Willkürliches in Nußland: sie ist Bestimmung, Nothwendigkeit, Staatsprin-
cip. Denn was war aus dem bescheidenen Heerköniglhum Rurik's geworden?
Langsam aber stetig fortschreitend hatte es alle lebendigen Elemente des Volks-
organismus absorbirt, ihn zur todten Masse herabgedrückt, sich selber an die
Stelle des nationalen Bewußtseins gesetzt und war, eingeschränkt weder von
Gesetz noch von Vorurtheil, zum abstracten Verhängniß geworden, die reinste
und furchtbarste Erscheinung der Gewalt, welche die Geschichte kennt.
Man sieht: auch Rußland hat seine Entwicklung gehabt; nur steht diese
im schneidendsten Gegensatz zu dem, was wir so zu nennen gewohnt sind. Un¬
sere ganze Weltanschauung beruht auf dem Begriff der individuellen Freiheit
innerhalb der Gesammtheit und im Einklang mit derselben, und ohne sie ver-
mögen wir uns eine wirkliche Entwicklung des Ganzen nicht zu denken. In
Rußland war im Gegentheil von alter bis in die neueste Zeit das Streben
darauf gerichtet, jeden Einzelwillen, jedes Bewußtsein der Persönlichkeit zu bre-
chen und das Volk zu einer passiven Masse zusammenzutreten. in der sich nur
noch Atome, keine Individuen mehr finden lassen.
Daß nach dem geschichtlichen Verlauf der russischen Dinge eine gesunde und
im Wesen der Nation begründete Umkehr zum Liberalismus nicht zu erwar¬
ten steht, ist wohl ebenso klar, als gewiß ist, daß die Gegenwart immer das
Ergebniß der Vergangenheit ist. Und die gegenwärtige Fäulniß, die Verderbt¬
heit der öffentlichen Zustände, was ist sie anders als die nothwendige Folge
jenes geschichtlichen Verlaufs? Nußland ist seit Jahrhunderten den entgegen¬
gesetzten Weg gegangen als die Entwicklung des europäischen Staatslebens
überhaupt: und da es dennoch den äußeren Einflüssen der frisch fortschreiten¬
den Cultur sich nicht entziehen konnte, bietet es nun den widerlichen Anblick
einer innerlich roh und barbarisch gebliebenen und doch von allen Lastern
einer verfeinerten Gesittung zerfressenen Nation.
Die Verehrer des russischen Liberalismus geben diesen verrotteten Zustand
der öffentlichen Dinge nicht nur zu, nein sie suchen sogar politisches Capital
daraus zu schlagen. Je schwärzer sie die Dinge malen, desto schlimmer fährt
das herrschende System dabei, dem sie alle Schuld ausschließlich aufbürden
und das sie in keiner Weise als Ausdruck des nationalen Wesens gelten las¬
sen. Für ihre eigene Theorie von der Trefflichkeit des russischen Volkes aber
glauben sie einen schlagenden Beweis zu besitzen: die altslavische Gemeincver-
fassung; dasjenige also, was allein Eigenthümliches das Volk aus sich selber
herausgebildet hat. Jene ist, so sagen sie,, die wahre organische Grundlage
des russischen Lebens, die der Despotismus trotz aller Mühe nicht hat zerstören
können; noch heute besteht sie ungebrochen fort; in ihr ruht der kräftige Keim
einer zukünftigen, glücklichen Entwicklung Rußlands.
Diese Ansicht, die auf den ersten Blick etwas Bestechendes hat. ist im
Abendlande vorzugsweise durch Hertzen verbreitet worden. Wie man weiß,
gedenkt er seine socialistisch-föderative Slavenrepublik auf die altrussische Ge¬
meine zu gründen, die allerdings in ihrer Organisation einen starken kommu¬
nistischen Beigeschmack hat. Glänzende Schilderungen der ungebrochenen Ur-
kraft des jungen Osten sollten dem greisenhafter Westen imponiren. nament¬
lich aber meinte Hertzen. in richtiger Erkenntniß unserer Schwächen, durch die
starke Betonung, die er auf die angebliche Selbstverwaltung der russischen Ge-
meine legte, uns für seine Pläne gewinnen zu können. Und: somxer all-
yuick dasret. Wenn es ihm auch nicht gelang, uns an eine panslavistische
Social-Republik der Zukunft glauben zu machen: mit seiner slavischen Gemeine
und ihrer Selbstverwaltung hat er manchen auch nicht gewöhnlichen Verstand
aus eine falsche Fährte zu bringen gewußt» Zeigte sich schon oben, daß- wir
in russischen Dingen allzu leichtgläubig, sind, so findet sich .auch hier. daß
einiges Mißtrauen gegen die Hertzen'sehen Behauptungen am Platze gewesen
wäre. Bei der bekannten Neigung des slavischen Individuums/ in der Masse-
aufzugehn ist die Fähigfeit der russischem Gemeine sich selber zu regieren, —
eine,Fähigkeit, die überall nur-aus-einem stark entwickelten Selbstbewußtsein des
Einzelnem erklärt werde»! kann —- sehr zweifelhaft: Und um so mehr Beden«
ken mußte der Hertzen'sche Satz erregen, als das' bäuerliche Selfgovernment
mit' einer gewissen Gütergemeinschaft verbunden sein sollte. Diese aber^ ist;
wo sie als organisches Element im Volksleben erscheint, immer ein! Beweis
schwach entwickelten individuellen Bewußtseins. Hier liegen also Widersprüche.
Und in der That, sehen- wir näher zu, so finden wir. daß Hertzen sich im In¬
teresse seiner Zukunftsrepublik einige kleine Lügen erlaubt hat, die er einem
so) großen Zweck gegenüber für-vollkommen berechtigt zu halten scheint.
Die russische Gemeine ist in der That der reine unverfälschte Ausdruck
der slavischen Weltanschauung, die in den Erscheinungen des Lebens überall
nur Einheit, compacte Masse, nirgends Lielhnti Individuelles zu sehen ver¬
mag: In der Gemeine zunächst hat sich dieser Begriff eines abstracten Gan¬
zen, dessen einzelne Theile als solche völlig bedeutungslos sind, nicht als selb¬
ständig existirend gedacht werden können, verkörpert. Es ist daher nur ein
Gemeinerecht, kein Recht der Gemeineglieder denkbar. Vertreter, sichtbarer
Ausdruck der Gemeinegewalt ist der Aelteste, welcher von den als' „Gemeine"
versammelten Dorfsassen gewählt wird; und darauf in Wahrheit beschränkt
sich die ganze sogenannte Selbstverwaltung. Denn dieser Aelteste führt ein
ganz! absolutes Regiment: mit seiner Wahl ist er selber die Gemeine gewor¬
den^ die nur sich als Ganzes kennt, für die das einzelne Gemeineglied nicht
da> ist'. Hiernach erklärt sich die- socialistische Grundlage der russischen- Gc-
meineversassung ganz einfach: sie beruht nicht auf der Idee der Gleichberech¬
tigung! Alter, sondern- umgekehrt aus dem Gefühl der gleichen Rechtlosigkeit
der-Einzelnen dem Ganzen gegenüber» Unrecht aber kann demnach nur gegen,
nicht aber-durch, die Gemeine geübt werden: der> Aelteste darf sich gegen-den-
Einzelnen die gröbste'Willkür und Unbill erlauben; verantwortlich wird er
nur! wenn er> sich gegen die Gemeine selbst vergeht. Das Ergebniß dieser
Gemeineverfassung für das politische Leben also ist: einerseits strenge, tyran¬
nische-Ueberwachung und Einschnürung- der Thätigkeit des Einzelnen von Sei¬
ten des Ganzen; andrerseits solidarische- Haftbarkeit des Letzteren für alles
Thun und Lassen des Ersteren dem Staat! gegenüber.
Da nun diese Gemeineverfassung allerdings aus der innersten Volks-natur
heraus entstanden ist-, so^ ist vielmehr dies-richtig, daß das herrschende Sy¬
stem auf der- Gemeine- beruht, als umgekehrt jenes, daß die Gemeineverfassung
dem- System entgegengesetzt seil Denn in der That, der Despotismus ist im
Großen nur was die Gemeine im Kleinen; er ist in der Entwickelung was
sie im Kenn; alle Consequenzen des Einen liegen schon in dem Andern. Erst
aus dem Wesen der Gemeine begreift sich, wie das despotische Princip zu einer
soi furchtbaren Entwickelung gelangen konnte: es zeigt sich als in der Natur
des Volkes selbst gegeben und begründet. Wenn also das herrschende System
je an der altrussischen Gemeineverfassung zu rütteln versucht Hut — und Der¬
gleichen isti allerdings vorgekommen — so verstand sich das Mißlingen so
thörichter Unternehmungen ganz von selbst: der Despotismus konnte sein
eigenes' Grundprincip unmöglich mit den ihm eigenthümlichen Waffen zer¬
stören. Fürwahr! die Anhänger der bestehenden Gewalt Hütten weit mehr
Ursache, über die unzerstörbare Festigkeit dieses Organismus zu jubeln, als die
Gegner, welche ihr liberales Nußland darauf gründen wollen. Denn dieser
Organismus ist eben doch kein Organismus, er ist ein bloßer Rumpf, dem
a-lie^ lebendige Bewegung der Glieder fehlt, eine unförmliche, regungslose Masse,
ein abstractes Ganzes, unter dessen Bann das Individuum nicht zur Entwick¬
lung seiner Fähigkeit und Kraft und damit zum Bewußtsein seiner Persönlichkeit
gelangen kann. Unter diesem Bann aber vegetirt die ungeheure Mehrheit des
russischen Volks von Anbeginn seiner Existenz: es ist das Kolossalste von Ent-
wicklungslosigkeit, was die Welt nächst China kennt; und doch, so versichern
die oberflächlichen Freunde des Liberalismus, soll aus diesem unfruchtbaren,
abgestorbenen Stamme die Freiheit aller Reußen erblühn.
Vom Volke also, der Gesammtheit der niedern Klassen, ist ein liberaler
Aufschwung auf Grund der geringen Neste seines ursprünglichen politischen
Lebens nicht zu hoffen. Ein rechtes Bürgerthum aber, überall der Träger
freisinniger Entwicklung, fehlt bekanntlich in Rußland so gut wie> ganz. Und
doch erwarten die sogenannten gebildeten Klassen, d. h. der Adel und das
Literatenthum. welche als rühriger, einflußreicher Stand im Staat längst sich
aufgegeben haben, alles Heil vom „Volke". Ueber die Nichtsnutzigkeit jener
Klassen ist man vollkommen im Reinen, während man durchgehends den un»
gebildeten, gemeinen Russen, das eigentliche „Volk" für tüchtig und im Kern
seines Wesens gesund hält. Seltsamer und bedenklicher Widerspruch! Woher
die faulen Früchte, wenn der Stamm in seiner Wurzel gesund ist? Wie muß
es mit der Entwicklungsfähigkeit eines Volkes bestellt" sein, wo die Bildung
durchweg» statt" zur Steigerung des sittlichen Bewußtseins, zum Gegentheil, zur
völligen Entäußerung eines ursprünglich vorhandenen sittlichen Gehalts
führt.
Von hier aus eröffnet sich die richtige Perspektive auf das Wesen des
russischen Volkscharakters. auf den schließlich, als auf ihren letzten Grund, alte
Erscheinungen in Staat und Gesellschaft sich zurückführen.
Gemeine und Staat beruhen durchweg, wie wir gesehn, auf Nichtaner¬
kennung und Nichtachtung des Individuums. Nichtachtung des Individuums
aber, wo sie Grundanschauung ist, berechtigt ohne Weiteres auf die Nichtigkeit
desselben zu schließen. Und dies zeigt sich denn auch beim russischen Indivi¬
duum, wenn man es für sich, als außerhalb der Masse stehend, betrachtet.
Aus dem instinctiven Gefühl dieser Nichtigkeit und dem daraus folgenden
Mangel an Selbstachtung, der bei dem „gebildeten" Russen hinter aller bru¬
talen Anmaßung deutlich genug hervorblickt, bei dem ungebildeten aber als
kriechende Demuth sich äußert, liegt der Grund der slavischen Weltanschauung.
Die Kehrseite dieses Mangels an .richtigem Selbstgefühl ist die slavische Un-
empfänglichkeit für alles Ideale: beide zusammen erklären die sittliche Haltlosig-
keit des Einzelnen. Weil der Nüsse sich seiner Persönlichkeit nicht bewußt ist,
so kennt er nur kleine, rein persönliche Zwecke; weil er die Welt als ein ab-
stractes. unterschiedsloses leeres Ganze auffaßt, weiß er in ihr keinen großen
allgemeinen Zweck zu finden und sich dafür zu begeistern. Ebenso wenig ver¬
mag er in der Aufgabe des Staats eine sittliche Nothwendigkeit zu entdecken:
er sieht in ihm nichts als eine Zwangsanstalt, bestimmt die bloßen Macbtge-
lüste eines Einzelnen zu befriedigen, einen Feind, dessen Zwecke zu unterstützen
er keine Ursache hat, dem er vielmehr allerwegen nach Kräften zu schaden be¬
rechtigt ist.
In der That, nnr blinde Gewalt kann ein Staatswesen zusammenhalten,
das jeder höheren Idee so gänzlich entbehrt. Wie soll sich Muth, Kraft und
Begeisterung zum Widerstande gegen despotische Willkür in der Brust derer
finden, die keinen erhabeneren Zweck kennen als persönlichen Bortheil? Und
aus einer solchen Weltanschauung, wie sie sich aus der Geschichte und dem
Charakter der Nation ergeben hat, sollten diejenigen Formen hervorgehn kön¬
nen, welche sich bei uns der zur Freiheit strebende Geist aus seinem innersten
Wesen heraus gebildet hat?
Sehen wir nun gleichwohl Rußland nach europäisch-freien Formen in
Staat und Gesellschaft streben, so können wir darin nur einen verhängnißvollen
Irrthum über die Grundbedingungen der eigenen Existenz,, einen Widerspruch
der Nation mit dem innersten Geheimniß ihres Wesens finden, welcher zu
einem unversöhnlichen Kampf der Gegensätze führen muß; zu einem Kampfe,
der entweder mit rascher Ausstoßung des von außen hineingebrachten, oder,
was viel wahrscheinlicher ist. mit langsamer, aber sicherer Zersetzung und Auf¬
lösung des nationalen Elements enden wird. Aber wir begreifen einen sol-,
chen Widerspruch. Ein plötzliches Umschlagen von einem politischen Extrem
zum andern, wie es in Rußland neuerdings vor sich gegangen, kann bei einem
Volke nicht befremden, das sich in seinem Thun und Denken nie von Ge¬
sinnung und Ueberzeugung, sondern stets nur von dem wirklichen oder ver-
mcintlichen Vortheil des Augenblicks leiten läßt. Wer Nußland kannte, durste
immer sagen: Rußland wird liberal, sobald sich eine Veranlassung dazu fin¬
det. Er wußte freilich eben so gut. daß diese Veranlassung lediglich vom herr¬
schenden System ausgehn könnte. Und so ist es allerdings das Verdienst oder
die Schuld Alexander's des Zweiren, wenn sie sich jüngst gefunden hat. Macht
als Selbstzweck, wir wissen es, ist der Grundgedanke des herrschenden Systems
in Nußland, und das Volksbewußtsein hat sich ja längst damit identificirt.
Rußland will das „Schrecken der Völker" sein, wie Hertzen richtig gesagt hat.
So lange ihm der Despotismus dazu verhalf. ging es unbedingt mit diesem;
kein Mensch sah damals eine „Veranlassung" liberal zu sein. Da kam das
Mißgeschick des orientalischen Krieges. Zu Hohn und Spott des Abendlandes
offenbarte sich die gefürchtete Macht als klägliche Ohnmacht; aus dem Rausch
der Weltherrschaft erwachte Nußland zum Katzenjammer europäischer Mißach¬
tung. Wer trug die Schuld am Unheil? Gewohnt wie man seit Jahrhunder¬
ten war alle Schicksale, alle Ereignisse von der obersten Gewalt herzuleiten,
wußte man jetzt Niemand zu beschuldigen als den Despotismus. Das Volk
wurde irre an seinem Idol: zum ersten Mal seit einem Jahrtausend. Der
Despotismus hatte sich schwach gezeigt,: wie man ihn vor Kurzem noch ver¬
göttert hatte, so verfluchte man ihn jetzt. Man war rathlos: wer wußte ein
Mittel das heilige Nußland wieder groß und mächtig zu machen, wie es zu¬
vor gewesen? Da verkündete Alexander der Zweite, er wisse dies Mittel: es
sei die Freiheit. Der Despot dachte besser und edler von der Freiheit als
seine Unterthanen; er hatte ebensowohl seines Volkes sittliche Besserung und
Veredlung als die äußere Macht im Auge; er dachte an ein „neues Nußland".
Aber natürlich: Rußland verstand ihn nicht, wie er Rußland nicht verstanden
haltet Die Freiheit, die dem Kaiser Zweck war. wußte das Volk nur als
Mittel zu fassen. Und nun ging es natürlich rasch und flott mit dem Libera¬
lismus, seitdem einmal Veranlassung dazu gegeben war. Mitleidig sah man
bald genug auf seiue europäischen Lehrmeister. Seht, hieß es, wir sind erst
seit gestern liberal und sind schon viel weiter darin als ihr, die ihr euch
seit dreihundert Zähren mit „Ideen" plagt. Und in der That, über Nacht
war aus dem Liberalismus der wildeste Radicalismus geworden. Alle Sta¬
dien-der Revolution sind moralisch längst durchlaufen, alle denkbaren Stand¬
punkte übermunden, alle sittlichen Scrupel beseitigt. Natürlich genug, wo es
sich einzig und allein um möglichst rasche Resultate, nicht im Geringsten um
Ueberzeugung handelt; natürlich genug, da alle die überwundenen Stand¬
punkte, alle die übersprungenen Schranken für die russischen Liberalen gar nicht
existiren. Rußland, so ist der einzige Gedanke, soll durch die Revolution wie¬
der zu seiner' vorigen Machtstellung gelangen; also Revolution um jeden
Preis!
Unter diesen Umständen steht Alexander der Zweite, dem man Anfangs
als dem Vater der russischen Freiheit zugejubelt, längst gänzlich verlassen und
vereinsamt da. Da es ihm Ernst mit der freiheitlichen Entwicklung seines
Landes war, so wollte er sie auf dem Wege der Rrform; mit dem Radica-
lismus und der Revolution konnte er nicht gehn. Den Revolutionären ist
er längst ein Hinderniß für ihre Pläne: wirklich Conservative aber gibt es in
einem Lande nicht, wo von einem Bewußtsein organischer geschichtlicher Ent¬
wicklung keine Rede sein kann. Und daß er keine Freunde hat, dafür hat der
Despotismus vergangener Iahrhundene. dessen Erbe er nun einmal ist, ge¬
sorgt. Loyalität, Anhänglichkeit an das angestammte Herrscherhaus sind dem
Russen ganz fremde Empfindungen,; der Gipfel der Lächerlichkeit aber heißt
ihm die Zumuthung. für eine verlorene Sache zu kämpfen. Und so thut
Alexander Keinem genug; seine besten Absichten kehren sich als scharfe Waffen
gegen ihn selber. Die Aushebung der Leibeigenschaft, in der Idee bejubelt
und bewundert, hat in der Ausführung Niemand befriedigt, den Adel, ver
aus Interesse bis dahin auf der Seite der Regierung stand, tief erbittert, den
Bauer aber in eine Stellung gebracht, die ihn zu einem furchtbaren Werkzeug
der Revolution machen muß. Die hohe Bedeutung, welche die Aufhebung
der Leibeigenschaft vom allgemein menschlichen Standpunkt hat, kann uns nickt
einfallen ,zu bezweifeln; praktisch genommen aber zwängt sie den russischen
Bauer in weit unbequemere Bande als die bisherigen. Ans dem Sclaven
eines einzigen Herrn, der seinen Bortheil dabei fand, ihn möglichst ungehin¬
dert seinem Verdienst nachgehn zu lassen, ist er Sclave der Gemeine gewor¬
den, -die ein weit geringeres Interesse dabei hat, ihm freie Bewegung zu ge.
statten; und das mit der Aussicht, in Iahrsfrisi ein völlig besitzloser Proleta¬
rier zu fein, der zwar das Recht, sicherlich aber nicht die Mittel hat. Land¬
eigenthümer zu werden; dem es aber jedenfalls einleuchten wird, wenn ihm
etwa ein neuer Pugatschew einredet, daß er das Land unter Umständen ja
auch umsonst haben könne.
Und so wird das Czarenthum fallen, nicht durch blutige Kämpfe, sondern
durch jähen und allgemeinen Abfall. Noch freilich ist der alte Zauber des
Despotismus nicht ganz verschwunden, noch scheint bisweilen der Schatten
Nikolaus' hereinzuragen in die Gegenwart. Aber zusehends schwindet der
Zauber, schrumpft der mächtige Schatten zusammen. Noch vor einem Jahre
wären die Octobcrscenen in Petersburg und Moskau nicht möglich gewesen.
Jnstinctmäßig hat die Welt diesen Balgereien eine Bedeutung beigelegt, die
sie für sich betrachtet und zu einer andern Zeit sicherlich nicht verdient hätten.
Aber sie zeigten, wie die Furcht in den Gemüthern aufzuhören beginnt, und
worauf könnte sich eine Autorität in Rusland stützen, wenn nicht auf Furcht?
Das Czarenthum wird fallen — und mit ihm die Revolution. Denn es wird
kein Freiheitsheld sein , der es stürzt, sondern einer, der sein Recht in seine
Faust legen wird. Und wie werden unter diesem die Russen sich wieder hei-
misch in ihrem Lande suhlen! Die Welt wird das Schauspiel reumüthiger
Bekehrung zum Gott der Väter, dem Despotismus erleben, sobald nur die
Faust sich findet, ihn tüchtig zu handhaben.
Aber mit der Freiheit läßt sich nicht spielen; sie wird den Despotismus
nie wieder seines Lebens froh werden lassen. Es war Verzweiflung an sich
selber, als er, keinen Ausweg mehr sehend, nach Erschöpfung aller Mittel, die
ihm zu Gebote standen, endlich zu demjenigen griff, das als tödtliches Gift
auf ihn wirken mußte. So wie die Zügel der Herrschaft in eine schwache
Hand übergehn, wird die Freiheit wieder ihr Haupt erheben. Das Signal
zu zersetzenden Kämpfen ist gegeben, die Continuität des despotischen Princips
gebrochen; Europa läßt sich nicht mehr wegdrängen aus Rußland. Der Sieg
wird wechseln, der Kampf selber aber ohne Zweifel zu einer allgemeinen Zer¬
rüttung des Reichs führen, vielleicht, ja wahrscheinlich zum Abfall großer Ge¬
bietstheile, die jetzt nur äußerlich der allgemeinen Uniformität sich gefügt ha¬
ben, wie das mit ganz Kleinrußland der Fall ist, wo sich unter scheinbarer
Ruhe der schärfste Antagonismus gegen das Großrussenthum verbirgt und wo
namentlich der religiöse Gegensatz entschieden hervortritt. Wollte Gott, daß
auch wir dann so weit wären, mit dem Moskowiter abrechnen zu können!
Wir haben viel alte und neue Unbill an ihm zu rächen, und es ist Manches
In einem der letzten Hefte von „^r^ors NaZ^ins" hat der berühmte
Philosophisch politische Schriftsteller John Stuart Mill sich über den Bürger¬
krieg in der nordamerikanischen Union ausgesprochen, und zwar entschieden zu
Gunsten des Nordens. Er hat dabei jedenfalls den größten Theil der Libe¬
ralen in England und ganz Europa und unter den Amerikanern Män¬
ner wie Emerson, Longfellow und Bryant auf seiner Seite. Er hat die
große Masse derer hinter sich, welche beklagen, daß in der Zerspaltung und
Schwächung der mächtigen Republik jenseits des Meeres ein Trost für die
idesseitigen Bekenner der Freiheit, ein Gegengewicht und Schreckbild für dies¬
seitige despotische Gelüste am Horizont versinken zu sollen scheint. Er hat
endlich alle die für sich, welche die Sclaverei, wie sie in den sogenannten
Conföderirten Staaten besteht, für einen volkswirtschaftlichen Irrthum, einen
Schmutzfleck auf der Civilisation dieser Staaten, ein Hemmniß ihres Fort¬
schritts und eine Quelle der Demoralisation für die reichen, der Entwürdigung
für die ärmern weißen Bürger derselben halten. Wir theilen in gewissem
Grade jenen Schmerz, theilen diese Meinung von dem Wesen der Sclaverei
und deren nachtheiligen Wirkungen vollständig, und wir sind ebenso stark
als Mill von der Ueberzeugung durchdrungen, daß es hohe Zeit ist, diesem
Giftbaum die Axt an die Wurzel zu legen. Ueber das rechte Verfahren aber
sind wir durchaus andrer Meinung.
„Es gibt Leute", sagt Mill, „die uns versichern, daß sichs beim Norden
nicht im Mindesten um die Sclavereifrage handle. Der Norden sei bereit,
der Sclaverei neue Bürgschaften zu geben, auf Alles zu verzichten, wofür er
gestritten hat. und wenn die Gelegenheit sich bieten sollte, den Süden durch
Aufopferung des ganzen Streitpunkts der Union zurückzugewinnen. Nun ist
es allerdings wahr, daß der Norden nicht Krieg führt, um die Sclaverei in
den Staaten, wo sie gesetzlich besteht, abzuschaffen. Die republikanische Par¬
tei hat das Gesetz, hat die gegenwärtige Verfassung der Union zu ihrem
Rechtsboden genommen. Diese Verfassung verbietet ihr den Angriff auf die
Sclaverei in den Sclavenstaaten, gestattet ihr aber, dieselbe im Bezirk von
Columbia abzuschaffen, und dies thut sie jetzt; denn sie hat mitten in ihrer
jetzigen Geldklemme eine Million Dollars zur Entschädigung der Sclaven¬
halter dieses Districts bewilligt. Ebenso wenig verlangt die Verfassung von
ihr, daß sie die Einführung der Sclaverei in den Territorien, die noch nicht
Staaten sind, zulasse. Diese Einführung zu verhindern, hat sich die republi¬
kanische Partei gebildet, ist sie jetzt im Kampf begriffen, sowie die Sclaven-
Halter in Waffen stehen, um jene Einführung zu erzwingen. Obgleich nicht
abolitionistisch. gehört die jetzige Regierung der Union der Freibodcn-Partei
an, unh gegen die Ausbreitung der Sclaverei kämpfen, läuft auf dasselbe
hinaus, wie gegen den Bestand der Sclaverei kämpfen. Von dem Tage an.
wo die Sclaverei sich nicht mehr ausdehnen kann, ist ihr Schicksal besiegelt.
Die Sclavenhalter wissen dies., und es ist der Grund ihrer Wuth. Nach der
Meinung aller Urtheilsfähigen erhält sich die Sclaverei lediglich durch den
Baumwollenbau. dieser aber erschöpft in einer mäßigen Anzahl von Jahren
jeden Boden, für den er sich eignet, und kann nnr bestehen, wenn er immer
weiter nach Westen vordringt. Bleibt die Sclaverei auf ihren jetzigen Flächen¬
raum eingeengt, so werden die Sclavenhalter entweder rasch zu Grunde ge¬
hen, oder aus Mittel sinnen müssen, ihr Landbauwesen zu verbessern, was nur
schelM kann, wenn sie die Sclaven als menschliche Geschöpfe behandeln
und soviel ausgebildete, also freie Arbeitskraft verwenden, daß die rohe durch
die ausgebildete auf weite Strecken verdrängt und der Geldwerth des Scla-
ven so vermindert werden wird, daß die sofortige Milderung und die schlie߬
liche Austilgung der Sclaverei die beinahe unvermeidliche und wahrscheinlich
baldige Folge sein muß."
Mit der Basis, auf der Mill seine Schlußfolgerung aufbaut, erklären wir
uns völlig einverstanden. Er sieht in der Einschließung der Sclaverei auf das
Gebiet, das sie gegenwärtig inne hat, den richtigen Weg, sie unvortheilhaft
zu machen, und er meint, sie unvortheilhaft machen, heißt ihr die Lebensluft
entziehen, sie ersticken und aussterben lassen. Wir finden das selbstver¬
ständlich. Wenn er aber weiter geht und die Behauptung ausstellt, daß diese
Begrenzung und EinHemmung der Sclaverei auf ihr jetziges Gebiet mit Sicher¬
heit von einem Siege des Nordens, ja überhaupt nur von einem solchen
Siege zu erwarten ist. so können wir ihnr das nicht zugeben. Nach Allem,
was wir aus den maßgebenden Kreisen und dem Treiben der Parteien im
Norden der Bet. Staaten erfahren, müssen wir unsre früher dargelegte Mei¬
nung festhalten, nach welcher der sicherste Weg. das von Mill gewünschte Er¬
gebniß zu gewinnen, nicht die Unterwerfung, sondern die Losreißung des Sü¬
dens von dem Bunde mit dein Norden ist. Die Wiedereinfügung der snes-
sionistischen Staaten in den alten Bund würde aller Wahrscheinlichkeit nach
nicht zur Einschränkung der Sclaverei auf ihr jetziges Gebiet, nicht zum Frie¬
de», nicht zur Aufgabe des Streitobjects von Seiten der Sclavenhalter führen.
Sie Würde den doppelten Nachtheil haben, daß einerseits der Norden wieder
in alle die Schande und Verlegenheit, die sich mit dem „eigenthümlichen In¬
stitut" verbindet, mitversänke und daß andrerseits dieses verhüngnißvolle In-
seltne statt nur durch die kleinere und schwächere Hälfte der Ber. Staaten
wiederum durch die physische Kost und die moralische Billigung der gesamm-
ten Union gestützt, befestigt und vertheidigt würde.
Mill begeht den Fehler, die republikanische Partei Und den ganzen Nor¬
den für eins und dasselbe zu hallen, jene für die unbedingt herrschende im
Nörder» anzusehen. während sie doch nur durch Nachgibigkeit, gewissermaßen
durch ein stilles Comprönuß mit der demokratischen herrscht und, wenn der
Süden wieder zur Union zurückkehrte, sogar Gefahr laufen würde, die Reihen
Med Gegrier künftig wieder einmal stärker zu sehen, als die eignen.
Wir erinnern uns, daß die Sclavenhalter von Südcatolina und den an¬
dern CaträlierstaateN. wenn sie bis auf die letzten Wahlen in der Union die
entscheidende Stimme hätten, sich dieses Bortheils nicht aus Grund ihrer nu-
menschet» Stärke erfreuten, welche bei Weitem getinger als die ihrer Gegner
war, sondert» auf Gtund ihrer Berbindürch mit den Nördlichen Demokraten,
einer Verbindung, welche sich recht wohl wieder anknüpfen ließe und jenen wie¬
der zur Majorität verhelfen könnte.
Wir wissen ferner, daß eine beträchtliche Anzahl wohlhabender und ein¬
flußreicher Leute im Norden einen sehr großen Theil ihres Capitals in süd¬
lichen Pflanzungen und südlichen Fabiikuntcrnehmungen angelegt haben und
sich in Folge dessen, wenn die heftigen Leidenschaften, die der Bürgerkrieg er¬
weckt hat, durch Besiegung der Gegner und Erringung der politischen Obmacht
abgekühlt sind, nicht leicht bereitwillig finden lassen werden, den Ruin ihrer
Hypothekenschuldner, ihrer Geschäftsfreunde und Kunden herbeiführen zu
helfen.
Wir glauben sodann Gewicht auf die Thatsache legen zu müssen, daß
im Norden die Leidenschaft für die Union — wenn wir von den Abolitioni-
sten in Massachusetts und einigen andern Ncuenglandstaaten absehen, — un¬
vergleichlich viel stärker ist, als der Haß gegen die Sclaverei oder gar die
Liebe zu den Negern, und wir befürchten deshalb schwerlich ohne Grund, daß
man, um den Süden an den Busen der alten Republik zurückzuführen, sich
schier zu allen möglichen Bedingungen verstehen würde, falls jener nur einige
Neigung zur Rückkehr verriethe.
Endlich müssen wir es als einen großen Irrthum bezeichnen, wenn man
behauptet, die Begier nach Gebietserweiterung, der Trieb nach Eroberung,
der Gedanke der Herrschaft über die ganze westliche Welt sei lediglich im Sü¬
den zu Hause. Wer die neuere amerikanische Geschichte kennt, wer, wie wir
selbst, mit Uankees verkehrt hat. weiß, daß die Monroe-Doctrin nach ihrer po¬
sitiven Seite, daß der Hunger nach Cuba, daß die auf Mexico und Nicara-
gua abzielenden Flibustier-Pläne in den Clubs und Straßen von Neuyork und
Philadelphia fast ebenso viele Köpfe erhitzen, als in denen von Neuorleans,
Mohne und Charleston.
Von diesen Ueberzeugungen erfüllt, sehen wir uns außer Stande, mit
Zuversicht und Sicherheit zu hoffen, daß die jetzt veruneinigten Staaten, durch
eine Fusion wieder versöhnt und vereinigt, alle Absichten auf Annexion neuer
subtropischer und tropischer Gebiete aufgeben oder daß sie als Ganzes.
Demokraten und Pflanzer ebenso wie Republikaner, die Selbstverleugnung be¬
sitzen werden, den Anbau solcher neuerworbner Gebiete durch jene Sclaven-
arbeit zu verbieten, welche ungestüm nach „jungfräulichen Boden" zu Baum¬
wollenplantagen schreit, und welche allein nicht vor den Strahlott der tropi¬
schen Sonne zurückschrickt.
Es gehört ein starker Glaube an amerikanische Tugend und Uninteressirt-
heit dazu, um anzunehmen, daß die Aankees, wieder verbrüdert, wieder mächtig
und wieder von Niemand als besagter uneigennütziger Tugend controlirt, sichs
nicht wieder mit den Nachbarn bequem machen, nicht wieder gegen das zehnte
Gebot sündigen, nicht wieder den alten Satz von „MÄnitsst, äestin^" hervor¬
suchen und der „offenbaren Bestimmung", wenn sie sich zu langsam erfüllt,
durch private, officiöse und officielle Freibeuterei nachhelfen, daß die Augen
und Füße dieser Freibeuterei nicht gegen den Süden des Welltheils gerichtet sein
und daß solche südliche Länder streng für freie Arbeit bestimmt werden würden.
Mill scheint diesen starken Glauben zu besitzen. Wir bekennen, in diesem
Punkte sehr schwachgläubig zu sein, dürfen aber annehmen, daß. wenn auch
nicht die Philosophie, doch Geschichte und Geographie auf unserer Seite stehen.
Aber obwohl wir das Vertrauen, der amerikanische Adler werde, von sei¬
ner Wunde geheilt, künftig kein Raubvogel sein, sondern sich der Gewissen¬
haftigkeit. Gerechtigkeit und Anspruchlosigkeit befleißigen, nicht zu theilen ver¬
mögen, wird es uns nicht schwer, dem losgerissenen und von Niemand unter¬
stützten Süden für die nächsten Jahrzehnte wenigstens die Ausübung jener
Tugenden zuzutrauen, und zwar deshalb, weil' Abstinenz für ihn eine ent¬
schiedene Nothwendigkeit sein wird. Die Ausdehnung der Sclaverei über ihr
gegenwärtiges Areal hinaus wird für lange Zeit und sehr wahrscheinlich für
so lange Zeit, als zum Erlöschen der Sclaverei innerhalb dieses Areals nach
den oben angeführten Gründen nothwendig ist, unmöglich sein, wenn die
gegenwärtigen Sclavenstaaten unabhängig geworden sind, und zwar deshalb
unmöglich, weil die Ausdehnung der Staaten selbst von der Politik der Welt¬
mächte peremtorisch untersagt sein wird, weil die Grenzen des Sclavenhalter-
' buntes streng abgemessen und eisersüchtig bewacht sein werden.
Was wir meinen, ist Folgendes. Der gewaltige Bund der Vereinig¬
ten Staaten würde sich mit der Zeit über ganz Mexico verbreitet haben,
ohne daß es ihm Jemand Hütte wehren können. Spanien hätte ruhig zusehen
müssen. England und Frankreich würden aus triftigen Gründen und schon
weil keins von beiden dem andern traut sich begnügt haben, der transatlan¬
tischen Großmacht ein papierncs Veto zuzusenden. Möglich, daß diese sich
mit der Zeit auch Cubas bemächtigt hätte. Sicher, daß über kurz oder lang
Centralamerika die Zahl der Sterne im Aankeebanner um einige vermehrt
haben würde. Und wer ist Sanguiniker genug, zu glauben, daß man sich in
diesem Fall gewissenhaft enthalten oder getreulich sich selbst verwehrt hätte,
allen verwendbaren Ueberfluß seiner vier Millionen schwarzer Bevölkerung
unter irgend einem Vorwand, in irgend einer Form, mit irgend einer Ver¬
hüllung auf diesem neuen und jungfräulichen Baumwollenboden anzusiedeln?
Die Südlich e Conföderation wird in den nächsten dreißig oder vier¬
zig Jahren schwerlich im Stande sein, sich über eine einzige Quadratmeile
solchen Bodens auszubreiten, aus dem einzigen, aber vollkommen hinreichen¬
den Grunde, weil man es ihr nicht erlauben wird. Die Vereinigten Staa¬
ten waren außerordentlich mächtig, der Sclavenhalterbund wird lange Zeit
verhältnißmüßig schwach, zumal an Geldmitteln sein. Jene hatten auf dem
ganzen ungeheuren westlichen Continent keinen Nebenbuhler, keinen Beaufsich¬
tiger. Dieser wird einen Nachbar haben weit mächtiger als er selbst, eifer¬
süchtig, wachsam, feindselig, entschlossen seine größere Macht zu wahren, In
demselben Augenblick, wo die Unabhängigkeit des Südens anerkannt ist, wird
sich der Norden aus einem Bedränger Mexico's in einen Protector dieses
Staates verwandeln. Er wird Spanien bei der Vertheidigung Cuba's helfen.
England und wahrscheinlich ganz Europa wird mit Macht gegen jede Erobe¬
rung Neuer Länder durch das Sclavenhalterreich einschreiten, und die freien
Staaten des Nordens werden, statt wie bisher gegen jede Einmischung Euro¬
pa's in amerikanische Angelegenheiten zU Protestiren, sie in einem solchen Fall
willkommen heißen und sich dabei selbst betheiligen müssen, da sie nicht darauf
geht, sie und ihre Interessen zu hemmen und zu beeinträchtigen, sondern einen
Nebenbuhler und einen zum Feind gewordenen Bundesgenossen. Dann aber
hat die Sclaverei, eingeklemmt zwischen einem geschützten und sichergestellten
Mexico auf der einen, und einer Republik freier, durch kein Compromiß. kein
Gesetz zur Auslieferung flüchtiger Sclaven verpflichteter, die Aufhebung der
Sclaverei wünschender Staaten auf der anderen Seite, jene „Begrenzung ihres
Areals" erreicht, welche nach Mill's wie nach unsrer und aller Verständigen
Ueberzeugung ihre sofortige Milderung und ihr zukünftiges Todesurtheil ein¬
schließt .
Wiewohl es außerhalb der Grenzen und der Tendenz dieser Zeitschrift
liegt, Werke von streng philosophischem Charakter in den Kreis ihrer Bespre¬
chungen zu ziehen, so ist doch die Bedeutsamkeit einiger neueren philosophi¬
schen Schriften so groß, daß wir nicht umhin können, ihnen eine kurze Be-
trachtung zu widmen. Das treibende Motiv unserer Zeit, politische und
nationale Selbständigkeit, dem alle Volkskräfte und energischen Geister sich
zuwenden, scheint in geringem Zusammenhange mit jenen Gedankensystemen
zu stehen, wie sie die erste Hälfte dieses Jahrhunderts in schneller, glänzender
Hintereinandersolge auftauchen und verschwinden sah. eine Reihe leuchtender
Meteore, von denen nur wenigen vergönnt war, sich im Horizonte des Vol¬
kes einzubürgern und ein Theil des Bewußtseins der Nation zu werden.
Was uns gegenwärtig nur noch von Interesse sein dürfte, ist der Umstand,
daß die wenigen Ausläufer jener gewaltigen Denkveriooe. wo innerhalb eines
Zeitraums von 50 Jahren ein ungeheures Materia-l von Ideen zusammen¬
gedrängt ist. fast ganz von den Interessen des politischen Lebens und dem
kühnen Vordringen der exacten Wissenschaften absorbirt und jener Einfluß,
dessen sich die Phisosophie vor kaum drei Decennien erfreute, jetzt fast auf
Null reducirt ist. Die Zeit, wo wegen der Realität oder Nichtrealitcit des
Nichts unter ernsten Männern Duelle stattfanden und bei jedem gebildeten
Manne die Frage, wie weit man in der Ueberwindung von Standpunkten zu
gehen habe, eine wirkliche Lebensfrage war, diese Zeit ist längst vorüber,
eine tiefe, ernste Zeit, deren Gedankengebilde uns jetzt wie die Gespenster der
aus dem Leben geschiedenen Kategorien erscheinen. Es ist daher ein Gebot
der Pietät, das Publicum hin und wieder auf diejenigen Erscheinungen der
heutigen Philosophie hinzuweisen, die in näherem oder weiterem Zusammen¬
hange mit jener Glanzperiode der deutschen Philosophie stehen, um zu erkennen,
Wie weit über diese hinaus ein Fortschritt überhaupt noch möglich sei.
Wir betrachten hier zunächst ein sehr beachtenswerthes Werk von Fr.
Lassalle: Die Philosophie Heraeleitos des Dunkeln von Ephesos.
Vergleichen wir die Art der früheren Geschichtsschreiber der Philosophie,
die Systeme der Philosophen darzustellen, mit der in der Hegelschen Schule
gewöhnlichen Methode, alle Philosopheme bis auf Hegel herab als den Aus
druck einer Reihenfolge aus einander- sich entwickelnder Kategorien anzusehen-
so müssen wir einerseits jenen harmlosen Historikern, wie Tennemann. Hein¬
rich Ritter, Tidemann den Vorzug der größeren Unparteilichkeit und Unbe¬
fangenheit zugestehen, während andrerseits nicht in Abrede gestellt werden
kann, daß die Methode Hegel's den Entwickelungsproceß selbst uns viel klarer
und schärfer hervordrängt. Kommt hierzu noch eine kritische Sichtung und
allseitige Beherrschung des Materials, so sind alle Vorwürfe, die man sonst
historisch-philosophischen Werken aus jener Schule zu machen pflegt, höchstens
auf das Princip selbst zu reduciren. Dieses aber ist so sehr ein Theil Hegel¬
scher Weltbetrachtung, daß jede Discussion über etwaige Schädlichkeit des Prin¬
cips einer Bekämpfung des ganzen Systems gleichkäme.
Nach Schleiermacher's, besonders aber Zeller's gründlicher und fleißiger
Zusammenstellung der Bruchstücke des Heraclit (Geschichte der griechischen
Philosophie I. Theil) hätte man kaum geglaubt, daß es einem späteren For¬
scher vergönnt sein würde, noch mehr Material herbeizuschaffen und das vor¬
handene einer noch schärferen Durchsicht zu unterwerfen. Müssen wir auch da¬
gegen Zweifel erheben, daß Heraclit seinen, über Mensch, Welt, Gott u.
s. w. gefaßten Gedankencomplcx sich schon als System mit gesonderten Dis¬
ciplinen, Ontologie, Physik, Psychologie. Ethik und Theologie dachte, wie Herr
Lassalle anzunehmen scheint, so hat dennoch der Verfasser ohne Zweifel sein
Problem vortrefflich gelöst „einen Beitrag zur Entwickelungsgeschichte des welt¬
historischen Gedankens zu liefern — die eingreifende welthistorische Stellung,
welche Heracleitos in diesem gesetzmäßigen Processe einnimmt, seine Entstehung
wie seine Fortentwickelung in demselben, wenn auch selbst nur in Umrissen,
klar zu legen."
Um dem Leser eine Borstellung von der Menge und der Schürfe der hier
übersichtlich und klar dargelegten Heraclitischen Gedanken zu geben, wollen
wir, der von Herrn Lassalle selbst gemachten Eintheilung folgend, die Haupt,
punkte der Lehre des Ephesiers hervorheben.
Anaximander sagte, das Sein des Endlichen sei nur eine Trübung des
Unendlichen, Heraclit macht aber einen weiteren Fortschritt, wenn er das End¬
liche als steten Untergang, d. h. als Proceß, als Werden des Unendlichen
auffaßt. Ist das Bestehen des Endlichen das Unvollkommene, so ist in
der Entwickelung desselben das Vollkommene, der Frieden zu suchen, daher
Heraclit den Krieg, die Mischung der Gegensätze, den Vater aller Dinge
und den Erzeuger der schönsten Harmonien derselben nennt. (Bd. I.
45—52.) Als sinnliche Bilder dieses Processes werden das Feuer, der Fluß
u. s. w. angesehen, und die Gesammtentwickelung der Welt als fortdauernde
Weltverbrennung aufgefaßt. Aber der Weltbrand ist zugleich eine Welt-
bildung, eine Verjüngung, eine Wandlung der Form der Welt aus dem
Schooße der ewigen Vernunft, welche als das Eine (rc> A) die Gegensätze aus
sich gebiert (Bd. II. 265. Bd. I. 72). Eine nicht geringe Freude zeigt Herr
Lassalle über den von Heraclit gemachten Uebergang von der Metaphysik zur
Naturphilosophie; denn hier zeigt der alte Ephesier sich als Hegelianer vom
reinsten Wasser. Gerade wie Hegel nennt er den Uebergang des ideellen ins
reelle Sein ein Umschlagen (<^o-/?^) in den directen Gegensatz. In der mate¬
riellen Welt ist das Feuer das Element, zu welchem Alles sich schließlich ent¬
wickelt, und aus welchem wieder Alles neu hervorgeht, das Medium aller For¬
men und Gestaltungen. Das sichtbarste und edelste Bild dieses Kreislaufes
ist die täglich ihren Lauf vollendende, in die Fluthen tauchende und neu
verjüngt erscheinende Sonne. Einen ähnlichen Proceß machen auch die Ge¬
stirne, aber in längeren Zeitperioden, durch. Wenn Herr Lassalle Moleschott's
Stoffwechsellehre in Heraclits Feuersystem erblickt, so wollen wir mit ihm
hierüber nicht discutiren und nur bemerken, daß der heutige Materialismus,
wenn er auch das Resultat einer ungeheuren Masse von empirischen Thatsachen
ist. nicht weniger eine Hypothese bleibt als diese antike, aber viel poetischere
Anschauung. Eine nähere Auseinandersetzung des Verhältnisses, das sich He¬
raclit zwischen Feuer und Wasser dachte, wäre wünschenswert!) gewesen, da
er anch letzteren beim Entstehen der Dinge eine ziemlich bedeutende Rolle
zuschreibt. „Die Ausdünstung («»-«S^/am?) ist reale allgemeine Vermit¬
telung, der Durchbruch der in dem Einzelnen vorhandenen Negationen in
die allgemeine Bewegung." Ob der alte Grieche mit seinem frischen poetischen
Naturbilde wohl so tief in Hegel's Logik hinein gegriffen haben sollte? Hera-
clit's Ansichten über Leib, Seele, Erkenntniß u. s. w. erscheinen noch ziemlich
abenteuerlich, wie sehr der Herr Bearbeiter sich auch Mühe gibt, jenen fast
naiv-kindlichen Anschauungen speculative Ideen unterzuschieben. Die Psycho¬
logie allein unter allen Theilen der Philosophie dürste gegenwärtig bis zu dem
Grade exacter Forschung gediehen sein, daß sie. zum Range einer wirklichen
Wissenschaft erhoben, einen ziemlich sicheren Maaßstab für den Werth früherer
Meinungen gewährt. Der Körper ist nach Heraclit das Denkmal, oder das
Grab des Todes («7^«) und nach dem Tode des Körpers lebt die Seele ihr
besonderes Leben. Beides. Leben und Sterben, ist eins. Wenn die Seele
stirbt, wird sie zu Wasser und gibt als Same der Welt ein eignes Princip
zur Bildung des Körpers ab. Dieses bestimmt zugleich ihre intellectuelle
Stufe; denn da sie in der Feuchtigkeit zur Materie sich heranbildet, so ist die
trockene Seele die weiseste und beste. Der Trunkene, der eine nasse Seele
hat, strauchelt und muß geführt werden. (Band I. S. 180—181 und 195
in.) In der Lehre vom Erkennen folgert Heraclit aus seinem Grundprincip,
dem Werden, daß alles wahre Wissen ein Aufnehmen und Bewußtsein der
Identität des Gegensatzes von Sein und Nichts d. h. deS Werdens ist; dem
Menschen aber sei das Bewußtsein dieses Gegensatzes möglich, weil er ja in
sich selbst schon den Weltgegensatz darstellte. Deshalb genüge auch dem Men¬
sche» dieses Bewußtsein, um weise und einsichtvoll zu sein, und so sehen wir,
wie Heraclit gegen Männer wie Pythagoras. Xenophanes u. s. w. pole-
misirt, als ob sie über das Vielwisser nicht zum Erfassen der Identität jenes
Gegensatzes gelangt seien. Wenn wir im Schlafe vom Zusammenhang mit
dem Allgemeinen getrennt sind, dann sind wir unvernünftig, d. h. des Allge¬
meinen uns nicht bewußt; eben so sehr sind wir auch wachend gehindert, das
Ewige zu erkennen, weil uns die Sinne, welche Heraclit Lügenschmiede nennt,
in die Irre leiten. Was daher in der Körperwelt Krankheit ist, das ist im
Intellektuellen Irrthum, im Ethischen Uebermuth und Willkür; Alles ein Ab¬
wenden vom Allgemeinen. , Demnach sei auch die Wahrheit nichts als eine
Gleichartigkeit der Seele und des Alls. (Bd. II. 341, 308. 322.) Die
Sprache nun ist der Ausdruck dieser Wahrheit und der Logos nicht unwill¬
kürlich, sondern von Natur dazu da. zur Erkenntniß der Dinge zu führen.
(Bd. II. S. 363—365. 385.)
Die ethischen Principien des Heraclit sind eben so ernst und tief als seine
logischen und naturphilosophischen kühn und phantasiereich sind. Er sagt:
Ich suchte mich selbst; und indem ich erkannte, daß ich Nichts sei, fand
ich mich als das Eine Seiende wieder, dem ich mich hingab. Was heißt
dieses anders, als unser eigenes gebrochenes Natursein aufgebend, finden
wir uns in dem Allgemeinen und Göttlichen, dem wir uns ergeben, wieder,
aber mit geläuterter Individualität, in welcher die Schlacken des Naturseins
vom Feuer des Göttlichen ausgeschmolzen sind. „Wie die Stadt am Gesetze,
so müssen, sagte er. die mit Vernunft Begabten am Gemeinsamen festhalten.
Denn dieses hat Alles überwunden und herrscht, soweit es will. Die besten
Menschen wählen ein Princip und das gereicht ihnen zum immerwährenden
Ruhm, aber die Menge mästet sich wie Vieh, indem sie an dem Magen und
dem Verächtlichsten an uns die Glückseligkeit bemißt. Mit starken Farben
malt der alte Grieche die Folgen des Hochmuths (S^os). denn der hochmüthige
Mensch gibt mit dem. was er begehrt, die Seele mit in den Kauf. Es bedürfte
daher einer großen Kraft, sich selbst zu bezwingen. Gegen Uebermuth empfiehlt
Heraclit die stärksten Waffen, ja er spricht von der Nacht der Begierden in
einer Weise, die einem Benedictiner. Mönch Ehre machen würde. Das
Schicksal des Menschen leitet er aus dessen Charakter (Hso?) ab, indem er
das Lebensloos des Individuums als eine Hervorbringung und Sichselbstdar¬
stellung betrachtet. So nun leitet Heraclit seine Darstellung bis zur sittlichen
Selbsterkenntniß, zur Idee der Freiheit (Bd. II. S. 428. 441, 430—431).
Was Heraclil's Verhältniß zur griechischen Volksreligion betrifft, so ist
ein Verfahren dem Hegel's gegenüber dem Christenthum ganz analog. Wir
finden bei .ihm zwar den Zeus. Dionysos, Apollo, Hades u. s. w., allein
alle diese Namen sind ihm nur der Ausdruck speculativer Begriffe, von denen
das griechische Volksbewußtsein nichts wußte. Unter Zeus versteht er die
verborgene Harmonie, welche besser ist, als die offenbare (a^ovi« /«^ «<x«-
obs Pedo-^s «^<7<?c»i-), Dionysos und Apollo sind ihm Gegensätze, da jener,
der Weingott, als das feuchte Element, auflöst, dieser, der Lichtgott, neue
Bildungen und Verjüngungen hervorbringt. Dionysos, Apollo, Hades wer¬
den als Repräsentanten der physikalischen Elemente, Wasser, Erde, Feuer, das
Spiel des Zeus, des Weltschöpfers (S^os^o?) genannt. Heraclit gehört daher
zu den Philosophen der Griechen, die am wenigsten der Volksreligion feind¬
lich entgegentraten und dennoch ihre Grundvorstellungen total umänderten,
indem er sie in physikalische Ideen umsetzte. Auch darin schließt er sich der
Volksansicht an, daß er die schöne Welt von Göttern, Heroen. Halbgöttern
Genien gelten ließ, diese aber pantheistisch zu gestaltlosen Kräften umändert.
So erzählt z. B. Aristoteles av Mre. linia. I. p. 64: Als Gastfreunde, die
ihn besuchten, stehen blieben, weil sie ihn fanden, wie er sich im Stalle
wärmte, habe er ihnen zugerufen: „Tretet nur ein, denn auch hier sind Göt¬
ter." Wenn er daher in panthcistifcher Konsequenz sagt: die Menschen sind ge¬
storbene Götter, und die Götter gestorbene Menschen, so läßt er uns über den
Sinn dieser Worte nicht einen Augenblick in Zweifel; denn sogleich behauptet er,
daß die Menschen nach dem Tode ein Theil der reinen Bewegung der ver¬
borgenen Harmonie sind.
Heraclit ist, ohne es zu wollen, durch seine Lehre vom Fluß und der
Stabilitätslostgkeit aller Dinge der Gründer der Sophistik geworden. Wäh¬
rend jedoch diese sagte, daß nichts sei, folgerte jener, daß Alles sei. Wenn
aber aus der totalen Realität des Alls die Einheit des dem All zu Grunde
liegenden Gedankens folgt, so ist damit sofort die Lehre des Anaxagoras be¬
gründet, der ja gradezu den Gedanken i>o5?) als den Schöpfer des Alls sta-
tlnrte. Ja bis auf Plato herab erstreckt sich der directe Einfluß der Hera-
clltischeu Lehre, wie dieses Aristoteles deutlich nachweist lMctaph. I. 6.) und
auch Herr Lassalle schlagend darthut (B, II. S. 408. B. I. 102. B. II.
S. 371. B. I. S. 289—90).
Ja wem könnte bei genauerer Betrachtung des Heraclitischen Systems
entgehen, daß hier das wahre Protolypon für jenen gewaltigen allumfassen¬
den Pantheismus vorhanden ist. wie ihn Hegel mit Tiefe und großem
Wissen entwickelt hat? Wir ergänzen schließlich noch, was die Arbeit des Herrn
F. Lassalle betrifft, unser oben angedeutetes Urtheil, daß sie ein bedeutender
Beitrag zur bessern Kenntniß der griechischen Philosophie ist und die Beachtung
auch des nicht philosophischen Publicums im hohen Grade verdient. Denn
die schöne präcise Form, in der die Schrift gehalten ist, dürfte dem Verfasser
mehr Leser zuführen, als manchem andern philosophischen Schriftsteller und
ist jenem um so höher anzurechnen, als es ihm augenscheinlich nicht ohne Ueber¬
windung gelungen ist, sich von jener düstern Scholastik der Schule, zu deren
gegenwärtigen Vertretern er sich zählt, ganz fern zu halten. —
Mit der Arbeit von Frohschammer über das Verhältniß der Naturphilo¬
sophie zur Naturwissenschaft betreten wir ein Gebiet, auf welchem in neuerer
Zeit von Pilosophen wie empirischen Forschern um eine definitive Entscheidung
über die Grundprobleme der Natur hartnäckig gekämpft worden, ohne daß
bis jetzt eine Annäherung, geschweige denn eine Ausgleichung zwischen den
speculativen Ideen und den auf thatsächlicher Forschung beruhenden Resultaten
erzielt worden ist. Eine Einigung der entgegenstehenden Ansichten über die Vor¬
stellung von Stoff. Kraft, Materie, Atomen, Teleologie, Organisches :c. :c. glaubt
der Verfasser durch Aufstellung einer neuen Naturphilosophie herbeizuführen, ohne
sich durch den Umstand abschrecken zu lassen, daß von allen Theilen der Phi¬
losophie die Naturphilosophie allein durch die gänzliche Resultatlosigkeit ihrer
phantastischen Bemühungen bei Forschern wie bei Laien in totalen Mißcredit
gekommen ist. Die schmähliche Niederlage Schelling's und seiner Schüler will
der Verfasser in dem unsinnigen Synkretismus von Ideen und einzelnen That¬
sachen, in dem leichtsinnigen Spiel, das jene Schule der Phantasie in Betreff
ernster Forschungen trieb, begründet finden und die Möglichkeit einer den Em¬
piriker wie den Denker gleich befriedigenden Naturphilosophie in der vollkom¬
menen Trennung der Spekulation von der Forschung mit Lupe und Messer
suchen. Er bemerkt in dieser Beziehung, daß das Grundgebrechen der
Schellingschen Philosophie sei, „daß zwischen dem bloßen Sein und den that¬
sächlichen Gesetzen der Natur und deren wirkenden Ursachen einerseits, und
dem Vollkommcnsein oder den idealen Momenten andererseits gar kein be¬
stimmter, oder nicht immer ernstlicher Unterschied gemacht wird, und daß dann
das thatsächliche, empirische und exacte Sein und Geschehen derselben gerade
so erkannt werden will, wie man die ideale Bedeutung derselben erkennen
kann. Deshalb will Schelling einerseits von oben her erkennen, construiren,
andererseits doch die Naturphilosophie als eigentliche Naturwissenschaft geltend
machen. Er unterscheidet daher die Naturwissenschaft und die Naturphilosophie
nicht von einander, sowie er das Sein und das Vollkommensein derselben nicht
unterscheidet." Allerdings ist eine solche Unterscheidung förderlich für beide
Theile; allein jeder Versuch eines Philosophen, das ganze, weltumfassende
Naturleben aus einem metaphysischen Princip heraus begreifen zu wollen, ist
doch nur, soll es nicht zur bloßen Chimäre werden, bei möglichster Berücksich¬
tigung aller bis jetzt erforschten Thatsachen möglich, sowie andererseits der
Empiriker, ohne ein Princip zu Grunde zu legen, die Summe seiner Erschei¬
nungen gar nicht begreifen kann, oder soll der Letztere etwa bei den soge¬
nannten Naturgesetzen stehen bleiben, die im Grunde ihre eigentliche Bestäti¬
gung nur von der größern oder geringern Menge der Thatsachen, die sich
unter sie subsumiren lassen, hernehmen? Wie ist also eine abjolute Trennung
zwischen Empirie und Philosophie thatsächlich durchzuführen? Schiller's
Mahnung:
Feindschaft sei zwischen euch! Noch kommt das Bündniß zu Stube:
Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt.
hat heute deshalb keine Geltung mehr, weil der empirische Forscher das
kolossale Material, welches die Neuzeit aufgehäuft hat. ohne Zuhilfenahme
von Ideen — allerdings wie Kant will nur im regulativen, nicht im constitu-
tiven Sinne — zu ordnen und zu beherrschen gar nicht vermag. Sehen wir,
wie der Verfasser seine Aufgabe, eine von allen bisherigen Versuchen sich unter-
scheidende Vermittlung zwischen dem reinen metaphysischen Gedanken und der
Fülle concreter Naturerscheinungen zu machen gelöst bat. so können wir uns
zwar über die Menge der berücksichtigten Forschungen wie über die Klarheit
der Darstellung tobend aussprechen, uns aber keineswegs verhehlen, daß
das Resultat der Arbeit durchaus nicht dem großen Apparat der Hilfsmittel,
die der. Verfasser aus den Fachwissenschaften gezogen, nach Befriedigung ent¬
spricht. Wir finden die Forschungen von Liebig, Lohe. Virchow, Le Comte,
HelMholtz. Fick. Th. Bischoff, Mulder. mit Geist und Verständniß benutzt; aber
wir können nicht behaupten, daß es dem Verfasser gelungen sei, über das Ma¬
terial hinaus zu einem befriedigenden Abschluß zu gelaugen. Herr Froh¬
schammer macht überhaupt nur einen Anlauf zur Vermittlung; denn das ein¬
zige Kapitel, welches detaillirt und gründlich durchgeführt ist, dürfte das über
Kraft und Materie sein, das wir hier einer kurzen Analyse unterwerfen
wollen.
Nach einer ausführlichen Begründung der ideologischen Naturbetrachtung,
verbreitet er sich über Erkenntnißprincip, Inhalt und Zweck der Naturphilo¬
sophie und gesteht, das ganze System gegenwärtig noch nicht in Angriff
nehmen, sondern nur. gewissermaßen als Probe, den Streitpunkt über Kraft
und Materie untersuchen zu wollen.
Da Herr Frohschammer vermitteln will, so wendet er sich sowohl gegen
die Anhänger der Atomenlehre als auch gegen die Dynamiker. Die haupt¬
sächlichsten und bedeutendsten Atomisten, wie Epikur, Lucretius, Gaffend'i, in
neuester Zeit, Czolbe, stimmen darin überein, daß die Atome nicht etwa blos
ideelle, mathematische Punkte, sondern wirklich materielle, aber untheilbare
Körperchen sind, deren bloße Form und Existenz schon alles das wirkt, was
die Dynamiker der Kraft zu schreiben; die Kraft ist nach ihnen den Theilchen
immanent, wie Lucretius (I. 562—564) sagt:
„Kräftig sind sie daher, weil dicht ihr Wesen, und einfach;
Und je gedrängter sie nur sich verbinden, halten sie fester
Alle Dinge zusammen, erweisend die mächtige Grundkraft."
Ueber die Ansichten der alten Atomisten hat uns Schalter in seiner
vortrefflichen „Geschichte der Naturphilosophie von Baco bis auf unsere Zeit"
Mündlich belehrt, und hieraus ersehen wir ganz zur Genüge, daß von kraft-
losen Atomen, wie HLrr Frohschammer glaubt, Niemand, auch nicht der ex¬
tremste Atomist gesprochen hat. Gegen wen kämpft er also? Doch nicht etwa
gegen Cartesius. der, ohne Atomist sein zu wollen, die Atome durch Stoß
und Bewegung, welche er Gott zuschreibt, alle Kraftwirkungen hervorbringen
läßt?
Indem sich der Verfasser gegen die Anhänger Per Kraftlehre wendet, und
hauptsächlich Kant als ihren eigentlichen Begründer bekämpft, vergißt er. daß
eine Lehre, welche das Wesen der Dinge für gar nicht erkennbar hielt, sondern
über die Grenzen der menschlichen Erkenntniß hinaus in ein transcendental-
ideales Gebiet verwies, der Materie gar keine Concessionen machen konnte.
War ja doch nach Kant das ganze Erscheinungsgebiet ein Resultat unserer
subjectiven nach Zeit, Raum und angebornen Ideen bestimmten Auffassung.
Will nun der Verfasser seine Vermittlung durchführen, so kommen seine
eigenen Ansichten in einen auffallenden Gegensatz zu einander. Er will es
mit den Dynamikern. die ihm imponiren. durchaus nicht verderben und faßt
die Materie als Producte von Kraftwirkungen, als Ausdruck von Kräften
oder als Resultat eines wirkenden Gesetzes auf. Nichtsdestoweniger aber macht
er den Atomisten folgende Concession:
„Wir nehmen einen wirklichen Stoff an, der das Substrat wirklicher
Kräfte oder Kraftwirkungen ist — einen Stoff also, der nicht blos ist, sondern
auch Kraft hat und wirken kann durch diese, und nicht durch seine bloße Form
und Existenz, wie eine extreme Atomistik will; und wiederum einen Stoff,
der wirklich ist und existirt und nicht bloß gewirkt wird durch Kräfte, wie
eine extreme Dynamik will/' Wie ist dieser Widerspruch auszugleichen? Ist
es aber dem Verfasser nicht gelungen, i» diesem ersten Gegensatz von Kraft
und Stoff eine befriedigende Lösung zu finden, wie wird er es in der künftigen
Naturphilosophie, die er uns verspricht, anfangen, um die viel höheren Gegen¬
sätze, ^des Organischen und Unorganischen, der Teleologie und der blinden
Naturgewalt u. s. w. auszugleichen?
Geschichte des Ritters Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand und
seiner Familie. Nach Urkunden zusammengestellt und herausgegeben von
Friedrich Wolfgang Götz Graf von Berl ichingen-Rossach. Mit 10
lithogr. Taf. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1861.
Die Freude Einzelner an der Vergangenheit des eigenen Geschlechts hat
der historischen Literatur auch in den letzten Jahren mehrere nicht werthlose
Monographien verschafft. Zumal die alten Familien des deutschen Adels
haben ihre Blicke mit besonderer Liebe früheren Jahrhunderten ihres Ge-
schlechts zugekehrt. Wenn auch zuweilen das Bestreben, sich selbst dadurch
eine Bedeutung zu geben, mehr als billig hervortritt, so wird hin doch bereitwillig
zugegeben. daß in dem Stolz auf die Tüchtigkeit der eigenen Ahnen ein sehr
berechtigtes ethisches Moment liegt. Auch die Kritik wird solchen Familien¬
geschichten gegenüber gern eine gewisse Nachsicht üben, sie wird es natürlich
finden, wenn die Freude an allem Guten und Mannhafter stark hervortritt,
das Unwürdige und Schlechte mit Schonung und Verschwiegenheit behandelt
ist. Von solchem Standpunkt darf sich die deutsche Geschichtschreibung das
stattliche Werk über Götz und die Berlichingen wohl gefallen lassen. Das¬
selbe enthält nach einem allerdings nicht vollständigen Verzeichnisse der litera¬
rischen Hilfsmittel für die Geschichte des Junker Götz einen Abdruck seiner
Selbstbiographie nach der Neuenstedtner Handschrift, dann Regesten, Urkunden
und Actenstücke zu seiner Geschichte, namentlich im Bauernkriege, dann auch
eine Geschichte seiner eisernen Hand und Erklärung ihres Mechanismus, darauf
eine Geschichte der Familie und des Klosters Schönthal, welches enge mit
dem Geschlecht verbunden durch vier Jahrhunderte ihre Begräbnisstätte war.
Außerdem Abdruck zahlreicher Denksprüche und Gedichte auf den Junker und
sein Geschlecht, welche theils von Reisenden in ein Stammbuch der eisernen
Hand eingezeichnet wurden, theils durch freundliches Ersuchen von jetzt leben¬
den Dichtern erbeten worden sind. Das Werk ist würdig ausgestattet, mit
Abbildungen des Ritters, seiner Hand, der Burg, des Grabmals, mit Fac¬
simile, Wappen und Stammbaum, Alles wohl gemeint, unter den Urkunden
mehreres Neue und Dankenswerthe.
Eines freilich ist dem Herausgeber nicht gelungen, das Bild des histori¬
schen Götz, wie es ernster Geschichtsforschung feststeht, in irgend einem wesent¬
lichen Zuge zu ändern. Es ist durchaus nicht mehr möglich, den treuherzigen
Mann als ein Muster von Tüchtigkeit und Biederkeit darzustellen, welches den
sittlichen Anforderungen unserer Zeit Genüge thäte. Wem Pietät oder Stolz
diese Auffassung peinlich macht, der möge sich damit trösten, daß auch stärkere
und wichtigere Vertreter des damaligen Landadels, wie Sickingen, nur
geringe Hochachtung einflößen, und daß anch der geistvolle und feurige
Hütten unsere Beistimmung genau da verliert, wo bei ihm der Junker
anfängt: der Feind der Erwerbenden, der Ohrabschneider, der launenhafte
und unordentliche Reiter. Es ist wahr. Götz von Berlichingen war in
hohem Grade das, was wir einen guten Kerl nennen würden. .Er
war höchst zuverlässig und gewissenhaft innerhalb der Traditionen des Mo-
ralcodex, in welchem er aufgewachsen war. Er würde sich ein Gewjs.
sen daraus gemacht haben. Jemanden im Walde zu berauben, ohne vor¬
her der Partei desselben einen Absagebrief gesandt zu haben, er würde
es für die größte Niederträchtigkeit erklärt haben, einen seiner Raubgesellen bei
Todesnoth im Stiche zu lassen. Gern nehmen wir an, daß er die Opfer,
welche er in Haft führte, menschlicher behandelte, als die meiste» seiner Ge¬
nossen thaten, und daß er sie nichl ohne einen Zug von guter Laune anschnaubte und
mit dem Tode bedrohte, ja daß er sie wohlwollender,' als irgend ein Anderer mit
einem Tritt auf das Gesäß entließ. Aber alle diese menschlichen Eigenschaften,
welche ihn unter seinen Standesgenossen immerhin als eine verhältnißmäßig
behagliche Gestalt erscheinen lassen, reichen nicht aus, um ihn in der Hauptsache
aus der Masse herauszuheben. Er war — in seiner Reiterzeit — ein adeliger Räu¬
ber, in den unsittlichen Ueberlieferungen seines Berufes aufgewachsen, eben so schäd¬
lich für Sicherheit, Bildung und Wohlstand seiner Zeltgenossen, ebenso unnütz
für die höchsten Interessen seiner Zeit, als irgend ein anderer Junker, der am
Main und Spessart aus Kaufmannsgüter lauerte und seine Fehdebriefe an die
Thore von Nürnberg heften ließ.
Aber das war nicht seine Schuld, sondern schuld des Standes, in dem
er aufgewachsen war. Schuld seiner Zeit! — Auf diesen Einwurf, der eine
Frage von allgemeinsten Interesse berührt, diene folgende Antwort. Für das
historische Urtheil überPersonen gelten drei höchste Grundsätze. Erstens wir
haben jede Eigenthümlichkeit in Sitte, Rechtsgefühl, Moral einer vergangenen Pe¬
riode abzuschätzen nach Sitte, Moral und Rechtsgefühl der Gegenwart. Wie un¬
befangen und liebevoll auch der Historiker das Besondere und Beschränkte ir¬
gend einer Zeit erkläre und in seinem innern Zusammenhange mit noch
früheren Entwickelungsstufen als nothwendig und unvermeidlich darlege, im¬
mer muß bei Abschätzung des Guten und Bösen, des Segens und Nachtheils
menschlicher Verhältnisse der letzte Maßstab seiner Beurtheilung aus der Bildung
und den ethischen Bedürfnissen unseres Lebens genommen sein. Zweitens sind
wir allerdings verpflichtet, den einzelnen Mann in irgend einer Zeit mit dem Ma߬
stabe zu messen, welchen Intelligenz, Sitte und Moral seiner Zeitgenossen an die
Hand gibt; und wir werden bei unserm Urtheile über seine Beschränktheiten sorg¬
fältig zu unterscheiden haben zwischen dem, was seine Schuld und Schuld seiner
Zeit ist. Eine Unterscheidung, die oft sehr schwer ist, den höchsten Scharfsinn und
Unbefangenheit eines Historikers in Anspruch nimmt und nicht in allen ein¬
zelnen Fällen ein sicheres Endurtheil über den relativen sittlichen Werth oder
Unwerth des Individuums gestattet, weil bei mangelhafter Kenntniß weit
abliegender Zeiten oft dem schärfsten Auge unmöglich wird, zu unterscheiden,
was Beschränktheit des Mannes und Beschränktheit der Zeit ist. Drittens
endlich — und das ist >in vorliegenden Falle entscheidend — haben wir die
Pflicht, das Individuum innerhalb seiner Zeit zu messen nach den, Maßstäbe,
welchen die beste Bildung seiner Zeit an die Hand gibt, und wir werden,
wo diese verurtheilt, nur Entschuldigungsgründe finden in den Beschränkt¬
heiten, welche dem Einzelnen durch seine Erziehung und Umgebung gegeben
werden, und durch sein Hängen in einem größeren Kreise von Menschen und
Interessen, welche in Opposition gegen die höchsten Forderungen ihrer Zeit da¬
hinleben.
Bon solchem Standpunkt aus ist es dem Historiker unmöglich, das Rei¬
terleben des Bcrlichingers mit Billigung zu behandeln. Denn es war beim
Beginn des 16. Jahrhunderts keineswegs die Behauptung einzelner, besonders
hochgebildeter Männer, sondern eine allgemeine, durch alle Landschaften schal¬
lende Klage, daß das Treiben des niedern Adels im Ganzen betrachtet höchst
ruchlos und gemeinschädlich sei. Es war auch keine neue Klage. Durch drei
Jahrhunderte waren seine Lieblingsneigungen als schlecht und verderblich ver¬
urtheilt worden. Kaiser und Reich hatten sie als unleidlich erkannt, durch
einen großen Act der Gesetzgebung waren sie verdammt worden; kurz darauf fällten
die Reformatoren über die Unsittlichkeit und politische Unfähigkeit der großen
Mehrzahl des Standes die strengsten Urtheile.
Wir sind deshalb verpflichtet, einige Fehler des niedern Adels, zumal der
Reichsrittcrschaft, — denn der landsässige Adel war damals in größeren fürstlichen
Territorien ein wenig besser gebändigt — als eine Schuld der Individuen zu
betrachten, und den Einzelnen nur die Entschuldigung einzuräumen, welche
ein aus Corps-Vorurtheilen stammendes Unrecht beanspruchen kann.
Dies Unrecht war aber nicht vorzugsweise die Gewohnheit, durch Feh¬
den Selbsthilfe für erlittenes Unrecht zu suchen. Dean der Adel durfte im
Anfange des 16. Jahrhunderts sich dabei auf eine allgemeine Volkssitte
berufen, die sich seit dem 13. Jahrhundert in dem zerfallenden Körper
des römischen Reiches unter bestimmten Formen ausgebildet hatten die
keineswegs eine Gewohnheit des Adels allein war, und die selbstverständlich
durch das papierne Gesetz der machtlosen Reichsregierung nicht sofort beseitigt
werden konnte. Denn eine Fehde begann nicht nur der Junker von seinem
befestigten Hause, ebenso der einzelne Bürger gegen die eigene Stadt, mit
der er »in Unfrieden gekommen war, oder gegen einen Nachbarort, ebenso
der Viehhändler, der Fuhrmann, der freie Bauer, der sich in seinem Geschäfte
durch eine Gemeinde, einen Landesherrn, einen Gutsbesitzer geschädigt glaubte.
Bis gegen das Ende des 16. Jahrhunderts blieb die Neigung zu solcher Ge¬
waltthat im Volke. Wer vor dem Gericht des Verklagten kein Recht finden
konnte, oder überhaupt kein Gericht fand, das über seine Klage urtheilte, der
warb, wenn er ein entschlossener Mann war. Genossen und suchte durch Schä¬
digung der Gegenpartei Ersatz und Rache. Durch einen Fehdebrief mußte
der Frieden abgesagt werden, ein solcher Brief mußte dem Befehdeten sicher
unter die Augen gebracht werden. Man nahm es freilich auch damit nicht
zu genau, oder richtete sich doch nach dem Stand des Befehdeten. Waren der
Unkundiger und der Gegner von stattlichem Wohlstand, so trug ein reitender
Edelknabe, in die Farben des Absagenden gekleidet, von einem Trompeter be¬
gleitet, den offenen Fehdebrief auf hohem Rosse in die Kluppe, das 'heißt in ein
Sperrholz, eingczwickt. Die Courtoisie verlangte, einen solchen Boten anstündig
zu behandeln, mit freiem Geleit wieder zu entlassen, ihm eine Verehrung
zu geben. Da auch die Kriegszüge noch den Charakter der Fehden hat-
ten, so ließ es sich der einzelne Junker, welcher mit seinen Knechten einen
Heereszug mitmachte, in der Regel nicht nehmen, auch seinen besondern Ab¬
sagebrief zu schicken. Als der schwäbische Bund gegen Herzog Ulrich rüstete,
kam ein Haufe von Absagebriefen in der erwähnten Weise nach Stuttgart
gekräht. Auch die Stadt Nürnberg war zuweilen, wenn der Landadel der
Nachbarschaft sich gegen sie zusammenballte, in der Lage, diese Aufkündigungen
nach Hunderten zu zählen. Aber den Städtern gönnte der fehdclustige Junker
nicht immer einen seiner Buben als Ueberbringer, er begnügte sich, sein Ab¬
sageschreiben an das Stadithor oder an auffallende Punkte vor der Mauer,
an das Siechenhaus, die Grenzsäule, ein Heiligenbild, bei Nacht und Nebel
zu heften. Solche Fehdebriefe erließ sogar der Straßenräuver und Mord¬
brenner, — unsere Brandbriefe sind die letzte Erinnerung an den alten
Brauch; wer keinen Namen darunter zu setzen hatte, der fügte wenigstens
Buchstaben oder seinen Zinken, das Handzeichen der Gauner, dazu. War
die Fehde in den herkömmlichen Formen durch einen Fehdebrief offen ange¬
kündigt, so galt sie in der Empfindung des Volkes noch lange für ein männ¬
liches Unternehmen, nachdem der Landfrieden, das Reichskammergericht und
die Polizei der einzelnen Landesherren diesem mittelalterlichen Brauch den
Krieg erklärt hatten. Und wenn die Junker in Franken, Schwaben und am
Oberrhein kein anderer Borwurs getroffen Hütte, als dieser Neigung zu oft und
zu gern nachzugeben, so würde ihre Sache vor dem Tribunal der Geschichte
weit besser stehen.
Aber größer wird das Unrecht deshalb, weil sich in dem niedern Adel
ein besonderer Raubsinn und ein Bedürfniß nach den abenteuerlichen Unter¬
nehmungen, deren Ziel die Aneignung fremde» Eigenthums war. entwickelt
hatte. Man darf wohl sagen, daß solche Abenteuer. Lauern auf Beute.
Ueberfülle reicher Transpotte, Raufen an der Landstraße um Kaufmannsgüter,
Fangen begüterter Fremden und Erpresser die Poesie des Standes geworden wa¬
ren; wie leidenschaftliche Spieler freuten sich die Besseren weniger der Habe
selbst, als der Aufregung beim Gewinn. Allerdings mußten bei solcher
lockenden Arbeit gewisse Formen beobachtet werden, wodurch sich der gewissen¬
hafte Reiter von dem Strolch unterschied. Bevor die Fehde angesagt wurde,
mußte auch ein Grund dazu gefunden werden. Aber der schalste Borwand war
nur zu häufig Grund genug, selbst die Aufkündigung und die drei Tage
oder 24 Stunden, welche zwischen Ankündigung der Fehde und ihrem Beginn
verlaufen sollten, wurden im Eifer vernachlässigt, und der Unterschied zwischen
dem redlichen Reitersmann, der nur gegen seine erklärten Feinde und die
Feinde seiner Freunde ausritt, und zwischen dem berüchtigten Ränder, der
alles Werthvolle. das ihm in den Weg kam, niederwarf, wär zuweilen schwer
zu erkennen.
Aber nicht nur die Freude an der Aufregung und der Beute waren
übermächtig, vielleicht noch stärker arbeitete der Haß und die hochmüthige
Berachtung. mit welcher der Reiter auf die Erwerbenden der Nation, zumal
auf die Städter hinsah. Und derselbe Idealismus des Reiterhcmdwerks ver¬
band große Landesherren mit dem niedern Adel, den Junker mit dem fahrenden
Reisigen, der zuweilen nichts Anderes war, als ein lungernder Räuber. Uns
ist in das Reiterlcben am Ende des Mittel« lters reichlicher Einblick vergönnt.
Die Chroniken der größern und kleinern Städte sind voll von Berichten über
Fehden und ihren Verlauf, die Nathsprotvkolle und hier und da ein Scharf-
richterverzeichniß enthalten Hunderte von Namen deutscher Junker und ihrer
Spießgesellen, welche zuletzt dem Gericht der erbitterten Bürger verfielen und
„gerechtfertigt" wurden. Am tiefsten vielleicht führen die Bolkslieder jener
Zeit in die Stimmungen ein. und besser als aus historischen Aufzeichnungen
erkennen wir aus ihnen, wie gesetzlos die gemüthlichen Neigungen des „Reiter-
ordens" und wie grimmig der Haß des Bürgers und Bauern gegen ihre
Fahrten war.
Der Reiter ersucht in seinem Liede den Sanct Görg. sein Rottmcister
zu sein, und dem Adel bei Sturm und Wetter im Holz zu helfen, daß er die
Bauern jage und fange, die Kaufleute mit Brennen und Raub aus ihrem
Fuchspelz schäle, denn oft fehle dem Reiter Futter, Mahlzeit und Pfennige,
der Kaufmann sei ihm Alles, sein Wildpret, dem er im Wald und auf der
Heide auflaure, sein Singvogel, den er von seiner Waldhütte aus mit Hilfe
des Kauz im Netz fange, damit er ihm in der Ringmauer seines Hauses
singe, sein Fisch, der ihm in die Reusen gehe. Und der Städter singt da¬
gegen den Kaiser Maximilian um Hilfe an, und wünscht in seinen Bersen,
die voll starker Beschwerden sind, dem Adel und seinen Knechten Gefängniß,
Galgen und Rad.
Unter so hochgespannter Gegensätzen wuchs auch Götz von Berlichingen
herauf in alle» Vormtheilen des Neiterordens. Ungewöhnlich war seine Rüh¬
rigkeit, Bcrwegenheit und Ausdauer, und die Hartnäckigkeit, mit welcher er
auf Allem stand, was er für sein Recht und die Freude seines Standes hielt.
Diese Eigenschaften machten ihn zu einem angesehenen Mann unter seines
Gleichen, zu einem gefürchteten und vielgehaßte» Gegner. Sie Schnezler ihn
nicht vor Streichen, hei denen ein weites Reitergewissen nöthig war. Er
wurde ein gesuchter Bundesgenosse bei jeder Fehde', er wurde ein Schrecken
der Bürger im ganze» westlichen Deutschland. Aber offenbar auch eine der
poetischen Vvlkssiguren, welche neben der Furcht und dein Haß eine wider¬
willige Bewunderung einflößten. Seine Netterstreiche wurden in der Dorfhütte
wie in den Kaufhallen von Nürnberg und Augsburg mit leidenschaftlichem Antheil
gehört. Und die besseren Seiten seines Wesens, treues Worthalten. Zuverlässig¬
keit. Gutherzigkeit und billiger Sinn wurde» sicher anch von seinen Feinden
gerühmt, wie "das Volk bei schlechteren Gesellen, welche ihm die Phantasie
füllen, zu thun pflegt.
Dieses wilde Abenteurerleben erreichte seinen Höhenpunkt in der großen
Nürnberger Fehde, in welcher Götz mit Uebermuth und einer Dreistigkeit,
welche in offenbarem Mißverhältmß'zu seinen Kräften stand, den Kampf gegen
die neuen Gewalten der Zeit begann. Nur mit schwerem Verlust vermochte
er sich herauszuziehen.
Zwar rettete er sich durch seine Gönner nach einiger Einbuße. Aber
die Fehde wurde ihm doch verhängnißvoll; die allgemeine Aufmerksamkeit war
auf ihn gelenkt, seine Tollkühnheit, seine Reiterkünste wurden allgemein
besprochen. Er schien eine wichtige Person, deren Genossenschaft zu wer¬
ben bei jedem wilden Werk nützlich sein mochte. Seitdem wurde er stärker
in die größeren politischen Conflicte hineingezogen. Für diese Kämpfe
aber war sein Wesen nicht gemacht. Denn wie die Waldfahrten der Reiter
keine gute Vorschule für größeren Soldatendienst waren — weder Sickingen
noch Götz haben kriegerische Talente erwiesen, und Frondsbcrg wurde zum
Feldherrn, weil er den Reiterbrauch ganz verließ — so waren sie auch sehr
wenig gemacht, ein politisches Urtheil und Einsicht in die großen Geschäfte
zu gewahren. Im Kampf des Schwäbischen Bundes gegen Herzog Ulrich,
wie im Bauernkriege wurde Götz ein Opfer, nicht ein Führer. Und weil er
ehrlicher und stierköpfiger, treuer und rathloser als seine Genossen war, traf
ihn das Verhängnis; ärger und vernichtender als Andere. Um sein Leben zu
reiten, sein Schloß, Weib und Kind, ließ er sich bewegen, Führer der Bauern
zu werden; er hielt mit buchstäblicher Ehrlichkeit unter ihnen aus, in der
That ein gebrochner, schwer bekümmerter Mann und ihr Gefangener. Es
war ihm schrecklich, als der Abt von Amorbach ihm in der Todesangst zwei
silberne Becher schenkte, grade wie dem Metzler und den andern Mordbren-
nern, aber er hatte nicht den Muth, das Geschenk zurückzustoßen. Und seine
Hausfrau verschmähte nicht ganz, geraubtes Silbergeschirr von den Bauern auf-
z »kaufe».
Seitdem ist er ein besonders deutliches Beispiel, wie die große Ver¬
änderung in der Bildung, welche mit der Reformationszeit eintrat, anch Leben
und Charakter des deutschen Landadels umwandelte. Grade daß er kein
Mann von besonders hochfliegenden Geist oder von großem Talent war.
macht die Umwandlung, welche er erfuhr, besonders lehrreich. Er wurde
durch die neue Fürstengewalt, den Landfrieden und das Reichskammergericht
gebändigt und eingeengt, er wurde Piotestant, er wurde endlich sogar Schrift¬
steller, und er, der alte Gegner der Städte, widmete seine Lebensbeschreibung
in seinen alten Tagen zwei'Stadtbürgern grade der Gemeinde, mir welcher
er in seiner wilden Neiterzeit in heftigem Conflict gewesen war. Einst hatte
er es bei einem Ritt für ein gutes Omen gehalten, daß die Wölfe >n eine
Schafheerde sielen und ein Schaf im Maule davontrugen, denn er selbst führte
das Bild des Wolfes mit einem Schaf im Rachen als Helmschmuck. Als dem
alten Wolf das Gebiß ausgebrochen war, und er gegen Handgelöbniß auf
seiner Beste saß. im engen Gewahrsam. da begann er selbst um seine Rinder
und Schafe zu sorgen, er war thatsächlich bereits ein moderner Gutsbesitzer
geworden, der den Ertrag seiner Aecker steigerte und die Gesellschaft kluger und
unterrichteter Leute suchte. Aber auf den Abenteuern seiner Reiterzeit lag ihm
noch ein verklärender Schein, und wir dürfen annehmen, daß er einem jungem
Geschlecht, das unter ganz veränderten Culturverhältnissen heranwuchs, gern
von seinen nächtlichen Ritten erzählte, und wie wacker und unbändig er sich
mit aller Welt gerauft hatte.
Und wie er selbst, so sahen seine Standesgenossen bis in das nächste
Jahrhundert herein ihr ganzes Leben in zweifachen Lichte. Sie waren in
Wirklichkeit sämmtlich auf dem Wege Gutsbesitzer zu werden. Was' sie
durch Beute und Reiterzüge etwa noch einmal erwerben konnten, war we¬
niger, als was sie dabei auf das Spiel setzten. Sie standen bereits als Grund¬
eigenthümer in sehr modernen Fehden, in Processen um Mein und Dein beim
Kammergericht oder vor den Gerichten ihres Landesherrn, sie fanden in ihren
Gemeinden bereits eine Autorität, welche sie in ganz anderer Weise zu berück¬
sichtigen hatten, als im Anfange des Jahrhunderts. Denn an die Stelle der ar¬
men und rohen Dorfpfaffen waren bei jeder Partei der Kirche Geistliche ge¬
treten, welche höhere Bildung besaßen und größere Ansprüche machten. Auch
die Junker hatten zu besorgen, daß der Geistliche ihnen in das Gewissen sprach und
auffallende Verstöße ihres Lebens an heiliger Stätte vor den Ohren ihrer
Bauern verurtheilte. Ja unter ihren Bauern waren solche nicht mehr selten,
welche lasen und schrieben, einen kleinen geistlichen Tractat studirten und
über den Glauben ihres Herrn ernsthafte Betrachtungen anstellten. Die Edel¬
leute selbst waren durch die große Aufregung der Reformationszeit gezwungen
worden, weit andere Nachrichten mit Interesse zu hören, als die, daß ein
Sammtballen von Nürnberg oder Pfeffersäcke von Augsburg unterwegs seien,
sie selbst hatten leidenschaftlich Partei genommen für und gegen Luther, für
und gegen die Nonnen, für und gegen den Kaiser, sie hatten sich um die Lehre
vom Abendmahle gekümmert, und waren ernstlich bemüht, jüngere Söhne am
Hofe eines Landesherrn in etwas Latein oder Französisch unterrichten, vielleicht
sogar studiren zu lassen. So wenig ausführlich Götz von Berlichingen den letz¬
ten Theil seines Lebens beschreibt, so ist doch sehr deutlich zu erkennen, wie
vollständig er diese Wandelungen durchgemacht hat.
Nicht der jugendliche Reiter Götz ist es. der uns den größten menschlichen
Antheil einflößt, sondern der alte bedächtige Mann, der sich noch im Winter
des Jahres 15K2 über die Handschrift beugt, in welcher er seinem lieben
Freunde Feyerabend, dem Bürger von Heilbronn, einem Sippen des großen
Buchhändlergeschlechts, von seiner ungevändigten Jugend berichtet.
Der Lärm, der durch den groszdcutschen Notenangriff veranlaßt war, klingt
noch nach. Der Angriff ist sogar noch verstärkt worden, da neuerdings auch Mei-
ringen der Coalitionsnote beigetreten ist. Der frühere preußische Landrath, welcher
jetzt in Meiningen als Minister fungirt, wird gewiß keine Scrupel dabei empfunden
haben. Wie sollte er auch? Es ist ja bereits eine regelmäßige Praxis geworden,
daß die benachbarten Kleinstaaten sich ihre Minister unter den reactionären preußi¬
schen Landräthen auswählen. Diese übernehmen dabei nur die Verpflichtung, als
Minister ihres neuen Vaterlandes dem früheren Vaterlande fo viel Schaden zuzu¬
fügen, als ihnen bei ihren schwachen Kräften möglich ist, und das erscheint um so
unbedenklicher, weil diese Herren alle ihre politische Weisheit aus der Kreuzzeitung
schöpfen, die fo häufig mit den Feinden Preußens sympathisirt. Herr v. Krosigk
konnte die Coalitionsnote um so unbefangener unterschreiben, weil er gewiß war,
daß durch den Beitritt Meiningens weder das materielle noch das moralische Ge¬
wicht des Angriffs verstärkt wird. Dagegen hat Mecklenburg den Beitritt zur Coali-
tion abgelehnt. Im Lande der Obotriten ist man zu conservativ, als daß man
sich auf großdeutschen oder klcindeutschcn Schwindel einlassen sollte. Selbst die
Würzburger verhehlen ja nicht, daß auch mit ihren Plänen eine gewisse Schmälerung
der Souveränetätsrechte der Einzelstaaten verbunden sein würde. Einen solchen
Raub an seiner Selbständigkeit will Mecklenburg nicht geschehen lassen, sondern lie¬
ber bei der bewährten Bundesverfassung bleiben. Umgekehrt verhält es sich mit
Kurhessen. Die kurhessische Negierung wäre der Coalition gewiß sehr gern beige-
treten, zumal da sie grade jetzt eines gewissen Rückhalts bedarf und diesen am na¬
türlichsten bei den Nachfolgern der Bregenzer Verschwornen sucht. Aber, wie es
scheint, hat man doch selbst im Würzburger Lager diese Gesellschaft nicht für rein¬
lich genug gehalten.
Auch von der anderen Seite ist das schätzbare Material zur deutschen Frage um
einige Actenstücke bereichert worden. Eine preußische Depesche vom 2. Februar sucht
die überschwenglichen Ideen, welche Graf Nechberg über die Bedeutung des Bundes-
Präsidiums geäußert hatte, auf ihr richtiges, Maaß zurückzuführen! Nachdem sogar
Herr von Beust nicht umhin gekonnt hatte, dem Grafen Nechberg bemerklich zu
machen, wie bei seiner Auffassung wohl einige romantische Täuschung mit unter¬
laufen möchte, hätte Graf Bernstorff diesen Punkt unbedenklich mit geringerer Gründ¬
lichkeit behandeln können. Der Präsident des Bundestags eröffnet die einlaufenden
Schreiben, bestimmt die Sitzungen und die Tagesordnung derselben, präsidire in den
Sitzungen, beaufsichtigt Archiv, Kanzlei und Bibliothek; aber Functionen von poli¬
tischer Bedeutung hat er nicht. Ein so gleichgültiger Gegenstand, wie der Wechsel
im Bundcspräsidium, sollte ein Aequivalent sein für die Garantie Vcneticns? Das
einzige Aequivalent, für welches eine solche Garantie übernommen werden könnte,
ist die Zusammenfassung des gesammten außcröstrcichischen Deutschland zu einem
Vundcsstaat unter preußischer Leitung.
Das Verdienst, diesen Gedanken» neuerdings ausführlich und von den höchsten
Patriotischen Gesichtspunkten aus erörtert zu haben, bat Herr von Noggenbach.
Die badische Depesche vom 28. Juni d. I. zeichnet sich, wie alle Staatsschriftcn. die
>n neuerer Zeit von Karlsruhe ausgegangen find, durch Klarheit und Unbefangen¬
heit des politischen Blicks, und zugleich durch eindringliche Wärme und durch einen
hohen patriotischen Sinn aus. In dem zu bildenden Bundesstaat müssen alle
Staatsfuuetionen, durch welche politische Macht 'im Verkehr mit fremden Staaten
entwickelt und bethätigt wird, also das ganze Vcrtheidigungswesen Deutschlands und
der diplomatische Verkehr einer einheitlichen im Namen aller deutschen Staaten zu
führenden Centralleitung unterworfen werden. Alle Stacttsfunctioncn, deren Cen-
tralisirung von dem allgemeinen Interesse gefordert wird, müssen ganz und mit
Ausschließung aller Concurrenz der Einzelstaaten, in der Hand der Centralregierung
vereinigt werden. Dagegen muß auf dem ganzen Gebiete der inneren Gesetzgebung
und Verwaltung die Selbständigkeit und Souveränetät sämmtlicher dermaligen Bun-
dcsstaaten ungestört fortdauern. Während in der Aufhebung dieser particulären
Selbständigkeit weit weniger ein Förderniß als ein Hemmniß unserer nationalen
Entwickelung erblickt werden muß, würden dagegen alle Pläne, welche auf die Voraus¬
sehung gegründet sind, daß Deutschland sogar in den Beziehungen zum Auslande
sich nicht als ein einiges darstellen lasse, die Idee des einen und einzigen Vater¬
landes zcrstöcen und gerade darum des Charakters entbehren, der ihnen allein na¬
tionalen Werth und Brauchbarkeit geben könnte. Das beste Mittel, die Interessen
der Einzelstaaten mit denen der Gesammtheit auszugleichen, liegt in der Berufung
einer ausreichenden, die Bevölkerungen, wie die Regierungen der Einzelstaaten um¬
fassenden Vcrtrcturg welche, mit constitutionellen Rechten ausgestattet, die Mittel
für die Ccntralrcguvung zu bewilligen und die Controle über die Wirksamkeit dieser
höchsten Behörde auszuüben haben würde.
Dies sind die Grundgedanken, nach welchen die badische Depesche den künftigen
deutschen Bundesstaat gestalten will. Sie sind ebenso einfach als consequent. Ein
solches zur Macht ausgebildetes geeinigtes Deutschland würde mit dem östreichischen
Kaiserstaat ein die gegenseitige Sicherheit verbürgendes Bündniß schließen können.
Was die Methode betrifft, durch welche jeder Fortschritt der Bundesrcformfrage sich
in Deutschland zu vollziehen hat, so stimmt Herr von Roggcnbach mit der bekann¬
ten preußischen Depesche vom 20. Decbr. v. I. in soweit überein, daß auch.er nur
den Weg freier Vereinbarung unter den Regierungen der Einzelstaaten als das Mit¬
tel anerkennt, durch welches das Ziel zu erreichen ist. Aber ein wesentlicher Fort¬
schritt wird doch auch hinsichtlich dieses Punkte« durch die badische Depesche bezeichnet.
Graf Bernstorff will das Vündniszrecht der einzelnen Regierungen auf den Artikel 11
der Bundesacte begründen. Dagegen meint Herr von Roggenbach, daß, wie das
nationale Bedürfniß allein Richtschnur für den Willen der Regierungen fein kann,
so auch in der Nothwendigkeit allein die Rechtfertigung jener formellen Abweichung
von der Acte von 1815 liegt. Die Regierungen als Contrahenten der Bundcsvcr-
trägc müssen in jedem Augenblick die Befugnis; haben, unter Festhaltung des Geistes
derselben, die 1815 gewählte Form jeder Aenderung zu unterwerfen.
Niemand wird sich in der trügerischen Hoffnung wiegen, daß dieses Programm
jetzt sofort solle ausgeführt werden. Vorläufig haben wir nur den großen Fort¬
schritt zu constatiren, daß einmal eine deutsche Regierung den einzigen möglichen
Plan einer Bundesreform, die nicht blos eine Täuschung sein soll, als ihr Pro¬
gramm hingestellt hat. Vorläufig wird sich dieses Programm erst in den Geistern
Bahn brechen müssen. Denn für die Ausführung ist Vieles noch nicht reif, weder
die Nation noch die Regierungen. Die Nation muß sich noch von vielen Vorur-
theilen befreien. Dies würde viel rascher geschehen, wenn die preußische Regierung
immer vollkommen von dem Beruf Preußens durchdrungen wäre. Nur Preußen
kann an die Spitze des deutschen Bundesstaat<s trete»; denn kein anderer rein-
deutscher Staat bietet den nöthigen festen Kern, um den sich die anderen Staaten
gruppiren könnten. Aber die Ration verwechselt häufig den Staat Preußen mit
dem jedesmaligen in Preußen herrschenden System. Noch leiden wir unter den
Übeln Nachwirkungen der Manteuffel'sehen Zeit, und die neue Aera hat leider viel
zu wenig gethan, um den preußischen Namen mehr, als es früher der Fall war, bei
den Feinden gefürchtet und bei den Freunden geliebt zu machen.
Jetzt wäre wieder eine gute Gelegenheit dazu. Im Würzburgischen Lager hat
man offenbar die Empfindung wie nach einem fehlgeschlagenen Wagniß, wenn das
Fiasco, das man gemacht hat, vertuscht werden soll. Diesen Moment muß Preu¬
ßen benutzen, um in die Offensive überzugehen. Die Chance» liegen so günstig
wie möglich. Vor allen Dingen darf Preußen die Wiederherstellung des Rechts in
Kurhessen sich nicht nehmen lassen. Die Würzburger Regierungen scheinen
nicht geringe Lust zu haben, durch eine Collectiverklärung in Kassel den Kur-
sürsten zu einer großen Concession zu vermögen. Baiern würde dabei aller¬
dings eine sonderbare Rolle spielen. 'Aber es würde sich nicht lange bedenken,
wenn es den Ruhm, die Verfassung wiederhergestellt zu haben, Preußen vor den
Augen wegfischen könnte. Aber bei Weitem schlimmer wäre es, wenn Preußen durch
Rücksichten auf Oestreich und die Würzburger sich von seinem Ncchtsstandpunkte herab¬
drängen ließe. Man hört von Versuchen, die Oestreich. macht, um den Kurfürsten
zu einigen Zugeständnissen zu bewegen, für welche auch die Mitwirkung Preußens
nachgesucht wird. Oestreich soll aber dabei verlangen, daß nicht das Wahlgesetz
von 1849, sondern das von 1831 wieder hergestellt werde und daß das Zwei¬
kammersystem an die Stelle des Einkammersystems der Verfassung von 1831 trete.
Damit erhielten die Hessen nicht ihr Recht, sondern sie erhielten neue Octroyirungen
an Stelle der alten. Preußen aber, wenn es sich aus diesen Standpunkt einließe,
hätte die Nechtsbasis, auf der es in der kurhessischcn Sache steht, verloren, und hätte
dann keinen Grund mehr, den Anschluß an die Majorität des Bundestags zu ver¬
weigern. Damit hätte es denn sein Ansehen vollends eingebüßt, und dies scheint
die einzige Absicht bei den Bemühungen Oestreichs um die kurhessische Sache zu sein.
Der zweite Punkt, an dem Preußen hoffentlich sich zu einem raschen Vorgehen
entschließt, ist die Anerkennung des Königreichs Italien. Es scheint in der That,
daß dieser Entschluß nahe bevorsteht. Wir wollen hoffen, daß keine Gegenbestrebun-
gen ihn wieder wanken machen. Wir würden diesen Schritt begrüßen als einen
erfreulichen Beweis, daß man hier von einer bornirten Legitimitätslehre sich zu
freieren Anschauungen zu erheben beginnt. Im jetzigen Moment würde diese Ma߬
regel, die eigentlich eine verspätete ist, doch noch als ein kluger und wohlbedachter
Schritt erscheinen. Man hätte hier längst einsehen sollen, daß es die Aufgabe einer
vernünftigen deutschen Politik ist, mit dem Königreich Italien in gute Beziehungen
zu treten, um diesem die französische Allianz entbehrlich und eine größere Selb¬
ständigkeit möglich zu machen. Man mag mit dem Gang, welchen die Dinge in
Italien seit den letzten Jahren genommen haben, einverstanden sein oder nicht, aus
alle Fälle muß man zugeben, daß das Geschehene nicht rückgängig gemacht werden
kann. Jeder Versuch dazu würde Italien unvermeidlich in die furchtbarsten und
blutigsten Kämpfe verwickeln und würde den Frieden Europa's mit den größten
Gefahren bedrohen. Wenn dies richtig ist, so muß Deutschland die Entwickelung,
die sich in Italien vollzogen hat, anerkennen. Dies ist weit entfernt von einer
Ermuthigung, die Ansprüche auf Venedig mit Gewalt geltend zu machen. Man
kann die Anerkennung Italiens in einer Form cnissprcchcn, welche die Anerkennung
der pence ionischen Ansprüche ausschließt. Dies ist diejenige Seite der Sache,
um derentwillen eine rasche Entscheidung sehr zu wünschen wäre, wir meinen eine
Entscheidung, die so früh erfolgt, daß dadurch eine Debatte über den Antrag des
Abgeordneten von Carlowitz, daß die Anerkennung Italiens im Interesse Preußens
u'ege, überflüssig wird. Die Einbringung dieses Antrages war eine Antwort auf
das östreichische Garcmticbcgehren; sie war die vollkommen richtige Antwort da¬
rauf. Aber wenn wir dem Grafen Ncchbcrg eine solche Garantie vcrwcigeni, so
sind wir doch weit entfernt davon, die Italiener zum Angriff auf Venetien zu
ermuntern. Ein solcher Gedanke könnte nur vom Haß gegen Oestreich eingegeben
werden, nicht von der Liebe zu Deutschland; denn daß diese beiden Empfindungen
nicht völlig identisch sind, wird man bis jetzt noch überall in Deutschland zu¬
kleben, obgleich Oestreich thut, was in seinen Kräften ist, um den Unterschied zu
verwischen. Je gereizter in diesem Augenblick die Stimmung gegen Oestreich ist,
desto näher liegt die Gescchr, daß die Debatte eine Wendung nimmt, welche den
Zwiespalt zwischen dem großdcutschen und dem kleindeutschcn Theil unserer Nation
»och vermehren müßte. Daß das Abgeordnetenhaus den Antrag von Carlowitz,
wenn es zur Verhandlung kommt, mit großer Majorität annehmen wird, unterliegt
gar keinem Zweifel. Also kann die Regierung um so unbedenklicher durch eine so¬
fortige Anerkennung Italiens der Debatte das Object abschneiden.
Als el» höchst erfreulicher Fortschritt ist noch zu erwähnen, daß nach langen
Verhandlungen der Handelsvertrag mit Frankreich gesichert ist. Die letzten preußi¬
schen Vorschläge sind von Frankreich angenommen. Materiell ist also die Verein¬
barung geschlossen. Es sind nur noch einige Förmlichkeiten zu erledigen, bevor zur
definitiven Unterzeichnung geschritten werden kann. Daß dieses Resultat am Ende
doch noch erreicht ist, verdankt man vor allen Dingen der energischen Einwirkung
des Grafen Bernstorff, welcher die Va> Handlung dem bis dahin überwiegenden Ein¬
fluß des Handelsministeriums entzog. Wir dürfen dies um so weniger unerwähnt
lassen, als Graf Bernstorff in Gefahr ist, durch die unaufhörlichen Lobsprüche der
Kreuzzeitung bei allen anständigen Leuten in ein übles Licht gestellt zu werden.
Ueber den Gang unserer inneren Angelegenheiten ist nicht viel zu berichten.
Die Arbeiten der beiden Häuser des Landtags gehen nur langsam vorwärts. Es
bestätigt sich, was ich gleich beim Beginn der Session als wahrscheinlich bezeichnet
habe, daß die ersten Monate ohne große Erregungen hingehen würden und daß die
entscheidenden Abstimmungen erst gegen das Ende der Session bevorstehen. Wäh¬
rend der verflossenen Woche hat das Abgeordnetenhaus nur zwei Sitzungen gehabt.
In der einen Sitzung wurde nur die Präsidentenwahl für die Dauer der Session
vorgenommen. Bei der Wahl des ersten Vicepräsidenten wiederholten sich die klein¬
lichen Reibungen zwischen der Fraction Grabow und der Fortschrittspartei, die schon
bei der erste» Wahl vorgekommen waren. Der Candidat der Fortschrittspartei er¬
hielt erst dadurch die absolute Majorität, daß die Ultrcunvntanen, welche für keine
der beiden Parteien stimmen wollten, sich endlich ihrer Stimmen enthielten. Aus
der zweiten Sitzung des Hauses ist nur eine Jnterpellation, welche der Abgeordnete
Paur an den Cultusminister richtete, von allgemeinerem Interesse. Es handelte
sich um einen Erlaß des rheinischen Provinzial-Schulcollcgiums in Koblenz, in wel¬
chem die Lehrer vor der Betheiligung an politischen Bestrebungen gewarnt werden.
Der Cultusminister beantwortete die Frage, ob dieses Circular aus seinen Befehl
oder mit seiner Billigung erlassen worden sei, allerdings verneinend; zugleich
aber entwickelte er eine so patriarchalische Ansicht über die Stellung der Leh¬
rer im Staatsleben, daß das Haus sich nicht wohl dabei beruhigen konnte. Der
Abgeordnete von Hcnnig stellte sofort den Antrag, daß das Haus erklären wolle,
es fühle sich durch die Antwort des Ministers nicht befriedigt. Es wird also das¬
selbe Thema nochmals ausführlicher erörtert werden.
Das Herrenhaus hat seit mehreren Wochen keine Sitzung mehr gehalten. Seit
es die Novelle zum Wehrpflichtgcsctz ohne Discussion angenommen hat, ruht das
höbe Haus auf seinen Lorbeeren aus. Im Uebrigen verlautet nur so viel, daß
eine Commission, an deren Spitze Herr von Kleist-Netzvw steht, damit beschäftigt ist,
den Entwurf der Krcisordnung abzuschlachten. Wer nicht vollkommen blind ist,
der muß schon lange eingesehen haben, daß auch in dieser Session jeder Fortschritt
der Gesetzgebung an dem Widerstand des Herrenhauses scheitern wird. Also wird
auch diese Session vollkommen resultatlos bleiben; denn daß jetzt noch das Mini¬
sterium sich zu einem energischen Schritt gegen das Herrenhaus entschließe» werde,
das wagt Niemand mehr zu hoffen. Die Folge davon ist, daß im Abgeordneten¬
Das größte politische Interesse der vergangenen Woche haftete in Berlin
an der deutschen Commission des Abgeordnetenhauses und an den Ver¬
handlungen, welche zwischen dieser Commission und dem Minister des Aus¬
wärtigen stattgefunden haben. Vergegenwärtigen wir zunächst die Thatsachen.
(5s waren drei verschiedene Anträge zur deutschen Frage eingebracht
worden: von der Fraction Grabow, von der Fortschrittspartei und von einer
Anzahl liberaler rheinischer Abgeordneter. Die drei Anträge unterscheiden sich
mehr durch die Form als durch den Inhalt. Der Grundgedanke war bei
allen drei übereinstimmend die Aufrechterhaltung des bisherigen weiteren Bun¬
desverhältnisses mit Oestreich, die bundesstaatliche Einigung des außeröstrci-
chischen Dentschland nnter preußischer Hegemonie, dle Begründung einer
gemeinsamen deutschen Volksvertretung neben der Ccnlralregierung, welcher
die militärische, diplomatische und handelspolitische Führung des gesammten
Deutichland zu übertragen ist. Der Unterschied der drei Anträge lag theils
in der größeren oder geringeren Schärfe, mit welcher der Gedanke der bun¬
desstaatlichen Einigung ausgesprochen war, theils in den bei» eigentlichen Re¬
solutionsantrag vorausgeschickten motivirendrn Erwägungen. Der Antrag der
Fraction Grabow schloß sich in seinem ganzen Geoankengaugc sehr nahe den
Ideen an. welche Graf Bernstorff in seiner bekannten Depesche vom 20. Decbr.
v. I. entwickelt hat. Namentlich wurde das Necht zur Eonstituimug eines
engeren Bundes aus dem im Artikel 11 der Bundesacte den einzelnen Staa¬
ten gewährten Bündnißrccht abgeleitet. Der Antrag der Fortschrittspartei
„nimmt die militärische, diplomatische und handelspolitlschc Führung in dem
zu bildenden deutschen Bundesstaat, unbeschadet der inneren Selbständigkeit
der Einzelstaaten, für die Krone Preußen in Anspruch, will aber zugleich für.
Freiheit und Recht der Nation durch die deutsche Volksvertretung die unerlä߬
lichen Garantieen schaffen." Dies ist nichts Anderes, als was auch die Frac-
tion Grabow will; aber die Fortschrittspartei bezeichnet die Bundesreform als
ein „unveräußerliches Recht der Nation"; sie begründet das Necht zur bundes¬
staatlichen Einigung nicht auf den Artikel 11 der Bundesacte, sondern auf
das nationale Bedürfniß; sie spricht von einem „nur thatsächlich bestehenden Bun-
destag". während die Regierung bekanntlich den Bundestag als zu Recht be-
stehend anerkennt; endlich die Fortschrittspartei erwartet einen Erfolg der Re-
formbesirebungen nur dann, wenn auch die Volksvertretungen in den Einzel¬
staaten ihr politisches und moralisches Gewicht dafür in die Wagschaale
werfen; dies aber dürfe nur dann erwartet werden, wenn die preußische
Regierung „durch rückhaltloses Eingehen auf jedes berechtigte Verlangen des
deutschen Volkes, sowie durch kräftiges Hinwirken auf den freisinnigen Ausbau
der preußischen Verfassung, sich die Sympathieen Deutschlands zu erwerben
versteht." — Endlich der dritte Antrag der rheinischen Abgeordneten (Bresgen
und Genossen) verlangt „die volle Verwirklichung des unveräußerlichen Rechts
der deutschen Nation, welches in der durch eine monarchische Centralgewalt
und ein gemeinsames Parlament dargestellten staatlichen Einigung besteht",
und fordert die Regierung auf, „daß sie, um sich die zur Erreichung dieses
Zieles nöthige Sympathie der deutschen Volksstämme zu erwerben und zu
sichern, vor Allem den freisinnigen Ausbau der preußischen Verfassung in ihrem
ursprünglichen Geiste, und die Umgestaltung aller Einrichtungen im Staate,
welche mit derselben nicht vollständig im Einklang sind, ernst und kräftig in
die Hand nehme." Dieser letztere Gedanke, welchen die Fortschrittspartei
nur als eine motivirende Erwägung ausgesprochen hatte, ist hier in den Re¬
solutionsantrag selbst aufgenommen worden.
Die Commission, welche diese Anträge zu begutachten und einen Einigungs¬
versuch zu machen hatte, hielt ihre erste Sitzung am Montag den 24. Febr.
Auch der Minister des Auswärtigen war in dieser Sitzung erschiene» und
sprach sich über die Stellung der Regierung zur deutschen Frage und insbe¬
sondere zu den vorliegenden drei Anträgen aus. Das deutsche Programm der
Regierung formulirte Graf Bernstorff in folgender Weise: „Von dem bestehen¬
den Vundcsrccht ausgehend hält die Regierung die Bildung eines engeren
Vereines deutscher Staaten innerhalb des Bundes in der Weise für wünschens¬
wert!) und für das Ganze ersprießlich, daß in dem Vorstande dieses Vereins
das militärische Oder-Commando und die Vertretung nach Außen vereinigt
werde; zur Mitwirkung an der gemeinsamen Lösung von Fragen des inneren
Staatsrechts aber eine parlamentarische Vertretung aus den theilnehmenden
Staaten dem Vorstande zur Seite trete. Wie die Bildung des Vereins selbst,
müßte auch die nähere Präcisirung seiner Grundlagen und Modalitüten der
freien Vereinbarung vorbehalten bleiben, und es haben deshalb folgerichtig
für denselben keine bestimmten Grenzen in Bezug auf seinen äußeren Umfang
gezogen werden können." Indem der Minister anerkennt, daß die preußische
Landesvertretung vorzugsweise berechtigt ist, ihre Ansicht' über die Bundes-
reform auszusprechen, präcisirt er zugleich sein Verhältniß zu den gestellten
drei Anträgen. In dem Antrag der Fraction Grabow erkennt er das Bestre-
ben. die von der Regierung vertretene Richtung in der Reformfrage zu unter-
stützen; der Antrag der Fortschrittspartei „verfolgt zwar dieselbe Richtung, aber
geht von einer principiellen Grundlage aus, welche die Regierung mit ihrem
eigenen Standpunkt nicht zu vereinigen vermag"; endlich der Antrag der Ab¬
geordneten Bresgen und Genossen „scheint auch in seiner Richtung von dem
Standpunkte der Regierung abzuweichen."
Die deutsche Commission wählte hieraus aus ihrer Mitte eine Subcom-
mission, welche eine Einigung in Betreff der drei vorliegenden Anträge ver¬
suchen sollte. Um ein Zusammengehen mit der Regierung nicht zu erschweren,
nahm die Subcommission auf die Bedenken und Ansichten des Grafen Bern-
storff alle mögliche Rücksicht. Deshalb ließ sie den Antrag von Bresgen und
Genossen, welcher der Regierung am wenigsten gefallen hatte, ganz sollen.
Aus den beiden anderen Anträgen ward im Wege des Compromisses ein ge¬
meinsamer neuer Antrag formulirt. Als Grundlage war dabei der vom Mi¬
nister gebilligte ursprüngliche Antrag der Fraction Grabow angenommen; aus
dem Antrag der Fortschrittspartei waren einige Wendungen adoptirt, von de¬
nen man annahm, daß sie mit dem Standpunkt der Regierung nicht in einem
principiellen Widerspruch stehen. Namentlich wurde die Berufung auf das
„unveräußerliche" Recht der deutschen Nation auf bundesstaatliche Einigung
nicht aufgenommen; eben so wenig war in dem neuen gemeinsamen Antrag
von einem „nur thatsächlichen" Bestehen des Bundestags die Rede. Man
ließ die Frage über die Rechtsbeständigkeit des Bundestags ganz unberührt.
Während in diesen Punkten von der linken Seite nachgegeben wurde, gab
man von der rechten «Seite die Berufung aus den Artikel 11 der Bundesacte
auf. So vereinigte man sich über eine Fassung, in deren Schlußantrag das
Haus „für nothwendig erklärt: daß bei der dringend gebotenen Reform der
deutschen Bundesverfassung zwischen dem östreichischen Bundesgebiete und dem
übrigen Deutschland ein unlösliches Bundesverhältniß erhalten wird; 2) daß
innerhalb dieses weiteren Bundes Preußen und die übrigen deutschen Staaten,
unbeschadet ihrer inneren Selbständigkeit, sich bezüglich der militärischen, dip¬
lomatischen und handelspolitischen Angelegenheiten zu einem engeren Bunde
vereinigen, in welchem die Krone Preußens die einheitliche Bundesregierung
führt und eine gemeinsame Nationalvertretung die Mitwirkung bei der Gesetz¬
gebung und die verfassungsmüßige Controle über die Bundesregierung übt;
3) daß die königliche Staatsregierung im vollen Bewußtsein ihres deutschen
Berufs diese bundesstaatliche Organisation offen als das Ziel ihrer Politik
hinstellt und zunächst durch Vereinbarungen mit den deutschen Staaten ihrer
Verwirklichung entgegen zu führen strebt." In diesen Sätzen hoffte man eine
Formel gefunden zu haben, mit welcher sich die verschiedenen liberalen Frac-
tionen des Hauses einverstanden erklären konnten, und in welcher auch die Regierung
nicht einen principiellen Widerspruch gegen ihren Standpunkt finden würde.
Aber eine Enttäuschung ließ nicht auf sich warten. Am Donnerstag den
27. Febr. wurde in der deutschen Commission der von der Subcommissio»
vereinbarte Antrag vorgelegt. Graf Bernstorff erschien in dieser Sitzung nicht
selbst, sondern ließ sich durch den Legationsrath Hcvke vertreten. Dieser aber
sprach sich dahin aus. daß die Regierung „die vorliegende Fassung des Reso-
lutions-Antrages nicht als eine solche anerkennen könne, welche ihrem Stand¬
punkte entspreche"; mit den Motiven, deren Wegfall als das Wünschens-
wertheste bezeichnet wurde, könne die Regierung sich nach Form und Inhalt
nicht einverstanden erklären.
Eine spätere mildere Interpretation dieser Erklärung durch die Stern¬
zeitung, welche hervorzuheben suchte, daß die Staatsregierung doch mit der
Tendenz des Antrages einverstanden sei. vermochte den ungünstigen Eindruck
nicht zu verwischen, welchen der Vertreter des Ministeriums in der Commission
hervorgebracht hatte, die Commission gab die Hoffnung auf, eine Einigung
mit der Regierung zu erzielen. Der Antrag wurde noch einmal an tue
Subcommission zurückgewiesen in der Absicht, nunmehr die der Regierung ge>
machten Concessionen zurückzunehmen. Die Folge war eine wesentliche Ver¬
änderung des Antrages. Diese „Verschärfung" besteht in zwei Punkten.
Erstens ist in die Motive ausdrücklich die Erwähnung des „nicht mehr zu
Recht bestehenden Bundestags" aufgenommen. Zweitens hat die zweite Re¬
flation des Antrages am Schluß eine veränderte Fassung erhalten, so daß
sie jetzt lautet: „in welchem die Krone Preußen die einheitliche Bundesregie¬
rung führt und durch eine gemeinsame parlamentarische Vertretung für Frei-
heit und Recht des deutschen Volkes die unerläßlichen Garantien geboten
werden." Den so veränderten Antrag hat die Commission mit allen gegen
zwei Stimmen angenommen, und will ihn dem Hause zur Annahme em¬
pfehlen.
Wer freilich unbefangen den am Montag vom Grafen Bernstorff präci-
sirten Standpunkt der Regierung mit dem aus den Berathungen der Sub¬
commission hervorgegangenen Antrag vergleicht, der konnte den principiellen Un¬
terschied auch dieser beiden Auffassungen nicht verkennen. Es ist derselbe Unterschied,
welcher zwischen der preußische» Depesche vom 20. Decbr. v. I. und der
badischen Denkschrift vom 28. Jan. d. I. obwaltet. Die eine geht vom
bestehenden Bundesrecht ans und erstrebt auf Grundlage des Artikel 11 der
Bundesacte einen engeren Verein mehrerer deutscher Staaten. Die andere
geht vom nationalen Bedürfniß aus. und erstrebt die bundesstaatliche Eini¬
gung des gesammten außeröstreichischen Deutschlands. Das ist der Gegensatz,
welcher bei der bevorstehenden Debatte durchgesuchten werden wird.
Es ist zu bedauern, daß das Ministerium der Commission nicht das freund¬
liche Entgegenkommen bewiesen hat, welches vorzugsweise in dieser Frage ge--
boten war. Bei dem guten Willen der Commission, im Einvernehmen mit
der Negierung zu handeln, wäre sicher die aufrichtigste Verständigung mög¬
lich gewesen. Aber nur versteht im auswärtigen Amt zu Berlin nicht
die kleine Kunst, welche die größten Schwierigkeiten wegräumt, und die be¬
sten Erfolge sichert, die Kunst, das Rechte freundlich und zuvorkommend zu
wollen.
In dem Hauptpunkt aber hat das Ministerium Recht und dies Blatt ist
diesmal in der Lage, die Auffassung der Regierung gegenüber den eigenen Freun¬
den nicht nur für die nützlichste, sondern auch für die einzig praktische zu erklären.
Es ist keine zweckmäßige Aufgabe für ein Journal wie die Grenzboten, zu
deduciren, daß die Bundesverfassung nicht zu Recht bestehe, dasselbe !,mag ein
wohl berechtigter Satz sein, wenn ihn eine Versammlung des Nationalvereius
zum Beschluß erhebt, auch wird es nichts schaden, wenn ein Redner irgend
einer Minorität ihn in einer deutschen Kammer zum Ausgangspunkt seiner
Forderungen macht, ja es wird vielleicht verdienstlich werden, wenn ein libe¬
raler Staatsmann in seiner Note die zweifelhafte Berechtigung der Bundes¬
verfassung bei Gelegenheit seiner Reformvorschläge betont.
Aber es scheint uns eine sehr folgenschwere Thatsache, wenn die ge-
sammte Volksvertretung Preußens die feierliche Erklärung abgiebt, daß die
Bundesverfassung nicht zu Recht bestehe. Denn sie negirt damit die
rechtliche Grundlage zahlreicher gemeinsamer deutscher Interessen, des Ver¬
theidigungssystems, der Matricula'rbeiträge, der Verhandlungen mit Dänemark,
der Beziehungen des Bundes zum Ausland, der Sonverainetätsbeschränknngen,
welche die Bundesverfassung unzweifelhaft den deutschen Mittel- und Klein¬
staaten auferlegt. Offenbar würde eine solche feierliche Erklärung des preu¬
ßischen Volkes die eigene Regierung in eine unheimliche Lage setzen. Nicht
nur die Bundesstaaten, jondern auch das Ausland würden Veranlassung fin¬
den, gegen diese officielle Anffnssung zu protestiren. oder was noch unwill¬
kommener wäre, daraus ihnen wünschenswerthe Konsequenzen zu ziehen. Und
die Regierung würde eine solche Erklärung ihres Abgeordnetenhauses entweder
nichtachtend ignoriren müssen, oder sie müßte ihr beistimmen, d. h. den Bund
aufgeben, oder das Abgeordnetenhaus auflösen. Sie würde möglicherweise
das Letztere thun.
Nun ist dies Blatt durchaus nicht gesonnen, eine Auflösung als etwas
unbedingt zu Verme>dentes, wie ein Schreckbild, den Abgeordneten vorzu¬
halten. Im Gegentheil, es mag der Tag kommen, wo die Vertreter des
Volkes diese Eventualität als einen nothwendigen Durchgangspunkt zu bes¬
seren Zuständen betrachten. Aber sie werden dann dafür zu sorgen haben,
daß die Veranlassung der Auflösung sie in ihrer vollen Stärke findet, daß In¬
telligenz, Gewissen und Rechtsgefühl des Volkes unbedingt auf ihrer Seite
stehen, und daß eine Stärkung, nicht eine Schwächung des preußischen Ver-
fassungslcbens eins ihrem Widerstande hervorgeht.
Im vorliegenden Fall steht nach unserem Dafürhalten auf Seite der
Regierung jede Rücksicht der Pflicht und Klugheit. Jeder Minister, welcher Reform
der deutschen Bundesverhältnisse will, wird genöthigt sein, die unvollkommene
bestehende Form so lange zu respectiren, bis er stark genug ist, eine bessere an die
Stelle zu setzen. Er wird die Wege, welche ihm das Bundesgesetz offen
läßt, so lange benutzen, bis er im Stande ist, der Nation neue Gesetze zu
empfehlen und dieselben gegen die Widerstrebenden durchzusetzen.
Ferner ist für die praktischen Resultate, welche bei den gegenwärtigen
Krnftverhältnissen Preußens erreicht werden können, an sich gleichgiltig, ob
sie auf Grund von Artikel 11, oder auf Grund unveräußerlicher Rechte der Na¬
tion gewonnen werden. Wenn es gelingt, die Mißregierung in einem deutschen
Lande mit einer unserer Partei angehöngen zu vertauschen, wenn es gelingt,
die Selbständigkeit Schleswigs gegen die dänische Jncorporationsarveit zu
retten, so wird der deutschen Nation jedenfalls der Weg der angenehmste
sein, der am sichersten und mit den geringsten Opfern zu solchem 'Resultat
führt. Vermag Artikel 11 oder irgend ein anderer dazu zu helfen, so wollen
wir uns wohl hüten, jetzt kritisch zu untersuchen, ob das Statut, in welchem
dieser Paragraph steht, auch jede Bedingung rechtlicher Geltung habe, oder nicht.
In Preußen steht es offenbar so, daß die liberalen Vertreter den guten
Willen der Regierung, für die deutsche Frage etwas zu thun, als vorhanden
annehmen dürfen, daß ihnen aber Eifer und Energie der Regierung nicht
groß genug erscheint, da sie die Schwierigkeiten ebenso zu unterschätzen geneigt
sind, als die Ungelenkigkeit der Regierung dieselben überschätzen mag. Bei
solchem Gegensatz muß den Volksvertretern, wenn sie nicht rechthaberisch zan¬
ken wollen, vor Allem daran liegen, daß die Regierung überhaupt etwas thue
und die ersten Schritte in der gewünschten Richtung durchsetze, gleichviel ob ihre
Methode die möglichst großartigste ist, oder nicht.
Dies ist einfachem Menschenverstand sehr klar, und wir verhehlen nicht,
daß im vorliegenden Fall die Empfindlichkeit der Commission ebenso wenig
Berechtigung haben und ebensowenig den Dank ihrer politischen Freunde
verdienen würde, als ein empfindlicher Stolz der Regierung, wenn diese
ihre Auffassung der Kammer kalt und wortkarg gegenüber stellen wollte. Das
Abgeordnetenhaus aber hat diesmal nach unserer Ueberzeugung die Aufgabe,
den Standpunkt der Regierung zu respectiren.
Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrist für die vernünftigen Ver¬
ehrer Gottes. Von David Friedrich Strauß. Leipzig. 1862.
Wer die schriftstellerische Thätigkeit des Verfassers des Lebens Jesu auf¬
merksam verfolgt hat, wird nicht erstaunt sein, ihm jetzt mit einer Schrift über
den Urheber der Wolfenbüttler Fragmente zu begegnen. Hat er sich bisher
mit besondrer Vorliebe dem psychologischen Studium solcher Charaktere zuge¬
wandt, welche ihrer Zeit in irgend einer Weise als anrüchig galten, und be¬
sonders den Männern des herrschenden Kirchenglaubens ein Aergerniß waren,
so kam bei Reimarus noch der Umstand hinzu, daß er hier einen Schriftsteller
on sich hatte, der mehr als irgend ein anderer seiner eignen Geistesart ver¬
wandt war und alle seine Kräfte einem Feld zugewandt hatte, auf welchem
er selbst sich zuerst einen dauernden Namen gewonnen hatte. Und doch zu¬
gleich wieder welche Verschiedenheit des Charakters, die gerade den feinen,
psychologischen Beobachter doppelt reizen mühte! Hier der rücksichtslose
Forscher des 19. Jahrhunderts, dem es innerstes Bedürfniß war. das was
ihm als wahr galt, offen vor der Welt zu bekennen, dort der umsichtig
bedächtige Gelehrte des 18. Jahrhunderts, der bis zur letzten Stunde emsig
feilte an dem Werk seines Lebens, es sorgsam verschloß vor den Augen der
Welt und kaum einem kleinen Kreis auserwählter Freunde einen Einblick ver¬
stattete. Hier der Theologe eins der Schule Hegel's und Baur's, der kaum
nachdem sich die Pforten des Tübinger Stifts hinter ihm geschlossen, „mit
kühner Hand die Brandfackel in das morsche Gebäude der Orthodoxie warf",
unbekümmert was der Erfolg sein mochte,, dort der Schüler Wolf's und der
englischen Deisten, der die Luft noch uicht fin geheuer hielt, um mit seiner
vermeintlichen Entlarvung des Christenthums mitten darein zu platzen, der
vielmehr mi.t unbefangener Miene in dem Gebäude aus- und einging,
das er nächtlicher Weile schonungslos uiuenninirte, die Wirkung ,einer ande¬
ren^ aufgeklärteren Zeit, vorbehaltend. Diese Verwandtschaft einerseits und ,
andrerseits diese Verschiedenheit machte Strauß gerade zum rechten Mauth
das Andenken des vielbesprochenen Buches zu erneuern, mit der Liebe, die ihm
und seinem Jahrhundert gebührt, und zugleich mit der Kritik, die ihnen die
fortgeschrittene Wissenschaft nicht ersparen kann.
Daß er dieses Andenken erneuert hat. ist schon an sich, abgesehen von
den Motiven, die Strauß in den Zuständen der Gegenwart fand, ein ent-
schiednes Verdienst. Reimarus, der Fragmentist. war in der That bis jetzt
nur in Fragmenten bekannt, und er verdient es, als ganzer Mann bekannt zu
werden. Was man bisher von seinen biblischen Forschungen besaß, waren
bloße Bruchstücke aus einem umfassenden Werke, das den Titel führte: „Apo-
logie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes", und das er.
wie seine Kenntnisse sich mehrten, seine Ansichten sich lauterem, immer neuen
Bearbeitungen unterwarf, deren letzte er erst in den letzten Monaten seines
Lebens vollendete.'¬
Lessing brachte das letzte Jahr vor Reimarus Ableben (1768) als Dra
maturg des dortigen Theaters in Hamburg zu, wo er den schon kränkelnden
Greis zwar kennen lernte, doch ohne ihm näher zu treten. Aber er blieb
nach dessen Tod noch zwei Jahre in Hamburg und wurde hier mit seiner
hinterlassenen Familie, namentlich dem Sohne Joh. Albrecht Heinrich, dem
Arzte, und der Tochter Elise genauer bekannt. Durch sie konnte Lessing Bruch¬
stücke des Werth, doch in einem früheren Entwürfe, kennen. Was er hatte,
schien ihm wichtig genug, es vollständig zu veröffentlichen. Allein Censur¬
schwierigkeiten standen dem Plane im Wege, und erst später wurde er in der
unvollkommenen Weise ausgeführt, daß Lefstng in den Jahren 1774—77
nacheinander sechs ausgewählte Bruchstücke des Manuskripts >n seinen Bei¬
trägen zur Geschichte der Literatur aus den Schätzen der herzogt. Bibliothek
zu Wolfenbüttel", für die er Censurfreiheit genoß, das letzte und größte:
„Bon dem Zwecke Jesu und der Jünger" im Jahre 1778 besonders erschei¬
nen ließ. Weitere Stücke gab nach Lessing's Tod im Jahr 1787 C A. E. Schmidt,
unter welchem Namen indeß der Canonicus Andreas Rica versteckt sein soll,
unter dem Titel: „Uebrige noch ungedruckte Werke des Wolfcnbüttelscheu
Fragmentisten" heraus, während die Alischnitte des Ncimarusschen Werks über
den Kanon, welche Lessing, unter dem auf Semler's „freie Untersuchung" zie¬
lende« Titel: „Eine noch freiere Untersuchung des Kanons des Alten und
Neuen Testaments" im Jahre 1774 herauszugeben beabsichtigt hatte, nicht er¬
schienen sind.
Obwohl Lessing und die Reimarus'schen Hinterbliebenen das Geheimniß
der Autorschaft zu wahren suchten (jener behauptete das Manuscnpt auf der
Wolfeubüttier Bibliothek gefunden zu haben), so wurde doch der Verdacht bald
auf Reimarus gelenkt. Vollkommne Gewißheit findet erst statt, seitdem Rei>
marus der Sohn im Jahre 1814 die von ihm der Götturger Bibliothek be¬
stimmte Abschrift des Werks (die Urschrift vermachte er der Hamburger Stadt-
bibliothek) mit einem Brief begleitete, worin er seinen Vater als den Ver¬
fasser nannte.
Strauß, der schon vor Jahren im Sinne hatte, mehr für das Andenken
des so werthen Mannes zu thun, als gelegentlich durch Erwähnung desselben
in seinen theologischen Schriften geschah, wandte sich, nachdem er in Ersah-
rung gebracht, das vollständige Manuscript sei noch auf der Hamburger Bi¬
bliothek vorhanden, im Jahre 1844 dahin mit dem Wunsch, dasselbe zur
Herausgabe zu erhalten. Allein es war bereits einem andern, dem Secretär
der dortigen Bibliothek Dr. Wilhelm Klose. zu diesem Zwecke zugesagt. Die¬
ser begann nun, da für das umfangreiche Werk sich kein Verleger finden
wollte, seit 1850 es stückweise in Nieoner's Zeitschrift für historische Theologie
abdrucken zu lassen, wo denn bis zum Jahr 1852 die drei ersten Bücher des er¬
sten Theils, ohne das letzte Kapitel vom dritten Buch, erschienen, während die
zwei übrigen Bücher des ersten Theils nebst dem genannten Kapitel und einem
kritischen Anhang über den Kanon des alten Testaments und sämmtliche fünf
Bücher des zweiten Theils nebst einem ähnlichen Anhang über den Kanon des
neuen Testaments bis jetzt ungedruckr geblieben find.
Als Strauß das ganze Werk in Händen hatte, dachte er an dessen voll¬
ständige Herausgabe nicht mehr. Dazu schien es ihm in seinem Standpunkt
und seiner Haltung, in Anschauungs- und 'Ausdrucksweise zu fremd geworden.
Aber ein zusammenfassendes Bild von der Wirksamkeit ^und Bedeutung des
Mannes, der schon durch die Bruchstücke seines Hauptwerth so große Wirkung
ausgeübt, erschien ihm als eine Pflicht der Dankbarkeit nicht nur, sondern
auch als ein nützliches Werk für die Gegenwart. Und wenn den größten
Theil der Schrift eine eingehende Analyse der „Apologie" einnimmt, so ge¬
schah dies, weil Neimcuus eben auf dieses Werk fast die ganze Arbeit seines
Lebens concentrirt, in ihm aber auch ein classisches Denkmal sür die geistige
Richtung seiner ganzen Epoche niedergelegt hat. In der That läßt gerade
diese Analyse es bedauern, daß das ganze Werk „nicht im rechten Zeitpunkt
herausgekommen ist, um mit der ganzen Wucht eines geschlossenen Ganzen
in die geistige Bewegung der siebziger Jahre einzugreifen." Das systema¬
tische Verfahren des Verfassers, sein Geschick, den Gegner von dessen eigenem
Standpunkt aus anzugreifen, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, die
unerbittliche Konsequenz in der Anwendung einfachster kritischer Grundsätze
aus das ganze Gebiet der biblischen Geschichte und biblischen Lehre, und bei
alledem die redliche Gewissenhaftigkeit, mit welcher er nur im Interesse der
„in der Christenheit fast ganz verkommncn Vernunft", der „wahren, einfachen
und thätigen Religion Jesu", der „Tugend, Frömmigkeit und allgemeinen
Menschenliebe" das Christenthum der Herren Theologen seiner zersetzenden
Kritik unterzog, alles dies mußte in dem Gesammtwerk ganz anders hervor¬
treten und zu weit größerer Wirkung gelangen als in den vereinzelten Bruchstücken,
die nach und nach veröffentlicht wurden. Es hatte zwar Reimanis nicht an Vor-
gängern gefehlt, auf deren Arbeiten er sich stützen konnte. Allein wenn Spinoza die
Persönlichkeiten der biblischen Geschichte auf den Boden natürlicher Menschlichkeit
stellte und über Offenbarung und Wunder, Schrift und Schriftauslegung Gedanken
äußerte, die weitgehende Folgesätze in sich schlössen, wenn Bayle in seinem Diction-
naire die Personen des alten Testaments einer äußerst Herden moralischen Beurthei¬
lung unterwarf, und endlich namentlich bei den englischen Deisten eine Reihe
von Untersuchungen über die Offenbarung, über das Wunder, die Glaub¬
würdigkeit der biblischen Berichte, die Weissagungen von Christus u. s. w.
vorlag, so hatte noch kein anderer wie Reimarus das ganze Gebiet dieser
Einzeluntersuchungen gleichmäßig beherrscht, die Konsequenzen rücksichtsloser
gezogen. Alles in ununterbrochner Folge abgeleitet aus wenigen obersten
Grundsätzen. Seine Apologie zog die Summe alles dessen, was die deistische
Theologie bisher im Einzelnen geleistet hatte, und es mag demnach wohl als
ein tragisches Geschick erscheinen, daß er, der die Fragmente der theologischen
Forschung im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts zum ersten Mal in ein ge¬
schlossenes System gebracht hat. selbst nur als Fragmentist der Nachwelt be¬
kannt werden sollte. Dies mag man denn auch als die Sühne für die ge¬
flissentliche Geheimhaltung seines Buchs betrachten, wenn anders seine Fähigkeit,
eine so innige Ueberzeugung, ein so warmes Pathos in sich zu verschließen,
durch kein Wort, keine Miene den draußen Stehenden Anlaß zum Verdacht zu
geben, nicht vielmehr, mit Strauß zu reden, ein Beweis höchster Selbstüber¬
windung, ein aller Achtung werther Stoicismus gewesen ist.
Strauß begnügt sich jedoch, wie gesagt, nicht mit dem rein historischen
Interesse, einen Schriftsteller, der für seine Zeit von Bedeutung gewesen ist;
der unsrigen wieder näher zu bringen, Ein Hauptmotiv lag für ihn viel¬
mehr in den theologischen Zuständen der Gegenwart, und sobald die Rei-
marusschen Ansichten selbst auf ihre Stichhaltigkeit angesehen und im Licht
der fortgeschrittenen Wissenschaft beurtheilt werden sollte», war in der That
diese Bezugnahme aus die neuere Theologie gar nicht zu vermeiden. Der
Behauptung der modernen Theologen, daß die Kritik des Reimarus ein über¬
wundener Standpunkt sei, mußte näher auf den Grund gegangen und gezeigt
werden, worin sie veraltet ist, worin sie aber auch andrerseits sich als unver¬
lierbare Wahrheit erprobt hat. Zu diesem Zweck wird der Auszug der Schutz¬
schrift an manchen Stellen unterbrochen, um nachzuweise», daß sowohl die
Grundsätze, von denen der ehrliche Wolsianer ausgeht, als auch gar oft ihre
Anwendung sich »och heut vollkommen mit Ehren sehen lassen können, ja
daß grade die neuere Kritik des alten Testaments, die so vornehm auf Rei¬
marus herabsieht, oft genug keinen Schritt weiter gekommen ist, sondern noch
ganz auf dessen Standpunkt steht.
Aber Strauß geht noch weiter: er faßt die Frage principieller auf und
geht überhaupt auf den Gegensatz des achtzehnten und neunzehnten Jahr¬
hunderts zurück, um den rechte» Standpunkt für die Würdigung der Reimarus-
schen Kritik zu gewinnen.
Das achtzehnte Jahrhundert war das Jahrhundert des Verstandes und
der Ausklärung. Das war seine Starke und seine Schwäche. Es erschien
seicht, sagt Strauß, weil es klar war; weil es viel Verstand hatte, schien es
wenig Geist zu haben. Einseitig war das achtzehnte Jahrhundert, das ist
gewiß; aber kräftige Einseitigkeit ist allemal der Charakter geschichtlicher Fort-
schrittspcrioden. während satte Vielseitigkeit die Zeiten des Stillstands be¬
zeichnet. Das achtzehnte Jalnhnndcrt war unhistorisch, es verstand eigentlich
nur sich selbst; um so klarer wußte es aber auch, was es wollte und sollte.
Bisher hatte die Religion des Alten und Neuen Testaments als ein
göttliches Werk im höchsten Sinn gegolten: es war nur die natürliche Folge,
wenn sie dafür jetzt als Menschenweck im übelsten Sinn aufgefaßt wurde.
So weit der Pendel auf der einen Seite aus dem Schwerpunkt gerückt wor¬
den, ebenso weit muß er, losgelassen, nach der andern Seite schwingen, bis er
durch Schwingung und Gegenschwingung allmälig sein Gleichgewicht wieder
erreicht. Bisher hatte man unter den Religionen einzig die jüdische und
christliche für wahr und göttlich, die sogenannten heidnischen wie die moham¬
medanische für falsche Religionen, wo nicht für teuflische, angesehen. Diese Un¬
gleichheit war dem achtzehnten Jahrhundert vermöge seines - erweiterten ge¬
schichtlichen und geographischen Gesichtskreises unmöglich. Entweder auch die
heidnischen Religionen sammt dem Islam göttliche Offenbarungen — aber
wie war das möglich bei so viel Irrthum und Widersinn, den das acht¬
zehnte Jahrhundert darin zu finden glaubte? und wie war überhaupt eine
übernatürliche Offenbarung mit dem Gottes- und Weltbegriff dieses Jahr¬
hunderts vereinbar? — oder auch Juden- und Christenthum Erzeugnisse mensch¬
lichen Betrugs aus der einen, menschlichen Aberglaubens auf der andern Seite.
Alle positiven Religionen ohne Ausnahme Werke des Betrugs: das war des
achtzehnten Jahrhunderts innerste Hcrzensmeinung.
Aber zugleich hielt das achtzehnte Jahrhundert bei dieser Ansicht an der
Voraussetzung des geschichtlichen Charakters der biblischen Berichte fest, die
es noch keiner genauen eigenen Prüfung unterworfen hatte. Die Kritik be¬
obachtete damit ein willkürlich halbireudes Verfahren: sie gab an der Wunder¬
erzählung den wunderhaften Charakter auf und hielt doch den historischen
fest. Erst wenn auch der geschichtliche Charakter der Erzählung abgestreift,
das Band zwischen dem Ereigniß und der Erzählung noch weiter gelockert
war, wurde für die Personen der biblischen Geschichte eine andere billigere
Behandlung möglich, wie andrerseits das Verständniß der Religion überhaupt
erst damit aufgeschlossen wurde, daß man die Phantasie, das eigentlich religions¬
bildende Element in Rechnung zu nehmen lernte. Nichts ist in diesem Sinne
bezeichnender für die verschiedenen geistigen Entwicklungsstufen als die ver¬
schiedene Auffassung der Auferstehung Jesu. Nach der kirchlichen Ansicht ist
Jesus wunderbar wiederbelebt worden; nach der deistischen von Reimarus ist
sein Leichnam von den Jüngern gestohlen worden; nach der gewöhnlichen
Deutung der Nationalisten ist er scheintodt gewesen und wieder zum Leben
gekommen; nach unserer durch die vergleichende Religionsphilosophie und
die kritische Theologie gewonnenen Ansicht !me die vom tiefsten Gemüth aus
erregte Phantasie seiner Anhänger den Meister, den sie sich unmöglich todt
denken konnten, ihnen als wiederbelebten vorgestellt. Was langehin als
äußere Thatsache, erst wunderbar, dann betrüglich, endlich einfach natürlich,
gegolten hatte, ist hiemit ganz in das Gemüth zurückgenommen, zum innern
Vorgang geworden. Ein Wahn also, aber ein Wahn, der eine Fülle.von
Wahrheit in sich schloß. Denn daß nicht das sichtbare, sondern das Unsicht¬
bare, nicht das Irdische, sondern das Hinnnlische, nicht das Fleisch, sondern
der Geist, das Wahre und Wesentliche sei. die Wahrheit, daß der Kraft der
Ueberzeugung und der Ideen keine noch so stark materielle Macht auf die
Dauer widerstehen könne,' diese Wahrheit, welche die Weltgeschichte umge¬
staltet hat, ist zuerst in der Form des Glaubens an Jesu Auferstehung Ge¬
meingut der Menschheit geworden.
Gleichwohl ist die Ansicht des Reimarus nicht in dem Sinn ein über¬
wundener Standpunkt, daß sie für unsre Zeit nur noch lnstorische Bedeutung
hätte. Hegel würde gesagt haben, der Standpunkt von Reimarus sei in dem
der heutigen Religionswissenschaft aufgehoben. Das Aufheben war ihm aber
bekanntlich nicht blos ein Abthun, sondern zugleich ein Aufbewahren. Das
Aufgehobene ist zwar nicht mehr das Ausschlaggebende, ausschließlich und
letztlich Geltende, es ist durch ein Höheres, das sich aus ihm entwickelt
hat, zum Moment herabgesetzt; aber dieses Höhere wäre dies nicht, wäre selbst
nur eine einseitige Avstraction, wenn es das Aufgehobene vernichten, es nicht
vielmehr, ob auch nur in relativer Geltung, in sich aufrecht erhalten wollte.
Wenn also Reimarus sagte . Das Christenthum ist keine göttliche Offenbarung,
sondern menschlicher Betrug, so wissen wir freilich heute, daß das ein Irrthum,
daß das Christenthum kein Betrug ist. Aber ist es darum eine göttliche Offen¬
barung im Sinne der Kirche? Ist der Satz von Reimar.us ganz zunichte
geworden? Keineswegs; sein Nein bleibt Nein; nur sein Ja hat einem besseren
Platz machen müssen.
Hegel freilich, — damit schließt Strauß — und noch weit mehr seine
nächsten theologischen Schüler, sind seinem tiefen Begriffe des Aufhebens nicht
getreu geblieben. Die sogenannte speculative Theologie taugte nichts, weil
sie den Rationalismus so überwunden zu haben meinte, daß sie ihn ganz
vergessen dürfe. Er hat sich gerächt und ist, durch sie selbst geläutert und
vertieft, als kritische Theologie wieder hervorgetreten. Das 19. Jahr¬
hundert brachte sich von Anfang um die Frucht großer und herrlicher An-
strengungen durch die romantische Ueberschwenglichkeit. mit der es sich von
dem 18. losgesagt hatte-, je mehr es an dieses wieder anknüpft, sich-nicht zu
seiner Beseitigung, sondern zu seiner Fortsetzung und Ergänzung berufen erkennt,
desto mehr ist anzunehmen, daß es seine Ausgabe begriffen habe, desto zuver¬
sichtlicher zu hoffen, daß es sie lösen werde. —
Wir möchten diesen vortrefflichen Ausführungen nur noch die Bemerkung
anreihen, daß wir es noch in einer ganz bestimmten Beziehung für zeitgemäß
halten, daß Strauß das Andenken an Reimarus wieder aufgefrischt hat. Die
Untersuchungen über das apostolische und nachapostolische Zeitalter können nach
den Arbeiten der Tübinger Schule vorläufig als abgeschlossen gelten; seit einer
Reihe von Jahren ist in dieser Hinsicht nichts Nennenswerthes mehr geleistet
worden. Nicht ebenso verhält es sich mit der Person und den, Werk von Jesus
selbst. Es ist der scheinbar begründetste Einwand gegen die zusammenfassende
Geschichtsdarstellung bei Baur, daß sich zwischen Jesus und Paulus eine un-
ausgefüllte Kluft befinde, daß das Christenthum eigentlich erst mit dem Heiden¬
apostel in seine geschichtliche Entwicklung eintrete, daß dieselbe Idee, die schon
in Jesus — anscheinend ohne Erfolg — aufgetreten, plötzlich ganz unabhängig
wieder'in Paulus aufgetaucht sei. Bekanntlich ging Baur bei seinen Unter¬
suchungen ganz systematisch zu Werk, indem er von den nachapostolischen
Zeiten, wo am leichtesten sichere historische Anhaltspunkte zu finden waren,
Schritt für Schritt rückwärts ging zu den Schriften und der Wirksamkeit des Apostels
Paulus, dann zu den kanonischen Evangelien. Dagegen bilvet das, was über
Jesu Person und Lehre gesagt ist, gleichsam ein Proömium, das mit der nach¬
folgenden geschichtlichen Entwicklung nur lose zusammenzuhängen scheint, da die
allzu vorsichtige Behandlung des Vorgangs der Auferstehung in der That mehr
dazu dient, beides zu trennen als zu verbinden. Hier die richtige Brücke zu
finden, durch die eingehende Untersuchung, wie der Glaube an die Auferstehung
in den Jüngern entstanden ist, und im Zusammenhang damit die Bedeutung
von Jesus selbst für die nachfolgende Entwickelung klarer und schärfer hervor¬
zuheben, scheint die nächste Aufgabe für die Jünger der kritisch-theologischen
Schule. Denjenigen nun, welche sich dieser Aufgabe unterziehen. — und wir
sehen sie bereits in Angriff genommen —. mochte man den alten Reimarus
vorhalten gleichsam als ein verkörpertes theologisches Gewissen; spiegeln
mögen sie sich in dem ehrwürdigen Professor des Hamburger Gymnasiums,
nicht um der Ergebnisse seiner Forschung, sondern um seiner Aufrichtigkeit
gegen sich selbst willen; bedenken sollen sie , daß der gesunde Menschenver¬
stand zwar nicht die höchste Instanz ist, aber im 19. so wenig als im 18. Jahr¬
hundert sich ungestraft ins Gesicht schlagen läßt.
Wie bei uns so gibt es auch in Rusland eine Pariei, weiche die Gegen¬
wart für weniger schön und edel als die Vergangenheit hält und infolge des¬
sen häusig die „gute alte Zeit" im Munde führt. Wie bei uns beklagt man
die von Westen her eingedrungnen neumodischen Ideen, lobt man die patriar¬
chalischen Zustande, die vor den reformirenden Fürsten herrschten, betrauert
man, tadelt und schmäht man die Bildung und Wissenschaft, welche die Ur¬
wüchsigkeit der Verhältnisse verdorben, das Land entnervt, das Volk krank ge¬
macht haben soll. Ist der Störenfried bei uns der Franzose mit der Revolu¬
tion von 1789, so ist's in Rußland der Deutsche, der bei den Freunden der
„guten alten Zeit" Alles verschuldet hat, was im Reiche faul ist. Vor sei¬
nem Eindringen gab es. wenn man den Wortführern der Partei glauben
dürfte, in Moskowien nichts als frommen Biedersinn, redliche Einfalt, hei¬
tere Behaglichkeit, innerlichste Gesundheit des Wollens und Empfindens, und
die Milch menschenfreundlicher Denkart floß in Strömen. Wer solche Mei¬
nungen für unmöglich hält, der lese die vor drei Jahren erschienenen „Chroniken
und Erinnerungen" Äksakoff's, die jetzt das vcrbreitetsie Buch in Rußland sind.
Nun gibt es aber wie bei uns so auch unter den Russen eine Gegen¬
partei, welche sich die Geschichte genauer angesehen und dabei die Ueberzeu¬
gung gewonnen hat. daß die „gute alte Zeit" in sehr wesentlichen Zügen
eigentlich eine recht böse alte Zeit gewesen, eine rohe, gewaltthätige, schlecht
wirthschaftende, vielbedrückte, vielverdüsterte Zeit, sehr wenig gesund und so
unbehaglich, daß selbst die, welche sie bewundern, bei näherer Erkundigung
nach ihrem Wesen, sich glücklich preisen würden, nicht in ihr geboren zu sein.
Wer sich darüber genauer zu unterrichten wünscht, dem empfehlen wir Pechers-
kt's „Alte Zeiten", eine Geschichte in Form eines Tagebuchs, die, auf Grund
wirklicher Begebenheiten verfaßt, vor einiger Zeit im „Russischen Boten" ver¬
öffentlicht wurde, und die wir im Folgenden als ein Seitenstück zu den Schil¬
derungen, welche diese Blätter aus dem Leben des deutschen Adels in der „gu¬
ten alten Zeit" gebracht haben, in einem gedrängten Auszug mittheilen.
Der Verfasser erzählt, wie er vor Kurzem in dem Städtchen Zavoria an der
Wolga gewesen. Dasselbe ist ein hübscher lebhafter Ort mit einem Dutzend
vergoldeten Kirchthürmen, etwa fünfzig zweistöckigen Steingcbäuden und einer
Anzahl gewöhnlicher Holzhäuser, einem geräumigen Gastinnoi Door oder Ba¬
sar und einigen Fabriken und Eisenhütten. Am Flußufer streckt sich eine
lange Reihe von Getreidemagazinen hin. An der Werfte liegen gegen hun-
dert Boote und Barken sowie einige Dampfer. Rechts und links von der
regsamen Stadt erheben sich von dem rothen Thonboden zwei Hügel. Auf
dem einen glänzen mit ihren bemalten Wänden und ihren Goldkuppeln
die Kirchen eines Klosters, auf dem andern steht, einst ein Prachtbau, jetzt
halb Ruine, das Schloß des ehemaligen Fürsten von Zaboria. Der verlasse»»,
verfallene Palast „scheint Blicke mit dem Kloster auszutauschen, als ob diese
alten Gemäuer sich über den Lärm zu ihren Füßen unterhielten und die gute
alte Zeit beklagten, wo alles Leben und alle Lust auf den Höhen war und
in dem Städtchen drunten Niemand laut zu sprechen wagte."
Der Reisende läßt sich vom Dorsrichter durch das Schloß und dessen jetzt
zur Wildniß gewordenen Garten führen. In letzterem sagt der Führer, auf
einen Haufen von Ziegeln zeigend: „Das war früher ein Pavillon, aber Fürst
Daniel Borisowitsch ließ ihn vor dreißig Jahren niederreißen, weil er etwas
darin fand, was ihm nicht gesiel."
„Was war das?" fragt der Reisende.
„Ich weiß es nicht", antwortet der Richter, „aber es heißt, daß hier
allerhand schlimme Dinge vorgefallen sind. Die Leute, die das erlebt, sind
alle todt, aber es soll ein Bericht darüber vorhanden sein, den einer von den
Kellermeistern des Fürsten aufgeschrieben hat."
Der Reisende spürt, nachdem er das Innere des Schlosses besichtigt, je-
nen Manuscript nach und gelangt glücklich in dessen Besitz. Es ist eine Er¬
zählung von dem Thun und Treiben des Fürsten Alexis Juriwitsch in der
„guten alten Zeit", niedergeschrieben nach den Mittheilungen eines fast hun-
dertjährigen Bauers von dem Schloßverwalter des Enkels dieses Alexis im
Jahre 1322. Pecherski sagt darüber: Alexis Juriwitsch war der Typus eines
russischen Adelichen kurz nach der Zeit Peter's des Großen, wo die Bojaren
den Luxus und die Laster des Westens mit ihrer eingebornen Gesetzverachtung
und Brutalität zu verbinden anfingen. Alexis hatte an Peter's Hof gelebt und
selbst den Stock des großen Reformators gefühlt. Er hatte in Petersburg
das wildeste und schandbarste Leben geführt und sich unter Elisabeth i» poli¬
tische Umtriebe eingelassen, die ihn endlich zum freiwilligen Rückzug nach Za¬
bona vermochten. Wo er die bisherigen Thorheiten und Schlechtigkeiten in et¬
was anderm Styl fortsetzte und sich gewöhnte, kein anderes Gesetz als sein
Belieben anzuerkennen. Zuletzt erreichten die Teufeleien dieses Halbbarbaren
einen solchen Grad von Niederträchtigkeit, daß, wie der Verfasser meint, „sein
Leben uns Menschen des neunzehnten Jahrhunderts wie die Vision eines in
Unordnung gcrathnen Gehirns erscheint." „Selbst in den Wäldern von Ja-
kutsk existirt keine solche Mißachtung göttlicher und menschlicher Gebote, wie
während der ersten Hälfte des letztverflossenen Jahrhunderts in Rußland."
Der alte Bauer, welcher das erwähnte Manuscript dictirt hat, denkt frei-
lich nicht so. Er findet das Treiben seines Edelmanns ganz in der Ordnung
und viel vernünftiger als das Verfahren der späteren Besitzer der Herrschaft
Zaboria.
„Seht' mal den Fürsten Daniel Borisowitsch. Er hat mehr als tausend
Seelen und ist folglich ein vornehmer Herr. Ader sagt mir doch, Wenn's ge¬
fällig ist, ob er wie einer lebt? Er wurde in Moskau auf der Universität
erzogen, in Gesellschaft von Schusters- und Schneiderssöhnen, und wie kann
ein Schuster el» passender Umgang für 'nen Fürsten sein? Und was hat er
aus ihm gemacht? Als er nach Zaboria kam, ging er, statt Jagden und
Bälle und Gastmähler zu geben, in den Bauernhütten herum, spielte mit den
Kindern und ließ sich von den alten Leuten Geschichten erzählen und Lieder
singen, die er aufschrieb. Nun frag' ich einen -. ist das die Art, wie ein Fürst
sich beträgt? Ferner kaufte er alte Bücher und Bilder zusammen und wenn
er erfuhr, daß ein Bauer eine solche alte Scharteke habe, so ließ er, wenn's
auch mitten in der Nacht war, anspannen und fuhr dreißig und vierzig Werst
weit, um sechs zu holen. Dann pflegte er mit den Leuten zu graben, und
wenn er einen alten Topf oder eine alte Kupfermünze fand, so packte er's in
Watte und schickte es nach Petersburg, als ob solcher Quark nicht dort zu
finden wäre. Einmal hört er einen blinden Bettler Psalmen singen. Da ge¬
räth er außer sich, läßt halten, nimmt den Kerl in seiner Kutsche mit aufs
Schloß, setzt ihn in einen sammtbeschlagnen Armstuhl, füttert ihn mit Braten
und Wein von seinem eignen Tisch und heißt ihn dann seine Psalmen singen,
die er sich sofort auf einen Bogen Papier schreibt. Natürlich war der Rüpel
darüber sehr vergnügt, ließ seine Stimme los und brüllte wie ein Stier.
Na, war das hübsch, war das recht? Wenn man mit Koth spielt, kriegt man
schmutzige Finger, und war das die Manier eines Fürsten?"
Der alte Mann erzählt nun, wie ganz anders der Ahn des Fürsten, der
große Alexis Juriwitsch lebte. „Das waren glückliche und glorreiche Tage",
ruft er aus, „die nie wiederkehren werden." Zum Beleg dieser Bemerkung
beschreibt er eine große Jagd, „die Fürst Alexis bei Gelegenheit seiner Ver¬
heiratung gegeben. Dieselbe endigt zwar damit, daß Hoheit in Leidenschaft
über seinen, des Erzählers, eignen Vater Jaschka geräth und ihm fünfhundert
Prügel auszählen läßt, ein Unglück, das dein guten Jaschka bereits mehrmals
passirt ist. Aber trotzdem „war die Jagd ein herrliches Fest und Hoheit ein
bewundernswerther Fürst."
Bei einer andern Jagd, so fährt der Alte fort, wurde es plötzlich kalt,
und die Wolga überzog sich mit einer dünnen Eisdecke, was wir Glascis
nennen. Nachdem die Jäger etwa anderthalbhundert Hasen erlegt, machten
sie am Rande einer Felsenwand hart über dem Strome Halt. Der Fürst
Alexis Juriwitsch war bei gut>er Laune und gedachte sich ein Vergnügen zu
gönnen. So setzte er sich ein der Klippe rittlings ans ein Faß mit süßem
Wein, nahm eine Kelle in die Hand und fing an sich und die Andern zu be¬
dienen. Als er's ein Bischen im Kopf hatte, fiel ihm ein, die Leutchen soll¬
ten ein paar „Reisats" machen. Dabei stürzt man sich kopfüber vom hohen
Ufer auf das Eis, fährt durch und stoßt beim Wiederemporkommen an einer
andern Stelle mit dem Kopf wieder durch das Eis. Dieses hübsche Spiel
war ein Hauptvergnügen des Fürsten — Got! schenke ihm das Himmelreich!
An diesem Tage aber brachte leider Niemand einen Neisak zu Stande,
der ihm gefallen hätte. Einige dumme Kerle platschten statt mit dem Kops
aufzutreffen, mit der ganzen Länge ihres Körpers auf das Eis, was man
einen „Plattfisch" nennt und wofür der Rücken fünfzehn Hiebe empfängt, da¬
mit er seinen rechten Platz erfahre u»d sich künftig nicht für den Kopf halte.
Ein andrer erreichte nicht einmal das Eis, da er gegen den Felsen purzelte
und sich dabei das Genick ausrenkte. Drei von den Springern brachen zwar
glücklich durch, kamen aber nicht wieder herauf, sondern blieben unten — wie
der selige Fürst meinte, um die Karpfen zu hüten. Fürst Alexis wurde da¬
rüber sehr verdrießlich. Er schrie: „Ich werde euch alle miteinander todt-
peiischeu lassen!" und hieß dann etliche adeliche Schnurranten, die bei ihm ihr
Brot hatten, ihr Glück mit einem Reisak versuchen. Aber sie waren noch
ungeschickter als die Bauern, nur einer von ihnen kam durch das Eis, blieb
jedoch ebenfalls bei den Karpfen. Da weinte und schluchzte Fürst Alexis Ju>
riwitsch; es war aber auch eine wahre Schande. „Es ist klar, daß meine
Tage gezählt sind", rief er aus. „denn es ist kein Mensch mehr hier, der einen
ordentlichen Neisak machen könnte. Aber halt", setzte er hinzu, „wo ist
Jaschka, das Stutzohr? Das ist mein Mann. Der macht mir drei Neisaks
nach einander."
Jaschka das Stutzohr hatte seinen Namen von folgender Begebenheit.
Der Fürst hatte ihm geheißen, mit seinem Lieblingsbären zu ringen. Dabei
wurde letzterer etwas ärgerlich und biß seinem Gegner das eine Ohr ab.
„Mein Vater," sagte der Erzähler, „war nicht im Stande, das mit Gelassen¬
heit zu tragen, ich glaube, er nahm es übel, und so stach er dem Mischka
sein Messer ins Herz, und das Thier verendete. Alexis Juriwitsch war böse
darüber, daß er nicht erst um Erlaubniß dazu gefragt worden war, und so
ließ er meinem Vater, damit er sich's für künftige Fälle merke, das andere
Ohr abschneiden und hieß ihn fortan Jaschka Stutzohr.
„Wo ist Jaschka Stutzohr?" wiederholte der Fürst.
Man erwiderte, Jaschka sei seit zehn Jahren in Uagnade und befinde sich
auf einem entfernten Gute. „Holt ihn her, das Stutzohr wird keine Platt¬
fische machen, wie ihr Lumpenvolk. Man galoppirte davon, um den Helden
mit dem harten Schädel zur Stelle zu schaffen. Er wohnte aber weit weg
von Zaboria, und als er endlich eintraf, war das Eis inzwischen so stark
geworden, daß selbst Jaschka, und Hütte er einen Kopf von Blei gehabt, nicht
im Stande gewesen wäre, den begehrten Neisak kunstgerecht zu machen.
Wo sein eignes Interesse nicht ins Spiel kam, war Fürst Alexis ein gro¬
ßer Liebhaber der Gerechtigkeit. So hatte er einmal gehört, daß ein Kauf¬
mann beim Jahrmarkt im Städtchen die Frau eines Bauern betrogen. So¬
fort ging er in die Bude des Delinquenten, nahm ihm ein ganzes Stück Tuch
weg und schickte es der armen Frau, indem er ihr sagen ließ, der Kaufmann
Tschurkin sende es ihr mit schönem Compliment zur Ausgleichung der kleinen
Summe, um die sie bei ihm betrogen worden. Dem Kaufmann bemerkte er,
wofern er nicht besser nach seinen Leuten sähe, so würde er, der Fürst, sich
genöthigt sehen, in seiner Manier den Verlauf der Waaren zu besorgen. Kaum
eine Woche war seitdem verflossen, so erfuhr der Fürst, daß der unehrliche
Kaufmann wieder Jemand verkürzt, der bei ihm feine Leinwand genommen.
Unverzüglich stieg er zu Pferde, galoppirte aus den Markt und trat in Tschur-
kin's Bude.
„Ach, Tschurkin, Tschurkin, du hast meine Befehle vergessen", begann er.
„schreckbar, was du für ein schlechtes Gedächtniß hast! Aber das hilft nun
Alles nichts, ich habe dir mein Wort gegeben, und das müssen wir halten.
Marsch hinaus aus dem Laden!"
Tschurkin und seine Gehilfen gehorchten, und Fürst Alexis Juriwitsch trat
hinter den Ladentisch, nahm die Elle in die Hand und schrie mit einer
Stimme, die über den ganzen Jahrmarkt zu hören war: „Heran, meine Da¬
men und Herren und besehen Sie sich unsre Waaren. Wir haben Atlas,
Muslin und alle Arten Damenkleider, Strümpfe, Taschentücher. Kattun. Lein¬
wand und allerlei Zeug. Wir messen vortrefflich und zu wohlfeilen Preisen.
Wir wechseln nicht und nehmen kein kleines Geld von unsern Kunden. Wir
verkaufen unsre Waaren genau für das..was sie uns kosten, zu Baarpreisen,
aber wer kein baares Geld hat, kann Credit haben. Wenn man uns bezahlt,
danken wir dafür, wo nicht, so hilfts auch nichts."
Alle Welt rannte nach der Bude Tschurkin's. Fürst Alexis maß Jedem,
der nach einem Stoff verlangte, d«s Geforderte zu, in drei Stunden war
Alles ausverkauft, aber die Summe, die dafür erlangt worden, war keines¬
wegs beträchtlich.
„Da ist das baare Geld", sagte der Fürst zu Tschurkin. als der Verkauf
vorbei war, „aber eine gute Menge Waare ist auf Borg weggegeben worden.
Du kannst dich jetzt daran machen, die Schulden einzucassiren. Mein Antheil
an der Sache ist abgemacht, aber du wirst wohl thun, die Leute nicht zu
vergessen, die du betrogen hast."
Hoheit bat dann im bescheidnen Ton eines Gehilfen Tschurkin, ihm die
Ehre anzuthun, ein Mahl bei ihm einzunehmen. Der vorsichtige Kaufmann
lehnte dies ab, worauf der Fürst ihm bemerkte, daß er nicht die Absicht habe,
ihn zu prügeln, und daß er. wenn er sie hätte, kein langes Federlesen machen,
sondern ihn sofort durchhauen würde. Tschurkin willigte jetzt wohl oder übel
ein, mit nach Zaboria zu kommen, wo der Fürst sich ganz so betrug, als ob
jener sein Principal sei, ihm den Ehrenplatz einräumte, ihn Herr titulirte
und ihm bei Tafel aufwartete. Nach Tische wurde Tschurkin dann entlassen und
zwar mit einem glänzenden Geschenke — zwei jungen Hunden, die soeben von
Proserpina. der Lieblingshündin Sr. Hoheit, zur Welt gebracht worden waren.
Fürst Alexis Juriwitsch, selbst ziemlich tapfer und kühn (wenn er nicht
gerade' am actu'inen tremöns litt) war natürlich ein Bewunderer von Tapfer¬
keit und Kühnheit an Andern. Einst, als er sich ohne Begleiter auf dem
Jahrmarkt befand, sah er eine» Kaufmann, der ihn dadurch beleidigt hatte:
daß er,, nachdem er in Zaboria gespeist, plötzlich weggereist war, ohne die
Späße abzuwarten, die Alexis Juriwitsch bei solchen Gelegenheilen mit seinen
Gästen zu treiben Pflegte. Der Fürst gab ihm durch ein Zeichen zu ver¬
stehen, daß er mit ihm ein Hühnchen zu rupfen habe, aber jener antwortete,
„Nein, Hoheit, halten zu Gnaden, Sie tonnen zu mir kommen, aber ich werde
nicht zu Ihnen gehen. Ich bin kein Liebhaber von Ihren Maulschellen und
Stockprügeln und Peitschenhieben."
„O!" schrie Alexis Juriwitfch mit einer wenig respectvollen Anspielung
auf die Mutter des Mannes und stürzte auf ihn los.
Nun traf sichs, daß die lange Gasse, in der dieses Zusammentreffen statt¬
gefunden, an einem großen Teiche endigte und weder rechts noch links aus¬
zuweichen war. Der Kaufmann lief davon, der Fürst hinter ihm her und
das dauerte so lange, bis jener am Rande des Wassers ankam. Hier setzte
er sich hin, zog die Stiefel aus und watete hinein. Der Fürst that des¬
gleichen, und so gingen sie in den Teich, bis der Verfolgte an den Hals, der
etwas kleinere Verfolger bis unter die Arme im Wasser stand.
„Komm zu mir", rief letzterer, „ich habe was mit dir abzumachen."
„Nein, Hoheit", entgegnete jener, ebenfalls winkend. „Sie können zu mir
kommen, aber ich werde nicht zu Ihnen gehen."
„Aber ich werde ersaufen." sagte der Fürst.
„Das hängt von Gottes Willen ab", antwortete der Kaufmann, „ich
komme auf keinen Fall zu Ihnen."
Dieses Hin- und Herreden währte einige Zeit fort, aber endlich wurde
Beiden die Sache zu kalt.
„Na", sagte Fürst Alexis Juriwitsch, „ich kann richtige Kerle leiden.
Komm und iß bei mir wie gewöhnlich, und ich will deine Beleidigung ver¬
gessen sein lassen."
„Sie lügen, Hoheit", erwiderte der Kaufmann. „Sie wollen mich blos
an sich locken und dann durchprügeln."
„Ich weide dich nicht mit einem. Finger anrühren", versprach der
Fürst.
Jener war noch nicht beruhigt, der Fürst gab stärkere Zusicherungen, aber
nicht eher fühlte der Kaufmann sich bewogen, zu trauen, als bis Alexis Iu-
riwitsch zum Zeichen seiner Aufrichtigkeit sich bekreuzt und alle Heiligen zu
Zeugen angerufen, daß er nichts Böses im Schilde führe. Die Chronik des
Schloßverwaiters erzählt, daß der Fürst dem Kaufmann immer die größte
Achtung bewiesen, für seine Familie gesorgt und den Sohn desselben in den
Staatsdienst gebracht habe, in welchem er sich bis zum Bicegouverneur em¬
porgeschwungen und ein Gut mit tausend Seelen erworben.
Wenn Fürst Alexis sein Mittagsschläfchen hielt, dürfte im Städtchen keine
Katze sich unterstehen zu miaue». Im Sommer wurde jeden Tag nach Tische
auf dem Balkon des Schlosses em Großvaterstuhl aufgestellt, in welchem
der Fürst einzuschlafen pflegte, und bevor er aufwachte, wagte keine Seele in
ganz Zaboria und auf den Wolgabooten einen Ton von sich zu geben. Ge¬
schah dies einmal, so wurde der Betreffende sofort beim Kragen genommen
und im Stalle mit der vorgeschriebenen Anzahl von Prügeln bestraft. Da¬
mit Niemand sich mit Nichtwissen entschuldigen könne, wurde während der
Siesta Sr. Hoheit auf dem Schloßbande eine Fahne aufgehißt. Da begab
sich's einmal, daß ein ruinirter Landedelmann aus der Nachbarschaft, der bei
Fürst Alexis als Schmarotzer lebte, während dieser stillen Zeit unter dem
Schlafbalkon von Zaboria vomberwandelte. Ais derselbe am Fenster zwei
Damen erblickte, die ebenfalls wegen Mangel an Mitteln bei dem reichern
Standesgenossen ihren Aufenthalt genommen hatten, versuchte der zum Schwa¬
tzen aufgelegte Parasit mit ihnen eilt lustiges Gespräch anzuspinnen. Sie
winkten ihm mit ihren Taschentüchern, sich still zu verhalten. Er seinerseits
antwortete darauf mit allerlei Grimassen, um sie zu lautem Gelächter zu brin¬
gen, und als das nicht gelang, brach er plötzlich mit der ersten Zeile eines
Gassenhauers los, der „die Straße" hieß, und gab dann Fersengeld. Die
Wächter im Schlosse waren eingeschlafen, und der Störenfried entkam ohne
bemerkt zu werden. Der Fürst erwachte und geriet!) in die äußerste Furie
über die freche Störung.
„Wer sang da die Straße?" fragte er mit Donnerstimme. Man spürte
nach allen Richtungen hin, aber der lustige Bösewicht hatte bereits einen
Heuboden gewonnen, wo er sich hinlegte und that, als ob er im tiefsten
Schlafe läge. Niemand wußte, daß er der Schuldige war, als die jungen
Damen, und diese hätten ihn um keinen Preis verrathen.
„Wer hat die Straße gesungen?" kreischte Fürst Alexis Juriwitsch. Die
Bedienten des Schlosses raunten wie toll umher, vermochten aber Niemand
zu entdecken, dem man das fragliche musikalische Verbrechen hätte Schuld ge¬
ben können.
„Ich will wissen, wer die Straße gesungen hat!" brüllte der Fürst zum
dritten Mal, indem er jetzt mit einer Hetzpeitsche in der Hand auf der Frei¬
treppe des Hauses erschien. „Er soll augenblicklich vortreten, oder ich haue
euch alle miteinander zusammen." Aber die Aufforderung blieb ohne Erfolg,
und schäumend verschwand die rasende Hoheit wieder im Schlosse. Bald
darauf hörte man ein Knacken und Klirren, und es gab eine böse Zerstörung
unter den Spiegeln und andern Hausgeräthen.
Dem Kellermeister und dem obersten Kammerdiener kam jetzt eine gute
Idee. Sie gingen zu Waska, einem der Mitglieder des Sängerchors im
Haushalt des Fürsten, und baten ihn mit vielen Verbeugungen und flehent¬
lichen Worten, die Sache auf sich zu nehmen, da der wahre Verbrecher nicht
zu finden sei. Waska war Anfangs unverständig genng, dies abzulehnen,
indem er meinte, daß sein Rücken ihm gehöre und keine Neigung spüre, mit
der Peitsche des Herren in so intime Verhältnisse zu trete», als sie in Aus¬
sicht standen. Die Bittsteller versicherten ihm darauf mit Thränen in den
Augen, wenn er nur erklären wollte, daß er Sr. Hoheit Schlaf gestört, werde
man sorgen, daß er ungestraft bleibe,.und auf jeden Fall sollte ihm der er¬
betene Gefallen mit zehn Rudeln vergütet werden, was damals eine große
Summe war. Der Sänger kratzte sich hinter den Ohren. Er hatte keine
Lust, seinen Rücken zu opfern, und doch hätte er das Geld gern verdient.
Endlich sagte er: „Na. ich wills gewesen sein. Aber wenn er mich nicht
eigenhändig durchhaut. seht zu, daß ihr's gnädig macht mit der Prügel¬
suppe."
Inzwischen hatte sich der Fürst in einen Grimm hineingearbeitet, der an
vollständige Verrücktheit grenzte. Er drohte, nicht blos jedem seiner Dome¬
stiken tausend Hiebe geben zu lassen, sondern gleichermaßen den schmarotzen¬
den Adelichen, die bei ihm lebten. Geht und fragt die jungen Damen oben,"
schrie er, „und wenn sie's nicht wissen, kriegen sie ebenfalls Prügel."
Alle Welt war in Furcht Und Zittern. Niemand wagte zu sprechen. Man
getraute sich kaum zu athmen.
„Die Knute geholt!" kreischte Alexis Juriwitsch, daß es durch das ganze
Städtchen zu hören war.
Da kam Rettung für die schwerbedrohten Rücken. „Da bringen sie den
Mensche», da haben sie ihn", sagten mehrere zugleich, als der Kellermeister
und der Kammerdiener den braven Waska mit gefesselten Händen und Füßen
herbeischleppten. Der Fürst ließ sich auf ein Sopha nieder, um mit gebühren¬
der Würde das Urtheil zu sprechen. Waska wurde vor ihn gebracht, und
die Zuschauer, die das Schrecklichste erwarteten, waren so voll Angst, daß sie
nicht wußten, ob sie todt oder lebendig.
„Du also hast die Straße gesungen?" fragte mit der Miene des Gro߬
inquisitors der Fürst.
„Halten's zu Gnaden. Allerdurchlauchtigster Herr — ich habe es gethan",
antwortete der arme Sünder.
Der Fürst schwieg eine Weile, dann sagte er: „Du hast eine wunder¬
schöne Stimme" und sich zu der Dienerschaft wendend, „man gebe ihm einen
gestickten Kaftan und zehn Rubel."
„So sehen Sie denn", bemerkt der alte Bauer, der die Geschichte erzählt,
„was für ein gutherziger Mann Prinz Alexis Juriwitsch war. Er war ein¬
zig und allein ein Freund der Ordnung, und die. welche sie nicht beobachteten,
wurden rasch und streng bestraft."
Die Gastfreundschaft des Fürsten war eben so prunkhaft als barbarisch.
Bei großen Festlichkeiten, wie z. B. dem Namenstag des Fürsten, wurden mehre
hundert Personen zum Essen geladen. Von diesen speisten achtzig bis hun¬
dert im Bankettsaal n»d vier bis fünfhundert in den Galerien rings über
demselben. An dem einen Ende der Haupttafel saß die Fürstin mit einer
Anzahl der vornehmsten von den eingeladenen Damen rechts und links zur
Seite, am andern Ende der Fürst, umgeben von Generalen, Gouverneuren
und andern hochgestellten Beamten. Ein jeder nahm Platz nach seinem Rang,
und maßte sich einer einen Stuhl an, der über seinem Stande war, so wurde
der Hofnarr des Fürsten abgesandt, ihm, wenn er einmal aufstand, heimlich
den Stuhl wegzuziehen oder die Aufwärter wurden angewiesen, beim Herum¬
geben der Speisen ihn zu übergehen. Auf der Diele neben dem Fürsten hockte
rechts el» zahmer Bär, der obenerwähnte Mischka, links ein Iurodewe,
d. h. ein Blödsinniger, die in Rußland w>e in der Türkei für halbe Heilige
angesehen werden. Letzterer hatte eine Schüssel in der Hand und trug
nichts am Leibe als ein schmutziges zerfetztes Hemd. Zu die Schüssel
warf der Fürst ans allen Schüsseln etwas, dazu Pfeffer, Senf, Wein und
Kwaß, ein seltsames Ragout, welches Spira zu verzehren pflegte, indem er
Ammenreime dazu sang. Auch den Bären pflegte Alexis Zuriwitsch eigen¬
händig zu füttern und ihm dabei eine solche Menge Wein zu geben, daß
das Thier kaum noch auf den Füßen stehen konnte. Die Gäste im Allge¬
meinen aßen von Silber, der Fürst, seine Gemahlin und einige besonders
distinguirte Personen dagegen speisten von goldnen Schüsseln und Tellern.
Hinter jedem Stuhl standen zwei Bediente, und in einer Ecke des Saales be¬
fanden sich Hanswurste, Taubstumme, Zwerge und Kalmücken, die auf Be¬
endigung des Mahles warteten und sich inzwischen mit einander herumzankten
und balgten. Unmittelbar nach Tische wurde die Gesundheit des Fürsten ge-
trunken, unten in Champagner, oben auf den Gallerien in Meth und Kirsch-
wein. Dann begann das Orchester zu spielen, das Sängerchor zu singen.
Es wurden Kanonen abgefeuert, die Hanswurste machten ihre Luftsprünge,
Purzelbäume und Grimassen vor Sr. Hoheit, die Zwerge quiekten, selbst
der Taubstumme ließ irgend ein paar Töne hören, die Gäste warfen vor Ver¬
gnügen ihre Gläser an die Wand, und der Bär stand auf seinen Hinterpfoten
und brummte.
Hierauf begaben sich die Gäste in den Salon, und nachdem sie hier
ne/es ein Glas ausgesuchten Ungarwein getrunken, wurde ein Mittagsschläfchen
befohlen. Die Schlummerfnhn? erschien auf dem Schloßbande, und in ganz
Zabona war kein anderer Laut mehr zu hören, als das Schnarchen von Alexis
Iuriwitsch und seinen Gästen.
Wenn die Schläfer erwachten, begaben sie sich auf ihre Gemächer, um
sich für den Ball anzukleiden, der um sieben Uhr begann. Im Ballsaal wur¬
den Tausende von Wachskerzen angesteckt, vor dem Hause flammten Theer¬
tonnen, jenseits der Wolga zündete mau mächtige Scheiterhaufen zur Er¬
leuchtung der Gegend an. Sobald der Fürst mit der Fürstin erschien, spielte
das Orchester mit Pauken und Trompete,» eine Polonaise. Dann schritt der
Gouverneur in einem grünen Kasten, rothem Estmnet und dottergelbem
Camisol, eine gewaltige Wolkenperücke auf dem Scheitel, seine Cavalerieschärpe
quer über die Brust auf die Fürstin zu, verbeugte sich so zierlich als möglich,
ergriff die Hand Ihrer Hoheit und führte den Tanz an, bei welchem die an¬
dern Paare nach Nang und Stand folgten. Nach der Polonaise betrat die
Gesellschaft ein Speisezimmer, wo ein Chor italienischer Musikanten spielte,
bis sie alle Platz genommen. Ein Borhang ging auf und enthüllte eine
Bühne, auf welcher zunächst Dunjaschka. die Tochter eines Bauern des Fürsten,
das hübscheste Mädchen im Städtchen, erschien. Sie war im Styl der Pom-
padour gekleidet, mit hohe'r gepuderter Frisur und Schminkpflästerchen im Ge¬
sicht, mit einem Wort, genau in dem Costüm der Schäferinnen am Hofe
Ludwigs des Fünfzehnten. Dunjaschka begann mit dem Vortrag einer Gra-
tulations-Ode, die Simeon Tititsch, der Schloßpoet von Zaboria, verfertigt.
Dann trat Paraschka. eine andere Schäferin, auf und sagte zu Dunjaschka
allerlei niedliche Sächelchen von Liebe und Lämmlein, die ebenfalls von
Tititsch herrührten, wobei wir bemerke», daß dieses Mitglied der Dickter-
zunft ein Herr von stark hervortretenden Zigeunerneigungen war. der, wenn man
von ihm ein Gelegenheitscarmcn haben wollte, stets mehre Tage eingesperrt
werden mußte, damit er sich nicht statt im kastalischen Quell in der Schnaps¬
flasche berauschte.
Nach der Liebe und dem Lämmlein der Schäferin Paraschka pflegte plötz¬
lich unter dem Prasseln und Krachen eines Feuerwerkes ein kleiner Küchen-
jung? Namens Andruschka vom Himmel des Theaters zu fallen. Derselbe
sollte den Phöbus vorstellen, weshalb er einen gelben Kaftan und hellblaue
Hosen mit goldnen Spangen trug. In der Hand hielt er ein Stück Holz
mit einem Loch in der Mitte, worüber Bindfaden gezogen war und welches
seine Lyra bedeutete. In den Haaren hatte er gelben Draht, den man für
Sonnenstrahlen halten durfte. Schließlich marschirten neun Bauernmädchen
in Reifröcken auf — die Musen, welche den Fürsten mit einem Kranz von
Blumen aus dem Gewächshaus des Schlosses bekränzten. Alexis Juriwitsch
rief zum Schluß bisweilen nach Simeon TiUtsch, um ihm seine Anerkennung
auszudrücken. 'Allein der Poet war niemals in präsentabelm Zustande, er
war gewöhnlich an irgend ein Hausgeräth auf seiner Stube angebunden, da
er betrunken ein sehr turbulentes Gemüth offenbarte.
Das Abendessen war eine Wiederholung des Mittagsmahles mit weniger
Schüsseln und mehr Flaschen. Nach demselben zogen sich die Damen sowie
alle Herren von niederem Range zurück, und Fürst Alexis begab sich mit fünf¬
zehn oder zwanzig von den vornehmsten Gästen hinaus in den Gartenpavillon.
Hier zog er zum Zeichen, daß Jeder sichs nun bequem machen durfte, den Rock
aus. woraus ein scharfes Zechen begann, welches bis zum nächsten Morgen
währte. .
Fürst Alexis Juriwitsch stand mit seiner Gemahlin aus keinem guten Fuß.
Ju der That, er verkehrte mit ihr nur bei solchen großen Staatsactionen,
wie sie soeben geschildert wurden. Eines Tages fand er, von der Jagd
heimgekommen, einen Brief von seinem Sohn Prinz Boris Alexiewitsch vor,
der in der Hauptstadt verweilte. Er warf einen Blick auf den Inhalt, brüllte
wie el» Stier, und wieder hörte man das Klirren und Krachen zerschlagner
Spiegel und Tische. Die Dienerschaft sank auf die Knie und betete, daß der
Sturm von ihren Köpfen abgewendet werden möge, während andere voll
Schrecken aus dem Hause rannten.
Der Fürst rief dann nach der Fürstin. Doremidont, einer der Kammer¬
diener, war unvorsichtig genug, seinen Herrn zu benachrichtigen, daß Ihre
Hoheit an hochdero Zimmer gefesselt sei, worauf der unglückliche Mensch so¬
fort zu Boden stürzte („wie ein Schwaden unter der Sense", sagt der Bauer,
der die Geschichte erzählt) und als er aufstand, die betrübende Entdeckung
machte, daß ihm fünf Zähne fehlten. Der Fürst war inzwischen die Treppe
hinauf nach dem Gemach seiner Gemahlin gerannt. Er sand sie todtkrank
auf dem Sopha. Vor ihr am Tische saß Kondratie Sergejewitsch, ein from¬
mer, fleißig studirender, wohlunterrichteter Hausgenosse des Fürsten Alexis,
der bei diesem seine Zuflucht genommen, nachdem er durch einen mächtigen
Nachbar von seinem Gute vertrieben worden war. Derselbe las der Fürstin
jetzt gerade aus dem Leben der heiligen Barbara vor.
„Ha!" kreischte Alexis Juriwitsch, „da bist Du! Du. die ihren Jungen so
verdorben hat, daß er sich jetzt einer Metze an den Hals wirft! Und so ver¬
bringst Du hier Deine«Zeit mit Deinen Liebhabern!" Und der Prinz ließ
seiner Wuth vollen Lauf ....
Am nächsten Morgen war von Kondratie Sergejewitsch in Zaboria keine
Spur zu finden, und die gute Fürstin Martha Petrowna war eine Leiche.
Das Leichenbegängniß war superb. Es fungirten dabei drei Archiman-
driten und hundert Priester, und obwohl kaum einer der Theilnehmer an der
Ceremonie die Princessin gekannt hatte, weinte doch Jedermann, mit Aus¬
nahme des Fürsten, der hinter dem Sarge herschritt ohne eine Thräne zu
vergießen. Indeß bemerkte man, baß er viel hagerer geworden war. Seine
Lippen zuckten, und von Zeit zu Zeit ging ein Schauder über seinen ganzen
Keuper. Sechs Wvcken hindurch wurden nach der Beerdigung alle Bettler
die nach Zaboria kamen, auf Kosten des Fürsten gespeist, auch vertheilte man
jeden Sonnabend Geld unter sie. Im Ganzen kostete die Bestattung nebst
Zubehör dreitausend Rubel.
Beim Leichenschmaus sprach Fürst Alexis in der erbaulichsten Weise mit
dem Archimandriten übet die heilige Schrift, über den Weg die Seele zu
retten und die Pflichten eines Christen. „Da war da meine arme Fürstin",
sagte er, „die lebte ein Leben der Demuth und Heiligkeit und bereitete sich
einen Platz im Reiche der Seligen." Dann setzte er hinzu, daß das Dasein
fürder für ihn keinen Reiz habe, daß er ohne sein Weib fortan nicht mehr
in der Weit existiren möge, und bat den Archimandriten, ihn in sein Kloster
aufzunehmen, er werde die Summe von vierzigtausend Rubeln mitbringen.
„Fassen Sie keinen übereilten Entschluß", sagte der Archimandrit. „Haben
Sie nicht für Ihren Sohn zu leben?"
„Was. den Borkal"*) fuhr der demüthige Fürst und Mönch in sxs
auf. „Des wird, wenn ihm sein Leben lieb ist, gut thun, sich hier nicht
sehen zu lassen. Der höllische Schurke! Er hat mich ruinirt und ist die Ur-
sache des Todes seiner Mutter. Er hat ewige Schande auf unsern Namen
gebracht. Ohne auf unsre Erlaubniß und auf den Segen seines Vaters zu
warten, hat er irgend eine Dirne ohne einen Heller Vermögen geheirathet.
eine Person, für die es eine Ehre gewesen wäre, meine Schweine zu hüten.
Dieser Hallunke ists. der die Fürstin ins Grab gebracht hat. Als sie davon
hörte, siel sie in Ohnmacht, die arme Frau, hatte einen Blutsturz und war
in derselben Stunde schon nicht mehr unter den Lebendigen, die liebe Taube."
„Umgeben von Trübsal sollten Sie sich in Demuth beugen. Fürst," re>
monstrirte der Archimandrit.
„Was! mich vor Borka beugen?" lachte Alexis Juriwitsch. „Behüte
Gott! Nichts damit! Ich werde mich wieder verheirathen und andre Kinder
haben. Borkn und seine Metze mögen zum Bettelsack»greifen; sie sollen nicht
einen Kopeken von mir kriegen. Es gibt ihrer genug, die mich haben möchten,
und güb's keine andre, so Heirath' ich Malaschka, die Gänsemagd."
In diesem Augenblick begann der Priester die „Trisna" zu trinken*),
die Diakonen sprachen das „Wo Blajennom Uspennie" (Gesegnet seien die
Todten) und der Chor sang das „Wetschnoiu Pamiat" (Ewiges Gedächtniß).
Jedermann erhob sich .und betete, ausgenommen Prinz Alexis, der „wie ein
Schwaden" vor den heiligen Bildern niederfiel und so bitterlich schluchzte, daß
Niemand ihn sehen konnte, ohne Thränen zu vergießen. Mit Mühe h^'b man
ihn endlich vom Boden auf, Am nächsten Tage war sein Kummer so groß,
daß er eine ganze Menge Bauern durchhauen ließ und ein halb Dutzend
eigenhändig abprügelte. Wem er nur begegnete, mußte etwas Unrechtes ge¬
than haben. Die kleinen Edelleute, die als Schnurranten und Schmarotzer
bei ihm lebten, verloren die Geduld so sehr, daß sie trotz der guten Verkösti¬
gung in Zaboria wegzuziehen beschlossen. Aber glücklicher Weise verblieb
der Fürst in dieser schrecklichen Laune nur etwa acht Tage. Er ging wieder
auf die Jagd, und kaum hatte er das Glück gehabt, einen Bär zu erlegen,
als sein Kummer und Schmerz wie weggezaubert verschwand. Indeß merkte
man ihm jetzt das Alter an, auch verfiel er gelegentlich in Schwermuth.
Manchmal nach dem Schluß einer Jagd nahm er nach gewohnter Weise
seinen Sitz rittlings auf einem Faß mit Wodka, verhalf sich mit einer Kelle
zu einem Theil des Inhalts und trank die Gesundheit aller Anwesenden.
Dann aber begab sichs nicht selten, daß er plötzlich düster wurde und die
Kelle aus der Hand fallen ließ, und daß statt des schallenden Gelächters der
Minute vorher tiefe Todtenstille eintrat, Nach einigen Minuten finstern Brü-
tens heiterte sich bei solchen Fällen das Gesicht des Fürsten wieder auf und
er sagte dann: „Ich habe euch erschreckt, meine Freunde. Ach ja, meine
Brüder, ich werde bald sterben müssen." Darauf hob er an zu singen, Hun¬
derte von Stimmen sielen ein in das Lied, und es gab ein Tanzen, Jauch¬
zen und Zechen bis zum Einbruch der Nacht.
Trotz der väterlichen Ungnade hatte Borka oder, respectvollcr zu sprechen.
Prinz Boris nicht die Absicht, sich für immer von Zaboria fern zu halten,
und ein Jahr nach dein Tode seiner Mutter theilte er seinem Bater mit, daß
er ihm demnächst einen Besuch abstatten werde. Fürst Alexis las den Brief
und rief den Schloßverwalter, welcher folgende Weisung erhielt:
„Morgen wird Borka mit dem Weibsbild eintreffen, das er sich zur Frau
genommen hat. Daß sich Niemand untersteht, vor ihnen den Hut abzuziehen.
Jeder, der ihnen begegnet, hat sie wie ein Hund anzubellen. Sie mögen bis
an das Schloß herankommen, aber die Pferde werden nicht ausgeschirrt, so
daß sie, sobald ich ihnen eine Lection gegeben habe, sich sofort wieder weg¬
trollen können."
Diese Befehle des Fürsten wurden buchstäblich ausgeführt, und Prinz
Boris hatte mit seiner jungen Frau allerlei grobe Demüthigungen zu erdulden.
Jener kam mit gesenktem Kopf an, diese mit Thränen in den Augen. Ihre
freundlichen Worte und ihr leutseliges Benehmen machte auf den verthierten
Bauernpöbel Zaboria's nicht den leisesten Eindruck. Bevor sie in das Dorf
eingefahren, waren sie auf einen Haufen von etwa anderthalbhundert Buben
gestoßen, die ihnen absichtlich entgegengeschickt worden waren und sie mit
ausgestreckter Zunge und höhnischem Geheul empfingen. Am Thore des
Schlosses stand Fürst Alexis Juriwitsch, eine Peitsche in der Hand. Seine
Augen brannten wie die eines Wolfes, vor Wuth zuckte sein Gesicht und sein
ganzer Körper.
Die Bedienten schlichen sich bei Seite. Sie erwarteten ein Gewitter,
wie sie es bei ihrem Herrn noch nicht erlebt. Als Vorsichtsmaßregel hatten
sie durch eine Hinterthür — wer wußte, was passirte und wer die letzte Beichte
nöthig haben konnte! — einen Priester besorgt.
Das junge Paar stieg aus der Kutsche. Fürst Alexis stürzte ihnen mit
geschwungener Peitsche entgegen. Da blieb er beim Anblick der außerordent-
lich schönen jungen Frau plötzlich wie gelähmt stehen. Die Peitsche sank ihm
ans'der Hand. Sein Gesicht strahlte von Entzücken. Prinz Boris fiel seinein
Papa zu Füßen. Die Prinzessin war im Begriff, desgleichen zu thun, aber
ihr Schwiegervater hielt sie davon ab, umarmte und küßte sie, machte ihr die
schönsten Komplimente. verzieh dem bisher so schwer verdammten Borka auf
der Stelle und ordnete sogleich ein großes Fest zu Ehren der „Kinderchen" an.
Jetzt ging's lustig zu in Zaboria, aber es war eine andere Lustigkeit als
die bisher» allein gekannte. Es gab Bankette, aber keine Bären und Hans¬
wurste mehr, keinen Spectakel und keine Völlerei. Wenn einer der Herren
aus der Nachbarschaft nur ein Wort von den nächtlichen Zechgelagen im
Gnrtensalon fallen ließ, warf ihm der alte Fürst sofort einen Blick zu, der
ihn augenblicklich verstummen ließ. Diese Zähmung des Wolfs von Zaboria
ging sehr rasch, in wenigen Wochen vor sich, und sie war das Werk der
jungen Prinzessin Warwara Michailowna. Ihr einziges Zaubermittel war
ihr sanftes schönes Auge und ihre holde Stimme; ihre einzige Zauberformel
zur Beschwörung von Tollheiten lautete: „Aber. Vater, das ist doch nicht
recht!"
Kein Beispiel, wo Alexis diesen Worten nicht sogleich gehorcht hätte.
Nicht nur daß alles Prügeln aufhörte, crins die Ruthen und Peitschen wurden
verbrannt. Diejenigen von dem Schmarotzcrvolk im Schlosse, die sich den
Wodka nicht abgewöhnen konnten. wurden in einem entfernten Dorfe unter¬
gebracht, und Anstand und Ordnung begann in Zaboria zu regieren. Selbst
bei den Jagden ging es nicht mehr so wild wie früher zu. Wenigstens gab
Alexis Juriwitsch seine alte häßliche Gewohnheit, sich am Schluß solcher Ver¬
gnügungen rittlings über ein Branntweinfaß zu setzen und den Schnaps mit
einer Kelle herauszulöffeln auf und begnügte sich, wie andere Christenmenschen
das Getränk aus Gläsern zu sich zu nehmen. Auch ließ er Niemand über
Gebühr trinken; „denn", sagte er. „meine Tochter könnte es hören und darüber
verdrießlich werden."
Mit Borka söhnte er sich allmälig ganz aus. überließ ihm vollständig
die Verwaltung des Gutes und der Nebenbcsitzungln und äußerte wiederholt,
daß er im nächsten Jahre, wo er einen kleinen Enkel zu sehen hoffe, sich ins
Kloster zurückziehen, dort sür seine Kindes beten und sich auf das ewige Leben
vorbereiten wolle.
Die Prinzessin Warwara Michailowna hatte nach Verlauf eines Jahres
wirklich einen kleinen Sohn, und die Freude des alten Herrn kannte keine
Grenzen. Neun volle Tage hindurch hielt er Wache vor ihrem Zimmer, da,
mit Niemand sie störe. Später trug er seinen Enkel im Hause umher und
sang ihm Wiegenlieder vor. Bei der Taufe gab er jedem Bedienten einen
blanken Silberrubel und schenkte zweihundert seiner Bauern die Freiheit. Der
junge Stammhalter lebte leider nur sechs Wochen. Als er starb, legte sich
Alexis Juriwitsch ins Bett, aß zwei Tage lang keinen Bissen und sprach kaum
ein Wort. Die Mutter hatte in Mitten ihres Schmerzes um ihr Kind den
Großvater zu trösten, der indeß lange Zeit untröstlich blieb.
Einige Zeit nachher traf die Nachricht ein. daß der Preußenkönig sich in
Bewegung setze und daß es wahrscheinlich einen Krieg geben werde. Da Prinz
Boris Offizier im kaiserlichen Heer war, so bereitete er sich zur Abreise vor.
Seine Gemahlin wollte ihn begleiten, allein Fürst Alexis bat sie mit thränenden
Augen zu bleiben. Boris vereinigte seine Bitten mit denen seines Vaters,
indem er Warwara vorstellte, daß sie unmöglich der Armee folgen könne, und
so willigte sie endlich ein. in Zaboria zurückzubleiben.
'
Der Abschiedwar sehr, feierlich. Nachdem in der Kirche der Gottesdienst
für Personen, die sich auf eine Reise begeben, abgehalten worden, gab Fürst
Alexis seinem Sohn vor allem Volk seinen Segen und ein Heiligenbild als
Amulet. umarmte ihn und hielt ihm eine Rede, in der er ermahnt wurde,
tapfer zu fechten und sich nicht zu schonen, sondern sein Leben, wenn es noth¬
wendig, rücksichtslos für seine Mutter, die Kaiserin, hinzugeben. Was feine
Gemahlin beträfe, so solle er um sie unbekümmert sein, denn was ihm auch
geschehen möge, es werde für sie gesorgt werden.
Die Prinzessin war so unglücklich über die Trennung von ihrem Gemahl,
daß nach dessen Abreise gar keine Gesellschaften in Zaboria gegeben werden
durften, bis endlich Briefe von Prinz Boris eintrafen, welche von den Schlach¬
ten, in denen er mitgefochten, berichteten und zugleich die Mittheilung ent¬
hielten, daß er nicht weiter in das preußische Gebiet mitgehen werde, indem
er zum Befehlshaber von Memel ernannt sei. welches sich jetzt in den Händen
der Russen befand. Auf diese Kunde hin wurde es wieder ein wenig leb¬
hafter im Schloß von Zaboria, und Fürst Alexis Juriwitsch sah wieder Ge¬
sellschaft bei sich, doch immer noch in ruhigster und ordentlichster Weise.
Schluß des Artikels in nächster Nummer.
dritter und vierter Band. Leipzig. Brockhaus, 1862.
Die vorliegenden Bände umfassen die bewegte Zeit von 1845 bis zum
Mai 1848; vieles Unbedeutende und Langweilige: Berliner Stadtgespräche,
Geflüster der Diplomatie polaren, Seufzer schwankender und unzufriedener Be¬
amten ; dann Anekdoten über die Mitglieder der königlichen Familie, vor Allen
über Friedrich Wilhelm den Vierten, oft unsicher und ungenau, als Neuigkeiten
aus dritter und vierter Hand. Die Bände sind im Ganzen keine fesselnde
Lectüre, auch da wo sie Interessantes bringen, unerquicklich und abstoßend.
Denn dem Verfasser begegnet das Schlimme, daß seine Kritik der Menschen
und Zustände die Anhang und Theilnahme an ihm selbst verringert.
Aber nach einer Richtung sind die Tagebücher lehrreich. Sie zeigen sehr
deutlich, wie groß die Kluft ist, welche unser politisches Leben und Empfinden
von den Zuständen vor 1848 trennt, und wie vortheilhaft die Veränderungen
sind, welche Sittlichkeit und politisches Gewissen der Preußen durch das berüch¬
tigte Jahr 1848 erfahren hat.
Es ist wahr, Varnhagen war weder ein kräftiger Charakter, welcher Ver¬
trauen, noch ein Schriftsteller, welcher Zuneigung einzuflößen vermochte. Aber
er war nichts weniger als ein schlechter und gewissenloser Mann. Er hatte
lebhafte liberale Instinkte, er war patriotisch genug, um die traurigen und ver-
kommnen Zustände Preußens mit Mißbehagen zu empfinden. Aber er war
den Ereignissen gegenüber sehr arm anselbständigem Athen.r kränklich, reizbar,
leichtgestört und verletzt, von einer maßlosen Eitelkeit, welche ihm zu leicht seine
Anschauungen färbte, seine Unbefangenheit verdarb; von einer geheimen Freude
am kleinen Scandal.
Eine solche Persönlichkeit würde wenig Beachtung verdienen, wenn sie
nicht in vieler Hinsicht charakteristisch wäre für die Zustände in Berlin vor
dem Jahre 1848. Denn V. stand mit dieser Eigenthümlichkeit nicht allein, im
Gegentheil, die Mehrzahl der Hofleute, der höchsten Beamten, der Intelligenten
in Preußen krankte an demselben Fehler. Selbst Alexander v. Humboldt
wurde durch die großen wissenschaftlichen Interessen, deren Vertreter er war,
nicht vor einem sichtbaren Antheil an derselben Schwäche geschützt; Minister und
Generäle liefen grade wie Varnhagen umher als Colporteure von Neuigkeiten, als
Klagende und Unglückspropheten, um ihr Urtheil Bekannten in das Ohr zu raunen,
fremden Neuigkeiten ihre Ohren zu öffnen. Die Politik war ein Spiel schwäch¬
licher Hof-Intriguen, in Heer und Verwaltung waren die höchsten Interessen
des Staates zu kleinen Pcrsonensragen eingeschrumpft. Allerdings wird kein
Hof und keine Siaatsregierung sich jemals ganz von kleinlichen Cotcrietreiben
befreien, die Selbstsucht der Emporringenden sucht sich zu jeder Zeit gel¬
tend zu machen. Aber das Unglück des damaligen Preußens war, daß in
solch kleiner persönlicher Wirthschaft fast das gesammte politische Leben des
Staates verlief. Es gab keine freie Presse, es gab keine Tribüne, keine öffent¬
liche Meinung, in welcher sich die Leidenschaften der Einzelnen. Verirrungen
des Urtheils, Beschränktheit der Einsicht abklären und erheben konnten. Der
Einzelne wurde in der Regel die Beute der zufälligen Eindrücke, weiche ihm
das Urtheil seiner nächsten Umgebung in die Seele schlug. Die Geheimniß-
krämerei, in welcher sich die Staatsmaschine bewegte, zog endlosen Klatsch auf;
bei jeder Maßregel der Regierung übten die halb unterrichteten und »nbethei-
ligten Zuschauer im Volke eine schonungslose, vielleicht ungerechte Kritik; der
Maßstab für das Rechte oder Schlechte, sittliches oder Unsittliches, war auch
den Besseren nur zu unsicher geworden, ein roher Cynismus bespöttelte das
Gute wie das Arge. Mit einem Gefühl, gemischt aus heimlicher Furcht und
Schadenfreude, sah mau eine Person, ein Project nach dem andern sich ruiniren,
eine trübe, pessimistische Stimmung war über das ganze Land verbreitet.
Und als die Aufregung das Volk der Straße in Haufen zusammenführte, da
waren die Anspruchsvollsten und Hochmütigsten wie im Nu gebrochen, ent-
weder eine Beute der Tagesstimmungen, oder in hilfloser Verbitterung. Es
gab in der That nichts Festes, nichts Ehrwürdiges und nichts Erhebendes
mehr in der Empfindung einer großen Mehrzahl. Ein gut geartetes Volt
von kräftigem Gefügt des Geistes, überreich mit Bildungselementen versehen,
war in dringender Gefahr, so charakterlos, schönrcdnensch und arm an Muth
und politischer Thatkraft zu werden, wie der Verfasser des Tagebuches selbst
und die Mehrzahl seiner vornehmen Bekannten.
Am auffallendsten aber wird der Unterschied zwischen einst und jetzt bei Betrach¬
tung dU Stellung, welche das erlauchte Geschlecht der Hohenzollern zu seinem Volke
einnimmt. Und da das ermahnte Buch sich vorzugsweise mit Anekdoten aus
dem Hof und .Nabinet Friedrich Wilhelms des Vierten beschäftigt, so ist hier der
Ort, daran zu erinnern. Die Hohenzollern haben seit der Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts auch dadurch sich von den Regentensamilicn des Continents unter¬
schieden, daß Publicum und Presse in einer Weise mit ihnen beschäftigt
wurden, die im übrigen Europa, England ausgenommen, unerhört war. Bei
keinem Königsgeschlecht ist Charakter und Privatleben der Regierenden so leb¬
haft, freimüthig und unablässig besprochen worden. Schon die auffallende
Persönlichkeit Friedrich Wilhelms des Ersten gab viele Beranlassuug ; seine Kinder
aber haben selbst mit einer beispiellose» Rücksichtslosigkeit über sich, über ihre
Familien und Verhältnisse in die Öffentlichkeit berichtet. Friedrich Wilhelm der
Zweite wurde durch Carricaturen, endlose Pasquille und schlechte Romane an¬
gegriffen, Friedrich Wilhelm der Dritte vor und nach dem Jahre 1806 durch die
ersten Versuche Einzelner, sich am Staatsleben zu betheiligen, rücksichtslos
recensirt. So unbequem diese Kritik einer schwachen öffentlichen Meinung
für die Fürsten auch war, die beurtheilenden Stimmen waren weder kräf-
ig, noch unbefangen genug, um wesentlich zu nützen. Im merkwürdigen
Gegensatz zu dieser Vergangenheit steht die Periode von 1815 bis 1840.
Unter der neu organisirten Bundcscensur verstummten öffentliche Kritiken über
Friedrich Wilhelm drü Dritten, seinen Hof und sein Beamtenregiment fast ganz.
Diese Ruhe vergrößerte wahrscheinlich das Behagen, mit welchem die Mitglieder
der königlichen Familie in ihrem Volke lebten, sie verbesserte aber nicht ihre Stel¬
lung, nicht die ihres Hofes und der Negierung. Denn >n dieser Zeit der innern
Stille, welche Friedrich Wilhelm der Dritte in Preußen zu erhalten wußte, wurde
der Gesichtskreis der preußischen Politik und des Hoff kleiner und enger.
Die Männer aus der Zeit der Erhebung wurden alt, spärlich war der Nach¬
wuchs von neuen Talenten. Hos und Staat machten kurz vor dem Tode
des greisen Königs den Eindruck eines vereinsamten, hernntergetommnen Wesens,
welches der verstorbene General Gagern in seiner kurzen Weise vortrefflich
geschildert hat.
Mit Friedrich Wilhelm dem Vierten begann wieder die glossirende Kritik
aufzurauschen. Ungezogene lyrische Dichter, anonyme Journalartikel wußten
den strengen Preßgesetzen des Bundes zu trotzen. Auch der Klatsch des Hofes
wurde rücksichtsloser und begehrter. Jedes schnelle Wort, das den Lippen des
Königs oder eines Prinzen entfloh, jede kleine Familienscene erhielt eine unver-
hältnißmäßige Bedeutung, die Urtheile überZdie Höchsten des Staates waren
genau so, wie das Wesen der Menschen in solcher Zeit, argwöhnisch und
kleinlich. Die Fürsten selbst erfuhren Stimmungen und Bedürfnisse des Volks
wieder nur durch das Geschwätz der Hofkreise, oder durch die Berichte ser»
oller Beamten. Fast nie hatten sie Gelegenheit, die eigenen UeberzeuGungen
mit einer fremden, unabhängigen Ueberzeugung zu messen.
Recht deutlich wird die gefährliche Lage der preußischen Königsfamilie,
wenn man sich an eine Missethat erinnert, welche das Leben Friedrich Wil¬
helms des Vierte» bedrohte. Zu allen Zeiten ist die Majestät der Regenten den An¬
fällen einzelner Verrückter und Verkehrter mehr ausgesetzt gewesen, als der
Mann in bescheidener Erdenstellung. Aber bei dem Attentat des Thebens war
nicht blos die That, sondern auch die Haltung des Publicums, der Gebildeten,
ja der vornehmen Gesellschaft gräulich. Ueber Charakter und Motive des
Verbrechers, die Empfindungen des Königs wurde mit einem wahrhaft bos¬
haften Interesse verhandelt, dem Verbrecher wurde eine Theilnahme gegönnt,
welche für die Person des Königs höchst beleidigend war. Lieder wurden ver¬
fertigt — sie sind nicht im Volke entstanden — in denen mit einer unbehag¬
lichen Roheit sich Spott und Witz gegen das Opfer, nicht gegen den Mörder
kehrte, und solche Lieder wurden in den Familien der Hofleute, der höchsten
Beamten abgeschrieben, von Geheimräthen und Excellenzen colvortirt, in den
Ministerien heimlich gelesen, im Volke gesungen. So tief war das Königthum
vor 1848 gesunken, so sehr war seine hohe Stellung verdorben, daß eine
Alles zerstörende Revolution unvermeidlich erschien; die Klügeren erwarteten,
die Besseren fürchteten sie. — Man vergleiche mit jenem Attentat ein anderes
nahe liegendes, man vergleiche die Haltung der Presse und des Volkes da¬
mals und im vergangenen Jahre! — Doch es war ein Unterschied in der
Tagesbeliebtheit der beiden Monarchen! Das ist wahr, ein Unterschied von
vielen Graden, Aber in der Haltung der Nation war kein Unterschied nach
Graden, sondern es war ein durchaus und radiccU verschiedenes Ge«
bahren. Die Preußen vor 1848 benahmen sich wie Unfreie, welche heimlich
die Faust ballen und kalt oder schadenfroh die Gefahr ihres Gebieters be¬
spötteln, die Preußen' und Deutschen von 1861 zeigten ihrem Fürsten die Hal¬
tung, die herzliche Theilnahme, den sittlichen Zorn freier Männer. Und diesen
großen Fortschritt zu einer edlen PopularMt und einem gesunden Ver¬
hältniß zwischen Fürst und Volk verdanken die Hohenzollern dem Getöse des
Jahres 1848. Dies Jahr hat grade den Besten der Familie die größten
Schmerzen bereitet, sie haben, so hoffen wir. dadurch gesühnt, was ihr Geschlecht
in den letzten Decennien vorher versäumt und gefehlt hatte. Das Jahr war
bitter, aber sein Fieber brachte ihnen selbst und ihrem Volke die Rettung.
Da über die deutsche Frage im preußischen Abgeordnetenhaus bereits be¬
richtet worden, soll hier noch das Wenige, was aus dem Kammerleben der
letzten Woche zu erwähnen ist, kurz erwähnt werden.
Die Plenarsitzungen sind auch in der verflossenen Woche noch nicht von
großer Bedeutung gewesen. Doch sind die Commissionen nunmehr in ihren
Arbeiten so weit vorgerückt, daß beide Häuser demnächst an die concreten le-
gislativen Aufgaben werden gehen können.
Das Abgeordnetenhaus hat während der letzten acht Tage zwei Sitzungen
gehabt, am Dienstag und am-Sonnabend. In der ersteren^, welche sich nur
mit Petitiousberichten beschäftigte, kam nichts von allgemeinerer Bedeutung
vor. In der Sonnabendsitzung wurde über einen Antrag aus Aufhebung der
gesetzlichen Zinsbeschränkungen verhandelt. Durch diesen Antrag wird nur
ein Gesetzentwurf wieder aufgenommen, welchen die Regierung schon vor
zwei Jahren beim Landtag eingebracht h«t. Die Wuchergesetze beruhen auf
demselben Irrthum, wie der Schutzzoll, der Zunftzwang und ähnliche Ver¬
anstaltungen, welche das materielle Wohl des Volkes dadurch zu fördern
meinen, daß sie den freien Verkehr unter Bevormundung stellen und ihm Licht
und Lust abschneiden. Aber sie bewirken nur das Gegentheil von dem, was
sie bezwecken, weil sie. wie jeder Eingriff der Gesetzgebung in die natür¬
lichen Gesetze des Verkehrs, das Capital in falsche, künstliche Kanäle leiten-.
Die principielle Seite der Frage ward am Sonnabend von den Abgeordneten
Michaelis. Fauchcr und Schulze-Delitzsch gut vertreten. Die Specialde-
batte wird erst, in dieser Woche stattfinden. Ueber das weitere Schicksal die¬
ses Antrages besteht kein Zweifel. Das Abgeordnetenhaus wird ihn mit
großer Majorität annehmen. Dann geht er an das Herrenhaus, welches ihn
eben so gewiß verwerfen wird. Der kleine Landadel, welcher hier dominirt,
will sich die Capitalien nicht vertheuern lassen.
Das Herrenhaus hat lange keine Sitzung gehalten. Aber heut wird es
die Berathung über das Ministerverantwortlichkeitsgcsetz beginnen. Bei
dieser Gelegenheit werden wir vielleicht das sonderbare Schauspiel er¬
leben, daß das Herrenhaus liberaler ist als das Ministerium. Wenigstens
die Commission, welche den Entwurf im Allgemeinen zur Annahme em¬
pfiehlt, hat im K. 2 ein Amendement angenommen, wodurch der Begriff der
strafbaren Verfassungsverletzung weiter gefaßt wird, als es im Entwurf ge¬
schehen war. Herr Simons, welcher selbst Mitglied der Commission ist,^hat
doch nicht beantragt, auf den von ihm im Jahre 1850 vorgelegten, weit
liberaleren Entwurf eines Ministcrvcrnntwortlichkeitsgesctzes zurückzugehen.
"-
Die Zeitungen melden, daß die Gährung in Griechenland, die sich bisher nur
durch Attentate und Straßendemonstrationcn kund gab und einen bald wieder rück¬
gängig gemachten Ministerwcchsel veranlaßte, sich endlich in einer Militüremeute Luft
gemacht hat. In Nauplia, der drittgrößten Stadt des griechischen Festlandes,
hat sich die Garnison empört, die dortigen politischen Gefangnen befreit und eine
provisorische Regierung eingesetzt. Von Athen sind Truppen dahin aufgebrochen,
die vom König in Kalcimaki gemustert wurden und, durch ein Jägerbataillon von
Patras verstärkt, nach dem Schauplatz des Aufstandes marschirten. Die neuesten
Nachrichten widersprechen sich. Nach den einen hätte General Hahn, der Führer
der Regicrungstruppen, Anträge der isolirten Meuterer aus Unterwerfung empfangen.
Nach den andern hätten bereits drei Gefechte stattgefunden, und das ganze Land
wäre im Begriff, sich zu erheben. Wie sich's wirklich verhält, wird man vor Ab¬
lauf der Woche nicht erfahren, doch möchte man daraus, daß die auf einer Reise
nach Athen begriffenen bayerischen Prinzen von dort aus in Korfu veranlaßt wurden,
umzukehren, den Schluß ziehen, es könne um die Aussichten der Regierungspartei
nicht besonders gut stehen.
Ebenso wenig sicher sind wir in Betreff der Ursachen des Aufstandes. Gewiß
ist nur, daß die panhellenische Propaganda die Hand im Spiel hat, was schon daraus
hervorgeht, daß die Pforte die Grenzen Thessaliens stärker besetzen läßt. Gewiß fe»
ner, daß die Negierung des Königs Otto schwächlich wenig liberal und wenig geschickt
ist. Gewiß aber zugleich, daß dieselbe auch bei mehr Energie und Intelligenz in den
Verhältnissen des noch immer halbbarbarischen Landes und in den sich hier kreuzen¬
den Interessen und Intriguen der Großmächte schwer zu überwindenden Schwierig¬
keiten begegnen und daß die Revolutionäre von Nauplia es eher schlimmer als besser
machen würden als die setzt herrschenden Gewalten.
Indem wir nähere Nachrichten abwarten, geben wir für heute nur einen Ueber¬
blick über den Schauplatz der Revolution, und zwar folgen wir dabei, den Leser
bittend, die Karte zur Hand zu nehmen, dem Marsch der Negierungstruppcn von
Kalamaki nach Nauplia.
Kalamaki liegt, ungefähr 6 Meilen von Athen, doch mit dem Dampfer in
circa 6 Stunden zu erreichen, auf dem Isthmus von Korinth und zwar an dessen
schmalster Stelle und am saronischcn Golf. Die Umgebung des Städtchens, welches
nur ein paar Dutzend Häuser hat und lediglich als Stationsort der Llvyddampfer
einige Wichtigkeit besitzt, ist ziemlich öde, nur mit einigen Gerstenfeldern und niedrigem
Strauchwerk bedeckt, der Sümpfe halber sehr ungesund und häufigen Erdbeben unter¬
worfen, die vor vier Jahren, wo wir dort waren, nicht blos diesen Ort, sondern
auch das benachbarte Korinth fast ganz zerstört hatten. Nach letzterem geht man
von hier, zunächst durch die Neste der Befestigungen, welche einst, den Isthmus durch¬
schneidend, den Peloponnes vom Festland absperrten, und durch die spärlichen Ruinen
des Poseidonstcmpels, bei dem die isthmischen Spiele stattfanden, dann durch das
Dorf Hexamilion in etwa 3 Stunden. Die Gegend von Korinth, obwohl waldarm,
gehört zu den prachtvollsten Landschaftsbildern Griechenlands. Ueber der Stadt auf
1800 Fuß hohem, schön geformtem Kegelberg die Mauerkrone von Akrokorinth. Auf
dem andern Ufer der anmuthig geschweiften blauen Bucht der violett schimmernde Fclsen-
wall des Geraniagcbirgs. Daneben weiter nach Norden der Kithäron. im Westen wie
ein dunkler Kamcelhöcker der Helikon, noch weiter nordwestlich, von Wolken umhüllt, aus
deren Schatten weiße Schneestreifen hervorblinken, der majestätische Parnaß. Dagegen ist
die Stadt ein ärmlicher Ort, der nicht entfernt ahnen läßt, daß einst hier die reichste
Handelsstadt von Hellas stand. Der alte Hafen ist versumpft, die Tempel sind bis aus ein
paar Säulen zusammengefallen. Der Verkehr hat sich, da Moräste hier giftige Fieber¬
luft aushauchen und Schiffe keine passende Unterkunft finden, andern Plätzen des
Golfs, namentlich dem rasch emporblühenden Patras, zugewandt, und die dreitausend
Einwohner Neukorinths leben fast nur von Ackerbau und etwas Landhandel.
Der nächste Weg des von Korinth nach Argos und Nauplia marschirten Heeres
unter General Hahn führte über die Hochebene von Klconä, reich welcher man zunächst
am südwestlichen Fuße des Burgbergs von Korinth hinzieht und dann durch eine
etwa zwei Stunden lange, ziemlich tieft Schlucht emporsteigt. Die Wände diese«
Bergpasses bestehen aus einer Art graugelbem lockern Sandstein und sind vielfach
von breiten Regenrinnen durchfurcht und nur mit Gestrüpp bewachsen. Im Grunde
unten murmelt zwischen Oleandern, Lentiscus und einzelnen wilden Birnbäumen der
Longvpotamos, ein kleines Gebirgswasser, welches sich ein tiefes schroffabstürzcndes
Bett in das Erdreich gewühlt hat.
Mit Kanonen ist dieser Weg so wenig wie der weitere bis Argos zu Passiren,
und wenn in den Zeitungen von zwei Batterien die Rede war, die General Hahn
mitgenommen habe, so ist das geradezu lächerlich. Erstens besitzt die gesammte
hellenische Armee nicht viel mehr als zwei Batterien Feldgeschütze, und sicher keine
zwei bespannten Batterien mit dem nöthigen Zubehör von Pulverkarren u. d. in.
Dann aber kann man in Griechenland bei der Beschaffenheit des Terrains und der
Erbärmlichkeit der meisten Straßen mit unserer Artillerie nur an sehr wenigen
Punkten operiren. Es gibt eine leidliche Chaussee vom Piräus nach Athen, eine
andere von Athen nach Megara und! eine dritte von Athen nach Theben; dann
eine von Argos nach Nauplia, endlich eine sehr gute von Argos nach Tripolitza im
Herzen des Peloponnes. Auf andern Wegen, der von Korinth nach Sikyon etwa
ausgenommen, ist nicht einmal mit leichten Wagen fortzukommen, und wenn General
Hahn ein paar Geschütze mit sich führte, so werden es lciäite Gcbirgskanoncn gewesen
sein, die sich auf Maulthieren transportiren lassen.
Die Hochebene, auf welche die Schlucht des Longvpotamos führt, ist nur zum
kleinsten Theil angebaut. An dem einen der kahlen Berge, die sie im Süden über¬
ragen, zieht sich mit grauen Mauern und rothen Dächern das ansehnliche Dorf
Hagios Basilios hin, und nicht weit von hier erhebt sich in sanfter Steigung ein
Hügel mit einer weiten Trümmcrstätte. Es ist das „wohlgebaute Klconä" Homer's.
Auf dem Weitermarsche nach Argos hat das kleine Heer der Negicrungstruppcn
zunächst das freundlich in einer Senkung der Ebene gelegene von Bäumen umgebene
Oertchen Kurtcssa passirt, dann die Mühle von Dcrbenaki und hierauf den so¬
genannten Tretonpaß, eine wilde, von einem Bach durchströmte Schlucht, die über
die Wasserscheide zwischen dem korinthischen und dem argolischen Meerbusen führt.
An beiden Enden derselben, gegen Klconä sowie gegen Argos hin, erblickt man
Spuren alter Befestigungen zur Sperrung des Engpasses, und ungefähr auf der
Höhe des Joches stehen rechts und links vom Wege niedrige Wachthäuser aus der
Türkcnzeit. Etwa in der Mitte zwischen diesen finden sich die Fundamente eines
Thurmes, welcher Hellenon Lidari, der Hellcncnstein heißt und vielleicht mit dem
Thurm des Polygnot identisch ist, bet dem Aratos von Sikyon mit seinen Freunden
sich traf, als er von Argos zur Befreiung seiner Vaterstadt ausgezogen war. Der
Paß würde, wenn die Insurgenten zahlreich genug gewesen wären, ihn zu besetzen,
ohne Nauplia zu entblößen, ein schweres Stück Arbeit für die Ncgierungstruppen
gewesen sein, und vielleicht eine Niederlage derselben gesehen haben. Im Bcfreiungs-
kriege erlangte er durch den großen Sieg Kolokotronis über den Pascha von Drama
Berühmtheit, bei dem das Türkenhcer fast vernichtet wurde.
Der Blick, der sich da, wo der finstere und einsame Paß aufhört, nach Süden
hin öffnet, ist von überraschender Schönheit. Kr zeigt plötzlich den ältesten Schau¬
platz hellenischen Lebens. Vor dem Reisenden schimmert in der Ferne über einer
blauen Meeresbucht das weiße Nauplia und über diesem wieder die röthlichbraune
Bcrgfestung Palamidi. Unmittelbar vor der Trctonschlucht beginnt die langgestreckte
Strandcbcne des „rossenährcnden Argos." Rechts erhebt sich der kahle Kegel, welcher
mit den Trümmern der alten Larisa gekrönt ist und unter sich das Städtchen Argos
hat; weiterhin ragen die Gipfel und Zacken der kyrnrischen Berge, die nach Westen
auf die Stätte Spartas hinabsehen, sonncbcglänzt in den blauen Himmel. Links
endlich bezeichnen zwei hohe graue Felshäupter die Stelle, bei welcher der Hügel ist,
auf dem die Ruinen Mykenä's, der Stadt und Burg der Atriden, liegen. Die Berge
im Westen sind Aeste des Artemision, die weiter im Süden gehören zu dem Poutinos,
die im Osten können als Ausläufer des Arachnäons. des Hauptknmmes der argo
lischen Halbinsel, angesehen werden. Die ebenen Gegenden dieser Halbinsel sind sehr
fruchtbar, ziemlich gut angebaut, mit zahlreichen Dörfern bedeckt, gegen das Meer
hin aber sumpfig und darum zu den ungesundesten von ganz Griechenland zu zählen.
Die beiden Flüßchen, welche man auf der Karte findet, der Inachos und der Chara-
dros, sind den größten Theil des Jahres ohne Wasser und überhaupt so unbedeutend,
daß selbst die Augen mancher Philologen vergeblich nach ihnen suchten.
Die Ruinen von Mykenä (sie bestehen aus der Burg Agamemnon's mit dem
Löwenthor und dem sogenannten Schatzhaus der Atriden) befinden sich in der Nähe
des Dorfes Charvati, etwa eine halbe Stunde östlich von der Straße nack> Nauplia
und Argos. Wir besuchten sie und kamen, obwohl wir erst gegen 7 Uhr von
Korinth aufgebrochen und von Klconä außerdem nach der Stätte Nemea's geritten
waren, noch vor Sonnenuntergang nach Argos. Die Truppen Hahn's werden demnach
von Korinth bis dahin nicht viel länger als sechs, von Kalamaki, wohin sie von
Athen vermuthlich zu Schiffe gekommen sein werden, nicht mehr als neun Stunden
gebraucht haben, wenn — was allerdings anzunehmen — der Winter den Weg
durch die beiden Schluchten nicht zu sehr verdorben hat.
Von Charvati nach Argos sind es IV- Stunden. Argos hat etwa 4000
Einwohner und ist eine sehr weitläufige Stadt, indem außer den wenigen Stra¬
ßen, welche den Basar bilden, fast alle Hänser in Gärten liegen. Im Alterthum
war es lange Zeit der bedeutendste Staat des Peloponnes nächst Sparta. Während
des Türkcnkriegcs wurde die Stadt gänzlich zerstört, jetzt hat sie sich wieder erholt,
doch leben die Einwohner hauptsächlich von Ackerwirthschaft, und von Handel und
Gewerbe ist nicht viel zu sagen. Ueber der Stadt erhebt sich ein spitzer Berg, wel¬
cher einst die Burg von Argos trug, während seinen Gipfel jetzt ein im Mittelalter
erbautes Fort krönt, welches zum Theil Ruine ist. Am Abhang des Burgbergs
befindet sich das schon von fern sichtbare alte Theater mit seinen 67 halbmondför¬
migen Sitzstnfen, welches an zwanzigtausend Zuschauer gesaßt haben mag.
Von Argos fährt oder reitet man aus einer guten Chaussee in etwa 3 Senn-
den um den Rand der von Morästen eingefaßten Bunte nach Nauplia, Eine halbe
Stunde von letzterer Stadt passirt man das Haus, wo Kapodistrias wohnte, jetzt
eine Schule für Oekonomen. Hart dabei liegen auf niedrigem Hügel die Ruinen
von Tiryns, Mauern, Theile von Thoren, Gänge mit einer Art von Ueberwölbung,
Alles zusammengefügt aus unbehauenen Steinen ohne Anwendung von Mörtel,
ein Bau lytischer Cyklopen, wie die altgriechische Sage meinte. Auf der andern
Seite, rechts von der Straße, ziehen sich weite Sümpfe bis an die See hin.
Nauplia, auch Napoli ti Nomania, hat gegen 9000 Einwohner, die, da der
Hasen des Platzes geräumig und wohlgeschützt? ist, nicht unbedeutenden Seehandel
treiben. Die Stadt sieht von fern sehr anmuthig aus' ist dicht gebaut und hat regel¬
mäßige zum Theil gepflasterte und mit mehrstöckigen Häusern besetzte Hauptstraßen.
Sie ist, bis auf eine kleine Landenge im Südwesten, von einem tiefen und breiten
Festungsgraben und sonst vom Meer umgeben und nur durch ein Thor zugänglich.
Vor ihr liegt auf einem kleinen Felseiland inmitten der Rhede ein Kastell, in
welchem der Scharfrichter von Griechenland in unfreiwilliger Abgeschiedenheit wohnt,
da sein Geschäft hier zu Lande nicht blos verachtet, sondern gehaßt und von der
Blutrache bedroht ist. Ueber der Stadt ragt im Süden das Castell Ukronauplia
oder Jtsckkalch und noch weiter südlich auf hohem Bergvorsprung das sehr starke
Fort Palamidi, benannt nach dem alten Helden Palamcdcs, dem Erfinder des
Maaßes und Gewichts und der Buchstabenschrift, während die Stadt ihrerseits den
Namen von Nauplios, einem Sohn des Poseidon, hat.
Nauplia ist von Joniern gegründet. Später wurden die Einwohner von den
Ärgivcrn vertrieben und Nauplia zur Hafenstadt von Argos gemacht. Im Mittel-
alter war es einer der Küstenplätze, in welche sich die griechische Bevölkerung vor
den in den Peloponnes einbrechenden Barbaren flüchtete. Als die Kreuzfahrer bereits
den größten Theil des byzantinischen Reichs erobert hatten, behaupteten sich die
Griechen hier noch volle vierzig Jahre. Später ging die Stadt an Venedig über,
welches sie lange Zeit tapfer gegen die Türken vertheidigte, bis sie 1540 von Su-
leiman dem Zweiten genommen und hierauf zur Hauptstadt der Morea erklärt wurde,
l 686 gewannen die Venetianer Nauplia den Türken wieder ab, worauf die Stadt
sowohl wie das Hauptfort Palamidi mit den stärksten Festungswerken versehen
wurde. 1716 nahmen es die Türken von Neuem. 1823 erstürmten es die Griechen
und behauptete» sich in seinem Besitz auch dann noch, als Ibrahim Pascha mit sei¬
nen Aegyptern die sämmtlichen übrigen Theile der Morea unterworfen hatte. Nau¬
plia wurde dann Hauptstadt des grsammtm Hellas und Sitz der Regierung während
der Präsidentschaft des Grafen Kapodistrias. Es behielt diese Eigenschaft auch noch
einige Zeit nach dem Eintreffen des Königs Otto, der im Februar 1833 zuerst hier
den griechischen Boden betrat und erst im December 1835 seine Residenz von hier
nach Athen verlegte. Jetzt ist Nauplia nur noch Hauptfestung des Landes, Mittel¬
punkt einer Eparchie und Sitz eines Erzbischofs.
Das Fort Palamidi datirt aus byzantinischer Zeit, die heutigen Batterien und
Bastionen aber sind erst von den Venetianern erbaut worden. Noch sieht man an
mehren Stellen den Löwen von San Marco eingehauen, und noch stehen auf mehren
Geschützen die Namen und Wappen von Adelsgeschlechtern der Lagunenstadt. Die
Batterien aber tragen jetzt die Namen altgriechischer Helden, z.B. den des Miltiades.
Die Aussicht von hier oben ist überaus herrlich. In der Stadt gibt es außer der
Spiridiouskirche. in welcher Kapodistria von Georg Mavromichali ermordet wurde,
durchaus keine Merkwürdigkeiten von Bedeutung. Nahe bei der Vorstadt Pronia. hart
an der Straße nach Argos hat König Ludwig den in Griechenland umgekommnen
bayrischen Soldaten in einem in den lebendigen Fels eingehauenen Löwen ein Denk¬
mal errichten lassen.
Von Nauplia fährt der Reisende, welcher nach Tripolitza will, ohne den Rück¬
weg um die Bucht herum nach Argos zu machen, quer über die Bucht nach dem
Dorfe MyloS oder Myli. Das Fährboot bedarf dazu, wenn der Wind günstig ist.
eine kleine Stunde, eS kaun aber bei ungünstigem Winde geschehen, daß man einen
vollen Tag braucht, um die Strecke zurückzulegen. Myli. jetzt von Kolokotrvnis
besetzt, um den Insurgenten den Abzug nach Arkadien und den Zuzug Gleichgesinn¬
ter von dort und aus dem Innern des Peloponnes überhaupt abzuschneiden, ist ein
Oertchen, das fast nur aus Mühlen und Schenken besteht. Dahinter liegen Gärten
mit Gemäßer und hohen Bäumen, daneben streckt sich ein schilfbewachsener Morast
hin, in welchem man den berühmten lernäischen Sumpf erkannt hat. Die große
Schlange desselben ist von Herakles erlegt worden. Der Sumpf selbst aber mit
seinem giftigen Fieberhauch ist nicht weniger gefährlich, und keinem Fremden ist zu
rathen, sich hier länger als unumgänglich nothwendig aufzuhalten.
Neue Ausgabe von Beethoven's sämmtlichen Werken. Der zunehmende
Wohlstand und die steigende Kraft unseres Volkes erweist sich j» erfreulichster Weise da¬
durch, daß jetzt bereits in Deutschland durch die Theilnahme des Publicums größere
Unternehmungen von wissenschaftlichem und Kunstwerth getragen werden, an die
vor wenig Decennien noch nicht zu denken gewesen wäre. Zumal die Musik wird
dadurch gefördert. Vor etwa zehn Jahren hat sich eine Gesellschaft zur Herausgabe
der Werke von Sebastian Bach verbunden, deren Arbeiten erfreulichen Fortgang
nehmen. Vor wenig Jahren hat sich eine ähnlicher Verein für Händel gebildet.
Jetzt unternimmt die alte und angesehene Firma Breitkopf und Härtel, bei welcher
die beiden genannten Sammlungen erscheinen, aus eigenem Antriebe eine Ausgabe
der sämmtlichen Werke Beethoven's. Es soll die erste gleichmäßige, vollständige und
gesetzlich vollberechtigte Ausgabe werden. Dieses Blatt wird über das wichtige Unter¬
nehmen durch seinen musikalischen Referenten vom künstlerischen Standpunkt berichten,
es will sich nicht versagen, durch vorläufige Anzeige die Leser aufmerksam zu machen.
Die Ausgabe soll alle Beethoven'schen Werke, auch die vielen jetzt schon seit
Jahren vergriffenen und minder bekannten, sowie eine Anzahl noch gar nicht ver¬
öffentlichter umfassen, und zwar sollen die mehrstimmigen sowohl in Partitur, für
Bibliothek und Studium, als auch (mit wenigen Ausnahmen) in Stimmen für den
praktischen Gebrauch erscheinen, und beide Ausgaben auch getrennt verkauft werden.
Sie soll durch kritische Revision, durch genaue Vergleichung sowohl mit den
vorhandenen Autographen als auch mit den ersten Originaldrucken eine bis jetzt nicht
erreichte Genauigkeit erhalten. Diese letzteren wurden bekanntlich meistens von Beet¬
hoven selbst mit der größten Sorgfalt durchgesehen und corrigirt. Leider hat sich
auch an Beethoven's Werken bei Wicderabdrückcn nicht bloß Mehlige Fahrlässigkeit
versündigt, sondern unbefugte Hände haben in eitler Ueberhebung durch Zusätze und
Veränderungen den großen Meister interpolirt, so daß es hohe Zeit ist, das Echte
wieder zu voller Geltung zu bringen.
Für diese Revision sind bereits die tüchtigsten und zuverlässigsten Kräfte ge¬
wonnen, — wir nennen hier die Herren Hof-Kapellmeister or. Rietz, Kapellmeister
Reinecke, Univcrsitäts-Musikdirector Richter, Concertmeister David, Fr. Espagne, Vor¬
steher der Musikalischen Abtheilung der königlichen Bibliothek in Berlin. Außerdem
dürfen das Unternehmen auf die Mitwirkung und den Rath des Herrn Musikdirektor
Dr. Hauptmann, des Herrn Prof. O. Jahr und anderer anerkannter Musiker und
Musikgclchrten rechnen. Autographen, alte von Beethoven selbst revidirte Copien und
erste Drucke sind von den Besitzern mit großer Liberalität theils schon überlassen,
theils in sichere Aussicht gestellt. In andern wichtigen Beziehungen, wie für sichere
Correctur :c. sind geeignete Vorkehrungen getroffen.
Das große Werk erscheint in verschiedenen Abtheilungen. Instrumental- und
Gesangmusik, beide Abtheilungen in vielen Serien, auf jede Serie werden besondere
Subscriptionen angenommen.
Bereits sind die ersten Serien in guter Ausstattung zu mäßigem Preise erschienen.
Ilistoi^ ok ^nglanä kron tbs kalt ok >VoIso^ to elf cikiitli ok Kli^abstb,
5»nos ^ntlionz^ I?i-on6<z. Vol. I. II. I^ixniiz, I^roolib-ruf 1861.
In der großen auf Emancipation von den Fesseln der römischen Kirche
gerichteten Bewegung, welche im sechzehnten Jahrhundert Europa erfüllt, nimmt
England eine eben so eigenthümliche wie in ihren Folgen bedeutende Stel¬
lung ein. Welche Verschiedenheit und doch zugleich welche tiefe innere Ana¬
logie zeigt sich zwischen der deutschen Reformation und dem Schisma, welches
unter Heinrich dem Achten England von der römischen Kirche trennte! In
Deutschland ging die Reformation unmittelbar aus den sittlich-religiösen Be¬
dürfnissen des Volkes hervor; die Bewegung erscheint zusammengefaßt in der
Persönlichkeit eines gewaltigen Mannes, der den dunkelen Ahnungen des Vol¬
kes Ausdruck gibt und die ganze Nation mächtig in seine Bahnen mit sich
fortreißt; die Reform muß sich gegen den Willen der legalen Reichsgewalt
Bahn brechen und wird dadurch von vornherein eine Sache der populären
Opposition, der Protestation; endlich in Deutschland geht die Reform von
Anfang an mehr auf das Dogma, als auf die Verfassung der Kirche. Ganz
anders in England, Hier war die Bewegung in ihrem Beginn juridisch-
kanonistisch; den populäre» Kundgebungen war sie soweit als möglich ent¬
zogen; dnrch übereinstimmenden Beschluß des Königs und des Parlaments
wurden die einzelnen Schritte vollzogen, durch welche sich England vom Papst¬
thum loslöste; endlich in England geht die Bewegung zu Anfang nicht
auf das Dogma, sondern auf die Verfassung der Kirche. Der Gedanke Hein¬
rich's des Achten war. die päpstliche Einwirkung zu entfernen, dagegen die
katholischen Doctrinen, wie sie vorlagen, zu behaupten.
Dieser Gedanke aber enthält einen geschichtlichen Widerspruch. Unter
dem Einfluß des Papstthums war die katholische Doctrin ausgebildet; sie war
mit ihm unauflöslich verwachsen. Vom Papstthum abzufallen und das
katholische Dogma in seiner Reinheit zu behaupten war unmöglich. Schon
unter Heinrich dem Achten bildeten sich zwei Parteien, von denen die eine
danach strebte, die Herrschaft des Papstes wiederherzustellen, die andere auf
eine vollere Entwicklung des protestantischen Lehrbegriffs hoffte. Man mußte
entweder vorwärts oder zurück. Nachdem unter Maria eine kurze, aber blutige
katholische Reaction eingetreten war, entschied sich unter Elisabeth die prote¬
stantische Entwicklung Englands.
Diesen Zeitraum, welcher keinem anderen in der englischen Geschichte an
universalhistorischer Wichtigkeit nachsteht, hat Fronde in dem Werke, dessen
Anfang uns vorliegt, zu schildern begonnen. Die ersten beiden Bände reichen
vom Sturze Wolsey's (1529) bis zur Hinrichtung der Anna Boleyn (1536).
Fronde ist der entschiedenste Gegner des Papstthums. Mit allen seinen
Sympathien steht er consequent auf der Seite, welche sich von Rom zu
entfernen und zu befreien sucht. Doch macht ihn diese entschiedene Partci-
stellung nur in seltenen Fällen ungerecht. Fronde billigt das Verfahren, als
dessen Opfer der Bischof Fishcr von Rochester und Sir Thomas More fielen,
als eine politische Nothwendigkeit. Aber das hindert ihn nicht daran, ein
rührendes Bild der letzten Tage, welche Sir Thomas More im Tower ver¬
lebte, zu entwerfen, mit liebevoller Theilnahme die heitere Ruhe zu schildern,
mit welcher er ein Märtyrer für se^re Ueberzeugungen wurde. Wenn irgend¬
wo eine wirkliche Parteilichkeit in der Charakteristik hervortritt, so ist sie zu
Gunsten des Königs Heinrich des Achten. Fronde vergleicht diesen mit dem
Schwarzen Prinzen und mit dem Sieger von Agincourt. Alle Tugenden
werden auf seinen Scheitel gehäuft. Daß er unerschütterlich gegen die An¬
maßungen des Papstthums feststand, hat dem König das Herz Fronde's so
sehr gewonnen, daß dieser für alle seine kleinen Sünden und Schwächen voll¬
kommen blind wird. Bekannt ist die unanständige Eile, mit der Heinrich
der Achte schon am Tage nach Anna Boleyn's Hinrichtung sich wieder mit
Johanna Seymour verheirathete. Fronde sieht darin nur einen Beweis der
Gewissenhaftigkeit, mit welcher Heinrich seine Pflicht, sür einen Thronerben
in England zu sorgen erfüllte.!
Heinrich der Achte war eine reichbegabte, aber zugleich grobsinnliche Na¬
tur. Sein Abfall vom Papstthum wird veranlaßt durch die Schwierigkeiten,
welche der Papst der gewünschten Scheidung von seiner ersten Gemahlin Katharina
von Aragonien entgegensetzte. Aber wie kurzsichtig sind dennoch die, welche
die Kirchenreformation in England von der sündlichen Leidenschaft Heinrich's
für Anna Boleyn herleiten! Die dies thun, begehen damit nur die gewöhn¬
liche Verwechselung der letzten Veranlassung mit der tiefer liegenden Ursache.
Lange vor Heinrich dem Achten war eine reformntorische Bewegung in Eng¬
land vorhanden. Sie beginnt schon im vierzehnten Jahrhundert mit John
Wycliffe. durch dessen Lehre bekanntlich später in Böhmen Huß für seine Re-
formbestrebungen erweckt wurde. An Wycliffe schloß sich die Secte der Lol-
lards, welche, wenn auch im Laufe des fünfzehnten Jahrhunderts zurückgc-
drängt, doch fortwährend in England einen Kern der reformatorischen,
namentlich antipävstlichcn Bewegung erhielten. Einen neuen Aufschwung er¬
hielt diese Strömung, als in den ersten Jahren der Regierung Heinrich's des
Achten die Ideen, welche von Wittenberg ausgingen, sich nach England ver¬
breiteten. Damals bildete sich in London eine Gesellschaft, welche sich die
„Verbindung der christlichen Brüder" nannte. Sie bestand aus armen Leuten,
Handwerkern, Kaufleuten, wenigen, sehr wenigen aus der Geistlichkeit. Aber
sie war sorgfältig organisirt; ihre Agenten waren überall im Lande zerstreut
und verbreiteten Testamente und Tractate; überall ließen sich Personen, welche
ihr Leben für die Sache des reinen Glaubens wagen wollten, in die Gesell¬
schaft aufnehmen. Tyndal übersetzte unter Luther's eigener Anleitung die
Evangelien und Episteln ins Englische. In Antwerpen ward eine Drucker¬
presse errichtet; von hier aus wurden Tyndal's Bibel und Uebersetzungen der
besten deutschen Bücher in England verbreitet. Selbst die Universität Oxford
war von der reformatorischen Bewegung angesteckt.
So war die Ernte seit lange gereift. Die Gegcnanstrengungen waren
nicht minder energisch gewesen. Seit dem Beginn des sechzehnten Jahrhun¬
derts sind die Protokolle der bischöflichen Gerichtshöfe in England mit Be¬
richten über Ketzerverfolgungen angefüllt. Zahlreiche Märtyrer waren gefallen,
denen die Messen, die Pilgerfahrten, die Jndulgenzen, der Ablaßhandel un¬
erträglich waren; welche sich zum Widerstand erhoben und erklärt hatten, daß,
was immer die Wahrheit sein möge, dies Alles Lüge sei. Gegen diese aus
dem Volke emporsteigende Bewegung hatten die Bischöfe eifrig mit Gefäng¬
niß und Scheiterhaufen gekämpft. Smithsield ist der Platz, wo regelmäßig
die Opfer der Londoner Ketzergerichte verbrannt wurden. Aber der reforma-
torische Geist war nicht zu unterdrücken. Mit der Zahl der Bestrafungen wuchs
immer die Zahl der Uebertreter, und wie man sagte, als Patrick Hamilton
den Feuertod erlitt, der „Rauch der Märtyrer steckte Alle an, welche von ihm
angeweht wurden."
Der Boden Englands war für die Saat der Reformation reichlich ge¬
düngt, als Heinrich der Achte wegen seiner Scheidung von Katharina mit
der päpstlichen Curie in Streit gerieth. Wie zeigt sich doch in Heinrich die
eigenthümliche Ironie der Geschichte! Er begann als der eifrigste Vertheidiger
des katholischen Glaubens und endete damit, daß er sein Reich von der Ver¬
bindung mit dem päpstlichen Stuhl losriß. In früheren Jahren war er
selbst als Schriftsteller gegen Luther zur Vertheidigung katholischer Dogmen
aufgetreten. Die Streitschriften des deutschen Reformators gegen seinen könig.
lichen Widersacher lassen wenigstens an Derbheit nichts zu wünschen übrig.
„Tat ein künig von Engeland sein lügen unverschampt uß speyen. so tat ich
sie jm frölich wider in seinen Halß stoßen, denn damit leftert er alle meine
christliche Ine. und schmiert seinen drek an die kröne meines künigs der erer,
nemlich Christi, des lere ich habe, darumb fois in nicht wundern, ob ich den
drek von meines Herrn kröne uf seine kröne schaler, und sage vor aller wett
daß der künig von Engeland ein iüguer ist und ein unbildder Mann." Von
dein Papst Leo dein Zehnten aber wurde Heinrich für seine Schriftsiellerei mit
dem Titel eines Defensor fidei belohnt,. Einige Jahre später, am 23. März
1531, sprach Papst Clemens der Siebente den Bann über König Heinrich
aus; dieser unterhandelte mit den protestantischen Fürsten Deutschlands über
ein Bündniß und schicke Gesandte aus den Bundestag nach Schmalkalden;
er arbeitete selbst an einem Buche gegen die päpstlichen Rechte und hatte
nichts dagegen einzuwenden, daß an seinem Hofe Possen zur Verspottung des
Papstes und der Cardlnöle aufgeführt wurde».
So hatten sich die Zeiten geändert. Die Frage, an welcher sich die
Umwandlung in der Stellung Heinrich's zum päpstlichen Stuhl allmälig voll¬
zog, war die Scheidung des Königs von seiner ersten Gemahlin. Fronde hat
die Fäden, welche sich in diesem langen und verwickelte» Proceß mannigfach
verschlingen, mit großer Sorgfalt entwirrt. Weit entfernt, daß nur persönliche
Leidenschaft und Interessen das treibende Motiv in dieser Angelegenheit ge¬
wesen wären, handelte es sich vielmehr zu gleicher Zeit um die wichtigsten
Fragen der innern und äußere» Politik. Nur so e>kia>t es sich, daß in allen
Stadien dieser langwierigen Verhandlung das Parlament und die öffentliche
Meinung Englands consequent das Vorgehen des Königs unterstützte.
In erster Linie stand die Unsicherheit der Erbfolge. Als dem König im
Jahr 1515 eine Tochter, die »aehherige Königin Marie Tudor geboren wurde,
machte ihm Jemand die Andeutung, die Geburt eines Sohnes mochte noch
wünschenswürdiger gewesen sein. Heinrich gab rasch zur Antwort, sie seien
noch beide jung, er und seine Gemahlin; warum sollten sie nicht noch einen
Sohn bekomme»? Aber diese Hoffnung war allmälig geschwunden. Die
Königin war i» ein Älter getreten, welches die Hoffnung weiterer Nachkom¬
menschaft ausschloß, und die muthmnßliche Thronerbin war eine Prinzessin,
deren Gesundheit vo» ihrer Kindheit an schwach gewesen war.
Man muß sich hier des Zustandes erinnern, in welchem England sich
damals desund. Etwa vierzig Jahre waren seit der Schlacht von Bosworth
verflossen, durch welche Heinrich der Siebente den, langen und blutigen Kampf
der rothen und weißen Nose ein Ende gemacht hatte. Aber mir wegen all¬
gemeiner Erschöpfung hatte der Krieg aufgehört, nicht weil nicht der Wille
vorhanden gewesen wäre ihn wieder aufzunehmen. Heinrich der Siebente
lebte fortwährend in der Atmosphäre einer nur suspendirten Empörung. Auf
festeren Grundlagen beruhte schon der Thron seines Sohnes Heinrich des
Achten. Das Land hatte sich erholt. Der wachsende Wohlstand ließ die
Vortheile des Friedens lebhafter empfinden. Während noch zahlreiche un¬
ruhige Elemente vorhanden waren, dachte der weisere Theil der Nation nur
mit Besorgniß an eine Wiederholung der frühern Unruhen. Ein Erbfolge-
krieg war der vorherrschende Gegenstand des Schreckens unter den englischen
Staatsmännern; die sichere Begründung der herrschenden Familie war das
bestimmende Princip ihrer Handlungen.
Die Erbfolge aber war, wenn Heinrich der Achte keinen männlichen Er¬
ben hinterließ, nicht gesichert. Obgleich die Möglichkeit einer weiblichen Erb¬
folge durch kein Gesetz verneint war, so hatte doch noch nie ein Weib >n
England regiert. Die Zukunft, welcher England entgegenging, war also in
jedem Falle dunkel und ungewiß. Entweder lebte die Prinzessin Maria beim
Tode ihres Vaters; dann war ihre Thronbesteigung eine Versuchung zur Empö¬
rung. Oder sie lebte nicht mehr, und der König hinterließ keine andere»
Kinder; dann war ein Bürgerkrieg unvermeidlich. Der nächste Erbe der
Blutsverwandtschaft nach war Heinrich's Schwestersohn, König Jacob von
Schottland. User wie sehr anch die Vereinigung der ganzen Insel unter einer
Krone wünschenswerth sein Mochte, die damalige Stimmung des englischen
Volkes ließ nicht daran denken. Die Steine in den Straßen Londons, wie
es in einer gleichzeitigen Quelle heißt, würden sich erheben gegen einen König
von Schottland, der einen Anspruch ans die englische Regierung erhöbe. Das
Parlament selbst erklärte in formeller Weise, daß es sich jedem Versuch des
Ichottischeu Königs auf's Aeußerste widersetze» werde.
Aber Jacob würde das Recht der Engländer, ih» zu verweisen, Nicht
anerkannt haben. Er hätte sein Erbrecht mit der Kraft Schottlands und
wahrscheinlich mit der Unterstützung Frankreichs geltend gemacht. Und wenn
er dies that, so fand er sich gegenüber el» uneiniges E»gla»d. Den» die
Elemente der alten Parteien glühten noch unter der Asche. Dem Herzog von
Buckingham hatte es vor Kurzem eine Partei anch im Volke verschafft, daß er
behauptete, er sei der nächste Erbe zur Kraue u»d werde sie si,y nicht nehme»
lassen. Er war dafür hingerichtet worden. Aber daneben bestand im Geheimen
während der ganzen Regierung Heinrich'S des Achten eine Partei der weiße»
Nose. An ihrer Spitze stand damals die Schwester des ermordeten Grafen
vo» Warwick, die Gräsi» von Salisbrny. Diese bedeutende Frau hatte die
gewaltige Natur der Plantagenets geerbt. Um sie gruppirte» sich die mäch¬
tigen Häuser der Courtenay, der Neville, der Warwick. Ihre Abstammung
vo» den Planlagenets war reiner als die des Königs; n»d we»n Heinrich ohne
männliche Nachkommenschaft starb, so würde wahrscheinlich halb England sich
entweder für einen ihrer Söhne oder für den Marquis von Exeter. den Enkel
Eduard's des Vierten erklärt haben.
So waren die Aussichten i» die Zukunft, als zuerst im Jahre 1527
Zweifel an der Rechtmnßigkeit der Ehe Heinrich's mit Katharina von Ara-
gonien erhoben wurden. Gründe der inneren und äußeren Politik wirkten
hier mit religiösen Bedenken zusammen. Mit den letzteren verhielt es sich so.
Katharina war ursprünglich mit Prinz Arthur, dem älteren Bruder Heinrich's
des Achten, vermählt gewesen. Aber schon fünf Monate nach der Hochzeit
starb Prinz Arthur, erst sechszehn Jahre alt. Man weiß nicht, ob er die Ehe
wirklich vollzogen hatte. Die beiden Väter, Heinrich der Siebente und Fer¬
dinand der Katholische, hatten gedacht, durch diese Ehe der großen consolidir-
ten Macht von Frankreich ein spanisch-englisches Familienbündniß, welches
auch Oestreich-Burgund und Portugal umfassen sollte, entgegen zu stellen.
Dieser politische Beweggrund dauerte auch nach dem Tode Arthur's fort. Man
wollte die einmal begründete Familicnallianz nicht aufgeben. Ferdinand
machte den Vorschlag, die Infantin nun mit Heinrich, dem Bruder des Ver¬
storbenen, zu vermählen. Aber Heinrich war damals erst zwölf Jahr alt;
an eine Vollziehung der Ehe war also für den Angenblick nicht zu denken.
Aber außerdem stand das kirchliche Hinderniß entgegen, daß eine Ehe mit
dem Weibe des Bruders in der Bibel verboten ist. Nur widerwillig ertheilte
Papst Julius der Zweite die nothwendige Dispensation von dieser Vorschrift,
Aber schon damals wurden Bedenken gegen die Gültigkeit dieser Ermächtigung
laut. In England selbst erhoben sich Stimmen, unter ihnen der Erzbischof
von Canterbury, welche meinten, die dispensirende Gewalt des Papstes gehe
nicht so weit, daß er von ausdrücklichen Vorschriften der Bibel entbinden
könne. Nichtsdestoweniger fand die Verlobung statt, als Heinrich dreizehn
Jahre alt war. Aber im folgenden Jahre protestirte dieser ausdrücklich gegen
die Giltigkeit der Verpflichtungen, die in seinem Namen eingegangen waren,
und sein Vater, der selbst Gewissensscrupel zu empfinden schien, war mit dieser
Verwahrung einverstanden. So stand die Sache unentschieden hin, bis Hein¬
rich der Siebente im I. 1509 starb. Katharina war während dieser ganzen
Zeit in England geblieben.
Bei seiner Thronbesteigung war Heinrich der Achte achtzehn Jahr alt.
Er entschloß sich nun ohne Verzug, die Vermählung mit seines Bruders Wittwe
zu vollziehen. Die Verschiedenheit des Alters (sie war sechs ,Jahre älter als
Heinrich) schien von geringer Bedeutung, da sie beide verhältnißmäßig jung
waren. Für eine Reihe von Jahren ging Alles gut, und die ursprünglichen
Bedenken schienen vergessen zu sein. Hätte Heinrich einen Sohn und Erben
gehabt, so würde die Ehescheidungssrage wahrscheinlich nie ausgeworfen wor¬
den sein.
Aber ihm lebte nur eine Tochter. Drei Knaben waren ihm in dieser
Ehe geboren, aber sie starben unmittelbar nach .der Geburt. Die Erbfolge
war nicht gesichert, und schon trat der König in das mittlere Lebensalter.
Nun wachten die alten Scrupel wieder auf. Der Beichtvater des Königs
selbst regte in ihm solche Bedenken an. Die in den Büchern Mose gegen
eine solche Ehe angedrohte Strafe hatte sich fast wörtlich erfüllt. „Wenn
jemand seines Bruders Weib nimmt, das ist eine schändliche That; die sollen
ohne Kinder sein, darum, daß er hat seines Bruders Schaalen geblößet." Dem
gläubig-abergläubischen Sinn des Königs entspricht es ganz, daß er in seiner
Kinderlosigkeit eine göttliche Strafe sah. Gewiß ist. daß diese Scrupel nicht
ein bloßer Vorwand waren, um eine andere Verbindung möglich zu machen.
Denn sie waren entstanden und laut geworden, bevor der König Anna Boleyn
je gesehen hatte.
Dazu kam, daß das persönliche Verhältniß zu Katharina täglich unleid¬
licher wurde. Sie sowohl wie der König waren stolz, herrschsüchtig, eigensinnig.
Aber Heinrich war zugleich heißblütig, leidenschaftlich, er liebte heitere Ge¬
sellschaft und hatte eine Hinneigung zu derber Sinnlichkeit; Katharina dage¬
gen war kalt, zurückhaltend, ceremoniell. sie ergab sich mehr und mehr den
spanischen Formen einer strengen Frömmigkeit und entfremdete sich dadurch
den König, der ohnehin in mancherlei romantische Verhältnisse verwickelt war.
Zu diesen Beweggründen der inneren Politik, zu den religiösen Bedenken,
zu den persönlichen Verstimmungen trat jetzt ein Umschwung in der gesamm-
ten Lage der auswärtigen Politik. Es ist der allgemeine Charakter dieser
Zeit, daß Familienverbindungen in der Regel als der Ausdruck politischer
Allianzen betrachtet werden. Als die spanische Infantin mit dem englischen
Thronfolger vermählt wurde, war dies der Ausdruck einer gegen Frankreich
gerichteten Allianz von England und Spanien-Burgund gewesen. Jetzt löste
sich dieses Bündniß. und an die Stelle desselben trat eine Annäherung zwischen
Frankreich und England mit der ausgesprochenen Absicht, ein Gegengewicht
gegen die die Unabhängigkeit aller Staaten bedrohende Weltmacht Karl's des
Fünften' zu bilden.
Merkwürdig ist nun, wie der erste Anstoß zur Lösung der englisch¬
spanischen Allianz vom päpstlichen Stuhle ausging. Nach der Schlacht von
Pavia (1525), nach der Einnahme Roms durch die kaiserlichen Truppen (1527)
galt Karl der Fünfte als der Führer der nntipäpstlichen Partei in Europa.
Unter den Truppen des Connetable von Bourbon, welche Rom erstürmten,
waren zahlreiche Lutheraner; und während der Papst Clemens der Siebente
in der Engelsburg eingeschlossen war. ließen die Landsknechte des alten Georg
von Frundsberg den Martin Luther leben und führten vor den Augen des
heiligen Vaters die ärgerlichsten Processionen auf. in denen dieser selbst und
die Cardinäle in lächerlichen Verkleidungen die Hauptrolle spielten. Während
so das Kriegsvolk des Kaisers den Papst verspottete, war Heinrich der Achte
in einer literarischen Fehde mit Luther begriffen. Kein Wunder also, daß
man in der Umgebung des Papstes den Gedanken faßte, gegen Karl den
Fünften sich auf den englischen König zu stützen und zwischen diesem und
Franz dem Ersten von Frankreich eine Allianz zu Stande zu bringen.
In England fanden diese Gedanken günstigere Aufnahme, als man selbst
in Rom gehofft hatte. Der allmächtige Minister Heinrich's des Achten war
damals der Cardinal Wolsey, welcher dem König die Last der Geschäfte ab¬
nahm und sich bei ihm dadurch in Gunst zu setzen wußte, daß er mit gleichem
Talent über Liebesgeschichten wie über den heiligen Thomas von Aquino
sprach. Der sittsam-ernsten Königin war dieser anmaßende und leichtfertige
Günstling in tiefster Seele verhaßt. Mit Kaiser Karl dem Fünften war Wol¬
sey seit der letzten Papstwnhl gespannt. Wolsey hatte gehofft den päpstlichen
Stuhl zu besteigen, und der Kaiser hatte ihm versprochen, ihn zu dieser Würde
zu beföldern. Als darauf Papst Hadrian starb, hatte der Kaiser seinen Ein¬
fluß im Conclave nicht so nachdrücklich für Wolsey geltend gemacht, wie die¬
ser erwartet haben mochte. Wolsey hat es ihm nie verziehen. Die Königin
Katharina aber, welche an ihrem Neffen den lebhaftesten Antheil nahm, stand
dem Cardinal im Wege, wenn dieser den König Heinrich den Achten mit
Karl dem Fünften zu verfeinden gedachte.
Wolsey's Gedanke war damals, daß der Papst die von seinem Vorfahr
Julius dem Zweiten ertheilte Dispensation zurücknehmen und die Ehe mit
Katharina für nichtig erklären solle. Gegenüber der Uebermacht des Kaisers,
die den Papst bedrängte, war die Unterstützung Englands von großer Bedeu¬
tung, und Wolsey war fest überzeugt, daß die päpstliche Curie den Preis,
welchen er für die Hülfe Englands verlangte, nämlich die Widerrufung der
Dispensation, ohne Bedenken bewilligen werde. In diesem Sinne sprach er
sich gegen Heinrich selbst mit der größten Zuversicht aus. War die Ehe für
nichtig erklärt, so sollte der König nach Wolsey's Plan sich mit einer Schwe¬
ster oder Tochter bis französischen Königs vermählen.
Ueberhaupt beschäftigte Wolsey sich damals mit weitaussehenden Plänen und
Combinationen. Im Geiste sah er sich schon als den Wiederhersteller des
katholischen Glaubens, als den Befreier von Europa. Sobald der König
wieder verheirathet und die Erbfolge gesichert war, wollte er die Kirche von
England reinigen und die Kloster, welche sehr corrumpirt waren, in Pflanz¬
stätten orthodoxer Frömmigkeit und Gelehrsamkeit umwandeln. Die Fehden
mit Frankreich sollten für immer aufhören. Und für eine heilige Sache geeinigt
sollten die beiden Länder das Papstthum wiederherstellen, die deutschen Ketze¬
reien niederwerfen, den Kaiser absetzen und statt seiner einen treuen Diener
der Kirche auf den kaiserlichen Thron erheben. Wenn so Europa wieder zum
Frieden gebracht wär, sollte es zu einem großen Kreuzzug gegen die Scharren
des Halbmondes geeinigt werden.
Solche großartige Visionen äußerte Wolsey gelegentlich in vertrauten Ge¬
sprächen und deutete sie hie und da in seinen Korrespondenzen an. Zunächst
kam Alles darauf an, wie der päpstliche Stuhl sich zur Ehescheidungsfrage
stellen werde. Die langwierigen und verwickelten Verhandlungen, welche hier¬
über mit Clemens dem Siebenten geführt sind, hat Fronde mit großer Sorg¬
falt nach den zuverlässigsten Quellen verfolgt. Wir müßten den hier gestatte¬
ten Raum weit überschreiten, wenn wir den Einzelheiten dieser diplomatischen
Jrrgänge folgen wollten, welche sich durch sieben Jahre, von 1527 bis 1534,
hinziehen. Der Charakter dieser Verhandlungen bleibt von Anfang bis zu
Ende derselbe. Sie sind eine ganz besonders sür unsere Zeit lehrreiche Illu¬
stration zu dem Satze, daß die weltliche Herrschaft des Papstes seiner geifl>
liehen Würde und den kirchlichen Interessen des Katholicismus zum Schaden
gereicht. Die Frage, welche dem Papst Clemens dem Siebenten zur Ent¬
scheidung vorgelegt wurde, war die, ob sein Vorfahr Julius der Zweite be
rechtigt gewesen war, von einem biblischen Ehehinderniß zu dispenstren.
Wurde diese Frage bejaht, so war die Ehe Heinrichs mit Katharina giltig;
wurde sie verneint, so war die Ehe nichtig. Offenbar ist dies eine Frage des
kanonischen Rechts. Für Clemens den Siebenten aber war es eine Frage
der Politik. So wie die politischen Machtverhältnisse sich änderten, erschien
dem Papst die Ehescheidungssrage in einem anderen Licht. So lange er für
seine weltlichen Interessen die Unterstützung der englisch-französischen Allianz
gegen den Kaiser bedürfte, war er geneigt, in der Ehcscheidungssache die
Wünsche Heinrich's des Achten zu erfüllen. Sobald aber dem Souverän des
Kirchenstaats die Verbindung mit Karl dem Fünften Wünschenswerther erschien,
erinnerte sich sogleich der Papst, daß Katharina die Tante des Kaisers war
und daß sie in England die spanisch-burgundischen Interessen vertrat. Dies
ist der einfache Schlüssel zu der zweideutigen und schwankenden Haltung des
Papstes in dieser ganzen Angelegenheit. Um seiner weltlichen Interessen wil¬
len compromittirte Clemens der Siebente die Würde des Papstthums, und
trieb den König, welcher bis dahin der ergebenste Anhänger der Curie ge¬
wesen war. zum offenen Bruch mit dem päpstlichen Stuhl. Die Reformation
würde in England eingetreten sein, auch wenn die Ehescheidungssache einen
anderen Verlauf genommen hätte; aber Heinrich der Achte wäre unter den
entschiedensten Gegnern der Reformation gewesen, wenn ihn nicht der Papst
selbst durch seinen Wankelmuth und seine Unzuverlässigkeit von sich entfernt
hätte.
Beim Beginn der Unterhandlungen zeigte Clemens sich den Wünschen des
Königs wohl geneigt, aber er wollte keinen positiven Schritt wagen. Noch
fürchtete er den Kaiser zu sehr, aus dessen Gefangenschaft er eben erst nach
Orvieto entkommen war. Noch wußte er nicht, ob die englisch-französische
Macht ihn vor den Folgen eines offenen Bruches mit Karl dem Fünften werde
schützen können. Sein einziges Bemühen war, weder Ja noch Nein zu sa¬
gen, nichts zu thun, Niemanden zu beleidigen, und vor allen Dingen Zeit zu
gewinnen. Schon damals sagte Gardiner, der spätere Bischof von Winchester,
dem Papste vorher, daß, wenn der Konig keine Gerechtigkeit bei ihm finde,
er solche sich selbst verschaffen werde. Im Frühjahr 1528 drang eine fran¬
zösische Armee unter Lautrcc aus dem nördlichen Italien, wo sie sich den
Winter über gehalten hatte, nach Süden vor, besiegte in mehreren kleinen Ge¬
fechten die Kaiserlichen und zwang diese, Rom zu verlassen und sich nach
Neapel zurückzuziehen. Nun faßte Clemens Muth. Er schickte den Cardinal
Campeggio nach England, um gemeinschaftlich mit Wolscy die Sache zu
untersuchen und zu entscheiden. Aber ehe noch Campeggio in England an¬
kam, hatte das Glück der Waffen sich für den Kaiser entschieden. Die Ar¬
mee, welche Lautrec nach Italien geführt hatte, ward im Sommer 1528 durch
die kaiserlichen Truppen, noch mehr durch eine bösartige Seuche vernichtet.
Der Kaiser, welcher bald auch in der Lombardei die Oberhand behielt, war
wieder allmächtig in Italien. Jetzt hielt Clemens es an der Zeit, seinen
Frieden zu schließen; Karl der Fünfte verzieh ihm unter der Bedingung, daß
er keinen Anstoß mehr geben wolle. Nun erhielt Campeggio die Weisung,
auf alle Weise zu zögern, jedenfalls nichts zu entscheiden. Endlich als Hein¬
rich der Achte in jedem Augenblick ein Urtheil erwartete, ward Campeggio
zurückgerufen unter dem Vorwand, daß die Ferien der römischen Nota eine
Unterbrechung des Verfahrens erforderlich machten.
Hier war der Punkt, wo für Heinrich in seinem Verhältniß zum Papst
die Krisis eintrat. Er schickte Sir Francis Bryan nach Rom und ließ dem
Papste ankündigen, nicht mehr in versteckten Winken, sondern offen und dro¬
hend, daß, wenn von Rom keine Hilfe komme, er die. Sache dem Parlament
vorlegen werde, um sie nach den Gesetzen seines eigenen Landes erledigen zu
lassen. Nichts desto weniger widerrief. Clemens im Juli 1529 die Vollmacht,
welche er Campeggio und Wolsey ertheilt hatte, und avocirte die Eheschci-
dungssache nach Rom. So war der Plan gescheitert, auf welchen Wolsey
alle seine Hoffnung gesetzt hatte. Mit seinem Plane siel er selbst. Wolsey
war zugleich päpstlicher Legat und englischer Minister. Der König wollte
sich jetzt der päpstlichen Gewalt widersetzen, der Legat wollte sich ihr unter¬
werfen. Also wurde Wolscy entlassen. Die bedeutendsten Mitglieder des neuen
Cabinets gehörten der alten Aristokratie an, welche Wolscy als einen Empor¬
kömmling von jeher haßte. An die Spitze der Geschäfte traten die Herzöge
von Norfolk und von Suffolk, beide durch Geburt und durch ihre Feldzüge
in Frankreich und Schottland glänzende und populäre Namen und Beide er>
klärte Feinde der geistlichen Herrschaft.
In Rom hatte man sich über die in England herrschende Stimmung voll¬
ständig getäuscht. Sobald Heinrich der Achte entschlossen war, sich gegen den
Ausspruch des Papstes auf sein Parlament zu stützen, war es mit der Au¬
torität des Papstes in England zu Ende. Das Volk empfand es sehr wohl,
daß die Interessen Englands der Entscheidung eines fremden Fürsten unter¬
worfen wurden. Der Kaiser, nicht der Papst war in Wirklichkeit der Richter,
der die Entscheidung gab. Hiergegen empörte sich mit eifersüchtigen Stolz das
Nationalgefühl der Engländer.
Wolscy's Plan war bis dahin eine französisch? Vermählung gewesen;
davon ist von nun an nicht mehr die Rede. Erst jetzt tritt Anna Boleyn
in den Vordergrund. Sie war eine Nichte des Herzogs von Norfolk und also
mit den vornehmsten Geschlechtern des Landes verwandt. Sie gehörte zu den
Ehrendamen der Königin Katharma, und ward bei Hofe wegen ihrer Talente
und ihrer Schönheit ausgezeichnet. Auf ebenbürtige Vermählungen legte man
in England kein großes Gewicht. Der ganze Adel nahm Partei für die Ver¬
bindung mit Anna Boleyn.
So war die Lage der Dinge, als am 3. November 1529 das Parlament
eröffnet wurde. Mit gespannter Erwartung blickte man den Verhandlungen
dieser Versammlung entgegen. Kaum das lange Parlament steht an histori¬
scher Bedeutung höher. Bis zum Jahre 1536 bestand dieses Parlament.
Bei jedem entscheidenden Schritt, durch welchen England sich weiter von dem
Zusammenhang mit dem Papstthum löste, stand diese Versammlung mit un¬
erschütterlicher Festigkeit auf der Seite des Königs. Man sieht, in welcher
Richtung der Strom der öffentlichen Meinung ging. In manchen anderen
Punkten machte das Parlament lebhafte Opposition; aber in der Tendenz ge¬
gen die Uebergriffe der geistlichen Gewalt war es noch entschiedener als der
König selbst. Seit lange war man unzufrieden über die ungehörigen Exem-
tionen der Geistlichen von der weltlichen Gerichtsbarkeit, und noch mehr über
die Mißbräuche und Uebergriffe der geistlichen Gerichtsbarkeit. Die geistliche
Jurisdiction war bei der unter den Geistlichen herrschenden Sittenlosigkeit um
so unerträglicher. Abgesehen von dem unzüchtigen Verkehr zwischen Mönchen
und Nonnen, der zur Tagesordnung gehörte, finden wir bei Fronde Beispiele
von dem abscheulichsten Mißbrauch des Beichtstuhls. Es gab sogar damals
in London besondere Bordelle für den ausschließlichen Gebrauch von Geist¬
lichen.
Kein Wunder, daß sich das Parlament zuerst gegen diese Mißbräuche
wandte. Das Unterhaus eröffnete seine Thätigkeit mit einer ausführlichen
Beschwerde gegen die geistlichen Gerichtshöfe; der König wird gebeten, die
bisherigen Mißbräuche abzustellen und durch gute Gesetze seine geistlichen und
weltlichen Unterthanen mit einander zu versöhnen, die Uebertreter aber mit den
strengsten Strafen zu belegen.' Von einer Mitwirkung des Papstes hierbei ist
schon nicht mehr die Rede; dagegen wird der König gleich in diesem ersten
vom Parlament ausgehenden Actenstücke bezeichnet als „das einzige Haupt,
der souveräne Herr und Protector sowohl der geistlichen als auch der welt¬
lichen Unterthanen." Durch dieses Wort riß man sich von dem Zusammen¬
hange mit dem geistlichen Oberhaupt der katholischen Kirche los. Kein Zwei¬
fel, daß das Unterhaus diese Absicht hegte und sich derselben vollkommen be¬
wußt war; während seiner siebenjährigen Dauer hat es diese Absicht nie
verleugnet. Nachdem er die Thätigkeit dieses Parlaments bis zu seiner Aus¬
lösung (1536) begleitet hat. preist Fronde die Bedeutung desselben mit folgen¬
den Worten:
„Das Unterhaus ist uns nur als eine Abstraction bekannt. Die Debatten
sind verloren, und die Details seiner Thätigkeit sind uns nur in matt durch¬
schimmernden Strahlen sichtbar. Wir haben einen auszüglichen Bericht über
zwei Sitzungen des Oberhauses; aber selbst diese thnlwcise Aushilfe läßt
uns bei den Gemeinen im Stich; und die Lords waren in dieser Angelegenheit
ein Körper von secundärer Bedeutung. Die Lords hatten aufgehört,, die Lei¬
ter des englischen Volks zu sein; sie waren mehr ein Schmuck als eine Macht;
unter der Leitung des Conseils folgten sie wie der Strom sie trieb, während
sie einzeln, wenn sie gewagt hätten, einen ganz anderen Weg eingeschlagen
haben würden. Durch das Unterhaus ward das Werk vollbracht; dieses
stellte den ersten Antrag; dieses und der König führten die Sache zum Siege.
Diese eine Versammlung von Männern, die uns jetzt nur in undeutlichem
Licht erscheinen, die bei dem Zusammensturz der Verwaltung Wolscy's ihre
Thätigkeit eröffneten, hatte eine Revolution. welche die Grundlagen des
Staats umwälzte, begonnen und vollendet. Sie fanden England in Abhängig¬
keit von einer fremden Macht; sie ließen es als eine freie Nation. Sie fan¬
den es unter dem Despotismus einer Kirche, die mit Krankheitsstoffen erfüllt
war; sie hatten die Hände dieser Kirche gebunden; sie hatten sie unter das
Messer gebracht und ihre von Fäulniß ergriffenen Glieder abgeschnitten; indem
sie ihr ihr Nessusgewand von Glanz und Macht abzogen, hatten sie mit Ge-
walt in ihr die Erinnerung an ihren höheren Beruf erweckt. Die Elemente
einer weit tiefer greifenden Veränderung waren in Gährung, einer Verände¬
rung nicht in der Gestaltung der äußeren Autorität, sondern in dem Glauben
und in den Ueberzeugungen, welche das Leben der Seele berührten. Dies
stand noch bevor, und in so weit war das Werk nur der einleitende Schritt
oder das Vorspiel zu einem ernsteren Kampf. Aber wo der Feind, der besiegt
werden soll, stark ist nicht an eigenthümlicher Lebenskraft, sondern durch eine
verblendende Autorität und durch die Zaubermittel des Aberglaubens, da
gewinnen in Wahrheit diejenigen die Schlacht, welche den ersten Streich
führen, welche das Götzenbild seiner Schrecken berauben, indem sie ihm Trotz
zu bieten wagen."
Die angeführten Worte zeigen die Auffassung Fronde's. Er steht un¬
bedingt auf der Seite der Reformation. Von diesem Standpunkte aus ver¬
folgt er die vielfach verschlungenen Fäden der Unterhandlung, welche nach
Campeggio's Abberufung noch einige Jahre zwischen Heinrich, dem Papst,
und dein König von Frankreich geführt wurden. Der Papst suchte immer
neue Ausflüchte; aber es war klar, daß er in seiner Abhängigkeit von Karl
dem Fünften nie eine den Wünschen Heinrich's entsprechende Entscheidung
geben werde. Endlich war Heinrich der Achte des Wartens müde und hei-
rathete Anna Boleyn, noch bevor seine Ehe mit Katharina aufgelöst war,
im Januar 1533. Ein Act des Parlaments verbot jede Appellation von
geistlichen Richtern an den Papst. Beide Häuser erklärten, daß Papst Julius
der Zweite, indem er die Erlaubniß zur Heirath Heinrich's mit Katharina er¬
theilte, seine Befugniß überschritten habe und daß also diese Ehe von Anfang
an nichtig war. Dann ward unter dem Vorsitz des Erzbischofs Crnnmcr ein
geistlicher Gerichtshof gebildet, welcher Katharina nach Dunstablc vorlud.
Katharina erkannte die Competenz des Gerichtshofs nicht an, und weigerte
sich zu erscheinen. Das Gericht schritt nichts desto weniger vor, und
am 23. Mai verkündete Cranmer das Urtheil, daß die Ehe von Anfang
an null und nichtig gewesen sei. Es war die einfache Consequenz dieses
Urtheils, daß Katharina von jetzt an officiell nickt mehr als Königin, son¬
dern nur noch als Wittwe des Prinzen Arthur, als Princeß Dowager betrach¬
tet wurde. Dann ward Anna Boleyn am 31. Mai als Königin gekrönt.
Das Volk, welches von ihr einen Erben der Krone erwartete, jubelte ihr zu.
Schon trug sie ein Kind unter dem Herzen, zwar nicht einen Sohn, sondern
die künftige Königin Elisabeth.
Vergeblich versuchte Franz der Erste von Frankreich noch einmal zwischen
dem Papst und Heinrich zu vermitteln. Die spanische Partei hatte am römi¬
schen Hofe die Oberhand. Am 23. März 1534 erklärte Clemens der Siebente
in Uebereinstimmung mit der Majorität der Cardinäle, daß die ursprüngliche
Heirath giltig und daß die Dispensation, durch welche sie erlaubt wurde,
gesetzmäßig gewesen sei. Demgemäß wurde Heinrich, falls er diesem Urtheil
sich nicht unterwerfen sollte, für ausgeschlossen von der Gemeinschaft der
Kirche erklärt, und seine Unterthanen wurden von der Pflicht der Treue gegen
ihn entbunden. Aber die Donner des Vaticans schreckten in England nicht
mehr. Die Antwort aus diese Sentenz bestand in der Vernichtung der Su¬
prematie des Papstes über die englische Kirche. Seine bisherige Gewalt ward
auf den König übertragen. Für England war der Papst von da an nur
noch Bischof von Rom.
Im Mai 1533 war Anna Boleyn gekrönt. Drei Jahre später, am
19. Mai 1536. siel ihr Haupt auf dem Schaffet. Mit der Darstellung ihres
Processes schließt der bis jetzt vorliegende Abschnitt des Fronde'schen Werkes.
Die grauenhaften Anschuldigungen, welche gegen Anna erhoben wurden, sind
behornt. In späterer Zeit ist die Frage über Anna's Schuld oder Unschuld
eine Parteifrage zwischen Katholiken und Protestanten geworden. Fronde hat
seine Erzählung ausschließlich auf officielle Urkunden und auf die Berichte der
Zeitgenossen begründet. Er ist von Anna's Schuld überzeugt. Wenigstens
die Unwahrscheinlichkeit, daß siebenundzwanzig der vornehmsten Pcnrs des
Reiches und' mehr als fünfzig angesehene Männer sich wissentlich an einem
furchtbaren Justizmord sollten betheiligt haben, hat er genügend nachge¬
wiesen.
Vor Kurzem hat auch Ranke eine Darstellung der englischen Geschichte
im Zeitalter der Reformation geliefert. Ihm ist es, seiner bekannten Weise
entsprechend, die Hauptsache, die Einwirkungen zu verfolgen, welche England
auf die europäischen Verhältnisse ausübte und welche es von diesen empfing.
Fronde dagegen hat sich vorgesetzt, eine Specialgeschichte seines Vaterlandes
vom Beginn der Reformation bis zu ihrer gesicherten Durchführung zu schrei¬
ben. Er verfolgt auch die Entwicklung der innern Zustände mit der den eng¬
lischen Historikern eigenthümlichen Vorliebe für das Detail; er-schildert mit
breiter Farbengebung, zuweilen vielleicht etwas zu ausführlich. Aber durch
eine welthistorisch so bedeutende Zeit wie die Heinrichs des Achten, der ka¬
tholischen Maria und der jungfräulichen Elisabeth wird auch der nichteng-
lischc Leser einem so kundigen Führer gern und aufmerksam folgen.
Mu so Sö mi spivZo.
Im Jahre 1799 kam Lord Elgin als englischer Gesandter nach Constan-
tinopel. Vergeblich hatte er sich bemüht das Interesse der britischen Regie¬
rung auf die Kunstschätze Griechenlands zu lenken, welche durch die schwersten
Katastrophen, wie die Belagerung der Venetianer im Jahre 1687, und durch
die fortgesetzten Beschädigungen der Türken, welche das schöne Material zum
Haus- und Mauerbau verwendeten, verletzt und gemindert, doch noch in sel¬
tenem Reichthum und in einziger Schönheit erhalten waren. Die ungünstigen
politischen Verhältnisse gestatteten Elgin kaum, durch einige Künstler und
Former, die sich mit einem täglichen Zins den Eintritt in die Akropolis Athens
erkaufen mußten, Zeichnungen und Abgüsse von den bedeutendsten dort er¬
haltenen Denkmälern alter Kunst sich zu verschaffen. Aber kaum waren drei
Vierteljahre vergangen, so änderte sich Alles: der Erfolg der englischen Waf¬
fen in Aegypten stimmte die hohe Pforte günstiger, ein großherrlicher Fernau
öffnete nicht blos dem britischen Gesandten die Akropolis, um dort ungehin¬
dert Zeichnungen anfertigen zu lassen, sondern gestattete auch Gipsabgüsse
nehmen. Gerüste errichten, Ausgrabungen anstellen zu lassen und „alle Steine
mit alten Inschriften oder Figuren daraus", welche ihm wünschenswert!) er¬
scheinen mochten, mitzunehmen. Lord Elgin benutzte die ihm gegebene Er¬
laubniß in vollstem Maße. So lange er in seiner Stellung verblieb, waren
3—400 Arbeiter in Athen für ihn thätig; Häuser, welche damals in großer
Zahl den Boden des Burgfelsens bedeckten, wurden angekauft und nieder¬
gerissen, um die darunter begrabenen Neste der Kunst des Phidias wieder
ans Licht zu bringen, die rings zerstreuten Fragmente der Metopen und des
Frieses des Parthenons gesammelt, andere, die noch an ihrem Platze sich be¬
fanden, allerdings mit wenig Schonung für das schönste Werk des pcrikleischen
Athen, von dort entfernt, der Rest abgegossen. Das Erechtheion büßte eine
Säule und eine der Jungfrauen ein, welche das Gebälk der südlichen Bor¬
halle tragen; andre Stücke gesellten sich von anderen Orten dazu. Es war
eine Reihe von Kunstwerken, welche den schönsten Theil der schönsten AntiÜn-
sammlung der Welt, des britischen Museums, zu bilde» vermochte, ohne be¬
fürchten zu müssen, je diesen ersten Platz unter allen Kunstschätzen des Alter-
thums zu verlieren.
Dieser „Wandalismus" mußte sich aber freilich gefallen lassen von allen
Seiten auf das Heftigste angegriffen und verfolgt zu werden. Zuerst wu^le
man allerdings die wiedergewonnenen Schätze noch nicht recht zu würdigen
und hatte nicht übel Lust dieselben für späte Machwerke des hadrianischen
Zeitalters auszugeben. Nachdem aber durch die Gutachten der vom Parla¬
ment zusammenberufenen Kunstrichter, Männer wie Canova, Visconti, West,
eine richtigere Würdigung der Phidiasschen Meisterwerke angebahnt war, da
erhob sich ein gewaltiges Geschrei des Neides, eingekleidet in das Gewand
sittlicher Entrüstung, „wie von Krähen die den Adler umträchzen". Und als
nun gar das Gespenst der Athene in den verödeten Räumen des Parthenons
dem Lord Byron erschienen war und seinen Fluch auf das tempelschänderische
Albion geschleudert hatte, da war auch für alle empfindsamen Verehrer der
Kunst das Signal gegeben in das Anathem mit einzustimmen, selbst wenn
sie keine Vollblut-Engländer und als solche zum Haß gegen den schottischen
Landsmann verpflichtet waren. Heutzutage bemühen sich die Götter und
Heroen oder die verstorbenen Menschen in Niniveh und Aegypten, in Lykien
und Halikarnaß, in Griechenland und Italien, in Kurene und Algier nicht
mehr, wenn Menschenhände ihre Tempel, Wohnungen und Grabmäler plün¬
dern oder in ferne Gegenden schleppen; auch von den Lebenden findet Nie¬
mand mehr darin einen Verstoß gegen die Pietät. Oder wer hat es zum
Verbrechen gestempelt, wenn die äginetischen Statuen nach München, die Re¬
liefs von Phigalia in das britische Museum wanderten? Wenn aber Lord El>
gilt ein Gleiches that, so muß es nun einmal ein Verbrechen sein. Und doch
hat kein Kunstlaub einen entscheidenderen Einfluß auf die Bildung des Kunst¬
geschmacks ausgeübt, keiner ist für die historische Erkenntniß von der Ent¬
wicklung der griechischen Kunst folgenreicher gewesen, als die Herüberführung
jener Werke von Athen nach London, von einem Lande, das zu sehen nur
Wenigen vergönnt ist, nach dem Mittelpunkt des Weltverkehrs, von der Höhe
eines mit dem Auge nur mangelhaft zu erreichenden Tempelgiebels oder aus
der Grabesnacht unter den Mauern einer türkischen Barracke oder dem seit
Jahrhunderten angehäuften Schutt zu der glänzenden, jedem Auge zugäng¬
lichen Aufstellung der Elginsäle des britischen Museums. Auch konnte ja
Lord Elgin nicht ahnen, daß das Land, dessen Kunstwerke durch tue bilder¬
stürmende Roheit der Türken von Jahr zu Jahr abnahmen oder auf das
schmählichste verstümmelt wurden, binnen wenigen Jahrzehnten das Joch der
Fremdherrschaft abschütteln, seine Bewohner als Erben der alten Hellenen in
die Reihe der selbständigen Völker wieder eintreten würden.
Wie aber, wenn Lord Elgin mit sicherem P>ophetenblicke seiner Zeit um
sechs Jahrzehnte hätte vorauseilen können? Natürlich waren die Griechen
nicht die Letzten dem kunstliebenden Briten zu zürnen, und man muß gerecht
sein, sie schienen auch am ersten Grund dazu zu haben. Erzähl, man sich
doch, wie sie auf die schmucklose Backsteinsäule, durch welche Elgin die ent¬
führte Karyatide hatte ersetzen lassen, die Worte gruben: „Elgin hat sie ge¬
macht." Wenn aber die heutigen Griechen noch immer in den alten Klage-
und Zorngesang mit einstimmen, so haben wir doch wohl ein Recht zu fragen,
was sie denn in den mehr als dreißig Jahren ihrer politischen Selbständig¬
keit für die Sammlung und Erhaltung der ihnen überkommenen Reste der
alten Kunst geleistet haben? Wir fürchten, wenn Lord Elgin das vorausge¬
sehen hätte, er würde nicht anders gehandelt haben als er handelte.
Das erste Museum im freien Griechenland befand sich auf der Insel
Aegina. Als aber Athen zur Residenz des neuen Reiches auserkoren war,
ward natürlich das Museum mit hinübergenommen und vermehrte sich rasch
durch die zahlreichen Kunstwerke, die der Boden Jahrhunderte, Jahrtausende
hindurch wie einen anvertrauten Schatz treu bewahrt hatte und jetzt, meist
ungebeten, durch zufällige Funde, dem Lichte der Oberwelt wieder übergab.
Diese Reichthümer aufzunehmen ward der Theseustempel bestimmt, ein pracht¬
voller wohlerhnltener Marmorbau aus den besten Zeiten der Kunst, der im
Mittelalter als Kirche des heiligen Georg gedient hatte und in seinem über¬
wölbten Innern den nöthigsten Schutz gegen die Unbilden der Witterung ge¬
währt. Dabei möchte sich denn noch verschmerzen lassen, daß die Beleuchtung
der darin aufliewahrten Kunstwerke meist eine höchst ungünstige ist, was frei¬
lich das Studium und den Genuß derselben beträchtlich schmälert; schlimmer
ist die Ueberfüllung, welche dem der Kunst geweihten Tempel durchaus das
Ansehen einer Rumpelkammer, eines vollgepfropften Kellers verleiht. Und
doch befinden sich darin Kunstwerke von der größten Schönheit und von hoher
Wichtigkeit; eine Marmorplatte mit noch deutlich erhaltene» Resten der ur¬
sprünglichen Bemalung zeigt uns das Bildniß des Aristotles, eines Kriegers
von altem Schrot und Korn, wie uns Aristophanes die Sieger von Marathon
schildert; auf einer großen Neliefplatte, die beim Bau eines Schulhauses in
Eleusis vor reichlich zwei Jahren gesunden ward, erblicken wir die heiligen
Gottheiten jener Stadt der Mysterien in den strengen, hoheitsvollen Formen
der Kunst zur Zeit des Phidias. Eine Reihe einfacher, aber fein empfundener
Grabmonumente führt uns in das Leben der griechischen Familie ein; meist
sind es Scenen des Abschieds oder auch des Mahles, bisweilen auch der
Toilette, gewöhnlich nur von dem Namen der Verstorbenen begleitet, dem
aber nicht selten much ein liebevoller Spruch, ein sinniges Dichterwort hinzu¬
gefügt ist. Unter den Statuen finden wir alterthümliche Ideale, die uns mit
den eben erst erwachenden Regungen griechischen Kunstsinnes bekannt machen;
dann Statuen von vollendeter Schönheit, Götter und Menschen darstellend,
wie sie die höchste Blüthe der Kunst bildete; endlich Belege des sinkenden und
gesunkenen Zustandes der Kunst in späteren Jahrhunderten. Alle diese Kunst¬
werke stehen und liegen bunt durch einander gewürfelt, und kaum ist für den
Beschauer Platz genug vorhanden, um die Gegenstände zu besehen, nirgends
so viel Raum, daß er aus einiger Entfernung den Gesammteindruck eines der
Kunstwerke in sich aufnehmen könnte. Dessenungeachtet ist aber doch die
Cella des Theseions der beste und' sicherste Aufbewahrungsort für alte Kunst¬
werke in Griechenland. Schon der Hintere Raum, der Opisthodom des Tem¬
pels, bietet wegen des Mangels an Bedachung den dort aufbewahrten Mo¬
numenten nur geringen Schutz; und sühlt einmal ein neugieriger Antiquar
(was selten genug sein mag) das Bedürfniß die dortigen Denkmäler zu be-
sichtigen, so wird an ihm das alte Wort wahr, dem Menschen sei der Schweiß
vor die Arbeit gestellt. Denn durch das ziemlich hohe hölzerne Gitter, welches
jenen Raum verschließt, führt keine Pforte , sondern auf einer Leiter, welche
der Hüter des Theseions, ein alter Invalide, herbeischafft, klettert man an dem
Gitter empor und hat dann die Wahl auf der Höhe desselben balancirend
die Leiter nachzuziehen und daran ins Heiligthum hinabzusteigen, oder durch
einen kühnen Sprung den Weg sich abzukürzen! Der Rückweg muß dann auf
dieselbe Weise bewerkstelligt werden.
In der unteren Stadt, an deren Rande der Tempel des Theseus liegt,
ward bei der wachsenden llebcrsüllc der Denkmäler in diesem letztern ein
neues Museum eingerichtet, ebenfalls nnter dem Schutze eines antiken Baues,
der unter dem Namen der Hadriansstoa am meisten bekannt ist. Eine hohe
Mauer von Marniorquadern zieht sich in beträchtlicher Länge hin; eine Reihe
vorgekröpfter Säulen, die vor der Mauer stehen, bildet eine Art von Nischen.
Hier ist wiederum durch ein hölzernes Gitter von dem Platz, der vor der
Stoa sich hinzieht, ein etwa 20- 30 Fuß breiter Raum abgeschieden; dies
Mal aber bedarf es keiner gymnastischen Anstrengung, sondern der in der
Bretterbude daneben hausende Invalide braucht nur aus seinem Schlummer
geweckt zu werden, um uns die Pforte auszuschließen, durch welche wir in das
„Museum" eintrete». Die Anordnung oder Unordnung ist hier genau die¬
selbe wie im Thescion; auch lasse man es sich nicht verdrießen diejenigen
Reliefs, welche dem Beschauer nur ihre geglättete Rückseite zukehren, einmal
umzuwenden, da ein eigenthümliches Geschick es gefügt hat, daß grade diese
meistens die interessantesten sind. Mit Bekümmerniß klagt der wachthaltende
Invalide über den mangelhaften Schutz. den das schwache hölzerne Gitter
gegen räuberische Hände gewährt; nicht minder ist es zu beklagen, daß der
Mangel der Bedachung die Monumente der Ungunst des Wetters aussetzt.
Ist doch ein Grabstein, welcher bei seiner Auffindung das Bild einer verstor¬
benen Frau, Namens Dcmokrateia, noch in vollem Farbenschmuck gezeigt hatte,
jetzt nur noch an der Inschrift erkennbar, und mit Mühe findet man noch
einzelne Spuren des Umrisses heraus; wie durste man freilich auch solche
zarte Denkmäler ganz unbedeckt lassen? Der attische Himmel ist allerdings un-
endlich viel reiner, als unser nordischer; aber ohne Regen gehts doch auch
da nicht ab, und man kann in dem hohen Grase und Gestrüpp, das einen
Theil des Bodens in diesem „Museum" bedeckt, sich unter Umständen recht
wohl nasse Füße holen. Schlimmer stehts aber noch im Sommer um die
Studien. Die geringe "Zahl der Besucher hat den erfindungsreichen Wächter
auf die Idee gebracht, die Fleckchen von Erde zwischen den Monumenten zu
kleinen Maisanpflanzungen zu benutzen; der hohe Mais verdeckt allerdings
die Kunstwerke zum Theil, und der Plantagenbesitzer ersucht den Kunstfreund höf¬
lichst seine Pflanzungen zu schonen, aber wer möchte nicht gern in einem Museum
diesen kleinen Nachtheil hinnehmen für die Bewunderung eines speculativen Kopfes,
der so trefflich das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden gewußt hat?
Wenige Schritte davon steht der Thurm der Winde oder, um eine rich¬
tigere Bezeichnung zu gebrauchen, die Wasseruhr des Androuikos. Ein klei¬
ner umgitterter Platz umgibt das achteckige Gebäude, und schon ehe man
eingetreten ist, erblickt man eine Reihe von Monumenten in und neben dem¬
selben aufgestellt. Aber kein Wächter zeigt sich nah und fern, um die Himmels¬
pforte zu öffnen, bis eine gründlichere, etwa mit Hilfe eines Straßenjungen
angestellte Durchsuchung der benachbarten Schnapsbuden zur Aufspürung
desselben führt, welcher nun wohl oder übel dem unzeitigen Störenfried fol¬
gen muß. Uebler Laune, wie er nun einmal ist, wird er auch Wohl Schwierig¬
keiten erheben dagegen, daß man sich diese oder jene Bemerkung notire; in¬
dessen, man zeigt ihm die schriftliche Erlaubniß vor, die er um so tiefsinniger
betrachtet, je weniger er lesen gelernt hat, oder man ergreift auch wohl ein
noch einfacheres und wirksameres Mittel, ^urna per möäioK ire satollitöL
amal — und wenn es auch nur Kupfer wäre. — Außer einer Anznhl von
Grabdenkmalen wird auch eine große marmorne Rechenplatte aus Salamis
hier vielleicht unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen; und wir werden
höchstens bedauern, daß der Schutz des starken Marmordachcs nicht noch mehr
Monumenten zu Statten kommt.
Die zahlreichen Privatsammlungen, wie sie sich fast bei jedem wohlhaben¬
deren Manne in größerem oder geringerem Umfang befinden, fallen natürlich
außer den Bereich unserer Betrachtung. Erwähnen aber müssen wir die
Sammlung der archäologischen Gesellschaft. Daß dieselbe in dem anatomi¬
schen Theater des Universitätsgebäudes aufgestellt ist, wirft freilich aus die
anatomische» Studien an der Hochschule kein günstiges Licht; die Sammlung
selbst aber, welche erst in den letzten Jahren durch den Eifer der einheimischen
Gelehrten und Altcrthumssreunde, unter Beistand vaterlandsliebender Griechen
auch im Auslande, gebildet worden ist. bietet, wie das bei verständiger Lei¬
tung kaum anders sein kann, eine bedeutende Anzahl beachtenswerther Mo¬
numente meist kleineren Umfangs dar und ist in einigen Zweigen von einer
Vollständigkeit, wie kein anderes Museum Europas; die Sammlung ist wohl
geordnet und, was besonders zu rühmen ist, in der liberalsten Weise der
freiesten Benutzung jedes Forschers und Kunstfreundes geöffnet. So vermag
sie zu zeigen, was aus den übrigen Kunstschätzen werden könnte, wenn ein
gleicher Geist die Verwaltung derselben leitete. —
Südlich erhebt sich über der Stadt der steile Felsen der Akropolis, das
alte Heiligthum der Athene. Die Akropolis ist eine Welt für sich; sie hatte
der Staat, um den Ausdruck eines alten Redners zu gebrauchen, dergestalt
mit den Denkzeichen seiner großen Thaten geschmückt und hatte mit der von
der Natur ihr verliehenen Schönheit die des Reichthums und der Kunst im
Wetteifer so verbunden, daß sie ganz und gar für ein Weihgeschenk, ja viel-
mehr für ein Bildwerk gelten konnte. Von solcher Herrlichkeit sind zahlreiche
Trümmer auis uns gekommen, und es war ein verständiger Gedanke, was
innerhalb des Bezirks der Burg gefunden worden ist, hier zu lassen. Aber
freilich hätte man es sammeln müssen, nicht hierhin und dorthin verstreuen,
wie es geschehe» ist. Kaum hat man den Vorhof des Burgraums betreten,
so sieht man sich gegenüber einen schmalen Raum zwischen dem Wege und
der hochaufragenden Mauer des Kimon mit Fragmenten von Marmorreliefs
besteckt, die an einen mit weißen Leichensteinen übersäeten Todtenacker erin¬
nern. Wenige Schritte weiter, ehe man das letzte der drei Thore, welche den
Zugang zur Burg verschließen, durchschreitet, füllt der Blick links hin, wo in
einem Winkel hinter dem Wächterhause der burghütenden Invaliden ein neues
hypäthrales Museum in hohem Grade unsre Aufmerksamkeit fesselt. Ein gro¬
ßes Relief von glänzendem pentelischen Marmor zeigt uns eine Mutter, Phra-
sitleia genannt, mit ihrem Kinde; eine Dienerin steht ihr gegenüber. Dieses
außerordentlich schöne Grabdenkmal ward noch zur Türkcnzeit gefunden und
um es vor der Zerstörungswut!) der Türken zu retten, von den Griechen für
ein Bild der Mutter Gottes ausgegeben. Mit 1000 Piastern lösten sie es
aus und stellten es in der Kirche „der großen Panagia" auf. Aber während
des Befreiungskrieges zertrümmerten die Muselmänner das Relief und vergru¬
ben ein Stück desselben mit dem Kopfe Phrasikleias in der Nähe des Par¬
thenons, wo es bei einer spätern Ausgrabung wieder zum Vorschein kam, so
daß das Relief bis auf ein unbedeutendes Stück jetzt wieder zusammengesetzt
ist. Daneben befindet sich ein alterthümliches Titzbild der Stadt- und Burg¬
göttin Athene, ein merkwürdiges Denkmal der Kunst vor Phidias, und ein
nicht minder interessantes Relief aus derselben Übergangszeit, da die Knospe
der hellenischen Kunst eben aufzubrechen begann, ihre Werke neben Ueberbleib-
seln einer noch nicht überwundenen Hcrbigt'eit doch schon von Anmuth leise
umflossen waren. Und solche Kunstwerke stehen in einem kümmerlichen Win¬
kel, unter freiem Himmel!
Wir steigen die Ticppe hinauf zu dem genialen Bau der Propyläen.
Rechts ragte auf dem hohen Mauervmsprung der kleine Tempel der ungeflü.
gelten Siegesgöttin hervor, durch deutsche Landsleute Stück für Stück aus
einer türkischen Bastion wieder herausgeschält und nach mehr als zwei Jahr¬
tausenden zum zweitenmal errichtet. Er beherrscht einen Blick auf die weite
bergumkränztc Ebene und das blaue Meer mi! der fernen Küste des Pelopon-
nesos, so schön, daß selbst der trockne alte Pnusauias in seinem vor siebzehn
Jahrhunderten geschriebenen Reisehandbuch für Griechenland sich nicht der
Bemerkung enthalten kann, von hier könne man auch das Meer sehen! Die
Cella des Tempelchens beherbergt die Fragmente eines schönen Frieses, der
einst den Rand des Mauervorsprmigs krönte; so lobenswert!) es ist. dieselben
in der Nähe ihres ursprünglichen Standortes aufzubewahren, so wäre doch
dieser überaus feinen Sculptur eine Bedachung vor Allem zu wünschen. Die¬
selbe mangelt ebenfalls den sehr zahlreichen Reliefs und Statuen, welche
theils in der großen Mittclhalle der Propyläen, theils in der sogenannten
Pinakothek, dem einst mit Gemälden geschmückten Nordflügel des Thorbaues,
aufbewahrt werden. Freilich ist der Mangel an Schutz von oben nicht das
Einzige, was man der Sammlung, namentlich in der Pinakothek, vorwerfen
kann; auch die Aufstellung ist eine durchaus klägliche. Am besten sind noch
diejenigen Monumente daran, welche in eigens hierzu ausgemauerte Pfeiler
eingelassen sind; aber es läßt sich nicht verkennen, daß dies ein höchst mangel¬
haftes Verfahren ist und höchstens entschuldigt werden kaun, wenn dabei ebenso
große Sorgfalt angewendet wird, wie hier nachlässig verfahren ist. Die
übrigen Monumente. meistens Reliefs und Inschriften, sind in große morsche
hölzerne Rahmen sehr mangelhaft eingelassen und so gegen die Mauern ge¬
lehnt ; einige dieser Rahmen sind umgefallen und die wichtigsten Urkunden.
Rechnungsablagen von Behörden des attischen Staates, liegen, wie Augen¬
zeugen versichern, seit Jahren zerstreut, aus den Nahmen herausgebrochen,
umgekehrt auf dem Boden herum!
Betreten wir nun das Plateau der Akropolis, den heiligen Bezirk der
Athene, so blicken wir auf ein weites Trümmerfeld. Ueberall liegen die zer¬
sprengten Reste der einst schönsten Bauten der Welt umher, untermischt mit
zahlreichen Inschriftsteinen, Statuen oder Statuenfragmeuten. Reliefs. Rechts,
aus einer kleinen Terrasse, auf der ein Tempel der brauronischen Artemis stand,
ist eine Wand aufgeführt von marmornen Platten, die einst die Deckenfelder
der verschwundenen oder entstellten Prachtgebäude bildeten und deren reiche
Kassetten noch die mannigfaltigen Muster aufweisen, welche früher in grüner,
rother und goldener Farbe strahlend die Bewunderung der Beschauer erregten.
In dem dem Wind und Wetter geöffneten Schatzhause des Parthenon steht
eine Reihe Relicfplatten von jenem herrlichsten aller Friese, der den festlichen
Zug der Pannthcnäen in einem mehr als 500 Fuß laugen, an immer neuen,
immer schöneren Motiven überreichen Bildstreifen darstellte; Metopen schildern
den Kampf der Lapithcn mit den wilden Kentauren, und auch von den gewal¬
tigen Figuren der Giebelgruppen sind bedeutende Reste, die Lord Elgin's
Nachgrabungen entgangen waren, hier aufbewahrt. Aber der Raum, der einst
den gesammelten Schätzen des athenischen Bundes Schutz verlieh, ist mit sei¬
nen halbzerstörten Wänden, ohne Dach, kein geeigneter Aufbewahrungsort
mehr für solche zerstörbare Schätze. Sind denn Werke aus der Werkstatt des
Phidias nicht werth, dem Regen entzogen zu werden? Selbst vor räuberischen
Händen sind sie hier nicht geschützt; es ist bekannt, wie der Midshipman eines
englischen Schiffes dem schönen Jünglingskvpf auf einer jener Platten die
Nase abschlug, um diese Beute mit heinizuführen, und diese Barbarei erst zu
spät von den Wächtern entdeckt ward. Wie soll man sich aber hierüber wun¬
dern, wenn man unten in der Stadt mit ansehen muß, wie die Straszenbuben
den reizenden Reliefstreifen, welcher das Denkmal des Lysikrates, die sogenannte
Laterne des Demosthenes, umgibt, zum Ziel sich ausersehen haben, um daran
ihre Geschicklichkeit im Steinwerfen zu erproben? Und der Wächter? Er wird
sich wohl der gleichen Beschäftigung hingeben, wie der Invalide vom Thurm
der Winde.
Vor solcher Unbill sind denn freilich diejenigen Monumente geschützt,
welche die Fürsorge des Obcrnnfsehers der Antiquitäten in einer Cisterne
unweit des Erechtheions verschlossen hält. Auf den Stufen des Erechtheions
bildea noch jetzt eine Reihe von Kunstwerken ein kleines Hypäthralmuseum,
vor einigen Jahren aber waren hier, in oder um Tempel, noch mehr derglei¬
chen Schätze aufgestellt, vermittelst eiserner Zapfen wohl eingelassen und befe¬
stigt, und unter ihnen befanden sich auch die für die Kunstgeschichte höchst
merkwürdigen Relieffiguren von weißem Marmor, welche von dem Fries des
Erechtheions aus schwarzem eleusinischen Marmor sich absehend dem zierlich¬
sten aller Tempel einst zu hohem Schmucke gereichten. Da aber, erzählt eine
trübe Sage, kamen Engländer — bekanntlich sind die Engländer in Griechen¬
land und Italien die beständigen Sündcnböcke für jeden Kunstdiebstahl, jede
Verletzung eines Kunstwerks — und rüttelten an jenen Figuren. Ihre Sicher¬
heit war also gefährdet und sie wurden in jene Cisterne gesteckt. Diese ist
schwer zugänglich, indessen durch beharrliches Lieder gelang es mir endlich den
Eintritt zu erhalten. Freilich ward mir schon im Boraus gesagt, jene Reliefs
würde ich nicht zu sehen bekommen, obgleich sie dort aufbewahrt würden;
da aber keine Gründe für diese Behauptung angeführt wurden, gab ich die
Hoffnung so leicht nicht auf. Allerdings war ich ans den Anblick nickt vor¬
bereitet, der sich dem erstaunten Blick dort darbot. In dem schmalen Zugang
bedeckten umgewendete Marmorplatten wie ein Pflaster den Boden, welche
durch die lakonischer Worte ,/dies sind die Inschriften" bezeichnet wurden.
Aber wie sah es erst in dem Hauptraume aus! Dieser ist ein Gewölbe von
bedeutender Länge und nicht unbeträchtlicher Breite, dessen Boden bis zu einer
Höhe von 3—4 Fuß mit wild über einander geschuldeten Fragmenten von
Statuen und Reliefs bedeckt ist! die schönsten und anmuthigsten Werke atti¬
scher Kunst, die wichtigsten Documente des attischen Staates werden von den
Nachkommen der alten Hellenen wie alte Lumpen und unbrauchbare Topfscher¬
ben über einander geworfen, ohne Pietät für deren Kunstwerth oder historische
Bedeutung! Unter diesem Trümmerhaufen liegen die zarten Reliefs vom Erech-
theion begraben, wo allerdings kein räuberischer Fremder sie fortnehmen
wird, aber in welchem Zustande werden sie von dort wieder hervorgezogen
werden? Wer handelte nun übler. Lord Elgin, der die Meisterwerke des Phi-
dias vor den Türken in Sicherheit brachte, oder die Griechen, welche die Denk¬
male ihrer Vorfahren entweder dem Regen überliefern oder durch schnöden
Muthwillen zerstören?
Den besten Schutz von allen auf der Burg aufbewahrten Kunstwerken
genießen diejenigen, welche in einem modernen Häuschen östlich vom Erech-
theio» gesammelt sind. Die steile hölzerne Stiege und die Aermlichkeit des
ganzen Baues ist freilich der Würde eines Museums wenig angemessen; aber
hier haben wir doch wenigstens einen verschossenen und bedeckten Raum, ja
sogar verschließbare Schränke, hinter deren Drahtgittern bemalte Terracotten,
zierliche Vasen. Bronzen und dergleichen meist kleinere Kunstwerke aufbewahrt
werden. Aber von hoher Stelle ist allen modernen Bauten auf der Burg
der Untergang geschworen; die Gebäude hinter den Propyläen, welche einst
den fränkischen Herzögen als Palast dienten, sind schon gefallen, ebenso eine
Cisterne hinter dem Parthenon, welche früher zahlreiche Kunstwerke beherbergte,
und bald wird wohl auch jenes Häuschen am Erechtheion dasselbe Schicksal
theilen. Dieses Streben, die Akropolis von den häßlichen Entstellungen späterer
barbarischer Zeiten zu reinigen, ist an sich gewiß sehr löblich, wenn nur durch
die rücksichtslose Verfolgung dieses Zieles, bevor ein anderes sicheres Unter¬
kommen für die der Zerstörung leicht unterworfenen und daher des Schutzes
bedürftigen Trümmer des Alterthums geschaffen ist. ^nicht diesen die schwer-
sten Nachtheile und Schädigungen zugefügt würden. Zuerst also baue man
ein Museum oder zwei, eines unten in der Stadt für die nicht von der Akro¬
polis stammenden Denkmäler, eines auf dem östliche», von den Allen, wie es
scheint, nie benutzten Ende der Burg, oder sonst irgendwo in der Nähe der¬
selben, für die Alterthümer der Burg; dann mag man mit dem Reinigungs-
werke fortfahren.
Dieses Verlangen ist so einfach und durch den dargelegten Mißzustand
der athenischen Sammlungen so gerechtfertigt, daß es natürlich auch schon oft
ausgesprochen ist. Aber, wird man sagen, die Herstellung eines Museums
ist mit bedeutenden Kosten verbunden. Gewiß; aber der Staat, welcher die
Erbschaft der alten Hellenen angetreten hat, ladet eine große Schuld auf sich,
wenn er so kostbare Theile der Hinterlassenschaft seiner Vorfahren aus Fahr¬
lässigkeit verkommen läßt. Nur ein bischen weniger Unterschleif bei den
Staatsbeamten aller Art von oben bis unten, ein bischen schärfere Controle,
und die Ersparnisse eines Jahres würden mehr als hinreichen, um ein Museum
herzustellen. Vielleicht bedürfte es aber nicht einmal dessen. sicherem Ver-
nehmen nach hat ein hochsinniger Grieche in Petersburg, der keine Gelegen¬
heit vorübergehen läßt, sein wiedererstandenes Vaterland zu unterstützen, schon
Vor längerer Zeit die Summe von 200,000 Drachmen (fast 50,000 Thaler)
geschenkt zum Baue eines Museums, eine Summe, die allerdings zu diesem
Zweck schwerlich ausreicht, aber doch eine schöne Grundlage bildet. Und wenn
der Staat nicht in der Lage ist das Fehlende selbst hinzuzulegen, ist da wohl
eine Frage, daß andre reiche Griechen im Auslande dem Beispiel ihres Lands¬
manns in Rußland willig folgen würden? Baron Sina, um nur ein Beispiel
zu nennen, hat dem Staate die vortreffliche Sternwarte geschenkt, welche den
Gipfel des sogenannten Nymphenhügels krönt, und sorgt auch für deren wei¬
tere Ausrüstung und die Nutzbarmachung derselben durch einen tüchtigen Ge¬
lehrten. Baron Sina läßt eben wieder mit sehr bedeutendem Aufwande ein
Gebäude für die neu zu errichtende Akademie der Wissenschaften aus glän¬
zendem pentelischen Marmor errichten. Baron Sina sollte nicht die noch
weit wichtigere Errichtung eines Kunstmuseums, d. h. die Rettung der kost,
barsten Reste alter Kunst und Geschichte, bereitwillig unterstützen und be¬
fördern? —
Wenn nun in der Hauptstadt des Landes, in Athen, dessen Boden die
edelsten Erzeugnisse echt griechischer Kunst an das Licht gefördert hat, so wenig
für die Erhaltung und würdige Aufstellung derselben geschieht, so läßt sich
schon vermuthen, daß es an den anderen Orten des Landes wenigstens nicht
besser aussieht. Diese Bermuthung bestätigt sich denn auch so ziemlich. Die
für die Auffindung von Kunstwerken wichtigsten Orte Griechenlands nächst
Athen sind Sparta und Delphi. Das in der Ebene und an den letzten Ab¬
hängen der Berge belegene Sparta hatte man im Mittelcilter verlassen und
rat dem steilen Misthrü, vertauscht, dessen ungemein geschützte Lage in jenen
unruhigen Zeiten größere Sicherheit bot. Auf Veranlassung der jetzigen Re¬
gierung ist aber das schwerer zugängliche Misthrä, jetzt wiederum im Stich
gelassen, und Neu-Sparta blüht wieder an der Stelle der alten Lakonenhaupt-
ftadt auf. Bei dem gänzlichen Neubau des Ortes entsteigen natürlich alljähr¬
lich unzählige Monumente dem Schooß der Erde; was scheint also einfacher,
als entweder ein Localmuseum anzulegen oder die neugewonnenen Schätze nach
Athen zu schaffen? Einige wenige Denkmäler finden sich denn auch in einem
Zimmer des Rathhauses zusammengestellt, bei weitem die größte Anzahl " aber
ist in den Privathäusern zerstreut. So kam es, daß ein Werk von kunsthisto¬
rischer Bedeutung, welches einen alterthümlichen. bisher ausschließlich aus
sicilischen Tempeln bekannten Styl zum erstenmal auch im dorischen Mutterlande
ausweist und daher als einen allgemein dorischen zeigt. Jahre lang in der
Schlafstube einer Bürgerfamilie unbeachtet stehen konnte. Und dies ist noch
das glücklichste Loos. Meistens werden Statuen, Reliefs. Jnschriftsteine in
die Mauern der umgebauten Hauser hineingelassen und so dem sichren Ver¬
derb preisgegeben; auch zum Pflastern des Flurs werden sie benutzt, und selbst
in dem Dunkel eines Wandschrankes war eine Jnschriftplatte in die Wand
gemauert. — In Delphi sind manche Alterthümer im Hofe des Klosters
der Panagia aufgestellt, namentlich das schöne Votivrelief eines Siegers im
Wngenrenncn; andre Reste sind theils in einem Raume des Klosters aufbe¬
wahrt, theils in der Wohnung des „Herrn Aufsehers der Alterthümer". Diese
ehrenwerthe Persönlichkeit war — denn leider ist der Ehrenmann nicht mehr
in Delphi — ein früherer Soldat, der einen ausgezeichneten Milchreis zu be¬
reiten verstand und es sofort als sein entschiedenes Anrecht in Anspruch nahm,
den „Milordi" als Koch zu dienen und beim Essen Gesellschaft zu leisten.
Geringer waren seine Kenntnisse der ihm anvertrauten einheimischen Alter¬
thümer, über die er sich nicht scheute die allergewagtesten Behauptungen vor¬
zutragen; mit gerechter Entrüstung verbesserte ihn dann sein kundigerer, aber
dem Range nach untergeordneter College Matthäos Sohn des Antonios, der
sich als ein recht brauchbarer Mvrgenaufseher erwies, wogegen er nach Tische
in einem nicht ganz zurechnungsfähigen Zustand sich zu befinden pflegte.
Ganz eigenthümlich und in der That überraschend ist die Art, wie man in
Delphi für die Erhaltung wichtigerer Monumente sorgt. Man läßt sie näm-
lich ruhig an Ort und Stelle in der Erde, wo sie für jede Besichtigung von
Neuem aufgegraben, von der Erde befreit und nachher sorgfältig wieder ver¬
schüttet werden. Also zu den hypäthralen Museen auch noch unterirdische.
In der That, ein einfaches Verfahren, und von trefflichen Resultaten für die
unverletzte Erhaltung der Denkmäler! Ein ausgezeichnet schöner Sarkophag
ward hier unter der Präsidentschaft Kapodistrias ausgegraben, ganz unversehrt
in seiner ursprünglichen Schönheit; durch das häufige Ausgraben und Wieder¬
zuschütten ist es soweit gekommen, daß kaum noch erkennbare Trümmer in
jener Grube vorhanden sind, andere Reste befinden sich im Panagienkloster,
noch andere sind von „kunstliebenden" Fremden entführt. Und weshalb ist
das Monument nicht nach Athen gebracht worden? Weil es keine Landstraße
gibt, auf der ein so schwerer Sarkophag fortgebracht werden könnte; denn die
Einsicht, daß die Anlegung von Landstraßen zu den ersten Bedingungen von
Wohlstand und Civilisation gehört, eine Einsicht, die sogar die Bombonen
in Neapel besaßen, scheint der griechischen Regierung bis jetzt nur in geringem
Maße zu Theil geworden zu sein.
Indessen Eleusis ist mit der Hauptstadt durch eine Chaussee verbunden;
zum Verderben der Elcusinier, die auf dieser sich das schöne Relief, dessen
oben Erwähnung geschah, nach Athen entführen sahen. Und doch besitzen sie
ja selbst ein Museum, sogar ein bedachtes, das Kirchlein des heiligen Zacha-
rias, welches auf die Stelle des alten Triptolemostcmpels gebaut ist! Als
daher der Oberaufseher der Alterthümer seinem Amte zufolge den Eleusiniern
ihr Palladion raubte, da gingen die erbitterten Bewohner des'Ortes mit nichts
Geringerem um als ihn zu steinigen; ein grausamer Vorsatz, den sie Gott
Lob nicht ausgeführt haben, aber im Geiste führen sie ihn doch aus. eine in
Griechenland weit verbreitete Sitte befolgend, nach der jeder Eleusinier. wenn
er an einem bestimmten Orte vorübergeht, einen Stein auf einen immer
wachsenden Steinhaufen wirft unter einer leise gemurmelten Verwünschung
gegen den Uebelihäter.
Der Mangel an Wegen verhindert also vielfach die Herüberführung von
Monumenten nach Athen, und es ist als ein Glück zu preisen, wenn die Behörde
oder der Schullehrer des Ortes demselben nothdürftig Obdach und Schul) ver¬
leiht. Aber es ist dies nicht der einzige Uebelstand, welcher die Monumente
in den Provinzen bedroht. In einer armen kleinen Ortschaft Messeniens,
Konstantini, wollte man vor einigen Jahren die Kirche restaunren und be¬
nutzte hierzu ein paar große Steinblöcke von antiker Bearbeitung, die in der
Nähe gesunden waren. Nach einiger Zeit aber wurden an diesen Steinen
Stücke einer Inschrift entdeckt, deren größerer Theil in der Kirchenmauer ver¬
steckt war. Nun gibt es in Griechenland ein vielgepriesenes Antiquitätenge¬
setz. demzufolge kein Andrer als der Staat eine Ausgrabung anstellen darf
mit dem Zwecke Alterthümer zu gewinnen, und ferner dem Staate von allen
auf privatem Grund und Boden gefundenen Monumenten die Hälfte des Eigen¬
thumsrechts zukommt. Demzufolge hatte jenes Dorf also nicht Min das
Anrecht auf die Steine mit dem Staate zu theilen, sondern war noch oben¬
drein für die eigenmächtig unternommene Ausgrabung von Rechtswegen straf¬
fällig. Die Behörden mußten die Steine aus der Kirchwand wieder heraus-
nehmen und die Abführung derselben nach Athen steht in Aussicht, da der
Inhalt der Inschrift sich als eine höchst interessante Bestimmung in Betreff
der großen Mysterien von Messenien herausstellte. Daß die Regierung dieses
Document aus der Kirchenmauer nehmen und in Sicherheit bringen läßt, ist
nur zu loben; wenn aber der armen mittellosen Gemeinde, die nicht ohne
Opfer die gewaltigen Steine zur nothwendigen Restauration der Kirche her¬
beigeholt hatte, nicht die geringste Entschädigung zu Theil wird, sondern die
Steine fortgenommen werden'und die neue Beschaffung der Ausbesserung ihr
allein überlassen bleibt, ist es da wohl zu verwundern, daß die ungebildeten
Bewohner des Ortes sich für ihren pecunmren Verlust nicht mit dem wissen¬
schaftlichen Werth der Inschrift trösten lassen, sondern erklären, in einem glei¬
chen Falle künftig ihren Fund so zu entstellen, daß Alterthum oder Nichtalter-
thum desselben nicht solle erkannt werden können? Richtet also hier die Regie¬
rung mit ihrer rücksichtslosen Einmischung entschieden Schaden an, so wendet
sie anderswo nicht die geringste Sorgfalt an. um die schwersten Nachtheile
von unberufener Seite zu verhüte«. Jahr aus. Jahr ein kommen die Be¬
wohner der Insel Mukonvs herüber nach der Nachbarinscl Delos und deren
Schwesterciland Rhcnäa, auf der die Delicr, um den heiligen Boden ihrer
Apolloinsel nicht zu entweihen, ihre Todtenstätte hatten, und holen sich, allen
Verboten der Regierung zum Spott, aus den weit und breit verstreuten Trüm¬
mern der Städte der Lebendigen wie der Todten ihren Bedarf an Marmor¬
stücken, mit oder ohne Inschriften, mit oder ohne Reliefs, wie es sich gerade
trifft, um — den Kalk für ihre Gebäude daraus zu brennen. — Noch eine
andre Bestimmung des Antiquitütengesetzes, nach welcher kein Nest des Alter¬
thums aus dem Lande geführt werden darf, ist von einer Engherzigkeit, wel¬
cher weder die päpstliche, noch irgend eine andre der italienischen Regierungen
etwas Aehnliches an die Seite zu setzen hat, und dabei eben durch ihren Ri¬
gorismus unausführbar. Erreicht wird dadurch nichts, als daß heimlich aus¬
geführt wird, was öffentlich fortzuschaffen nicht gestattet ist, und daß es den
so ins Ausland gebrachten Kunstwerken an dem Ursprungszeugniß gebricht,
welches für die Erkenntniß des Zusammenhangs, in welchem dieselben ge.
schaffen worden, und daher für die gerechte Würdigung ihres Werthes so
überaus wünschenswert!), ja nothwendig ist. In den verschiedenen Museen
Europas befinden sich viele Werke, aus deren griechischem Ursprung kein Hehl
gemacht wird; wie viele mögen noch daneben dort sein, denen die Illegiti¬
mität der Erwerbung dieses Heimathszeugniß entzieht und deren Werth für
wissenschaftliche Benutzung durch diesen Mangel bedeutend geschmälert wird!
Jeder Fremde nimmt aus Griechenland diese oder jene Reliquie alter Kunst
mit in die Heimat!); in Aegion, dem einstigen Sitz des Bundeshciligthums
von Achaja, lagen in dem Keller eines Handlungshauses einige schöne Sta¬
tuen, in Kisten wohl verpackt, um vorangegangenen Genossen nach England
zu folgen: sollte Aegion der einzige Ausfuhrplatz für solche Waare sein? —
Es ist ein Nachtbild, welches wir entworfen haben, aber, wir können es
getrost sagen, in keinem Zuge entstellt. Möchte doch die griechische Negierung
zur Einsicht kommen, daß um den angedeuteten Uebelständen abzuhelfen zwei
Mittel unerläßlich sind: der schleunige Bau eines Museums in Athen, das
wahrlich ein dringenderes Bedürfniß ist als die Errichtung eines Akademiege-
büudes, und eine verständigere und umsichtigere Fürsorge für die Alterthümer
im ganzen Königreich, unterstützt durch ein revidirtes Antiquitätengesetz, dessen
Grundzüge längst von einem erfahrenen Kenner der einschlagenden Verhält¬
nisse entworfen sind. Der Staat gestatte einem Jeden, auf eignem Grund
und Boden nach Herzenslust Ausgrabungen vorzunehmen, behalte sich aber
-das Vorkaufsrecht vor; alle Denkmäler von historischer oder nationaler Bedeu¬
tung oder von hervorragendem künstlerischen Werth erhalte er ausnahmslos
dem Lande, bei denjenigen Werken aber, welche, wie die Grabreliefs oder
fabrikmäßigen Grabstatuen, mehr dem Kunghandwerk als der freien Kunst
angehören, und von denen wenige Exemplare fast denselben Werth haben wie
die ganze Reihe, jedenfalls genügen, um die Gattung zu reprüsentiren, bei
diesen stelle er seine Auswahl an und lasse die übrigen Exemplare ins Aus¬
land gehen, damit der Erlös derselben dem Wohlstande des Landes oder neuen
Ausgrabungen zu Gute komme. So lange aber die Regierung fortfährt in
der bisherigen Weise den Ruin der Kunstwerke 'oder die heimliche Verschlep¬
pung derselben durch ihre falschen Maßregeln herbeizuführen, so lange dürfen
wir den heutigen Griechen das Recht bestreikn, auf Lord Elgin zu schmähen
oder auch nur dessen That zu bedauern: mögen sie sich erst der Schätze werth
Schluß des Artikels aus voriger Nummer.
„Endlich aber", sagt der alte Bauer des Manuscripts, „mußte Satan
das gute Betragen Alexis Juriwitsch's doch satt gekriegt haben." Eines
Tages gab es zwischen ihm und seiner schönen Schwiegertochter eine fürchter¬
liche Scene, welche damit endigte, daß letztere das Zimmer zu verlassen suchte
und darüber auf der Schwelle in Ohnmacht siel. In den nächsten Tagen
brach die Natur des Unmenschen in ihrer alten wilden Rohheit aus. Wieder
tanzten die Knute und die Ruthe durch das Städtchen, wieder gab es die
tollsten Orgien, von Neuem ritt Hoheit die Kelle schwingend das Schnaps¬
faß, abermals war das Schloß von Zabona eine große Kneipe.
Unter den Leuten des Fürsten befand sich ein Bandit, welcher, als er
bemerkt, daß er allein von seiner Rotte noch übrig, die Wälder verlassen
hatte und nach Zaboria gekommen war. AleM Juriwitsch war dem Manne
gut und hatte ihn in seine persönliche Umgebung gezogen. Er war ein vor-
trefflicher Kundschafter und hielt seinen Herrn wohlunterrichtet von Allem, was
im Schloß und Städtchen vorfiel. Eines Tages brachte dieser Räuber dem
Fürsten einen Brief, den er soeben aufgefangen hatte; derselbe war von Prin-,
zessin Warwara an ihren Gemahl gerichtet. Hoheit erbrach ihn unverweilt,
machte ein finsteres Gesicht, das beim Weiterlesen immer grimmiger wurde,
und schritt dann eine Weile mit auf den Rücken gelegten Händen ein Stück¬
chen pfeifend im Hause umher. Am nächsten Tage lief ein Schreiben vom
Wojwoden und Gouverneur von Zimogorsk ein, welches einen Besuch dieses
Beamten ankündigte. Als Grund der Visite waren gewisse Mittheilungen
angegeben, die man von Prinzessin Warwara erhalten habe. Diese ganze
Nacht verhandelten der Fürst und jener Bandit — er hieß Grischka Chatun
— in verschlossenem Zimmer mit einander. Am folgenden Morgen erhielt
die Dienerschaft Befehl, die Kleider der Prinzessin einzupacken, da sie nach
Memel abreisen wolle, um ihren Gemahl zu besuchen. Am Abend war die
Kutsche bereit. Die Prinzessin nahm von Allen Abschied und stieg ein. Als
sie die Hand ihres Schwiegervaters küßte, zitterte sie am ganzen Leibe und
sank beinahe in Ohnmacht. „Behüte Dich Gott! behüte Dich Gott!" sagte
Alexis Juriwitsch. „Helft ihr in den Wagen."
In dieser Nacht begab sich der Fürst in den Gartenpavillon und blieb
daselbst geraume Zeit. Als man ihn herauskommen sah, bemerkte man, wie
er die Thür verschloß und den Schlüssel in die Wolga warf. Am Morgen
wurden alle Thore, die nach dem Garten führten, zugenagelt, und es erging
der Befehl, daß Niemand mehr in denselben gehen solle.
Um dieselbe Zeit verschwand Anna, eine arme Frau, die seit Wochen
am Fieber gelitten. Niemand hat gedacht, daß sie wiederaufkommen könne,
als sie eines Tages plötzlich ihre Hütte verlassen hatte. Auf welche
Weise, wußte Niemand. Genug, daß man sie niemals wieder zu sehen be¬
kam.
Vierzehn Tage darauf kehrten Grischka Chatun und die beiden Mägde,
welche die Prinzessin Waiwara begleitet, mit der Nachricht, zurück, daß ihre
Herrin auf dem Wege den Anstrengungen der Reise erlegen sei. Chatun
brachte einen Brief von dem Doctor, der sie behandelt, und einen andern
von dem Priester, der sie in der letzten Stunde getröstet hatte. Der Fürst
nahm die beiden Documente in Empfang und verschloß sie in sein Schreibe¬
pult. In Wahrheit hatte Alexis Iuriwitsch jene Anna entführen und statt
seiner Schwiegertochter die Reise fortsetzen lassen. Die Bäuerin war nach
einiger Zeit auf dem Wege an ihrem Fieber gestorben und als Prinzessin War¬
wara begraben worden. Die unglückliche Warwara hatte Chatun inzwischen
aus dem Wagen weggeschleppt und mit Beihilfe des Fürsten in jenein Pavil¬
lon vermauert.
So flüsterte wenigstens die Sage, und die Entdeckung, die später Daniel
Borisowitsch, der Enkel des Fürsten, in jenem Gartenhause machte, und die
ihn veranlaßte, dasselbe niederreißen zu lassen, scheint es zu bestätigen.
Zunächst kam davon nichts an den Tag. Chatun und die beiden Mägde
wurden am folgenden Tage in einem lecken Boot mit irgend einem Auftrag
nach dem andern Ufer der Wolga geschickt. Der Fluß war voll Eis, und es
wehte ein 'starker Wind. Fürst Alexis stand auf einem der Hügel über dem
Strom und schaute zu. Als das Fahrzeug sank, machte er das Zeichen des
Kreuzes. Dann begab er sich in das Kloster, um Gebete für die Seele der
verewigten Prinzessin zu bestellen.
Als Alexis Iuriwitsch wieder heim kam. ließ er ein großes Faß mit
Wodka in seinen Salon schaffen und dann zechte er mit seinen Bauern an
die vierzehn Tage in Einem fort. Er gab dem einen ein Stück kostbaren
Sammet, dem andern einen Diamantring und betrug sich vollkommen wie ein
Wahnsinniger. Endlich erschien im Städtchen ein Offizier mit Soldaten und
ließ sich beim Fürsten anmelden. Letzterer zog seine Generalsumsorm an,
hing inne Eavaleriejchäipe um, nes seinen Bediente» zu, ihm die große Kar¬
dätsche zu bringen und bereitete sich aus diese Weise zum gebührenden Empfang
der Ankömmlinge vor. Als sie eintraten, erhob er sich kaum von seinem
Sitz. „Wir sind gekommen, Fürst Alexis Juriwitsch, um eine Untersuchung
über Ihr Verhalten gegen die Prinzessin Wnnvara und Ihr Thun und Trei¬
ben überhaupt anzustellen," sagte der Major.
„Und wie kommt Ihr Euch unterstehen, Eure Teufelsfratzen hier zu zeigen?"
brüllte der Fürst. „Ihr sollt allesammt die Knute zu schmecken kriegen, und
der Wojwode gleichermaßen, falls er zu erscheinen wagt."
„Beruhigen Sie sich, Hoheit", erwiederte der Offizier. „Ich habe eine
Bedeckung von Dragonern, und ich komme nicht vom Wojwode», sondern auf
directen Befehl Ihrer Majestät der Kaiserin."
Als der Fürst diese Worte vernahm, schauderte er zusammen, schrie „Ich bin
verloren, ich bin verloren!" kniete vor dem Major nieder, bot ihm zwanzig¬
tausend lliubel an, wen» er ihn verschonen wolle, und erniedrigte sich auf das
Kläglichste.
Der Major legte ihm verschiedene Fragen vor. Aber Alexis Iuriwitsch
verdrehte d>e Augen wie ein Besessener und antwortete unzusammenhängend,
sodaß jener sah, er sei nicht im Besitz seiner Sinne, und das weitere Verhör
auf den nächsten Tag verschob. Der Fürst ging auf sein Zimmer. Er mußte
dabei die Bildergallerie durchschreiten. PiotzUch hielt er vor dem Portrait der
Prinzessin Warwara um und schrak zurück. Es war ihm, als ob der Kopf
des Bildes sich bewegte, noch einmal blickte er hin, dann sank er besinnungs¬
los zu Boden. Als er wieder zu sich kam, befahl er den Bedienten, das Ge¬
sicht des Gemäldes Mit schwarzer Farbe zu überstreichen. Man brachte ihn
dann zu Bett, und ein Barbier ließ ihm zur Ader. Hieraus fragteer, ob das
Eesicht nun übermalt sei, und als man das bejaht, verschied er.
Die Familie der Fürsten von Zaboria ist jetzt ausgestorben.
Fürst Alexis Iuriwitsch war, als er >n den Besitz des Familienguts ge¬
kommen, so reich, daß er sein Gold- und Silbergeschirr nach Centnern und
seine harten Rubel nach Tonne» zu rechnen pflegte. Seine rücksichtslose Ver¬
schwendung war natürlich nicht ohne Folgen für seinen Besitz, und sein Sohn
Boris Alexesewitsch fand, als er die Erbschaft antrat, nicht ganz was er er¬
wartet hatte. Indeß war das Vermögen so ungeheuer, daß es nicht wohl
zu ermöglichen war, mit demselben in zwei Generationen fertig zu werden.
Boris that nun allerdings Alles was in seinen Kräften stand, jene Unmög¬
lichkeit zu überwinden, und „lebte, als ob er gemiethet worden wäre, die
Güter der Familie zu ruiniren", aber die Aufgabe war doch zu groß für ihn.
Er lebte wie ein gerechter und vollkommner altrussischer Herr, nicht so roh
wie sein Vater, aber ebenso ausschweifend, und verstarb endlich an einer
Störung der Verdauung, die er sich bei einem großen Festessen in seinem
Club geholt.
Sein Nachfolger Borisowitsch erbte noch dreitausend „Seelen". Er machte
zuerst den Versuch, das Besitzthum der Familie wieder emporzubringen, fand
dies aber unmöglich, besonders da auch er kostspielige Neigungen oder, wie
er's nannte. Ideen hatte. Er lebte lange Jahre mit Fürst Woronzoff's Ge-
sandtschaft in Frankreich, verfiel in dieselbe mystisch-pietistische Spielerei, für
die sich der Kaiser Alexander von Frau von Krüdener begeistern ließ, unter¬
schrieb große Geldsummen für die Errichtung von Freimaurerlogen und für
die russische Bibelgesellschaft, und wurde auf diesen und ähnlichen Wegen gegen
achthundert „Seelen" los.
Die Tochter dieses interessanten Daniel, Prinzessin Natalia Daniclowna,
verreiste sofort nach Ableben ihres Erzeugers in die Bäder Deutschlands und
von dort nach Italien, wo sie fünfundzwanzig Jahre lebte. Als eines Tags
ein Kasten mit den sterblichen Resten der Prinzessin von Rom in Zaboria
anlangte, enthielten die Geldkvffer der Familie gerade noch die Summe von
zwölf Rubeln, fünfzig Kopeken, wahrend man die auf den Gütern lastenden
Schulden aus eine Million veranschlagte. Die Verblichne hatte keine nahen
Verwandten, und unter den entfernten befand sich Niemand, der sie genügend
geliebt hätte, um Zaboria und mit diesem ihre italienischen Schulden anzu¬
nehmen. Das Ende der Geschichte war folgendes: das Gut wurde unter den
Hammer gebracht, der Sohn eines frühern Kellners im Gasthof der Stadt
erstand Schloß und Land der erlauchten Fürsten von Zaboria, und die Gläu¬
biger der seligen Prinzessin bekamen fünfundsechzig Kopeken vom Rubel, das
heißt fünfundsechzig Procent vom Hundert.
„O Gcdemin und Minnegul!"*) ruft Pechcrski aus. „wie werdet Ihr
diesen letzten Sprößlnig Eures edeln und fruchtbaren Geschlechts empfangen
haben, die Prinzessin Natalia Daniclowna? Dann Du, o Fürst Alexis Juriwitsch,
wie magst Du sie willkommen geheißen haben, mein Väterchen? Wie betrübt
mußt Du gewesen sein. Deiner Urenkelin nicht in dieser Welt hienieden zu be¬
gegnen, wo Du mit ihr nach Deiner Weise verfahren sein würdest."
Die seit langer Zeit drohende Ministerkrisis ist plötzlich bei einer Frage,
bei welcher man es nicht erwartet hatte, zum Ausdruck) gekommen. Man darf
sich nicht darüber täuschen: auch ohne den Hagen'schen Antrag würden wir
in einigen Wochen entweder einen Ministerwechsel oder eine Kammcrauflösung
gehabt haben. Der Hagen'sche Antrag war nur der letzte leichte Windstoß,
der die welke Blüthe abschüttelte. Der innere Zwiespalt des Ministeriums,
der unvermittelte Gegensatz zwischen Herrenhaus und Abgeordnetenhaus,
wodurch unsere ganze Gesetzgebung lahm gelegt wurde, die voraussichtliche
Nesultatlosigkeit der ganzen Session, der Mangel an jeder Aussicht, daß das
Ministerium durch einen energischen Entschluß uns aus dieser Versumpfung
herausreißen werde, der in Folge davon wachsende Widerwille des Abge¬
ordnetenhauses gegen die Annahme des Militärbudgets, aus weicher doch
das Ministerium eine Cabinetsfrage gemacht hatte — das sind die Gründe,
welche eine Krisis in nächster Zukunft unvermeidlich erscheinen ließen. Des¬
halb ist Niemand durch die jetzige Katastrophe überrascht, obwohl man sie nicht in
Folge einer solchen Veranlassung erwartet hatte.
Was bedeutet denn aber der Hagen'sche Antrag, welcher so plötzlich unser
Ministerium gestürzt hat? Es handelt sich dabei um eine Streitfrage, welche
so alt ist, wie unsere Verfassung, nämlich um den Begriff einer Etatsüber-
schreiiung. Nach Artikel 104 unserer Verfassung ist zu Etatsüberschrei¬
tungen die nachträgliche Genehmigung der Kammern erforderlich. Aber
wann ist eine Ausgabe als eine Etatsüberschreituug anzusehen? Der Streit,
der über diese Frage schon seit lange geführt wird und wiederholt in den
Kammern zur Sprache gekommen ist, dreht sich um folgenden Punkt.
Der Staatshaushnlts-Etat. welcher den Kammern vorgelegt wird, besteht
aus einem Hauptctcit und aus einer Reihe von einzelnen Vcrwaltungs-Etats,
welche die Grundlage des Hauptetats bilden. Der Hauptctat ist im Grunde
nichts Anderes, als ein Extract aus den einzelnen Verwaltungsetats. Die
letzteren werden den Kammern regelmäßig zugleich mit dem Hauptsinanzetat
übergeben. Sie werden von ihnen im Einzelnen berathen, und die ziemlich
detaillirten Positionen werden einzeln zur Abstimmung gebracht. Die aus
diesen einzelnen Abstimmungen sich ergebenden Summen werden zu größeren,
oft sehr bedeutenden Summen zusammenaddirt, und so nach Haupttiteln
und Kapiteln in den durch die Gesetzsammlung, publicirten Hnuptetat auf-
genommen. Die Frage also ist diese, ob die Regierung nur an die in
den Hauptctat aufgenommenen und durch die Gesetzsammlung publicir-
ten Hauptsummen gebunden ist, oder auch an die einzelnen Summen
des Verwaltungs-EtatZ, aus deren Zusammenaddirung jene Hauptsum¬
men entstanden sind. Je nachdem niam diese Frage beantwortet, ergibt
sich der Begriff der Eiatsüberschrcitung, zu welcher nach Art. 104 der Ver-
fassung die nachträgliche Genehmigung der Kammern erforderlich ist. Nach
der einen Ansicht liegt eine Etalsüberschreitung nur dann vor, wenn die
Summen des Hauptetats überschritten sind; die andere Ansicht aber erklärt
es bereits für eine unstatthafte Etatsüberschreitung, wenn zwar im Ganzen
die Summen des Hauptelats innegehalten, aber innerhalb derselben die ein¬
zelnen Positionen des Verwaltungsetats überschritten, und also Mittel, die
zu bestimmten Zwecken bewilligt waren, zu andern fremdartigen Ausgaben
verwendet worden sind.
Die Landesvertretung ist gewiß in ihrem vollsten Recht, wenn sie auf
diesem Gebiet strenge an ihren Befugnissen festhält. Es handelt sich hier in
der That um die Frage, ob die Steuerbewilligung und die Controle der
Finanzverwaltung eine Wahrheit oder ein Gaukelspiel sein soll. Denn das
Neckt der Steuerbewilligung besteht doch nicht blos darin, daß der Negierung
gewisse große Summen in Bausch und Bogen zur Verfügung gestellt werden,
sondern die Bedeutung dieses Rechts liegt darin, daß die Zwecke, für welche
die bewilligten Gelder verwendet werden sollen, mit der Landesvertretung
vereinbart werden. An einem Beispiel wird die Bedeutung der Sache so¬
gleich einleuchtend weiden. Einer der Titel des Hcinptetats will dem Kriegs¬
minister die Summe von 31,038,812 Thlv. „zur Verpflegung, Ausrüstung
und Ergänzung der Truppen" zur Verfügung stellen. Soll ihm diese Summe
in Bausch und Bogen bewilligt werden? Soll der Kriegsminister das Recht
haben, über Ersparnisse, welche er vielleicht auf einem Gebiete der Militärver¬
waltung macht, zu jedem beliebigen Zweck zu verfügen, so lange er nur im
Ganzen jene Summe von 31 Millionen nicht überschreitet? Solche Erspar-
nisse können sehr bedeutend weiden, selbst ohne daß man sie künstlich herbei¬
zuführen braucht, z. B. wenn die Preise von Roggen, Hafer, Heu und Stroh
erheblich sinken. Mit sorgsamer Nachhülfe lassen sich die Ersparnisse leicht
auf ein Paar Millionen steigern. Wer hindert dann den Kriegsminister,
aus seinen Ersparnissen ein Paar neue Kavallerieregimenter oder gar neue
Cadettenhäuser zu errichten? Unser Kriegsminister hat selbst erklärt, daß er die
Ausgaben für die Armee als die productivsten Ausgaben betrachte. Aber
die Landesvertretung ist nicht geneigt, ihm unbedingt zu folgen. Vor zwei
Jahren bewilligte das Abgeordnetenhaus dem Kriegsminister neun Millionen
„zur einstweiligen Aufrechterhaltung der Kriegsbereitschaft". Herr von Roon
benutzte dies Geld zur definitiven Durchführung einer Organisation, welche
jetzt kaum wieder rückgängig zu machen ist. Seitdem herrscht die Ansicht vor,
daß man namentlich Herrn von Roon gegenüber den Knopf auf dem Beutel
halten muß. Deshalb wünscht man, jene 31 Millionen nicht en dive zu be¬
willigen, sondern in einzelnen Positionen, an deren Jnnehaltung der Minister
gebunden sein soll.
. Die Schwierigkeit der Budget-Frage liegt offenbar darin, daß man die
richtige Grenze zwischen der Controle der .stammer und der freien Bewegung
der Regierung finde. Nach beiden Seiten kann man zu weit gehen. Wollte
die Kammer die Summen bestimmen, welche für Feuerung und Heizung in
jedem einzelnen Amtslocal der preußischen Monarchie zu verwenden sind,
so Wäre das eine Absurdität, deren Unausführbarkeit auf der Hand liegt.
Aber eben so bedenklich ist das andere Extrem, wenn man dem Kriegsminister
31 Millionen vn divo bewilligt. Es handelt sich darum, daß einerseits eine
wirksame Controle des Abgeordnetenhauses möglich, und andererseits doch der
Regierung diejenige Freiheit erhalten werde, welche zu einer erfolgreichen
Finanzverwaltung erforderlich ist.
Mit der Lösung dieser Schwierigkeit hat man sich seit dem Beginn
unseres Verfassungslebens beschäftigt. Schon bei der Prüfung des ersten den
preußischen Kammern vorgelegten Budgets für 1849—50 kam die Sache zur
Sprache. Damals vereinigten beide Kammern sich über den Grundsatz, daß
Überschreitungen der einzelnen Etatstitcl bei den Staatsausgaben auch dann
nicht stattfinden dürfen, wenn solche durch Ersparnisse bei anderen Titeln
desselben Etats gedeckt werden, und daß daher auch solche Etatsüberschreitungcn
der nachträglichen Genehmigung der Kammern bedürfen. Den gleichen Grund¬
satz stellte die zweite Kammer im folgenden Jahre bei dem Etat für 1851
auf; aber schon damals trat die erste Kammer dem nicht bei, sondern er¬
klärte im Gegentheil, daß „als Etatsüberschreitungcn nur solche Ausgaben
anzusehen sind, welche bei den in dein Staatshaushaltungs-Haupt-Etat aus¬
gebrachten Positionen als Mehrausgaben hervortreten." Dies war in der
Zeit der fortschreitenden Reaction; schon im folgenden Jahr, bei der Prüfung
des Budgets für 1852, schlug die Commission der zweiten Kammer vor, dem
im vorigen Jahre von der ersten Kammer angenommenen Grundsatz beizu-
treten. Diesem Vorschlag gegenüber vertheidigte damals (3. Febr. 1852) der
Abgeordnete von Patow mit besonderem Nachdruck den früheren Grundsatz;
er zeigte, daß die Kammern allerdings das Recht haben, auf die einzelnen
Verwnltungs-Etats wieder zurückzugehen, und daß das Genehmigungsrecht der
Kammern fast illusorisch werde, wenn sie gezwungen würden, sich bei der
Prüfung der Etatsüberschreitungcn lediglich auf den Hauptetat zu beschränken.
Der Abgeordnete Camphausen war damals der Ansicht, daß diese Frage ihre
principielle Erledigung in dem im Artikel l04 der Verfassung verheißenen
Gesetze über die Oberrechnuugskammer finden werde. Seitdem schwebt die Frage,
ohne principiell entschieden zu sein. In der Praxis hat die nach 1852
im Zunehmen begriffene reactionäre Strömung die Oberhand gewonnen.
So hat sich allmälig eine Art der Budgetbewilligung und der Finanzcontrole
herausgebildet, von welcher der alte Kühne bekanntlich gesagt hat. sie sei
nichts als ein Gaukelspiel.
In diesem Jahre wurde endlich der lange verheißene Gesetzentwurf über
die Oberrechnungskammcr vorgelegt. Hier mußte der Begriff der Etatsübcr-
schreitung principiell festgestellt werden. Leider hatten bei der Feststellung des
Entwurfs die Herren von Roon und von der Heydt über die liberalen Mitglieder
des Ministeriums gesiegt. Der Entwurf drohte die bisherige reactionäre
Praxis als gesetzliches Princip zu fixiren. Eine Verantwortlichkeit der Minister
den Häusern des Landtags gegenüber soll demnach nur in so weit bestehen,
als Abweichungen von den Summen des als Gesetz publicirten Staatshaus¬
halts-Etats vorgekommen sind. In den Motiven des Gesetzentwurfs über die
Oberrechnungskammer heißt es wörtlich: „Die Beschlüsse, welche bei der Be¬
rathung des Staatshaushalts-Etats zu den die Grundlage desselben bildenden
Verwaltuugs-Etats gesaßt werden, verhalten sich zu den Ansätzen des publi¬
cirten Staatshaushalts-Etats überall nur wie die Motive eures Gesetzes zu
dessen dispositiven Anordnungen, welche letztere allein die bindende Borschrist
abgeben und deren Ueberschreitung daher allein eine'Verantwortlichkeit zur
Folge haben kann." Dieser Grundsatz, sobald er anerkannt wäre, würde die
beschließende Gewalt des Landtags zu einer rcithgcbeudc» herabdrücken. Die
Commission des Abgeordnetenhauses, an welche der Entwurf gewiesen ist,
hat alle diese Bestimmungen herauscorrigirt. Aber ob und in welcher Ge¬
stalt der Entwurf über die Oberrechnungskammer Gesetzeskraft erhalten wird,
ist bei dem zwischen Herrenhaus und Abgeordnetenhaus bestehenden Zwiespalt
vollkommen ungewiß. Wenn also die Finanzcontrole der Landesvertretung
nicht noch für eine unbestimmte Zukunft eine unwirksame bleiben sollte, so
mußte bei der Behandlung des Budgets selbst die nothwendige Abhilfe ge¬
troffen werden.
Dies sind die Voraussetzungen, von denen aus der Antrag des Abgeord¬
neten Hagen zu beurtheilen ist. Der Gedanke Hagen's ist sehr einfach. Wenn
nur die in den Hauptetat aufgenommenen Summen gesetzliche und die Re¬
gierung bindende Gewalt haben sollen, so hat das Abgeordnetenhaus ein sehr
einfaches Mittel, sich eine wirksame Finanzcontrolle zu verschaffen. Es braucht
nur zu verlangen, daß die einzelnen genehmigten Positionen jedes Special-
Etats in den Staatshaushalts-Etat betreffenden Ortes aufgenommen werden;
dadurch erhalten alle diese einzelnen Positionen gesetzliche Kraft. Dies ist die
Absicht des ursprünglichen Antrages, welchen der Abgeordnete Hagen in, dei-
Budgetcommission gestellt hat.
Gegen diesen Antrag erklärte sich der Finanzminister sogleich in der Com¬
mission mit der größte» Entschiedenheit. Er gab zu, daß eine größere Spe-
cialisirung des Budgets wünschenswert!) sei, aber behauptete zugleich, die von
Hagen verlangte Specialisirung gehe zu weit; das Haus werde dadurch zu
sehr mit Detailarbeiten überhäuft und die Verwaltung zu sehr beschränkt.
In Folge davon hat man die Reden, welche der Abgeordnete von Patow
1852 gehalten hat, mehrfach mit den Reden des jetzigen Finanzministers von
Patow in Parallele gebracht, und die vermeintliche Inconsequenz desselben
nicht ohne Bitterkeit gerügt. Wer gerecht sein will, muß Patow gegen solche
Anschuldigungen in Schuh nehmen. Einem ganz dürftigen und sich in den
allgemeinsten Sähen haltenden Budget gegenüber verlangte er 1852 eine
größere Specialisirung. Dagegen erklärt er 1362, daß ein Antrag, der die
Titel des jetzigen Budgets etwa um das siebenfache vermehren will, in der
Specialisirung zu weit gehe. Zwischen diesen beiden Ansichten ist kein
Widerspruch.
Der ursprüngliche Hagen'sche Antrag ward mit der Modification, daß
eine in gewissen Fällen etwa zweckmäßige Zusammenziehung der Positionen
vorbehalten werde, von der Commission mit 20 gegen 7 Stimmen angenom¬
men. In einer späteren Commissionssitzung aber, am 27. Febr., ward die
Frage nochmals zur Erörterung gebracht. Der Finanzminister sprach sich noch¬
mals gegen den ursprünglichen Antrag aus, erklärte aber zugleich, daß die
Regierung einer größeren Specialisirung des Staathnushalts-Etats nicht ent¬
gegen sei, nnr müsse sie dabei von einer doppelten Voraussetzung ausgehen,
nämlich l), daß die Specialisirung gewisse Grenzen nicht überschreite, damit
die Verwaltung in der freien Bewegung nicht zu sehr gehemmt werde, und
2) daß nicht schon der Staatshaushalts-Etat für 1862 nach diesem neuen
System umgearbeitet werden solle, sondern daß die größere Specialisirung erst
bei der Aufstellung des Etats für 1863 in Anwendung komme. Es gelang
dem Finanzminister, die Budgetkommission für seine Ansicht zu gewinnen..
Der Abgeordnete Lehrend, welcher zu den Führern der Fortschrittspartei ge¬
hört, beantragte den früheren Beschluß wieder aufzuheben; dies geschah mit
19 gegen 14 Stimmen. Darauf beschloß die Commission mit 20 gegen 13
Stimmen einen Antrag, durch welchen 1) eine Vermehrung der Titel des
Staatshaushalts-Etats für nothwendig erklärt. 2) die Vndgetscommission er¬
mächtigt wird, Vorschläge zu machen, nach welchen die Titel des Staatshaus¬
halts-Etats pro 1863 festgestellt werden sollen, und 3) die Regierung aufge¬
fordert wird, den Staatshaushalts-Etat für 1863, nach den vom Hause dem¬
nächst anzunehmenden Vorschlägen, im nächsten Jahre, der Landesvertretung
vorzulegen. Mit diesem Antrag war der Finanzminister cinveistanden, und
es schien also jede Möglichkeit eines Conflicts beseitigt.
Aber ganz anders kam es, als am letzten Donnerstag (6. März) vie
Sache im Plenum des Hauses verhandelt wurde. Eine große Anzahl von
Mitgliedern war damit unzufrieden, daß die wirksamere Finanzcontrole erst
1863 in Ausführung kommen solle, während sie doch gerade jetzt dringend
wünschenswert!) sei, wo, wie es scheint, definitive Provisor!» wieder in Aus¬
sicht stehen. Der Abgeordnete Hagen nahm also seinen ursprünglichen Antrag
in einer etwas modificirten Weise wieder ans. Sein neuer Antrag geht dahin
daß i) der Staatshaushalts-Etat in seinen Titeln durch Aufnahme der wesent¬
lichen Einnahme- und Aufgabe-Positionen ans den demselben zu Grunde liegen¬
de» Verwaltungs-Etats mehr zu specialisiren, 2) diese Specialisirung schon
bei der Feststellung des Staatshaushalts - Etats xi-v 1862. und zwar im
Anhalt an die Titel und Titelabthcilungen der pro 1859 gelegten Spccial-
Rechnungeu zu bewirken sei. Von dem früheren Antrag unterscheide: sich dieser
neue dadurch, daß die Specialisirung des Etats, welche jetzt verlangt wird,
lauge nicht so weit geht, als in dem ersten Antrag. Der Unterschied von dem
Commissions-Antrag liegt darin, daß Hagen dabei bleibt, die Specialisirung
auch schon für das Jahr 1862 zu verlangen.
Dies ist der Punkt, wo der Conflict mit der Negierung eintritt. Der
Finanzminister hat principiell gegen den Hagen'schen Antrag im Grnnde nichts
einzuwenden. Er kämpft nur gegen die sofortige Durchführung in dem Bud¬
get des laufenden Jahres. Auch dies erklärt er nicht für unausführbar. Er
hat nur das Bedenken, daß, weil die Vorarbeiten für das Budget schon alle
gemacht sind, durch die Annahme des Antrages die Wiederholung einer sehr
mühsamen Arbeit nothwendig werde, und daß der Erfolg wahrscheinlich in
feinem Verhältniß zu der Mühe stehen werde. Dabei erklärte er ausdrücklich,
daß er den Antrag nicht als ein Mißtrauensvotum auffasse, fügte aber doch
zugleich hinzu, er werde sich fragen, ob »ach Annahme des Antrags es »och
möglich sei, zu regieren und die Verantwortung sür die Leitung der Geschäfte
zu übernehmen, ob darin nicht ein Eingriff in die Executive liege. Vergeb¬
lich versuchte der Abgeordnete Kühne durch ein vermittelndes Amendement,
welches wenigstens eine theilweise Specialisirung des Etats schon für das
Jahr 1862 in Aussicht feilte, den unmittelbar drohenden Conflict zu um¬
gehen. Der Finanzminister, welcher anfänglich auch das Amendement Kühne
zurückwies, erklärte sich schließlich mit demselben einverstanden. Gleichwohl
ward bei der Abstimmung der Hagen'sehe Antrag mit 171 gegen 143 Stim¬
men angenommen. Für den Antrag stimmten die Fortschrittspartei, die Frac-
tionen Immermann und Bockum-Dolfss (nur der Abgeordnete Stavenhagen
stimmte mit der Minorität), serner dre Polen und einige wenige Mitglieder
der Fraction Grabow. Gecken den Antrag stimmten die Fraction Grabow,
die Ultramontanen und die Reactionäre.
Dies ist der Vorgang, welcher die Krisis zum Ausdruck) gebracht hat.
Den weiteren Verlauf können wir. in wenigen Worten zusammenfassen. Die
auf Sonnabend (8. März) angesetzte Sitzung des Abgeordnetenhauses ward
auf den Wunsch des Staatsministeriums bis Dienstag vertagt. Da¬
gegen fand am Sonnabend eine Conseilsitzung unter dem Vorsitz des Königs
statt. Nach dieser Sitzung wurde ein Ministerrnth gehalten, in'welchem das
gesammte Ministerium beschloß, seine Entlassung einzureichen. Noch im Laufe
desselben Nachmittags übergab das Staatsmin'isterium sein Entlassungsgcsuch
dem Konig. Der Konig nahm dasselbe nicht an. Am Dienstag, deu 11. März
erfolgte die Auflosung des Abgeordnetenhauses, die Vertagung des Herren¬
hauses. Der Unterrichtsminister Hr. v. Bethmann-Hollweg' tritt von seinem
Posten ab.
Wir haben jetzt eine der Proben zu bestehen, welche einem jungen, sich
erst befestigenden Verfassungslebcn nie erspart werden. Aber über Eines
herrscht die vollständigste Einigkeit. Der vorliegende Conflict wird sich auf
dem Boden' der Verfassung und mit verfassungsmäßigen Mitteln lösen. Bei
aller Spannung herrscht hier eine vollkommen ruhige Fassung. Man weiß,
daß eine Negierung, welcher der König die Leitung der Geschäfte anvertraut,
nur Mittel anwenden wird, welche die Verfassung an die Hand gibt. Und
das Land weiß, daß es durch die Neuwahlen das vollkommen ausreichende
Mittel in der Hand hat, seine politischen Ansichten zur Geltung zu bringen.
Es war kein glorreicher Tag in dem jungen Vcrfassungslcben Preußens, an
welchem der Gegensatz zwischen Ministerium und Kammern zum Ausbruch kam,
fast zufällig, allen Parteien unerwartet. Wie berechtigt der Hagen'sche An¬
trag an sich war, nach den Versprechungen des Ministers v. Patow, für das nächste
Jahr den Wünschen der Commission gemäß die Budgetpvsten einzurichten, war das
Verwerfen des Kühne'schen Amendements und das Beharren auf einer Einführung schon
in diesem Jahre ein Mißtrauensvotum. Während der Debatte selbst spannten sich
die Gegensätze, und alle Parteien verfuhren unter dem Einfluß der Stunde. Die
Fortschrittspartei fehlte darin, daß ihre Angriffe auf den liberalsten und talentvollsten
der Minister einen persönlichen Charakter erhielten; sie vergaß im Eifer, daß es in
hohem Grade unklug war, in einer Nebenfrage das Ministerium herauszufordern
und zum Aeußersten zu treiben. Die Fraction Grabow verlor so sehr ihre Haltung,
daß kein einziges ihrer Mitglieder auch nur auf den Gedanken kam, durch einen
Antrag auf Vertagung den unzweckmäßigen Kampf zu unterbrechen. Der Minister
endlich, dessen verfassungsmäßige Haltung dem unbefangenen Leser der Debatte leb¬
haften Antheil einflößt, hätte die Sache behandeln sollen, wie sie verdiente,
als eine Laune seiner jungen Kammer. Die Anstellung eines halben Dutzend
Calculatoren schon in diesem Jahre hätte den argwöhnischen Wünschen des Abge¬
ordnetenhauses Befriedigung gewährt. Ein erfahrener Politiker, wie Herr v. Pa¬
tow, hätte immer noch Recht, mit einigem Humor auf solche Debatten zu sehen.
Zuletzt freilich wurde der ganze Conflict nur möglich, weil die Stellung des Mi¬
nisteriums zwischen Krone und Volk unhaltbar geworden war.
Was soll nun geschehen? Zunächst mögen die liberalen Mitglieder des Mimi-
steriums überzeugt sein, daß die große Majorität des preußische» Volkes wünscht, sie
ihren Aemtern erhalten zu sehen; freilich unter Bedingungen, welche ihnen eine
dem Lande nützliche Thätigkeit sichern. Es scheint, daß sich das Ministerium bis
nach Auflösung der Kammern zu solidarischen Zusammenhalten verpflichtet hielt.
Es versteht sich aber, daß dies Ministerium ohne Personenwechsel nach einer oder
der andern Seite nicht neuen Kammern gegenüber treten kann. Wenn es einem ent¬
schlossenen Zusammenhalten der Herren v. Schwerin und v. Patow gelänge, eine
Modification des Ministeriums dadurch durchzusetzen, daß ein freisinniger Cultus-
minister sie verstärkte, daß das Handelsministerium unter eine Leitung käme, an wel¬
cher nichts von dem alten Fluche der Zelt Manteuffel Westphalen hängt, und daß
in der deutschen Politik nur etwas mehr, als nichts, geschähe, so würden die näch¬
sten Bedingungen für eine bessere Dauer allerdings gewonnen sein.
Die Lage des Herrn v. Roon ist, da die Militärangclegcnheiten unter der spe¬
ciellen Leitung des Königs stehen, und Herr v. Roon thatsächlich nur als Adjutant
seines Kriegsherrn zu der Kammer spricht, und da dieses Verhältniß in Preußen
nicht durch Ministerkrisen beseitigt weiden wird, trotz allem Geräusch der Tages-
presse weniger hinderlich. Vorläufig wird in Preußen jeder Kriegsminister, wie er
auch heiße, in einer besonders zarten Stellung zu dem Haus der Abgeordneten ste¬
hen, und es wird weit weniger von ihm, als von der Haltung der übrigen Mini¬
ster abhängen, wie das Volk und seine Vertreter den Militürctat betrachten. Die
Frage des Militärctats ist an dem Tage erledigt, wo im Volke die Ueberzeugung
lebendig wird, daß die Regierung weiß, was sie mit einem solchen Heere beginnen
soll. — Nur eine neue Organisation der Marincleitung ist dringend geboten.
Und wenn ein so verjüngtes Ministerium vor den Neuwahlen die Anerkennung
Italiens und eine Reform des Herrenhauses durchsetzte, — die aber uicht in zwanzig
neuen Pairs bestehen dürste — so würde seine Lage den neuen Kammern gegenüber
eine durchaus andere werden.
Dies ist der günstigste Fall, der für die nächste Entwickelung Preußens mög¬
lich ist;'eine allmälige Gewöhnung der Krone und des Volkes an das Verfassungslelicn
ohne große Erscheinungen, vielleicht ohne glänzende Talente, aber ein ununterbro¬
chener sicherer Fortschritt. Dieser Fall ,ist nicht unmöglich. An der Festigkeit der
genannten Herren und ihrer Gesinnungsgenossen im Ministerium hängt bis zu ver
nächsten Sitzung mehr von der Zukunft Preußens, als sonst wohl an dem Beschluß
eines Unterthans.
Wenn jedoch die liberalen Minister, welche zur Zeit an dem Uebelstand leiden,
daß sie die alte Routine gegen sich haben, nicht mit Energie die ohnedies gebo¬
tene Ergänzung des Ministeriums in liberalem Sinne durchzusetzen wissen, so wird
die nächste Sitzung der Kammern der Beginn von innern Erschütterungen werden,
welche durch längere Zeit die Kraft des Staates in Anspruch nehmen, und, wie
sicher sie mit einem Sieg des liberalen Elements enden, doch eine Periode der
Schwäche und Verwirrung unvermeidlich machen.
Für die liberalen Mitglieder des Ministeriums ist die gegenwärtige Lage durch¬
aus nicht ungünstig.
Denn wie kurz auch die Sitzung war, die liberalen Fractionen und das Volk
haben Einiges daraus gelernt.
Weder die Fraction Grabow, noch die Fortschrittspartei haben Ursache, mit
unbedingter Befriedigung auf ihre Wirksamkeit in der vergangenen kurzen Session
zurückzublicken. Die Zersplitterung der Fraction Grabow und die daraus hervorge¬
gangen- Verminderung ihrer Bedeutung war nicht der einzige Uebelstand, unter
welchem sie litt. Groß ist die Zahl tüchtiger und hochgebildeter Männer, welche sie
vereint, aber ihr fehlt doch in überraschender Weise die Gewandtheit in Behandlung
neuer Fragen, ihren Mitgliedern die Fähigkeit, mit Geistesgegenwart und ohne Vorberei-
tung auf der Tribüne sich geltend zu machen. Daß sie führerlos zwischen dem
Wunsch, das Ministerium zu stützen, und den gerechten Forderungen des Volkes
genug zu thun, hinlavirte, gab ihr ein weit schwächeres Aussehen, als die Bedeu¬
tung vieler einzelnen Mitglieder verdient. Sie ist in ihrer jetzigen Lage nicht stark
genug, einem liberalen Ministerium Stütze zu sein, und es ist dringend wünschens¬
wert!), daß in den nächsten Kammern Zahl und Zusammenhalt ihrer Getreuen sich so weit
vermehre, daß nicht polnische Deputirte durch ihre pessimistischen Manöver den Aus¬
schlag zu geben vermögen. Eine solche Stärkung ist aber mur denkbar bei einer
freundlicheren Stellung zur Fortschrittspartei, wie sie bis jetzt nicht in der Presse
und nicht in den Parteioperationcn zu Tage gekommen ist.
An einem andern Uebelstand litt die Linke. Sie enthält fast die ganze junge
parlamentarische Kraft der Preußen, sie ist offenbar die Schule, aus welcher sich die
Talente unserer nächsten Zukunft zu entwickeln haben. Sie ist besser disciplinirt,
behender, schlagfertiger, aber das Selbstvertrauen, mit welchem sie auf den Kampf¬
platz trat, war nicht frei von einer burschikosen Rücksichtslosigkeit, welche den Ver¬
tretern eines großen Volkes nicht zur Zierde gereicht, und nicht frei von dem wohl¬
feilen Behagen, womit in den Versammlungen des Nativnalvcreins und der Wahlmänner
über Staat und Kirche verhandelt wurde. Noch ist sie in Gefahr-, schnell gereizt,
mißtrauisch und heftig, eurigen Schwächen der alten Demokratie zu verfallen. Dazu
kommt, daß sie ihre Macht der lebhaften Unzufriedenheit des Volkes mit dem Herren-
Hause und mit de» Roheiten einzelner Offiziere verdankt. Sie ist im Aerger und aus
Opposition gewählt, und war nur zu sehr geneigt Groll zu zeigen und Opposition
zu machen. Es wäre vielleicht besser für sie selbst gewesen, wenn sie noch für die
nächste Zeit das Resultat der Abstimmungen weniger in der Hand gehabt hätte.
Wie gut ihr Vorsatz war, mit Vorsicht und Mäßigung zu Werke zu gehen, und das
Ministerium auf der liberalen Seite zu stütze», es ist ihr nicht besonders gelungen.
Einem tüchtigen Ministerium aber wäre nicht schwer, auch mit dieser Partei sehr
gut auszukommen.
Das Zeugniß aber wird man allen Deputirten nicht versagen, sie haben red¬
lich gearbeitet. Es war eine echt deutsche Vielgeschäftigkcit, welche durch die unbe-
hilfliche Geschäftsordnung, die Weitläufigkeit und Gründlichkeit der Commissionssttzungen
übermäßig gesteigert wurde. Sie haben Acten gelesen und Actenstöße geschrieben,
Referate gemacht, Tag um Tag bis in die Nacht hinein berathen und debattirt.
Es ist traurig, daß so umfangreiche Arbeit so vieler tüchtiger Männer kein größeres
Resultat gehabt hat. Die Preußen sind noch in den Kinderschuhen des parlamen¬
tarischen Lebens, und sie werden sich gefallen lassen müssen, wenn andere Völker
von größerer Erfahrung ihre Gewandtheit gerade jetzt nicht imponirend finden. Das
aber dürsen sie mit Recht für sich in Anspruch nehmen, daß es ihren Abgeordneten
an Eifer, an gutem Willen und an hingebender Liebe zum Staat nicht gefehlt hat.
Mit Ur. beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März -1862.Die Werlagshandluttg.
Als Italien vor nunmehr neun Monaten den Grafen Cavour begrub,
war man sich allgemein bewußt, daß ein großer Name ausgelöscht aus dem
Buch der Lebendigen, daß das Land einen Verlust erlitten, der kaum zu er¬
setzen. Daß der dahingeschiedene Staatsmann wirklich unersetzlich gewesen,
haben die Ereignisse seitdem gezeigt. Wir sahen einen beträchtlichen Theil dessen,
was er that, aber von dem, was er Andere nicht thun ließ, gingen nur Gerüchte
und Ahnungen um, und gerade diese Seite seiner rastlosen Thätigkeit war in den
letzten Jahren offenbar die bedeutendere. Der mächtige Einfluß, den er auf den
König, auf seinen Verbündeten jenseits der Alpen und auf das italienische Volk
ausübte, wurde allenthalben empfunden, aber erst jetzt, an dem Vergleich mit dem,
was seither geschehen, erkennen wir, wie außerordentlich, wie erstaunlich er gewesen.
Sein Nachfolger, ihm ohne Zweifel gleich an Reinheit des patriotischen Strebens,
Adel des Charakters, Festigkeit des Willens, hatte weder die ungewöhnlichen
Geisteskräfte Cavours noch jenes allgemeine, die höchste Zuversicht des Erfolgs
einschließende Ansehen bei der Nation, das er sich durch das wunderbare Werk
erworben, welches er fast bis zur.Vollendung hinausgeführt.
Baron Nicasoli war zu steif und ernst, um bei den Massen beliebt zu
sein. Ihm mangelte die Neigung des Königs. Der Kaiser der Franzosen
fürchtete ihn nicht in dem Maß wie seinen Vorgänger, Nur das Parlament,
welches reichlich Gelegenheit gehabt, zu erkennen, wie verständig seine An¬
schauung von der Lage der Dinge, wie fleckenlos sein Ruf, und wie uneigen¬
nützig seine Vaterlandsliebe, wußte ihn nach Verdienst zu schätzen. Sein Rück¬
tritt vom Staatsruder im jetzigen Augenblick ist einer der größten Unglücksfälle,
welche das noch unconsolidirte Königreich Italien treffen konnten.'
Baron Bellino Ricasoli, einer der ältesten Adelsfamilien Toscanas
entstammend, reich begütert, zu den ersten Landwirthen Italiens gezählt, ist
jedenfalls auch als Politiker eine bedeutende Erscheinung. Nur fehlt ihm das.
was in diesem Jahrhundert der Compromisse vor Allem noth thut, die Ela¬
sticität des Diplomaten, die, in dem einen Augenblick den Verhältnissen nach¬
gebend, im nächsten die Gelegenheit ersieht, um doch zu erreichen, was beab-
fichtige wird. Er ist ein gerader, unbeugsamer, wir möchten sagen ein
autonomer Charakter, nicht geneigt, sich von dem Wechsel der Umstände Con¬
cessionen abdringen zu lassen, weder nach rechts noch nach links um die Gunst
der Parteien bemüht, unzugänglich vor Allem dem Einfluß Frankreichs, ein
eiserner Gegner mazzinistischer Demagogie, aber der eifrigste, rücksichtsloseste und
ausdauerndste Verfechter der Einheit des italienischen Vaterlandes.
Schon aus seiner Knabenzeit werden Züge entschiedener Willenskraft von
ihm erzählt. Als er sieben Jahre alt war und in die Schule der Jgnoranten-
brüderschaft ging, wurde ihm einmal die dort übliche abgeschmackte Buße auf¬
erlegt, sich mit dem Gesicht auf den Boden zu beugen und mit der Zunge
das Kreuzeszeichen auf dem Flur zu beschreiben. Bellino weigerte sich, und als
der Lehrer darauf bestand, erklärte er trotzig: „Das schickt sich für das Vieh.
Ich thue es nicht." Und dabei blieb er, und die Strafe wurde hinfort Nie¬
mand mehr angesonnen. Sehr jung noch verheirathete sich Ricasoli mit einer
Bonnacorsi, die ihm eine einzige Tochter gebar. Plötzlich zog er sich mit Frau
und Kind — man sagt, weil er seine Gattin im Verdacht der Untreue gehabt
— aus der Gesellschaft von Florenz auf sein altes Stammschloß Brolio zurück,
und erst nach neun Jahren verließ die Baronin Anna diesen Ort wieder, um
als Leiche die Familiengruft zu beziehen.
Frühzeitig gehörte Ricasoli zu. den Freunden von Reformen in Florenz,
doch war er stets gegen den Versuch zum Fortschritt nach demokratischen Grund¬
sätzen. 1847 rieth er dein Großherzog in einer Denkschrift, die Monarchie
mit zeitgemäßen Einrichtungen zu umgeben, und zu gleicher Zeit gründete er
mit Salvagnoli und Lambruschini das Journal La Patria, welches das Motto
„?noi-i i birrbiu'i" führte und ein einheitliches Italien befreit vom Papst und
von Oestreich forderte.
Die durch Pius den Neunten angeregt« unklare und empfindsame Agita¬
tion der letzten vierziger Jahre erbaute ihn um so weniger, als er zu einer
Auffassung der Religion und Kirche hinneigte, die sich der protestantischen näherte.
In Brolio pflegte der Baron seine Bauern Sonntags in dem großen Schlo߬
saal zu versammeln, um ihnen das Evangelium zu erklären. Sein Kaplan
stand müßig dabei.
Als zwischen Modena und Toscana der bekannte Streit wegen der Besitz¬
ergreifung von Lucca ausbrach, verhandelte Ricasoli im Auftrag des Gro߬
herzogs mit Carl Albert von Sardinien. Bei dieser Gelegenheit warf er
seinen Blick weiter und sah in dem König den Mann, der zur Befreiung Ita¬
liens berufen sei, nur fand er ihn nicht entschieden genug. „Man muß den
König in der italienischen Sache compromittiren," schrieb er damals an den
toscanischen Minister Serristori.
1848 war er Gonfaloniere von Florenz, nahm aber seinen Abschied, weil
ihm das Treiben Montanelli's und Guerrazzi's verkehrt erschien. Er wurde
Mitglied der Regierungscommission, die den Großherzog zurückrief; als jedoch
Leopold die Oestreicher mitbrachte, forderte der Baron sofort seine Entlassung,
begab sich wieder auf seine Burg Brolio und zog die Zugbrücke hinter sich auf.
Zehn Jahre lang beschäftigte er sich nun mit Austrocknung der Maremmen,
und da er die Sache mit Ernst und Umsicht auffaßte und sich mit seinen Bauern
selbst an die Arbeit machte, so erzielte er wunderbare Erfolge, während der
Großherzog, auf dessen Seite jene Eigenschaften mangelten, mit dem gleichen
Unternehmen wenig oder nichts erreichte.
Das Jahr der Befreiung kam, 1859. In Florenz beriethen die Liberalen
eine Sturmpetition, welche die nothwendigen Reformen erzwingen sollte. Rica-
soli widersehte sich. „Wer soll die Adresse überbringen?" rief der stolze Herr.
„Ich nicht!" Und die Adresse wurde verworfen, Toscana wandte sich dem ge¬
krönten Soldaten Italiens zu, und der Großherzog verließ Ende April Resi¬
denz und Land, welches von da an von Buoncampagni und Ricasoli, von Letz¬
terem als Minister des Innern, im Namen Victor Emanuels verwaltet
wurde.
Selten wurde eines Amts mannhafter und zugleich milder gewartet, selten
treue Tüchtigkeit mit mehr Vertrauen von Seiten des Volkes vergolten, mit
besserm Erfolg gekrönt. Uebergangszustände, wie sie jetzt in Neapel vorkom¬
men, sind in Toscana nicht zu bemerken gewesen, und wenn es Schwierig¬
keiten gab, so waren sie vom Ausland geschaffen. Man weiß, weshalb der
Prinz Napoleon mit einem Armeecorps nach Livorno und Florenz geschickt
wurde, weshalb Frankreich lange Zeit die Einverleibung Toscana's in Piemont
verweigerte, weshalb die Herren Reizet und Poniatowski hier herumhorchten
und flüsterten. Aber diese französischen Agenten trafen in Ricasoli ihren Mann.
Als einer derselben ihm wieder einmal mit Anträgen und Vorschlägen zusetzte,
fuhr der Baron heraus: „Da Su so eindringlich mit mir verhandeln, so er¬
kennen Sie mich doch als Landesregierung an?" — „Das thun wir durch¬
aus nicht," war die Antwort. — „Nun Wohl", versetzte jener, „ich meiner¬
seits erkenne Sie ebensowenig an." Nicht weniger standhaft verfuhr Ricasoli
gegen Mazzini und dessen Plan, von Toscana die Revolution irach dem
Kirchenstaat hinüberzuspielen. Er machte dieses Unternehmen, sobald er
davon vernommen, zu Schande und trieb die Sendlinge des Agitators über
die Grenze.
So nach beiden Seiten hin geharnischt gegen die Feinde seiner Ueber¬
zeugung brachte er die Einverleibung des Großherzogthums in das Königreich
,Italien, erst als Minister, dann als Generalgouvemeur wirkend, immer die
Seele der toscanischen Regierung, im Lauf von zwei Jahren glücklich zu Stande.
Von Beibehaltung der Autonomie wollte er nichts hören. In Paris hatte
man diese Forderung gestellt, der König und Cavour waren im Begriff darauf
einzugehen, Ricasoli's fester Einspruch bewirkte, daß statt der halben Maßregel
das Ganze ins Leben trat. Niemand in Toscana besaß die rechte Entschlossenheit
und Kühnheit gegenüber dem mächtigen Egoismus in Paris, als der ehren¬
feste Freiherr vom Schloß Brolio im Chianti
Und über dem Großen wurde auch das minder Wichtige nicht versäumt.
Ricasoli versteht zu arbeiten, wie Wenige. Achtzehn Stunden täglich saß er
auf seinem Posten, nur von Cavour an Arbeitskraft übertroffen. Ruhestörungen
waren unter seiner Verwaltung in Toscana unerhört. „Regierung und Volk
beschäftigen sich", so berichtet Karl Grün im Frühjahr 1861, „nachhaltig mit
Kunst, Wissenschaft und Unterricht. Der Bargello wird hergestellt; ehrwürdige
Loggien, freie Säulenhallen nach der Straße zu werden aus dem Banne dum¬
mer Mauern erlöst, der Luft und der Aesthetik zurückgegeben: so auf dem Dom¬
platz, so am Or San Michele in der Caciajuoli-Straße. Ein „Istiwto hupe^
riore" (freie Universität) ward gegründet, dreißig der berühmtesten Italiener
wurden auf die Lehrstühle berufen, und das gebildete Publicum beiderlei Ge¬
schlechts, Einheimische wie Fremde, läßt sich hier von Francesco dall' Ongaro
den Dante erklären, den größten nationalen Dichter. Feste wurden diesen
Winter im Palazzo Vecchio gegeben, wie sie der verjagte knickerige Hof nie
zu veranstalten wußte. Der Fremdenverkehr steigerte sich; zu keiner Zeit war
es in Florenz sicherer und angenehmer gewesen. Die Miethpreise stehen augen¬
blicklich höher als vor dem 27. April 1859."
„Das Alles ist zur Hälfte das Werk des knochigen, lang gewachsenen Ba¬
rons von Brolio mit der hohen Stirn unter starkblondem Haar, den strengen
zirkelrechten Zügen unter den blauen scharfen Augen, der so seltsam das Feuer
des Revolutionärs mit der kalten Zurückhaltung des Tory verbindet, dessen
Politik durchaus als ein Werk der Berechnung und doch auch des Charakters
erscheint."
Nicht anders verfuhr Ricasoli, als Cavours Tod ihn aus den Fauteuil des
Premierministers Italiens führte. Er sah deutlich, daß das neugegründete
Reich bis auf Weiteres unbedingt Frieden bedürfte, sowohl um seine Unab¬
hängigkeit nach außen zu bewahren, als um sich innerlich fester zu schließen und
vorhandene Unebenheiten zu glätten. Er erkannte, daß das Heer noch wenig
organisirt, zum guten Theil undisciplinirt, nicht hinreichend gerüstet und in sei¬
nen einzelnen Elementen ungleich war, und daß wenigstens ein bis zwei Jahre
erforderlich, bevor es Aussicht hatte, ins Feld rückend zu siegen oder doch mit
Ehren zu kämpfen. Er wußte, daß jede kriegerische Bewegung gegen irgend
einen Theil der Lande Oestreichs, gleichviel, ob von regelmäßigen Truppen und
mit Wissen, oder von Freischaaren und ohne Wissen und Willen der Regierung
unternommen, sofort zu einem Zusammenstoß mit dieser Macht führen muß. Er
war überzeugt, daß bei solch einem Zusammenstoß Italien im ersten Feldzuge
niedergeworfen werden würde, wofern es nicht Frankreich zu Hilfe riefe, und
daß Frankreich ins Land rufen sich in eine gefährliche Abhängigkeit vom Kaiser
bringen und den schließlichen Zwang zur Einwilligung in alle Forderungen
vorbereiten heißt, die jener zu stellen für nützlich hält.
Nur durch die Fortdauer des Friedens bis zu dem Augenblick, wo das
Wort „Italig, tai-g, da Sö" keine Uebersckätzung des neuen Reichs involvirt, konnte,
das lag auf der Hand, die drohende Gefahr, den Franzosen gegenüber in Vasal¬
lenschaft zu versinken, abgewendet werden. Deshalb entschloß sich Ricasoli Frie¬
den zu halten, dieser Entschluß führte ihn zu wachsamer und strenger Beauf¬
sichtigung der Partei Mazzini's und Garibaldi's, und daraus wieder ergab sich
die Unbeliebtheit des Ministers bei allen den seichten und gedankenlosen Schwär¬
mern und Großsprechern, die das plötzliche Glück, die unverhoffte Befreiung
des Landes in allen Klassen Italiens in so großer Zahl hat auftreten lassen.
Dieses Mißgeschick würde von Ricasoli's stolzem Geist mit Kaltblütigkeit
ertragen worden sein. Unglücklicherweise aber machte sich der Baron durch
seine Sinnesart auch anderwärts sehr unbeliebt. Der Kaiser Napoleon fand
in dem Minister vonJtalien denselben argwöhnischen, wachsamen und scharfblickender
Staatsmann, den seine Agenten früher in dem Minister, dann in dem General¬
gouvemeur von Toscana gefunden, einen Politiker, der sich nicht leicht täuschen
sich noch weniger durch Schmeicheleien und am wenigsten durch Drohungen be¬
stimmen ließ. Man braucht nicht gerade anzunehmen, daß Louis Napoleon
bestimmte gegen die Einheit und Unabhängigkeit Italiens gerichtete Pläne ver¬
folgt. Aber unbestreitbar ist, und sehr natürlich, daß er sich einen möglichst
kräftigen Einfluß auf das Reich zu erhalten wünscht, bei dessen Bildung er so
starken Beistand geleistet, und das ihm diesen Beistand gelegentlich vergelten
toll. Und ebenso sicher, daß er bestrebt ist, sich so gestellt zu halten, daß er
Alles in der ihm eignen gewundenen Weise und mit der ihm ebenfalls eigen¬
thümlichen unberechenbaren, scheinbar oder wirklich launenhaften Wahl von
Zeit und Gelegenheit zu thun vermag. Gerade dies aber war unmöglich, so¬
lange ein Mann von so unbeugsamer Sinnesart wie Ricasoli Führer der Mei¬
nungen im Rathe des Königs Victor Emanuel war.
Dazu kam dann noch Eins. Auch der König empfand Ricasoli als ein
Hinderniß in Verfolgung seiner Wünsche und Neigungen, ja als ein schrof¬
feres und weniger bequemes wie Cavour gewesen. Victor Emanuel, ein Freund
von Krieg, stolz auf seinen Soldatenmuth und ungeduldig, wie alle Naturen,
die nicht sehr tief angelegt sind, neigte stark zur „Partei der That" hin, und
ergriff nicht selten die Gelegenheit, dies offen an den Tag zu legen. Sein
Minister mit seiner resoluter Friedenspolitik verdroß ihn, langweilte ihn, störte
ihn, und auch dies blieb der Oeffentlichkeit nicht vorenthalten. Andere Einflüsse
wirkten, gegen die Bestrebungen Ricasoli's Gegenströmungen zu leiten und
das Gemüth des Königs gegen den Minister zu verbittern. Die festen Grund¬
sähe, die ernste, trockne Geradheit, das strenge Ehrgefühl des Barons und seine
Achtung vor öffentlicher und privater Tugend zogen ihm den bittersten Haß
aller jener Intriguanten zu, deren der Turiner Hof unter seinem vornehmen Ge¬
sinde — beiläufig wie alle Höfe — in Menge hat. Mehre von diesen Ränke¬
spinnern hatten einen höchst beklagenswerthen Einfluß auf dem König, und sie
benutzten diese Lage der Dinge, ihn gegen den verhaßten Minister noch mehr
einzunehmen, als er von selbst war. Seit Monaten schon arbeiteten sie uner¬
müdlich an der Verabschiedung des Mannes am Staatsruder, der sich nicht
herbeilassen wollte, sie zu benutzen, zu decorircn oder auch nur gnädig zu
beachten.
Ricasoli war nichts weniger als blind gegen die Art und Weise, auf die
man ihm das Wasser abgrub; aber obwohl er die Hemmnisse, die ihm damit
in den Weg gelegt wurden, sehr wohl empfand und sich persönlich gern zum
Rücktritt von seinem Posten bequemt hätte, war er doch ein zu guter Patriot
und in seinen ministeriellen Functionen ein zu genauer Beobachter constitutionel-
ler Formen, als daß er sich hätte entschließen können, freiwillig diesen Cabalen
und dem Widerwillen des Königs zu weichen. Er war von einer starken Ma¬
jorität im Abgeordnetenhause gestützt. Von allen Seiten, mit Ausnahme der
Mazzinistcn, kam man ihm mit Vertrauen entgegen, allenthalben ehrte man in
ihm den schien, redlichen Charakter, den wohlverdienten Patrioten. Im Par¬
lament war er i» Wahrheit fast unbedingter Herr der Situation, und so beschloß
er, und gab dies wiederholt mit deutlichen Worten zu erkennen, daß er niemals
zurücktreten werde, es sei denn in Folge eines Mißtrauensvotums des Hauses
oder einer directen und schriftlichen Entlassung von Seiten des Königs.
Das Parlament hat nie gegen eine seiner Maßregeln votirt, im Gegentheil
es unterstützte ihn eifrig und mit zahlreichen Stimmen bis auf den letzten
Augenblick. Wenn daher jetzt sein „Rücktritt" gemeldet wurde, so dürfen wir
mit Bestimmtheit den Schluß ziehen, daß es kein freiwilliger Rücktritt, sondern
eine thatsächliche und wahrscheinlich sogar eine förmliche Entlassung gewe¬
sen ist.
Ricasoli's Nachfolger, der Comthur Urban Rattazzi, ist ein talentvoller
Politiker, aber sowohl von Cavour. als von Ricasoli grundverschieden. Cavour
gehörte allen Parteien, oder stand vielmehr über den Parteien, Ricasoli ist ein
Tory im guten Sinne des Wortes, Rattazzi hält sich zum linken Centrum
und verschmäht auch die äußerste Linke nicht. Cavour benutzte die Franzosen,
Ricasoli verschmähte und brüskirte sie, Rattazzi läuft Gefahr, von ihnen benutzt
zu werden.
Rattazzi, der in seiner äußeren Haltung und seinem Gesichtsausdruck
wie in seiner Sinnesart den Advocaten ausprägt, steht jetzt im vierundfünf-
zigsten Lebensjahr und gehört, in Alessandria geboren, wie Cavour dem alten
Piemont an. Sich dem Studium der Rechte widmend, zeichnete er sich bald
durch die Gabe der Rede und großen Scharfsinn aus, der indeß Sophismen
nicht für ungebührlich hielt. Noch vor Cavour gelangte er zu einem Minister¬
posten. 1849 war er der Leiter des Cabinets, welches nach der Schlacht bei
Custozza den traurigen Frieden mit Oestreich unterzeichnen mußte. Im Decem¬
ber 1849 erzielte d'Azeglio eine ministerielle Mehrheit, deren Hauptführer
Cavour war. während Rattazzi aus der Linken ein linkes Centrum (wi^o xa,r-
titv) loslöste. Das war die rechte Stellung für ihn: „Oppositionsmann, aber
nicht unmöglich für das Cabinet. Kandidat für ein erledigtes Portefeuille, eine
Art Thiers gegen Guizot," bezeichnete ihn kürzlich eine Biographie nicht unrichtig.
Als Cavour 1850 zum ersten Mal Minister wurde, unterstützte er die
Wahl Rattazzi's zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses, und als er bald
nachher ein neues Cabinet bildete, gab er diesem 1853 sogar das Departement
der Justiz, welches er 1855 mit dem des Innern vertauschte.
Als der Kaiser Napoleon so plötzlich den Frieden von Villafranca abschloß
und Cavour darauf seine Entlassung nahm, wurde Rattazzi Premier und ver¬
ließ diesen Posten erst wieder, als Savoyen und Nizza abgetreten werden soll¬
ten. Im Jahre 1861 bevorwortete Cavour den früheren Collegen im Mini¬
sterrath bei seiner Bewerbung um den Präsidentenstuhl des Nationalparlamcnts,
den er später auch unter Ricasoli innehatte. Er ist ein ausgezeichneter Leiter
der Debatte, sehr ruhig, unparteiisch und sehr geeignet, die unter diesen südlichen
Naturen nicht selten ins Schwanken gerathende Ordnung aufrecht zu erhalten.
Als Ricasoli sich mit seiner ehrenfester Hartnäckigkeit in den Tuilerien
unbequem gemacht, ohne doch Napoleon dem Dritten zu imponiren, als die
römische Frage trotz aller Bemühungen des italienischen Premiers nicht von
der Stelle rückte, begab sich —- im vorigen Herbst — Rattazzi nach Compiegne,
und Viele erblickten in dieser Reise ein zweites Plombiöres und die Absicht,
gestützt auf erkaufte französische Hilfe die italienische Bewegung wieder in Gang
zu bringen und ihren letzten Zielen zuzuführen.
Von diesen Vermuthungen hat sich bis jetzt keine erfüllt. Auch möchten
wir nicht annehmen, daß Rattazzi in der Lage sein würde, der französischen
Politik Zugeständnisse wie jene Abtretung Savoyens und Nizza's zu machen.
Wohl aber ist er jetzt an die Spitze des Cabinets getreten, und es fragt sich,
wieviel das bedeutet.
In dieser Hinsicht ist zunächst zu bemerken, daß der neue italienische Pre¬
mier keine Natur und kein Talent für eine großartige Rolle ist, und daß er bei
keiner Partei aufrichtiges und volles Vertrauen genießt. Mehre von den Col¬
lege», die er sich gewählt, stehen in der öffentlichen Meinung klarer und höher
als er. Er verfügt über keine feste Majorität im Abgeordnetenhause, und er
kann sich nur eine zeitweilige und unsichere Mehrheit durch jenes bedenkliche
Bündniß mit der äußersten Linken, d. h. mit der Partei Mazzini's schaffen,
welches durch den Eintritt von Dcpretis in das Ministerium angedeutet ist —
eine Allianz, welche theuer erkauft sein und, wie wir fürchten, unheilvolle poli¬
tische Mißgriffe zur Folge haben wird.
In der That, wir glauben, daß der neue Leiter der Politik Italiens, ohne
eine für alle Fälle sichere, hinreichend starke Partei hinter sich, von der Unter¬
stützung derer abhängen wird, die er nur durch Zugeständnisse sehr fraglicher Natur
gewinnen kann, unter seiner Fahne zu dienen, und daß er diese Zugeständnisse
in bedeutender Ausdehnung erfüllen müssen wird. Er wird ferner nicht die Macht
besitzen, irgend welchen Neigungen und Launen des Königs zu widerstehen,
denn dieser kann sich ihn in jedem Augenblick von der Seite schaffen. Er ge¬
langte in sein Amt durch die Intriguanten des Hoff, deren wir oben gedachten,
und von denen einige notorisch seine Werkzeuge sind — und so sind seine Hände
nicht rein zu nennen. Er wird dem Kaiser der Franzosen angenehm sein, ob¬
wohl .seine Erhebung zum Premierminister nicht, wie man anfänglich glaubte,
das directe Ergebniß einer Einmischung von Paris her ist, und da er an un¬
heilbarer Schwäche leidet, so wird er leicht in die Nothwendigkeit, jedenfalls in
starke Versuchung kommen, sich unter der Hand durch Nachgiebigkeiten verschiedener
Art außer Landes Unterstützung zu suchen.
Im Allgemeinen betrachtet, ist sein Ministerium von übler Vorbedeutung
für Italien. Er kann, um eine Majorität zu schaffen, sich gezwungen sehen,
seine Zuflucht zu einer Kammerauflösung und neuen Wahlen zu nehmen,
obwohl wir glauben möchten, die Abgeordneten werden die Geduld und Rück¬
sicht haben, ihn nicht sofort zu einem solchen Schritt zu nöthigen. Muß er
diesen Schritt thun, so wird er fast mit Nothwendigkeit zu der Ungesetzlichkeit
gebracht werden, unbewilligte Steuern einzusehen; denn die Autorisation zu den
jetzigen Steuererhebungen erstreckt sich nicht über das Ende dieses Monats hinaus.
Er wird aller Wahrscheinlichkeit nach genöthigt sein, zu Freischaarenzügen der
Garibaldianer und Mazzinisten nach Dalmatien oder sonst wohin die Augen
zu schließen. Die Folge davon würde ebenso wahrscheinlich ein Angriff Oest¬
reichs auf die Lombardei sein, und dann wäre ein neuer europäischer Krieg
unvermeidlich. Endlich ist fast mit Sicherheit anzunehmen, daß er den Kaiser
der Franzosen nicht mehr wegen der Räumung Roms bedrängen wird; denn
viele von denen, welche seine Partei bilden — die sogenannte piemontesische
Fraction, die im neuen Cabinet nicht weniger als fünf Vertreter zählt —
haben es nichts weniger als eilig, den Sitz der Negierung von Turin, wo sie
mächtig sind, nach Rom verlegt zu sehen, wo ihre Bedeutung sich aus ein
sehr geringes Maß vermindern würde.
Möglich, daß ein ernstes Wort, von England gesprochen, seine Wirkung
thun und daS, was wir befürchten, verhindern würde. Hoffen wir, daß es ge¬
sprochen worden ist; denn unsre Wünsche sind auch unter diesen Verhältnissen
mit Italien.
Die Kunstthätigkeit der neueren Völker Europa's umfaßt nach der gewöhn¬
lichen, längst in das Bewußtsein der Gebildeten übergegangnen Annahme, zwei
scharf von einander getrennte, ja einander geradezu entgegengesetzte Perioden.
Das fünfzehnte Jahrhundert scheidet dieselben, und führt, indem es die classi¬
sche Kunst als Muster zur Nachahmung den Zeitgenossen aufstellt, den Umschwung
und damit auch den Aufschwung zur Vollendung herbei. Charakteristisch wie
für die Kunst der neueren Zeit die Verehrung und Nachbildung der Antike,
ebenso bezeichnend ist für die Jahrhunderte des Mittelalters die Unkenntnis;
derselben. Aus dieser Unkunde eben entsprang die Barbarei, welche der Bil¬
dung und den Schöpfungen des Mittelalters anklebt und uns mitleidig, wenn
nicht gar verächtlich auf dieselben zurückblicken läßt. Welche Bewandtnis; es
mit der Alterthumskunde der Renaissancekünstler habe, lassen wir vorläufig
aus sich beruhen, daß aber dem Mittelalter jegliche Kunde und mit der Kunde
auch die Achtung der Antike fehle und dieses ein allgemein giltiges Merkmal
in der Beurtheilung desselben bilde, muß schon jetzt entschieden verneint
werden.
Wenn gegenüber den wirklichen oder vermeintlichen Bestrebungen gegen¬
wärtiger Parteien, das Mittelalter in seinen Grundsätzen und Einrichtungen
wieder zu beleben, das letztere als Schreckbild geschildert wird, so kann man
dieses Vorgehen etwa aus dem Rechte der Kriegführenden, von jeder tauglichen
Waffe Gebrauch zu machen, erklären; daß aber auch da, wo der Zweck durch¬
aus nicht die Mittel heiligt, die falschen Farben angewendet werden, ist und
bleibt verdammenswerth.
Gewiß lebte auch in Männern des Mittelalters Haß und Verachtung ge¬
gen die Antike, gegen die Kunst überhaupt. Wenn man aber solche Eiferer,
wie der Abt von Se. Alban, der eherne Statuen als Teufelswerke zerschlagen,
oder den Mönch, der die Knisenn Theophanie dafür im Fegefeuer büßen
läßt, daß sie die Künste des Luxus in Deutschland verbreitet hat, wenn man
Petrus Damiani oder den Vater des Cisterzienserordens zum Beweise des
Kunsthasses im Mittelalter anführt, so möge mau doch nicht vergessen, daß Sa-
vonarola eine charakteristische Figur'der Renaissanceperiode bildete und daß das
Sprichwort Kardai-i mit Barbarini im siebenzehnten Jahrhundert in Verbin¬
dung bringt.
Nicht aus strengen, oft überstrengen Sittenpredigten, die gerade durch die
Leidenschaft ihres Tones die weite Verbreitung des Uebels, das sie bekämpfen,
darthun, sondern aus der Beschaffenheit der Denkmäler muß der Charakter der
mittelalterlichen Kunstbildung erläutert werden.
Wer dieses aber mit unbefangenen Blicken versucht, erkennt vielleicht zu
seiner größten Ueberraschung, daß die Antike niemals, am wenigsten in den
angeblich schlimmsten Zeiten der mittelalterlichen Barbarei aufgehört hat, einen
nachhaltigen Einfluß auf die künstlerische Phantasie zu üben. Man behauptet,
die Kunst des classischen Alterthums wäre im tieferen Mittelqltcr bis zum letz¬
ten leisesten Anklang verhallt gewesen, und man findet dorische und ionische
Capitäler im zehnten und elften Jahrhundert bis im innersten Herzen Deutsch¬
lands, im Sachsenlande, reproducirt, man entdeckt andere architektonische Glie¬
der, wie z. B. den Säulenfuß, das Carnieß, regelmäßig der aus dem Alterthum
überlieferten Form nachgebildet, die ganze Reihe der antiken Ornamentmotive
in frühmittelalterlichen Monumenten, so gut es anging, wieder belebt. Freilich
können °oicse Wiederholungen und Nachahmungen auch als dunkle und unbe¬
wußte Erinnerungen, auf irgend welchen weiten und verschlungenen Wegen
übermittelt, angesehen werden?
Wenn aber in Corvey und Paderborn, dort im zehnten, hier im neunten
Jahrhunderte, das ganze über dem antiken Säulenbau lastende Gebälke auf dem
Kämpfer, gleichsam abgekürzt, reproducirt wird, wenn an Gesimsen im Speierer
Dome die Ornamentreihen in der gleichen Ordnung wie an römischen Denk¬
mälern wiederkehren, wenn, wie an der Bernwardssäule in Hildesheim, bestimmte
antike Werke im Kleinen copirt werden, dann kann man an der bewußten und
absichtlichen Nachahmung der Antike nicht füglich zweifeln. An der Hand der
Monumente können wir noch getrost eine weitere, wichtigere Behauptung be¬
gründen. Ueberall, wo antike Bauwerke von größerer Bedeutung und ansehn¬
lichen Verhältnissen sich erhalten haben, sehen wir die Blicke der mittelalterlichen
Künstler auf dieselben mit Aufmerksamkeit gerichtet, bemerken wir wie die Antike
einen förmlichen unabwendbaren Zauber übt und die Phantasie der Anwoh¬
ner Jahrhunderte lang vollständig gefangen nimmt. Die sogenannten Kaiser¬
bäder in Trier haben auf die Gestalt der niederrheinischen Kirchen, auf die
merkwürdig reiche Entfaltung ihres Grundrisses den entschiedensten Einfluß
geübt, römische Triumphbogen haben die Motive für die Portalbautcn in
Avignon, Vaison, Pernes u. s. w. abgegeben, die römische Porte d'Arroux zu
Autun das ängstlich befolgte Muster für die Decoration der Kathedrale gelie¬
fert. Und nicht auf einzelne Fälle beschränkt sich diese unmittelbare Einwirkung
der Antike, der Charakter weitverbreiteter Localsiyle, wie, um bei den Ländern
diesseits der Alpen zu bleiben, jene der Provence, Languedocs und Burgunds,
wird durch diese unmittelbare Nachahmung der Antike bestimmt, so daß wir
an derselben ein wichtiges und nicht täuschendes Merkmal für die geographische
Einordnung eines Mittelalterlichen Bauwerkes besitzen. Man Muß freilich zu¬
geben, daß der Einfluß der Antike nicht durch alle Zeiten des Mittelalters die
gleiche Stärke bewahrt, aber gerade dieser Umstand spricht dafür, daß die An¬
tike ein lebendiges Element in der mittelalterlichen Kunstentwicklung bildete.
Während die Zeiten, die unmittelbar die karolingische Pertode berühren,
überall die Unfähigkeit verrathen, sich von der römischen Tradition vollständig
loszusagen, aber gleichsam nur mürrisch und widerwillig den Fußtapfen der al¬
ten Welteroberer folgen, ermannt sich das elfte Jahrhundert besonders in' sei¬
ner zweiten Hälfte zu einer größeren Selbständigkeit Aett wägt, unbeirrt von
aller Tradition, auf Kosten des Formgefühls den in dieser Zeit erst erstarkten neuen
Gedanken einen künstlerischen Ausdruck zu geben. Kaum ist aber die Freude,
neue Gedanken zu bilden und einen selbständigen frischen Inhalt der Kunst zu¬
zuführen, befriedigt worden, so regt sich auch schon wieder der Formsinn,
Mit der Belebung des letzteren erwacht aber auch in der zweiten Hälfte des
zwölften Jahrhunderts die Sehnsucht nach der Antike und der Eifer sie wieder
zu beleben, der wenigstens in Italien nicht mehr ausstirbt. So allgemein und
tief wurzelnd ist dieser ick Laufe des zwölften Jahrhunderts Lern classischen
Alterthum zugewendete Sinn, daß wir, um den spätromanischen Styl por den
früheren Und späteren Kunstweisen zu unterscheiden, kein auffälligeres Merkmal
hervorheben können, als eben diese erste Renaissance.
Wenn nicht äußere Gründe, urkundliche Nachrichten uns bestimmten, Nicht
in einem, sondern in unzähligen Fällen würden wir ein Bauwerk bald dem alt-
christlichen Zeitalter, bald dem.fünfzehnten Jahrhundert zuschreiben, — so scharf
und Mächtig prägt sich in demselben die Nachbildung der Antike aus, — das denn
doch, wie z. B. das Baptisterium in Florenz, den angeblich barbarischen Jahr¬
hunderten des tieferen Mittelalters angehört. Wie in der Architektur, so ge¬
hen auch in der Sculptur die Spuren der classischen Kunst während des
Mittelalters nicht vollständig Verloren. Noch hat sich kein Forscher die Müde
genommen, die mannigfachen Gesichtstypen röManischer Sculptmwerke auf ihre
gemeinsame Wurzel zurückzuführen, dre Gcwandwürfe. die Faltenmotive zu prü¬
fen; gewiß würde er überall zuerst auf unbewußte, im zwölften Jahrhundert
namentlich über auf bewußte und beabsichtigte NachbilduUgen der Antike stoßen.
Aber soweit schon gegenwärtig unsere Kunde reicht, genügt sie zur Widerlegung
der gäng und gäben Meinung von der gänzlichen Unkenntniß der Antike. Wie
im Kreise der Architektur, so stoßen wir ebenfalls auf dem Gebiete der Plastik
auf eine lange Reihe der Antike entlehnter Motive. Auch hier, wenn wir auch
die Kämpfer, die Ringer, die Centauren und Sirenen, die Greife und die Har-
pyen nur als abgeschliffene, bald bedeutungslose, bald in ihrer Bedeutung Ver¬
sehrte Kunstvorstellungen annehmen, können wir uns der Ueberzeugung bewu߬
ter Alterthumsstudien nicht entschlagen. Es konnte nicht der Zufall oder die
dunkle Empfindung den Löwen dieselbe Stelle der Portalwächter im Mittel¬
alter einräumen, die ihnen im Alterthume überwiesen wurde, oder den Gor-
gonenmasken blos instinktmäßig im Lapidarium des Magister Marbod und ver¬
wandten Schriften die Kraft der Abwehr teuflischer Angriffe zugeschrieben wer¬
den, womit zusammenhängt, daß die Gorgonenmasken mit Vorliebe in der Nähe
vom Eingange, wie z. B. in der Vorhalle des Goslarer Domes, aufgestellt wur¬
den. Es wiederholt sich ferner auch auf dem Gebiete der Plastik das Schau¬
spiel, daß bestimmte Denkmale des classischen Alterthums einen dauernden Ein¬
fluß auf die Entwicklung der Localstyle üben und die antiken Vorbilder hervor¬
ragender Sculpturen des Mittelalters mit der größten Deutlichkeit nachgewiesen
werden können. Der Einfluß in Pisa bewahrter Sarkophagreliefs auf die
Kunst Niccola Pisano's ist oft genug hervorgehoben worden; ebenso ist die
Wiederholung der Ariadne im vatikanischen Museum in den Sculpturen der
Kanzel in Siena bekannt, desgleichen, daß die gallorömischen Sarkophage von
Aliscamp den größten Einfluß auf die proper^ausehen Bildhauer übten und
antike Sarkophage, in Arles bewahrt, in Gegenständen und Formen vollkommen
mit den Tympanonreliefs von Se. Gabriel (aus dem zwölften Jahrhundert)
übereinstimmen.
Nur beiläufig möge hier der zahlreichen Elfenbeinkästchen des Mittelalters
Erwähnung geschehen, die hier antike Kämpfergruppen reproduciren, dort
Gegenstände des griechischen Mythus, der alten Geschichte verkörpern, und da¬
bei so enge sich an die antike Formengebung halten, daß man versucht ist, sie
der spätrömischen Zeit zuzuschreiben, während sie doch nur der mittelalter¬
lichen Renaissance ihren Ursprung verdanken, und die Aufmerksamkeit auf die
sächsischen Sculpturwerke aus dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts ge¬
lenkt wird, welche beweisen, daß ähnlich wie in der Architektur, so auch in
der Plastik der Rückzug auf die antiken Formen die Kunst des spätromanischen
Styles charakterisirt.
Ueber die reichste Quelle, aus welcher die mittelalterlichen Künstler antike
Anregungen schöpften, sind wir leider, der Natur der Sache gemäß, am schlech¬
testen unterrichtet. Man kann keine Chronik des tieferen Mittelalters aufschla¬
gen, in welcher nicht von reichen Gemmenspenden, kirchlichen Geräthen einver-
leibt, die Rede wäre. Unverfänglich genug klingen diese Nachrichten, gerade so
wie die häusigen Erzählungen von mittelalterlichen Schatzgräbern, und doch ha¬
ben wir in diesen Gemmen, in diesen der Erde entlockten Schätzen, wie Zap¬
pelt nachgewiesen hat, die mächtigste Fundgrube, aus welcher das Mittelalter
seine Kenntniß der Antike hatte, zu schauen.
Wir haben kein Recht anzunehmen, daß nur der materielle Werth und die
Kostbarkeit dieser Gegenstände das Mittelalter lockten. Wenn auch nicht die
Ueberzeugung, daß keine, auch nicht die roheste Kunstübung, ohne den Stachel
des nach Vollendung strebenden Formsinnes bestehen kann, uns eines Besseren
belehrte, wenn auch nicht die vergleichende Betrachtung der, mittelalterlichen
Kunstwerke dieses bewiese, so haben wir der schriftlichen Belege eine hinreichende
Zahl, die darthun, daß auch das Mittelalter von diesem allein richtigen Stand¬
punkte die Schöpfungen der bildenden Kunst beurtheilte. Wie oft lesen wir in
mittelalterlichen Chronisten die Versicherung, — und sie wird stets als das
höchste Lob hingestellt, daß bei einem bestimmten Kunstwerk die Schönheit
der Formen und die Trefflichkeit der Arbeit den Werth des Stoffes weit über¬
ragen, wie sehr überrascht uns als Ausdruck des mächtig entwickelten Formen¬
sinnes die Schilderung eines (wahrscheinlich antiken) Kopfes, er wäre in seiner
Furchtbarkeit schön. Und wenn uns auch das nicht befriedigt, so dürfen wir
nur das 43. Kapitel der (Zo^t^ Uomiuroruiri aufschlagen, wie der Magister, der
„da wonend ist in Pergen", das Idealbild der verstorbenen Florentina schafft,
um uns zu überzeugen, daß auch das Mittelalter das Streben nach vollendeter
Formenschönheit bis zum raffinirten Eklekticismus ausgebildet hat. Wir kön¬
nen auch nicht glauben, daß alle aus der Erde hervorgeholter antiken Gegen¬
stände, Geräthe und Gefäße z. B., die materielle Habgier reizten, und doch
war die Freude an denselben so groß, daß die Kirche des Mittelalters sich ver¬
pflichtet erachtete, die Gewissen der Gläubigen mit diesem Verlangen nach anti¬
ken Werken zu versöhnen. In ihrer bewunderungswürdigen Klugheit hat sie
auch hier, was sie nicht zu vernichten im Stande war, ihrem Dienste unter¬
worfen. Alte Ritualbücher enthalten Segensformeln die „super vasa in locis
lmticMS repertlr" gesprochen werden mußten und wodurch diese heidnischen
Werke gereinigt und für den Gebrauch der Kirche und der Gläubigen geeignet
wurden. Die Kunst der Heiden wird in diesen Bencdictivnen nicht geleugnet
und dadurch ein neuer Beweis von der auch im Mittelalter herrschenden Ach¬
tung der Antike geliefert.
Es darf uns nicht befremden, wenn diese Achtung zuweilen gar abenteuer¬
liche Formen annimmt und wir z. B. lesen, daß der Augustusbogen in Susa
von den Mönchen des benachbarten Klosters als ein monumentales Grundbuch
ausgegeben wurde, auf welchem mit unzerstörbarer Schrift Abt Ubbo alle Eilten
und Rechte, alle Schenkungen und Traditionen verzeichnet hätte. Selbst wenn
wir dieses Vorgeben von der schlimmsten Seite auffassen, als Auge List und
frommen Betrug tadeln, ein gewisser Respect vor dem antiken Bauwerke, das
den eingeschriebenen Urkunden Heiligkeit verheißt, läßt sich in dieser Erzählung
nicht verkennen. In noch viel höherem Grade klingt diese ehrfurchtsvolle Scheu
vor der antiken Kunst in der Virgiliussage durch. Roth hat in seiner Abhand¬
lung über denZauberer Virgilius die Entstehung und den Ursprung der Sage, ihre
mannigfachen Wurzeln und späteren Schicksale auf das Gründlichste beleuch¬
tet und bewiesen. Wie außer dem literarischen Cultus der gleichfalls dem Alter¬
thum entlehnte Glaube neu TelesnteN den merkwürdiger! Mythus aufbaute.
Für unsern Ziveck genügt 6s, auf einen einzigen bischet üherselMcn Punkt hin¬
zuweisen" Und jll betonen. daß Birgil ini künstlerischen Bewußtsein dös Mittel¬
alters dieselbe Stellung einnimmt, wie der Zauberer Dädalus int classischen
Alterthurii. Die von Virgil gefertigten Talisckäne in Neapel, seine Zauber-
werke in Rom sind beinahe durchgängig plastische Arbeiten: der mit ausge-
spannter Armbrust dem Lavaregen wehrende eherne Mann, die eherne Fliege
von Froschgröße, die allen lebendigen Fliegen den Zutritt wehrt, das eherne
Pferd, das alle kranker! Pferde durch seinen Anblick heilt, der lachende und
wimmernde Marmorkopf am Stadtthore, der goldene Blutegel, die kupferne
Cicade, die Salvatiö Romae, der steinerne Glockenthurm, der sich Mit den
Glocken W gleichem Tempo schwingend bewegte, der eherne Schütze in Rom,
die Statue, die alle Gesetzübertretungen verräth u. s. w., das Alles deutet
darauf bill, daß eilte deutliche Ahnung von der Macht und der Größe der
antiken Kunst im Mittelalter vorhanden war, daß dieselbe in lebendigster Weise
der Phantasie nahe trat, so nahe/daß ihren Schöpfungen selbst Leben, wen«
auch Nur ein Zaübcrleben. zugemuthet würde. Als wären es natürliche Wesen,
mit Leben und Athem, mit geistiger Kraft begabt, einer andern, aber mächtige¬
ren Welt entstammend. Wie alles Zauberische, abstoßend und anziehend zugleich,
so erscheint die Antike in sagenhafter Umhüllung dem Geiste des Mittelalters.
Als Naturwesen treten auch die antiken Gebilde der Phantasie des Künstlers
entgegen, die sie niemals in ihrem Zusammenhange betrachtet, nicht als Zeug¬
niß einer abgeschlossenen Bildung annimmt, in naiver Weise das Brauchbare
an ihnen herbeiholt und verwerthet, geradeso wie sie det wirklichen Natur
gegenüber sich verhält.
Neben der einen Thatsache, daß die antike Kunst überhaupt dem Mittel¬
alter nicht fremd blieb, das Studium derselben sogar ein bestimmendes Merk-
Mal in der Entwicklung der mittelalterlichen Kunst ausmacht, kann diese naive
Auffassung, die blos die schönen Einzelnheiten, niemals das Ganze erkennt und
hervorhebt, die Antike nur als eine andere Art von Naturerscheinungen versteht,
nicht scharf genug betont werden. Sie namentlich bildet die Brücke, welche das
tiefere Mittelalter mit dein Zeitalter der Renaissance verbindet.
Denn daß es gleich mit einem Worte gesagt werde, ein grundsätzlicher
Unterschied in der Auffassung der Antike ist zwischen dem Mittelalter und der
Renaissance des fünfzehnten Jahrhunderts nicht vorhanden. Die letztere zeigt
nur im höchsten Grade und in der größten Vollendung, was bereits das Mit¬
telalter angestrebt hatte, sie durchschneidet dieselben Bahnen, nur erreicht sie
auf denselben das Ziel und gewinnt den Preis. Die Formfreude, die Fähig¬
keit, schöne Formen voll des geistigen Gehaltes zu schaffen und zu genießen,
kehrt im fünfzehnten Jahrhundert wieder und steigert sich zur höchsten Macht.
Damit ist aber auch wie in den gleichstrebenden Zeiten des Mittelalters die
Sehnsucht nach der Antike, nur im Verhältnisse viel stärker und kräftiger, geweckt.
Eine zusammenhängende Uebersicht der Schöpfungen des classischen Alterthums
bleibt auch der Renaissanceperiode fremd, nur das Einzelne fesselt und erfreut
nach der Bedeutung desselben, nach dem Näheren seines Herkommens fragt man
nicht, genug daß es ist und dem Auge Befriedigung bietet. Auch der abergläu¬
bige Sinn, um einen andern Punkt der Uebereinstimmung mit dem Mittelalter
hervorzuheben, holt aus dem Alterthum Stoff und Nahrung und knüpft in
seinen astrologischen und netromantischen Träumen, in seiner Lehre von Talis¬
manen und Zaubern unmittelbar an dasselbe an.
Als Schatzgräber schildert das Mittelalter den Papst Sylvester den Zwei¬
ten und andere Männer, welche nach den in der Erde begrabenen Werken der
Antike forschten, ebenso sehen wir auch ganz am Schluß des fünfzehnten Jahr¬
hunderts den wißbegierigen Reisenden nach Virgils Zauberwerken zuerst fragen,
er horcht aufmerksamen Ohres den Legenden von Nerv's Grabe und den, von
Teufeln bewohnten Brunnen darüber, und der noch fremdartigeren Sage, wie
Friedrich Barbarossa die bekannten Rosse an der Marcuskirche in Venedig dahin
stiftete, er lenkt seine Schritte nach dem Venusberge bei Vjachia und vernimmt
staunend die endlose Reihe giltiger Predigten und untrüglicher Augurien, womit
sich die Italiener, die Humanisten obenan, beschäftigen.
In derArchitekturdes fünfzehnten Jahrhunderts und der folgendenZeiten sollen
Wir die untrüglichsten Zeugnisse von der reichen Wiederbelebung der Antike
erblicken. Wir zweifeln nicht daran im Angesicht der Monumente, die von
unten bis oben mit einzelnen Erinnerungen an antike Bauwerke erfüllt sind,
wir bestreiten aber, daß diese Wiederbelebung in einer wesentlich verschiedenen
Weist als in der spätromanischen Architektur vor sich ging. Sie war reicher
und vollkommener als die mittelalterliche Renaissance, holt aber von keinem
neuen Standpunkte aus. Zunächst müssen wir betonen, daß es sich der
Renaissancearchitektur nicht um die Ergründung des Wesens und der Bedeu¬
tung der qlten Architektur handelt, daß die Baukünstler die vorhandenen Ein¬
zelglieder und Fragmente in der Phantasie nicht zu einem geschlossenen System
aufbauen, sondern bei der Betrachtung und dem Genusse des Einzelnen be-
harren. Wir besitzen ausführliche Berichte über Brunelleschi's Wirken und
können aus Leo Bald. Alberti's Buche überdie Architektur unmittelbare Einsicht
in dieses Universalmannes künstlerische Grundsätze schöpfen. Messungen und
Verzeichnungen der vereinzelten Bauglieder, um die schönen an ihnen bemerk¬
baren Verhältnisse, den einfachen und doch so reichen Schmuck an denselben
zu verstehen, bilden vorzugsweise Brunelleschi's Beschäftigung. Ebenso ist bei
Alberti das technisch-mathematische Interesse an den römischen Bauresten jedes
andere überragend. Eine schön geführte Fruchtschnur, ein in leisen und un¬
gezwungenen Linien sich bewegendes Ornament, die feine Gliederung eines Ge¬
simses, das gefällige Maß der einzelnen Glieder: das erweckt eine förmliche Be¬
geisterung und berauscht die vor Allem auf das Harmonische und Rhythmische
gerichtete Phantasie, die alte Kunst aber zu restauriren, oder sie im Ganzen und
Großen wieder zu beleben und in der Gegenwart einzuführen, kommt Keinem
ernst in den Sinn. Wie ein Freund der schönen Natur etwa eine schöne Blume
liebt und genießt, an ihrem Dasein sich erfreut und mit diesem Dasein sich
begnügt, in derselben naiven Weise treten die Nenaissancekünstler der Antike ent¬
gegen. Kein gröberer Irrthum als die Meinung, als wäre schon damals die
antike Kunstschönheit der wirklichen Natur als einzig giltiges Ideal gegenüber¬
gestellt worden, vielmehr ist gerade das unmerNiche Ineinanderfließen der Liebe
zur Natur und zur Antike, die gleichmäßige Behandlung beider für die Rich¬
tung der Renaissanceperiode charakteristisch. Es ist kein bloßer Zufall, daß der
Mann, der die Begeisterung für das Alterthum am weitesten trieb, daß Leo
B. Alberti gleichzeitig durch den feinsten Natursinn unter seinen Zeitgenossen
sich auszeichnet. Gerade dieses sympathische Mitleben mit der Natur, das ihn
weinen machte vor Freude bei dem Anblick schöner Bäume, und gesunden
ließ, wenn er sich in einer reizenden Landschaft bewegte, verlieh ihm auch für
das Verständniß und den Genuß der Antike die reichste Befähigung.
Nicht zur Natur, auch nicht zur gegenwärtigen Kunst stand die Antike im
Verhältnisse des Gegensatzes, und der Gedanke, der uns schier zur Verzweiflung
bringt, daß es auch der höchsten Krafteinsetzung nicht gelingen kann, der Antike
auch nur entfernt nahe zu kommen, war der letzte, der einen Renaissancekünst¬
ler bekümmerte.
Um zu diesen Betrachtungen zu gelangen und dadurch die eigene Schwung¬
kraft zu lähmen, fehlt es glücklicher Weise der Renaiffanceperivde an der. über¬
sichtlichen Kenntniß der Antike. Wohlgemut!) und zuversichtlich wird die schö¬
pferische Thätigkeit begonnen, von der Schönheit der Antike sich abschrecken zu
lassen, hieße gerade soviel, als auf die Anregungen der schönen Natur zu verzichten.
Dadurch aber wird das unmittelbare Anlehnen an die Antike, das reiche Ent¬
lehnen von derselben in hohem Grade erleichtert. Nichts wirkt bei der Be¬
trachtung der Renaissancekunst so überraschend' und scheint unseren Vorstellungen
von Kunstgröße so widersprechend, als die geringe Beachtung der Ori¬
ginalität und die reiche Wandelung formeller Motive gerade in der Renais¬
sancekunst.
Rafael folgte ohne Ueberlegung dem Impuls, der ihn das Schöne überall
herholen ließ, wo er es fand, und meinte nichts Unrechtes zu begehen, wenn
er für die Darstellung des Sündenfalls die Hauptgestalten Masaccio entlehnte;
in ähnlicher Weise borgt Michelangelo das Motiv für seinen Moses und Jeremias
bei Ghiberti, der es wieder Giovanni Pisano abgeschaut hatte, den ablehnenden
Christus in seinem jüngsten Gerichte holte er aus den Fresken der Capella
degli Spagnuoii heraus u. s. w. Diese naive Haltung erklärt uns auch das
Schicksal, das alle in der Renaissancepcriode aufgefundenen verstümmelten an¬
tiken Sculpturen fanden. Sie mußten ergänzt und, so gut es anging, restaurirt
werden, um den Eindruck der vollkommen schönen Erscheinung, wonach allein
der Sinn der Renaisscmceperiode strebte, wieder zu erlangen. Wir gehen von dem
entgegengesetzten Standpunkte aus. wir halten die Kunstwerke des Alterthums
als solche für heilig und unantastbar und verdammen gerade dieses willkürliche
Restauriren und Ergänzen als eine grobe Sünde und Verletzung an dem Geiste
des Alterthums. Wir werden gelehrt erweisen, daß unsere Auffassung die
richtigere und würdigere sei. Die Renaissance handelte aber ihrem Bedürfniß
entsprechend und meinte an die Antike kein geringeres Recht, wie an alles
Andere, was existirt, zusahen, und hätte wahrscheinlich unsern Vorwürfen
die Frage entgegengehalten, ob ein schöner Naturkörper dadurch verliere, daß
man ihn in vollständiger und ganzer Schönheit genieße. Das, glaube ich, haben
wir als Ueberzeugung gewonnen, daß der Einfluß der Antike auf das 15. und
16. Jahrhundert nur ein im Grade verschiedener ist von demjenigen, den sie
schon in früheren Zeitaltern ausgeübt hat, daß die Anschauungen des Alterthums
in der Renaissanceperiode dasselbe, nur reicher ausgebildete Gepräge besitzen,
das wir schon im Mittelalter bemerkten, und endlich daß gerade dem Mangel
an zusammenhängender Erkenntniß des Alterthums, der einfachen Formsreude
an den Schöpfungen des letzteren, ihrer Betrachtung, als wären es einfache
Naturprodukte, die Renaissance die Fähigkeit verdankt, die Antike im unmittel¬
baren Interesse der Kunst zu verwerthen. Dieses Letztere scheidet eben unsere
Zeit von den früheren Jahrhunderten in einem viel höheren Maße, als die
Renaissance vom Mittelalter getrennt ist.
Zwei Gesichtspunkte machen sich für uns. sobald wir an die Betrachtung
der Antike schreiten, mit aller Macht geltend. Wir sehen die Antike als ein in
sich abgeschlossenes, unerreichbares Ideal an. das den reinen Gegensatz gegen die
getrübte und in sich gebrochene wirkliche Welt bildet, und ferner: jedes Kunst¬
werk des Alterthums wird von uns nicht als eine einzelne Erscheinung betrachtet
und in dieser Weise allein ästhetisch genossen, sondern repräsentirt eine bestimmte
Entwicklungsstufe der Kunstbildung des Alterthums und nimmt im Kreise der
gleichnamigen und verwandten Werke eine feste Stellung ein. Nicht willkürlich
und zufällig hat sich diese Auffassungsweise in den letzten Menschenaltern her¬
ausgebildet, der ganze Zug, die Richtung unserer Bildung hat sie erschaffen
daher auch der Versuch jedes Einzelnen, sich der Herrschaft derselben zu entziehen
und das Verhältniß, in welchem die Renaissance, zum Alterthum stand, wieder
herzustellen, ein vergeblicher und erfolgloser sein wird.
Versuche es doch heutigen Tages Jemand und gehe an den Genuß des
hellenischen Tempels in der Weise, wie Brunelleschi und Alberti die antike
Architektur genossen haben, labe sich allein und ausschließlich an den Rhythmen
und Harmonien der einzelnen und vereinzelten Glieder. Unwillkürlich werden
sich ihm die einzelnen Theile zur Cultusstätte der Griechen zusammenschließen,
die materiellen Functionen der Glieder gegenwärtig werden, die inhaltliche
Bedeutung des Ganzen seine Aufmerksamkeit fesseln. Und wenn wir ein plastisches
Werk betrachten, gewiß können wir auch unsere Fvrmsreude an der Betrachtung
vollkommen befriedigen, aber außerdem werden sich mit Nothwendigkeit noch
andere Gesichtspunkte herandrängen und Beachtung verlangen, welche, was
der Renaissance eine reine Augenweide war, in einen Gegenstand wissenschaft¬
lichen Begreifens verwandeln. Die Antike ist für uns nicht mehr Leib von unserem
Leibe und daher ist ein reiner Genuß derselben, eine unmittelbare Verwerthung
derselben für die Kunstschöpfung unmöglich. An dem Zwiespalte, daß- die Antike
in sich beschlossen sei und nichts Fremdes, auch nicht die leiseste Abweichung
dulde und daß auf der anderen Seite jede künstlerische Schöpfung, doch bis zu
einem gewissen Grade ein selbständiges Vorgehen der Phantasie voraussetzt,
müssen alle Künstler, die die Auffassung der Renaissance neu beleben möchten,
verderben.
Wenn auch das köstliche Schauspiel, das uns die Renaissancekunst bietet,
schwerlich in unseren Tagen wiederkehren wird und die Antike die unmittelbare
Einwirkung aus die einzelnen Werke der bildenden Kunst kaum wieder erlangen
kann- der Einfluß, den die Antike aus die ästhetische Bildung im Allgemeinen
ausüben kann, ja ausüben soll und muß, wird dadurch nicht verringert. In
der Läuterung der ästhetischen Urtheile und Ideen scheint uns der Hauptwerth
zu liegen, welchen das Studium der Antike sür unsere Gegenwart und Zukunft
besitzt. Die absolute Werthschätzung der Antike in unserer Anschauung, das-
Bewußtsein. daß in der classischen Zeit alle Bedingungen zusammentreffen, um
die künstlerischen Schöpfungen der höchsten Vollendung entgeg.enzuführen, macht
es möglich, daß wir an der Antike erproben, was sür die Schönheit des ein¬
zelnen Werkes mustergiltig ist, und die Gesetze erkennen, deren. Beobachtung
die Gesundheit eines dauernden Kunstlebens bestimmt. Die, ästhetische Bildung
des Volkes wird unleugbar bei einer solchen Auffassung der Antike gewinnen-
und uns so ein Ersatz geboten werden für den Verlust des naiven Verhältnisses,
in welchem Mittelalter und Renaissance zu den Kunstwerken des classischen
Alterthums standen.
Bekanntlich erblickt man durch ein dreiseitiges Prisma von Glas die da-
hinterliegenden Gegenstände nicht nur in einer anderen Richtung, als ohne das
Prisma, sondern man sieht auch an allen Grenzlinien, wo Schatten und Licht¬
flächen sich berühren, farbige Säume. Durch eine sehr einfache Vorrichtung
hat man aus diesem Spielzeug eines der belehrendsten wissenschaftlichen In¬
strumente gemacht. Verfinstere man ein Zimmer möglichst vollständig und
bringt man in einem der Fensterläden einen feinen, etwa eine halbe Linie wei¬
ten Spalt an, welcher Tageslicht in das finstere Zimmer eintreten läßt und
den wir uns horizontal gelegt denken wollen, so gibt eine Ansicht des Spaltes
durch ein Glaspvisma eine Erscheinung von seltener Farbenpracht; denken wir
uns das Prisma so horizontal vor ein Auge gehalten, daß die eine der hori¬
zontalen Kanten unten liegt, so erblickt man statt des schmalen farblosen Spal¬
tes im Laden ein prachtvoll gefärbtes, senkrecht herabhängendes Band, dessen
Breite der Länge des Spaltes gleich ist. Dieses farbige Band besteht aus
horizontalen, übereinanderliegenden Streifen, deren oberster roth ist, dann in
der Richtung nach unten orange, gelb, grün, blau, violett. Vergleicht man die
scheinbare Lage des farbigen Bandes mit der Lage des leuchtenden Spaltes im
Laden, so bemerkt man, daß jenes viel weiter unten zu liegen scheint, als der
Spalt selbst. Die Sache erklärt sich einfach dadurch, daß das Licht, welches
durch den Spalt zum Prisma kommt, innerhalb des Prismas seine Richtung
ändert, gebrochen wird, und daher in einer anderen Richtung zum Auge gelangt.
Zugleich zeigt eine einfache Vergleichung, daß der rothe Streifen des Ban¬
des dem wahren Orte des Spaltes am nächsten liegt, also am wenigsten abge¬
lenkt oder gebrochen ist, während das violette Ende des Bandes am weitesten
unten, also am meisten von dem wahren Orte des Spaltes entfernt ist. Mit
anderen Worten: Ein Theil der Lichtstrahlen, welche vom Spalt her durch das
Prisma zum Auge kommen, ist weniger, andere mehr gebrochen und zugleich
sind die wenigst abgelenkten roth, die am stärksten abgelenkten violett gefärbt, da¬
her ist es in der Optik Sprachgebrauch geworden, Farbe und Brechung des Lich¬
tes als gleichbedeutend zu betrachten.
Eine weitere Erwägung der oben beschriebenen Erscheinung zeigt nun ferner,
daß die verschieden gefärbten Strahlen des leuchtenden Bandes, bevor sie in das
Prisma sielen, mit einander gemengt waren und keine Färbung erkennen lie¬
ßen, nach ihrem Austritt auf der anderen Seite des Prisma's sind sie nicht nur
getrennt, sondern es zeigt auch jeder seine besondere Färbung. Nun hat aber
in dem Prisma gar .nichts Anderes stattgefunden, als eine verschiedene Ab¬
lenkung der verschieden gefärbten Strahlen, die vorher vereinigt waren; dadurch
daß die einen Strahlen weniger abgelenkt oder gebrochen wurden als die an¬
deren, ist jeder für sich sichtbar gemacht. Das farbige Band enthält also noch
dieselben Lichtstrahlen, welche aus dem Spalte kommen, aber sie sind nicht mehr
vereinigt, sondern neben einander gelegt und daher ist das farbige Band auch
viel länger als der Spalt bereit ist. Vermöge der Eigenthümlichkeit der ver¬
schiedenen Lichtstrahlen, welche im Tageslicht enthalten sind, sich durch ein
Prisma mehr oder weniger ablenken zu lassen, gelingt es, die einzelnen Strah¬
len jeden für sich zu sehen, jeden in seiner eigenen Farbe und jeden an dem
Orte, der ihm vermöge seiner Brechbarkeit im Verhältniß zu den anderen zu¬
kommt.
Das farbige Band nun, welches man durch ein Prisma nach einem leuch¬
tenden Spalt hinsehend erblickt, nennt man ein Spectrum; und diesen Begriff
nebst den oben gemachten Bemerkungen muß man festhalten,, wenn man die
folgenden Entdeckungen recht verstehen will. Natürlich kann hinter dem Spalt
auch eine leuchtende Flamme oder ein glänzender Draht u. s. w. sich befinden,
dann sieht man ebenfalls ein Spectrum, aber je nach der Flamme, welche das
Licht erzeugt, ist das Spectrum in seiner Länge und Färbung ein anderes.
Man wird es daher richtig zu deuten wissen, wenn wir im Folgenden von
Sonnenspectrum, Flammenspectrum u. s. w. reden.
Wenn man unter den nöthigen Vorsichtsmaßregeln, deren Beschreibung
indessen zum Verständniß des Folgenden unnöthig ist. das Sonnenspectrum,
wie Frauenhofer zuerst that, mit einem vergrößernden Fernrohr betrachtet, so
erblickt man in dem Spectrum eine Anzahl dunkler Linien, welche mit der
lichtgebenden Spalte parallel sind und in den verschieden gefärbten Streifen des
Spectrums liegen. Diese Frauenhoferschen Linien sind schon früher der Gegen¬
stand vielfacher Untersuchungen gewesen und Kirchhofs's glänzende Entdeckungen
betreffen zunächst die Auffindung der wahren Ursache, welche jene Linien erzeugt;
die dunklen Fraucnhoserschen Linien sind Unterbrechungen des Sonnenspectrums,
diese Linien sind eben darum dunkel, weil an den betreffenden Stellen Licht
von bestimmter Brechbarkeit (oder Farbe) fehlt oder doch weit weniger intensiv
ist, als zu beiden Seiten. Während man früher glauben konnte, das Sonnen¬
licht enthalte überhaupt alle diejenigen Strahlen gar nicht, welche sich in den
Frauenhoferschen Linien als fehlend beurkunden, zeigte Kirchhofs, daß in dem
ursprünglichen Sonnenlicht auch diese Strahlen enthalten sind, daß sie aber
unterwegs, noch bevor sie unsere Erde erreichen, geschwächt werden, und zwar
durch die Gegenwart gewisser Stoffe in der Sonnenatmosphäre, die uns wohl
bekannt sind, da sie massenhaft auf unserem Planeten vorkommen. In dieser
Erklärung der Frauenhoferschen Linien war. wie man leicht bemerkt, ein Mit¬
tel gesunden, die chemische Zusammensetzung der Sonnenatmosphäre kennen zu
lernen. Wir wollen nun zeigen, auf welche Art es Kirchhofs zunächst möglich
wurde, die wahre Ursache der Frauenhoferschen Linien zu entdecken, denn damit
ist alles Uebrige gegeben; doch müssen wir zudiesem Zweck aus die Untersuchungen
von Kirchhofs und Bunsen über die Flammenspectrcn etwas genauer eingehen.
Es war längst bekannt, daß gewisse Metallsalze, wenn sie innerhalb einer
Flamme sich verflüchtigen, dieser letzteren eine bestimmte Färbung geben; Na¬
tronsalze färben die Flamme des Weingeistes oder des brennenden Kohlen-
wasserstvffgases gelb, Kalisalze violett, Lithion- und Strontiansalze roth, Baryt¬
salze grün. Diese bei Feuerwerken längst benutzten Eigenschaften gewisser
Metallsalze konnten in der Chemie benutzt werden, die Gegenwart jener Metalle
selbst da zu erkennen, wo die untersuchten Quantitäten für eine gewöhnliche
Analyse zu gering waren: indem man den zu prüfenden Körper in eine mög¬
lichst heiße und möglichst farblose Flamme brachte, zeigte die Färbung dieser die
Gegenwart oder Abwesenheit eines der genannten Metalle. Natürlich entsteht
eine gemischte Färbung, wenn zwei oder mehr flammenfärbende Salze in einer
Flamme glühen, und früher war es unmöglich, in diesem Falle anzugeben, welche
Metalle in der Flamme glühen. Bunsen zeigte zuerst, daß man zwei und mehr
glühende und verdampfende Metalle in einer Flamme wieder erkennen kann,
indem man die betreffende Flamme durch farbige Gläser betrachtet. So ist
eine Alkoholflamme, in welcher zugleich Natron- und Kalidämpfe glühen, gelb
gefärbt, von der violetten Kaliflamme ist nichts zu sehen. Wenn man aber
nach Bunsens Rath durch ein blaues Kobaltglas die gelbe Flamme anseht, so
verschwindet das Gelb vollständig, es wird von dem blauen Glase avsorbirt und
man erblickt nun die Altohvlflamme in violetter Färbung, welche von dem Kali
herrührt, dessen violette Strahlen durch das blaue Glas zum Auge gelangen.
Es ist natürlich, daß sich dieses Verfahren mannigfach abändern läßt. Allein
wenn es darauf ankommt, verschiedene Metalle an ihrer Flammenfärbung zu
unterscheiden, so tritt es als ein Hinderniß auf, daß die Flammen verschiede¬
ner Metalle ein« zu ähnliche Farbe haben, um noch als verschieden kenntlich zu
sein. Diesem Uebelstande wurde durch eine von Bunsen und Kirchhofs gemein¬
sam geführte Untersuchung abgeholfen, indem sie das Licht der verschieden ge¬
färbten Flammen mit dem Prisma zerlegten und so charakteristische Spectra er¬
hielten, an denen man die Gegenwart selbst der kleinsten Mengen von Metall¬
salzen in den Flammen mit größter Sicherheit erkennt. Die Spectra der
glühenden Metalldämpfe sind nicht zusammenhängende, farbige Bänder wie die
Spectren der glühenden festen und flüssigen Körper, sondern sie bestehen aus
Vereinzelten mehr oder minder zahlreichen, farbigen Linien, man könnte sagen,
es sind lückenhafte Svectren; von dem ganzen farbigen Bande eines continuir-
lichen Spectrums sind hier nur schmale Streifen übrig geblieben, welche nicht
nur durch ihre Färbung, sondern auch durch ihre Gruppirung charakteristisch sind,
und zwar in dem Grade, daß man an diesen hellen, farbigen Linien eines
Flammenspectrums sogleich erkennt, welches Metall in der gefärbten Flamme
seine glühenden Dämpfe entwickelt. Bunsen und Kirchhofs überzeugten sich, daß
die Lage der heilen Linien in dem Spectrum eines glühenden Metalldampfes
ganz allein von der Art des Metalles abhängt, dagegen durch andere Umstände
nicht beeinflußt wird> woraus ohne Weiteres folgt, daß die Lage der Spec-
tralli ni en ein sich ere s es eini s ches K e nnze i es en ab gibt.
Wenn nun in einer Flamme zugleich mehrere Metalle ihre glühenden
Dämpfe entwickeln, so erhält man ein Spectrum, in welchem die hellen
Linien jedes einzelnen Metalls noch in ihrer eigenthümlichen Gruppirung
zu erkennen sind, und weiß man ein für alle Mal, welche Linien einem
bestimmten Metalle angehören, so kann man in einem und demselben Spec¬
trum zugleich die verschiedenen Spectra der einzelnen in der Flamme gemengten
Metalle wieder erkennen. Wer da weiß, wie schwierig es ist, an einer kleinen
Probe oder in einer sehr verdünnten Lösung die darin enthaltenen Metalle
nach der gewöhnlichen chemischen Analyse zu bestimmen, der wird in dieser Me¬
thode der Spectralanalyse ohne Weiteres eine glänzende Entdeckung erkennen,
welche nicht nur die langwierigen chemisch-analytischen Processe in vielen Fäl¬
len auf eine ebenso kurze als angenehme Beobachtung reducirt, sondern auch
geeignet ist, die kleinsten Quantitäten von Stoffen aufzufinden, von deren Da¬
sein keine andere Methode Auskunft gibt.
Zugleich sind es die Spectra der glühenden Metalldämpfe, welche
Kirchhofs das Mittel lieferten, eine Reihe bekannter Metalle in der At¬
mosphäre der Sonne nachzuweisen, und diese Entdeckung selbst wurde
vermittelt durch eine von Kirchhofs! entdeckte überaus würdige Eigen-
schaft der Lichtstrahls. Man hatte nämlich schon früher behauptet, daß
die beiden hellen Linien im Spectrum des Natriums mit zwei dunk¬
len Linien im Svnnenspectrum zusammenfallen, d. h. daß sie genau dieselbe
Brechbarkeit besitzen. Um die Wahrheit dieser Behauptung zu prüfen, ließ
Kirchhofs geschwärztes Sonnenlicht durch eine Natriumflamme hindurchtreten',
das mit dem Natrium gemengte Sonnenlicht wurde vermittelst des von Kirchhofs
construirten Spectralapparates in ein Spectrum auseinandergelegt und nun
zeigten sich in der That an der Stelle der von Frauenhofer mit dem Zeichen I)
bezeichneten dunklen Linien im Sonnenspectrum zwei helle Linien, welche von
dem Natrium herstammten. Es war somit bewiesen, daß die Natrium-Linien
genau die Brechbarkeit haben, weiche denjenigen Strablen entspricht, die an
einer bestimmten Stelle des Sonnenspectrums fehlen. Von hier aus gebt es
n-un Schritt für Schritt von einer merkwürdigen Entdeckung zur anderen. Zu¬
nächst die Umkehrung der Flammenspectren. Als Kirchhofs das volle Sonnen¬
licht durch die Natriumflamme gehen ließ und das Spectrum betrachtete, waren
an der Stelle der vorher hellen Natriumlinien nun wieder die dunklen Frauen-
hoferschen Linien im Svnnenspectrum zu sehen; als er statt des Sonnenlichtes
das Drummondsche Licht oder das eines glühenden Platindrahtes anwandte,
trat dieselbe Erscheinung, ein, an der Stelle der hellen Natriumlinien traten
dunkle hervor, während sonst in dem Spectrum jener Lichtquellen überhaupt
keine Linien zu sehen sind. „Diese Erscheinungen, sagt Kirchhofs, finden eine
leichte Erklärung in der Annahme, daß eine Natriumflamme eine Absorption
(Auslöschung) ausübt aus die Strahlen von der Brechbarkeit derer, die sie selbst
aussendet, für alle anderen aber ganz durchsichtig ist/'
Es ist durchaus nöthig, uns noch einen Augenblick hier aufzuhalten, denn man
würde das Endresultat der Kirchhoffschen Untersuchungen nicht verstehen, ohne vorher
den eben hingestellten Satz klar aufgefaßt zu haben. Denken wir uns hinter dem
Spalt eines Spectralapparates eine gelbe Natriumflamme, so besteht das Spectrum
selbst aus zwei hellen, gelben Linien. Befindet sich nun hinter der Natriumflamme
ein heUeuchtender glänzender Körper, dessen Strahlen durch die Natriumdämpfe
gehen, so besagt der Kirchhoffsche Satz, daß die Strahlen des glühenden Kör¬
pers, welche an dieWbe Stelle fallen müßten, wo die beiden Natriumlinien
liegen, gar nicht bis an den Ort gelangen, wo das Spectrum sich bildet, weil
jene Strahlen in der Natriumflamme ausgelöscht werden. Die von der Natrium¬
flamme selbst herrührenden gelben Linien bleiben aber im Spectrum, sie werden
nicht ausgelöscht und dennoch erscheinen jetzt diese hellen Linien dunkel, einfach
durch den Contrast; denn die an sich nicht sehr hellen Natriumlinien sind , jetzt,
wo durch die Flamme eine andere Lichtquelle hindurchscheint, beiderseits von
hellen farbigen Streifen umgeben, welche so lichtstark sind, daß die Natriumli¬
nien in ihrer Nähe dunkel erscheinen. Daher tritt die Umkchruna, der Flam-
menspectren nur dann ein, wenn die hinter der Flamme liegende Lichtquelle
stärker leuchtet, als die Flammen selbst, wenn also jene Lichtquelle heißer ist
als die Flamme. Weiter unten werden wir sehen, daß sich daraus ein Schluß
auf den Zustand des Sonnenkörpers ziehen laßt.
Ebenso wie die Natriumlinien ließ sich auch die rothe Linie, welche das
Spectrum der Lithionflamme darstellt, in eine dunkle umwandeln, wenn eine
Heller leuchtende Lichtquelle dahinter gebracht wurde. Die Lithionlinie fällt
nicht mit einer schwarzen Linie des Sonnenspectrums zusammen, fällt aber
das Sonnenlicht durch eine Lithionflamme, so erscheint im Spectrum an
Stelle der rothen Lithionlinie eine dunkle. Dieselbe Umkehrung Heller Spec-
trallinien in dunkle wurde von Bunsen und Kirchhofs ein den Flammenspectren
von Kalium. Strontium. Calcium, Barium beobachtet. „Nach diesen Thatsachen,
sagt Kirchhofs, liegt die Annahme nahe, daß jedes glühende Gas ausschließlich
die Strahlen von der Brechbarkeit derer, die es selbst aussendet, durch Absorp¬
tion schwächt, mit anderen Worten die Annahme, daß das Spectrum eines jeden
glühenden Gases umgekehrt werden muß, wenn durch dasselbe Strahlen einer
Lichtquelle treten, die hinreichend hell ist und an sich ein continuirliches Spec¬
trum gibt." Diese Annahme erscheint als ein besonderer Fall eines allgemei¬
nen, ebenfalls von Kirchhofs gefundenen Satzes, welcher aussagt, daß für jede
Strahlengattung das Verhältniß zwischen dem Emissionsvermögen und dem
Absorptionsvermögen für alle Körper bei derselben Temperatur das gleiche ist.
Aus diesem Satze folgt dann unmittelbar, daß ein glühendes Gas für alle
Strahlen, die es selbst nicht entwickelt, durchsichtig ist; dagegen absorbirt ein
glühendes Gas die Strahlen einer anderen Lichtquelle, welche die Farbe oder
Brechbarkeit derer haben, die das Gas selbst aussendet. Wenn der leuchtende
Körper, durch dessen Licht das Spectrum eines glänzenden Gases umgekehrt
werden soll, ein glühender fester oder flüssiger Körper ist. so muß seine Tempe¬
ratur höher als die des glühenden Gases sein.
Mit Hilfe dieser Thatsache und Folgerungen war es nun zunächst mög¬
lich, die dunklen Linien im Sonncnspectrum zu erklären und diese Er¬
klärung führte dann von selbst zu der Entdeckung gewisser Stoffe
in der Sonnenatmosphäre. Kirchhofs brachte an seinem großen Spec-
tralapparat eine Vorrichtung an, welche es gestattete, das Sonnenspectrum
dicht neben dem Flammenspectrum eines beliebigen Metalles zu sehen. So
wurde es möglich, die hellen Linien eines Flammenspectrums mit den dunklen
Linien des Sonnenspectrums genau zu vergleichen. Nun zeigte es sich z. B..
daß sechzig helle Linien in dem Spectrum des glühenden Eisendampfes zusam¬
menfallen mit sechzig dunklen Linien des Sonnenspectrums. Die Wahrschein¬
lichkeit, daß dies kein Werk des Zufalls sei, stellt sich wie eine Trillion zu Eins.
Es muß also, da ein ursächlicher Zusammenhang dieser beiden Erscheinungen
mit so hoher Wahrscheinlichkeit vorliegt, eine Ursache dafür gesucht werden, und
in der That findet sich eine solche, und zwar nur eine einzige, nämlich die, daß
die Sonnenstrahlen, bevor sie zu uns kommen, durch Eisendämpfe gegangen sind,
in denen alle Strahlen, welche den Eisenlinien entsprechen, absorbirt worden
sind. Aber in unserer Atmosphäre können diese Eisendämpse nicht vorhanden
sein, noch weniger natürlich in dem Weltraum zwischen Sonne und Erde, es
bleibt also nur die Annahme übrig, daß sie sich in der Sonnenatmosphäre
finden, was bei der hohen Temperatur, welche wir der Sonne ohnehin zuschrei¬
ben müssen, nicht auffallend sein kann. „Die Beobachtungen des Sonnenspec-
trums, sagt Kirchhofs, scheinen mir hiernach die Gegenwart von Eisendämpfen
in der Sonnenatmosphäre mit einer so großen Sicherheit zu beweisen, als sie
bei den Naturwissenschaften überhaupt erreichbar ist." Das Eisen eignete sich,
bei der großen Zahl seiner Spectrallinien, besonders gut dazu, die Existenz der
Frauenhoferschen Linien auf diese Art zu erklären. Nachdem dies aber für das
Eisen mit einem Grade von Wahrscheinlichkeit durchgeführt war, der von abso¬
luter Gewißheit kaum mehr zu unterscheiden ist, konnte man schon mit mehr
Vertrauen an eine ähnliche Erklärung anderer Fraucnhoferscher Linien gehen.
Daß die hellen Linien des Natriums genau mit den dunklen Linien v Frauen-
hofers im Sonnenspectrum zusammenfallen, wurde schon erwähnt, und kann nun ein¬
fach durch die Existenz von Natriumdämpfen in der Sonnenatmosphäre erklärt wer¬
den. Ebenso fallen die leuchtenden Linien im Spectrum des Calciums, Magnesiums
und Chroms mit gewissen dunklen (Frauenhoferschen) Linien im Sonnenspectrum
zusammen und zeigen somit die Gegenwart dieser Metalle in der Sonnenat¬
mosphäre an. Auch das Nickel läßt sich noch mit einem hohen Grade von Wahr¬
scheinlichkeit als ein Bestandtheil der Sonne betrachten. Auch Barium, Kupfer
und Zink scheinen in der Atmosphäre der Sonne enthalten zu sein, so daß
also schon neun irdische Stoffe als gleichzeitige Bestandtheile der Sonne erkannt
sind, die über 20 Millionen Meilen von uns entfernt ist. Die übrigen Metalle,
welche Kirchhofs in dieser Richtung untersuchte, nämlich Gold, Silber, Quecksil¬
ber, Aluminium, Cadmium, Zinn, Blei, Antimon, Arsen, Strontium und Lithium
sind in der Sonnenatmosphäre nicht sichtbar, auch Silicium ist darin nicht zu
erkennen.
Die Ansicht, daß die dunklen Linien im-Sonnenspectrum von einer Absorp¬
tion der betreffenden Strahlen innerhalb der Sonnenatmosphäre herrühren,
war schon früher geäußert worden, man hatte sie aber wieder fallen lassen, da
genauere Nachweisungen fehlten; Kirchhofs zeigte indessen, daß die Gegengründe,
welche man gegen jene noch sehr Vage Ansicht beigebracht, nicht stichhaltig sind.
„Um die dunkeln Linien des Sonnenspectrums zu erklären, beginnt Kirch¬
hof seine Reflexionen über die Physische Beschaffenheit der Sonne, muß man
annehmen, daß die Sonnenatmosphäre einen leuchtenden Körper umhüllt, der
für sich allein ein continuirliches Spectrum (ohne Frauenhofersche Linien) von
einer Lichtstärke gibt, die eine gewisse Grenze übersteigt. Die wahrscheinlichste
Annahme, die man machen kann, ist die. daß die Sonne aus einem festen
oder tropfbarflüssigen, in der höchsten Glühhitze befindlichen Kern besteht, der
umgeben ist von einer Atmosphäre von etwas niedrigerer Temperatur."
Laplace war auf einem ganz anderen Wege, aus Gründen der Mechanik, zu
der Annahme geleitet worden, daß unser ganzes Sonnensystem einst ein zu-
sammenhängender Nebel von ungeheurer Ausdehnung gewesen sei, durch dessen
Zusammenziehung in einzelne Ballen die Sonne und die Planeten entstanden.
Wenn Laplace's Annahme richtig ist, so kann es nicht auffallen, daß sich eine
Zahl irdischer Stoffe in der Sonne wiederfindet, da die Substanz der beiden
Körper einst in jenem Nebel gemengt gewesen ist, und umgekehrt gibt die That¬
sache, daß in der Sonne sich einige irdische Stoffe vorfinden, einen neuen Be¬
weis für die Richtigkeit der Laplaceschen Hypothese, der zu Folge die aus dem
ursprünglichen Nebel entstandenen Körper in einen glühendslüssigen Zustand
übergehen mußten, in einen Zustand, in welchem sich die Sonne noch jetzt be¬
findet. Bei uns ist es freilich seitdem kälter geworden, da unsere, im Ver¬
hältniß zur Sonne winzig kleine Erde natürlich rascher auskühlen mußte; daß
aber auch sie einst in feuerflüssigem Zustande gewesen sei, daß wahrscheinlich
noch jetzt der innere Kern der Erde sich in diesem Zustand befindet, darüber
lassen die geologischen Thatsachen keinen Zweifel. Und wenn Untersuchungen
von solcher Strenge, wie die von Kirchhofs und'Laplace von den verschiedensten
Gesichtspunkten aus zu denselben Folgerungen führen, so gewinnt die eben vor¬
getragene Anschauungsweise schon durch dieses Zusammentreffen einen Grad
der Gewißheit, der jeden, aus bloßer Verwundrung hervorgehenden Zweifel
ungerechtfertigt erscheinen läßt. Wir können es auch als eine weitere Bestäti¬
gung für Kirchhoffs oben citirte Ansicht von dem Zustande der Sonne betrach¬
ten, daß diese Ansicht eine so ungezwungene Erklärung der Sonnenflecken und
Sonnenfackeln gestattet. Nach Kirchhofs kommt Galilei's Deutung der Sonnen¬
flecken wieder zu Ehren, wonach dieselben Wolken der Sonnenatmosphäre sind.
Lichtadern oder Sonnenfackeln müssen dann entstehen, wenn an der Oberfläche
der Sonne Körper sichtbar werden, welche ein größeres Ausstrahlungsvermögen
oder eine höhere Temperatur als ihre Umgebung besitzen. Daß derartige Ver¬
änderungen auf der Sonne denkbar sind, geht aus Scachi's Beobachtungen
hervor, wonach die Pole der Sonne weniger heiß sind, als die Aequatorial-
gegenden derselben. Es müssen, wie Kirchhofs folgert, dadurch beständige Winde
veranlaßt werden, welche von den Polen aus gegen den Aequator an der
Oberfläche des Sonnenkörpers hinströmen, während umgekehrt ein oberer Pas¬
sat von dem Aequator zu den Polen hinfließt. Diese Winde müssen so gut
wie die entsprechenden der Erdatmosphäre, die Bildung von Wolken veram-
lassen können, die wir als Sonnenflecken wahrnehmen. Die Bewegungen der
Gase der Sonnenatmosphäre mögen zuweilen eine Stärke annehmen, gegen
welche auch die wüthendsten Orkane der Erde noch als unbedeutend zu be¬
trachten sind, denn die Winde sind die Wirkungen der Temperaturunterschiede
an verschiedenen Orten der Atmosphäre: je größer diese, desto rascher die Aus¬
gleichung, desto heftiger die Luftströmung. Bei uns sind die größten Unter¬
schiede zwischen der Temperatur der Pole und des Aequators auf 50—60°
anzunehmen, während bei der glühenden Atmosphäre der Sonne diese Tempe¬
raturdifferenzen leicht aus einige hundert Grad steigen können und demgemäß
auch weit heftigere Winde veranlassen müssen. Diese Auffassung der Sonne
als eines in höchster Wcißgluth leuchtenden, von einer glühend heißen, mit Me¬
talldämpfen geschwängerten Atmosphäre umgebenen Ballen weicht freilich stark
ab von den Vorstellungen, welche selbst Arcigo sich noch vor wenigen Jahren
von dem Zustande der Sonne machte. Von gewissen Beobachtungen an Son¬
nenflecken ausgehend hatte man angenommen, die Sonne bestehe aus einem
dunkeln Körper, der von drei einander umhüllenden Atmosphären umgeben sei,
von denen die mittlere allein das Sonnenlicht ausstrahle und daher als Pho¬
tosphäre bezeichnet wurde. Arago nahm sogar an, die Sonne könne von or¬
ganischen Wesen bewohnt sein. Kirchhofs zeigt, daß diese Vorstellungsweise in
sich widersprechend ist, denn die Photosphäre der Sonne, welche in einer Ent¬
fernung von 20 Millionen Meilen auf der Erde noch fo stark erwärmend wirkt,
müßte ja auch den ihr näheren Sonnenkörper erwärmen, ja sie müßte diesen
zur höchsten Weißgluth erhitzen, da er von der Photosphäre rings umhüllt ist
und sich wie im Focus eines immensen Brennspiegels befindet. Also der ein¬
zige sichere Theil in Arago's Annahme würde ohne Weiteres wieder zu der An¬
sicht Kirchhoffs führen, die ohnehin aus den Spectralbeobachtungen und aus der
Laplaceschen Hypothese sich mit ebenso großer Strenge als Einfachheit folgern
läßt. Die Sonne befindet sich eben jetzt noch in dem Zustande, in welchem
sich einst unser Planet befand, wie Letzteres aus den geologischen Beobachtungen
hervorgeht, und sie wird also auch dereinst in einen ähnlichen Zustand über¬
gehen, wie der. in welchem sich unsere Erde jetzt befindet.
Wenn wir es unterlassen, über die Bedeutung und Tragweite der eben an¬
gedeuteten Folgerungen aus den Spectraluntersuchungen uns weiter zu ergehen,
so möchten wir anderseits eine Bemerkung über das wissenschaftliche Verdienst
derartiger Arbeiten nicht unterdrücken. Entdeckungen kann heutigen Tages
Jeder machen, der sich mit irgexrd einem Zweige der Naturwissenschaft beschäftigt,
aber es ist ein Unterschied zwischen Entdeckung und Entdeckung,, je nach dem
Aufwands an Geist und Kenntniß, den sie voraussetzt, je nach den Folgen,
die sie für die Wissenschaft und also auch für die Weltansicht der Gebildeten
überhaupt bietet. Die Allermeisten, und das sind wohl mindestens neun und
neunzig Procent aller Menschen, beachten nicht einmal das, was ein günstiger
Zufall ihnen Wissenswürdiges zuführt, weil Unfähigkeit und Vorurtheile die
bloße Wahrnehmung der sich selbst aufdrängenden Thatsachen hindern. Daher
ist es schon ein Verdienst, zufällig sich darbietende neue Thatsachen mit offenen
Sinnen aufzunehmen, und sie durch Aufzeichnung der Wissenschaft zu weiterer
Benutzung zu erhalten. Es will aber schon mehr sagen, wenn Einer, den
strengen Methoden folgend, die Lücken in dem System der Wissenschaft erkennt
und mit dem Willen, sie auszufüllen, an die Arbeit geht, und wenn so Entdeckungen
nicht zufällig gefunden, sondern in bestimmter Absicht aufgesucht werden. Glän¬
zende Entdeckungen aber treten dann hervor, wenn genialer Scharfsinn neue
Methoden der Forschung begründet, wenn neue Standpunkte gezeigt, neue
Wege zur Wahrheit gebahnt werden. Dann besteht der Gewinn nicht mehr
blos in einzelnen neuen Thatsachen, sondern es wird allen denen, welche arbeiten
können und wollen, eine neue Fähigkeit verliehen. Denn streng begründete For¬
schungsmethoden sind für die Wissenschaft, was die Sinne für den Körper sind,
sie führen zur Wahrnehmung von Dingen, die vorher nicht da zu sein schienen,
weil das Mittel, sie wahrzunehmen, fehlte. Zu dieser letzten Art von Ent¬
deckungen gehören die Untersuchungen von Bunsen und Kirchhofs. Durch die
Spektralanalyse ist der schärfste unserer Sinne, das Auge, um eine Fähigkeit
reicher geworden, sein Gebiet weit über seine früheren Grenzen hinaus erweitert.
Quantitäten von Stoffen, die früher absolut unwahrnehmbar waren, werden jetzt
auf die bequemste Weise durch brillante Erscheinungen beobachtet und das Sonnen¬
licht bringt uns selbst die Kunde von dem, was auf der Sonne und in ihrer
Atmosphäre stattfindet, die früher unerklärten Frauenhoferschen Linien sind
durch Kirchhoffs Entdeckungen eine lesbare Schrift geworden, von der einige der
wichtigsten Charaktere bereits erkannt sind. Dem Publicum ist es nicht selten
unbegreiflich, zu welchem Zweck die Naturforscher sich mit jahrelangen kleinlichen
und peinlichen Beobachtungen, wie Berichtigung von Zahlen u. s. w. beschäftigen.
Wer da weiß, daß Entdeckungen, wie die, von der wir eben berichteten, nur
möglich sind, wenn Hunderte von anderen Entdeckungen vorausgegangen sind,
der wird jene scheinbar pedantischen Bemühungen nicht fruchtlos nennen. Grade
Kirchhoffs Entdeckungen zeigen, wie unzählige kleine Verbesserungen und dem
Publicum unbekannt bleibende Entdeckungen verschiedener Jahrhunderte sich
endlich zu einem großen Resultat summiren, wenn eben der summirende Geist
sich findet. Die Hunderte von Erfindungen, welche die Construction der jetzigen
Fernröhre, die Composition und das Schleifen brauchbarer Gläser, die feine,
correcte Theilung eines Kreises u. s. w. ermöglichten, mußten vorausgehen,
bevor diese neuen Instrumente, diese neuen Methoden und überraschenden Resul¬
tate gefunden werden konnten. Wenn Entdeckungen von solchem Range auch
selten gemacht werden, so folgt das nicht allein aus der Seltenheit genialer
Köpfe, sondern auch daraus, daß längere Zeiten nöthig sind, um all die
kleinen Mittel zu neuen großen Thaten auf dem Gebiete der Wissenschaft zu
sammeln.
Kuinor, Noinoires pour servir 5. l'tnstoii's mon temps.
loin. I—IV. ?aris.
Die Abneigung der Franzosen gegen die legitime Dynastie der Bourbonen
hatte nicht allein in der innern Politik der restaurirten Monarchie, sondern
zum Theil auch darin ihren Grund, daß ihre Wiederherstellung auf's Engste
mit den Verträgen von 18is verknüpft war. Man vergaß es nicht, daß die Herr¬
schaft der Familie dem Lande durch eine siegreiche Invasion der Fremden
auferlegt war. Die Erinnerung an die ruhmvollen Kämpfe der Republik, an
den kriegerischen Glanz des Kaiserreiches wurde um so lebendiger, je mehr die
ungeheuren Opfer, mit denen man die Glorie der Weltherrschaft erkauft hatte,
im Gedächtnisse der Nation nach und nach erblaßten; und die politische Agitation
unterließ es nicht, diese Stimmung zu Ungunsten der Dynastie auszubeuten;
während ihrerseits die Regierung bemüht war, durch thätige Theilnahme an
den Welthändeln den Nimbus um sich zu verbreiten, dessen sie, um populär
zu werden, dringend bedürfte. Aber die Intervention in Spanien, so rasch und
entscheidend ihr militärischer Erfolg auch war, konnte ihrer absolutistischen Ten¬
denzen wegen nur dazu dienen, die Mißstimmung über die auswärtige Politik
der Regierung zu erhöhen. Die Theilnahme Frankreichs an den griechischen An¬
gelegenheiten, die Expedition gegen Algier veränderten wenig in der feindlichen
Gesinnung des Landes.
Daher war die Lage der Julimonarchie gegenüber den Erwartungen und
Hoffnungen, mit denen ein großer Theil der Franzosen in die neue Periode
eintrat, und denen genau die Befürchtungen und das Mißtrauen der fremden
Mächte entsprachen, eine überaus schwierige. Alle liberalen Elemente, die tüch¬
tigsten Kräfte des Landes, hatten in dem mehrjährigen Widerstande gegen die
reactionären Tendenzen der Negierung Karls des Zehnten sich gewissermaßen
in die Routine und die Gewohnheiten einer systematischen Opposition hinein¬
gelebt, schwebten also in der augenscheinlichsten Gefahr, auch wider ihren Wil¬
len den ausschweifendsten revolutionären Tendenzen dienstbar zu werden: Ten¬
denzen, die sich vielfach nicht blos an die Traditionen von 1^89, sondern auch
an die der späteren Revolutionsjahre anknüpften. In Lafayette schien die ver¬
gangene Periode noch einmal aufzuleben. Die Gefahr lag nahe, das Streben
nach verfassungsmäßiger Freiheit in die revolutionäre Propaganda umschlagen
zu sehen. So gering bei den Franzosen das Freiheitsbedürfniß war und ist,
so wenig sie geneigt und im Stande sind, sich den unabweislichen Bedingungen
des Repräsentativsystems zu fügen: so leicht sind sie doch für eine ehrgeizige
Propaganda, wie sie in der großen Revolution von Lafayette ab alle ein's
Ruder gelangten Parteien, sei es als Mittel, sei es als Zweck, ausgeübt haben,
begeistert. Auch der maaßvollste, besonnenste französische Staatsmann kann
nicht umhin, gelegentlich seiner Nation ein Compliment zu sagen über ihre
civilisatorische Mission, über ihren Beruf, sich für die Freiheit der Welt zu
opfern. Was bei dem Staatsmann eine oft nur beschwichtigende Höf¬
lichkeit für die eigene Nation, dabei aber immer eine verletzende Phrase für
das Ausland ist, drohte in den durch einen siegreichen Kampf erhitzten Gemü¬
thern einen um so ernsteren Charakter anzunehmen, als an vielen Punkten
Europa's ein Zündstoff sich angesammelt hatte, der, so schien es, nur auf den
zündenden Funken wartete, um alles Bestehende in die Luft zu sprengen.
So waren die Verhältnisse sehr herausfordernd für eine abenteuerliche,
welterschütternde Politik von freilich sehr zweifelhaftem Erfolge. Indeß in dem
Wesen der revolutionären Anschauung liegt es, die Chancen des Gelingens
und Mißlingens möglichst wenig in Anschlag zu bringen. Anders aber mußte
die neue Dynastie, anders mußten die Staatsmänner, welche durch Gründung
derselben die revolutionäre Erschütterung zu einem raschen Abschluß zu bringen
bemüht gewesen waren, die Sache ansehn, auch wenn sie unter der Herrschaft
der beseitigten Dynastie ihr Mißvergnügen über die wirklichen und vermeint¬
lichen Fehler der alten Regierung in leidenschaftlichster, ihre eigenen Grund¬
sätze überschreitender Weise kund gegeben hatten. Ihnen, welches auch ihr
Urtheil über die Gefahren eines allgemeinen Krieges sein mochte, konnte es
doch nicht entgehen, daß jede das Ausland provocirende Politik nothwendig
einen propagandistischen Charakter annehmen, daß aber jede propagandi¬
stische Politik sofort den unheilvollsten Rückschlag nach innen ausüben
mußte. Denn wie mangelhaft und einseitig das Urtheil der Franzosen über
den inneren Zusammenhang der Ereignisse ihrer ersten Revolution auch sein
mochte, -— die Thatsache konnte man sich unmöglich verbergen, daß der Krieg
vielfach nur ein Mittel in der Hand der vordringenden Parteien gewesen war,
um im Innern die Consolidirung geordneter Zustände zu hindern. Und wie
die Verhältnisse lagen, war es klar, daß auch 1830 die gleichen Ursachen gleicke
Wirkungen hervorbringen mühten: wenn auch unter manchen Gemäßigten die,
im Jahre 1793 so erschütternd widerlegte Ansicht herrschte, daß ein auswärtiger
Krieg eine Ableitung für, die inneren Zustände bedrohende Elemente sein
würde. Unter allen Umständen gefährlich, kann das Experiment, revolutionäre
Leidenschaften nach außen zu lenken, nur da Aussicht auf Erfolg haben, ,vo
eine starke', die Zügel der Herrschaft fest handhabende Negierung dem dro¬
henden Ausbruch einer Revolution vorbeugen will, nicht aber da, wo der Bo¬
den noch unter den Nachwirkungen eines eben erfolgten Ausbruches zittert.
Die Revolution, — so viel stand fest, — konnte 183V nicht eher für abge¬
schlossen gelten, als bis die Verhältnisse mit dem Auslande friedlich geordnet
waren; und nur der rasche Abschluß der Revolution ließ der Hoffnung Raum,
auf dem Boden des Nepräsentativsystems Zustände zu gründen, die mit der
Gewähr der Dauer zugleich die einer ungehinderten freiheitlichen Entwickelung
boten.
Sobald die ersten stürmischen Zeiten des Ueberganges überwunden und
wenigstens äußerlich geordnete Zustände hergestellt waren, mußte es daher die
erste Sorge der neuen Negierung sein, wo möglich die alten diplomatischen Be¬
ziehungen Frankreichs zu den fremden Cabineten aufrecht zu erhalten. Von
besonderer Wichtigkeit war es natürlich, wie das Verhältniß mit England sich
gestalten würde. Wellington, der Führer des damaligen Torycabincts, bedau¬
erte zwar die Ereignisse in Paris, nahm aber doch keinen Anstand, nach der
vollendeten Thatsache die neue Regierung anzuerkennen und sich mit ihr in ein
gutes Einvernehmen zu setzen. Beachtenswert) ist es, was wir hier bemerken
wollen, daß die Beziehungen der Julimonarchie zu den Torys im Allgemeinen
leichter und freundlicher waren als zu den Whigs.*) Daß übrigens in England
trotz des Antheils, den dieser Staat an der Wiederherstellung der Bourbonen
genommen hatte, der Dynastiewechsel im Ganzen mit günstigem Auge angesehen
wurde, ist nicht zu verwundern. Der entschiedene Sieg des konstitutionellen
Systems in Frankreich war für England mehr als eine Tendenzfrage. Mochte
die heilige Allianz in Folge der vordringenden Politik des Kaisers Nikolaus immer¬
hin gelockert sein; sie bestand doch noch mit ihren Ansprüchen und tendenziösen
Jnterventionsbestrebungen; und es ließ sich leicht berechnen, daß das neue Frank¬
reich sich in den bedeutendsten Fragen mehr zu England, als zu den Continen-
talmächten hinneigen würde.
Auch Preußen und Oestreich waren nicht bestrebt, der neuen Regierung Hin¬
dernisse in den Weg zu legen. So empfindlich ihnen der Sturz der Bourbonen
war, so erwünscht mußte es ihnen doch sein, daß das neue Regiment sich rasch
consolidirte und wenigstens gegen die kriegerischen und weltstürmenden Gelüste
der Propaganda Schutz bot. Besonders der König Friedrich Wilhelm der
Dritte und der Fürst Wittgenstein waren nach den französischen Gesandtschafts¬
berichten,' auf die Guizots Darstellung sich stützt, bereit, zwar nicht innige, aber
doch freundliche und wohlwollende Beziehungen und Ludwig Philipp's Regie¬
rung anzuknüpfen.
Basson, der französische Gesandte, scheint die Berliner Verhältnisse im Gan¬
zen richtig zu beurtheilen; dennoch ist es sehr zu bedauern, daß unsre Kenntniß
des Details jener Periode fast ausschließlich auf französischen und englischen
Berichten beruht. Selten, daß sich uns die Gelegenheit bietet, der fremden
Darstellung zeitgenössischer Begebenheiten eine archivalisch begründete vater¬
ländische Anschauung entgegenzustellen! Wie lange ist nicht unsre Auffassung der
Revolutionszeit von 1789 ausschließlich von französischen Anschauungen beherrscht
worden! Und ein wie ganz anderes Bild haben wir von jener Periode gewon¬
nen, seit deutschen Forschern der Zugang zu deutschen Archiven gestattet
worden ist!
In Wien boten sich einem guten Einvernehmen schon größere Schwierig¬
keiten dar. Der Kaiser Franz der Zweite, der, wie ja auch von deutschen Ge¬
schichtschreibern nachgewiesen ist, in den Staatsangelegenheiten seinen Einfluß
weit mehr geltend machte, als man es lange Zeit geglaubt hat. hatte einen
tiefen Widerwillen gegen jede aus einer Volksbewegung hervorgegangene libe¬
rale Regierung. Metternich, obwohl er die fanatische Abneigung des Kaisers
gegen liberale Formen nicht unbedingt theilte und auch zu zaghaft besonnen,
zu kühl berechnend, vielleicht auch zu oberflächlich und blasirt war, um sich mi
Leidenschaft einer exclusiver Tendenzpolitik hinzugeben, war doch auf der andern
Seite zu ängstlich besorgt für die stritte Aufrechterhaltung der Tractate von 1815,
als daß ihn die Julirevolution nicht mit der lebhaftesten Unruhe hätte erfüllen
sollen. Dabei war sein Vertrauen auf die Dauer der in Europa bestehenden
Zustände nur gering. Nach seinen Aeußerungen, die, wenn er auch oft seine
Besorgnisse, absichtlich etwas übertrieb, doch im Ganzen der Ausdruck seiner
Ueberzeugung sind, stand ganz Europa über einem Vulkan; wer konnte berechnen,
zu welchen weiteren Erschütterungen der erste Ausbruch führen würde? Grade
diese Besorgnisse aber ließen es ihm räthlich erscheinen, der Consolidirung der
französischen Regierung, so bald er sich von ihrer Absicht überzeugt hatte, die
Verträge zu achten, keine Hindernisse in den Weg zu legen. Nach der andern
Seite zog ihn indessen die Scheu, dem Kaiser Nikolaus zu mißfallen, dem gegen¬
über er nie wagte, einen entschiedenen Standpunkt einzunehmen. Daß von
Rußland her Oestreich die größten Gefahren drohten, erkannte er allerdings.
Schon auf den Kongressen des Jahres 1820 und 1821, als es sich um die
östreichische Intervention in Neapel Handelte, waren die tiefen Differenzen, welche
die beiden Kaiserstaaten, trotz ihrer Solidarität der Revolution gegenüber, von
einander trennten, klar zu Tag gekommen. Doch aber blieb diese Solidarität
stark genug, um Metternich an einem festen Auftreten Nußland gegenüber zu
hindern. So kam er -u dem System, die Gefahren, denen er nicht zu trotzen
wagte, durch eine weder seinen Gesinnungen, noch den wahren Interessen Oest¬
reichs entsprechende Nachgiebigkeit gegen den Kaiser Nikolaus, der, nach Guizots
Ausdruck, wie ein Alp auf ihm lastete, zu beschwichtigen. Diese aus einer selt¬
samen Mischung von Abneigung und Furcht hervorgegangn Rücksicht aus
Nikolaus ließ dann auch, unterstützt von der persönlichen Abneigung des Hofes
und der höheren Gesellschaft gegen den Bürgerkönig, ein herzliches Verhältniß
zwischen dein französischen und östreichischen Cabinete nicht aufkommen; ein
regelmäßiges und freundliches vermochte sie nicht zu hindern.
Desto peinlicher gestalteten sich, dem Charakter des .Kaisers Nikolaus ent¬
sprechend, die Beziehungen zu Rußland. Zwar billigte der Kaiser keineswegs
die Ordonnanzen Karls des Zehnten"), sah vielmehr in dem Staatsstreich eine
gefährliche Unklugheit. Aber einmal unternommen mußte er nach seiner Ansicht
um das Princip der königlichen Autorität nicht zu compromittiren, mit aller
Kraft und allen Mitteln durchgeführt werden. Mit der größten Spannung
sah der Kaiser den Nachrichten aus Paris entgegen; noch am 27. Juli, nach
einer glänzenden Truppenrcvue, der er ganz gegen seine Gewohnheit zerstreut
und theilnahmlos zugeschaut hatte, unterhielt er sich eingehend mit dem franzö¬
sischen Gesandten Bourgoing über die Eventualität eines Kampfes zwischen
König und Volk. Der Zweifel des Gesandten an der Treue der Linientruppen
versetzte ihn in eine lebhafte Aufregung, die sich bis zu den Ausbrüchen leiden¬
schaftlichster Heftigkeit steigerte, als er die Nachrichten von dem Sturze Karls
des Zehnten und der Erhebung Ludwig Philipps, den er als Nonsisur 1e,
1ieutens.»t-Z6v6rÄl bezeichnete, erhielt. Guizot, der ihn sehr streng deur-
Me und ihm alle wahre Größe abspricht*). bebt besvM'rs die Kleinlichkeit
hervor, mit der er seinen Haß zur Schau trug. Er HMe sich ein förmliches
System gebildet, seine Nichtachtung gegen Ludwig Philipp kund zu geben.
Während er die französischen Bevollmächtigten persönlich mit Beweisen der
Rücksicht und des Wohlwollens überhäufte und von der französischen Nation
mit Achtung sprach, vermied er es sorgfältig, des Königs zu erwähnen, selbst
wo die diplomatische Etikette es forderte. Man ließ dies eine Zeitlang unbe¬
rücksichtigt, da man wußte, daß er gar nicht daran dachte, seine feindliche Ge¬
sinnung zur That werden zu lassen.
Der Herzog von Broglie indessen, im Ministerium vom 11. Octooer Mi¬
nister des Auswärtigen, war zu wenig gefüge und zu stolz, um sich diese Ver¬
nachlässigung der Formen länger gefallen zu lassen. Als er daher den Mar¬
schall Maison als Bevollmächtigten nach Se. Petersburg schickte, ließ er Pozzo
ti Borgo, der damals das russische Eabinct in Paris vertrat, wissen, der Mar¬
schall sei angewiesen, Se. Petersburg binnen acht Tagen unter dem möglichst
durchsichtigen Bvrwande zu verlassen, wenn der Kaiser beim Empfange nach
seiner Gewohnheit den König unerwähnt lassen sollte. Dies wirkte. Bei der
ersten Begegnung mit dem Gesandten erkundigte der Kaiser sich nach dem Be¬
finden Ludwig Philipps.
Ganz ohne ein politisches Ergebniß sollte indessen die erbitterte Stim¬
mung des Kaisers doch nicht bleiben. Der Glanz, welchen die Eroberung Ant¬
werpens auf die französischen Waffen geworfen hatte, die allerdings nicht ganz
unbegründete, aber jedenfalls übertriebene Furcht, daß das neue Königreich Bel¬
gien einer die Sicherheit Europa's gefährdenden Clientel Frankreichs verfallen
möchte, die Zuflucht, die die piemontesischen und nach dem Frankfurter Attentat
die deutschen Flüchtlinge auf französischem Boden fanden, — alle diese Um¬
stände konnten nicht verfehlen, auf die nordischen Caoinete und besonders auf
den Fürsten Metternich, der sich durch das von der französischen Regierung
wiederholt proclamirte Nichtinterventivnsprincip in den italienischen Angelegen¬
heiten mit völliger Lähmung bedroht sah, einen tiefen u»d beunruhigenden Ein¬
druck zu machen. Diese Stimmung benutzte der Kaiser Nikolaus, in do'in
Augenblicke wo, wie wir unten sehen werden, in Folge der orientalischen WMem
eine Spannung zwischen den beiden constitutionellen Großmächten eingetreten
war, um Frankreich eine Eoalition der absolutistischen Cabinete entgegenzu-
stellen. Auf verschiedenen Conferenzen der Monarchen und Minister zu
Thsreflenfladt, Schwedt, Münchengrätz wurde der Plan besprochen, der schließlich
zur Ueberreichung, nicht identischer, aber dem Inhalte nach übereinstimmender
Noten in Paris führte. In diesen Noten erklärten die drei Mächte, daß, wenn
in Folge von Umtrieben, weiche die auf französischem Boden ungehindert
machinirendcn Flüchtlinge anzettelten, in ihren oder ihrer Verbündeten Staaten
Unruhen aufbrechen sollten, sie auf die Bitte der betreffenden Negierung mit
gemeinsamen Kräften derselben Hilfe leisten, und daß sie jeden Versuch, eine
von ihnen an einer derartigen Einmischung zu hindern, als einen gegen alle
drei Staaten gerichteten Act der Feindseligkeit betrachten würden. Man sieht,
es war dies ein dunkler Angriff gegen das Nichtinterventionsprincip, welches
Metternich dem französischen Gesandten gegenüber bei jeder Gelegenheit als den
Umsturz des bestehenden Völkerrechtes bezeichnete. Broglie erklärte in Beant¬
wortung der Noten, daß er an dem von ihm aufgestellten Princip festhalten
werde und eine Verlegung desselben nur da, wo Frankreichs Interessen gar
nicht ins Spiel kämen, unbeachtet lassen könne, daß er aber unter allen Um¬
ständen eine Intervention in Belgien, in der Schweiz und (dies war der be¬
deutsamste, speciell gegen Oestreich gerichtete Theil seiner Antwort) in Piemont
nicht dulden würde. Daß die ganze Demonstration, die, wie es scheint, von
Anfang an nicht auf ein entschiedenes Vorgehen berechnet war, sondern nur
dazu dienen sollte, das enge Einvernehmen -zwischen den nordischen Mächten
zu constatiren, resultatlos blieb, war für die französische Politik ein günstiger
Umstand. Es war schon aus dem milden Ton der Noten klar geworden, daß
Weder Oestreich noch Preußen geneigt waren, sich einer kriegerischen Koalition
gegen Frankreich anzuschließen. Die Zeit schien vorüber zu sein, wo man be¬
sorgen konnte, daß die beiden Cabinete sich aus tendenziösen Antipathien und
Sympathien Rußland unbedingt und ohne Reserve zur Verfügung stellen
wurden.
Die Schwierigkeiten und Gefahren für Frankreich kamen von einer ganz
anderen Seite: es sollte sich zeigen, daß auf die Solidarität der liberalen
Principien sich ebenso wenig, wie aus die der conservativen eine dauernde Po¬
litik gründen ließ. Die orientalische Frage war bestimmt, eine neue Gruppi-
rung der europäischen Mächte vorzubereiten. Nach dein Siege von Cvnieh
hatte Ibrahim Pascha Smyrna besetzt und bedrohte selbst Constantinopel. Es
war augenscheinlich, daß Mehemed Ali, von dem Guizot nach den Berichten
der französischen Agenten ein treffliches Charakterbild entwirft, trotz aller Ver¬
sicherungen der Treue gegen den Sultan, seinen Lehnsherrn, die Absicht hatte,
ein großes selbständiges Ne.ich in Asien und Afrika zu gründen. Dies hieß
nichts Anderes als dem türkischen Reiche den Todesstoß geben. Alle euro-
Mcheu Mächte sahen sich daher genöthigt, den orientalischen Ereignissen gegen-
über eine von ihren anderweitigen Beziehungen unabhängige, bestimmte Stel¬
lung einzunehmen. Denn von Preußen abgesehen, das bei der Frage nur
mittelbar betheiligt war und keine Politik verfolgte, die es hätte bewegen kön¬
nen, die allgemeine Verwicklung zur Förderung seines besonderen Vortheils
zu benutzen, standen für die Großmächte die wichtigsten Interessen auf dem
Spiele. Indessen waren diese Interessen viel complicirter. als man es gewöhn¬
lich annimmt, und wir können gradezu behaupten, daß Frankreich, weil es
die Complication der Beziehungen verkannte, wiederholt zu einer falschen und
abenteuernden Politik getrieben ist und wiederholt auf dem schlüpfrigen Boden
der orientalischen Frage die empfindlichsten Niederlagen erlitten hat.
Der Conflict, der im Orient ausgebrochen war, zog deshalb besonders
die lebhafteste Aufmerksamkeit aller Mächte auf sich, weil zu befürchten war,
Nußland werde die Verlegenheiten des Sultans zu seinem eignen Vortheil
ausbeuten. Dies war die eigentlich europäische Seite der Frage. Wenn Eng¬
land und Oestreich die Erhaltung des türkischen Reiches als eine Lebensfrage
ansahen, so hatte dies ganz besonders darin seinen Grund, daß bei einer Zer¬
stückelung der Türkei keine der beiden Mächte einen Antheil an der Beute ge¬
winnen konnte, der entfernt dem Gewinne gleich gekommen wäre, den das da¬
mals übermächtige und im Innern unerschütterte, über alle Mittel seines weiten
Gebietes unbedingt verfügende Rußland aus dem Zerfalle des einst so mächtigen
Nachbarreiches gezogen haben würde. Es kam also darauf an, in gemeinsamer
Action ohne alle Hintergedanken die Türkei durch den Schutz des gesammten
Europa's zu decken. Die Eigenthümlichkeit der Situation lag aber darin, daß
Nußland an einen Angriff gegen den Sultan gar nicht dachte; sein Plan ging
vielmehr dahin, nicht die Pforte äußerlich zu schwächen oder ihr Verlegenheiten
zu bereiten, sondern den Einfluß der übrigen Mächte von Constantinopel fern
zu halten und an die Stelle eines europäischen ein ausschließlich russisches
Protectorat über den Sultan zu setzen. Es trat also der Fall ein, daß der alte
Feind der Pforte in der eifrigen Sorge für ihr Wohl mit den alten erprobten
Freunden des osmanischen Reiches wetteiferte. Vergeblich warnten die frem¬
den Diplomaten und einsichtigen Rathe der Pforte den Sultan vor den ge¬
heimen Plänen gegen das osmanische Reich, die Rußland unter dem Schein
des Schutzes verberge. Mahmud hörte nur auf die Stimme des leidenschaft¬
lichen Hasses gegen seinen übermächtigen Vasallen. „Was kümmert mich das
Reich?" rief er aus, „was kümmert mich Constantinopel? Ich würde Constan¬
tinopel und das Reich demjenigen geben, der mir den Kopf Mehemed Ali's
brächte."
Den russischen Plänen arbeitete nur Frankreich, ohne es zu wollen, in die
Hände. Es war eine eben so unbesonnene, wie haltlose Politik, wenn das
französische Cabinet zwar im Vereine mit den übrigen Mächten gegen den
russischen Einfluß in Konstantinopel ankämpfte, dabei zugleich aber bemüht war
durch Beschulung des'Vicekömgs die Situation zu seinem besondern Vortheile
auszubeuten. Ein widerspruchsvolles, unklares, den schlimmsten Verdacht
herausforderndes Verfahren war es, zugleich den Sultan gegen Nußland und
den Pascha gegen den Sultan schützen zu wollen. Wollte Frankreich für seinen
Schützling Mehemed Ali in die Schranken treten, so mußte es den Versuch
machen, bor Allem Nußland für seine Pläne zu gewinnen; es mußte Nußland
zu bewegen suchen, die Rolle des Beschützers der Pforte aufzugeben und sich
mit dem Vicekönig und Frankreich gegen den Sultan und halb Europa zu
verbünden. Hätte dieser Versuch aber irgend eine Aussicht auf Erfolg gehabt?
Würde Nußland, welches von seiner Protectorrolle zwar langsame, aber sichere
Erfolge erwarten konnte, aus ungeduldiger Beutelust seine europäischen Allianzen
den zweifelhaften Erfolgen eines abenteuerlichen Unternehmens gegen die Türkei
aufgeopfert haben? Würde der Kaiser Nikolaus damals, wo ihn sein Alter noch
nicht, wie 20 Jahre später, zur Eile trieb, wo die Verhältnisse ihn darauf an¬
wiesen, die weitgreifenden russischen Pläne auf breiten und sicheren Grund¬
lagen vorzubereiten und in imposanter Ruhe den geeigneten Augenblick zur Aus¬
führung abzuwarten, durch eine zweifelhafte Aussicht auf raschen und glänzen¬
den Erfolg sich zu einer verwegenen Politik, die seinem Charakter durchaus nicht
entsprach, haben bestimmen lassen? Gewiß nicht. Indem die französische revo¬
lutionäre Geschichtschreibung es tadelt, daß die Regierung Ludwig Philipps
sich nicht auf derartige und andere noch viel ungeheuerlichere und bodenlosere
Combinationen eingelassen hat, verräth sie eine völlige Unkenntniß der dama¬
ligen Verhältnisse und Personen. Geht Louis Blanc doch so weit, dem Könige
Friedrich Wilhelm dem Dritten eine wichtige Rolle in seinem revolutionären Welt-
thcilungsplane zuzuweisen! Daß die französischen Staatsmänner an ein der¬
artiges Vorgehen nicht dachten, ist selbstverständlich und um so natürlicher, da
ihre Politik auf der Allianze mit England begründet war. Unter diesen Um¬
ständen war es aber eine Unklugheit, sich von der allgemeinen europäischen Auf¬
fassung der Frage zu trennen, und um einer höchst unsicheren Aussicht willen
das englische Bündniß aufs Spiel zu setzen. Auch Guizot kann nicht umhin,
die französische Politik in der ägyptischen Frage bedenklich unklar zu finden.
Doch ist es unzweifelhaft, daß er selbst im entscheidenden Augenblick auf dem¬
selben Standpunkte gestanden und die Illusionen der übrigen französischen
Politiker getheilt hat. Wenn Guizot den Hauptgrund zu der damaligen fran¬
zösischen Politik in den auf den Erinnerungen der bonapartischen Expedition
beruhenden populären Sympathien für Aegypten und Mehemed Ali sucht, so
liegt in dieser Entschuldigung selbst wieder ein anderer schwerer Tadel enthal¬
ten, ohne daß es ihm jedoch gelingt, den unbefangenem Leser zu überzeugen,
daß der Vorwurf einer absichtlich zweideutigen, dabei aber falsch berechnenden
Politik ein ungerechtfertigter wäre. Die populären Sympathien für Aegypten
sind eins das Cabinet gewiß von geringem Einflüsse und nur in sofern von
Bedeutung gewesen, als sie es demselben, in Rücksicht auf die Stimmung des
Landes, erschwerten, rechtzeitig den Rückzug aus seiner isolirten Stellung an¬
zutreten. DaS Cabinet hatte keine andere Absicht, als die. in Mehemed Ali
sich einen kräftigen Verbündeten zu erhalten, mit dessen Hülfe man den alten
Plan, das mittelländische Meer zu einem französischen Binnensee zu machen,
verwirklichen könne. Daß trotz aller Verhüllungen, die sich unter der seltsamen
Theorie versteckten, man müsse zwar die Integrität der Türkei erhalten, aber
dabei doch ihre Zerstückelung begünstigen, soweit die sich ablösenden Glieder
die Aussicht böten, sich zu selbständigen, von fremdem Einflüsse unabhängigen
Staaten zu gestalten, Palmerston die wahren 'Absichten Frankreichs sofort durch¬
schaute, ist natürlich unzweifelhaft; und die französische Politik hatte sich sehr
verrechnet, wenn sie glaubte, der englische Staatsmann werde aus Furcht vor
dem russischen Uebergewichte den für England nicht minder gefährlichen fran¬
zösischen Plänen freien Raum zur Entwicklung lassen.
Der zweideutigen Unklarheit des Planes war die völlige Unsicherheit der
Ausführung entsprechend. Die französische Vertretung im Oriente war schlecht
disciplinirt und, wie es scheint, auch ungenügend instruirt. Während der
französische Gesandtschaftssecretär de Varennes, der »ach General Guilleminots
Abberufung M Geschäftsträger bei der Pforte fungirte, den Sultan zur Be¬
willigung der Forderungen Mehemed Ali's drängte, trat der 1833 zum Ge¬
sandten in Constantiiuopel ernannte Admiral Roussin entschieden auf Seite der
Pforte und suchte Mehemed Ali in ziemlich schroffer Weise zur Nachgiebigkeit
zu bewegen. Beide Richtungen waren gewissermaßen in Bois-le-Comte ver¬
einigt, der als Beobachter der Ereignisse und Rathgeber. ohne eine officielle
Stellung zu bekleiden, an Mehemed Ali gesandt war. Die kategorischen Rath¬
schläge Noussins machten auf Mehemed keinen andern Eindruck, als ihn heftig
zu erbittern. Er antwortete dem Admiral gar nicht, da derselbe nur beim Sul¬
tan beglaubigt sei und also ihm keine Rathschläge zu ertheilen habe. Auch
könne er, erklärte er an Bois-le-Comie, ihn, ohne zu lügen, nicht mon «Kor AM
anreden. Auch die schiefe Ansicht, -die er sich von den europäischen Verhält¬
nissen gebildet hatte, bestärkte ihn in seinem Widerstände; er war überzeugt,
daß binnen Jahresfrist ein europäischer Krieg ausbrechen und ihm völlig freie
Hand lassen würde. So war er allM M'Mttchrden Vorschlägen un.zuggngl-ich.
Verschwenderisch bot er alle seine Mittel auf. u,n auf die Räthe des Sultans
twe-t zu -wirken. Und su, -der Tabak hatte er sehne Mittel so gut gewählt und
Mit- solch« G.cscMe angMMdech, daß ihm die Pforte im Pertrage von Kuta-
ichM, MM), idchen ^qschqr Abschluß uns übrigens noch nicht genügend ayf,
Märt erscheint) nicht nur Syrien, sondern'? auch das PaschÄlit von Adana
abtrat.
Indessen säumte im Vertrauen auf den offenkundiger Gegensatz der eng¬
lischen und französischen WM Rußland nicht, die Gunst der Lage zu seinem
Vortheile zu benutzen. Am 6. Mai, also nachdem die Händel bereits beige¬
legt waren, erschien Mit dem Pompe, wie ihn Rußland bei wichtigen Gelegen¬
heiten in Constantinopel zu entfalten liebt. Graf Orloff als außerordentlicher
Gesandter bei der hohen Pforte und Generalissimus der russischen Streitkräfte
im ottomanischen Reiche, gewissermaßen um die innige Freundschaft zwischen
Rußland und dem Sultan in möglichst auffälliger Weise zu constatiren und
Schutz für die Zukunft zu versprechen. Diese prunkende Schaustellung der
russischen Protection brachte die gescunmte Diplomatie in Constantinopel in
Aufregung. Alle Differenzen waren vergessen; man fordert von der Pforte
eine Erklärung, auf die man die Antwort erhält, die Ankunft i>es Grafen Or¬
loff sei nur ein ausdrückliches (exxlielw) Zeichen des guten Einvernehmens,
welches zwischen dem Sultan und dem Kaiser von Rußland herrsche. Das
gute Einvernehmen .führte zu dem vielberufenen Tractate von Unkiar Stelessi
(8. Juli), in welchem Rußland für die Zukunft der Pforte jeden militärischen
Schutz zu Wasser und zu Land versprach, den dieselbe fordern würde. In
einem geheicken Artikel verzichtete Nußland aus jede Hilfe, die es gemäß dem
Princip der Gegenseitigkeit von der Pforte verlangen konnte, und begnügte sich
mit dem Versprechen, daß die türkische Regierung die Dardanellen 'schließen,
d. h. keinem fremden Kriegsschiffe unter irgend welchem Vorwande den Ein¬
tritt in dieselben gestatten würde. Vor diesem glänzenden Erfolge Rußlands
traten die bisherigen Eifersüchteleien der Mächte sofort zurück. Admiral Nvus-
W mußte in seinem Eifer sogar von dem englischen Gesandten Lord Ponsvnbv.
einem glühenden Nussenfeinde. aber sehr gewiegten Diplomaten, gezügelt wer¬
den; denn Ponsonby wollte Englands Ansehen nicht durch einen übereilten
und erfolglosen Schritt compromittiren. Die Leidenschaft beruhigte sich auch
bald; man ließ den Vertrag vorläufig, als eine vollendete Thatsache bestehen,
mit dem Vorbehalte, im geeigneten Augenblicke sich den Consequenzen desselben
zu widersetzen. Besonders war Metternich bemüht, einer kühlern Auffassung
Eingang zu verschaffen. Er tadelte die von Seiten Englands und Frankreichs
in Se. Petersburg eingereichten Proteste, die von Seiten Nesselrode's mit der
Erklärung beantwortet waren, daß der Kaiser fest entschlossen sei, vorkommen¬
den Falls alle Verpflichtungen, die der Vertrag vom 8. Juli ihm auferlege,
zu erfüllen, und daß er jeden Protest dagegen als nicht geschehen betrachten
werde. Metternich. eben so ängstlich darauf bedacht, jeden Conflict mit dem
Kaiser Nikolaus zu vermeiden, wie vor den Plänen desselben besorgt, dabei
stets beflissen, seinen persönlichen Einfluß in das hellste Licht zu stellen, ver¬
sprach. Alles aufzubieten, um vom Kaiser eine Modification des Vertrages zu
erlangen. In der That ertheilte ihm in Münchengrätz der Kaiser die ziemlich
bedeutungslose mündliche Zusicherung, die Anwendung des Tractates vorkom¬
menden Falls nicht proclamiren zu wollen. Man war im Grunde von beiden
Seiten entschlossen, die Sache nicht auf's Aeußerste zu treiben. Der nächste
orientalische Conflict sollte zeigen, ob der Tractat nur ein äußerlich glänzender
oder auch ein praktisch bedeutender Erfolg für Rußland war.
Denn daß der Conflict zwischen Sultan und Pascha nur vertagt, nicht
aufgelöst war. mußte schon damals jedem Einsichtigen einleuchten. Von Mah¬
muds mit den Jahren gesteigerter Leidenschaft war nichts Anderes zu erwarten,
als daß er begierig jede Gelegenheit ergreifen würde, für Kutaieh Rache zu
nehmen, zumal da er wußte, daß einem erfolgreichen Unternehmen gegen den
Vicekönig die Billigung der meisten Cabinete nicht fehlen würde. Wichtiger
aber war zunächst, daß durch die ungeschickte französische Politik das freund¬
schaftliche Einvernehmen zwischen den beiden constitutionellen Staaten gestört
und daß diese Störung vor den Augen des mißtrauischen und zum Theil übel¬
wollenden Europas offen dargelegt war. Wir glauben nicht zu irren, wenn
wir annehmen, daß die Wahrnehmung dieser Spannung ganz besonders die nor¬
dischen Mächte zu der Demonstration von Münchcngrätz ermuntert hat,
Daß Frankreich dessenungeachtet in der zweiten Phase der orientalischen
Frage im Jahre 1839 sich wiederum ohne alle Aussichten auf Erfolg in die¬
selben Jrrgänge einer unklaren Politik begab, daß es ungewarnt durch die
Symptome des Jahres 1833 sich von Neuem den unbegreiflichsten Illusionen
über die realen Verhältnisse und die Stimmungen der Mächte hingab, wie
orr in einem zweiten Artikel durchführen wollen, ist einer der schwersten, und
verhängnißvollsten Fehler, welche die Regierung Ludwig Philipps sich hat zu
Schulden kommen lassen.
Die Entscheidung ist schneller gekommen, als sie erwartet wurde, der
liberale Theil des Ministeriums ist zurückgetreten: die Majorität der Herren von
Auerswald, von Patow, Graf Piickler, Graf Schwerin, von Bernuth hat sich
weniger einflußreich erwiesen, als die Minorität, in welcher freilich die Mini¬
sterien des Auswärtigen und des Krieges sind, bei denen der persönliche Wille
des Monarchen sich in Preußen am meisten geltend macht.
Mit Theilnahme wird das preußische Volk den letzten Entschluß der
genannten Herren begrüßen. Wir sind nicht so reich an Namen und Kräf¬
ten, daß es uns gleichgültig gewesen wäre, wenn sie in einem fruchtlosen
Kampf ohne Freude, Anerkennung und Erfolg sich aufgerieben hätten und der
liberalen Partei verloren wären. Die Wächter ihrer politischen Ehre mußten
sie selbst sein. In ihrem eigenen Gewissen hatten sie zu entscheiden, wie weit
sie ihre Privatübcrzeugungen der übernommenen Aufgabe opfern durften.
Aber auch ihnen kann nicht verborgen geblieben sein, daß ihre treuesten An¬
hänger schon längst die Stunde gekommen glaubten, wo den Ministern die
Pflicht gegen die großen politischen Grundsätze, welche sonst ihr öffentliches
Leben adelten, geboten hätte, entweder im vertrauten Rath der Krone mit
Entschlossenheit ihre Forderungen durchzusetzen, oder zu resigniren. Die Preußen
sind nicht mehr in der Lage, mit ihnen zu grollen, daß sie den nothwen¬
digen Entschluß nicht früher gefaßt. Man weiß, daß es kein persönlicher Ehr¬
geiz war, der sie so lange zögern ließ. Und das Volk ist jetzt in der Stimmung,
ihnen öffentlich dafür zu danken, daß sie ihrer Pflicht eingedenk waren, und
daß sie sich für unsere Zukunft möglich erhalten haben.
Denn die Aufgabe, welche sie sich gestellt hatten, war in der Weise,
wie sie dieselbe erfaßten, unlösbar. Der Versuch mußte ohne wesentlichen
Nutzen für den Staat, für sie selbst mit peinlichen und niederbeugenden Em¬
pfindungen enden. Was sie an ihre Aemter fesselte: Dank für das persönliche
Vertrauen, das ihr erlauchter Herr ihnen gewährte, Dank dafür, daß er dem
heillosen Mißregiment der kranken Zeit ein Ende gemacht, endlich loyale Hoff¬
nung, die Krone selbst und ihre alten Hcrschertraditionen mit der neuen Zeit
allmälig zu versöhnen, das war ein System gemüthvoller und idealer Stim¬
mungen, aber ihm fehlten zu sehr einige von den Bedingungen, welche eine kräf¬
tige reale Thätigkeit möglich gemacht hätten. Es ist wahr, einige der frühern
Minister hatten jahrelang als Führer der liberalen Partei gegen vergangene
Regierungen gekämpft, aber sie waren nicht als Parteiführer, gestützt und ge¬
halten durch die Majorität der Volksvertreter, in die Ministerien getreten, sie
waren plötzlich aus dem Privatleben in die Nähe ihres Königs gestellt worden.
Sie kamen deshalb in die Lage, persönliche Stimmungen der höchsten Staats¬
autorität zu hoch anzuschlagen, und nicht deutlich genug zu empfinden, wohin
unten im Volke, die Strömung ging. Und während sie sich vorzugsweise als
Diener eines geliebten Herrn fühlten, untergruben sie selbst die Wurzeln ihrer
Kraft und ihres Einflusses bei demselben, weil sie zu sehr versäumten, sich ihm
gegenüber als Führer einer großen Richtung und Partei im Staatsleben geltend zu
machen. Dazu kam ein andrer Uebelstand. Wer vermitteln will zwischen Krone und
Volk, der muß nicht nur seines Einflusses auf Beide sicher fein, und das waren sie
durchaus nicht, — er muß außerdem selbst ein so großes und festes Verständniß des
Nothwendigen haben, daß er die Gegensätze beider Parteien in sich aufnimmt und
durch höhere Gesichtspunkte überwindet. Die liberalen Minister aber, zu ihren
College» in stillem Gegensatz, in offenem Zwiespalt mit dem Einfluß der Hofcoterien
und einem Theil der nächsten Umgebung des Thrones, auf Beamte ihrer eige¬
nen Bureaux angewiesen, welche nur in kleiner Minderzahl tüchtig, in der
Mehrzahl beschränkt und widerwillig sogar gegen sie arbeiteten, waren selbst in
ihren eigenen Ministerien selten in der Lage, ihre Ueberzeugungen ganz durchzusetzen,
und waren doch an einer gründlichen Beseitigung dieser störenden Einwirkungen
durch denselben hohen Willen verhindert, der ihnen ihr Amt verliehen hatte,
Wie sehr diese kleinen Leiden stilles Widerstreben, Mangel an Zucht und
Disciplin hinderten, störten, ärgerten, das konnte, wer näher zusah, fast bei
jeder Maßregel erkennen, die sie durchzusetzen suchten. So lange die Minister
im Amte waren, mußten sie vor der Welt die Schuld tragen, jetzt, da 'sie sich
von ihrem Amte gelöst haben, dürfen wir ihnen sagen, wie wir sehr wohl
wußten, daß sie ein Martyrium in stiller Pflichttreue ertragen haben. And wir
haben nicht mehr Veranlassung zu bcrnthcilen. ob sie bei größerer Ent¬
schlossenheit und festem Zusammenhalten nicht wenigstens einen Theil dieser
Hemmnisse einer alten verdorbenen Maschinerie beseitigt hätten.
Wer durch Alter, Temperament und bürgerliche Stellung veranlaßt wurde,
eine sturmlose Entwickelung des preußischen Lerfassungslebens unter denselben
wohlwollenden Ministern für wünschenswerth zu halten, der hätte sich allerdings
gefreut, die Liberalen, durch Gesinnungsgenossen verstärkt, jetzt in Mem'ver¬
jüngten Ministerium in kräftigerer Wirksamkeit zu sehen. Aber auch wenn
Aussicht dagewesen wäre, dieser Wunsch konnte nicht ohne eine heimliche
Sorge sein. Denn ein neues liberales Ministerium wäre in der gegenwär¬
tigen Lage nur durch einen neuen Compromiß seiner Ueberzeugungen mit den
Stimmungen der Krone zur Regierung gekommen. Die Minister aber hätten
unter solchen Umständen nicht Macht genug gehabt, alles das zu gewähren,
was jetzt ein Ministerium verheißen muß. welches die aufwogende öffentliche Mei¬
nung beherrschen und den jugendlichen Drang im Volke, der sich heischend erhöht,
zur Besonnenheit zurückführen will. Und die öffentliche Meinung Mit ihrem Ver-
trauen gleicht nur zu sehr der Sibylle, welche ihre Bücher zum Kauf bietet.
Je länger das Zaudern, desto geringer wird ihre Gegenleistung, während die Forderung
dieselbe bleibt, ja sich steigert. Denn auch die Führer der Parteien stehen unter
dem Einfluß der Stunde, schärfer sind die Gegensätze gespannt, größer ist das
Mißtrauen geworden.- der stille Schmerz über Enttäuschungen, welche die nächste
Vergangenheit brachte, hat das Begehren gesteigert. So würde jetzt auch ein
liberales Ministerium eine schwierige Stellung zu der Krone und zu der Volks¬
vertretung gehabt haben. Wir hoffen allerdings in nicht ferner Zeit die Fünf
wieder im Rath der Krone zu sehen, aber das darf nur unter ganz veränder¬
ten Verhältnissen geschehen, die ihre Hirse verdienstlicher, ihre Freiheit größer
machen.
Jetzt beginnt die ernste Zeit der Erfahrungen sowohl für die Krone, als
für das preußische Volt. Der Gegensatz zwischen den Neigungen der höchsten
Staatsgewalt und allen liberalen Fractionen des Volkes ist offen ausgesprochen.
Es ist ein Kampf, der in Preußen nicht neu ist, aber zum ersten Mal in den
Versammlungen, der Presse und der Tribüne offen und loyal ausgekämpft wer¬
den wird. Kein Zweifel, welcher Seite der Sieg werden muß. Selbst dem
Fremden, der in die Zustände Preußens hineinblickt, wird ohne Mühe deutlich,
daß die liberalen Parteien für die nächste Zukunft nicht nur die beste Be¬
rechtigung haben, sondern daß jede Rücksicht auf die höchsten Interessen des
Staates die Herrscher Preußens bestimmen muß, sich mit ihren Forderungen zu
befreunden. Denn alle Abweichung von solchem Wege ist gerade jetzt so gefähr¬
lich geworden, daß es auch talentvollen Beamten eines zurückstauenden Mimi»
steriums unmöglich wird, im Innern und nach außen etwas wesentlich Nützliches
durchzusetzen.
Es ist vielleicht hart, daß das Geschick dem milden und guten Herrn, wel¬
cher jetzt die Krone trägt, in seinem höhern Lebensalter die bittersten Erfah¬
rungen für das Gemüth eines Herrschers auferlegt, die Verpflichtung, mit einer
neuen Macht verhandeln zu müssen, die in seiner Jugend noch gar nicht vorhanden
war, die er zu achten und zu scheuen noch nicht übergroße Veranlassung gehabt bat.
Wie lange ists her, daß ihn das Volk als seine Hoffnung, sein Glück, den
Bringer einer neuen Zeit begrüßte! Ungewöhnlich schnell ist diese Poesie aus
seinem ehrlichen Leben geschwunden. Dieselben Männer, welche ihm vor kur¬
zem so vertrauend zujauchzten, stimmen, schreiben, agitiren gegen einige sei¬
ner liebsten Pläne! — Diejenigen aber, welche jetzt den zweiten Sohn
Friedrich Wilhelm des Dritten umgeben, haben kein Recht deshalb das Volk
und die Gegenwart anzuklagen, nur die öde, kleine, geistvolle Vergangenheit
seines Staates. Denn der deutschen Natur ist eigen, daß sie mit freudiger Hin¬
gabe sich der Gewalt unterordnet, welche ihr eine große Idee, Wärme und Begeiste¬
rung zu geben Dermag, daß sie aber sehr leicht gereizt und verstimmt in mürri-
schen Kleinmuth und Pessimismus verfällt, wo ihr große Empfindungen versagt
sind. Wer als Führer die Deutschen lenken will, der wird ihnen die größten
Opfer zumuthen dürfen, wenn er politische Fragen so behandelt, daß dem Volk
Gelegenheit gegeben wird, eine herzliche Wärme dabei zu bethätigen, und er
wird dafür zu sorgen haben, daß es den Deutschen nicht an Fragen fehle, wo¬
bei diese Eigenschaft ihres Gemüthes sich geltend machen kann.
Das Volk der Preußen aber hat nicht weniger zu lernen. Noch ist seine
politische Festigkeit nicht durch eine Prüfung bewährt, es soll jetzt vor Europa
beweisen, daß es würdig ist, an der Ordnung feiner Staatsinteressen selbstthätig
Theil zu nehmen. Zu sehr war man in dem Staate Friedrich des Großen ge¬
wöhnt, von oben zu empfangen, ivas gerade Noth that, und von einzelnen gro¬
ßen Reformatoren sein Heil zu erwarten. Jetzt ist dem Volke die Aufgabe ge¬
stellt, sowohl für das eigene Wohl, als das beste Wohl seiner Fürsten zu sor¬
gen, dadurch, daß es fest, dauerhaft, gesetzlich den angebotenen Kampf auf¬
nimmt.
Es ist wahrscheinlich, daß auch ihm Versuchungen nicht erspart werden. Das
neue Ministerium, wie gemäßigt es auch verfahren wolle, vermag sich nur zu
halten, indem es die überall ausbrechenden liberalen Stimmungen zu dämpfen
sucht. Es wird wohl oder übel zu einigen der alten Beamtenmittel greifen
müssen. Vereinswesen und Presse einzuschränken. Möglich, daß Schwache da¬
durch eingeschüchtert, sicher, daß die selbständigen dadurch erbittert werden.
Wenn aber der Deutsche, welcher nicht Preuße ist, mit Mißtrauen auf
den Staat blickt, dem er die Führung der höchsten nationalen Interessen über¬
geben soll, so sei ihm gesagt, daß gerade jetzt die Preußen in der Arbeit be¬
griffen sind, sich das Vertrauen ihrer Bruderstämme zu verdienen. Es ist ein
frischer tüchtiger Kampf, in den sie getreten sind; er wird weder so lange dau¬
ern, noch so gefährlich werden, um die Lebenskraft Preußens zu erschüttern. Er
ist für die deutsche Frage nicht nur unvermeidlich, auch fruchtbringend, denn er
wird in dem größten deutschen Staat edles Metall Härten und an die Stelle
schwankender gemüthlicher Stimmungen ein festes achtungsvolles Verhältniß
zwischen den Herrschern und ihrem Volt durchsetzen.
Mit Ur. Ä-A beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, um März I8V2.Die Verlagshandlung.