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]]> Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Wilh. Grunow.)
18S1.
Die tragische Episode Venedigs in der verunglückten Erhebung Italiens
während der Jahre 1848 und 1849 wird in der Sammlung von Urkunden
durch Herrn Plärre de la Faye noch einmal vor unseren Augen vorübergeführt.
Soweit dabei der Zweck verfolgt wird, dem Leiter der Erhebung und des
Widerstandes, dein Advocaten Daniel Mamin, ein Ehrendenkmal zu setzen,
liegt das Werk den Italienern, insbesondere den Venetianern, näher als uns.
Doch können wir nach den vorliegenden Beweisen das Zeugniß nicht versagen,
daß Mamin sich mit uneigennütziger Hingebung dem Bcsrciungswerke gewid¬
met, daß er im Kampfe, auch nachdem derselbe aussichtslos geworden, durch
seinen Einfluß ans das Volk, welches ihn „Vater" nannte, Ausschreitungen
verhütet und eine Begeisterung erhalten, die unter den äußersten Leiden und
Opfern nicht ermattete und den Kampf gegen die liebermacht fortsetzte, bis
alle Mittel erschöpft waren. Mamin ging arm in das Exil, fristete durch Er-
theilung von Unterricht den Nest seiner Tage, welche ihm getrübt wurden durch
die Krankheit und den Tod einer über Alles geliebten Tochter, der er nach
wenigen Jahren nachfolgte.
Die Ereignisse, deren Schauplatz damals Venedig war, sind schon vielfach
erzählt worden, mit Benutzung der nämlichen Quellen, welche Herr de la Faye
in seiner Sammlung wieder benutzt hat. In Neuchlins Geschichte Italiens
werden diese Ereignisse nur flüchtig erwähnt, weil sie für das Ganze nur von
untergeordneter Bedeutung waren; auch konnte der Verfasser die neuen Do-
cumente, welche in unserer Sammlung aus Marius Papieren erstmals mit¬
getheilt worden, noch nicht benutzen. Wir gedenken das dargebotene Material
in der Weise zu verwerthen, daß wir daraus Momente zusammenstellen, welche
handelnde Persönlichkeiten und Lösungsversuche beleuchten, Pnnkte, welche schon
darum Werth haben, weil Venetie» (neben Rom) abermals den .Knoten der
italienischen Frage bildet, der sich wieder geschürzt, nachdem er vor eilf Jahren
zum letzten Mal zerhauen worden, dessen Entwirrung durch Vertrag ein Meister¬
stück der Diplomatie sein würde. Nur als Faden für die Einreihung der her¬
vorzuhebenden Punkte diene uns ein rascher Ueberblick des Auf- und Nieder¬
gangs der Lagunenstadt in den Jahren -1848 und 1849.
' Der Antrieb, welchen Pius der Neunte dem Nationalgefühl der Italiener
gegen den Druck Oestreichs gegeben hatte, veranlaßte zunächst eine gesetzliche
Bewegung. Auf dem Gelchrtencongreß in Venedig am 13. September 1847
(Reuchlin I, 327) gaben die Vertreter der Wissenschaft ihre Stimme ab, und
der erwachte öffentliche Geist drang sogar in die Scheinbilder von Bezirks-
und Landesvertretungen (Provinzial- und Centralcongregationen), die sich zu
Beschlüssen ernannten, vor denen ihren eingeschüchterten Mitgliedern früher
die Haut geschaudert haben winde. Die Mitglieder der Generalcongregatio-
M)i wurden von der Regierung aus einer dreifachen Candidatenliste ernannt,
welche vou den Gemeindercithen") unter dem Vorsitz kaiserlicher Bezirtscom-
missäre aufgestellt waren. Die Auswahl siel nicht gerade auf diejenigen, welche
die meisten Stimmen erhalten hatten, sondern auf die der Regierung am
meisten ergebenen Männer, deren Gesinnung durch ein Jahrgehalt von 2000 si.
warm gehalten wurde. Zu den Befugnissen dieser Mustervertretuugen gehörte,
daß sie „der Negierung von den Begehren und Wünschen des Landes Kennt¬
niß geben" sollten. Zweiunddreißig Jahre lang, von 1815 bis 1847, hatte!,
sie nicht gefunden, daß das Land etwas zu wünschen habe; erst im December
1847 wagten sie zu entdecken und zu äußern, das Land habe den Wunsch,
daß die 1815 von Oestreich für das Lombardisch-Venetianische Königreich ver¬
kündeten Grundgesetze gehalten werden möchten. Mailand ging voran, Vene¬
dig folgte nach (December 1847 und Januar 1848), Nach den gesetzlichen
Bestimmungen von 1815 sollten die Lombardei und Venetien unter dem Kaiser
von Oestreich ein besonders Königreich bilden; die Nationalität sollte geachtet,
eine wahre Landesvertretung eingeführt, die Freiheit der Presse gesetzlich ge¬
regelt werden. — Um die nämlicheZeit(l848)begab sichAehnliches in Dentschland;
die schlechtesten Wahlgesetze verhinderten nicht, daß die Kammern gegen den
Druck, welchen Oestreich durch den Bundestag übte, sich erhoben. Hier wie
dort traten die Symptome einer tiefen Unzufriedenheit schon vor der Pariser
Februarrevolution an das Licht. In dem östreichischen Italien denionstrirtc,
das Volk in den Theatern, enthielt sich des Rauchers und des Lottospiels,
um die Einkünfte der Regierung zu schmälern, und vermied die Unterdrücker
im gesellschaftlichen" Verkehre. Die Negierung wurde durch die Polizei vsu
den Vorgängen wie üblich unterrichtet. „Einige Feinde der gegenwärtigen
Ordnung der Dinge baden unter dem Vorwande einer angeblichen Gesetzlich¬
feit die Gemüther aufgeregt. Die Aufwiegler geben vor, daß in den Gesehen
und dem Verwaltuugssysteme Aenderungen nöthig seien und haben an ver¬
schiedene Behörden Eingaben gerichtet, welche nicht nur unverhüllte Anschul¬
digungen willkürlicher und fehlerhafter Verwaltung gegen unsere Regierung
enthalten, sondern auch so maßlose Aenderungen verlangen, daß die Regierung
ihre Souveränetät über diese Provinzen aufgeben müßte, wenn sie dieselben
gewähren wollte u. s. w. — (Bericht des^ Polizeidirectors Call in Venedig,
!8. Januar 1848)". Es wurden nun die, der scharfsichtigen Diagnose ent¬
sprechenden Heilmittel angewendet: Einkerkerungen. Jnternirungen, Prügel,
Standrecht. Um die bewährte Praxis auch in den Nachbarländern ausüben zu
dürfen, waren am 24. Decetnbcr die Verträge mit den Herzogen von Modena
und Parma abgeschlossen worden, und die beiden Fürsten säumten nicht, den nö¬
thigen Beistand zu verlangen. Schlag auf Schlag folgten nun die Ereignisse in
Paris und Wien. Der Schwulst in dem Manifeste des Herrn von Lamar¬
tine vom 4. März war ein Frevel an Italien. „Wir sagen es laut, wenn die
Stunde der Wiederherstellung einer Nationalität uns geschlagen zu haben
schiene in den Beschlüssen der Vorsehung .... wenn die unabhängigen
Staaten Italiens besetzt würden, weren man ihren inneren Umgestaltungen
Schranken ziehen oder Hindernisse in den Weg legen sollte, wenn man ihnen
mit gewaffneter Hand das Recht streitig machen wollte, sich mit einander zu
verbünden, um ein italienisches Vaterland zu begründen, so würde die fran¬
zösische Republik sich für berechtigt halten, ihrerseits zu den Waffen zu greisen,
um diese legitimen Bewegungen des Wachsthums und der Nationalität zu
beschützen u. s. w." — Die Wirkung zeigte sich alsbald. In Venedig ver¬
sprach der Gouverneur die Berufung der Landesvertretung, Preßfreiheit, und
genehmigte die Errichtung einer Nationalgarde. Das Volk befreite Mamin
aus dem Gefängnisse, er übernahm das Commando der Nationalgarde und —
proclamirte die Republik. Wir erfahren jetzt, daß der sardinische Generalcon-
sul Facccmoni zuerst zu diesem Schritte gerathen, welcher übrigens nicht als
eine Nachahmung von Paris oder als ein Sie.g der Mnzzinisten, sondern als
eine Restauration der alten Staatsform, als eine Handlung des Particularis-
mus aufzufassen ist, indem die Erinnerung an eine große Vergangenheit in
dem Rufe San Marco die Venetianer mehr als der Einheitsgedanke begeisterte.
Die provisorische Regierung (Mamin Präsident) notificirte ihren Eintritt dem
Papst und den Regierungen von Sardinien, Neapel und Toscana. Gleich¬
zeitig marschirte Carl Albert in die Lombardei und erließ die Proclamation
(23. März) mit der berühmt gewordenen Stelle, er vertraue auf Gott, der
Italien einen Pius den Neunten gegeben und es durch einen wunderbaren
Aufschwung in den Stand gesetzt habe, sich selbst zu genügen (in gr-rav 61
tai's äa se). Der päpstliche General Durando zag zu Hilfe und brachte in
seinem Tagesbefehl vom 24. März aus Bologna den Segen Pius des Neun¬
ten, des „heiligen Regenerators des Vaterlandes." Die Consuln von Frank¬
reich und Amerika erkannten die Republik nu.
Die Flitterwochen der jungen Freiheit gingen bald zu Ende. Die päpst¬
lichen und neapolitanischen Bundesgenossen erwiesen sich falsch; ihre Truppen
sollten den Po nicht überschreiten und wurden bald zurückgerufen. General
Pepe gehorchte nicht, ging mit 3000 Mann nach Venedig und übernahm dort
den Oberbefehl. Leopardi. der neapolitanische Gesandte bei Carl Albert,
schrieb an Mamin: „O ewige Infamie der Bourbonen! der göttliche Zorn
kann nicht säumen sie zu vertilgen!" Freilich hatte Ferdinand von Neapel in
seiner Proklamation vom 7. April erklärt, er halte sich verpflichtet, mit allen
Streit- und Geldkräfte» seines Landes an dem Kampfe für die Unabhängig¬
keit, den Ruhm und die Freiheit Italiens sich zu betheiligen! — Die Oestreicher
rückten in das venetianische Gebiet und bedrohten die Stadt. Alles Flehen
um Hilfe fruchtete nicht. Die Stadt legte sich die schwersten Opfer auf, um
Mittel zur Vertheidigung zu beschaffen; Carl Albert war ihre einzige Hoffnung;
die Fusion das einzige Mittel, seinen Beistand zu erlangen. Die venetiamsche
Volksvertretung stimmte am 4- Juli mit 127 gegen 6 für die Vereinigung
mit Piemont und ihr Beschluß wurde von der Regierung und den Kammern
in Turin am 27. Juli angenommen. Mittlerweile hatte'sich das Kriegsglück
gegen Carl Albert erklärt. Der Niederlage der Piemontesen folgte der Waffen¬
stillstand von Mailand (9. August), worin dieselben versprachen, Venedig zu
räumen. Ihre kurze Verwaltung in Venedig machte der Dictatur Mnnins
Platz. Erneuerte Hilferufe in Paris und London halfen so wenig wie die
früheren. Die Cabinete verstanden sich nur zu einer Vermittelung; da sie
aber nicht Willens waren, ihren Vorschlägen Nachdruck zu geben, so kümmerten
sich die Oestreicher nicht darum; die.Konferenz in Brüssel zur Regelung der
italienischen Angelegenheiten kam nicht zu Stande. Sieben Monate waren
mit den unfruchtbaren Verhandlungen hingeschleppt, da versuchte Carl Albert
(März 1849) von innen das Kriegsglück. Bei Novara geschlagen, legte er
die Krone nieder. Venedig, erschöpft durch außerordentliche Steuern, Papier¬
geld, welches die Stadt garantirte. aber Mehl gegen Entwerthung schützen
konnte, — Gold und Silber hatten die Bewohner an den Staat abgeliefert
— war doch nicht gebeugt, es beschloß feierlich: Widerstand um jeden Preis
(2. April 1849). Venedig wehrte sich bis zum 24. August. Beschießung.
Hungersnoth und Cholera wütheten unter den Vertheidigern; vergebens waren
alle Versuche, von England und Frankreich wenigstens eine Verwendung für
erträgliche Bedingungen zu erlangen; die Cnbinete wollten nicht Krieg führen
für Besiegte, die sich selbst nicht helfen konnten; sie verwiesen die Venetianer
an Oestreich, und so mußten sie sich ergeben. Die compromittirten Personen
erhielten freien Abzug, und noch im Exil schrieb Mamin (13 November 1853)
mi den Redacteur des Constitntionncl über das Werk des Herrn ve Ier I'orZe:
Geschichte der Republik Venedig unter Munin — „Ich hatte auf die Unter¬
stützung Frankreichs gerechnet. Die Ereignisse hatten meine Hoffnung Lügen
gestraft; aber dennoch, trotz der langen Geschichte unserer Leide», trotz der
Ereignisse von 1848 und 1849, trotz der spätern Vorgänge, habe ich auf
diese Illusion noch nicht verzichtet, — ich kann nicht darauf verzichten!" —
Was Venedig von der französischen Schwesterrepublik außer schönen Wor¬
ten zu erwarten hatte, das zeigte sich sofort >im April 1848, als die venetia-
nische Regierung um Überlassung von 20,000 Gewehren gegen baare Zahlung
(das Stück zu 3?V- Franken) bat. Mit großer Bereitwilligkeit wurden die
Gewehre zur Verfügung gestellt; nur müsse zuvor das Geld und zwar in
klingender Münze, nach Marseille geschafft werden. Die venetianischen Agenten
baten, ein französisches Schiff nach Venedig zu senden, um das Geld zu holen.
In Paris wurde ihnen versichert, nach Toulon sei die Weisung gegangen,
einen Dampfer (den Brasier) zu diesem Zwecke bereit zu halten. Die Agenten
waren nicht wenig überrascht, als sie aus Toulon erfuhren, eine solche Weisung
sei nicht eingetroffen. Eine kostbare Zeit ging verloren; endlich erklärte Herr
v. Lamartine, es sei aus politischen Gründen unzulässig, die Gewehre aus
Fraukreich direct nach Venedig zu schicken. Die Ueberlassung eines Dampf¬
schiffes war von vornherein abgelehnt worden. Und doch hatte der französische
Consul Limperaui dem Herrn von Lamartine die besten Gründe angeführt,
welche für die Unterstützung Venedigs dnrch Frankreich sprachen, damit es nicht
genöthigt werde, sich Carl Albert in die Arme zu werfen. „Man kennt den
Plan des Königs Carl Albert. Die Lombardei, Venetien, Parma und Mo-
dena würden sein kleines Königreich wundervoll abrunden und fast zu einer
Macht ersten Ranges erheben." In Venedig dagegen wünsche man allgemein,
daß die italienischen Staaten zu einer Conföderation vereinigt würden. Es
sei französisches Interesse, diese Richtung und die demokratischen Staats¬
formen zu unterstützen; auch verlange man keine großen Anstrengungen von
Frankreich; »ur einige Kriegsschiffe, wenn auch neutral, in der Adria, und
eine klare Eröffnung der eigentlichen Absichten Frankreichs in Bezug auf
Italien. Was war die Autwort des Herrn v. Lamartine auf alle Mittheil¬
ungen und Depeschen der provisorischen Regierung und des Konsuls in Ve¬
nedig? Ein Billet an Herrn Tommaseo, worin Herr v. Lamartine versicherte;
kein Herz in Europa sei mehr als das seinige von Liebe für Italien im All¬
gemeinen, von Bewunderung und Enthusiasmus für Venedig insbesondere
erfüllt! Sehr bald erfuhren die Regierenden in Venedig, daß die Cabinete
nicht daran dachten, dieses Gebiet Oestreich zu nehmen, und daß ihre Ideen
ungefähr auf das hinausliefen, was 1859 in Villafranca und Zürich verab¬
redet worden ist. In Lastide erkannten die Agenten Marius einen auf¬
richtigen Republikaner (im übrigen fanden sie das republikanische Frankreich
„monarchischer als je"), welcher deshalb von einem Königreich Oberitalien
nichts wissen wollte; allein auch er wollte und konnte die Anerkennung der
Republik Venedig nicht durchsetzen, auch kein Bündniß mit Carl Albert schlie¬
ßen, ja er ließ zuerst das Wort „Vermittlung" fallen, welches spater die Opfer
und den Todeskampf Venedigs nutzlos erschwert hat. Die Berichte bestätigen,
daß die französischen Minister im Sommer 1848 in dem Glauben an die Er¬
hebung Deutschlands zu einer Nation zu hoher Achtung vor seiner Macht sich
bekannten, wie denn Lamartine auf der Tribune erklärte: Frankreich müsse um
jeden Preis die Freundschaft und die Allianz der Deutschen suchen. Von Arago
wird berichtet, er habe eine entsetzliche Angst vor Oestreich und treibe keine
andere Politik wie Guizot. Krieg wollten sie alle nicht, sie fühlten sich dnrch
die Mahnungen der Italiener an die Erfüllung ihrer Zusagen gelangweilt,
und Cavaigncic speiste Einen mit den Worten ab: „Es gibt Unmöglichkeiten
in der Welt, und eine Unmöglichkeit ist es, daß die Oestreicher in Italien
bleiben." Ohne die französische Nachhilfe wäre das Wort nicht einmal bis
zum Mincio wahr geworden. Rothschild — der Pariser — hatte einen an¬
dern Gedanken. Er sagte dem venetianischen Abgesandten Tommaseo: Frank¬
reich werde bestimmt keinen Krieg führen; aber Oestreich werde sich schließlich
(su Zormörv kaat^se) mit Geld abfinden lassen und die Venetianer könnten
sich mit Oestreich besser verständigen als mit jedem Ander»; man könne aus
Venedig eine freie Stadt machen und aus dem übrigen Lande ein Königreich
wie Ungarn mit einem östreichischen Prinzen an der Spitze. — Der Wiener
Rothschild ließ durch seinen Geschäftsmann bei der Saline in Venedig, Astruc,
dem Präsidenten Mamin officiös sagen: wenn er mit dem östreichischen Cabi-
net direct in Unterhandlung treten und ihm (Rothschild) nach Wien schreiben
wolle, so würde man für diesen Schritt erkenntlich sein und sich entgegen¬
kommend zeigen. — Mamin verstand den Wink, aber er verlangte, daß Oest¬
reich zuerst seine Truppen zurückziehe und dann seine Geldforderungen stelle.
So ließ sich die Sache nicht weiter verfolgen, aber wir halten es nicht für
unmöglich, daß eine Idee, welcher Rothschild 1848 in Wien Gehör verschaffte,
im Jahr 1861 mehr Anklayg finden könne. Die Franzosen fuhren fort, mit
dem unglücklichen Venedig zu spielen. Ende August sagte Cavaignac zu dem
Abgesandten Mengaldo: „Frankreich hat Oestreich seine Vermittlung zu einem
Abkommen auf der Grundlage der Unabhängigkeit Italiens angeboten, wei¬
gert sich Oestreich, so besetzen wir Venedig und es gibt Krieg; ja gewiß, es
gibt Krieg . . . ich ermächtige Sie, dies der Regierung in Venedig zu schrei¬
ben, meinen Aeußerungen d>e größte Verbreitung zu geben; setzen Sie Ihren
Namen darunter, Sie werden nicht Lügen gestraft werden." — Mcngaldo
that, wie ihm geheißen war, Cavaignac lud dessen Collegen, Tommaseo, amt¬
lich zu -sich ein, ließ ihn im Vorzimmer warten, und, ohne ihn vorzulassen,
lieh er ihm durch die Fürstin Belgiojoso sagen: „der General sei wü¬
thend über die Veröffentlichung seiner Aeußerungen, die nicht einmal genau
wiedergegeben seien; er wolle nichts mehr von Venedig hören, keine Ent¬
schuldigungen annehmen u. s, w." — Eben so fruchtlos blieb der Ruf der
Piemontesen nach französischer Hilfe; ein Armeecorps unter General Lamori-
ciöre stand bereit, in Savoyen einzurücken, aber es kam nicht dazu, und der Ge¬
neral fand keine Gelegenheit, in Italien 1848 eine bessere Rolle zu spielen
als 1860. Im October wehte der Wind wieder günstiger in Paris. Oest¬
reich hatte die Vermittlung von Frankreich und England angenommen, aber
ohne die Grundlage der Unabhängigkeit Italiens, nur als das beste Mittel,
um die Intervention so lange sern zu halten, bis nichts mehr zu interveniren
war. Die Regierung in Venedig hatte Pasini zu ihrem Agenten bei den Kon¬
ferenzen (in Brüssel) ernannt, und dieser wartete in Paris auf die Eröffnung,
welche niemals stattfand. Inzwischen bekam er tapfere Worte zu hören. Die
Ereignisse in Wien, die Ermordung des Kriegsministers Lcitour hatten die
Stimmung gehoben, und Bastide betheuerte, an dem Tage, an welchem man
Venetien den Oestreichern überlassen wolle, werde er seine Entlassung nehmen.
Cavaignac äußerte, er würde sich durch die Zustimmung zu einem Abkommen,
welches einen einzigen östreichischen Soldaten jenseits der Alpen ließe, entehrt
fühlen. Frankreich wolle einen unabhängigen Lombardo-Venetianischen Staat.
Es würde allerdings, um ein Arrangement zu Stande zu bringen, einen öst-
streichischen Prinzen als Oberhaupt zulassen, aber nur unter der ausdrücklichen
Bedingung, daß die Finanzen, die Armee und die Diplomatie ausschließlich
dem italienischen Staate angehörten n. s. w. Anders benahm sich Louis
Napoleon, mit welchem, bald nach der Ernennung zum Präsidenten (am 25.
December 1848), Tommaseo eine Unterredung hatte. Den Auseinandersetz¬
ungen des Letztern über die Nothwendigkeit, Italien von den Oestreichern zu
befreien, einen Lombardo-Venetianischen Staat herzustellen u.. s. w. setzte der
neue Präsident einige Fragen entgegen: welchen Eindruck das Erscheinen
französischer Kriegsschiffe in der Adria gemacht habe, ob der Feind schon bis
. zu den Lagunen vorgedrungen sei, ob Deutschland wirtlich für Oestreich Par¬
tei ergreife, was er nicht geglaubt habe. Der gute Tommaseo schloß aus dem
schweigsamen Versälle» Louis Napoleons, daß derselbe über die ^'age wenig
unterrichtet, aber sich zu unterrichten bemüht sei. Tommaseo glaubte, den
Präsidenten belehre» zu dürfen, was ein Bonaparte an der Spitze Frankreichs zu
thun habe; darauf klagte dieser, erwerbe durch die Detail-Schwierigkeiten gehemmt
und die schlimmsten unter den Details seien die Detail-Menschen. In dieser Unter¬
redung erwähnte Louis Napoleon, Italien werde Millionen bezahlen müssen, um
die Oestreicher zur Räumung zu bestimmen. — Bald darauf schickte die provi¬
sorische Negierung von Venedig an den „Bürger Präsidenten der französischen
Republik" ein Glückwünschungsschreiben, worin an die hochherzigen Zusiche-
rungen Frankreichs für die vollständige Befreiung Italiens erinnert, der Prä¬
sident, ein „alter Soldat der italienischen Freiheit" genannt wurde, „welcher
von der Vorsehung berufen sei. die Nationalität des großen Vaterlandes der
napoleoniden herzustellen." Der Bürger-Präsident unterließ es nicht, durch
den venetianischen Bevollmächtigten Pasini für dieses Schreiben seinen Dank
sagen zu lassen. Er wünsche sehr, fügte er hinzu, die Macht zu haben, Vene¬
dig nützlich zu sein, aber leider sei Frankreich selbst durch innern Zwiespalt
bedrängt und so müsse man denn das Resultat der Verhandlungen abwarten.
Hinter diesen Worten lagen Pläne verborgen, welche ein Jahrzehnt brauchten,
um zu reifen; hinter den Verheißungen des Herrn v. Lamartine lag gar
nichts.
Hatten die Franzosen die Italiener mit leeren Versprechungen hingehalten
und dann im Stiche gelassen, so kann man nicht dasselbe von den Euglün»
dem sagen. Der britische Generalconsul in Venedig, Clinton Dciwkins. neigte
zu Oestreich und gegen die italienische Bewegung; seine Berichte, durch die
Blaubücher bekannt, lassen darüber keinen Zweifel. In der ersten Unterredung,
welche der venetianische Abgesandte Zanardini am 21. April 1848 mit Lord
Palmerston in London hatte, und wobei es sich um den beabsichtigten An¬
kauf von Waffen und eines Dampfers handelte, erklärte der Minister: die
britische Regierung sei mit Oestreich alliirt und es sei ihr unmöglich, den
Italienern zu helfen: „Alles was wir in der östreichisch-italienischen Frage
thun können, ist. daß wir Zuschauer bleiben". Die Italiener befürchteten
eher eine feindselige Haltung Englands, und Mamin äußerte diese Besorgnis)
unter anderm gegen Richard Cobden, welcher in seiner Antwort vom 10. Mai
1848 auseinandersetzte, daß England an den Verträgen von 1815 theilge¬
nommen und daß seine Staatsmänner sich verpflichtet glaubten, gegen jede
Verletzung derselben zu protestiren. Ueber diese Grenze hinaus werde jedoch
die englische NcgierMg gewiß nicht gehen, sie werde die Interessen Oestreichs
weder mit den Waffen noch durch ihre Diplomatie unterstützen. Oeffentliche
Blätter berichten, daß Richard Cobden bei den bevorstehenden Unterhand¬
lungen über den Loskauf Venetiens eine Rolle zu spielen berufen und bereit
sei; gegenwärtig weilt er in Algerien. Der englische Gesandte in Turin
Abercromby, wünschte ein Abkommen mit Oestreich hauptsächlich um einem
Einmärsche der Franzose» vorzubeugen; allein er erklärte (in einem Schreiben
an Lord Palmerston vom 19. Mai), daß er auch in Oestreichs Interesse keinen
andern Weg einer befriedigenden Lösung sehe als in der Räumung Italiens.
„Wenn Oestreich sich entschließen könnte ehrlich zu unterhandeln (rucks up
der zumal to negoeiaw IronWtl^) über die Räumung dieser Provinzen und
die Anerkennung des neuen oberitalienischen konstitutionellen Königreichs gegen
ein vortheilhaftes pecuniäres Arrangement, so würde es gewiß, sowohl in die¬
sem Lande wie in den damit verbundenen Provinzen die beste Stimmung fin¬
den." Nach der Niederlage der Piemontesen und dem Waffenstillstande vom
9. August, wonach dieselben Venedig räumen mußten, wendete sich Mamin
(18. August) an Lord Palmerston mit der Bitte, dafür zu sorgen, daß während
der Vermittlungsunterhandlnngen Oestreich die Feindseligkeiten gegen Venedig
einstellen müsse, und glaubte dieser Bitte durch den Wink Nachdruck geben zu
können, daß Venedig nach seinen wirthschaftlichen Verhältnissen sich zur Han¬
delsfreiheit neigen müsse, welcher Oestreich im Interesse seiner deutschen Fab¬
riken stets widerstrebt habe. Später (9. October) richtete der Bevollmächtigte
Pasini an Lord Palmerston eine Denkschrift, dahin gehend, daß England bei
seiner Vermittlung die Unabhängigkeit Venetiens als Grundlage festhalte.
Die Antwort des Ministers wiegt die Venetianer nicht in trügerische Hoffnungen.
Präsident Mamin wird kurz bedeutet (16. October), daß unter den Vorschlägen
Englands an Oestreich wegen der Pacisication Italiens keiner sich befinde,
welcher die Trennung Venedigs von der kaiserlichen Krone enthalte, und daß
daher die Venetianer wohl daran thun würden, mit der östreichischen Negie¬
rung in Unterhandlung zu treten. — Das Nämliche schreibt Lord Palmerston
an Pasini (18. October) und bemerkt außerdem noch, daß die Unabhängig¬
keit nur dann als Basis der Unterhandlungen hätte festgehalten werden
können, wenn die Italiener gesiegt hätten; daß dies aber nach ihrer Nieder¬
lage, und nachdem die Oestreicher das Land besetzt hätten, nicht mehr an¬
gehe. Während Lord Palmerston die Italiener durchaus nicht in Zweifel
ließ, daß sie die gewünschte Unterstützung von England nicht erhalten würden,
richtete er nach Wien die ernste Mahnung, doch ja zu überlegen, ob es nicht
für Oestreich am besten wäre, Italien zu räumen. Seine Depesche vom
9- October 1848 an Lord Ponsonby für Herrn v. Wessenberg in Wien ist
zwar durch das Blaubuch bekannt, allein sie hat durch die Ereignisse von
'859 und 1860 eine Höhere Bedeutung gewonnen, und wir dürfen ihr da¬
her wol einige Stellen entnehmen. „Es wäre verständiger von Seiten der
östreichischen Regierung und vortheilhafter für die wirkliche eigene Kraft dieses
Reiches, jene Bevölkerungen von einer Herrschaft zu befreien, welche sie ewig
als ein Joch betrachten werden, und die günstige Gelegenheit zu benutzen,
welche sich darbietet, um sie die Trennung" von der kaiserlichen Krone mittelst
eines gerechten und billigen pecuniären Arrangements bezahlen zu lassen.
Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, daß wenn die östreichische
Herrschaft heute wieder in diesem Lande hergestellt wird, die Unzufriedenheit
nicht die erste Gelegenheit ergreifen werde, um aufs Neue in Aufständen aus-
zubrechen. Eine große Entfaltung von Streitkräften mit großem Geldauf-
wande wird abermals nöthig werden, um diese Empörungen zu dämpfen;
fremde Hilfe wird abermals angerufen werden, um zu verhindern, daß diese
Provinzen unter das Joch zurückfallen, und nach dem neuen Beweise der Un¬
möglichkeit, diese Nation mit der östreichischen Herrschaft zu versöhnen, darf
man .kaum zweifeln, daß die Hilfe werde geleistet werden. Das Resultat
würde ein Krieg zwischen Oestreich und einem Gegner, furchtbarer als die lom¬
bardischen Provinzen sein, und selbst wenn der Krieg durch die Theilnahme
anderer Mächte, welche in denselben verwickelt werden, ein europäischer würde,
so darf man doch kaum annehmen, daß das schließliche Ergebniß Oestreich im
Besitze irgend eines Gebietes jenseits der Alpen lassen würde. Aber noch
mehr, und dies sollte Oestreich reiflich erwägen: so geneigt auch die mit Oest¬
reich verbündeten und befreundeten Mächte sein möchten, ihm beizustehn, wenn
es in seiner eignen rechtmäßigen Existenz in Deutschland bedroht würde, so
besteht doch gegen seine Prätensionen, sein Joch den Italienern aufzulegen
ein so allgemeines Gefühl ihrer Ungerechtigkeit, daß Oestreich deswegen im
Falle eines solchen Krieges nur sehr wenig Hilfe finden dürfte/' — Was
Lord Palmerston hier vorausgesagt, ist zum Theil in Erfüllung gegangen;
sein Rath, die italienischen Provinzen gegen eine Entschädigung in Geld ab¬
zutreten ist, wie schon öfter angeführt worden, damals von verschiedenen
Seiten als das für Oestreich zweckmäßigste Auskunftsmittel angesehen worden,
und der Gedanke ist keineswegs so überraschend und so verwerflich wie
er neuerdings in östreichischen Blättern dargestellt wurde. '— Noch deut¬
licher sprach sich Lord Palmerston in einer Depesche vom 11. November
gegen das Wiener Cabinet aus, indem er gradezu die Behauptung
aufstellte, daß der Anlaß zu einer französischen Intervention in Italien
nicht lange ausbleiben, daß in diesem Kampfe Oestreich den Kürzeren
ziehen werde, daß Oestreich an die Zukunft denken und den günstigen Augen¬
blick, wo es die Lombardei besetzt halte, benutzen möge, um ein Abkommen
zu treffen, welches in diesem Augenblick als das Product seiner freien Ent¬
schließung erscheinen würde. Von den Schritten des britischen Ministers in
Wien wußten die Venetianer nichts und von der ihnen ertheilten trockenen
Verweisung auf ein Abkommen mit Oestreich waren sie wenig erbaut. Doch
sah der Bevollmächtigte in Paris, Pasini, ein, daß England nicht wie Frank¬
reich durch Verheißungen gebunden sei, und Lord Ellis (der englische Gesandte
in Paris) belehrte ihn, daß Lord Palmerston ihm nicht anders schreiben könne,
als er gethan habe: „es sei Regel in der englischen Diplomatie, sich zu weit
weniger anheischig zu machen als man wirklich zu thun gesonnen sei." Diese
Regel scheint noch immer zu gelten, und namentlich im October 1860 zu Cod-
'lenz in Anwendung gekommen zu sein. Auch dort war von dem Vorschlage
an Oestreich. Venetien gegen Entschädigung aufzugeben, die Rede; daß aber
Preußen denselben in Wien nicht direct befürworten könne, wurde englischer
Seits eingesehen. Als gegen Ende Mai 1849 Pasini nach London kam,
wurden ihm über die Politik, welche die öffentliche Meinung und das Parla¬
ment der Negierung vorschrieben, vollends die Augen geöffnet. Lord Palmerston
behandelte ihn sehr höflich, verschaffte ihm eine Unterredung mit dem Grafen
Colloredo, gab ihm aber durchaus keine andere Hoffnung, als durch directe
Unterhandlung mit Oestreich. Die englische Politik, berichtete Pasini, will
keinen Krieg, sie hofft, ihn zu vermeiden oder auf unbestimmte Zeit zu ver¬
tagen, indem sie sich jeder ernstlichen Dazwischenkunft in die Angelegenheiten
andrer Lander enthält; und in der That, wenn man in England ist und mit
den Führern der liberalen Partei spricht, muß man bekennen, daß Lord Pal-
merston nicht mehr thun kann, als er thut.
Wie sich die Oestreicher benahmen, ist bekannt. So lange das Waffen¬
glück ihnen den Rücken wendete, gaben sie den empörten Provinzen die schönsten
Versprechungen, machten sich dadurch die Cabincte geneigt, und wiesen sogar
Gebietsabtretungen als Grundlagen eines Abkommens nicht von der Hand.
Nachdem sie im Felde gesiegt hatten, wollten sie weder von den Verheißungen
noch von der Vermittlung mehr hören. Sie konnten die diplomatische Ver¬
wendung der Cabincte von Paris und London um so rücksichtsloser ablehnen,
da sie aus den geschickt in die Länge gezogenen Unterhandlungen die Ueber¬
zeugung gewonnen hatten, daß keine von beiden Regierungen ihren Worten
Nachdruck geben werde. Aus Mcmins Papieren wählen wir noch einzelne
Mittheilungen, welche theils durch die auftretenden Personen, theils durch die
Streiflichter, welche sie auf die Zustünde und die Politik Oestreichs werfen,
einen gewissen Werth haben.
In einigen Briefen aus Verona aus der zweiten Hälfte März 1848 (welche
von den Italienern aufgefangen wurden) schildert der junge Erzherzog Neyncr,
Sohn des Vicekönigs, seinem Bruder Ernst die dort herrschende Aufregung
mit jugendlichem Uebermuth und unverholenem Verdruss« über die Concessionen,
welche in Wien und folgeweise in Italien gegeben werden sollten. Man
Alnube in einem Narrenhause zu sein; die Haare stünden zu Berge, wenn
wan an alles denke, was die Leute in Ungarn, Böhmen, Wien, Galizien ver¬
engen. „Wenn nicht ein Wunder geschieht, können wir Alle unser Bündel
schnüren." Besonders unangenehm ist dem jungen Erzherzog die Erlaubniß
M' Errichtung einer Bürgerwehr in den italienischen Städten, und den Mai¬
ländern wünschte er, daß bei dem ersten Anlasse ihrer fünfhundert aus dem
Platze bleiben möchten. Wären in Wien die Truppen besser geführt worden,
so hätten die Wiener andere Concessionen erhalten. In dem zweiten Briefe
spricht der Erzherzog von dem ersten Aufstande in Mailand, welcher durch
Radetzky niedergeschlagen wurde und fühlt ein natürliches Vergnügen, daß die
Mailänder jetzt die Musik der Zwölfpfünder kennen gelernt, welche auf dem
Broletto süperbe Löcher gemacht haben. Von der andern Seite wecken ihm
die Nachrichten aus Wien trübe Gedanken. Für das beste würde er halten,
wenn der Hof abreisen und die Stadt den Truppen überlassen wollte; aber
er besorgt, man werde vorziehen, immer neue Concessionen zu machen, und
so in den Abgrund stürzen, der sie alle (die Erzherzoge) verschlingen werde.
Man habe nun eine Konstitution, nach welcher ein Erzherzog nicht mehr in
Civildienst treten könne und das Militär verliere seinen Rang. Der Vater
werde sich nächstens zurückziehen, weil er bei einer Konstitution uicht bleiben
wolle, „aber ich, was soll ich thun? Nichts — das mag ich nicht, und wenn
ich im Civil nicht dienen kann, so trete ich in die Armee und lasse mich
bei der ersten Gelegenheit todtschieße»; dann brauche ich an das Weitere
nicht mehr zu denken. . . Es fehlt nur noch, daß Rußland uns das
Geld verweigerte, das es uns versprochen hat und uns den Krieg er¬
klärte! Dann könnten wir in der That sagen: Adieu Kaiserstaat! und könnten
uns — in die Bürgerwehr einschreiben lassen!" — Die trostlose Lage wird
dem Weiberregiment in Wien zugeschrieben, dessen allerhöchste, höchste und
hohe, nicht blos weibliche Mitglieder mit Beinamen bezeichnet werden, die
wir schicklicher Weise nicht wiedergeben können (I, 101). Ein Seitenstück zu
diesen Ergüssen bildet das (ebenfalls aufgefangene) Schreiben eines Haupt¬
manns in der östreichischen Armee aus dem Lager bei Montechiari vom 6. April
1848 an einen Grafen von A . . . — Der Hauptmann schildert den Zustand
der Auflösung, in welchem das Heer sich befinde und bittet den Grafen um
ein Asyl. Er erzählt von einem außerordentlichen Kriegsrath am Abend zu¬
vor, worin der Vorschlag gemacht worden sei, entweder eine große Schlacht
zu liefern, oder über die Eises und den Mincio vorzugehen, um sich mit Nugenl
und Giulay zu vereinigen. Die Verhandlungen seien sehr stürmisch ge¬
wesen, Radetzky sei wüthend geworden und habe auf französisch ausgerufen? Vous
IVVW eomiQö eos dütLL an evnLöil -MilMv <M virt, xeräu I'Itirliö xour iivoir
voulu toiMurL Möiräro. Lette can-Ms its-Iieimv tmiiA vous Ässommei'!
Dann sei er hinausgestürzt, habe sich zu Pferd gesetzt und sei drei Stunden lang
herumgefvrengt, wobei er allein vor sich hingcschrien habe wie ein Wahnsinniger.
Der Briefschreiber behauptet, der Feldherr habe den Zustand der Armee nicht ge¬
kannt. Nicht zwei Offiziere gebe es, die einerlei Meinung hätten, die tollsten,
gewagtesten, selbst treulose Pläne würden erörtert. In gewissen Clubs spreche
man davon, mit einer großen Zahl von Soldaten zu den Piemontesen über-
zugehen; in anderen sei die Rede davon, Radetzky festzunehmen und den ita¬
lienischen Vorposten zu übergeben. Alle Baude der Zucht und der Pflicht
leim gelockert oder zerissen; die wenigen rechtschaffenen Männer, welche noch
dn' seien, hätten ^nur die Wahl zwischen Tod oder Flucht. „Ich bin überzeugt,
wenn uns die Piemontesen rasch angreifen, so werden wir uns nicht wehren;
die Soldaten werden die Waffen wegwerfen und sich ergeben. Ehe ich dies
mit ansehe, jage ich mir eine Kugel durch den Kopf." Man muß gestehen,
daß Radctzkys Verdienste nur um so großer erscheinen, wenn die Schilderungen
des Hauptmanns auch nur annähernd richtig sind. Gegen solch düsteres
Bild gehalten, glaubt man eine Idylle zu lesen in der kurzen Unterhaltung,
welche über die Entlassung östreichischer Unterthanen und von Angehörigen
östreichischer Familien aus Venedig im Juli 1848 zwischen dem Feldmarschall-
Lientenant Melden und dem Präsidenten Mamin stattfand. „Jede politische
Meinung — so schreibt der gebildete Krieger — findet eine Stütze in der
Geschichte. Wir sehen Völker gedeihen unter weisen Monarchen wie unter
der republikanischen Form. Die Regierungsform ist daher nicht das Wesent¬
liche und man sieht Reiche fallen und Republiken stürzen, wenn sie die Gesetze
verletzen; ihre ursprüngliche Kraft entartet dann in Schwäche. Nur unter der
Aegide der Gesetze, da, wo das Recht heilig, wo Ruhe und Ordnung be¬
stehen, darf man hoffen, das Glück der Völker zu begründen."
Mehr zur Sache hielt sich Herr v. Brück, damals Handelsminister, wel¬
cher im letzten Acte des erschütternden Drama mit Mamin unterhandelte.
Radetzky wollte nichts mehr von Unterhandlungen, nur von Ergebung hören;
allein die hartnäckige Vertheidigung des Forts Malghera, welches erst geräumt
wurde, als es in einen Schutthaufen verwandelt war, ließ den Versuch, durch
Worte schneller und mit geringern Opfern zum Ziele kommen, räthlich er¬
scheinen. Am 31. Mai 1849 ließ Herr v. Brück dem Präsidenten Mamin an¬
zeigen,^ daß er. sich im Hauptquartier bei Mestre befinde. Dorthin begaben
sich dieHerren Joseph Caluci und Georg Foscolo, und erfuhren, daß Oestreich den
italienischen Provinzen eine liberale Verfassung mit Volksvertretung geben wolle;
um die Militär- und die auswärtigen Angelegenheiten sollten dem Reichstage in
Wien vorbehalten bleiben, zu welchem die Italiener ihre Abgeordneten senden
würden. Herr v. Bruck unterließ nicht, den Bevollmächtigten von vorn herein zu
erklären, daß das hrutigc Oestreich nicht mehr das alte sei; daß die Männer, welche
^u der Spitze der Geschäfte stehen, liberal gesinnt seien und einräumten, daß die
Italiener zu wenige Garantien hätten, und daß selbst diese wenigen zuweilen
'"ehe beachtet worden seien. In einem Schreiben aus Mailand vom 5. Juni
letzte v. Brück den. Bevollmächtigten näher auseinander, wie Oestreich ein
"ncuiigtes Lombardisch-Venctianisches Königreich mit der Hauptstadt Verona,
oder >auch zwei getrennte Staaten mit Mailand und Venedig als Regierungs-
sitzen, oder auch eine besondere Einrichtung für die Stadt Venedig, ähnlich
wie Trieft,.zugeben könne; er empfahl vorzugsweise die zweite Combination,
die Lombardei und Venetien als zwei besondere Staaten, und fügte hinzu,
daß den constitutionellen Freiheiten eine auf die ausgedehnteste Selbstverwal¬
tung gegründete Gemeindeverfassung als Unterlage gegeben werden solle; ja
selbst die Grundrechte der östreichischen Reichsverfassung sollten den Italienern
zu Theil werden, immerhin mit solchen Modificationen. welche dein Geiste der
Nation entsprechen, hauptsächlich in Bezug auf die Unabhängigkeit und die
Suprematie der katholischen Kirche. Den Werth dieser Mittheilungen schwächte
Herr v. Brück durch die Erklärung ab, daß sie keineswegs Vorschläge enthielten,
sondern lediglich „Vorschwebungcn" (clös iclees), die wir auch in Deutschland
zur Genüge haben kennen und schätzen lernen. Die Versammlung der Re¬
präsentanten in Venedig wünschte einen bestimmten Bertrag und ermächtigte
die Regierung, darüber mit Herrn v. Brück zu verhandeln. Dabei zeigt sich
sofort, daß es auf reine Ucberlistung abgesehen war. Herr v. Brück legte
Entwürfe eines Landesstatuts vor, welches nur bei localen Interessen eine Mit¬
wirkung der Vertretung zuließ, den einer Gemeindeordnung, endlich eines
Manifestes, welches im Falle der Sanction des Statuts durch den Kaiser von
dem Handelsminister veröffentlicht werden sollte. Das Manifest deutete die
Grundzüge des Statuts an und stellte die Genehmigung desselben in Aus¬
sicht. — Ueber diese Eröffnungen schritt die Versammlung in Venedig zur
Tagesordnung. Ais im August 1849 Venedig aufs Aeußerste gebracht war.
wendete sich Mamin abermals an Herrn v. Brück (11. August) und erklärte
sich zu Unterhandlungen über einen Vertrag bereit. Es war zu spät; H. v.
Brück antwortete dem Advocaten Mamin. es gebe keine andere Bedingung
mehr als unbedingte Unterwerfung; die „Vorschwebungen," die Aussichten auf
künftige Sanction von Verfassungsentwürfen hatten ein Ende. Venedig mußte
sich ergeben, und Oestreich glaubte die Lombardei und Venetien wieder erobert
zu haben.
Zehn Jahre nach der Uebergabe Venedigs waren noch nicht verflossen,
da war die Lombardei für Oestreich militärisch verloren und die Präliminarien
von Villafranca hatten die Abtretung an Frankreich, mittelbar an Piemont,
stipulirt. Der Züricher Friede sanctionirte die Präliminarien; aber ihm folg¬
ten die Erhebungen und die Annexionen in den Herzogthümern, im Kirchen¬
staate, in beiden Sicilien. Für nächstes Frühjahr hat Garibaldi den Angriff
gegen Oestreich in Venetien angekündigt und er ist der Mann, dessen Thaten
hinter seinen Worten nicht zurückbleiben. Piemont wird gleichzeitig oder in
kurzem Zwischenraume folgen müssen und es ist nicht wahrscheinlich, daß dieser
Krieg abermals „localisirt" werden kann.
Die Diplomatie sucht ein Mittel, um dem Kriege vorzubeugen. Sie sin-
det kein anderes als die Abtretung Venetiens an Italien gegen Entschädigung
in Geld. Und wie 1848 der Rath der englischen Diplomatie von dem Hanse
Rothschild unterstützt wurde, so erhebt auch jetzt wieder die hohe Finanz sür
das unblutige Abkommen ihre Stimme. Diesmal ist es Herr Emile Pvreire
mit der Feder des Herrn Duvcyrier in der Brochüre: I^mxer<zur ^ranyoiL
^oseplr et 1'Dul-ops. Der Gedanke in dieser Schrift ist nicht die Börsenlogik,
welche höhere Course und Stärkung des öffentlichen Credits will; Herr Wreire
kann im Kriege vielleicht bessere Geschäfte machen als im Frieden, voraus¬
gesetzt, daß Frankreich und England Freunde bleiben. Aber eben diese Voraus¬
setzung ist keine Gewißheit. Sein Axiom ist, daß die Waffen den Kampf
zwischen Oestreich und Italien nur verlängern, nicht austragen können. Darum
müsse Europa, dessen höchste Interessen dabei in Frage kommen, eine friedliche
Auseinandersetzung, wofür alle Elemente vorliegen, herbeiführen und zugleich
» diesen Anlaß benutzen, um das Werk des Wiener Kongresses im Einklang
mit den Fortschritten und den neuen Bedürfnissen der Gesellschaft umzubilden.
Der Versasser hat die Zuversicht, daß bald in Europa nur eine Stimme sein
werde für die Ueberzeugung: der Loskaus von Venetien ist die einzige wirk¬
same, vernünftige, humane Lösung des> Streites.
Wird Garibaldi auf diese Stimme hören? — wenn er muß. Victor
Emanuel? — wenn er kann. Oestreich? — wenn es will. Auf den Willen
Oestreichs einzuwirken scheint die Diplomatie entschlossen zu sein. Paris und
London waren bis vor ganz kurzer Zeit wegen Italien auf so gespanntem
Fuße, daß der schriftliche Verkehr darüber aufgehört hatte. Haben sie Hab jetzt
verständigt, Franz den Zweiten aufzugeben und in Wien auf die Abtretung
einer unhaltbaren italienischen Provinz hinzuwirken, — wird ihnen dann mit
Nein geantwortet werden? Wohl, wenn die Armee gefragt wird, so weit sie
nicht aus Ungarn und Venetianern besteht. — Anders, wenn die öffentliche
Meinung, anders wenn die Lage des Kaiserstaates befragt wird. Wird Oest¬
reich den Krieg aufnehmen im Vertrauen auf Deutschlands Hilfe? Diese Frage
wäg man sich in Wien beantworten; wir erwarten die Leistungen des Hrn. v.
Schmerling, gedenken der Führung der Bundesprüsidialgcsandtschaft, der unter
ihren Auspicien geleiteten Abstimmungen über die kurhcssische Sache, über die
Reform der Bundcskriegsversassung, der Würzburger Bestrebungen und —
sch
Am 10. November 185» wurde von dem Prinzregenten ein Preis für
das beste Drama höhern Stiles ausgesetzt, welcher sich von ähnlichen Zeichen
fürstlicher Theilnahme dadurch unterscheidet, daß er in periodischer Wiederkehr
jedes dritte Jahr vertheilt werden soll.- Die Methode der Vertheilung ist
damals lebhast erörtert worden. Man hat sich gegen alle Preise für poetische
Werke ausgesprochen, und wieder hat man einzelne Bestimmungen des Sta¬
tuts angegriffen. Vielleicht ist der dramatische Preis keine so erste und
gefährliche Angelegenheit, um Zorn heraufzubeschwören, wol aber ein recht
angenehmer Schmuck der poetischen Production, liebenswürdig für den, welcher
den Preis erhält, und keine üble Veranlassung zu guter Laune für alle die,
welche den Preis nicht erwerben. Man soll nur nicht Unbilliges von ihm
verlangen.
Ob er einen wesentlichen Einfluß auf Hebung des dramatischen Schaffens
ausüben wird, darf bezweifelt werden. Die Blüte der dramatischen Poesie
ist bei allen Culturvölkern spät, selten, nur auf kurze Zeit sichtbar geworden.
Viele günstige Umstände müssen zusammentreffen, die Volkskraft nach dieser
Richtung zu entwickeln und den Schaffenden die eigenthümliche Methode der
poetischen Empfindung zu geben, welche das in der Darstellung Wirksame
reichlich und mannigfaltig auszudrücken vermag. Wir Deutsche aber mußten
nach einem kurzen Vorfrühling eine um so größere Dürftigkeit der dramatischen
Literatur beklagen. Offenbar haben wir die^ Zeit eines nationalen Dra¬
mas noch zu erwarten, und man darf zweifeln, ob in ,der Gegenwart be¬
reits alle Bedingungen dazu vorhanden sind. Noch ist die unmittelbare Em¬
pfindung des Volks, seit dasselbe aus der epischen Zeit des Mittelalters heraus¬
getreten ist, viel mehr lyrisch, als dramatisch, und wie es allen Einzelnen
noch schwer wird, im Verkehr mit Andern, auf der Kanzel, auf der Tri¬
büne, bei Festen und Aufzügen, die Wucht eines starken Gefühls mit
charakteristischem und imponirenden Ausdruck verbunden zu zeigen, so wird
auch dem deutschen Dichter die souveräne Herrschaft über leidenschaftlich be¬
wegte Charaktere, welche das Drama in starkem, höchst zweckvollem Gegensatz und
in unaufhörlicherer Entwicklung zu zeigen hat, nicht leicht. Und obgleich keinem
Sterblichen vergönnt ist, die Gesetze, nach welcher die bildende Volkskraft in
den Individuen zur Erscheinung kommt, prophetisch zu erkennen, so scheint doch
die Annahme wohlbegründet, daß eine energische Entwicklung des deutschen
Dramas abhängig ist von einer kräftigen Ausbildung des deutschen Charac-
ters wie sie jetzt nur ein mächtiges und reiches Volksleben zu geben vermag.
— Dennoch ist es, wenn wir nicht sehr irren, jetzt bereits besser geworden,
als es vor etwa zwanzig Jahren war. Wir sind auch nach dieser Richtung
in langsamem Aufsteigen begriffen, wie unsre ganze politische und sociale
Existenz. Es wird demnach der Schillerprcis, so hoffen wir, wol Gelegenheit
haben, eine allmälige Kräftigung des dramatischen Schaffens an einzelnen
Stücken bezeichnen zu helfen, wenn er auch selbst nicht neue Kräfte hervor¬
zurufen, oder die vorhandenen zu stärken vermag.
Es versteht sich, daß dur,es Geldgeschenke oder äußere Auszeichnungen
die poetische Kraft nicht gesteigert werden kann. In der That ist schon seit
einiger Zeit das für die Bühne brauchbare Drama — und solche meint auch
der Preis — für den deutschen Versasser als Arbeit äußerlich lohnender, als
andere Dichtungsarten.*) Da indeß ein Drama häufig um so weniger eintragen
wird, je höhere Ansprüche dasselbe macht und je schwieriger seine Sceni-
rung und Besetzung ist, so wird, der ertheilte Preis wenigstens zuweilen einem
solchen Drama höhern Stils den Unterschied in der Einnahme gegen leichtere
und behaglichere Stücke ausgleichen. Der Preis vermag also auch nach dieser
Richtung die geistige Production zwar nicht zu fördern, aber doch ihr wohl
zuthun.
Außerdem aber hat der Preis auch eine gewisse politische Bedeutung.
Daß der größte Monarch Deutschlands in huldreicher Weise seine Absicht
ausspricht, auch dem schönen Schaffen, in der Art, welche Monarchen zusteht,
seinen Antheil zu erweisen, das ist erfreulich und wurde auch allgemein in
Deutschland so aufgefaßt. Und daß dieses hohe Wohlwollen sich an den
Namen Schillers und an die Festfeier in Berlin knüpfte, das hatte noch be¬
sondere Bedeutung. .
Von solchem Standpunkte aus war auch die ganze Einrichtung des Preises
so zweckmäßig als man nur wünschen kann. Daß er regelmäßig nach drei Jahren
ertheilt wird, setzt die Preisrichter in die Lage, die geistige Production von
mehr als einer Saison zu übersehen und unter einer größern Anzahl ernst
gemeinter Stücke die Auswahl zu treffen. Daß er ohne Bewerbung ertheilt
wird, erscheint uns als die einzige Art, welche das Selbstgefühl der Dichter
schont und dem Preise die Möglichkeit gibt, ein gewisses nationales Interesse
für sich zu bewahren. Daß eine Commission das Preisstück auswählt, ist
ebenfalls nothwendig, denn der Monarch darf nicht selbst seinen Geschmack
und seine Zuneigung der Kritik aussetzen. Auch das Statut für den Preis
>ist einfach, bündig, klar und vollkommen ausreichend, der Commission zur
Richtschnur zu dienen. Die Mitglieder der Commission endlich sind aus den
Kreisen gewählt worden, in denen wenigstens das größte Interesse für schöne
Kunst vorauszusetzen ist, einige Gelehrte von umfassender Bildung, Vorstände
größerer Bühnen, darunter anerkannte Autoritäten im Bereich schöner Literatur
und Kunst. Im Ganzen, wen sollte man sonst in die Commission setzen?
Mancher wird einzelne Namen mit 'andern, die grade ihm werther sind, ver¬
tauscht wünschen, wer aber andere vorzuschlagen hat, möge sich vorher auch
überzeugen, ob sie eine Berufung zu so undankbarer Thätigkeit annehmen. Es
ist keine Kleinigkeit unter 400 Theaterstücken, von denen doch vielleicht die
Hälfte bei massenhafter Lectüre etwas Schmerzliches hat, wählen zu müs¬
sen. Es ist auch nicht Jedem behaglich, unter hundert dramatischen Schrift¬
stellern zum mindesten neunundneunzig abzuweisen und mit der Ansicht zu er¬
füllen, daß die Commission ausgezeichnet schlechten Geschmack habe. — So
hatte, Alles erwogen, die preußische Regierung, gethan, was sie thun konnte,
um dem Preise eine feste Grundlage zu geben.
Es war nicht ganz bequem, daß gleich im ersten Jahre der Preis nicht
ertheilt werden konnte. Und wir meinen, die Commission hat sich ihr unange¬
nehmes und beschwerliches Amt zu schwer gemacht. Es ist keine Hoffnung
da, daß die Verweigerung des Preises' auf zukünftige Production günstiger
wirken werde, als die Ertheilung. es machts ohnedies Jeder grade so gut,
als er kann; und nebenbei sei hier die Ansicht ausgesprochen, bei welcher
den Schreiber dieses kein persönliches Interesse mehr leitet, daß die Commission
für die nächste Preisertheilung dem Zwecke des Schillcrpreises am besten
nachkommen wird, wenn sie frischweg dem Stück, welches ihr als das relativ
beste erscheint, den Preis zuspricht, ohne ein höheres Kunstbcwußtscin
gegenüber zu stellen, und alles übrige dem guten Geist der Poesie, der Zeit
und jenen andern Mächten überläßt, welche die Früchte , im Garten der Hes-
periden reif machen. Indeß das ist Sache der Commission, es ist ihr Recht,
zu entscheiden, und hier am wenigsten soll gegen den letzten Entscheid pole-
misirt werden. Die dramatischen Schriftsteller aber, denen bei solchem Verfahren
der Preisrichter der Preis entgeht, oder die bei einer Ertheilung den Preis
nicht davontragen, mögen sich mit der alten Wahrheit beruhigen, daß nicht
selten das Urtheil auch der Besten, über eine neue poetische Arbeit in dem
Zeitpunkt des Erscheinens weder zuverlässig noch dauerhaft ist. daß es jeden¬
falls nicht als das letzte betrachtet werden kann.
Die Kritik hält jedem neuen Dichterwerk allerdings ein wohlgefügtes System
entgegen, aber dies System deucht im letzten Grund auf der Summe des
Schönen, welches bis dahin geschaffen ist. Die Kritik ist daher nichts weniger
als unwandelbar, sie ist vielmehr in einer dauernden Entwicklung begriffen,
grade wie die Literatur selbst, und es ist sogar nicht unmöglich, daß das neue
Werk dazu beiträgt, Geschmack, Urtheil, ästhetische Vorschriften zu modi-
ficiren. Aber selbst der ästhetische Werth eines Stückes ist nicht der letzte Ma߬
stab für seine Bedeutung. Denn die Folgezeit beurtheilt die einzelnen Leistungen
des Dichters vorzugsweise nach der Wichtigkeit, welche die Seele des ganzen
Mannes für sie gewonnen hat. Dem Manne, welcher gut gewirkt hat, wird
die Summe seines geistigen Inhalts und seiner Bedeutung sür die Nation auf
jedem seiner einzelnen Werke gutgeschrieben. Wenn ein Dichterleben ab¬
geschlossen vorliegt, dann wird aus jeder einzelnen seiner Schöpfungen das
Gesammtbild einer Persönlichkeit zusammengesetzt, und diese ganze Persön¬
lichkeit wird ein Moment der Bildung; dann erst wird das Beste, was der
Mann geleistet, ganz verstanden, ja auch das Verfehlte mag dem jüngeren
Geschlecht so lieb geworden sein, daß es mit Pietät bewahrt wird. So gleicht
das Dichterwerk dem neuen Jahrgang des Weins, es wird unter Umständen
durch das Alter besser. Das Schwächste freilich wird bald schal und ungenie߬
bar. Und deshalb möge jeder der deutscheu dramatischen Dichter das Urtheil
der Commission in Frieden über seine Arbeit ergehen lassen und nebenbei recht
tüchtig dahin arbeiten, daß sein eignes Leben reich an Blüthen und Frucht für
sein Volk werde. Denn sein Recht wird dadurch das bessere.
Der Preis, welcher Schillers Namen trägt, legt nahe, die Ber¬
liner Statue des Dichters zu erwähnen, und den unerfreulichen Gegen¬
satz, welcher ihretwegen zu Tage gekommen ist. Bald wird Berlin
den Namen einer Weltstadt verdienen. Die kriegerischen Erinnerungen
aus Preußens Geschichte sind bereits zu monumentalen Schmuck verwerthet,
der größten Hauptstadt würdig. Zu den zahlreichen Kriegergestalten in Erz
und Marmor kommen jetzt auch Helden des Friedens, welche um Preußen
besondere Verdienste gehabt, das Standbild Thacrs ist vollendet, Beuth und
Schinkel sollen als seine Nachbarn den Platz an der Bauakademie schmücken.
Das Denkmal für Schiller aber ist das erste, welches zu Berlin einem der
großen Dichter und Künstler Deutschlands gesetzt wird. Und sehr nahe lag
der Gedanke , dieselbe Gelegenheit und Theilnahme für eine Statue Goethe's
in Anspruch zu nehmen. Ja, es ist zu hoffen, daß sich allmälig eine Reihe
anderer Statuen an diese anschließen wird. Berlin hat gegen Lessing eine
^sondere Schuld abzutragen; es hat dem großen Mann, als er mühsam mit
dem Leben rang,, spröde Härte bewiesen. Mehr als ein Name deutscher
Wissenschaft gehört Berlin besonders an, und darf dort vor Allem ein Denkmal
beanspruchen. Die größten Tonkünstler der Deutschen, Mozart. Beethoven haben
nach nu>^ dort eine zweite Heimath gewonnen, und es wäre für den
Stolz der'Berliner eine recht angemessene That, den Meistern eher die letzte
Ehre der Todten zu gewähren, als dies an dem Orte geschieht, wo sie
lebten und litten. Also frommer Eifer und Schönheitssinn erhält noch auf lange
Zeit Gelegenheit, sich in der edelsten Weise zu bethätigen. Auch giebt es
wenig Städte, welche so gute Gelegenheit zur Errichtung von Statuen geben,
als Berlin: zahlreiche Plätze, zumal in der Nähe der Linden stattliche Ge¬
bäude von monumentalen Charakter. So hat die Hauptstadt eines großen Staa¬
tes, intelligent, voller Kunstsinn, mit edler halben Million Einwohner, jetzt be¬
reits mit behäbigen Wohlstande gut ausgestattet, viele und gute Gelegenheit,
sich selbst zu ehren, indem sie ihre großen Todten ehrt.
Aber um auf diesem, wie auf mehrern andern Gebieten menschlicher Inter¬
essen zu etwas zu kommen, und zwar anständig, ohne kleinlichen Hader, möch¬
ten die Freunde in Berlin einen alten Grundsatz ein wenig besser beach¬
ten. Dieser lautet: Steine, welche einmal festgemauert sind, soll man
nicht wieder auseinanderreißen, und in klarer Sache, wo verständiger
Wille in eine grade Bahn hineingeführt hat, soll man fest vorwärts gehen
und sich nicht durch den unruhigen Wunsch, das Bessere zu finden, begonnenes
Gute stören. Für die Statue Schillers ist eine Stätte ausgewählt, sie ist an
einem großen deutschen Festtage von den höchsten Behörden des Staates feier¬
lich eingeweiht. Kaum ist das geschehn, so erhebt sich die Opposition, zum Theil
aus fremden und ungehörigen Beweggründen. Was schadet die zufällige politische
Partcisarbe einzelner Mitglieder des Schillcrcomitö einem solchen künstlerische»
Unternehmen? Fürchtet man, daß sie den deutschen Dichter mit einer Jacobiner-
mütze darstellen werden? Es scheint uns ein besonderes Zeichen politischer Un¬
reife, wenn man die Partcianiwosität auf jede nichtpolitische Thätigkeit der Ein¬
zelnen überträgt. Auch dem Loyalsten sollte doch der Umstand genügen, daß der
Fürst, welcher jetzt die Machtfülle des preußischen Staats in seiner Person darstellt,
selbst sein Interesse an dem Denkmal.öffentlich dargethan, selbst den Platz bestätigt
hat. W<an aber auch eine Anzahl vornehmer und einflußreicher Männer, welche
noch immer in der Luft vergangener Zeit athmen, dem Unternehmen ihre
Beiträge entziehen. was thuts. ob das Geld vorzugsweise durch die oder jene
Gesellschaft gesammelt wird? Jedenfalls erscheinen die als die wärmsten Ver¬
ehrer des Dichters, welche am meisten beigesteuert haben, und diese haben das
größte Recht sein Denkmal zu setzen. Und gehn wir der Sache auf den Grund,
woher kommt es, daß bei der Schillerfeier d-es Jahres 1859 sich in Berlin so
viele zweifelnd und spröde verhalten haben, die durch ihre rege Betheiligung
dem ganzen Fest jeden Schein einer Parteidemonstration hätten nehmen können?
Man wird als letzten Grund ein unbehilfliches Vornehmthun, vielleicht sogar
einen unwürdigen Mangel an Muth zu beklagen haben.
Wohl aber ziemt sich, daß auch Goethe sein Standbild in Berlin erhält,
wenn das von Schiller errichtet wird. Ja noch mehr, es wäre hübsch ge-
Wesen, wenn die Freunde und Verehrer Goethes durch kräftige Theilnahme
und Einwirkung auf das Schillerfest von vorn herein den Plan einer Auf¬
richtung von zwei Statuen populär gemacht hatten. Da dies aber nicht ge¬
schehen ist, welches Recht haben sie. jetzt einen bereits gefaßten Entschluß,
ein begonnenes Unternehmen zu stören? Es ist nicht wunderbar, daß ihre
Opposition und ihr Eingreifen auch einen gewissen Eigensinn der Andern,
welche nur das Schillcrdcnknial im Auge hatten, hervorgerufen bat. Das
Recht der letztern aber ist das ältere und bessere.
Der Einwu^s darf nicht im Ernst gemacht werden, daß zwei Statuen sich
der gegebenen Oertlichkeit, dem Raum vor der Treppe des Schauspielhauses,
besser anpassen würden als eine.' Offenbar ist der erwählte Raum weder
für eine, noch für zwei Statuen vorzugsweise günstig. Er ist weder für eine
noch für zwei unbedingt ungünstig. Es ist eben Aufgabe sowohl des erfin¬
denden Bildhauers, als der helfenden Künste, welche den Raum um das
Denkmal zu schmücken haben, ihn so viel als möglich anzupassen. Wir
zweifeln nicht, daß das bei zwei Statuen geschehen kann, es wird bei einer
nicht weniger möglich sein.
Selbst wer die Trennung beider Statuen als eiuen Uebelstand betrachtet —
und dieser Uebelstand ist in der That nicht groß — der soll ihn als einen jetzt
cingetretncn Zwang respectiren. Die Statue Goethes wird in Berlin mehr
als einen Platz finden, dem sie zum Schmucke gereichen kann. Der Lust¬
garten vor dem alten Museum scheint uns wie dazu gemacht, die Standbilder
zahlreicher Vorkämpfer in Kunst und Wissenschaft aufzunehmen. Auch die
weite und unvollständige Begrenzung dieses Saumes ist kein wesentliches Hin¬
derniß; die Kunst des Gärtners, welche dort noch viel zu thun Gelegenheit
hat, vermag in der weiten Fläche wenigstens für die größere Hälfte des
Jahres eine Zahl geschmackvoll umgrenzter Räume zu schaffen, jedem derselben
einen besondern charakteristischen Schmuck zu verleihen.
Wenn also jetzt ein Comite für Errichtung eines Goethedcnkmals zu
Beiträgen auffordert, so ist solche Thätigkeit allerdings erfreulich; vorausgesetzt,
daß man vermeidet, ein bereits früher begonnenes populäres Unternehmen
zu stören. Und noch eine zweite Bemerkung darf nicht unterdrückt werden,
für welche wir schonende Ausdrücke besonders sorgfältig suchen wollen. Wenn
Berlin mit einer halben Million Menschen den Wunsch hat auf einem seiner
Plätze eine Statue Goethe's zu errichten, so entspricht es nicht ganz dem
vornehmen Sinn und Takt, welche den lebenden Dichter selbst ausge¬
richtet haben, daß das Comite die Aufforderung zu Beiträgen durch ganz
Deutschland versendet. Ist Berlin nicht im Stande, ein solches Denkmal
in würdiger Weise herzustellen, so mögen allenfalls noch die Städte heran¬
gezogen werden, über welche die Residenzstadt Preußens als geistiger Mittelpunkt
souverän herrscht. Hätte aber nicht jede Stadt Deutschlands dasselbe Recht,
dem Fürsten der Poesie, welcher der ganzen Nation angehört, ein Standbild
zu erlebten und dafür zu sammeln? Man vermag Gentleman zu sein nicht
nur in den eignen Angelegenheiten, sondern auch wo man als Mitglied eines
Comites für gemeinnützige Zwecke arbeitet. Zu dem ersten Denkmal eines
werthen Todten wird Jeder nach Kräften beisteuern, denn bei solchem Unter¬
nehmen wird eine allgemeine Pflicht der Pietät erfüllt; solche Denkmale oder
Statuen werden deshalb an die Orte gesetzt, an denen vorzugsweise der große
Name haftet. Ja auch später, wenn eine kleine Commune, deren Kräfte nicht ge¬
nügend sind, in wahlberechtigter Pietät um Errichtung eines Denkmals sorgt,
werden die Beiträge Auswärtiger sicher nicht ausbleiben. Wenn aber jetzt
das Goethe-Comitv in Berlin sich nicht begnügt, deutsche Patrioten aus allen
Gauen zu sondiren, ob sie der Residenzstadt Preußens in spendenden Gemüth
zu einem monumentalen Schmuck helfen wollen, sondern wenn das Conn6
sogar fremde Monarchen angeht und wir aus den Zeitungen lesen müssen,
daß z. B. des Königs von Sachsen Majestät mit einigen hundert Thalern dem
Goethe-Denkmal zu Berlin zu Hilfe gekommen sei, so liegt in dieser Unbefangen¬
heit des Geldsuchens sicher Etwas, was nicht mehr taktvoll, ja nicht recht anstän¬
dig ist. Und das ist um so mehr zu bedauern, da grade Berlin, wenn andre Orte
für ähnliche künstlerische Unternehmungen von der großen Stadt Hülfe erbaten,
nicht eben reichlich beizusteuern Pflegte. Als das kleine Weimar die Doppel-
flatuc von Goethe und Schiller nebst der von Wieland setzte, war das wirk¬
lich ein nationales Unternehmen, und wurde auch so aufgefaßt. Mögen unsere
Freunde in Berlin nicht zürnen, wenn wir jetzt daran erinnern, daß Berlin
damals durchaus kein Interesse an den Statuen Weimars bewährt hat") und
daß Kaiser Napoleon der Dritte mit seinem Hof einen zwanzigmal größern
Antheil an diesen Denkmalen für deutsche Dichter gegeben hat, als die Stadt,
welche wir so gern als den geistigen Mittelpunkt Deutschlands betrachten möchten.
Diese Erinnerungen aus nächster Vergangenheit sind nicht angenehm, aber sie
mahnen zur Bescheidenheit.
Ein ähnlicher Uebelstand ist bei den Sammlungen für das Steindenkmal
zu erwähnen. Daß Preußen in seiner Hauptstadt einem der Begründer des
modernen Staatslebens von Preußen ein würdiges Monument erhebt, ist eben¬
falls eine Pflicht der Pietät, deren Erfüllung jedem Preußen am Herzen liegen
muß. Nun aber trat das Unternehmen mit einem ähnlichen, welches im west¬
lichen Deutschland projectirt war und die Tendenz hatte, auf dem Stein bei
Nassau ein Denkmal zu errichten, dadurch in Concurrenz, daß auch jenes
ältere Unternehmen bereits zu Beiträgen aufgefordert hatte. In diesem Falle
wäre es gut gewesen, auch den Schein eines solchen Gegensatzes zu vermeiden;
am besten dadurch, daß man das Berliner Denkmal beim Beginn der neuen
Zeit in Preußen durch Staatsbeschluß auf Staatskosten errichtet hätte. Es
wäre keine üble Demonstration gewesen, mit welcher das neue Minsterium'
auch seine Gegner in Verlegenheit gesetzt hätte. Wollte man aber Beiträge von
Einzelnen heranziehen, so mußte man sich jedenfalls auf den preußischen Staat
beschränken; man durfte dann sagen, daß das Einsammeln in den kleinen Kreisen
des Volks auch ein Mittel war, die Menge wieder einmal an die zahlreichen
Wohlthaten zu erinnern, welche sie dem Todten verdankt. Daß man diese
Beschränkung nicht für zweckmäßig gefunden hat, bedauern wir noch aus einem
andern Grunde. In der Aufforderung, welche von mehrern der gegenwärtigen
Preußischen Minister unterschrieben ist, wird nicht verschwiegen, daß das Unter¬
nehmen durch die besondere Gunst des Prinzregenten und die Theilnahme der
Landesvertrcter bevorzugt und gesichert sei. Man soll nicht die Majestät der
Krone in dem Augenblick in den Vordergrund stellen, wo man sich an Privat¬
leute wegen Zahlung von Beiträgen wendet. Wird das Denkmal durch Samm¬
lungen errichtet, so darf das Interesse, welches der Regent deH Staates daran
nimmt, nicht betont werden; wie reichlich der Beitrag sein mag, den seine Gnade
aus der Privatchatoulle dazu gibt, die Summe wird in diesem Fall nur be¬
handelt, wie die eines Privatmannes. Wo die Hoheit des Landesherrn aber
erwähnt wird, muß das Unternehmen als ein officielles erscheinen.
Solche Bemerkungen werden hier deshalb gemacht, weil sie einen Mangel des
Berliner Lebens charakterisiren, für den es wohl eine Abhilfe gibt. Keine Stadt
Deutschlands ist so reich an Intelligenz, aber das Zusammenwirken der vielen schonen
Kräfte für irgend ein gemeinsames Interesse ist in Berlin viel unsichrer und un¬
geschickter als irgendwo. Das ist ein oft beklagter Uebelstand. Für das gesell¬
schaftliche Leben nach andern Richtungen mag eine Besserung Schwierigkeiten
haben, welche nicht sogleich zu überwinden sind, es ist wol nur ein ungünstiger Zu¬
fall, daß grade jetzt in Berlin einzelne Häuser fehlen, deren Hausherrn nicht dem
Hofe und der daran hängenden Exklusivität angehören, und die zugleich so viel
Wohlstand, Ansehn, Liebenswürdigkeit und geistiges Interesse enthalten, daß
sie sich zum Mittelpunkt eines reichen geselligen Verkehrs zu machen wissen.
Tür alle solche gemeinsame Unternehmungen aber, bei welchen politische oder so-
^ale Interessen eine gemeinsame Action vieler Theilnehmenden wünschenswerth
^chen. kann es doch nicht schwer sein, eine Anzahl Gleichgesinnter zu vereinen. ')
Die Kammerwahlen z. B. haben die Einwohner bestimmter Bezirke einander
bereits näher gebracht, sicher sind in. jedem mehre wohlbekannte und thätige
Männer, welche sich in einem begrenzten Kreise der Verbreitung bestimmter
Ideen, dem Sammeln von Beiträgen unterziehn würden. Es kann keine
große Schwierigkeit machen, durch einfache mündliche Verabredung einen Zu¬
sammenhang in diese Kräfte zu bringen, wenn es wünschenswerth wird,
eine Adresse zu erlassen, ein patriotisches Unternehmen zu fördern, nach einem
gewissen Plan Zusammenkünfte zu bewirken. Gern hätten wir Deutsche in
den letzten Monaten zuweilen die Stimme der berliner Patrioten vernommen
und für alle solche Angelegenheiten, wie Einsammlung von Beiträgen für
die Schleswig-Holsteiner, wie die erwähnten Denkmalsangelegenheiten,
wäre Berlin bei einer gewissen einfachen Organisation nach Bezirken im
Stande gewesen, seine Schuldigkeit in ganz andrer Weise zu thun, als bis
jetzt geschehen ist. Dieses Einvernehmen und Zusammenwirken der Gleich¬
gesinnten wird der nächste bedeutende Fortschritt sein, welchen Berlin zu machen
hat. Er würde Tausenden die Empfindung der Isolirtheit nehmen, er würde
dem gesammten politischen Leben der Stadt in kurzem ein anderes Aussehn
geben, er allein würde die Wiederkehr einer Willkürherrschaft, wie Berlin dieselbe
Jahrelang unrühmlich ertragen hat, unmöglich machen. Es ist dabei keine
Wie andere Völker des Alterthums, feierten auch die alten Römer -das
Fest der Wintersonnenwende in fröhlicher und heiterer Weise, als die Zeit,
wo die menschliche Brust nach längerer Verkürzung und Beschränkung des Tagcs-
liebes wieder aufathmet und hoffnungsvoll dem Wiedererwachen der verjüngten
Mutter Erde entgegenharrt. Wahrscheinlich begann sogar das älteste römische
Jahr mit dem kürzesten Tage und war das Solstitium zugleich eine Neujahrs¬
feier. Als jedoch diese Bedeutung in den Hintergrund trat, begann man da¬
für am 19. December das Andenken an das goldene Zeitalter unter der Herr¬
schaft Saturns zu erneuern und suchte' sich durch Aufhebung aller Trauer und
Werkeltagsthätigkeit und durch Herstellung einer ungezügelten Freiheit und
Gleichen in jene ideale Zeit der Unschuld zu versetzen, welche die unlogische
Phantasie-so gern in die graue Vorzeit zurückdatirt. Das Neujahr trennte
sich nun von den Saturnalien, die sich später zu drei Tagen (17. 18. und
19. December) und mit Hinzurechnung des Puppenmarktes (der Sigillarien)
zu einer Woche erweiterten und siel auf den ersten März, den ersten Tag des
zehnmonatlichen Jahres. Auch nachdem König Numa die Monate Januar
und Februar dem Jahre hinten angefügt hatte, scheint mit diesem Tage das
neue Jahr begonnen zu haben, und vielleicht darf man die später an den Ca-
lender des März noch gefeierten Matronalien, an welchen die Frauen für das
Glück der Ehe opferten, Geschenke erhielten und ihren Sklaven, wie die Haus¬
herrn an den Saturnalien, Festmahle gaben, als eine Spur jener alten Sitte
betrachten. Wann der Jahresanfang sich wieder der Wintersonnenwende ge¬
nähert hat, läßt sich nicht einmal annähernd bestimmen, da die Antrittszeit
der Consuln, die allerdings erst seit 153 v. Chr. auf den ersten Januar ver¬
legt worden ist, deshalb gar nichts beweist, weil sie vor diesem Jahre beinahe
alle fünfzig Jahre gewechselt hat. Es ist sogar möglich, daß schon in sehr
früher Zeit der März als erster Monat zählte, ohne daß das Jahr mit seinen
Calender begonnen hat.
Wenn wir uns in das Leben eines römischen Neujahrstags hineinversetzen wol¬
len, müssen wir sehr frühe das Lager verlassen. Die Hauptstadt der alten Welt er¬
wachte überhaupt beim ersten Hahncnruf, weil sie bald nach Sonnenuntergang zur
Ruhe ging und schon an gewöhnlichen Tagen waren die Straßen vor Sonnnen-
aufgang stark belebt. Nach dem Verlassen des Lagers beeilten sich die Hausgenos¬
sen, einander gegenseitig zu beglückwünschen und bemühten sich, dabei nur Worte
von guter Vorbedeutung zu brauchen, weil eine einzige Unvorsichtigkeit den Segen
des ganzen Jahres zu bedrohen schien. Aus derselben Rücksicht enthielt man
sich jedes Gezänkes und Streites und aller Flüche. Ja. weil eben Alles, was
man an diesem Tage that, bedeutungsvoll für die bevorstehende Zeit war,
snerte man das Neujahr nicht wie andere Festtage durch Enthaltung von jeder
Arbeit, sondern es herrschte der allgemeine Brauch, daß Jedermann etwas von
seinen gewöhnlichen Geschäften vornahm, um Trägheit und Erfolglosigkeit in
der Zukunft von sich fern zu halten. Deshalb versuchte sich der ackerbau¬
treibende Theil der Bevölkerung in mancherlei ländlichen Arbeiten, die Hand-
werter machten sich mit ihrem Werkzeuge etwas zu schaffen, die Literaten er¬
probten die Gunst der Musen an kleinen schriftstellerischen Producten, die
Sachwalter ließen vor den Tribunalen des Forums ihre Stimmen ettönen.
Im Jahre 13. n. Chr. veranlaßte diese Sitte einen komischen Vorfall, der
aber sogleich als unglückliches Omen aufgefaßt und später auf den Tod des
Germanicus gedeutet ward. Der Consul Norbanus sollte am Neujahrsmorgen
sein Amt antreten. Eine große Menge von Gratulanten hatten sich bereits
vor dem Hause eingefunden; der neue Würdenträger war längst aufgestanden
und festlich geschmückt; bevor er aber die Besuchenden empfing, griff er noch
schnell nach seinem Lieblinginstrumente, der Trompete, der en Berührung ihm
die vielfachen Tagesgeschäfte nicht mehr erlaubt hätten, und entlockte derselben
einige schmetternde Fanfaren, die den erschreckten Zuhörern Unglücksahnungen
einflößten. Viele Zeit wurde übrigens auf die Geschäfte und Künste nicht
verwendet; und es hatte bei einem bloßen Probiren oder, wie Ovid sagt,
einem „Kosten" sein Bewenden, weil die Zeit des Morgens anderweitig be¬
deutend in Anspruch genommen wurde. Die Frauen wallten nach den Tem¬
peln, wo. die Opferflammen von Weihrauch und cilicischen Safran duftend,
sich in den vergoldeten Decken spiegelten, während dem Beginner des Jahres,
dem doppelgesichtigen Vater Janus in seinem fast nie geschlossenen Doppel¬
bogen am Fuße des Capitols, Weihrauch, Wein, Salzschrot und ein
in besondrer Form, nach Art übereinander gelegter Finger ' gebackener
Opferkuchen dargebracht wurde. Bei den Männern scheint übrigens, wie
oft bei uns, der Herrendienst dem Gottesdienste vorgegangen zu sein;
denn 'die Besuche an diesem Tage waren damals eine Pflicht, der
sich niemand entziehen konnte. In den früheren Zeiten der Republik hatte es
das hörige Verhältniß der Clienten zu ihren Patronen mit sich gebracht, daß
jene ihren vornehmen Gönnern die Aufwartung zu machen hatten. Später
als dieses einige Band sich gelockert hatte, wollte jeder reiche und eitle Mann
ein dienstfertiges Hofstaatspersonal um sich haben, das ihn auf seinen Aus¬
gängen begleitete und am Morgen unterthänig begrüßte. Und da diese
Dienste täglich mit 25 Aß (12'/- Sgr.) bezahlt zu werden pflegten, so fand
sich eine Menge müßiger Menschen, die aus Armuth und Eigennutz die er¬
heuchelten Zeichen der Anhänglichkeit zur Schau trugen. Alle diese versäum¬
ten es nicht, am Feste des Janus in geschäftiger Schnelligkeit die Straßen
zu durcheilen, die Hallen der Gcldbrotzen zu füllen und mit dem gewöhnlichen
Morgengruße (Ave — sei gesegnet) ehrfurchtsvolle Wünsche für das . Wohl
des gnädigen Gönners (die Clienten pflegten ihre Brodhnrn auch „Könige"
zu nennen) zu verbinden. Natürlich machten auch Freunde untereinander
Gratulationsbesuche und die in amtlichen Verhältnissen Stehenden ihren Vor¬
gesetzten. Am größten war die Zahl der Gratulanten in den Vorhallen
des kaiserlichen Palastes, wo auch sonst täglich je nach der Leutseligkeit der
Kaiser eine größere oder geringere Schaar von Bürgern ihre Ergebenheit
bezeigte. Augustus gab selbst dem Niedrigsten persönlich Gehör, aber Claudius
und die nächsten Kaiser stellten Visitatoren an, die alle Personen sorgfältig
nach verborgenen Mordgewchren durchsuchten, bis Vespasian diesen handgreif¬
lichen Mißtrauensbcweisen ein Ziel feste. Die Besuche am Morgen des
ersten Januars zeichneten sich übrigens alle durch eine auffallende Flüchtig¬
keit und Kürze aus. Man durfte seine Gönner und Bekannte nicht davon
abhalten und wollte es auch selbst nicht versäumen, die ersten Beamten der
Republik und dem Scheine nach auch der Kaiserzeit, die Konsuln, zu beglück¬
wünschen, welche, wie schon erwähnt, seit 153 v. Chr. am Neujahrstag ihr
Amt antraten. Bor ihren Häusern warteten in der Frühe die Senatoren
und Ritter, um eingelassen zu werden, das Volk, um sich der feierlichen Pro¬
cession nach dem Capitale anzuschließen. Man muß hinsichtlich dieses Fest¬
zuges die Zeit vor und nach dem zweiten Jahrhundert christlicher Zeit¬
rechnung wol unterscheiden. Während der Republik und unter den ersten
Kaisern waren die Ceremonien noch einfach. Der neue Consul begann den
Tag mit Gebet und Beobachtung vedeutungskräftigcr Vorzeichen, wozu be¬
sonders das gierige oder langsame Fressen junger Hühner-gedient zu haben,
scheint. Doch hatte er nicht nöthig, dieselben vorher aushungern zu lassen
oder nach dem Beispiele eines rationalistischen Feldherrn im ersten punischen
Kriege zu verfahren, der sie mit den Worten, sie.möchten trinken, wenn
sie nicht fressen wollten, ins Wasser warf; denn es ist kein Fall bekannt,
wo ein ungünstiges Vorzeichen den Amtsantritt ausgehoben hätte. Nachdem
der Religion Genüge geschehen war. legte er das Amtskleid der höhern Ma¬
gistrate, die faltenreiche, mit einem breiten Purpurstreifen verbrämte Toga
vor dem Altare seiner Hausgötter an und ließ die Thüren des Atriums (des
großen Familienzimmers. Salons) der harrenden Menge der Besucher öffnen,
um die freundlichen Worte und Küsse in Empfang zu nehmen. Natürlich
war es hiebei für Sejan. den anmaßenden Günstling Tibers ein böses Omen,
daß sein Sessel durch den ungestümen Andrang der servilen Menge in Stücke
ging, sowie daß beim Beginn des Zuges eine geängstigte Katze ihm über den
Weg lief! Nach der Gratulationsaufwartung scheint sich die Procession in
der Weise geordnet zu haben, daß die Ritter, geschmückt mit einer purpurn
und weiß gestreiften kürzern Toga (der Trabea) und durch die vom Halse
bis zum Saume am Unterkleide, der Tunica, hinablaufenden schmälern Pur¬
purlinien sich von den Senatoren unterscheidend, den Zug eröffneten. Wahr¬
scheinlich folgte dann das Opferthier, ein weißes, fleckenloses Rind, mit Lor-
ucerkrünzen, vergoldeten Hörnern, und purpurnen Binden geschmückt. Es
Wurde gewöhnlich von den fetten Weiden am Flusse Clitumnus geholt,
durfte nie am Joche gewesen sein und mußte eine besonders sanfte Ge¬
müthsart haben, da es weder stark brüllen noch am Stricke reißen durfte!
Flötenspieler, die bei der Opferhandlung selbst nöthig waren, begleiteten es.
Hinter diesen und unmittelbar vor dem Konsul schritten nun einzeln hinter¬
einander dessen zwölf Victoren, die Fahnen oder Ruthenbündel, das Zeichen
der Hcrrschergewnlt, schütternd, und einer'von ihnen trug den elfenbeinernen
curulischen Stuhl, ebenfalls eine Auszeichnung der höhern Beamten, der wie
unsre Feldstühle zum Zusammenklappen eingerichtet und ohne Lehne mit kunst¬
vollen Schnitzereien und geschweiften Füßen ausgestattet war. Die Sena¬
toren, außer den breiten Purpurstreisen an der Tunica noch an den hoch¬
geschnürten mit elfenbeinernen Halbmonde versehenen Schuhen kenntlich,
ging dem Consul zunächst und an sie schloß sich die übrige Volksmenge an.
Es wäre nun sür uns freilich leichter zu denken, daß beide Consuln von einem
Hause aus, gesellig neben einander wandelnd, auf das Capital gezogen
wären, allein es liegt keine Andeutung dafür vor; im Gegentheil spricht der
verbannte Ovid, wo er sich den Zug eines Gönners ausmalt, nur von
einem Consul, und der späte Dichter Claudian erwähnt den Umstand, daß
die beiden Brüder Anicius Olybrius und Anicius Probmus im Jahre 395
zusammen durch die Stadt zogen, als etwas besonderes. Nachdem man die
Höhe des Capitolinischen Berges erreicht hatte, bestieg der Consul das vor
dem Jupitertempel befindliche Tribunal (eine viereckige Erhöhung der Bühne)
und nahm auf dem curulischen Sessel sitzend die vorgeschriebene Prüfung des
von den Priestern bereits sorgfältig auserwählten Rindes vor, indem er dem¬
selben Wasser und Wein aus den Kopf sprengte. Machte es dabei eine Be¬
wegung, so galt es für tauglich, wo nicht, für unbrauchbar. Darauf wurde
das Opfer an den Altar geführt; ein Herold gebot dem Oberpriester und
dem Consul, die heilige Handlung mit Andacht zu verrichten, dem Volke,
sich ruhig und still zu verhalten. Der Consul faßte den mit Lorbeer und
wollenen Binden umwundenen Altar und sprach unter dem Klänge der
Flöten die Gebetsformel für das Wohl des Staates mit den dazu gehören¬
den Gelübden dem Priester nach, der sodann mit Wein, Wasser und Salzschrot
das Thier weihte, die Stirnhaare wegschnitt und ins Feuer warf, worauf
der Opferschlächter sein Amt verrichtete. Nun kam bekanntlich auf die Be¬
schaffenheit der edleren Eingeweide, besonders der Leber viel an und die Ein-
gcweideschcmer (Haruspices) begannen zu' schneiden, zu sondiren und zu
kochen. Die eine Seite der Leber hatte Bedeutung sür den Opfernden, die
andern für die Feinde; einer hervorragenden Stelle, „Kopf" genannt, schrieb
man die meiste Bedeutung zu; sein Nichtvorhandensein war das schlimmste
Zeichen, seine Verdoppelung verhieß Entzweiung, seine Abreißung eine plötz¬
liche Veränderung, und aus der Farbe gewisser Adern schloß man sogar auf
ein dürres oder nasses Jahr. Waren die Eingeweide fehlerhaft, so mußte
ein anderes Thier geopfert werden und so oft mehre. Die neuen Consuln
warteten diese Ergebnisse nicht ab, sondern begaben sich nach Beendigung
der Opferccremonien sofort in die Senntssitznng, die ebenfalls auf dem Cn-
Pitole entweder im Tempel des Jupiter selbst oder dem einer andern Gott¬
heit abgehalten wurde. Hier wurden meist religiöse Gegenstände verhandelt,
z. B. die Feststellung des ladinischen Bundesfestes aus dem albanischen Berge,
jedoch auch die Lage des Staats, die Vertheilung der Provinzen, Krieg und
Frieden u. s. w. Vom Volke und dem Senate geleitet kehrten dann die
Consuln nach Hause zurück.
In der Kaiserzeit erweiterte sich diese einfache Feierlichkeit allmälig zu
einem solchen Gepränge, daß zwischen dem glanzvollen Festzuge am Neujahrs-
tage und dem damals selten gesehenen Triumphe nur ein geringer Unterschied
übrig blieb. Je mehr aber der äußere Flittcrputz stieg, desto ohnmächtiger
wurde das confularische Amt, und obgleich es bis in die letzten Zeiten des
weströmischen Reichs für die höchste Auszeichnung und Gunstbezeigung van
Seiten der Kaiser galt, so konnte durch seine Verleihung doch nur die Eitel¬
keit gekitzelt, ein falscher Ehrgeiz befriedigt werden, und als bei der wechseln¬
den Prachtliebe und Verschwendung der Kaiser und der dadurch bedingten
Verwöhnung des Publicums die Kosten des Konsulats eine immer kolossalere
Höhe erreichten (sie betrugen endlich 2000 Pfund Gold 57K.000 Thlr).,
führten Manchen die kaiserliche Gnade und der Glanz weniger Wochen (die
Amtsdauer verringerte sich bald ans zwei Monate) zum Bankerotte. — Zu¬
erst wurde der Ehrendienst, welchen man den Consuln durch Beglückwünschung
und Begleitung den ersten Januar erwies, für die Bekannten desselben eure
^ehe lästige Pflicht. Die Consuln ließen bald förmliche Einladungen dazu er¬
gehen, und selbst in der Ferne war mau scrupulös in der Wahl der Ent¬
schuldigungsgründe. Der beredte Symmachus (unter Theodosius) fühlt sich so¬
gar von Frankreich aus verpflichtet, auf eine Einladung die Kürze der Tages¬
zeit, die strenge Kälte und den Mangel der PostVerbindung vorzuschützen; ein
anderes Mal eilt er deshalb von Rimini nach Rom. Ferner war es schon
v»r Trajans Zeit Sitte geworden, daß die Consuln die ihnen an ihrem
Ehrentage erwiesene Höflichkeit durch ein Geschenk zu vergelten suchten. Das
gewöhnliche Geldgeschenk war ein Goldstück, ein Louisdor an Werth. Der
Kaiser Gallienns hatte zu seiner Beglückwnnschung sogar das schöne Geschlecht
Ungeladen und war so galant, jeder Dame beim Handkusse vier'Goldstücke
geben. Außerdem werden aber noch silberne Schaalen oder Körbchen er-
""but und als allgemein gebräuchliche Gabe Notiztäfelchcn oder Diptycha.
Diese bestanden aus zwei elfenbeinernen Deckeln, welche innen mit Wachs
überzogen waren, außen aber in' Gold ausgelegt den Manier und das Bild-
riß des Consuls enthielten und einen purpurnen oder goldenen Rand hatten.
Anstatt weißer, mit Purpur verbrämter Kleider trug der Consul die eigentlich
zu Jupiters Garderobe gehörenden Triumphalgewünder, purpurfarbig und
mit Gold gestickt oder besetzt. Besonders die Tunica zeichnete sich durch die
Pracht der Stickerei aus, indem auf ihr Palmen und menschliche Figuren
ausgeführt waren. Der Kaiser Gratian schenkte seinem Lehrer Ausonius ein
Unterkleid mit dem eingewirkten Bilde seines Vaters Konstantins und aus
des tapfern Stilichos Kleide denkt sich der Dichter Claudian ein Gemälde,
das vier Hochzeiten darstellte. Daher starrten und knisterten diese Gewänder
von Gold und man kann sich von der Last derselben eine Vorstellung ma¬
chen, wenn man hört, daß das Gold an den Kleidern der Tochter Stilichos,
der Kaiserin Maria, deren Grab man im 16. Jahrhunderte öffnete, 36 Pfund
wog! — In der Hand führten die Konsuln einen elfenbeinernen Scepter mit
einem Adler an der Spitze und an den Füßen weiße, später goldene Schuhe.
So fehlte zur Vervollständigung des Triumphalaufzuges nur zweierlei: der
große goldene Kranz vom Haupte Jupiters, weicher von einem Sklaven über
den Triumphator gehalten wurde und der hohe, vergoldete Prachtwagen, in
welchem derselbe zu stehen pflegte; doch wurde auch dieser Auszeichnungen
der Consul theilhaftig, wenn er am dritten Januar, vor Beginn der Spiele,
die Götterbilder in den Circus Maximus führte. Am Neujahrstage gingen
aber die Consuln dennoch nicht zu Fuße auf das Capitol, sondern erschienen
auf einem von stämmigen Sklaven getragenen, mit Silber und Gold verzier¬
ten Tragsessel. Sonst blieb die Ordnung und Zusammensetzung des Zuges
wol dieselbe. Nur die Lictoren umwanden später, wie beim Triumphe, ihre
vergoldeten, mit rothen Riemen geschnürten Fahnen mit Lorbeer und wagten
es auch, die blitzenden Beile in dieselben zu stecken, die man früher aus Ach¬
tung vor der Volkssouveränetät nur im Lager zu zeigen pflegte; und die
weiße Toga der Senatoren und Bürger erinnerte deutlicher als früher an
einen Festtag, da die Nationaltracht im gewöhnlichen Leben immer mehr
außer Gebrauch kam. Sobald sich aber die Procession in Bewegung setzte,
war die Volksmenge noch dichter, der Lärm und das Drängen noch viel stür¬
mischer als in der alten Zeit, nicht, weil die Theilnahme oder auch nur die
Neugier zugenommen hatte, sondern weil die Consuln Geld unter das Volk
streuten. Da hierin Einer den Andern an Freigebigkeit überbot, behielt ein
Gesetz des Kaisers Theodosius Goldmünzen dem Kaiser vor und bestimmte
als größtes Silberstück beim Geldauswcrsen eine Münze von ungefähr zehn
Silbergroschen. Endlich wurde aber der Skandal am Neujahrstage manchen
Regenten lästig. Man schlug sich mit Steinen und Stöcken, und wer so
glücklich war etwas zu erHaschen, brachte nichts mit nach Hause, sondern ver¬
jubelte es an demselben Tage. So schafften denn Valentinian der Dritte
und Martian (452) das Geldstreuen der Consuln ab und verwandelten es
in eine feste Abgabe von 100 Pfund Gold zum Besten der Wasserleitungen.
Allein schon in den nächsten 70 Jahren gaben nur die Aermsten und Geizig¬
sten nichts, während fast Alle Dispens erbaten und erhielten, bis Justinian
im Jahre 536 das Verbot wieder aufhob. Sein Neffe Justin der Zweite
ließ beim Antritt seines Consulats aus dem Markte zu Constantinopel ein
vier Stockwerke hohes Gerüste bauen, auf welchem das Volk den Geldregcn
auffing. Sein Zug ging übrigens in die Sophienkirche. Die Senatssitz¬
ung am ersten Januar wird auch in der Kaiserzeit vielfach erwähnt und er¬
hielt dadurch noch mehr Bedeutung, daß die neuen Consuln einen Eid auf
Aufrechterhaltung der Gesetze ablegten (was sie früher innerhalb der ersten
fünf Tage vor dem Volke thaten) und dem Senate den Eid der Treue gegen
den Kaiser abnahmen und daß einer von ihnen dem Kaiser im Namen des
Staates und seinem eigenen zu danken hatte. Diese Reden waren meist ge¬
schraubt und aus Effect berechnet, knechtische und geschmacklose Machwerke der
Schmeichelei. Endlich übten auch die Consuln an diesem Tage stets eine
amtliche Handlung, die später beinahe den einzigen Rest ihrer frühern Gewalt
bildete: sie schenkten einigen Sklaven die Freiheit und zwar nach der ältesten
feierlichen Weise, wobei ein Lictor dem Herrn die Gewalt über seinen Skla¬
ven absprach, indem er mit einem Stäbchen letztern auf den Kopf schlug,
worauf der Herr den Freizulassenden herumdrehte und losließ und der Con-
sul ihn für frei erklärte.
Bei Privatleuten füllte den übrigen Theil des Tages ein allgemeiner
Austausch von Geschenken, die ebenfalls eine gute Vorbedeutung haben sollten.
Sie hießen strenae und bestanden ursprünglich aus sehr einfachen Dingen.
Einen Zweig vom Lorbeerbaum, dem Symbol der unzerstörbaren Lebens-
fnsche. soll man schon unter dem König Tatius aus dem auf dem Esquilin
gelegenen Haine der Göttin Strenia (einer Personification der Rüstigkeit, Ge¬
sundheit) geholt und einander als glückverheißendes Zeichen geschenkt haben.
Hierzu kamen später als Gaben, die so gewöhnlich waren, wie unsere ver¬
goldeten Nüsse. Aepfel und Lebkuchen zu Weihnachten: Datteln an ihrem Zweige
hängend und mit Goldschaum überzogen; karische getrocknete Feigen oder Da-
mascenerpflaumcn. die in gewundenen, spitzen Düten aus gebranntem Thone
verkauft und übersandt wurden, und Honigscheiben. Alles dies sollte nach
Ovid bedeuten, daß das neue Jahr seinem süßen Anfänge gemäß verlaufen
Möchte. Auch ein Geldstück gehörte zu diesen Süßigkeiten und zwar ursprüng¬
lich ein Aß. eine Kupfermünze, die den'Januskopf auf ihrem Gepräge führte.
Allein schon Ovid sagt von seiner Zeit: „Eine bessere Vorbedeutung liegt jetzt
im Golde, und besiegt ist die alte Münze der neuen gewichen;" und später
suchte nur der Arme und der Geizhals zu seinen vergoldeten Datteln einen
alten Aß zu bekommen, da die Kaiser auch den Kupfermünzen ihre eigenen
Köpfe octroyirten. Da nun aber auch sehr bald jene conventionellen Lecke¬
reien, wie bei unserem Weihnachtsfeste, Nebensache wurden und der Anstand
werthvollere Geschenke verlangte, wurde durch das Neujahrsfest der ohnehin
durch die kurz vorhergegangenen Saturnaliengeschenke geschwächte Geldbeutel
wieder bedeutend in Anspruch genommen. Das Schlimmste dabei war, das;
jedes Geschenk der Sitte gemäß mit einer Gegengabe erwidert werden mußte.
In der älteren Zeit hatten wol ein den Saturnalien und wahrscheinlich auch
am Neujnhrstage die Patrone von den Clienten als ihren Schutzgenossen
allerhand ansehnliche Gaben an Geld oder Naturalien erpreßt, und dieser Mi߬
brauch hatte sogar ein Gesetz veranlaßt, das die Saturnaliengeschenke der
Clienten auf Wachskerzen beschränkte; allein in der Kaiserzeit, wo die Clienten
ganz und gar von den Patronen unterhalten wurden, trat grade das umge¬
kehrte Verhältniß ein: die Ncujcchrsbettelei wurde bereits eine Qual für die
Wohlhabenden; die Wurst wurde nach der Speckseite geworfen, oder wie Mar¬
tins sagt:
Ebendeshalb schreibt derselbe an seinen Freund Stella:
Das Hauptgeschenk ni den Saturnalien, die sigilla, kleine Figuren aus
Terracotta, aber auch aus Silber und Gold. Wachs und Glas, spielte auch
am Neujahrstage eine Hauptrolle. Mit diesen Spielereien beschenkten die
Aeltern ihre Kinder und diese erhielten Geld, um sich wieder einander zu über¬
raschen. Auch die Erwachsenen neckten sich durch solche Attvapen, welche die
Kunstfertigkeit der römischen Plastiker in großer Vollkommenheit lieferte. He-
liogabal ließ zuweilen seinen Gästen alle Gerichte, die er aß, in Wachs oder
Glas nachgebildet, vorsetzen, und nach Plinius Zeugniß gab es Aepfel und
Trauben aus Wachs, die von den natürlichen nicht zu unterscheiden waren.
Auch die Kuchenbäcker und Conditorcn lieferten ihre Beiträge aus Honigteig
in tausenderlei zierlichen Formen und bildeten wahrscheinlich auch die irdenen
Menschensigürchen in Marzipan nach (Narei p-mis bekanntlich aus der in Ve¬
nedig üblichen Darstellung des Evangelisten Marcus in Honigteig entstanden).
Alle diese Gegenstände kaufte man nach den eigentlichen Saturnalien aus der
Sigillanuesse ein. welche vielleicht eine ganze Woche dauerte und theils in
der Nähe des Pantheon auf dem Marsfelde. theils bei den Thermen Trajans
ans dein Esquilin abgehalten wurde. Dort fand man aber in den weißen
Leinwandbudcn außerdem die verschiedensten Gegenstände; alle Arten von Eß-
Waaren und Leckerbissen in Gemüsen, Fleisch und Fischen, kostbare Gefäße und
Bijouteriewaaren. Zeuge und fertige Kleider, Toilcttengegcnstände. elegante
Möbeln, kurze Waaren jeder Art. Waffen. Gemälde und sogar Bücher. Wir
besitzen noch ein reiches Verzeichnis) solcher Sächelchen im dreizehnten und vier¬
zehnten Buche der Epigramme Martials unter dem Titel Xenia und^Apopho-
reta. Jener Name bezeichnet ursprünglich Geschenke an Lebensmitteln, die
man dem Gastfreunde, welchem bei den Alten eigentlich nur Wohnung ge¬
währt wurde, zuschickte; dieser' Victualien- oder Luxusartikel, die bei Gast¬
mahlen in Rom den Gästen in der mitgebrachten Serviette mit nach Hause
gegeben wurden. Beider Bezeichnungen bediente sich der Dichter für seine
Distichen (zweizeilige Gedichtchen) die er als passende Devisen oder Ueber-
schnften für alle nur erdenklichen Geschenke verfertigte. Die 124 Xenien koste¬
ten bei Tryphon, dem Verleger, fünf Silbergroschen. und Martial meint scher¬
zend, der Buchhändler gewinne doch dabei fünfzig Procent. Es kam auch vor.
daß man eine Karte mit einer solchen Devise und dem Namen eines ver-
schenkbaren Gegenstandes beschrieben, allein übersandte; doch wird dies blos
unter guten Freunden als eine an unsere Neujahrskarten erinnernde Fopperei
stattgefunden haben, oder aus dem Grunde, welchen Martial selbst angibt;
Senden auch kannst Du dem Freund die Disticha statt des Geschenkes,
Wenn Dir so dünn, wie mir ist in der Börse das Geld.
Bei der Allgemeinheit der Sitte scheuten sich auch die Kaiser nicht vom
römischen Volke am Neujahrstage Geldgeschenke anzunehmen. Unter Augusts
Regierung scheinen anfangs alle Stände in Folge eines für die Gesundheit
des Kaisers geleisteten Gelübdes eine Collecte veranstaltet zu haben. Un-
gefähr in der Mitte des Forums lag ein eingefriedigter Platz mit einer drum-
»markigen Vertiefung, der sogenannte See des Curtius. wo einst ein tief
klaffender Schlund sich über dem edelsten Gute Roms, dem hochherzigen Jüng¬
linge M. Curtius, der sich in voller Rüstung auf glänzend geschmücktem Rosse
hinabstürzte, geschlossen haben sollte. Offenbar zur Nachahmung dieses
Opfers warf jeder dorthin für den Kaiser ein Geldstück, gewöhnlich einen Aß.
Später machte man ihm am ersten Januar auf dem Kapitale bald kleinere
bald größere Geschenke, die er persönlich in Empfang nahm. Augustus hütete
sich Wohl, diesen Sammlungen den Schein von Erpressungen zu geben und
verwendete die eingegangenen Summen zur Stiftung öffentlicher Kunstwerke.
Noch heute befindet sich zu Rom eine Marmorinschrift zu einem dem Vulcan
geweihten Denkmale, das er von dem am Neujahrstag des Jahres 9 n. Chr.
^'gekommenen Gelde hatte errichten lassen. Auch daß er nach den Berichten
der Biographen in Folge eines Traums an einem bestimmten Tage den
Bettler vor dem Volke spielte, ist eher aus dem Glauben zu erklären, daß durch
freiwillige Demüthigung die drohende Nemesis versöhnt werden könne, als für
eine geschickt erfundene Zwangssteuer anzusehen. Sein Nachfolger zeigte eine
glänzende Freigebigkeit, wo es die Noth erheischte; aber er haßte alle un¬
nöthigen Ausgaben und hatte daher schon zu Augusts Lebzeiten die durch die
Gegengeschenke verursachte Geldverschieudcrung getadelt. Selbst zur Regierung
gelangt wich er den Gratulanten aus. indem er den Neujahrmvrgen außerhalb
der Stadt zubrachte. Später fügte er sich doch zuweilen dem Herkommen,
nahm eigenhändig die Gaben in Empfang und schenkte dafür den vierfachen
Betrag. Als er aber durch die Zudringlichkeit solcher, die ihn am Neujahr
nicht getroffen hatten oder beim Gedränge nicht ankommen konnten, beinahe
den ganzen Monat über belästigt wurde, verbot er die Fortsetzung des Ge-
schenktausches über den ersten Januar hinaus, eine Maßregel, für die ihm
gewiß viele Dank wußten. Wie unwürdig benahm sich dagegen Caligula?
Sein Tigerherz konnte überhaupt des Blutes nicht genug fließen sehen, und
seine lewige Geldverlegenheit, eine Folge unsinniger Verschwendung, reizte
ihn leicht zum Morde reicher Leute, deren einziges Verbrechen dann ihr Ver¬
mögen war. Als endlich auch sein Versuch, aus Auripigment Gold zu machen,
fehlgeschlagen war, erniedrigte er sich soweit, daß er förmlich bekannt machte,
er werde am Neujahrstage die Sirenen in Empfang nehmen, und ließ wirt¬
lich im Vorhofe des Palastes stehend dieselben vor sich niederlegen. Daß
seinem Winke von Jedermann Folge geleistet wurde, und daß diese Pcters-
pfennige nicht blos aus abgeführten Assen bestanden, sieht man aus Sueton,
der darüber berichtet, es hätten alle Stände „mit vollen Händen.und Schößen"
gespendet! Von einer Gegengabe schweigt der Biograph. Selbst während
seiner Abwesenheit bezeigte der Senat dem leeren Sessel des Kaisers im ca-
pitolinischen Tempel seine Reverenz und legte das Neujahrsgeld vor demselben
nieder. Claudius machte diesen Erpressungen ein Ende und verbat sich alle
Ncujahrsgeschenke, ohne jedoch die Sitte selbst aufzuheben. Von dieser Zeit
ab erwähnen die Schriftsteller lange nichts von der Bcschcnkung der Kaiser,
und erst im vierten Jahrhunderte, unter den Briefen des Symmachus findet
sich ein Gratuiationsschreiben um die Cäsaren Valentinian den Zweiten und
Theodosius, nebst dem der Verfasser als Stadtpräfect im Namen des Nichter-
standes „die üblichen Opserschaalen mit je fünf Goldstücken" übersandte.
Wahrscheinlich bestanden diese Schaalen schon aus dem Pfund Gold, dessen
Darbringung mit den „probehaltiger Goldstücken" ein Gesetz der Kaiser Ho-
norius und Arkadius später gnädig gestattete. Erst der oströmische Kaiser Leo
der Erste hob dieses Angebinde auf. Dagegen dauerten auch die früher üb¬
lichen Gegengeschenke von Seiten der Kaiser fort, namentlich an die kaiserlichen
Beamten, für welche sie eine Art Besoldungstheil waren. So verschaffte unter
Gratian der Dichter Ausonius einem Freunde, der bei der Austheilung vergessen
wordeu war, dem Professor Ursulus in Trier, noch nachträglich sechs Lonis-
d'o<; in einer genauen Gehaltsspecisieativn des nachmaligen Kaisers Claudius
des Zweiten (2ti8 n. Chr.) als Legionsobcrsten figuriren anch unter dem
T>tel „Nenjahrsgeschenk" '17 ganze und KW Drittcllvnisd'or (damals Philipp-
d'or genannt) und zwar mit des regierenden Kaisers Bildnisse, und noch ein
Gesetz des Oströmers Anastasius verspricht die Nenjahrsgratification den Sach¬
waltern als Belohnung und „Trost."
Der Neujahrstag endete in Rom mit einem Schmause, den die Consuln
zur Feier ihres Amtsantritts den Behörden und Senatoren ans dem Capitale
gaöcn. Dabei ging es hoch her und Plinius hat uns sogar die Namen der
Weinsorten aufbewahrt, die Cäsar seinen Gästen bei dieser Gelegenheit vor¬
gesetzt hat. nämlich Falerner (aus Campanien). Chier. Lcsvier. Mamertiner
(Sicilien). Unter den spätern Kaisern scheint dieses Mahl auf kaiserliche
Kosten gegeben morden zu sein. Die prächtigen Spiele, welche die Consuln
»u veranstalten verpflichtet waren, begannen erst am dritten Januar, wo auch
feierliche Gebete und Gelübde für des Kaisers Wohl stattfanden, und dauer¬
ten oft bis in den Februar hinein.
Die alte christliche Kirche, die sonst so gern den heidnischen Festzeiten
eine neue religiöse Weihe gab. eiferte heftig gegen die Geschenke. Tänze und
Mahlzeiten am Neujahrstage. zumal da sie den Anfang des Kirchenjahres
weiter zurück verlegt hatte. - Dennoch hat sich der Gebrauch der strenae be¬
kanntlich bis heute in Paris erhalten lM-erwos) und auch in Italien werden
dieselben noch unter dem Namen Befana (aus Epiphanias korrumpirt) am
Dreikönigsfeste den Kindern gegeben, die im Glauben, an eine Santa Besann
am Abende zuvor ihre Kleider in die Hausflur hängen, um sich von ihr die
Taschen füllen zu lassen. Die Saturnalien dagegen sind wegen des Geburts-
festes Christi weiter hinausgerückt worden und finden im heutigen Carneval
Es schien vor einiger Zeit, als ab die alten Deklamationen der „Demokraten"
gegen die „Mlibcralen" oder „Constitutionellen" und umgekehrt, angesichts der ver-
änderten Zeitumstände aufgegeben oder wenigstens vertagt werden sollten; als ob alle
Nuancen der liberalen Partei sich gegen die Reaction sowol als gegen die Schlaff¬
heit zu cinmüthigem Kampf zusammenfanden. Zufällige Aeußerungen — des Gra¬
fen Schwerin gegen Schulze-Deutsch, des Herrn v. Beckerath gegen Waldeck — haben
die alten Reminiscenzen wieder hervorgerufen. Es scheint uns das höchst unzweckmäßig,
und wir möchten gern dazu beitragen, durch eine unbefangene Kritik der politischen
Stichwörter diesem unnützen Wortgefecht vorzubeugen.
Nicht als ob wir den Kampf überhaupt scheuten. Es ist möglich, daß auch
in Bezug auf die obwaltenden Umstände die liberale Partei einmal wieder auseinander
geht, es ist möglich, daß die Personen sich wieder ähnlich gruppiren wie vor zehn
oder zwölf Jahren. Das wird aber abzuwarten sein: vorläufig findet eine solche
Trennung nicht statt, und für den Augenblick sind jene Reminiscenzen nichts als
Chimären.
Chimären, Gespenster, Phantasmagorien sind ungeachtet ihrer Lustigkeit nicht
unschädlich. Für den, der fest auf sie Hinsicht, verschwinden sie freilich; aber die
Menge ist oft zu träge oder zu furchtsam, die Augen aufzumachen.
Politische Stichwörter geben dem Gedächtniß einen leichten Anhalt, sie sind also
für die Menge bequem; außerdem^ dienen sie dem Volkswitz, sich als mythcnbildende
Substanz zu entfalten und Typen zu schaffen, die den unbefangenen Blick in die
Wirklichkeit verwirren. Die Menge — die als solche keiner Partei angehört, son¬
dern als Publicum mit den Gegensätzen spielen will — schöpft ihre Vorstellungen
aus den Mythen des Volkswitzes. Für die Menge sind die Begriffe „Demokrat"
und „Altlibcral" durch die fliegenden Blätter symbolisirt; Wühlhubcr, Hculmaycr.
Jeder Demokrat ist ein Wühlhubcr, jeder Altlibcralc ein Hculmaycr. Dort ein Strolch
mit großer Brille, ungeheuerm Bart, altdeutsch ein Rock, Kanonenstiefeln, ungcladenc
Pistolen im Gürtel; hier ein bekümmertes Männchen mit langer Nase, Nachtmütze,
Pantoffeln u. s. w. — Man geht mit seinem Nächsten friedfertig um, findet ihn
als Person ganz liebenswürdig, in seinen Ansichten voll Verstand: sobald man aber
erfährt, er ist Demokrat oder Altlibcral, so drängt sich das Bild aus den fliegende»
Blättern zwischen die Augen und die Realität; der wirkliche Mensch verwandelt sich
in ein Symbol, eine Chimäre, und die natürlichen Beziehungen hören auf.
Freilich ist die Vergangenheit sehr wichtig, den Charakter und Verstand eines
Mannes aufzudecken dem mau sein Vertrauen für die Zukunft schenken soll. Be¬
vor ich einem Candidaten meine Stimme gebe, werde ich zuerst zu erfahren suchen,
wie er sich früher in kritischen Zeiten benommen hat. Aber das muß individuell
geschehen; ich muß mir erst die Typen Wühlhubcr und Hculmaycr aus dem Kopf
schlagen, wenn ich den menschlichen, den bleibenden Kern des Charakters prüfen und
mir ein Urtheil über das bilden will, was ich von ihm zu erwarten habe.
Die Spaltung der beiden Parteien im Großen und Ganzen — von der
localen Gruppirung, die sehr viel dazu beigetragen hat, das Urtheil zu verwirren,
reden wir hier nicht — fand theils in Frankfurt, theils in Berlin statt; an bei-
den Orten aus sehr verschiedenen Gründen.
In Berlin bestimmte der Gcwciltschritt des Ministeriums Manteuffel gegen die
Nationalversammlung diejenige Partei, die fortan die demokratische genannt wurde,
an dem Rechtsboden der Nationalversammlung festzuhalten, die octroyiren Ver-
fassung nicht gelten zu lassen, und, als ein neues Wahlgesetz octroyirt wurde, sich
von den parlamentarischen Wahlen überhaupt auszuschließen. Der andere Theil der
liberalen Partei dagegen fand es unter den obwaltenden Umständen zweckmäßig,
den Rechtsboden fallen zu lassen und sieh auf den Boden der Regierung zu stellen,
um aus demselben für das wirkliche Zustandekommen einer Verfassung zu wirken.
Das war damals ein sehr wichtiger Gegensatz; wer aber von den beiden Par¬
teien unter den damaligen Umständen recht hatte, dieser Untersuchung können wir
uns heute völlig überheben, da der Gegensatz nicht mehr besteht. Die „Demokraten"
haben ihren Rechtsboden aufgegeben, sie haben nach dem octroyirtcu Wahlgesetz ge¬
wählt; und wenn sie etwa zu dem alten zurückzukehren gedenken, so wollen sie das
auf gesetzlichem Boden, d. h. auf dem Boden der jetzt zu Recht bestehenden Ver¬
fassung. Für das gegenwärtige Wahlgesetz schwärmt wol niemand in Preußen; eine
Reform desselben wird von beiden Seiten gewünscht werden, wenn auch für den
Augenblick ungleich wichtigere Dinge in Frage kommen.
In Frankfurt handelte es sich um eine» ganz andern Gegensatz. Die Linke
wollte die preußische Monarchie durch die allgemeine Demokratie desorganisiren; das
Centrum wollte den organisirten preußischen Staat an die Spitze von Deutschland
stellen. Das war für alle Denkenden der Punkt, auf den alles ankam, gegen den
alle übrigen Fragen von secundärer Wichtigkeit waren. In Frankfurt handelte es
sich darum, Preußen mit seinem gesammten Lebensinhalt gegen seine Feinde zu
vertheidigen, selbst wenn man mitunter eine schlechte Regierung, die doch einmal
das einzige Organ des Staats war, zu vertheidigen hatte. Die Aufgabe des Libe¬
ralismus in Frankfurt war eine ganz andere als in Berlin; leider war zwischen
beiden Orten wenig Zusammenhang, und als die Aufgabe hier wie dort gescheitert
war, mußten die Typen der fliegenden Blätter den Mangel an wirklichen Begriffen
ersetzen.
Auch dieser Gegensatz hat aufgehört. Derjenige Theil der Demokratie, welcher
sich im Nntionalvcrein zusammengeschlossen hat, steht mit uus wesentlich ans gleichem
Boden. Zwar ist der Ausdruck seiner Ueberzeugungen noch nicht ganz deutlich und
zusammenhängend, aber wir, als Partei, haben keinen Grund, ihm deshalb Vor¬
würfe zu machen, denn was in Frankfurt, Gotha, Erfurt u. s. w. beschlossen wurde,
ließ an Bestimmtheit anch noch sehr viel zu.wünschen übrig. Die Strömung geht
jetzt nicht gegen einander, sondern mit einander, und das ist die Hauptsache.
Als vor zwei Jahren die Betheiligung der Demokraten an den Wahlen
eine allgemeine wurde, hatten die bisherigen Demokraten, die in der Hauptsache die
Candidaten der bisherigen parlamentarischen Opposition unterstützten, die Erwartung,
auch einige ihrer speciellen Freunde in den preußischen Landtag zu bringen.
Diese Erwartung war gerecht.
Zwar wäre es besser gewesen, wenn man sich von beiden Seiten hätte einigen,
d. h. wenn man Kandidaten hätte finden können, die den vernünftigen Ansprüchen
der Gemäßigten auf beiden Seiten gleichmäßig genügte»! Candidaten, ebenso rück¬
sichtslos gegen die Reaction als gegen die Menge.
Wo das aber nicht anging, war es billig, daß ein Compromiß stattfand: daß
in einem Augenblick, wo es ausschließlich darauf ankam, mit der Anarchie und Will¬
kür aufzuräumen, die bisher unter der Firma der Reaction gewaltet, nach gemein-
seinen Uebereinkommen, je nach dem Verhältniß der Wähler, von der einen wie von
der andern Seite Candidaten genommen wurden.
Ein solches Kompromiß war nicht nnr gerechtfertigt, wo es sich um den Kampf
gegen einen gemeinschaftlichen, übermächtigen Feind handelte, sondern die bisherige
parlamentarische Opposition - oder wenn man will, die altlibcralc Partei — hatte
in ihrem eignen Interesse dringend zu wünschen, daß nicht blos ihre Kandidaten be¬
rücksichtigt würden.
Der Landtag soll ein möglich treues Bild des Landes geben. Das that er
nicht vor zwei Jahren, das thut er noch heute nicht. Die bisherige parlamentarische
Opposition gehört nicht auf die Linke, sondern ins Centrum. Der eigentlichen
Reaction muß ein Gegengewicht in einer wirtlichen Linken gegeben werden; Ger¬
lach muß Waldeck sich gegenüber haben. Auch heute noch sind wir den Theorien,
nach welchen Waldeck den preußischen Staat reformiren wollte, entschieden abhold,
(beiläufig, ein sogenannter „Demokrat", Herr von Unruh, hat sich nach den
Staatsstreichen ebenso ausgedrückt); aber wir wünschen, daß er in die Kammer
kommt, ebenso wie wir es von Herrn v. Gerlach wünschen. Denn es ist gut, daß
eine wirklich vorhandene Volksstimmung die möglichst angemessenen und würdigen
Vertreter sendet; ohne allseitigen Kampf versumpft das politische Leben.
Viel wichtiger aber ist ein zweiter Punkt. Die altlibcralc Partei bedarf nicht
blos einer Folie, einer wirklichen Linken, um an den Platz zu rücken, wohin sie
gehört, ins Centrum; sondern sie bedarf sehr dringend einer innern Ergänzung. —
Die Demokraten haben durch ihre sechsjährige Unthätigkeit den Nachtheil, die Uebung
der parlamentarischen Praxis verloren zu haben; sie waren außerdem mehr oder
minder in Gefahr, die Zustände von der schlimmsten Seite aufzufassen, und da sie
von dem gesetzlichen Kampf keine Wirkung sahen, auf ein unerwartetes Ereignis; zu
harren, das wie ein Leus ex nmelüim das frciheitsdurstigc Deutschland befriedigen sollte.
— Die Gefahr war groß und manche sind ihr erlegen. — Aber auch die Stellung
der bisherigen parlamentarischen Opposition war nicht ohne Gefahr. Sie hatte das
gerechte Gefühl, in der Zeit der Reaction an dem einzigen Platz, wo freies Wort
vergönnt war, ihre Pflicht gethan, d.h. geredet zu haben; sie empfand diese Pflicht¬
erfüllung mit einem gewissen Behagen, und es hatte sich ihrer eine Gemüthlichkeit bemäch¬
tigt, die in der Politik bald dahin führt, die Charaktere zu verbrauchen. Sie war
theilweise in den fruchtlosen Debatten wirklich alt geworden.
Alles hoffte auf die neue Regentschaft. Es geschah mehr als man erwartete.
Nicht nur wurde der bisherige Druck, der auf dem Lande gelastet, so gut es in der
Eile ging, abgestellt, sondern die Regierung wurde wenigstens theilweise den Führern
der bisherigen Opposition in die Hand gegeben. Den Vorgang des englischen Par¬
laments vor Augen, setzte sich die Opposition als nunmehrige „ministerielle Partei"
auf die rechte Seite.
Schon damals schien uns diese Nachahmung der Briten bedenklich. Zwischen
der preußischen und der englischen Verfassung ist doch noch ein sehr großer Unter¬
schied. Wenn in England ein Ministerium gestürzt wird, fallen mit ihm zugleich
eine Reihe anderer Staatsbeamten; die siegreiche Partei nimmt die ledigen Posten
ein. — Das war bei uns schon darum nicht zu erwarten, weil die Opposition im
Ganzen mehr parlamentarisch, als geschäftlich geschult war: mehr im Reden als
im Amt.
Die preußische Bureaukratie war seit zehn Jahren freilich auf eine sehr bedenk¬
liche Weise in das Parteitrciben hineingezogen; aber sie war doch nicht durch und
durch der alten Lebensatmosphäre Preußens entfremdet; nicht durch und durch von
der Seuche der Krcuzzcituugspartei angesteckt. Wäre es möglich gewesen, thätige
Beamte zu finden, welche sich von dem bisherigen Unwesen rein gehalten, und ent¬
schlossen waren, im Geist der „ucucnNcra" zu wirken, so wäre die nächste Aufgabe
derselben, nämlich auszuräumen, vielleicht schneller durchgeführt worden.
Denn die neuen Minister — soweit sie nicht, wie z> B. Herrn von Patow, aus
dem Bcamtcnkreise hervorgingen — waren in einer sehr mißlichen Lage. — Einmal
empfanden sie es als einen sehr großen Entschluß des Prinzen, sie zu berufen; ihr
Zartgefühl sagte ihnen, daß sie diesen Entschluß so wenig als möglich trüben dürf¬
ten; der Prinz dürfte ja nicht auf den Argwohn gerathen, es solle ein neuer Um¬
sturz erfolgen; ihre Feinde und Neider sollten beschämt werden, wenn sie ihnen re¬
volutionäre Absichten zutrauten. — Dazu kam der Mangel an geschäftlicher Uebung.
So entschieden im Parlament der Redner die alte Bureaukratie angreift, im Ge¬
schäft imponirt sie ihm doch: sie hat die Routine für sich, sie weiß jeden starken
Entschluß durch eine Masse von Paragraphen abzudämpfen; es ist schwer, mit diesen
alten Beamten zu regieren, aber auch schwer, sie zu entbehren, denn sie wissen über
alles Auskunft zu geben.
Es fällt uns nicht ein, diese Haltung als nothwendig zu bezeichnen, aber
sie war zu befürchten, wenn man die Persönlichkeiten kannte, und kurz — es ist
wirklich so gekommen.
Die letzten Ereignisse haben gezeigt, daß es so nicht weiter fortgeht. —
Es steht eine europäische Krisis bevor, in der Preußen, wenn es nicht fallen soll,
von festen Händen geleitet werden muß. Das Ministerium hat die Initiative nicht
zu ergreifen gewußt, der Landtag muß sie jetzt ergreifen im Interesse des Staats,
im Interesse der Krone.
„Aber man stellt damit den Fortbestand der jetzigen „liberalen" Regierung in
Frage." — So sagt man seit zwei Jahren. — „Wenn der Landtag dem Ministe¬
rium sein Vertrauen entzieht, so dankt es ab, und die feudale Partei ergreift wieder
das Ruder."
Wir glauben es nicht. Was die feudale Partei in zehn Jahren geleistet hat,
und was sie zu leisten fähig ist, weiß alle Welt; vielleicht niemand besser als das
Oberhaupt des Staats. — Wenn einer oder der andere unter den gegenwärtigen Mi¬
nistern durch zu lebhaftes „Drängen" des Landtags sein Zartgefühl verletzt glaubt,
so wird sich ein andrer finden, der aus härterem Stoff gemacht ist. Und ein här¬
terer Stoff ist zu wünschen.
Aber auch wenn es möglich wäre! — Es gibt ein ernsteres, heiligeres Gut, das
wir alle, jeder Bürger gleichmäßig, nach Kräften zu bewahren verpflichtet sind, ein
heiligeres Gut als die augenblickliche Behaglichkeit der Zustände- es ist das sittliche
Bewußtsein des Volks. — Lassen wir es noch länger in dumpfer Erwartung er¬
lahmen, so ist Gefahr vorhanden, daß seine Kräfte mehr und mehr absterben: und
mit ihnen die Hoffnung unserer Zukunft, die Hoffnung und der Glaube Deutsch¬
lands. — Noch nie hat ein Volk sich aus ungesunden Zuständen erhoben, ohne eine
peinliche, mitunter unschöne Anstrengung; je ernster und energischer wir uns dazu
entschließen, desto schneller wird mit der 5least des Landes auch der Glanz der Krone
hergestellt, der unser Stolz ist, der Glanz der Krone Friedrich des Großen,
Papstthum und Nationaltirche. Eine kirchenrcchtlichc Studie von Prof. Mur^
zingcr. — Bern, Dclp. — Auch in dieser kleinen Schrift wird Wcssenbergs mit
gerechter Anerkennung gedacht. — Die Studie ist einem größer» Leserkreise zu em¬
pfehlen, denn die 'ultramontane Partei ist unermüdlich geschäftig, eine Thatsache die
für den Kenner der Geschichte freilich nichts neues enthält, die Thatsache nämlich,
daß päpstliche Allgewalt und Katholicismus keineswegs zusammenfallen, immer von
neuem zu vertuschen und den Menschen aus dem Gedächtniß zu bringen. Die An-
erkennung dieser Thatsache schließt aber eine der wichtigsten und schwersten Fragen
unserer Zukunft eim was soll aus der katholischen Kirche werden, wenn der Papst
aufhört, weltlicher Souverän zu sein? Im Lauf der Zeit kann es leicht dahin kom¬
men, und uns Deutschen kann es keineswegs gleichgiltig sein, wenn das geistliche
Oberhaupt einer bei uns lcgitimirtcn Kirche einem fremden Staatsverband angehört.
Der Uebertritt zum Protestantismus in großer Masse ist nicht zu erwarten, da Cul-
turformcn und Sitten eine schwer zu übersteigende Scheidewand gezogen haben: um
so wichtiger ist es, unsere deutschen Katholiken an den Gedanken zu gewöhnen, daß
sic einmal eine deutsche Nationalkirchc zu bilden bilden, die durch ihre eigne Schwere
besteht und nicht den Schwerpunkt jenseit der Berge sucht. Friede mit der katholischen
Kirche, unablässigen Kampf gegen den Uitrcnnontanismus! das ist eins der ersten
Losungsworte unserer Zukunft.
Eine vor kurzem in Paris und Genf bei Cherbuliez erschienene anonyme
Broschüre „les me6rues ouropSeus en IWIie" zieht mit Recht die Aufmerk¬
samkeit auf sich. Es ist ein öffentliches Geheimniß, daß sie den jüngst ver-
abschicdetctcn russischen Gesandten zu Frankfurt, Herrn von Fonton zum Ver¬
fasser hat, und es lohnt der Mühe, sich zu überzeugen, wie ein russischer
Staatsmann die Vorgänge in^ Italien beurtheilt und welche Mittel er zur
Lösung der italienischen Frage angibt.
Die Schrift beginnt mit dem Satze, daß Europa sich mit der Aufstellung
des Princips der Nichtintervention in Italien übereilt habe, und daß es auf
sein Recht, die italienischen Angelegenheiten im Sinne des europäischen Gleich¬
gewichts und allgemeinen Interesses zu ordnen, zurückkommen müsse. Dieses
Recht habe Europa aus dem Wiener Kongresse geübt, da die Italiener sich
unfähig gezeigt hätten, die französischen Herrschaft fern zu halten.
Diesen Zweck zu erreichen, theilte man Oestreich eine Stellung in der
Halbinsel zu, die, weise genützt, die Interessen Italiens und Europas com-
biniren sollte. Allein Oestreich verkannte diese Ausgabe vollkommen; statt sich
zur ersten italienischen Macht zu machen, brachte es durch eine fortgesetzte
Mißregierung und zahlreiche politische Mißgriffe die Nothwendigkeit der Frei¬
heitsbestrebungen herbei. Die Darstellung dieser östreichischen Fehlgriffe in
großen Zügen ist vortrefflich gelungen. Nicht minder klar ist die Stellung
gezeichnet, welche England in der italienischen Politik einnahm. England
hatte dabei nur Ein Streben: dem französischen Einflüsse entgegenzuarbeiten,
wo möglich ihm im voraus das Terrain zu verderben. Daher die schwan¬
kende Haltung Englands in den verschiedensten Krisen und Conflicten; be¬
sonders das brüske Auftreten für die nationale Bewegung im Jahre 1847 und
1848 und das Ausgeben desselben, sobald Frankreich durch innere Bewegungen
abgehalten ward, sich principaliter um Italien zu kümmern.
Trotz, oder in Folge, der östreichischen Siege und Uebergewalt wuchs die
nationale Bewegung in Italien. Der orientalische Krieg isolirte Oestreich;
ein Anschluß an den Westen hätte seine italienische Position retten können.
Allein es blieb in seiner schroffen Zurückhaltung. Der vorjährige Krieg er¬
folgte, beraubte es der Lombardei und vernichtete seine italienischen Alliir-
ten. Dem Frieden folgte nicht die Ausführung, die mittclitalienischen Für¬
sten wurde nicht restaurirt, der Papst verlor den größten Theil seines Landes
und der König von Neapel seinen Thron.
Italien ist in einem chaotischen Zustande, und die europäischen Interessen
sind dort dem Zufall Preis gegeben. Es ist Europas Aufgabe bei der Her¬
stellung der Ordnung darauf zu sehen, daß das Gleichgewicht nicht zu Gun¬
sten irgend einer dritten Macht gestört werde.
Obgleich im Einzelnen sich gegen die Auffassung des russischen Staats¬
mannes Einwendungen machen lassen, ist die historische Entwicklung bis
hierher im Ganzen klar und sachgemäß und ihr Resultat die Verdammung
des östreichischen Systems in Italien.
Minder glücklich scheint uns dagegen der Versuch, eine Lösung der gegen¬
wärtigen Verwicklungen anzugeben.
Der Verfasser läßt dahingestellt, ob eine Konföderation im Sinn des
Friedens von Villafranca oder eine solche zu dreien — Sardinien, Papst und
Neapel — noch möglich sei. Aber selbst für den Fall, daß sie möglich gewesen
wäre, oder noch wäre, fordert er sür ihre Existenz und besonders für ihre Neu¬
tralität die Garantie Europas. Die Stellung dieser Bedingung halten wir
aber für das Bekenntniß, daß jene Art der Lösung falsch wäre.
Die Neutralität eines großen Staatskörpers ist seine Neutralisation; man
hat aber nicht die Mittel, einer zahlreichen gebildeten Nation ihre Action auf
die allgemeine Politik zu entziehn, noch kann diese den Willen haben, sich in
Passivität zu fügen. Es ist zu bezweifeln, ob die für kleinere Staaten vom
europäischen Areopag decretiren Neutralität in einer sie näher angehenden
Krise die Probe bestehen wird, und ob die Aufstellung dieser Theorie über¬
all praktischen Werth hat. Findet man für große Staatsverhältnisse keine
andere Bedingung ihrer innern und äußern Entwicklung und Sicherheit, so
muß ihre Constituirung eben falsch sein, weil dem betreffenden' Staate oder
Staatencomplex von vornherein der Charakter der Selbstbestimmung genommen
wird. '
Glaubt man aber wirklich, daß es möglich sei, einen großen Staat
neutral zu machen, so erkläre mau doch lieber gleich ganz Europa sür neu¬
tral. Zu welchen Widersprüchen und Absurdititäten würde aber nicht selbst
dieser ewige Frieden, dies Erstarren des Unfertigen und Mangelhaften führen?
Denn leider, bei dem jetzigen Zustande der Dinge ist der Krieg (oder die
Furcht davor) der Civilisator der Menschheit. Die Dreitheilung insbesondere
betreffend, so würde der Norden »in so entschiedenes moralisches und materielles
Uebergewicht über den Rest ausgeübt haben, daß an keine Stabilität der Ver¬
hältnisse zu denken gewesen wäre. Das kleine Sardinien hat die ganze Halb¬
insel fortgerissen; ein großes Sardinien würde sie selbst in gewöhnlichen Zei¬
ten dominirt und den diplomatischen Plan ruhigen Ncbeneinanderbestchens
arg durchkreuzt haben.
Herr von Fontvn neigt sich denn auch sichtlich der Lösung durch die
Einigung Italiens zu einem einheitlichen Staate zu. Die Sorge um das
europäische Gleichgewicht läßt ihm aber nicht Ruhe dabei. Er fordert Be¬
dingungen für dasselbe auch von dem einigen Italien.
Der Verfasser verlangt also, daß Italien italienisch sei, daß es Alliirte,
aber keine Herren habe, daß Rom die Hauptstadt, der Papst säcularisirt werde.
Er spricht mit Zuversicht von dem friedlichen Zusammenleben von Papst
und König. Wir halten dies für einen ebenso frommen Wunsch, wie die
Beglückung Italiens durch die Metternichsche Einteilung (um darauf
nachträglich zurückzuweisen). In einem königlichen Rom ist kein Raum
für einen römischen Papst und kein Ort für eine Reformation der römischen
Kirche. Die Frage, wie das Papstthum außer Rom zu constituiren wäre,
führte uns zu weit, lassen wir sie also hier bei Seite.
Das neue Reich soll nun aber seine Nachbarn nicht bedrohn! Bis jetzt
ist das schwache Italien immer von seinen Nachbarn bedroht worden; gegen
sie bedarf es der Concentrirung. Doch hören wir, wer denn der bedrohte
Nachbar sei? Die Türkei. Welch eminenter Widerspruch mit der früheren Forde¬
rung und allen geographischen Begriffen! Um die Türkei zu sichern muß Vene¬
dig östreichisch bleiben!
Wir vermögen nicht in Venetien das Glacis deutscher Sicherheit zu er¬
blicken; aber wir verstehen doch, warum man in Wien und andern Orten es
dafür ausgibt. Es aber als die Vormauer von Constnntinopel anzusehen,
liegt doch etwas gar zu weit ab von dem Wege natürlich gegebener politi¬
scher Combination. Liegt denn nicht Oestreich, Ungarn, Dalmatien zwischen
Italien und der Türkei? Was heißt diese Furcht anders als was wir oben
sagten, daß man Italien im Allgemeinen neutralisiren und es feder Action
ans die politischen Dinge in Europa nah und fern, berauben wolle? Hat man
denn vergessen, (oder ist es etwa die Rancüne dagegen) daß das kleine Pie-
mont in das Rad der Geschichte eingegriffen hat?
Und vermag denn Italien ohne Venedig unabhängig (im Sinne des
Verfassers neutral) zu bleiben, vermag es in kritischen ZeiKn (und auf diese,
nicht ans friedliche kommt es an) sich gegen Oestreich zu halten, wenn dessen
Heere in seinem Herzen stehen? Venedig bei Oestreich ist eine stete Drohung,
ein steter Anlaß zu Krieg; es ist ein steter Zwang zur französischen Allianz
und Abhängigkeit — denn wo eine Allianz nicht frei ist, artet sie in Ab¬
hängigkeit aus. Dieser Zwang ist um so größer, je fester Oestreich in Vene¬
dig etwa durch europäische Garantien gesetzt wird, weil die Hoffnung auf
anderen Wege sich Oestreichs zu erwehren schwindet.
Oestreich als Glied eines vielgetheilten Italiens möchte Frankreichs Ein¬
fluß fern halten, wenn es mit Mäßigung und Wohlwollen zu Werke ginge.
Oestreich im Besitz einer Provinz, die allein losgerissen bleibt von dem einigen
Mutterlande, kann nur durch Gewalt Einfluß erstreben oder haben — so hätte
denn Italien wieder nur Herren in seinen Feinden oder in seinen Freunden.
Soll und muß Italien eins sein, so bedarf es Venedigs, zu seinem
Schutze und als Bedingung seiner Unabhängigkeit, also auch des europäischen
Gleichgewichts. Das Viereck ist eine Aggression gegen Italien, nicht gegen
die Alpen, nicht gegen den Orient. Allerdings wird Italien im Orient eine
Rolle spielen; jedoch nicht als Eroberer, sondern einfach in gleicher Weise wie
die übrigen Mächte berufen, das allgemeine Dasein wie sein eignes Interesse
zu wahren. Aber es wird diese Rolle als Seemacht zu übernehmen haben,
zu der es sich nothwendig entwickeln wird. Für seine Flotten aber ist ihm
nach Osten nicht Venedig, sondern Ancona als Basis gegeben.
Nicht blos im Orient, sondern im Allgemeinen wird das Gleichgewicht
der europäischen Staaten durch den Zutritt einer Großmacht in mancher Hin¬
sicht geändert und seine Gesetze modificirt werden. Damit aber die Zunge
der Wage zu Ruhe komme, ist die erste Bedingung, daß dieses neue Element
möglichst fertig und abgeschlossen sei. Will man es in seinen natürlichen
Rechten, in den Grundbedingungen seiner politischen Existenz und Selbstbe¬
stimmung verkümmern, so werden daraus nur fortgesetzte Bewegungen hervor¬
gehen, die die Ruhe des Ganzen fortwährend compromittiren.
Die willkürliche Zerstückelung der Nationen, die Theilung dessen, was
vernünftigerweise zusammengehört, ist die Hauptursache des Krieges in unsern
Tagen. Europa sollte sich allseitig Glück wünschen dazu, daß die Umstände
die zerrissenen Theile Italiens wieder zu einem lebensfähigen Staate verewigen,
und die Chancen des Unfriedens, die Ursachen zu Eifersucht, Einmischung,
Selbsthilfe wesentlich vermindern.
Und Oestreich? Wenn Oestreich überall für die Zukunft eine staatliche
Bestimmung hat und sie erfüllen will, so wird es ohne Venedig derselben
besser entsprechen als mit Venedig. Wie Italien ohne Venedig unfrei d. h.
auf Frankreich angewiesen ist, so ist auch Oestreich mit Venedig unfrei d. h.
der natürliche Feind Italiens, und dadurch abgelenkt von seiner Ausgabe im
Osten, der einzigen, welche es im Interesse Europas verfolgen kann.
Die Abtretung Venedigs an Italien bringt hiernach wahrscheinlich zwei
freie Concurrenten auf den Schauplatz der orientalischen Politik und Rußland
würde sich die Erbschaft der Sultane mehr und mehr entgleiten sehen.
Die Bemerkung, welche der Verfasser im Eifer für die russischen Pläne
im Osten ausgesprochen hat, veranlaßte uns zu dieser Darlegung. Die
russische Politik hat ein Interesse, ein stärkeres Italien zu schaffen, als stärkere
Hemmung Oestreichs; aber sie hat auch die Neigung zwischen beiden den
Erisapfel zu lassen, welcher sie untereinander ewig entzweit und beiden die
freie Hand uach dem Terrain hin bindet, welches Rußland allein für sich be¬
bauen und dereinst besetzen möchte. Dies zu zeigen, schien uns nützlich.
Andrerseits aber mußten wir darauf hindeuten, wie mit der gründlichen Hei¬
lung des italienischen Schadens sich die Situation auch an andern Stellen
klärt und die Politik in vernünftigere Richtungen gelenkt wird.
Abgesehen nun aber von diesem Mißton in der Deduction des Verfassers.,
müssen wir darauf aufmerksam machen, daß derselbe zu dem Satze von der
Unabhängigkeit und Freiheit Italiens vom Standpunkte des europäischen
Gleichgewichts gelangt. Vom Rechte der Italiener, von ihrer Befähigung sich selbst
zu regieren, von ihrem Bedürfniß nach Wohlergehen, von den Wohlthaten,
die ein gedeihendes Stnatslebcn in dem Apcnninenlande für seine Nachbarn mit
sich bringen wird, ist in der ganzen Schrift nicht die Rede. Wir machen dem
Verfasser daraus keinen Vorwurf; nach dem Titel hatte er sich nur vorge¬
nommen von den europäischen Interessen in Italien, nicht von den Interessen
Italiens zu Haus und in Europa zu sprechen.
Es freut uns also zu sehen, daß die kaltbcrechnende Cnbinetspolitik mit
den Forderungen der Humanität und Civilisation und den Sympathien der
Volker im Wesen übereinstimmt. Wiederholt aber wollen wir darauf hin¬
weisen, daß die Großmacht Italien aus die Gestaltung des cmopäischen
Gleichgewichts von jetzt ab einen großen Einfluß üben und.daß man in Zu¬
kunft auch darnach wird fragen müssen, was Italien wünscht und will.
So unbequem und unangenehm dies manchem Staatsmann sein mag,
sie werden doch alle wohlthun, bei Zeiten sich daran zu gewöhnen, mit diesem
neue» Factor und zwar nicht als einem passiven, sondern activen zu rechnen.
Itzehoe. Den 23. Dec. Indem ich im Folgenden den Versuch mache,
Ihrem Wunsch nach einer Charakteristik der neugewählten Stunde* nachzu¬
kommen, bedauere ich, jetzt nicht vollständiger über die einzelnen Persönlich¬
keiten berichten zu können, da die Mehrzahl unserer neuen Abgeordneten der öffent¬
lichen Meinung außerhalb ihres Wählerkrciscs vollkommen unbekannt ist und
sich höchstens über deren politische Gesinnung, nicht aber über ihre politische
Befähigung mit einiger Sicherheit urtheilen läßt. In Betreff der mir be¬
kannten Deputirten vermied ich sorgfältig jemand Unrecht zu thun, und so
ist es möglich, daß einer oder der andere meine Voraussetzungen nicht völlig
rechtfertigt. Im Allgemeinen ist von der Versammlung Gutes zu hoffen.
Sobald die Stände zusammengetreten sind und ich die Bekanntschaft der Ein¬
zelnen gemacht habe, berichte ich Genaueres. Ebenso erhalten Sie nach Be¬
endigung der Wahlen in Schleswig eine ausführliche Charakteristik der dor¬
tigen Abgeordneten. Bis jetzt läßt sich von der Physiognomie der zukünftigen
schleswigschen Stände nur das Eine sagen, daß trotz aller Schamlosigkeiten
der Wahldirectionen dem deutschen Interesse die Majorität gesichert ist, wenn
auch keine so große als bei den letzten Wahlen.
Das Resultat der holstcincr Wahlen ist ein sehr bedeutender Personen¬
wechsel gewesen. Unter den 51 Abgeordneten befinden sich 29, unter den 51
Stellvertretern 36^ die im itzehoer Ständesaal noch nicht mit getagt haben.
Namentlich die bäuerlichen Landbesitzer haben fast lauter neue Leute (lZ von 1K)
gewählt, und ebenso befinden sich unter den 14 städtischen Abgeordneten 8
neue Namen. ^
Ich beginne mit dem Vertreter der Virilstimmc des Prinzen Wilhelm zu
Hessen. Der Prinz ist dänischer General und Schwiegervater des designirter
Thronfolgers Prinz Christian, und seine Nirilstimme kommt ihm wegen der
fürstlich hessensteinschen Fideicommißgütcr zu. Er ließ sich in der letzten Wahl¬
periode von dem Kammerherrn v. Buchwald auf Helmstorf vertreten, der sich
als treuer Anhänger der alten Landesrechte bewährte. Daß der Prinz jetzt
einem Andern seine Stimme übertragen hat, ist kein gutes Zeichen, und so
werden wir 5>en Kammerherrn v. Levetzow vorläufig auf die Seite der un-
deutschen Partei stellen müssen.
Die fünf geistlichen Wahlbezirke haben in Klosterprediger Versmann von
Itzehoe, Propst Balemann von Oldenburg und Klosterprcdiger Broker von
Uetersen frühere, in Pastor Simonsen von Lunden und Archidiakonus Schrö¬
der von Kiel neue Vertreter gesandt. Jene stimmten in der letzten Session
mit der Majorität/ diese dürften gleiche Ueberzeugungen aussprechen. Die
Geistlichen haben aber noch eine besondere Aufgabe. Simonsen und Schrader
waren beide früher in Nord- und Mittelschleswig angestellt und kennen die
dortigen Sprachverhältnisse. Von ihrem apostolischen Eifer hofft man, daß-
sie die in Schleswig zerstörte, seit 1542 für beide Herzogtümer gegebene Schles-
wig-holsteinische Kirchenordnung dort wieder zur Geltung^ zu bringen bemüht
sein und in dieser Richtung auf die drei Amtsbruder im itzehoer Ständesaal an¬
regend wirken werden. Denn letztere haben zwar in der Ständeversammlung
von 1859 den in Mittelschleswig vom Sprachzwang heimgesuchten Gemeinden
ihre Theilnahme bezeugt, aber keine dahin zielenden Anträge gestellt. Es ist
für den Geistlichen nicht genug, zu constatiren, daß in Schleswig „das Reich
Gottes Gewalt leidet". Der ausgezeichnete Kanzelredner und Seelsorger Vers¬
mann, 'der sich so eifrig der Mission unter den Heiden annimmt, und die
beiden andern allgemein geachteten Geistlichen haben, wenn sie nicht den Spruch
Offenb. Joh. !i, 16 zu fürchten haben wollen, mit noch größerem Eifer als
für die Ausbreitung des Christenthums unter fernen Heiden dafür Sorge zu
tragen, daß nicht in Folge des dänischen Kirchenregiments in Schleswig in
ihrer unmittelbaren Nähe Christen wieder den Heiden gleich werden.
Von Prälaten und Ritterschaft wurden gewählt: Kammerherr Baron v.
Plessen, Graf Otto zu Nantzau in Düstcrnbrock, Graf Christian zu Rantzau
in Seeburg bei Kiel und Graf Reventlow auf Farve. v. Plessen ist bekannt
als Wortführer der elf Holsteiner, die im dänischen Reichsrath Protest einleg¬
ten, so wie als Präsident der holsteinischen Gtändevcrsammlungen von 1857
und 1859. Seine Wirksamkeit in diesen Stellungen bewährte die Prophe¬
zeiung des vormaligen Deputaten der Schleswig-holsteinischen Kanzlei, späteren
Präsidenten des kieler Oberappellationsgcrichts, Geh. Conferenzrath Hopp,
unter dessen Augen v. Plessen vor etwa fünfundzwanzig Jahren in Kopen¬
hagen arbeitete: „er sei ein ausgezeichneter junger Mann, der noch einmal
eine Rolle spielen werde." v. Plessen ist ein Mann von hervorragendem Ta¬
lent, gründlich gebildet, ein tüchtiger Beamter und durchaus geeignet zum
Führer in der parlamentarischen Debatte. Er hat mit diesen Eigenschaften
wirklich eine Rolle und eine sehr bedeutende gespielt. Er würde aber unfehl¬
bar in der nächsten Diät durchfallen, wenn er wieder den Weg von 1859 ein¬
schlagen wollte, wo er dnrch seine Politik die Stände verleitete, ein diplo¬
matisches Kunststück aufzuführen, welches zwar insofern gelang, als die dänische
Regierung die Verfassungsvorschläge auf der Basis des Patents von 1852
nicht annahm, welches aber weder der Aufgabe einer Ständeversammlung,
noch dem geraden und schlichten Charakter des holsteinischen Volkes angepaßt
war, und zu dem sich die Majorität der Abgeordneten nimmermehr herbei¬
gelassen Hütte, wenn ihnen nicht versichert worden wäre, daß die Regierung
das Project zurückweisen werde. Schwerlich würde ihm und seinem Secun-
dantcn, v. Blvme-Heiligeustcdten, der gleich ihm als in die Geheimnisse der
maßgebenden deutschen Diplomatie eingeweiht betrachtet wird, jetzt nach den
bekannten preußischen Noten und nach der aus der Haltung der mitteldeutschen
officiösen Zeitungen zu schließenden Zustimmung der übrigen Glieder des Bun¬
des noch jemand glauben, daß der deutsche Bund einem unverblümten Aus¬
spruch der Stände über das Recht und das Bedürfniß des Landes entgegen¬
treten werde. Schwerlich wird noch jemand annehmen wollen, derselbe werde die
Behauptung für ungerechtfertigt erklären, daß der Vergleich von 1852, den
Holsteincrn ohne die Zustimmung ihrer Stände aufgenöthigt, rechtlich so wenig
bindend sei, als die (aus demselben Grunde vom deutschen Bunde für unzu¬
lässig erklärte) Verfassung vom 2. October 1855. Schwerlich wird man noch
meinen, Preußen — welches die Sache im Nothfall allein zu ordnen 'hätte —
werde andrer Ansicht sein, wenn die Stände annähmen, daß die Nichterfüllung
des Abkommens von 1852 der dänischen Regierung das Recht genommen,
sich noch auf dasselbe zu berufen. Es muß für die Stände feststehen, daß
der alte Vertrag durch Nichterfüllung und offne Verletzung hinfällig, und daß
nach § 4 des berliner Friedens von 1850 der solus guo ante bellum recht¬
lich wieder eingetreten ist. Die deutschen Regierungen werden nicht geneigt
sein, ein Uebereinkommen wieder zu erneuern, für dessen Erfüllung Dänemark
keine Bürgschaften geleistet hat und keine leisten kann, so lange die dänische
Verfassung vom 5. Jan. 1849 bestehen bleibt.
Da v. Plessen von der Ritterschaft gewählt ist, sollte man hoffen, daß
er als ein echter deutscher Ritter im 'guten Sinne des Wortes dem Landes¬
recht die Gaben, die er besitzt, zur Verfügung stellen, nicht sie wieder auf Ma¬
növer verwenden werde, die eher für Advocaten, als für Ritter passen. So
machten es wenigstens die alten holsteinischen Ritter vor dem Vogt der schwar¬
zen Margarethe, wie im Presbyter Brcmensis ausführlich nachzulesen ist. Sie
ließen sich nicht aufs Transigircn ein, sondern „repcn met unvorschrockene
stemme: Unse gewoniicke Recht willen my besolden," und „met godtlicker
Hülpe beschermeden se srimvdigen sick und ehr Vaterland und jagedcn de
Denen met der Tyd nes ehren Grensen." Die Zeiten sind seitdem anders
geworden, aber noch immer wird man es in Holstein für ritterlicher halten, -
gerade herauszusagen, daß Unrecht Unrecht ist, und daß man sein Recht behal¬
ten oder wiedersahen will, als sich auf Umwegen ein Aequivalent dafür zu
erwerben. , Es ist möglich, daß v. Plessen jetzt selbst dieser Ueberzeugung ist.
Wenigstens hoffen manche so und wollen die Bedenklichkeiten nicht aufkommen
lassen, zu welchen die politischen Antecedentien des Barons und seine ma¬
teriellen Interessen (er ist Besitzer großer Fideicommißgüter in Dänemark) Nah¬
rung geben können.
Die beiden Grafen Rantzau werden muthmaszlich als Sprossen eines al¬
ten berühmten Schleswig-holsteinischen Geschlechts entschiedene Vertreter der
Landesrechte sein wie der als solcher in den frühern Ständeversammlungen
bewährte Graf Reventlow-Farve.
Von den neun Vertretern, welche die großen Grundbesitzer in die Stände¬
versammlung senden: Hofjägermeister v. Mesmer-Saldern auf Annenhof, Ba¬
ron Blomc-Hciligenstcdten, Graf v. Holstein auf Waterneversdorf. Graf Bau-
dissin auf Vorfiel. Graf Reventlow-Jersbeck, Graf v. Ahlefeldt auf Ascheberg.
Landsasse Schwerdtfeger auf Wahrendorf, Kammerherr v. Bülow auf Both¬
kamp und Klosterpropst Graf v. Runtzau, sind nur die beiden zuletzt genann¬
ten noch nicht in der Ständeversammlung gewesen. Doch spricht ihre Er¬
wählung nicht gegen die Erwartung, daß sich in dieser Gruppe eine compacte
für die historische^ Landesrechte und folglich für die Verbindung Schleswigs
mit Holstein eintretende Fraction herausbilden wird. Die staatsrechtliche Ver¬
bindung der Herzogthümer ist nicht definitiv aufgehoben. Die Errichtung ge¬
trennter Ministerien für Schleswig und Holstein-Lauenburg hat, als eine blos
vorläufige Vertheilung der Geschäfte keinen grundgesetzlichen Charakter; sie
würde einen solchen erst erhalten, wenn die 1852 in Aussicht gestellte Ver¬
fassung in Betreff der gemeinschaftlichen Angelegenheiten der Monarchie end-
giltig, d. h. mit Zustimmung aller Betheiligten zu Stande gekommen wäre;
denn in deren Voraussetzung wurde die separate Verwaltung der besondern
Angelegenheiten dieser Theile für jeden derselben bestimmt. Die Minister für
jedes Herzogthum sind überdieß in der Bekanntmachung vom 28. Januar 1852
angewiesen, die Angelegenheiten der Herzogthümer nach den bestehenden Ge¬
setzen zu behandeln, was freilich vielfach nicht beachtet wurde. Graf Revent¬
low-Jersbeck und Graf Baudissin haben sich als frühere berathende Stände
so wie in mehrfachen Erklärungen der Ritterschaft an die Regierung als feste
Patrioten bewährt. Baron v. Blome ist ein sehr gebildeter Staatsmann,
der früher dänischer Gesandter in London war. Er wird von den Landes¬
rechten nichts vergeben, ist jedoch, wie schon 1851 als Präsident der obersten
Civilbehörde, nicht energisch genug, um, wie er sollte, activ sür seine Rich¬
tung aufzutreten. Von den übrigen hofft man, wie mir scheint, mit Recht,
mehr Patriotismus, namentlich erwartet man ein herzhaftes Vorgehen von
dem Kammerherrn v. Bülow, der früher die Stelle eines Klosterpropsten von
Sanct Johannis in der Stadt Schleswig inne hatte.
Die bäuerlichen Landbesitzer wählten den Vollmacht Witt im Büsumer
Deichhauscn, den Hofbesitzer Ottens in Hennstedt, den Eingesessenen Brühn
in Elpersbüttel, den Vollmacht Pflueg bei Brunsbüttel, den Hofbesitzer Möller
in Großtampen, den Hofbesitzer Scharmer in Horstreihe, den Dr, MI. Meyn
in der Uetersener Sägemühle, den Hofbesitzer Hadje in Egenbüttcl, den Hof¬
besitzer Bockelmann in Nethwischhöhe, den Bauervogt Werner in Ulzburg,
den Hufner Past in Jevenstedt, den Fleckensvorsteher Burmeister in Ahrcns-
bok, den Großtäthner Ahlmann zu Cismar, den Hofbesitzer Mannshardt in
Trittau, den Hufncr Doose in Großbuchwald und den Hufner Arpe in Fahrn.
Davon haben bisher außer Scharmer nur die drei letztgenannten schon an
parlamentarischen Verhandlungen theilgenommen. Scharmer war Mitglied
der Schleswig-holsteinischen Landesversammlung, Mannshardt Mitglied der be¬
rathenden Ständeversammlung, beide gelten für gute Patrioten. Von den
neueingetretenen ist nur Bockelmann allgemein als eine entschieden treffliche
Acquisition begrüßt worden, und zwar sowol hinsichtlich seiner Arbeitskraft als
wegen seiner patriotischen Gesinnung. Er war in den Jahren 1850 und 1851
Senator in Altona, mußte aber nach Wiederherstellung des dänischen Regi¬
ments seinen Abschied nehmen. Bon den Uebrigen erhalten Sie Bericht,
wenn sie zum ersten Mal über eine Frage abzustimmen haben, nach der sich
die etwaigen Parteien classificiren. Auch wie viel Intelligenz durch sie vertreten
wird, läßt sich erst später einigermaßen ersehen.
Unter den fünfzehn städtischen Abgeordneten findet sich nur einer, von
dem man mit Bestimmtheit annimmt, er werde in antideutschem Interesse
sprechen und stimmen. Ich schreibe ihn als Ausnahme von der Regel
groß: Es ist der Agent und Fabrikant D. A. Renck in Neumünster, und
der Grund seiner Richtung liegt lediglich in materiellen Interessen, die ich
bei passender Gelegenheit einmal näher bezeichnen werde. Hervorragende Ab¬
geordnete dieser Gruppe sind: der früher unter Scheels Regiment wegen zu
großer Gewissenhaftigkeit (und weil er mit seiner Befähigung und Gesinnung
nicht neben Franke paßte) in Ruhestand versetzte Oberappellationsrath or. jur.
Preußer, entschieden die erste juristische Kapacität der Versammlung und viel¬
leicht ganz Holsteins, ferner der sehr tüchtige Advocat Lehmann von Kiel, der
Advocat Wiggers von Rendsburg und der Gerichtshalter Justizrath Nötger
von Itzehoe. Von Preußer und Lehmann darf man mit Sicherheit voraus¬
setzen, daß sie sich nicht wie 1859 blos negativ verhalten werden, und dasselbe
ist auch von Wiggers, der einst Mitglied der Schleswig-holsteinischen Landes¬
versammlung war, und von Nötger anzunehmen, welcher die Versassungsver-
änderungen seit 1834 so gründlich wie wenige andere kennt und überdieß ein
Mann von ungewöhnlicher Begabung,ist- Er war schon vor 1848 wieder¬
holt Secretär des königl. Commissars beiden berathenden Ständen, und seine
Gesinnung ist durchweg patriotisch. Nicht weniger gut ist in letzterer Bezieh-
ung Kaufmann Th. Reineke aus Mona, der bereits 1851 Mitglied der Nota-
beln-Versammlung war und in dieser Eigenschaft für das Gutachten der Hol¬
steiner stimmte. Zu diesen früher bereits parlamentarisch thätig gewesenen
Mitgliedern für die Städte und Flecken kommen noch als aus der letzten Ses¬
sion bekannt: Kaufmann Semper aus Altona, Gcrichtshalter Wynecken aus
Lütjenburg und Gcrichtshalter d'Andere aus Neustadt, sowie Dr. mea. Körner
aus Mcldorf, Buchdrucker Dient aus Elmshorn, Kaufmann Lorentzen aus
Altona, Obergerichtsadvocat Knoop aus Glückstadt, Landmesser Lichtwcrk aus,
Pinneberg und Dr. loca. Thomsen aus Oldesloe, von deren Gesinnung und
Befähigung ich, da sie noch nicht im Ständesaal gewesen und mir auch sonst
noch wenig bekannt sind, jetzt nichts genaues zu berichten weiß.
Von dem Vertreter des akademischen Senats in Kiel, Professor der Me¬
dicin Dr. Behn, sowie von dessen Stellvertreter, dem Professor der Geschichte
Dr. Nittzsch (beide neu) läßt sich mit aller Sicherheit erwarten, daß sie der
Partei angehören werden, welche die gute Sache des alten Rechtes ver¬
theidigt.
Von den übrigen Stellvertretern nur soviel, daß man den Landsassen
Bockclmann aus Müssen lieber sogleich als Abgeordneten hätte eintreten sehen.
Er würde, wenn eine Scheidung derer, die zwischen Gesammtstaat und altem
Recht vermitteln wollen, von denen, welche es nur noch mit dem alten Recht
halten, eintreten sollte, gewiß zur Partei der letztem gehören. Eine solche
Scheidung ist möglich, indeß wollen wir sie nach dem, was seit 1859 vor¬
gegangen ist. nicht für wahrscheinlich halten und bis auf Weiteres lieber an¬
nehmen, daß man an zweifelhafter Stelle gelernt und vergessen hat und ent¬
schlossen ist, gleich den tapfern Hessen jedes Kompromiß mit dem Unrecht ver¬
schmähend, einfach den LtAws <Mo arts zu verlangen. Wir werden dann
vielleicht jetzt nichts von unserm Rechte erhalten, wir werden aber auch nicht
für das halbe Recht die zuversichtliche, von der Erfüllung sicher nicht mehr
sehr ferne Hoffnung verkaufen, das ganze wieder zu erhalten.
Vorstehenden Titel führt die von dem Börsenvereine der deutschen Buch¬
händler zur Vorlage an den Bundestag ausgearbeitete Zusammenstellung der
Grundsätze, deren^prccktische Ausführung durch Bundesgesetzgcbung nach Ueber¬
zeugung des Börsenvereins eine drängende Nothwendigkeit ist. Wenn auch
dieser Entwurf nur als Manuscript gedruckt wurde, so ist er doch in so Vieler
Händen; namentlich wurde er den deutschen Bundesregierungen zugestellt und
man findet bereits seiner in Aufsätzen öffentlicher Blätter über diesen Gegen¬
stand gedacht, daß es wohl erlaubt und angemessen scheint, auch hier dieses
Actenstück einer Besprechung zu unterwerfen.
Seit der Sieg in dem Kampfe gegen den Nachdruck auf die Seite der
Gegner desselben in Wissenschaft, Gesetzgebung und Praxis sich geneigt hat,
langweilt die Polemik den Leser nicht mehr mit theoretischen Phrasen: es
handelt sich um das Faßliche und Anwendbare. Man hat nur den Umfang
des anerkannten Princips zu bestimmen und die Folgerungen für die Praxis
zu bestimmten, anwendbaren Sätzen zu bilden. In diesem Sinne ist der ge¬
nannte Entwurf bearbeitet. Denn wenn man auch seit 1837 in Deutschland
den Nachdruck allgemein für verboten hielt, so war derselbe damit noch nicht
ausgerottet. Was zum Nachdruck zu rechnen sei, wer den Schutz des Gesetzes an¬
sprechen könne, welche Entschädigung dem Verletzten zukomme, welche Form des
Beweises des erlittenen Schadens erfordert werde, waren daher immer noch Fra¬
gen, deren Beantwortung, weil sie nur unvollkommen und schon darum noth¬
wendiger Weise von den verschiedenen Gesetzgebern verschieden bewirkt worden
war, von der Wissenschaft und der Praxis angestrebt werden mußte. Man
hat sich auch in der That vielfach und zwar mit glücklicheren Erfolge um
deren Lösung bemüht, nachdem die hohle philosophische Phrase aus der Po¬
lemik immermehr vor den Waffen des praktischen Interesses zurücktrat. Denn
allerdings begann sich das allgemeine Interesse daran zu knüpfen, weil man
es nicht mehr zu scheuen hatte, die Rechtsverletzung klagbar zu machen, und
daher die Art der Entscheidung. die Gründe, welche sie für oder gegen eine
im Streit befindliche Frage ausfallen machen mußten, das Mein und Dein
berührten. Außer den Schriftstellern und Künstlern waren es daher zunächst
und wohl vorwiegend die Verleger, welche der legislatorischen, sowie der
judiciellen Fortbildung des Rechtsschutzes gegen Nachdruck und Nachbildung
aufmerksam folgten, und denen theils die Langsamkeit, mit welcher das feind¬
liche Territorium besetzt wurde, theils die Fehlgriffe, welche von der Unfähig¬
keit romanistischer Richter den neuen, ihnen aufgezwungenen Rechtsbegriff
des Urheber- und Verlagsrechtes zu fassen, herrührten, viel Kümmerniß machten
und mannigfache Berechtigung zu Klagen boten. Denn das deutsche Römer-
thum feindet das Urheberrecht immer noch als einen Eindringling aus dem
Reiche der Polizeiwillkür an.*)
Die unbestreitbare Begründung der von allen Seiten eingehenden Be¬
schwerden über die Art, wie man vor deutschen Gerichten die neuen, unlieb¬
samen Gesetze gehandhabt, liefern ein trauriges Zeugniß von der schädlichen
Wirkung, welche die Abtrennung des Rechtes und der Gesetzgebung vom
Volksbewußtsein gehabt hat. Es sind Erkenntnisse gefällt worden, bei denen
es unmöglich ist. die Beschränktheit von dem bösen Willen zu unterscheiden.
Vereinigen sich nun diese bittern Erfahrungen vorzugsweise in dem Kreise der
Verleger, weil sie zumeist das nächste Interesse haben gegen den Verletzer ihres
mit Geldopfern erworbenen Verlagsrechts und unbefugten Mitbewerber um den
Gewinn an dem mit Geldopfern erzeugten Artikel einzuschreiten, so finden wir es
auch natürlich, daß aus dem Schooß des deutschen Buchhandels zuerst die allge¬
meinen Klagen eine Konsistenz gewannen. Diese Klagen betreffen aber nicht
allein die Unvollkommenheit der Gesetze, die noch größere UnVollkommenheit
der richterlichen Anwendung und den Stillstand in der Gesetzgebung; sondern
sie berühren als einen wesentlichen Punkt der Beschwerden die Verschiedenheit
der Gesetzgebungen in Deutschland, welche ungeachtet der Bundesbeschlüssc auf
der Rechtsnersolgung geradezu rechtszerstörend lastet. Sie decken recht deutlich
den Krebsschaden, der an dem deutschen Verkehre durch die Zerrissenheit des
deutschen Vaterlandes nagt, auf, und gewähren einen rührenden Blick in die
Wahrhaftigkeit der so oft ausposaunten Einigkeit der Regierungen Deutsch¬
lands, die bekanntlich nur von der liberalen Partei gestört wird.
Daß diese Zerrissenheit und deren Einfluß auf den Verkehr von dem
deutschen Buchhändler am meisten empfunden wird, erklärt sich daher, daß bis
jetzt die deutsche Einheit eben nur im deutschen Buchhandel verwirklicht ist.
Die deutschen Buchhändler bilden in der That einen Staat, getragen von dem
seit langen Jahren begründeten Organismus ihres Geschäftes.
Und weil dieser Organismus seine Glieder gleichmäßig über ganz Deutsch¬
land verbreitet, so fühlt er auch am schärfsten die ungleiche Behandlung dieser
Glieder vor den verschiedenen Gerichtshöfen. Aus der Unbehaglichkeit dieses
Gefühles floß die Erkenntniß, daß ein einheitliches Gesetz zur Regelung der '
literarischen Rechtsverhältnisse in umfassenderer Weise als die Bundesbeschlüsse
dies gethan, eine nicht mehr abzuweisende Nothwendigkeit sei. Darum ist der
Entwurf auch als eine Unterlage zu einer allgemeinen deutschen Bundesgesetz-
gebung zu bezeichnen und die Einigung der gesammten Bundesstaaten über
die aufgestellten Principien als erste Bedingung sür Hebung der großen Uebel¬
stände der gegenwärtigen Verhältnisse gefordert und vorausgesetzt.
Der Ausdruck, welchen der Buchhändlerstaat oder wie sie selbst sich oft
bezeichnen „die Buchhändler-Familie", nach Außen hin sich gegeben hat, ist der
Börsenverein der deutschen Buchhändler in Leipzig. In dessen Schooße wer¬
den die Klagen über die Fesseln, welche drücken, über die Hemmnisse, welche
dem Fortschritte entgegengesetzt werden und über die Anfeindungen, welche
Literatur und Kunst zu erleiden haben, am ungehindertsten laut und wie schon
viele tüchtige Arbeiten über Fragen, welche Literatur und Presse berühren, von
demselben ausgegangen sind, so kann man mit vollem Rechte den vorliegen¬
den Entwurf zu einer der gelungensten zahlen. Man hat dabei, die bestehen¬
den deutschen Gesetze als Grundlage, die gemachten Ersahrungen als Factoren
und das preußische Gesetz als Führer genommen. Letzteres geschah nicht, weil
der Entwurf von einer, vom Börsenverein gewählten in Berlin wohnhaften
Commission preußischer Juristen gefaßt worden ist; sondern nach reiflicher Be¬
rathung eines aus Buchhändlern der verschiedensten deutschen Bundesstaaten
bestehenden Ausschusses, welche in Leipzig tagte. Man besaß nämlich unter
den geltenden deutschen Gesetzen nur zwei, welche die in den Bundesbeschlüsscn
enthaltenen ganz allgemeinen Grundsätze dem Bedürfnisse gemäß weiter aus¬
geführt hatten und daher zum Anhalt, den man im Bestehenden suchte, die¬
nen konnten: das preußische und das östreichische. Letzteres ist zwar umfäng¬
licher, aber dies nur durch weniger prägnante Fassung und entbehrliche
Specialitäten. Ersteres ist dagegen systematischer und bietet darum einer zu
erweiternden Gesetzgebung einen viel sicherern Grund zu dem darüber zu er¬
richtenden Gebäude. Auch fand man in der Auffassung der einzelnen Be¬
stimmungen weit mehr, was der allgemeinen Ueberzeugung entsprach.
Nachdem man die Uebersicht über alles Bestehende durch die von dem
Schreiber dieses im Austrage des Börsenvereins veranstaltete „Zusammenstel-
lung der gesetzlichen Bestimmungen über das Urheber- und Verlagsrecht" (1855.
Leipzig) erleichtert hatte, wurden von den Mitgliedern des obenerwähnten
Ausschusses alle bekannt gewordenen Wünsche des Buchhandels zusammenge¬
tragen und an die Paragraphen des preußischen Gesetzes angereiht. Die
Frucht dieser mühsamen Arbeit wurde der Commission übergeben, von ihr ein
Entwurf mit ausführlichen Motiven ausgearbeitet und derselbe dann 1857
von demselben Ausschusse berathen. Der hierauf hervorgegangene Gesetzent¬
wurf erhielt seine endgiltige Fassung durch eine neue Redactionscommission.
Diese geschichtlichen Bemerkungen erscheinen uns zur richtigen Beurthei-
lung nothwendig. Es kann nun nicht unsere Absicht sein, eine ausführliche
Darstellung des Inhaltes des Entwurfs oder eine lange Polemik gegen die
zum Theil meisterhaft ausgearbeiteten Motive zu schreiben. Theils würden
wir dadurch genöthigt, in rein juristische Deductionen nicht selten zu verfallen,
theils die Aufgabe dieser unzulässig zu überschreiten. Wir beabsichtigen viel¬
mehr nur eine kurze Darstellung des Verhältnisses des Entwurfs zu den Bun¬
desbeschlüssen, zu den Bundcsgesetzgebungen und zum Recht in tlrssi zu geben,
woraus sich von selbst ergeben wird, was mit diesem EntWurfe gewonnen ist.
Wir erwähnten bereits, daß der Entwurf auf den Grundsätzen der deut¬
schen Gesetze gegen den Nachdruck ruhe. Vor Allem hatte man im Auge, die
Bundesbeschlüsse fortzubilden, und man fand dabei allerdings die allgemeinen
in dem Bundesbcschlusse vom 19. Juni 1845 niedergelegten Grundsätze für
angemessen, jedoch der Fortbildung und namentlich der Ausbildung in den einzel¬
nen Bestimmungen außerordentlich bedürftig. Man baute daher über den¬
selben ein ausführliches System aus, welches das Urheberrecht an literarischen
Erzeugnissen, an Musik- und anderen Kunstwerken und an geographischen,
topographischen, architektonischen und andern Zeichnungen nach allen Richtungen
umfaßte, nach denen es Schutz gegen Nachdruck,. Nachbildung und unbefugte
Aufführung bedarf. Indem man bei diesem Ausbaue sich von dem preußi¬
schen Gesetze leiten ließ und den neueren internationalen Verträgen zu starke
Rechnung trug, ging man in dem Entwürfe so weit, das den Bundesbeschlüssen
fremde Verbietungsrecht gegen Uebersetzungen wenigstens theüwcis zu adopti-
ren. Es würde zu weit führen, wenn wir hier gegen diese mißbräuchliche
Ausdehnung des Urheberrechts polemifircn wollten. Bereits hat sich die
Wissenschaft der Frage bemächtigt und auf deren Boden ist der Kampf aus-
zufechten.
Nur soviel scheint uns nothwendig zu bemerken, daß wir in dem Ver¬
bietungsrecht gegen Uebersetzungen einen bedauerlichen Rückschritt nach dem
überwundenen Standpunkte des geistigen Eigenthums. Gedankeneigenthums,
erblicken und es eine unstatthafte Herabsetzung einer sehr anerkennenswerther
und sür die Literatur und den Fortschritt der Geistesbildung ganz unentbehr¬
lichen geistigen Thätigkeit enthält.
Wir können nur Einen Fall anerkennen, in welchem die Nothwendigkeit
den gewährten Schutz des Gesetzes praktisch ausführbar zu machen, und gegen
Umgehung desselben zu bewahre», ein Verbietungsrecht gegen Übersetzungen
ohne Bewilligung des Urhebers billig erscheinen läßt: dann nämlich, wenn
ein Urheber sein Werk in der That zu gleicher Zeit in verschiedenen Sprachen
erscheinen läßt. Hier darf es Niemandem gestattet sein, dieses Werk aus der
einen Sprache, in welcher das Original geschrieben ist, in die andere, in der
eS auch erschien, unbefugt zu übertragen. Der Mangel eines derartigen Ver-
hotes würde die Umgehung des Nachdruckverbotcs befördern. Mehreres haben
wir an andern Orten gegen dieses Verbietungsrecht vorgebracht.
Wie der Bundesbeschluß und die neuere deutsche Gesetzgebung überhaupt
macht sich der Entwurf, jedoch in noch weit nachdrücklicherer Weise, von den
engen Schranken eines Verbotes gegen Nachdruck los und tritt auf den posi¬
tiven Standpunkt des Urheberrechts. Der Urheber ist die Quelle, das Ver¬
hältniß desselben zu seinem Geisteserzeugniß der Inhalt des Gesetzes. Nicht
minder hält der Entwurf an den Schranken der Bundcsbeschlüsse sest. Die
mechanische Vervielfältigung ist die eigentliche Verletzung des Urheberrechts
und neben ihr gestattet er Analogien nur da, wo die selbständige Thätigkeit
zur Dienerin der Mechanik wird (Copiren von Kunstwerken zum Zwecke me¬
chanischer Vervielfältigung, theatralische oder musikalische Aufführung). Das
Urheberrecht ist auch hier kein in Ewigkeit vererbliches; es hat seine Grenzen
in einem bestimmten Zeiträume, wahrend dessen das Gesetz seinen Schutz
verheißt.
Beide Schranken dürften von der Rechtswissenschaft, wenn sie einmal all¬
gemein sich von den romanistischen Fesseln los gemacht haben wird, dereinst
erniedrigt, wenn nicht niedergerissen werden. Denn die mechanische Verviel¬
fältigung verliert, sobald die civilisirte Welt das Urheberrecht allgemein als
nothwendigen Bestandtheil der Gesetzgebung anerkannt, fast alle Möglichkeit,
verübt zu werden. Dagegen hebt das Plagiat unter dem Schutze dieser
Schranke sein ebenso schmutziges Haupt nur um so frecher empor und verletzt
das Urheberrecht dann so empfindlich, ja nachhaltiger als der mechanische Nach¬
druck. Denn die Wirkung der Verletzung ist meist materiell und moralisch
zugleich schädlich. Und die Beschränkung des Schutzes des Urheberrechts ans
eine bestimmte Frist ruht ja nicht auf dem Rechtsgrunde, sondern auf einem
eingebildeten Zweckmäßigkcitsprincip. Sie ist nichts als eine offene Concession
an die Vertheidiger des Nachdrucks.
Hat der Entwurf die materiellen Rechtsbcstimmungcu der Bundesbeschlüsse
festgehalten, so weicht er auch bei den Sätzen des formellen Rechts nicht von
dem Wesen derselben ab. Er bildet das Verfahren ganz im Sinne des Bun-
desbeschlusfes sowol in Betreff der Strafen der Rechtsverletzungen, als in Be¬
treff der Bemessung der Entschädigung und, der' Verweisung des Urtheils über
Thatbestand und Entschädigungsanspruch an Sachverständige weiter aus.
Sehr wohlthätig würde die Verwirklichung des § 21 sein. Darin ist an¬
geordnet, daß das Sachverständigengutachten unbedingt bindend für den Richter
sein soll. Sobald die Sachverständigenvereine vollständig freie, und mit in¬
telligenten Mitgliedern besetzte Kollegien find, kann man nur von ihnen die
Rettung des Rechtes vor dem Unverstande romanistischer Richter erhoffen.
Der Versuch, das Verhältniß des Entwurfes zu den einzelnen Landes-
gesetzgebungen zu schildern, unterliegt einer weniger leicht zu überwindenden
Schwierigkeit, als wir bei dem schon aus Mangel an eingehenden Bestim¬
mungen so klaren Bundesbeschluß fanden. Es sind nur die nach dem preu¬
ßischen Gesetze vom 11. Juni 1837 erschienenen neueren Gesetzgebungen, welche
auf dem Urheberrechte als einzig richtiger Grundlage stehen. Alle frühern
deutschen Gesetze sind eigentlich nur wohlfahrtspolizeiliche Verbote gegen den
Nachdruck, man mögte sagen: verallgemeinerte Privilegien. Hiervon ist
allein Sachsen aufzunehmen, in dessen Gesetzgebung bereits die Verordnung
vom Nachdrucke vom 27. Februar 1686 sich auf das richtige Princip gestellt
hat. Doch ist es auch nicht nothwendig, auf diesen überwundenen Stand¬
punkt zurückzukehren. Der in allen deutschen Bundesstaaten giltige Bundcs¬
veschluß vom 19. Juni 1845 führt in denjenigen von ihnen, welche die Erlas¬
sung eines eingehenderen Gesetzes nicht nothwendig erachteten, das richtige Prin¬
cip als geltend ein. Von den neuern Landcsgesetzgebungen sind vier Gruppen
zu unterscheiden: 1, Gesetze, welche sich genau an die Bundcsbcschlüsse an¬
schließen (z. B. Würtemberg, Hamburg ze.) 2, Gesetze, welche das preußische
Gesetz vom 11. Juni 1837 mit einiger Umgestaltung in sich aufgenommen
haben (Braunschweig, Großherzogthum Sachsen) 3, das König!. Sächsische
Gesetz vom 22. Februar 1844 und 4., das östreichische Gesetz vom 19. Oc-
tober 1846.
Die erste Gruppe der deutschen Landesgesetze kann hier mit Stillschweigen
Übergängen werden. Sie findet ihre Berücksichtigung in dem, was über das
Verhältniß des Entwurfs zu den Bundesbcschlüssen gesagt worden ist. Für
sie ist der Entwurf eine freie Ausbildung des nur im Keime in ihnen ent¬
haltenen Urheberrechts. Hiervon kann auch das wortreiche bayrische Gesetz
vom 15. April 1840 nicht ausgenommen werden. Denn außer den wenigen
Ausführungen in den erster» drei Artikeln hat es nur Verordnungen des Ver¬
fahrens bezüglich auf specifisch bayrische Gerichtsordnungen. Die im ersten
Artikel vorkommende Erklärung, welche wir in keinem andern Gesetze wieder fin¬
den: daß ein Geistescrzeuguiß nicht ohne daß es zu eigenthümlicher Form ver¬
arbeitet worden, nachgebildet werden dürfe, vermögen wir nicht als einen Vorzug
anzuerkennen. Das Plagiat, welches vielleicht damit getroffen werden soll, kann
darunter ebensoviel Schutz finden, als man meinte ihm damit ein Ziel zu setzen:
namentlich bei unsern romanistischen Richtern.
Die zweite Gruppe erfreut sich, wie aus der geschichtlichen Darstellung
der Entstehung des Entwurfs hervorgeht, der günstigsten Beziehung zu demselben.
Denn die von den Gesetzen, welche das kön. preußische Gesetz fast unverän¬
dert aufgenommen haben, anerkannten Grundsätze sind von dem EntWurfe
sämmtlich beibehalten und nach den gemachten Erfahrungen eines Zeitraums
von zwanzig Jahren weiter ausgebildet. Dagegen steht das sächsische- Gesetz
ganz vereinzelt du. Wie wir erwähnten, hatte in Sachsen schon seit dem Ende
des 17. Jahrhunderts das allein richtige Princip Geltung erlangt: der Schutz
des Verlegers gegen den Nachdruck wurde von dem Rechte des Urhebers ab¬
geleitet. Die späteren sächsischen Verordnungen und Gesetze halten streng an
dein aufgestellten Principe fest, und wenn man in dem Gesetze vom 22. Feb¬
ruar 1844 eine neue umfassendere Bestimmung erließ, so war sie neu eigent¬
lich nur für den juristischen Zopf, welcher die vorhandenen Bestimmungen nicht
zu begreifen vermochte, und dadurch, das; sie die Schranken der veralteten Aus¬
drücke wegwarf und, was der Sinn der frühern Gesetzgebung gewesen war,
klar und zeitgemäß, namentlich aber auch weitschichtiger aussprach. Außerdem
hielt' man es für genügend, den allgemeinen Grundsatz, daß der Urheber eines
Geisteswerk'es der allein zur Vervielfältigung Berechtigte sei, mit einiger Er¬
läuterung hinzustellen, das s. g. ewige Verlagsrecht durch Einführung der
dreißigjährigen Schutzfrist aufzuheben und enthielt sich des Eingehens in eine
Specisizirnng, wie es das preußische Gesetz gethan hatte und nach ihm noch
detaillirter der vorliegende Entwurf thut. Aus den Bundesbeschlüssen, beziehent¬
lich dem preußischen Gesetze vom 11. Juni 1837, nahm man Entschädigung,
Strafe und Verfahren auf und schadete der Rechtsüberzeugung nur dadurch
— aber freilich auch gründlich — daß man die Nechtsverfolgung an den Nach¬
weis einer Vermögcnsbceinträchtigung fesselte — eine Bestimmung, welche den
günstigen Fortschritt des Urheberrechts durch die gerichtliche Praxis in Sachsen
fast zum Stillstande gebracht hat.
Von dieser ungehörigen Beschränkung, von solcher unverdienter Ernied¬
rigung des Urheberrechtes weiß das preußische Gesetz und der Entwurf nichts.
Und jedenfalls ist es für die Rechtsverfassung gedeihlicher, daß der Entwurf
die verschiedenen Erscheinungen des Urheberrechts und seiner Verletzungen zer¬
gliedert aufgestellt .hat. Kann man auch der Ansicht sich nicht verschließen,
daß das Gesammte des Urheberrechts einleuchtender sür die Wissenschaft aus
dem Entwürfe sich entwickeln möchte, wenn man alle gleichgearteten Bestim¬
mungen vereinigt Hütte, und daß die verschiedenen Gestaltungen des Urheber¬
rechts einheitlicher würden beurtheilt werden, wenn das Princip, auf welchem
die einzelnen Bestimmungen des Gesetzes ruhen, in Einem Satze zusammen¬
gefaßt worden wäre, um durch die Verbindung zu beurkunden, daß es eben
nur Eine Quelle ist. aus welcher das Urheberrecht fließt, und bei den einzelnen
Arten der Geisieserzeugnisse nicht andere Quellen des Rechtes vorhanden sind;
so darf man sich doch der beliebten zergliedernden Anordnung des Stoffes aus
Gründen der Zweckmäßigkeit mit dem Troste unterwerfen, daß das Wesen des
Urheberrechts allenthalben gleichmäßig festgehalten ist. Der Entwurf bildet
daher noch mehr als das preußische Gesetz der Form nach eigentlich eine
Sammlung mehrerer Gesetze über sich gleichstehende verwandte Gegenstände
gegenüber einem gegliederten Bau, dessen einzelne Theile in ein und demselben
Mittelpunkte zusammenlaufen und auf einem Grundsteine ruhen.
Dieser Vorwurf trifft noch bei weitem mehr das öffentliche Gesetz, wel¬
ches ebenso gut durch das Inhaltsverzeichnis; als durch seine systematische
Einheit zusammengehalten wird. Es ist aber nicht zu verkennen, daß auch
dieses sehr viel Gutes enthält und daß es sehr dankenswert!) ist, den festen
Willen unverhohlen ausgesprochen zu sehen, mit Deutschland bezüglich des
Urheberrechts auf völlig gleichen Standpunkt sich zu stellen, ja der Bundes¬
gesetzgebung vorauszueilen und eine auf die.Erfahrung der letzten Jahrzehnte
begründete Vollständigkeit der gesetzlichen Bestimmungen zu erstreben. Es
kommt dem unwissenschaftlichen Sinne der heutigen praktischen Juristen, welche
nur nach möglichster Specifizirung der gesetzlichen „Bestimmungen" und vor
Allem nach Präjudicien jagen, ein derartiges Gesetz sehr zu Statten, weil es
ein sie weder die Anforderung einer tieferen wissenschaftlichen Bildung noch
der anstrengenden Geistesarbeit, den Fall unter einen allgemeinen Rechtssatz
unterzuordnen, stellt. Und zur Schande der Gesetzesanwendung und Auslegung,
wie sie von unseren superkluger romanistischen Richtern oft geübt wird, müssen
wir gestehen, der Rechtsuchende befindet sich im Allgemeinen wohler bei solcher
maschinenmäßiger Thätigkeit, als bei den wortreichen, Niemandem als den
eingeweihten Priestern der Themis verständlichen Schlußfolgerungen, in denen
das Weiß in ihrem Anfange am Ende zum Schwarz geworden ist.
Bei der bereits gerühmten Reichhaltigkeit des östreichischen Gesetzes ist es
natürlich, daß der Entwurf sich weniger durch wesentliche Ergänzungen dem¬
selben gegenüber, als durch eine systematischere Anordnung, prägnantere
Ausdrucksweise und reifere Ausführung auszeichnet. Der Entwurf bezweckt
jn eben nur das Vorhandene zu sammeln, das Unvollkommene fortzubilden
und die erkannten Lücken auszufüllen. In diesem Zwecke ruht die Berech¬
tigung seines Strebens alle vereinzelten Landesgesetze zu verdrängen und selbst
als einziges deutsches Bundesgesetz anerkannt und zur Geltung gebracht zu
werden. Denn das Hauptübel liegt in der Verschiedenheit der Behandlung,
welche die Streitfragen über Verletzung des Urheberrechts in den verschiedenen
Ländern erfahren und vermöge der unvollkommenen und so ganz verschieden¬
artigen Gesetzgebungen, folgerichtig auch vermöge der daraus entstehenden
Verschiedenheiten der gerichtlichen Praxis erfahren müssen. Diese das Recht
der deutschen Urheber, welche ihre Befugnisse meist deur deutschen Buchhandel
zur Verwerthung übergeben, fast immer auf die Grenzen des engeren Vater¬
landes des Verlegers (dem es meistens zukommen wird, die Befugnisse, welche
ihm der Urheber abgetreten hat, rechtlich geltend zu machen) beschränkende
Ungleichheit muß fallen, wenn das deutsche Urheberrecht einen wirksamen
Schutz im Gesetze finden soll. Denn sie verhindert von allen den Uebeln,
welche sich der allgemeinen Anerkennung des Urheberrechts entgegenstellen, am
erfolgreichsten die Ausbildung der so nothwendigen Rechtsüberzeugung und
die Vereinbarung über gemeinsame Rechtssätze. Zum allgemeinen deutschen
Gesetze erhoben würde der Entwurf die Gesetze der einzelnen Staaten, weil er
vollkommener als die vorhandenen Gesetzgebungen ist und in der That fast alle
gegenwärtigen Bedürfnisse befriedigt, unnöthig machen; denn die erste Be¬
dingung seiner Wirksamkeit würde sein, daß mit seiner Veröffentlichung als
deutsches Gesetz die einzelnen Landesgesetze, so mangelhaft oder so vollkommen
sie seien, verschwänden. Ja wir gehen noch weiter. Mit dem Erlasse dieses
Entwurfes durch 'den Bundestag als allgemeines deutsches Gesetz muß auch
jedes vereinzelte Uebereinkommen einzelner Staaten mit nichtdeutschen Staaten
über die Verleihung des Rechtsschutzes dieses Gesetzes an Ausländer aufgehoben
und verpönt werden. Ein internationaler Vertrag darf fortan ebenfalls nur
von dem Bundestage ausgehen, und nur in voller Uebereinstimmung mit den
, im Entwürfe aufgestellten und zum gesetzlichen Rechte erhobenen Grundsätzen
abgefaßt werden. Diese Forderung ist an und für sich eine gerechte: .der
Nachweis ihrer Nothwendigkeit liegt aber in der notorischen Misere, welche
über den deutschen Buchhandel durch die völlig ungerechtfertigten gegen das
eigenste Interesse des deutschen Buchhandels abgeschlossenen Verträge einzel¬
ner und zwar der kleineren Staaten mit Frankreich gebracht worden ist. Der
deutsche Buchhandel, oder vielmehr die deutsche Literatur und Kunst als Ver¬
mittler des geistigen Verkehrs bedürfen einer völlig gleichen einheitlichen Be¬
handlung. Denn sie sind das Eigenthum des gesummten deutschen Volkes,
nicht eines oder mehrer nach dynastischen Interessen abgegrenzter Landstriche.
Um eine derartige Gleichheit anzubahnen, war vor Allem nothwendig, den
Schluß der dreißigjährigen Schutzfrist für Urheber, welche vor dem Jahre 1837
verstorben waren, auf einen allgemein gleichen Termin festzustellen und ferner
mußten die unentbehrlichen Formalien durch Concentrirung völlig gleichmäßig
werden. Demgemäß hat man das Jahr 1867 als Schlußtermin für den
Schutz der Werke älterer vor 1837 bereits verstorbenen Urheber hingestellt und
eine Eintragsrolle, welche in Leipzig für ganz Deutschland über die erschiene¬
nen Werte der Literatur und Kunst zur Erleichterung des Nachweises der Be¬
rechtigung geführt wird, vorgeschlagen.
Aus dem Gesagten dürfte wol die Stellung des Entwurfes zu den ein-
zelnen Landesgesetzen — da der Raum und Zweck dieser Blätter das Eingehen
auf die mannigfachen Verschiedenheiten der einzelnen Gesctzpciragraphen nicht
gestattet — hinreichend hervorgehen. Sie ist eine völlig verdrängende, das
Gute aus allen annehmende, das Schlechte ausmerzende, die Mängel ergän¬
zende und die Grundidee fortführende. Es soll Ein Gesetz für alle deutschen
Länder werden, und dieses Einzige alle andern bereits bestehenden aus¬
schließen und vor dem Entstehen neuer Einzelgesetze behüten.
Ueberschauen wir nun die einzelnen'Gaben des Entwurfes, welche er dem
deutschen Volke bieten möchte, so drängt sich uns noch die Frage auf: in wel¬
chem Verhältnisse er als ein Gesetz betrachtet, zu dem Rechte in Tschi stehe?
Schon, unser oben erhobener Widerspruch gegen das Uebersetzungsrecht oder
deutlicher gegen das Verbot des freien Uebersetzungsrechtes und gegen die Be¬
schränkung des Schutzes auf eim bestimmte Dauer veranlaßt zu dem Beden¬
ken, ob er eines Theils Alles aufgenommen habe, was man verlangt und an¬
dern Theils nicht Sätze aufstelle, welche ähnlicher Weise angefochten werden
können, als die zwei genannten. Letzteres müssen wir von unserm Gesichts¬
punkt aus allerdings verneinen.
Was dagegen die Frage nach denjenigen Bestimmungen, deren Aufnahme
in die Gesetze von vielen Seiten gewünscht worden ist, ja welche nach dem
gegenwärtigen Standpunkt der Wissenschaft und Rechtsüberzeugung nicht seh- ,
im durften, anlangt, so dürfen wir anerkennend hervorheben, daß wesentliche
Zugeständnisse gemacht worden sind. Daß nach dem Entwürfe den Sachver»
ständigen eine den Richter bindende Macht für ihr Gutachten zugetheilt wurde,
ist oben bereits berichtet und als nothwendig bezeichnet worden. Man hat
aber auch noch mehr gethan, indem man einestheils wenigstens für die Mu-
sikalien das s. g. getheilte Eigenthum anerkannte; andern Theils den Nachdruck
von Abbildungen und Abzeichnuugen verbot, welcher in der Piloty-Löhleschen
Streitsache von allen Gerichtshöfen Sachsens autorisire worden ist Nach
der Auslegung, welche das sächsische Gesetz nunmehr erhalten hat, kann jeder
eine Lithographie oder einen Kupferstich nachdrucken, welchen der Künstler nach
einem Kunstwerke, dessen Urheber die Erlaubniß zum Vervielfältigen oder Nach¬
bilden nicht mehr geben kann, also folgerichtig auch, welchen der Künstler nach
der Natur aufgenommen hat, weil eine Gegend auch kein ausschließliches Ver¬
vielfältigungsrecht ertheilen kann. Das preußische Gesetz spricht sich klar und
buchstäblich gegen solchen Nachdruck aus und die Ausnahme dieses Verbotes
ist eine Wohlthat, da man sie bei der Verblendung unserer Richter gar nicht
entbehren kann. Ueber diesen Gegenstand ist bereits zuviel geschrieben, um
eine weitere Erwähnung zu gestatte», als vielleicht für Solche, die die Sache
nicht kennen, das Verweisen auf die Broschüre des Schreibers dieser Zeilen").
Nicht minder ist, den Erfahrungen gegenüber, welche der Verleger von Musi-
kalien, an denen er das Verlagsrecht für Deutschland erwarben hatte, von
deutschen Gerichtshöfen machen mußte, es sehr zu wünschen, daß die im Ent¬
würfe enthaltene gesetzliche Anerkennung des s. g. getheilten Eigenthums (d. h,
eines Verlagsrechts, dessen Ausschließlichkeit sich auf die Grenzen vertrags¬
mäßig bestimmter Länder beschränkt, innerhalb dieser Grenzen aber vollgiltig
ist) allgemein ausgesprochen werde.
Deutsche Gerichtshöfe entblödeten sich nämlich nicht, einem solchen Ver¬
leger den gesetzlichen Schutz gegen den Vertrieb auswärts veranstalteter Ver¬
vielfältigungen dieses Werks in Deutschland zu versagen, weil mit seiner
Uebereinstimmung das Verlagsrecht an demselben Werke für Frankreich' oder
Italien einem dortigen Verleger ertheilt worden und daher die Entstehung
der Exemplare eine vom Urheber genehmigte und berechtigte war; obwol die
Verpflichtung, die auswärts veranstalteten Vervielfältigungen nicht nach Deutsch¬
land zu vertreiben, im Vertrage ausdrücklich aufgestellt wurde.
Dagegen hat der Entwurf ungeachtet der verschiedenen, auf langjährige
Erfahrungen gestützten Erklärungen der Musikalienhändler, „daß sie einen
eigentlichen ihnen nützendcn Rechtsschutz gegen die Piraterie der Nachbildner
ohne ein Eigenthum an der Melodie nicht genießen würden", dieses nicht auf¬
genommen. Man stellte die Melodie (freilich wegen der wesentlichen Verschie¬
denheit ohne Berechtigung dazu) dem Gedanken gleich und da man mit Recht
ein Gedanken-Eigenthum verwerfen mußte, so lehnte man das Eigenthums-,
recht an der Melodie ab. Wenn nun auch unbedingt zugegeben werden kaun,
daß das Eigenthum an der Melodie in einzelnen Fällen zu einer Tyrannei
führen möchte, wie das Gedanken-Eigenthum, so ist doch einerseits die Ton¬
kunst durch dasselbe in keiner Weise beschränkt, in ihrem Fortschritte nicht ge¬
hemmt, wie die. Wissenschaft es beim Herrschen eines Gedankeneigenthums
sein würde. Andrerseits sind die Grenzen zwischen originaler Benutzung eines
Gedankens und gewinnsüchtiger Benutzung einer fremden Arbeit bei Tonwer-
kcn bei weitem schwerer zu ziehen und darum hier eine strengere Handhabung
des Urheberrechts zweifelsohne gerechtfertigt. Dennoch dürste die Nichtberück-
sichtigung der Wünsche des Musikaiicnhandels, in dieser Hinsicht dem franzö¬
sischen Verleger gleichgestellt zu sein, weniger inconsequent genannt werden,
als die Ablehnung, das getheilte Eigenthum an literarischen Verlagswerken
ebenso wie an Musikwerken anzuerkennen. Wir enthalten uns, auf die laut-
gewordencn Motive einzugehen. Dagegen ist es unumgänglich nothwendig, darauf
hinzuweisen, daß vom Gesichtspunkt des unparteiischen Rechts aus auch nicht
Ein zwingender oder nur scheinbarer Grund vorhanden'ist, hierbei zwischen
Literatur und Tonkunst zu unterscheiden. Dagegen muß man vom Gesichts- ,
Punkt der Zweckmäßigkeit eine solche Verweigerung geradezu als nachtheilig
verwerfen. Nichts wäre geeigneter, uns über die leidigen, zu allen möglichen
Verwirrungen und Beschränkungen führenden internationalen Verträge zum
Schutze des Urheberrechts fremder Völker hinwegzuhelfen, als gerade die gesetz¬
liche Anerkennung des getheilten Eigenthums oder wie es richtiger heißen sollte,
des getheilten Verlagsrechts für die literarischen Geisteswerke. Die Natur des
Urheberrechts steht diesem so wenig entgegen, als dem getheilten Verlagsrecht
im Musikalienhandel, wo es seit Jahrzehnten besteht und geachtet wird. Es
würde dem von der Theorie in neuerer Zeit so sehr angefeindeten Nachdrucke
auswärtiger Vcrlagswerke schneller ein Ende machen, als die mit Fristen und
Clauseln versehenen internationalen Schutzverträge. Mit welchem Erfolge es
trotz des mangelnden Schutzes bereits angewendet worden ist, zeigt die Tauch-
nitz'sche LoIIeetion dritisli autlroi-g hinreichend.
Endlich rügen wir noch an dem Entwürfe, daß auch er das Verhültuiß
zwischen Urheber und Verleger völlig unbeachtet gelassen hat, wie alle ihm
vorangegangenen Gesetze zum Schutze des Urheberrechts. Wir meinen nicht,
daß er alle Bestimmungen des Verlagsrechts, soweit sie die Beziehungen zwi¬
schen Urheber und Verleger berühren, hätte aufnehmen sollen. So schwer der
Mangel eines giltigen Gesetzes über diese Bestimmungen vermißt wird, so
müssen sie doch einen von dem Gesetze über das Urheberrecht getrennten Ab¬
schnitt der Gesetzgebung 'bilden.
Dagegen kommen Seiten der Verleger Verletzungen des Urheberrechts vor,
welche nicht aus dem Verlagsvertrage allein zu erörtern sind, sondern gegen
allgemein giltige Sätze des Urheberrechts angehen. Wir wollen nur auf einen
Punkt aufmerksam macheu. Es ist die unverfälschte Vervielfältigung des vom
Urheber dem Verleger übergebenen Gcisteswerks, Man wende uns nicht ein,
daß dieser Punkt in dem Vcrlagscontracte mit ausgenommen werden könne.
Denn einmal denken sich die meisten Urheber kaum einen solchen Frevel als
möglich und schützen sich daher selbst da, wo man zur Klagbarmachung schrift¬
liche Verträge abschließen muß, nicht davor durch Aufnahme dieser Bestimmung
in den Verlagsvertrag. Sodann wollen wir uns die für den freien Verkehr so
nothwendige Bestimmung, daß auch mündlich abgeschlossene Verträge klagbar
sum, nicht nehmen lassen. Und bei mündlichen Verhandlungen kommt eine
solche Bestimmung kaum jemals vor. Wir finden aber in der willkürlichen
Veränderung des Geisteswerkes durch den Verleger oder Drucker eine unbefugte
Vervielfältigung, wie in jedem Plagiate.
Ja, wir erachten die Rechtsverletzung so stark, daß wir selbst demjenigen
Verleger, welcher dem Urheber nicht nur das Verlagsrecht, sondern das ganze
Eigenthum am Gcisteswerke abkaufte, keineswegs das Recht zugestehen, nur
are Zeile, einen Takt oder eine Linie in einem Kunstwerke willkürlich zu ver¬
ändern, wenn er den Namen des Urhebers der von ihm veranstalteten Ver-
vielfältigung vorsetzt. Wenn man diesen unseres Erachtens einzig haltbaren
Gesichtspunkt behauptet, daß in dem eigenmächtigen Verfahren eine unbefugte
Vervielfältigung liegt, dann war das Verbot unter Strafandrohung auch ein
nicht abzuweisender Theil des Inhalts des Entwurfes.
Wir haben versucht den Werth des Entwurfs gegenüber dem bestehenden
Rechte zu prüfen und darzustellen. Ungeachtet wir nicht verschweigen durften,
daß noch Manches in den Wünschen derer, welche für kräftige Entwicklung und
ein Fortschreiten zur Vollendung des Urheberrechts kämpfen, gelegen haben
mag, was darin übersehen oder geflissentlich nicht aufgenommen ist; so hoffen
wir, daß ungeachtet dieser offenherzigen Rüge in unserer Darstellung unsere
Meinung nicht verkannt werden wird. Sie geht dahin, daß es für Literatur
und Kunst in Deutschland ein großer Segen sein würde, wenn der Entwurf zur
gesetzlichen Geltung gelangte. Dabei legen wir nicht das kleinste Gewicht darauf,
daß durch diese Errungenschaft die Einheit Deutschlands wenigstens auf einem
Theile des geistigen Gebietes verwirklicht wäre. Kein Volk ist so geneigt,
an dem errungenen Schatze sich trotz aller politischen Zersplitterung als Einheit
zu erkennen, und von diesem Gebiete aus die streitenden Elemente versöhnen
zu! lassen als unser deutsches. Ein Weg ist hier gezeigt! Es ebne ihn, wer
Der Verfasser des vorliegenden Werks giebt von Friedrich dem Großen
ein Bild, dem gegenüber die bekannte Zeichnung Macaulays noch wie eine
Verherrlichung aussieht. Zwar hat Macaulay die ganze Kraft seiner Farben
aufgeboten, den Preußcnkönig in einem möglichst abschreckenden Licht zu zei¬
gen; aber als Künstler fühlt er doch, daß man den ersten Mann des Jahr¬
hunderts nicht als einen leeren Schemen darstellen darf; er begreift, daß die
Bewunderung eines Jahrhunderts sich auf etwas Reales beziehen muß,
und wenn es an die Geschichte des siebenjährigen Krieges geht, so weiß er
diesen gewaltigen Menschen so zu zeichnen, wie es dem Künstler ziemt. Frie¬
drich erscheint als ein Dämon, zum Unheil der Menschen geboren, aber als
ein Dämon, auf dessen Stirn ein Funke jenes göttlichen Lichtes blitzt, das
Milton anch in dem Fürsten aller Empörer, in Lucifer entdeckte.
Herr Ouro Klopp besitzt dieses künstlerische Gefühl nicht. Er wieder¬
holt die Anklagen Macaulay's, vermehrt sie mit neuen, politischen und mora¬
lischen, aber er gibt ihnen kein Gegengewicht. Von der Führung des großen
Krieges wird weiter nichts erzählt, als daß Friedrich die Franzosen bei Ro߬
bach wider seinen Willen schlug, und daß er sich das Geld zu diesem Kriege
durch greuliche Erpressung verschaffte. Vielleicht ist das nur Bescheidenheit:
er ist kein Militär, und fühlt sich der. Aufgabe, einen Feldzug zu schildern
nicht gewachsen. Aber er thut mehr: er deutet verblümter Weise an, daß der
Glaube an Friedrichs Feldherrntalent wol eben so windig sein dürfte, als
der Glaube an seine sonstigen Vorzüge. Er erzählt, daß,Prinz Heinrich zu
Reinsberg den Helden des siebenjährigen Krieges Denkmäler errichtet habe,
und daß Friedrich unter denselben nicht gewesen sei. Er erzählt das in jener
mysteriösen Weise, die den Leser ein schwarzes Geheimniß vermuthen läßt, in
derselben Weise, wie er z. B. erzählt, daß Friedrich Wilhelm I., als er seinen
Sohn zum Tode verurtheilte, wol noch ein anderes Verbrechen desselben im
Auge gehabt haben könne, als den Versuch der Desertion. Was für eins?
Herr Klopp beobachtet darüber ein schauerliches Schweigen, aber die Atmo¬
sphäre, die man in seiner Schrift athmet und die stark an Eugen Tue erinnert,
läßt bei dem arglosen Leser keiner andern Vermuthung Raum als: Versuch
des Vatermordes. Friedrich Wilhelm I. hat seinem Sohn zu verstehen gege¬
ben, er könne ihm noch Vieles vorwerfen. Zwar befand er sich, als er das
sagte, in einem völlig unzurechnungsfähigen Zustand; er befand sich oft in
einem solchen Zustand, Herr Klopp macht es selbst bemerklich, wo es darauf
ankommt, die Anklagen des Königs gegen Oestreich als nichtig darzustellen;
aber hier, wo es gilt, in dem Leser einen angenehmen Gespensterschauer zu
erregen, vergißt er diesen Umstand. Friedrich war von seinem Vater aus
jede erdenkliche Weise gemißhandelt worden, er konnte täglich noch ärgere Mi߬
handlungen erwarten; daß er sich bemühte zu entlaufen, war sehr natürlich;
daß der König die Desertion eines Offiziers als den furchtbarsten Frevel gegen
Gott ansah, daß er es noch für eine gelinde Strafe hielt, den Malificcmten
wir glühenden Zangen zu zwicken und dann zu viertheilen, ist bekannt, und
Herr Klopp erzählt es selbst, daß er also in der Stimmung war, sich seinen
Sohn in seinen Phantasien noch schwärzer als Judas Jschariot auszumalen,
darf keinen überraschen, der mit seiner Redeweise vertraut ist. Aber Herr
Klopp, der seinen Eugen Sue wohl gelesen hat, läßt seine Phantasie anregen
und ahnt etwas Entsetzliches. Er spricht das Wort des Vatermordes nicht
aus; aber wasfür ein Verbrechen dem jungen Prinzen sonst vorgeschwebt ha¬
ben soll, wird die kühnste Combination nicht ergrübeln.
Das Beispiel ist charakteristisch sür das ganze Buch, denn nicht die offene
Anklage, sondern die verblümte, halb verschwiegene, welche mehr die Phan¬
tasie als den Verstand anregt, macht den Kern desselben aus. Das Beispiel
ist noch in einer andern Weise charakteristisch. Macaulay wählt für seine Per¬
spektive einen sehr gewagten Standpunkt, aber er ist doch so weit Künstler,
daß er nun auch die Figuren, die in diese Perspective fallen, an demselben
Ort läßt. Vom Standpunkt der Humanität des 19. Jahrhunderts aus ver¬
urtheilt er den militärischen Despotismus Friedrichs, aber nun bleibt er
auch dabei stehn; von diesem Standpunkt aus erscheint ihm der militärische
Despotismus Friedrich Wilhelms I. noch viel greulicher, weil er in den For¬
men viel brutaler, in seinem Zweck vollkommen sinnlos war. Herr Klopp
aber wechselt den Standpunkt: gegen Friedrich spielt er den Trumpf der Huma¬
nität aus; Friedrich Wilhelm I. dagegen, so oft er in Conflict mit seinem
Sohn kommt, erscheint als der schlichte brave Mann. Das ist um so auffal¬
lender, da er sonst keine Gelegenheit versäumt, dem gesammten preußischen
Regentenhause so viel schwarze Dinge nachzusagen als möglich. Und was ist der
Grund dieser doppelten Perspective? Friedrich Wilhelm I. war östreichisch
gesinnt, Friedrich war ein Feind Oestreichs. — Macaulay's Essay war ein
künstlerisches Experiment in ungewöhnlichen Farben, das Buch des Herrn Klopp
ist eine Parteischrift, die nicht auf eine objective Darstellung ausgeht, sondern
die den bewußten Zweck hat, den Helden einer Partei und damit die Partei
selbst in möglichst abschreckenden Licht zu zeigen.
Man sehe sich den Umschlag des Buchs an:, lauter Schriften zur Ver¬
herrlichung Oestreichs und des Katholicismus, meistens von Renegaten ab¬
gefaßt z. B. von Hurter und Gfrörer. Auch Gfrörer sing keineswegs offen
als Katholik an: sein nstes Werk vertrat den sogenannten ghibellinischen
Standpunkt, den Standpunkt, den ein anderer Renegat, Friedrich Schlegel,
erfunden hatte; er sprach sich mit der größten Verachtung über die Bigotterie
Ferdinand des Zweiten, über die Einmischung religiöser Motive in politische
Entschlüsse, mit der allergrößten Verachtung über die deutsche Kleinstaaterei
aus. Es war, so viel wir beurtheilen können, ehrlich gemeint und nicht ohne
Geist geschrieben. Aber das Sprichwort, welches uns warnt, einem den
Finger zu geben ehe wir zugesehen haben, wer er ist, weil er sonst leicht die
ganze Hand nimmt, hat vollkommen recht: Herr Gfrörer bestreut jetzt sein
Haupt mit Asche, schwingt in den Processionen das Rauchfaß und küßt den
Bettelmönchen die Kapuze.
Das soll nicht eine Widerlegung sein; es ist eben nur eine Bemerkung.
Herr Klopp begann mit einer objectiv geschriebenen Geschichte Ostfrieslands.
Die Wendung, welche der letzte Band dieser Geschichte nahm, schien dem Land-
rathscollegium von Ostfriesland nicht mehr objectiv, sondern tendentiös; es
entzog ihm die bisher bewilligte Unterstützung, wofür ihn die hannöversche
Regierung entschädigte. Gegen die ausgesprochene Tendenz der gegenwärtigen
Schrift wird Graf Borries nichts einzuwenden haben, sie wird ihm viel¬
mehr sehr genehm sein. Aber im Geist des Verfassers scheint uns ein Trieb
der Konsequenz zu liegen, die ihn auf der Bahn der „ghibellinischen" Politik
noch über den Grafen Borries hinausführen wird.
Die Tendenz der Schrift ist die Verurtheilung des Dualismus zwischen
Oestreich und Preußen, und die Anklage gegen den König, daß er einzig und
allein diesen Dualismus herbeigeführt habe. Alles andere ist Beiwerk, und
namentlich der Zorn gegen Friedrich gilt nicht dem unsittlichen Menschen, als
welcher er hier erscheint, sondern dem politischen Gegner. Diese politische
Seite der Schrift soll auch hier hauptsächlich ins Auge gefaßt werden. Doch
muß über die Art und Weise, wie das sittliche Bild Friedrichs zu Stande ge¬
bracht ist, vorher noch einiges gesagt werden.
Die größere Zahl der Männer, welchen die Geschichte den Beinamen des
Großen gibt, waren Eroberer. Jeder Eroberer verursacht seinem Zeitalter
schwere Leiden, die mit der Zeit in Vergessenheit gerathen. Die Nachwelt
sieht die Thaten des großen Mannes aus der Ferne und macht sich aus dem
Ganzen seines Lebens ein Bild, dem immer etwas Mythisches anklebt. Die
historische Kritik wird gegen dieses mythische Bild sehr viel einzuwenden ha¬
ben; wenn sie aber weise ist, so wird sie es nicht ganz außer Acht lassen,
sondern sich zu erklären suchen, woraus dasselbe sich gründet; denn sie muß
sich stets daran erinnern, daß die Genauigkeit des Details noch lange nicht
die Aehnlichkeit des Portraits bedingt, und daß sich der Geist eines großen
Menschen in der Ueberlieferung oft richtiger ausspricht, als in einzelnen au¬
thentischen Urkunden. '
Jeder Eroberer, ja im weitern Sinn jeder Gründer eines neuen Lebens¬
elements muß Altes zerstören. Dazu gehört eine gewisse Härte des Gemüths
und ein Mangel an Pietät gegen überlieferte für heilig gehaltene Satzungen.
Man erzählt von Friedrich, daß er einmal ein suchendes Bataillon mit den
Worten zurückgetrieben habe: Ihr Racker, wollt ihr denn ewig leben? —
Das klingt entsetzlich, wenn man sich auf seinem Zimmer mit den Lehren der
Weisheit und Tugend beschäftigt; auch soll die Aeußerung nicht gelobt wer¬
den. Aber genau so, ohne alle Ausnahme, empfindet jeder Feldherr in der
Schlacht. Wenn nicht jeder Feldherr so massenhaft die Menschen abschlachten
läßt wie Suworow, so ist das, weil nicht jeder mit seinem Material so ver¬
schwenderisch umgehn kann; Humanitätsrücksichten halten keinen zurück. Der
Mythus von Friedrich ist durch die zahlreichen Bonmots, die man von ihm
hat. sehr gefördert worden; aber für ein Zeitalter der Kritik sind diese Bon¬
mots wieder sehr bedenklich.
Indessen verzeiht man auch die Härte, wenn sie mit einer gewissen Gran¬
dezza auftritt. Ein Mongolenfürst, dem eine halbe Million folgt, kann viele
Greuelthaten begehen: da er gegen seine Umgebung allmächtig ist, so nimmt
seine Willkür etwas Göttliches an und äußert sich mitunter auch wol als
Großmuth. Schwerer verzeiht man vom ästhetischen Standpunkt die List.
Die Anfänge mongolischer Herrschaft verlieren sich ins Dunkle. Durch welche
Winkelzüge sich der Eroberer an die Spitze seiner halben Million gestellt, ist
nicht bekannt: sobald er in Scene tritt, ist er der Herr, der Allmächtige. Wo
aber der Schwächere zu großer Macht emporstrebe, da wird er das Hilfsmittel
der Politik nicht entbehren können, und soviel der Mythus gearbeitet haben
mag. die Spuren des Kleinlichen zu verwischen, die Kritik entdeckt sie doch.
Die Empfindung also, welche Friedrichs Geschichte erregt, wird je nach dem
Gesichtspunkt, den der Beschauer einnimmt, sehr verschieden ausfallen. Aber
es kommt noch ein ganz eigenthümlicher Umstand hinzu.
Wir hatten in Prima einen geistvollen Lehrer, der sich bei dem deutschen
Aufsatz nicht blos auf die äußere Correctur beschränkte, sondern uns in die
richtige Methode einzuführen suchte. Er nahm u. a. die Charakteristik Fried¬
rich des Großen mit uns durch. Zuerst zeigte er. daß wir das gesammte
Material nach einer bestimmten Ordnung classificiren müßten: Friedrichs Eigen¬
schaften als Staatsmann, als Feldherr u. f. w.; wenn wir hier in den einzel¬
nen Fächern alles zusammen hätten, müßten wir untersuchen, welches für uns
das wichtigste sei? dieses müßte der leitende Gesichtspunkt für den ganzen Auf¬
satz sein, und alle andere Fächer müßten sich demselben unterordnen, alle von
dieser Perspective aus betrachtet werden. Unter den verschiedenen Eigenschaften
Friedrichs wurde auch erwähnt, daß er Poet und Schriftsteller gewesen. In¬
dem wir nun itnser Gutachten abzugeben und zu begründen hatten, welche
von Friedrichs Eigenschaften in den Mittelpunkt zu stellen sei. kamen wir alle
darin überein. daß es die Schriftstellerei entschieden nicht sein könne. Zu unsrer
äußersten Verwunderung bemerkte der Lehrer, daß es doch wol geschehen könne,
wenn man es nur geschickt anzufangen wisse.
Er gab dem Einfall keine weitere Folge. Gewiß wäre er aber nicht
weniger verwundert gewesen, als wir. wenn er gewußt hätte, daß noch in
demselben Jahre oder ein bis zwei Jahre später der Einfall wirklich von einem
großen Schriftsteller durchgeführt werden sollte. Denn das ist das Charakte¬
ristische von Macaulay's Aufsatz, daß ihm Friedrichs Schriftstellerei den Ge¬
sichtspunkt für die Würdigung des ganzen Menschen gibt.
Unmittelbare schriftliche Auszeichnungen gehören gewiß zu den wichtigsten
Momenten in der Beurtheilung einer historischen Person; theils um die That-
fachen, theils um die Motive festzustellen. Wenn wir aber Friedrichs Ge¬
dichte, ja auch einen großen Theil seiner prosaischen Aufsätze und Briefe auf¬
schlagen, so gewahren wir zu unserm größten Erstaunen, daß hier eine ganz
andere Atmosphäre von Empfindungen und Gedanken herrscht, als die wir
aus seinem wirklicken Leben herauslesen. Ein Beispiel genügt. Er schrieb
die Widerlegung des Macchiavell, als der Ueberfall der östreichischen Monarchie
ihm schon im Sinne lag; er gab die zweite Auflage heraus, als er ihn ins
Werk setzte. Nun waren die Motive dieses Ueberfalls gewiß so macchiavelli-
stischer Art, als irgend ein historischer Entschluß. Und überhaupt finden sich
die zahlreichsten Widersprüche zwischen den Motiven Friedrichs, die er ganz
offen, nicht blos in seinen Briefen, sondern auch in seinen historischen Werken
ausspricht, und den Lehren des Antnnacchiavell.
Diesen Widerspruch aufzulösen, ist die oberflächliche Erklärung leicht bei
der Hand: der Schriftsteller suchte die Welt über das zu täuschen, was der
Politiker vorhatte. Der einfache Vergleich der Daten ergibt das Unsinnige
dieser Voraussetzung. Friedrich schrieb in gutem Glauben seinen Antnnacchia¬
vell, er legte in ebenso gutem Glauben in den Briefen und Memoiren seine
macchiavellistischen Grundsätze nieder, er empfand den Widerspruch gar nicht,
weil in der Bildung seines Geistes und Herzens ein Dualismus herrschte, der
zu den größten Räthseln unserer Culturgeschichte gehört. Macaulay hat an
diesem Räthsel geistvoll boshaft, Herr Klopp hat geistlos daran herum ge¬
lastet; vielleicht wird Carlyle in der Fortsetzung seines Werks eine tiefere Auf¬
lösung finden. Hier nur einige Worte darüber. —
Zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war keine Nation in Europa
geistig so wenig entwickelt als die deutsche; oder vielmehr — denn der Aus¬
druck ist nicht ganz genau — die deutsche Nation hatte durch eine lange schwere
Krankheit den Gebrauch ihrer Zunge und dadurch bis zu einem gewissen Grade
die Bestimmtheit ihres Denkens und Empfindens verloren. Ihre mittelalter,
liebe Poesie und Sprache hatte sie ganz vergessen, das Volkslied war ver¬
stummt, der Meistergesang wucherte nur noch kümmerlich in armseligen Gelegen¬
heitsgedichten, die Sprache Luthers war durch scholastische Verbildung der
Universitäten aus den Fugen gerissen, der Versuch einer gelehrten Poesie, der
mit Opitz begann und ohnehin mit dem Leben des Volks nichts zu thun hatte,
war seit Lohensteins Tod völlig ausgegeben. Die Gelehrten correspondirten
untereinander in einem möglichst schlechten Latein, in dem sie es doch eigent¬
lich nie bis zum Denken brachten, und darin wurde auch die Jugend erzogen.
Wenn Leibnitz. vielleicht der erste Denker des Jahrhunderts und auch als
Schriftsteller in erster Linie, sich deutsch auszudrücken versucht, so ist es rud.
rend zu verfolgen, welche Mühe ihm das macht und wie wenig es ihm gelingt,
jene Klarheit und Fülle zu gewinnen, die ihm im Französischen nie fehlt.
Noch unbeholfener sehen die Versuche von Thomasius und andern braven und
ehrlichen Denkern aus. Nicht blos die Worte fehlten, man hatte auch den
Satzbau verlernt. Es wurde erst besser, als zwei einseitige aber consequente
Schulmeister, Wolf und Gottsched, Deutschland förmlich in Zucht nahmen
und ihm das ABC beibrachten. Nachher, als die Deutschen das ABC gelernt,
und ihre Schulmeister verlangten, sie sollten dabei stehn bleiben, wurden sie
mit Recht abgesetzt. Im Jahr 1740 aber, als Friedrich 28 Jahr alt und
der Schule längst entwachsen zur Regierung kam, saßen die Deutschen noch aus
den Schulbänken.
Die andern Nationen. Italiener, Spanier, Franzosen und Engländer, er¬
freuten sich bereits einer reichen und in ihrer Art vortrefflichen Literatur, an
welcher die Großen in Deutschland ihre Neigung zum gebildeten Genuß be¬
friedigten. Das Haus Oestreich führte seiner Verbindung wegen bald die spa¬
nische, bald die italienische Sprache bei Hofe ein; da es aber mit der geisti¬
gen Bewegung der deutscheu Nation in keiner oder nur in geringer Verbin¬
dung stand, so fanden diese Sprachen keine Verbreitung. Die Höfe von
Berlin, Dresden, Hannover, Heidelberg sprachen französisch. Diese Sprache
war in der That damals am meisten geeignet, den Weltverkehr zu unterhalten.
Sie ließ sich erlernen, denn ihre Gesetze waren durch die Akademie streng
geordnet, sie verstattete einen genauen und raschen Ausdruck, sie war so weit
gebildet, daß man eine ganze Reihe sittlicher und ästhetischer Vorstellungen
gewissermaßen mit in den Kauf nahm, sobald man nur die Grammatik lernte.
In keiner Sprache war es möglich, so viel Salbung mit so viel Vernunft zu
verbinden. Die Franzosen — die Bossuet, Racine u. s. w. — waren katholisch
und orthodox, aber ihre Sprache zwang sie, den offenbaren Unsinn zu ver¬
meiden. Außerdem besaß die Sprache Geschmeidigkeit genug, durch Witz und
Scharfsinn die hergebrachten Begriffe zu zersetzen, und einen Geist, der nach
Freiheit strebte, ohne zu große Anstrengung in das Spiel ungewöhnlicher Re¬
flexionen einzuführen. Endlich, sie lehrte mit Anstand höflich sein; sie konnte
die unerhörtesten Schmeicheleien aussprechen, ohne in der Form dem Selbst¬
gefühl etwas zu vergeben, während die damalige deutsche Canzleisprache, auch
wo in den Gedanken und Empfindungen sich große Kühnheit versteckt, in der
Form, wie eine Sprache von Knechten aussah.
Friedrichs Vater haßte die Franzosen und ihre Sprache; aber er hatte
es doch nicht gehindert, daß Friedrich selbst im Geist seiner Großmutter So¬
phie Charlotte schon als Kind französisch erzogen wurde. Mit der fran¬
zösischen Sprache nahm er zugleich die gestempelten sittlichen Begriffe der Fran¬
zosen in sein Gedächtniß aus und lernte nach der Analogie derselben reden,
in Versen wie in Prosa — über Tugend. Ehre, Bildung, Sittlichkeit. Des¬
potismus u. s. w. Ob er auch so zu denken und zu empfinden lernte, ist
eine andere Frage. Freilich gefielen ihm die Worte, die Begriffe, die Gedan-
ken; er ließ sie gern und leicht über die Zunge gleiten; er weinte auch wol
im Theater bei schönen Stellen, und war gewiß selber sehr bewegt, wenn er
in Versen oder in Prosa eine schöne Stelle niedergeschrieben hatte: aber es
war das jene oberflächliche Erregung, für welche Göthe das vortreffliche Wort
Anempfinder erfunden hat. Seine eigene Seele darf man in diesen schö¬
nen Stellen nicht suchen, aber auch nicht in den schlechten Stellen, denn jene
Geschmeidigkeit im Zersetzen sittlicher Begriffe, die so leicht den Anschein der
Frivolität annimmt und die uns in Friedrichs Briefen in der That nicht sel¬
ten anstößig wird, war eben so von der Amme und dem Schulmeister gelernt
wie jene sentimentalen und salbungsvollen Redensarten. Herr Ouro Klopp
hat eine Menge von Briefsteller excerpirt, um seinen Helden recht schwarz zu
malen. Die folgende hat er nicht angeführt, auf die man überhaupt noch
nicht aufmerksam gewesen ist. Es ist aus einem Brief an D arg et, 10. Mai
1754, über den Unterschied der Deutschen und Franzosen. II est vrg,i, guf
nous Komme« xssg.ut.8, 1ourä8, et ^no nous avons 1ö mMsur ä'avoir an
Kor glzns; rruÜ8 8'it vou8 t'alunt edoisir un ami, ekelt yui 1e xreuZi-le?! vous?
Die Stelle verdient Erwägung, denn sie ist wahr, nicht blos objectiv, sondern
auch subjectiv, obgleich Friedrich ihr öfters widerspricht. Hinter seiner fran¬
zösischen Larve steht man das altmärkische Gesicht, den Sohn seines Vaters,
den Urenkel des großen Kurfürsten, den Erben der eisernen Markgrafen, die
Mit rauher Hand aber sicherm Blick Zugriffen, wo es nöthig war.
Friedrich war nicht so enthusiastisch, nicht so sentimental, aber auch nicht
so frivol als seine Zunge. Freilich war es ein Unglück für ihn, daß der
Einfluß seines Redens auf einen großen Theil seines Geistes übergegangen
war, aber es gab doch einen Kern in demselben, der frei von diesem Einfluß
und deutsch geblieben war. Es ging ihm wie der ganzen Zeit, die ihre Ideale
außerhalb des wirklichen Lebens, im Reich der schönen Träume suchte. Las¬
sen wir uns von den Redensarten nicht täuschen, so finden wir sogar viel
Aufrichtigkeit; nur muß man sich nicht an die Worte halten. — Insgeheim
schwebt uns immer die Idee vor, ein großer Mann stelle seinem Leben ein
Princip zum Wohl des Menschengeschlechts und zum Frommen des künftigen
Geschichtsphilosophen, und nach diesem richte er die Grundsätze seines Han¬
delns ein. Das ist noch nie vorgekommen, so lange die Welt steht. Der Ge¬
waltige, der ein Jahrhundert sich unterjocht, wird durch seinen Dämon d. h.
durch die übersprudelnde Kraft seines Geistes getrieben, sich selber zu bethä¬
tigen, und da nur die Kraft sich geltend macht, die zugleich allgemeine Kraft
der Epoche ist, so werden durch diese Selbstbethätigung zugleich die Zwecke
der Vorsehung gefördert. Friedrich hat freilich im Anfang seiner Laufbahn
nicht überlegt, ob das, was er unternahm, zum Frommen Deutschlands und
der Menschheit sei; er drückt sich in seiner französischen Art frivol genug dar¬
über aus: er wolle seinen Namen in den Zeitungen lesen. Alexander der
Große, Cäsar u. s. w. sprachen nicht französisch und Zeitungen gab es nicht;
wenn sie aber dem Trieb ihres Dämons Worte geliehen hätten, so würde es
ungefähr auf dasselbe herausgekommen sein.
Es ist nicht nöthig, aus das Nebenwerk weiter einzugehn. Wenn Herr
Klopp z. B. über den Mangel an männlicher Würde die Hände ringt, der
darin liegen soll, daß der junge Friedrich einem Vater gegenüber, der jedes
seiner Worte mit finsterm Argwohn belauert, und der nicht blos mit dem Stock,
sondern mit dem Schwert des Henkers bei der Hand ist) sich in Formen der
Untertänigkeit überbietet, und andern gegenüber seinen Trotz und seine Krän¬
kung nicht verhehlt, so ist dieser scharfe Tadel ein erfreuliches Zeugniß für das
sittliche Gefühl des modernen Scribenten, aber man kann eigentlich doch nur
die Achsel darüber zucken. Wenn er ferner, um das Räthsel zu erklären, wie
ein so schwarzes und dabei so unbedeutendes Ungeheuer die Begeisterung
seines Jahrhunderts erregte, wie aus ihm jene mythische Figur wurde, die
wir alle kennen; wenn er, um dies zu erklären, mit der ehrbarsten Miene von
der Welt versichert: auch diese Begeisterung sei nur ein Mythus der späteren
Zeit, künstlich hervorgerufen durch preußische Schriftsteller, namentlich durch
einen gewissen Fischer: — so ist die Gravität dieser Behauptung, gleichviel
ob sie aus Unwissenheit oder aus bösem Willen hervorgeht, das schlagendste
Kennzeichen für den sittlichen Werth des ganzen Buchs. — Wir lassen diese
Spielereien gänzlich bei Seite, und wenden uns zum Kern der Sache.
Die Stimmung der Zeitgenossen sür Friedrich ging aus dem Eindruck
hervor, den ein großer souveräner und zusammenhängender Wille immer her¬
vor bringt, namentlich aber auf ein Zeitalter, das nur an halbes, unklares
Wollen gewöhnt in immer tiefere Schlaffheit versinkt. Diese Stimmung gilt
nicht blos dem Feldherrn: nicht lange vor dem siebenjährigen Krieg hatte
Prinz Eugen sehr große Schlachten gewonnen, ohne daß die Popularität
Eugen's mit der Friedrichs im entferntesten zu vergleichen wäre.
Das Urtheil der Nachwelt dagegen beruht noch auf etwas Anderem. Die
Nachwelt fragt nach der Frucht, die jener große Wille hervorgebracht. Diese
Frucht ist die Gründung des preußischen Staats. Wenn Hr. Klopp über den
Ausdruck Friedrichs: Lg. Nation prusienns spöttelt, so wollen wir die Korrekt¬
heit desselben nicht vertheidigen; aber Hr. Klopp weiß recht gut, wie er ge¬
meint ist und daß er sich auf Wahrheit gründet, denn er selber sagt: erst seit
Friedrich gab es Preußen. Freilich meint er, außer den Preußen gäbe es
nur noch „Deutsche"; aber es scheint doch u. a. auch noch Oestreicher zu
geben, die z. B. 1848 in der Paulskirche sich schärfer von den „Deutschen"
sonderten, als die Preußen; und diese Oestreicher hat es schon vor Friedrich
gegeben, wenigstens zeichneten sich die^ Pnnduren. die Ungarn und Kroaten
nicht übertrieben durch deutsche Gesinnung aus. — Ist die Gründung Frie¬
drichs, ist die Gründung des preußischen Staats ein Gewinn oder Verlust für
Deutschland? Das ist d.le Frage, auf die alles ankommt.
Denn nur eine unverständige Vergötterung kann alle Mittel, die ein großer
Mann anwendet, unbedingt vertreten oder gar zu Regeln stempeln wollvn.
Wir sind bereit, Herrn Klopp eine große Menge von Zugeständnissen zu
machen. Friedrichs Handelspolitik war gänzlich verfehlt; seine Militäreinrich¬
tung wich zwar nicht so ungeheuer von der anderer deutscher Fürsten ab, als
gesagt wird: wenn Herr Klopp z, B. die sächsische Geschichte studiren wollte,
so würde er finden, daß der König von Polen, August der Starke, lange vor
Friedrich seine Rekruten auch auf eine ganz erstaunliche Weise zusammen¬
brachte. Aber zu rechtfertigen war Friedrichs System nicht. Ein Heer, wel¬
ches man blos als gut gedrillte .Maschine betrachtet, tan» vorübergehend
unter einem gewaltigen Feldherrn große Erfolge haben; auf die Dauer aber
ruinirt es den Staat. Jena hat uns gezeigt, was es mit -diesem Systeme
auf sich hat, wenn eben kein Friedrich an der Spitze steht. 1813 hat uns
gelehrt, wie wir unser Heer auf dem Boden der Nationalität aufzurichten
haben. Sollte die unglückselige Idee, die Landwehr aufzugeben und im alten-
ftitzeschen Sinne durch eine große Drillmaschine auf Unkosten oller übrigen
Staatskräftc zu ersetzen, wirklich ausgeführt werden, sollte das Innkerthum
wieder zum Herrn der Armee und die Armee zum Herrn des Staats gemacht
werden, so wäre durch diesen Schritt, der uns um ein Jahrhundert zurück
brächte, auch der erste Schritt zu Preußens Untergang gethan. — Verwerflich
war es ferner, daß Friedrich ganz allein regieren wollte. Diese Ausgabe geht
über die Kräfte auch des größten Menschen hinaus und würde in unserer
Zeit, wo die Bedürfnisse so viel verwickelter geworden sind, zur Auflösung
führen. — Es ist sehr nöthig, das deutlich auszusprechen; denn wir, die Be¬
wunderer und Anhänger Friedrichs, des Gründers von Preußen, haben alle
Ursache, die Folgerungen von uns abzuwehren, welche die Feinde Preußens
uns aufbürden möchten. Nicht der Stock, nicht die Fuchtel, nicht das Junker-
thum, nicht die Regie sind die Dinge, die wir in Friedrich verehren: diese
Reliquie» überlassen wir gern der Kreuzzeitung und ihren Freunden.
Wir verehren Friedrich als Gründer des preußischen Staats. Das war
trotz jener Fehler; er war nicht, wie Herr Klopp uus glauben machen möchte,
^r bloße Kriegführer, der einige Sommer hindurch Geld zusammen scharrte,
um damit sein Wintewcrgnügen, einen Feldzug, zu bestreiten. In Herrn
Klopps Darstellung durchkreuzen sich zwei verschiedene Systeme. Nach dem
einen System hat Friedrich durch seinen ersten Frevel, durch die Eroberung
Schlesiens seine Zukunft gebunden; er war zu beständigem Mißtraun gegen
das beleidigte Oestreich genöthigt, und dieses Mißtraun erstickte bei ihm alle
andern politischen Gedanken. Nach dem andern System ging er auf sein
Wintervergnügen aus, sobald er genug zusammen gespart; so 1756, so 1778,
so 1785. Der siebenjährige Krieg sei nicht ein Krieg der Abwehr, sondern
ein Eroberungskrieg gewesen, ebenso" der baycrschc Erbfolgekrieg; in beiden
Fällen habe er sich aber verrechnet und daher seinen Zweck verfehlt.
Es ist richtig, daß Herzbcrgs Denkschrift von 1756 den juristischen Beweis für
den beabsichtigten Friedensbruch von Seiten Oestreichs nicht führt; aber daraus
kommt es auch nicht an. Friedrich erklärte selbst, daß seine Feinde den Krieg
nicht jetzt, sondern später wollten, und daß er ihnen zuvorkam, bevor sie ge¬
rüstet wären. Von dieser Absicht war er moralisch überzeugt: die Stellen,
die Herr Klopp aus seinen spätern Briefen anführt, beweisen gar nichts.
Uebrigens sind wir keineswegs gemeint, die Maxime seines Handelns bei
dieser Gelegenheit als allgemein giltige Maxime aufstellen zu wollen. Was
aber denbaycrschen Erbfolgekrieg betrifft, so thut der Versasser dem König ent¬
schiedenes Unrecht; denn durch diesen kleinen Krieg wurde verhindert, was
Friedrich allein verhindern wollte, das Wachsthum Oestreichs. Der Fürsten-
bund hatte einen ähnlichen Zweck. Gern wollen wir zugeben, daß der erste
Schritt, der Angriff gegen Oestreich und das daraus hervorgehende Mißtraun
nicht wenig dazu beitrug, seiner spätern Politik die beständige Richtung gegen
Oestreich zu geben; aber dieser Gegensatz hatte noch einen tiefern Grund.
Mit sicherm Blick erkannte Friedrich, wo er aufräumen müsse, um der neuen
Schöpfung Platz zu verschaffen. Er hat das Reich nicht zerstört, das als
solches nur auf dem Papier vorhanden war; aber er hat die Anarchie, die
er vorfand, zu einem bestimmten bleibenden Gegensatz zusammengerafft; er
hat den Weg eingeschlagen, auf welchen die Zustände ihn dringend hinwiesen,
er hat dem Gedanken, der seinen Vorfahren mehr oder minder unklar vor¬
schwebte. Leben gegeben; und dieser Weg war der einzige, auf dem für
Deutschland ein neues Leben zu hoffen war.
Die Vorwürfe, er habe Deutschland den Fremden geöffnet, so oft sie sich
wiederholen, sind völlig aus der Luft gegriffen. Die Fremden waren schon
vor Friedrich genug in Deutschland. Frankreich hat vor Friedrich von 1535 bis
1735 dem sogenannten deutschen Reich eine Provinz nach der andern genommen.
Alle diese Provinzen hatte der deutsche Kaiser abgetreten, theils aus Noth,
theils um seinem Haus Erwerbungen zu verschaffen. Die letzte Provinz, die
er abtrat, Lothringen, war ein Austausch gegen Toscana, welches sein Schwieger-
ohn erhielt. Der blutige Krieg, der 1714 endigte, wurde nicht um des denk-
schen Reichs willen geführt, nicht um dem deutschen Reich eine verlorene Pro¬
vinz wieder zu erobern, sondern um dem Hause Habsburg die Krone Spa¬
niens zu verschaffen, womit dem deutschen Reich gewiß nicht gedient war.
Das Blut dieses Krieges floß nicht für Deutschland, sondern für den unver¬
ständigen Ehrgeiz des Hauses Habsburg: für den unverständigen, denn es
wußte nicht, was es mit dem Erbe Spaniens anfangen solle.
Während der Regierung Friedrich des Großen hat Frankreich von Deutsch¬
land nichts erworben, denn die Uebertragung Lothringens von Sobiesky an
Frankreich war nur noch ein formeller Act.
Die Fremden hausten mehr als nöthig in Deutschland. Die Schweden
waren in Pommern; als der große Kurfürst sie daraus vertreiben wollte,
hinderte ihn der Kaiser im Einverständnis; mit dem Erbfeind, denn es lag
ihm nichts daran, „daß im Norden ein neues Königreich der Vandalen sich
bildete." Die deutschen Fürsten, die in Deutschland selber sich nicht ausbreiten
konnten, suchten fremde Kronen, und da ihr Schwerpunkt dann nach Außen
fiel, wurde Deutschland durch fremde Interessen bald hie bald dahin, immer
auseinander gerissen. Der Herzog von Holstein war zugleich König von Däne¬
mark, der Kurfürst von Hannover König von England, der Erzherzog von Oestreich
König von Ungarn, der Kurfürst von Sachsen König von Polen. Wie sorgsam auch
das englische Parlament sich hütete, für hannoversche Interessen einzutreten,
sobald England einen Krieg führte, war doch durch die Lage der Dinge Han¬
nover bedroht und mit ihm Deutschland. Die sächsischen Auguste hatten in
Warschau nichts Weiler als eine hohle Krone ohne alle Bedeutung, aber
um dieser Krone willen wurde Sachsen ein Jahr lang von Karl dem Zwölften
geplündert und ausgesogen, um dieser Krone willen ging das deutsche Loth¬
ringen an Frankreich verloren. Von einer deutschen Nation, von einer ent¬
wickelungsfähigen Verfassung war nicht die Rede; die Kaiser hatten die Idee.
Deutschland wirklich zu beherrschen, für immer aufgegeben; sie benutzten das
Reich nur. um Hilfstruppen für die Kriege zu erhalten, die sie um ihrer
Hausmacht willen führten: in Italien, in Belgien, in Ungarn, wenn sie die
dortigen Protestanten durch Verfolgungen zum Aufruhr gereizt hatten. Es ist
hier nicht der Einzelne anzuklagen; die Verfassung war von der Art. daß einer
nur den andern hinderte. Nichts Gutes konnte gethan, wenig Böses konnte
gehindert werden. Jede Reform, auch die nöthigste, wurde durch den Wider¬
spruch des einen oder des andern hintertrieben. Zu groß, um Oestreichs Va¬
sallen zu sei,,, zu klein, um etwas für sich zu bedeuten, stellten die Fürsten
dein Kaiser Hülfstruppen, und auch das nur, wenn sie guter Laune waren,,
machten um des Vergnügens willen Kriegszüge ohne Zweck in fremden Dien¬
sten, vergeudeten das Geld des Landes in Venedig oder nchtetenZim eignen
Lande eine Maitressenwirthschaft nach dem Vorbilde Ludwig des Vierzehnten
ein. durch welche das ganze Land bis ins innerste Mark vergiftet wurde.
Frankreich hatte doch nur einen Hof der, Art. Deutschland aber, das durch
den dreißigjährigen Krieg ausgesogene, ein Dutzend. — Das alles sind nicht
neue Dinge, sie müssen aber so oft wiederholt werden, als ein beliebiger Herr
Klopp auftritt mit der Behauptung das Reich sei im herrlichsten Zustande
gewesen, bis der böse Friedrich es zerriß.
' Dieses Elend der großthuenden Kleinstaaterei, dieses Hinsiechen des deutschen
Staatskörpers konnte nicht durch Palliativmittel, sondern nur durch einen kühnen
Schnitt geheilt werden. — Souveräne Staaten zu bilden, war die leitende
Idee der neuen Zeit. Der Feudalstaat hatte sich überlebt, eine neue Form
war noch nicht gefunden. — Die europäischen Reiche waren durchweg vom
alten römischen Reich losgerissen; die Lehnsfürsten hatten sich souverän ge¬
macht, ihre Vasallen mehr und mehr niedergedrückt, und an ihnen'herauf
bildete sich allmälig eine Raton. Nur Deutschland und Italien erlagen dem
unseligen Wahn, das Cäsarenreich sei wiederherzustellen. Um römische Kaiser
zu sein, versäumten die deutschen Könige, sich zu Hause einzurichten. Der große
Welse hatte vergebens versucht, einen deutschen Staat zu gründen; nach seinem
Untergang herrschte die Kleinstaaterei. Noch einmal unternahm Karl der Fünfte —
in dessen Monarchie die Sonne nicht unterging — das alte Werk; es mißlang,
und der westfälische Friede besiegelte die Auflösung des deutschen Reichs.
„Ich tun Kaiser in meinen Staaten!" sagte ein Menschenalter darauf Johann
Friedrich von Hannover. — Diese vielen „Kaiser" waren so ineinander ver¬
flochten, daß keiner sich fre.i regen konnte, daß jeder den andern hinderte. —
Nur ein Fürst hatte freie Bewegung. — Die Markgrafen hatten die Hut
Deutschlands gegen die östlichen Barbaren, im Süden hatte Oestreich die
Aufgabe übernommen, im Norden siel sie Preußen zu. Der große Kurfürst'
war der einzige, dn' selbständige Kriege führte; die andern dienten im kaiser¬
lichen Heer; Friedrich Wilhelm hatte es mit den Schweden, mit den Polen zu
thun; auch am Rhein gegen Frankreich focht-er für seine eigne» Besitzungen.
Nach dem Abfall des Kurfürsten von Sachsen war er der natürliche Vertreter
des Protestantismus gegen Oestreich. Sein Staat, der unfertigste von' allen
deutschen, trieb ihn mit Naturgewalt zu dem Wunsch, sich zu arrondiren, d. h.
zu erobern. Mit seiner kleinen Macht konnte er es nur. vorsichtig thun, er
fügte sich dem Neichsverband, aber grade nur soviel, als die Umstände ihn
zwangen. Dann kam der Königstitel, dem. Namen »ach auf Pienßen, der
Sache nach aber auf die alte Mark der Hohenzollern gestützt — ganz anders
als die Verbindung Sachsens mit Polen, Hannovers mit England, Holsteins
mit Dänemark; indem die Hohenzollern ihre eignen Interessen vertraten,
waren sie die Verfechter Deutschlands. Halb aus Caprice, halb aus richti¬
gem Instinkt gründete Friedrich Wilhelm der Erste ein gewaltiges Heer.
Dies Heer in die Hand eines begabten, entschlossenen Fürsten gelegt — gegen
wen sollte es sich anders wenden, als gegen Oestreich?
Denn jedem Versuch, sich zu erweitern^ trat mit Nothwendigkeit Oestreich
entgegen. Ehe es diesen Staat geschwächt, konnte Preußen aus keinen Fort¬
schritt rechnen. Ließ es dagegen Oestreich erstarken, so konnte es seinen Unter¬
gang voraussehn. denn für el» Vasallenland war es zu stark, und es hatte
keine natürliche Basis. — Nun fügte der Zufall, daß Oestreich für fünf Jahre
die Mittel, die ihm die Kaiserwürde zu seinen Privatzwecken gab, verlor. —
Das ist keine juristische Rechtfertigung, aber so war der Laus der Dinge.
Eine nation prussitmim gab es nicht, giebt es heute noch nickt. Aber
es giebt einen preußischen Staat, d. h. ein aus den verschiedensten Bestand¬
theilen der deutschen Nation zusammengesetztes, in Einer Hand vereinigtes,
mächtiges Ganze, welches das Bedürfniß hat, sich nach dem modernen Princip
zu einer Nation zu erweitern. Dem Trieb der Erweiterung auf der einen
kommt der Trieb des Anschlusses aus der andern Seite mit der gleichen Natur¬
gewalt entgegen. — Von den Mitteln des vorigen Jahrhunderts kann nicht
die Rede mehr sein; Preußen hat nicht mehr zu nehmen, sondern zu gewin¬
nen. — „Moralische Eroberung" ist ein gutes Wort; daß Preußen sich schlagen
kann, hat es gezeigt; jetzt muß es zeigen, daß es unter dem schwarzweißen
Banner sich gut wohnen läßt. — Preußen vermag schon jetzt seinen Bürgern
ein'politisches Leben zu öffnen, wie kein anderer deutscher Staat; es kann die
Verwaltung völlig dccentralisiren, während es sich politisch straff zusammen¬
rafft. — Die Hoffnungen auf Oestreich erlahmen mehr und mehr; schon jetzt
gewöhnt sich der Deutsche aller Länder, mehr aus das zu achten, was in Ber¬
lin geschieht, als was in seiner eigenen Hauptstadt — Etwas mehr wirkliches
Leben, etwas mehr innere Kraft, ein entschiedener Bruch mit den Reminiscenzen
des unseligen Feudalsystems, das am wenigsten für Preußen paßt, und die Anzieh¬
ungskraft wird unwiderstehlich. —Nur so entstehen lebendige Staaten, daß ein
bestehender kräftiger Organismus die schwächeren mehr und mehr an sich zieht!
in'ehe so, daß man die organischen Bildungen zerschlägt, um aus den Trüm¬
mern ein Neues aufzubauen. — Die Sache liegt so, daß wenn es zum Buu-
desswat kommt, kein Deutscher etwas zu verlieren hat — anch die Fürsten
nicht. —, VZas Per große König b.'gönnen. so^I der Bürger vollenden; und,
wenn der preußische Staat zum Mittel herabgesetzt sein wird, den Zweck, d.h.
die wirkliche Nation, zu begründen, so ist das Werk vollendet.
Der Verfasser ist ein gescheidter und sehr gebildeter Militär, dessen Ideen man
mit Aufmerksamkeit und Interesse verfolgt, auch wo man ihnen nicht beipflichten
kann. Wir glauben in ihm einen frühern eifrigen und tüchtigen Mitarbeiter unseres
Blattes zu erkennen.
Der Kern seiner Behauptungen ist folgender. Der Besitz Vcnetiens ist nicht
nur für Oestreich eine Lebensfrage, sondern auch für Preußen, Deutschland, ja für
ganz Europa; nur durch das Festungsvicrcck wird Europa gegen die Gefahr einer
französischen Invasion gedeckt. Nur durch das Festungsvicrcck wird das Gleichgewicht
erhalten, welches Europa den Frieden verbürgt. Sollte Oestreich wirklich, was nicht
zu vermuthen, geneigt sein, Venetien an das neue italienische Reich zu verkaufen,
so müßte Preußen in seinem eigenen wie im Interesse Deutschlands Einsprache da¬
gegen erheben, und um dieser Einsprache Nachdruck zu verleihen, eine Coalition' mit
England, Holland. Belgien, allenfalls auch mit Nußland schließen, um das Festungs¬
viereck bei Oestreich zu erhalten.
Er belegt diese Ansichten mit sehr gewichtigen Gründen, die sämmtlich der
Wissenschaft der Strategie entnommen sind. Das europäische Gleichgewicht stellt er
sich, ungefähr folgendermaßen vor.. In Europa gibt es eine Reihe von Armeen,
deren j,ete einem Souverän gehört. Jede dieser Armeen und jeder dieser Souveräne
hat das Interesse, eine geographische Basis zu besitzen, auf welcher nach den Regeln
der Kriegswisscnschaft Lager aufgerichtet, Festungen angelegt, Hccrescolonnen ent¬
wickelt werden können u. f. w.
Bündnisse unter diesen Souveränen werden nach den Regeln der Kriegswisscn¬
schaft abgeschlossen, um im Lande des Bundesgenossen eine günstigere strategische
Basis zu gewinnen, um die Mängel der eigenen Artillerie, Cavallerie u. s. w. durch
die Artillerie, Cavallerie u. s. w. des Bundesgenossen zu ergänzen. Die Regeln der
Kriegswisscnschast bedingen eine stetige Bundesgenossenschaft zwischen Frankreich und
Italien; dieselbe Regeln bedingen eine stetige Bundesgenossenschaft zwischen England.
Preußen und Oestreich. So zerfällt nach wissenschastlichen Gesetzen Europa in zwei
Heerlager, deren Gleichgewicht dadurch bedingt ist, daß Venetien bei Oestreich bleibt.
Dieses Gleichgewicht zu erhalten, ist um so nothwendiger, da sür die Zukunft das
französisch-italienische Bündniß nach den Gesetzen der Kriegswisscnschast noch durch
Nußland verstärkt werden wird; welches Reich sich im gegenwärtigen Augenblick mi¬
litärisch noch nicht geltend machen kann, für die Zukunft aber den Frieden Europas
im soeben Grade bedroht.
Aehnliche Argumente sind den Militärschriststcllcrn sehr geläufig, und es wird
dem Laien schwer, ihnen vom Standpunkt der Kriegswisscnschast etwas zu entgegnen.
Aber bei einiger Aufmerksamkeit muß es einem Jeden einleuchten, daß der kricgs-
wissenschastlichc Standpunkt überhaupt, wenn er für die Politik Gesetze geben will,
eine Chimäre ist. Schon für den gegenwärtigen Fall, macht es einen sonderbarem
Eindruck, daß gerade der Besitz des Fcstungsvicrccks in den Händen OchrcichS das
Gleichgewicht und den Frieden Europas garantiren soll, während Oestreich doch ge¬
nöthigt ist, zu diesem Zweck eine allgemeine Koalition d. h. einen allgemeinen Krieg
ZU veranlassen.
Wir haben vom europäischen Gleichgewicht einen ganz andern Begriff. Aller¬
dings werden die Offiziere der verschiedenen Armeen schon um 'des Avancements
willen, meistens den Krieg wünschen; aber bis jetzt sind die Armeen doch noch nicht
die Souveräne des Staats. Die Fürsten, d. h. die Kriegsherrn werden dem Wunsch
der Armeen nur dann nachgeben, wenn sie das Volk für sich haben, und wenn steh
ihnen eine leichte und im ganzen sichere Beute darbietet. Das europäische Gleich¬
gewicht wird nicht durch diese oder jene strategische Linie gestört, sondern durch die
Existenz unfertiger Staatenbildungen, welche die Unzufriedenheit der eigenen Bürger
und den Eroberungstrieb der Nachbarn erregen. Das europäische Gleichgewicht
wurde bis jetzt durch drei Fragen gestört: die italienische, die deutsch-östrcichsche und
die orientalische: die erste ist im Begriff gelöst zu werden; gelingt c« auch die zweite
ohne eine innere große Krisis zu schlichten, so bietet die dritte keine Schwierigkeiten
wehr. Denn denken wir uns das gegenwärtige Gebiet des deutschen Bundes staat¬
lich in der Weise geeinigt, daß der Feind nie auf ein Svnderbündniß zu rechnen
hat, daß die militärischen Strcitkrüftc Deutschlands nach einem zusammenhängenden
Plan geleitet werden und daß die Regierungen und die Unterthanen zu einem wirk¬
lichen Ganzen verwachsen sind, so haben wir keine strategischen Linien nöthig, uns
-ZU schützen; denn es würde keinem Menschen einfallen uns anzugreifen.
Die bloße Aufrechthaltung des gegenwärtigen Zustandes genügt nicht. Die
Aufgabe, auf 'die alles ankommt, ist, Preußen und Oestreich gegen einander in eine
solche Lage zu versetzen, daß sie aufrichtig und ehrlich mit einander Hand in Hand
gehn können. Vielleicht erinnert man sich in Constantinopel nicht mehr der Details
des vorigen Jahres.' Als Fürst Windischgrätz in Berlin war. wußte er, daß der
Prinzrcgent die entschiedene Absicht hatte, zum Schutz Oestreichs, den furchtbaren
Krieg gegen Frankreich zu übernehmen. Stunde für Stunde wurden ihm die Trup¬
penbewegung gemeldet, Stunde für Stunde tclegraphirtc er darüber nach Wien,
Er gab die heilige Versicherung, daß Oestreich an keinen Frieden denke. Als Preußen
nun im Begriff war, auch die drei letzten Armeecorps zu mvbilisircn und in Frank¬
furt bereites den Antrag auf allgemeine Bewaffnung gestellt hatte, schloß Oestreich
den Frieden von Villafranca. Graf Ncchberg erklärte officiell, daß Oestreich von sei¬
nen natürlichen Bundesgenossen, d, h, von Preußen im Stich gelassen sei. In Süd¬
deutschland wurde eine große Agitation erregt, um Preußen im Fall eines Krieges
zu isoliren. >
5, 1»u M et,'-N'iPmch!'ir,!!lM 'liilj )ii„ki,des?l? 'jchilittl'iK
Dies, ihr Herrn Strategen! ist das Gleichgewicht, dessen wir uns erfreuen.—
Wenn die Aufrechthaltung Oestreichs wirklich ein europäisches Bedürfniß ist, so hat
es das durch zweierlei zu erweisen. Einmal dadurch, daß es sich selbst erhält, so¬
dann 'dadurch, daß es «seine Existenz den zunächst Betheiligten nicht auf eine un¬
bequeme Weise fühlbar macht. Es befindet sich im gegenwärtigen Augenblick in
einer großen Krisis, deren Tragweite wir noch nicht übersehn können. Gelingt es
ihm, die Ungarn zu versöhnen, so ist damit ein großer Schritt geschehn: denn das
werden doch die Herrn Strategen nicht verlangen, daß Europa um einiger strate¬
gischer Linien willen Oestreich darin unterstützt, die Ungarn zu unterjochen. Bedeu¬
tet die Veränderung des Ministeriums eine Veränderung der auswärtigen Politik,
bedeutet sie ein offnes und ehrliches Zusammengehn mit Preußen, bedeutet sie eine
ehrliche Annahme der von Preußen beantragten Bundcskriegsverfassung, so ist das
ein zweiter Schritt. Wenn Herr von Schmerling seinen Bevollmächtigten in Frank¬
furt anweist, in dieser Frage wie in der kurhcssischcn und Schleswig-holsteinischen sich
entschieden auf die preußische Seite zu stellen, so wird das mehr wirken als alle
Gründe kosmopolitischer Strategie. Bis dahin aber müssen diejenigen, welche ähn¬
liche Ansichten haben, wie der Verfasser vorliegender Schrift, ihre Petitionen nicht
nach Berlin sondern Wien adressiren.
Mögen die Gegner Preußens Folgendes bedenken. Sie gehn jetzt von
der vollkommen gegründeten Ueberzeugung aus, der sittliche und vaterlän¬
dische- Sinn des Regenten werde jedes Zusammengehn mit Frankreich oder
mit Italien, auch wo die größten Hoffnungen in Aussicht stehen, als unan¬
nehmbar betrachten. In dieser Ueberzeugung wagen sie viel. Sie bemühn sich, einen
mitteldeutschen Bundesstaat zusammen zu bringen, der, wenn es möglich wäre, ihn
durchzuführen, in der Weise des Rheinbunds Preußen mit der Gefahr des Untergangs
bedrohte. Mögen sie nicht vergessen, daß bei einem Staat, der ein wirkliches Leben
Es ist noch nicht lange her. daß der Minister des Auswärtigen im König¬
reich Bayern, Herr v. Schrenk. bei den Verhandlungen der zweiten Kammer
über die deutsche Frage die Erklärung abgab, die Verfassung des deutschen
Bundes sei auch für Fälle des Krieges genügend, und wenn man dies be¬
zweifle, so mache er darauf aufmerksam, daß während der letzten Verwicklungen
die Kriegsverfassung des Bundes nur nicht voll zur Anwendung gebracht wor¬
den sei. Der Minister glaubte, daß diese Verfassung sich vortrefflich bewährt
haben würde, wenn man ihren Bestimmungen nur nachgekommen wäre; er
erkannte damals überhaupt keine Nothwendigkeit, an der Bundesverfassung
etwas zu ändern. Es ist erinnerlich, daß die Mehrheit der zweiten Kammer
ihm im Wesentlichen zustimmte, und daß diese Mehrheit «ber die Wünsche
der deutschen Nation und ohne Zweifel auch ihrer Auftraggeber zur Tages¬
ordnung überging. Seitdem hat die Frage der Bundcskricgsverfassung viele
Stadien durchlaufen, viele Commissionen haben begutachtet, die hohen Mo¬
narchen haben selbst bei persönlicher Begegnung darüber verhandelt, und doch
'se sie noch kaum um einen Schritt vorwärts gerückt. Die preußischen Vor¬
schläge sind vorläufig als gescheitert zu betrachten, die Vereinigungen der süd-
Wcstdcutschcn Staaten zu größerer Annäherung ihrer Organisationen und ge¬
meinsamem Oberbefehl haben, wenigstens bis jetzt, noch keine Resultate gezeigt,
nur die Einführung der gezogenen Geschütze bat begonnen, aber auch nach dieser
Richtung ist die wichtige Frage, wie weit die Widerstandskraft der Bundes-
sestungen der neuen vergrößerten Wucht der Angriffswaffen jetzt noch genügend
sei. noch weit von einer befriedigenden Lösung entfernt.
Es ist hier nicht die Absicht, alle Schwächen des Bundeskriegswesens zu
erörtern. Es gibt Fragen, zu deren Beantwortung man ein langes Studium
bedarf, und andere, welche sich schon beantworten, wenn man den ersten be¬
sten Punkt herausgreift. Um über das Kriegswesen des Bundes klar zu wer¬
den, hat man nicht nöthig, die zahlreichen Compendien des Bundcsrechts zu
studiren. Man kann es wahrlich leichter»haben., Ueberall finden sich Belege,
die alte Klage zu begründen. Hier soll ein einzelner Fall angeführt werden.
bei wachem gerade die bayerische Negierung in der Lage ist, einen alten und
sehr charakteristischen Uebelstand zu bessern.
Auf der Grenze Bayerns und Würtembergs, an der Iller und Donau
liegt die Festung Ulm, erbaut vom deutschen Bunde, als das hauptsächliche
Bollwerk, um den Süden Deutschlands und Oestreich zu schützen. Der Bau
der Festung hat lange gedauert, aber derselbe ist in der Art beendet, das!,
wenn es in den letzten Jahren zu einem Kriege gekommen. Ulm für Deutsch¬
land das gewesen wäre, was Metz und Straßburg für Frankreich sind —
vorausgesetzt immer, daß der deutsche Bund im Stande wäre, die Vertheidigung
Deutschlands in einheitlicher, d. h. in energischer Weise zu leiten.
Wie es aber mit der Vertheidigung Ukas bestellt war, darüber belehren
uns einige Notizen über die Verhandlungen des Bundestags. Verhandlungen,
die zu einer Zeit stattfanden, wo der Bundeskrieg fast jeden Tag eintreten
konnte.
Die Bundesfestung Ulm liegt nicht nur auf der Grenze der beiden König¬
reiche Bayern und Würtemberg, sie liegt sogar zum Theil in dem einen, zum
Theil in dem andern.
Die Wünsche und Interessen der deutschen Nation haben aber bis jetzt
noch nicht die Macht gehabt, um in den einzelnen Staaten ein gleiches Sy¬
stem der innern Verbrauchssteuern herzustellen. Daß Deutschland durch den
Zollverein von den innern Verkehrsschranken frei geworden sei, ist eine Phrase.
Eine Menge deutscher Staaten haben ihre Grenzen noch heute mit Schlag¬
bäumen umgürtet. Man nennt die Zölle, die man an diesen inneren Gren¬
zen erhebt, nur nicht Zolle, man nennt sie euphemistisch Uebergangsab¬
gaben, und die Nation beruhigt sich dabei.
Bayern und Würtemberg sind durch eine Zollgrenze geschieden; Brannt¬
wein. Malz, Bier und andere Artikel müssen bei dein Transport aus dem
einem in das andere dieser sogenannten Staatsgebiete einen Zoll entrichten,
Steuerbehörden controlpen, daß die bayerische, daß die würtenbergische
Staatscasse um keinen Kreuzer zu kurz komme.
Das ist schlimm, aber es versteht sich doch wol von selbst, daß der Bund,
als er zunächst zum Schutze Bayerns und Würtembergs auf der Grenze der¬
selben eine Bundesfestung zu bauen beschloß, sich versicherte, daß diese Zoll¬
grenze nicht durch die Bundesfestung gehe?
Zur Vertheidigung einer Festung braucht man bekanntlich nicht blos Ka¬
nonen und Pulver, sondern auch Essen und Trinken. Die Magazine der
Bundesfestung Ulm liegen zum Theil in Würtemberg, zum Theil in Bayern.
Ein Faß Bier oder Branntwein, welches aus dem Magazine auf den Wall
gebracht werden .soll, um die Vertheidiger zu stärken, kann doch nicht mitten
in der Festung erst von den Steuerbehörden angehalten, den lästigen und zum
Theil langwierigen Formalitäten einer Zollcontrole unterzogen werden? Wenn
dieselben beendigt sind, und das nunmehr in den freien Verkehr gesetzte Faß
auf dem Walle ankommt, werden die Vertheidiger desselben längst verdurstet sein.
Oder, sieht man auch nur auf den täglichen Verkehr des Friedens! Die
Militärcommission des Bundes, eine unverdächtige Quelle, betonte mit leb¬
haftem Bedauern diese Uebelstände. Hier sei nur einer als Beispiel an¬
geführt. Je nach wechselnden localen Bedürfnissen aus militärisch und ad¬
ministrativen Rücksichten kann es nothwendig werden, Proviantartikel — selbst
zu wiederholten Malen — von einem Magazin in der Festung in ein anderes
zu schaffen. Da diese Magazine ohne Rücksicht auf das getrennte Territorium
nur nach den Bedürfnissen des durchaus einheitlich zu führenden, auch in
Wirklichkeit untrennbaren Festungsdienstes angelegt werden mußten, dieselben
sich also theils auf der bayrischen. theils auf der würtembergischen Seite der
Festung befinden, so kann es geschehen, daß bei solchen Transporten von einem
Magazin in das andere die beiderseitige Gebietsgrenze wiederholt überschritten
werden muß. —
Der Bund wird doch wol sofort bei der Anlage Fürsorge getroffen haben,
daß die von dem einen in das andere Magazin übergehenden Proviantartikcl
nicht Abgaben bezahlen, und daß die Bundescasse. mit deren Mitteln man für
Bayern und Würtemberg diese Festung qebauet hat, nicht noch obendrein Wür-
/ .,!"!«,> /
mnbcrg und Bayern bereichere?
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»iii<0^
Wer so denkt, der irrt um Vieles und Alles.
Oder die betreffenden Staaten selbst werden doch, als man Ulm zu bauen
anfing, sofort die Zollgrenze aus dem Fcstungsrayon entfernt haben?
Sie waren weit entfernt davon. Diese Staaten sind nicht mächtig genug,
"»> die zu ihrer und des Gesammtvaterlandes Vertheidigung dienenden
Festungen selbst zu bauen und zu vertheidigen, aber sie sind souverän und
luiben das Recht, an ihren Grenzen Zolle zu erheben. Und darauf haben sie
Neulich gehalten.
Die Bundesversammlung hatte aber seit ihrer Restauration viel wichtigere
Dinge zu lium. als sich um solche Specialitäten zu bekümmern. Die Presse
war zu überwachen und vor allem waren die Verfassungen Deutschlands zu
M'idiven."-tt'''
,5llNNV5KUUU^t)KttUN-t?->i1Ah> IlljllUIl 1«5>U!numrj.?
<vo kam das Jahr 185V und mit ihm die Gefahr eines Bundeskriegs.
Man wird glauben, daß die deutsche Bundesversammlung sofort jene
6ollgvenze innerhalb der zweitwichtigsten Bundesfestung aufhob. Auch noch
Med geschah daS. nicht.
Zu den Zeiten des Neichsministeriums, welches man jeht als revolutio¬
näre Behörde gern mit Verachtung behandelt, hatte man einem Militär die
Oberleitung des BnndeskriegöwesenS übertragen. Die rcactivirte Bundes-
lI')')UUll!l»>!>lltI')ZI'I>kli'illllllsi^hiM.
Verfassung überträgt sie den Diplomaten der Bundesversammlung. Unter ihnen
steht eine Commission von Militärs (darunter zu Zeiten auch ein dänischer
Offizier), im Wesentlichen eine begutachtende Behörde.
Im Juni 1859 trug diese Militärcommission bei der Bundesversammlung
darauf an. die unleidlichen Zollvcrhältnisse innerhalb der Bundesfestung zu
beseitigen. Sie war so bescheiden, nicht die sofortige Aufhebung der Zoll¬
linie zu beantragen, sondern wünschte nur die Befreiung des Festungsmaterials
und insbesondere der Proviantartikel von Abgaben und Controlen.
Sie bat um thunlichste Beschleunigung.
Erst vier Wochen später war es dem betreffenden Ausschuß der Bundes
Versammlung möglich geworden, sein Gutachten abzugeben.
Es war von großer Einfachheit. Auch der Ausschuß fand es höchst wün¬
schenswert!), daß der dienstliche Verkehr innerhalb der Bundcssestung Ulm
möglichst erleichtert werde und insbesondere hierbei der Territorialunterschicd
der beiden Festungstheile möglichst wenig Einfluß übe.
Nach diesem vielverheißcnden Anfang erklärt dann der Ausschuß, er sei
jedoch nicht im Stande, aus dem Berichte der Militürcommission bestimmte
Anhaltepunkte zu gewinnen, um die der Fcstungsverwaltung bisher durch die
Territvrialverschicdeuheit erwachsenen Cvntroleschwierigkeiten und Kosten näher
beurtheilen zu können, und gebe sich auch der festen Ueberzeugung hin, daß
die beiden hohen Regierungen ohne Zweifel alle Erleichterungen in dem Festungs¬
verkehr eintreten lassen würden, die ohne Nachtheil für den allgemeinen Ver¬
kehr stattfinden können.
Also, weil die Controleschwierigkeiten und Kohle», welche bisher durch
jene Zolllinie der Bundesfcstung erwachsen waren, von der Militärcvininission
nicht mit unnützer Breite, sondern nur mit militärischer Präcision dargelegt
waren, trat der Ausschuß dem künftigen Fortbestande der Zolllinie nicht
entgegen. Aber er ordnete auch nicht die überflüssige, aber von ihm selbst
für nothwendig erklärte Untersuchung der bisherigen Unzuträglichkeiten an. Er
begnügte sich, eine Hoffnung auszusprechen, welche bis dcihiu. wie die Militär-
commissiou gezeigt hatte, getäuscht geblieben war. er begnügte sich also mit
einer Phrase. Ja seine hoffnungsreiche Phrase geht nicht auf die Aufhebung
der Zolllinie, nicht einmal auf die Befreiung des Festungsverkehrs, sondern
nur auf solche Erleichterungen, mit denen die Zolllinie bestehen könne.
Die Bundesversammlung aber erhob den Antrag ihres Ausschusses zum
Beschluß, und statt die Aufhebung der Zoltliuie zu befehlen, brachte sie die
Wünsche der Militärcommission durch Aufnahme in das Protokoll zur Kenntniß
der betreffenden Regierungen.
Und man glaube nicht, daß die Persönlichkeit der Gesandten, welche grade
>ehe die Bundesversammlung bilden, an diesem ungenügenden Beschluß Schuld
habe. Der Grund liegt tiefer, er wird von Millionen eingesehen, beklagt,
gescholten. Nicht die Personen, sondern die Principien, auf denen die Bundes¬
verfassung beruht, lähmen die Kraft der Nation.
Es wird aber von Interesse sein, auch in dem angeführten Fall zu er¬
fahren, ob neue Verhandlungen über einen so auffallenden Uebelstand irgend
einen Erfolg gehabt haben. In jedem Falle ist dringend zu wünschen, daß
die jetzt schwebenden Unterhandlungen zwischen Bayern, Würtemberg und Baden,
wenn sie auch sonst nicht die gehofften Resultate haben sollten, wenigstens diese
und ähnliche Ungehörigkeiten abstellen mögen, welche so sehr den Spott Uebel- '
wollender herausfordern und mit wenigen Federstrichen abzustellen sind.
Eine gründliche Abhilfe freilich für !die hundert Schäden der deutschen
Bundcskriegsverfassung werden uns nicht diplomatische Verhandlungen der
einzelnen Regierungen gewähren, sondern, wie zu fürchten steht, nur der Zwang
einer großen Katastrophe, die bittere Noth eines Krieges, welche wie Spreu
wegfegt, was jetzt den einzelnen disponirenden Beamten unüberwindlich er¬
scheint.
Bor einiger Zeit schilderten wir den Lesern d. Bl. den Altbayern und
machten dabei die Bemerkung, daß derselbe, weil er vorwiegend Bauer, in
vielen Zügen bedeutende Ähnlichkeit mit den Bewohnern gewisser norddeut¬
scher Landstriche, namentlich mit den Schleswig-Holsteinern und Mecklenburgern
sNge. bei denen ebenfalls das dörfliche Leben das städtische überwiegt. Im
Folgenden sei es uns gestattet, diese Bemerkung durch eine Charakteristik des
Mecklenburgers zu rechtfertigen *). Wesentliche Unterschiede ergeben sich bei dem
Vergleich nur insofern, als die Gestaltung des Bodens, das kirchliche Bekennt¬
niß und die Stellung der niederen Klasse zum Adel auf das Volk eingewirkt
haben. Starke Verschiedenheiten in der Stammeseigenthümlichkeit zu entdecken,
müssen wir denen überlassen, welche aus irgendwelchen Gründen solche finden
wollen.
Der größte Theil Mecklenburgs ist Feldland, und die zahlreichen ge-
schlängelten Flüsse, die vielen Seen der beiden Herzogthümer bewässern weit-
gedehnte Wiesen. Deshalb herrschen Ackerbau und Viehzucht vor. Der nörd¬
liche und östliche Theil des Landes kann als ein fertiges Culturland gelten,
aus dessen reichem Geestbaden ein behäbiger Bauernstand in der Nuhe der Erb¬
folge und althergebrachter Wirthschaftsweise lebt. Ueppig gedeiht auf dem
Acker der Weizen, auf fetter Trift weiden Rinder und Pferde, letztere der Stolz
des echten Bauern und der Gipfel seines Strebens. Im Nordwesten sind
die Felder wie in den östlichen Strichen Schleswig-Holsteins in Koppeln
getheilt, die von lebenden Hecken, meist Haselnuß- und Schlehdornsträuchcn,
eingefaßt werden. Hinter Wismar. bei Doberan und Rostock begegnen wir
dieser Sitte nicht mehr; hier sind die Felder offen und nur an den Wegen
mit Hecken oder Bäumen besetzt. Der nördliche Bauer cultivirt von Handcls-
pflanzen, Kartoffeln u. f. w. selten mehr als er selbst bedarf. Der reine Ge¬
treidebau gestattet keine sehr großen Dörfer, und so sind die Ortschaften hier
meist nur von Mittelgröße. Im Uebrigen ist dieser Landstrich mannigfaltiger
gruppirt als der Süden. Moorniederungen, Wiesengründe, Thäler, Hügel
theils bebaut, theils mit Wald bedeckt, von Obstgärten umgrüntc freundliche
Dörfer und Städtchen — dieß Alles wiederholt sich hier schneller als dort, der
Pflanzenwuchs ist üppiger, die Landschaftsbilder haben kräftigere Farlien, die
Seen malerischere Ufer, das Leben ist reicher, die Fülle größer. Nirgends ein
ungenutztes Stück Laud, nirgends mehr eine Hciidestrecke. Der Anbau ist zur
Vollendung gelangt, wenigstens der Breite nach, nur noch die Vertiefung der
Cultur .se möglich.
Inders der Süden mit seinem Sandboden. Auch hier herrscht zwar der
Korubau vor, aber statt des gelben Weizens begegnen wir weit häufiger dem
grauen Roggen, und fast überall macht sich die Neigung.zu einer Handcls-
ftucht bemerklich. Die Wiesen haben ein kurzes hartes Gras, kleine magere
Kühe weiden auf dürren Triften. Große Strecken sind mit Kiefernwald bedeckt,
weil der Boden zur Zeit noch keine entwickeltere Cultur zuläßt. Der Sand¬
acker braucht starke Düngung, das Korn liefert aber nur kurzes Stroh. Die
Felder der Einzelnen sind verhältnißmäßig ausgedehnt, folglich auch der Be¬
darf an Dünger. So sieht man die Landwirthe Kiefernadeln, Waldgras,
Ginster, Torfschollcn und was sonst den Boden fruchtbar macht, herbeikarren
und sorgfältig vertheilen. Das Vieh bedarf einer Abwechslung in der Fütte¬
rung, und so baut man Kraut und Rüben. Der Acker liefert einen geringen
oder mäßigen Kornertrag, und so pflanzt man Kartoffeln, säet Lein und cul-
tivirt andere Handelsgewächse, die aber, wenn dabei nicht vorsichtig verfahren
wird, den Boden aussaugen. Die Bewohner des Sandlandes haben noch
wenig begriffen, was ihnen frommt, und so muß man die wirthschaftliche
Entwicklung dieser Striche als noch unfertig bezeichnen. Die Viehzucht müßte
durch den Anbau von Futtergräsern gehoben werden, durch sie wäre der ani¬
malisch Dünger zu vermehren und so der Kleebau zu ermöglichen. Dann wird
der Boden reicher und für die Anpflanzung lohnender Handelsgewächse geeigneter
werden. Leweis dafür sind manche Gegenden der Mark Brandenburg und
die Felder derjenigen mecklenburgischen Sandbauern, welche die Lehren der
modernen Agronomie beachtet haben. Die übrigen sind wenig wohlhabend,
ihre Dörfer zwar, gleich denen in andern sandigen Gegenden Deutschlands,
meist sehr groß, aber gewöhnlich unfreundlich und nicht gut gehalten. Mit
Geringschätzung blickt der Bauer der Geest auf den Nachbar im Sandlande,
wenn dieser an ihm, dessen Wagen vier stattliche Braune ziehen, mit zweien
vorbeifährt oder gar mit Kühen „hottert". Mitleidig sieht er auf einen Men¬
schen herab, der sich statt mit Brot und Speck nul Kartoffeln Leib und Seele
zusammenzuhalten strebt, der kein Fleisch aus den Nippen und „keen Rogen in
de Bost" hat. Die Gegenden sind hier arm an landschaftlichen Reizen, es
fehlt die wellenförmige Hügelform, das Land gleicht mehr einer langgestreckten
Hochebne, und überall ziehen sich eintönige Nadelwälder hin. Wo Seen sich
befinden und Flüsse rinnen, wird dies natürlich anders - Laubholz tritt auf,
Wiesen zeigen ihr Helles Grün, und an den Grenzen, wo Sand- und Lehm¬
boden zusammenstoßen, bildet sich häusig ein sehr vielfach gefärbtes wechsel¬
volles Terrain: hübschgeformte Hügel, muntere Flüsse, mittelgroße Seen. Laub¬
und Nadelholzuugen in buntem Gemisch.
Der südwestlichste Theil Mecklenburgs, die sogenannte Haidecbne. ist der
von der Natur am stiefmütterlichsten bedachte Strich des Landes. Der Boden
'se abwechselnd Sand und Moor, dort dürr und scharf, hier von dem der
Vegetation schädlichen Raseneisenstein durchzogen und an vielen Stellen ver¬
sumpft. Aber die Bevölkerung dieser Gegend ist durch den steten Kampf nut
solchen Hindernissen zu bedeutender Intelligenz und Rührigkeit gelangt. Eifrig
entwässert und entsäuert man den Boden durch Spatencultur, baut Dämme,
zieht Gräben und cultivirt die hier allein reichlich lohnenden Handelspflanzen,
besonders ausgeprägt ist die Spatenculiur in den tiefen moorigen Strichen,
z> B. im Hornwalde bei Grabow, wo nur wenige große Bauern wohnen.
Auf dem sehr leichten Sandboden um Propst Iesar. Lübthecn und Quast sieht
>nan die Kilt-der auf den Straßen den Dünger in Körbe sammeln und ihn mit
den Händen auf die Felder streuen. Landschaftliche Schönheiten sucht man
hier natürlich vergebens. Die Felder sind in eine an die Farbe des Haide-
üauts erinnernde bräunliche Farbe gekleidet, die Dörfer sehen ärmlich aus.
d«s Vieh ist klein und nicht wohlgestaltet. Aber dies ist nur der oberfläch¬
liche Eindruck. Die Kartoffel wächst nicht über, sondern in der Erde, und die
Leibfarbe des Buchweizens ist die braune. Gyps und Braunkohle» findet man
hier in größter Ausdehnung, der Raseneisenstein liefert Material zur Eisen¬
fabrikation, an verschiedenen Stellen quillt gute Soole, und wenn die Regie¬
rung einmal daran denken wird, die Strebsamkeit der hiesigen Bevölkerung
durch Anlage von Kunststraßen zu unterstützen, mag auch dieser Theil Mecklen¬
burgs zu einer gewissen Bedeutung gelangen.
Die Mecklenburger sind, namentlich in den landbesitzenden Klassen, mit
sehr geringen Ausnahmen Angehörige des sächsischen Stammes. In einzelnen
Gegenden, z. B. im Klützer Winkel, wohnte schon-um die Mitte .des dreizehnten
Jahrhunderts keiner der Slaven mehr, welche das Land früher innegehabt,
und was sich von diesen im Osten sowie in der südlichen Haideebnc erhalten
hatte, verschmolz sich mit den Deutschen im Lauf der folgenden Jahrhunderte
so vollkommen, daß von der frühern Sitte fast gar nichts, von der frühern
Sprache nur in den Ortsnamen eine Spur übrig blieb. Wenn der Verfasser
unsrer Schrift in dem Charakter der Mecklenburger die Züge des altsächsischen
Charakters findet, so ist das richtig, aber zu wenig gesagt. Anhänglichkeit an
ererbten Besitz und an das Herkommen, Mißtrauen gegen alles Neue und Un¬
gewohnte, hartnäckiges Festhalten an der eignen Meinung. Derbheit und eine
gewisse Schwerfälligkeit sind Eigenschaften nicht blos des sächsischen, sondern
überhaupt des deutschen Bauersmannes, wo er die alte Art bewahrt hat. und
dasselbe gilt von den meisten andern Zügen, die uns hier als besondere meck¬
lenburgische angeführt werden.
Die kleinern Städte Mecklenburgs sind mit ihrem umfangreichen Ackerbau
oft halb Dorf, die Dörfer dagegen, auch wo sie die Jahrmarktsgercchtigkeit
besitzen, niemals halb Stadt. Die älteren Dörfer haben gewöhnlich eine Kreis¬
form, doch gibt es auch viele Zeilcndörscr. deren Gehöfte der Straße folgen,
die sie,'entstehen ließ.
Die Bauart der Häuser ist im Allgemeinen die sächsische, wie wir sie in
Holstein und Südschleswig finden. Das Haus besteht aus einem länglichen
Viereck von Fachwcrkswändcn und einem mächtigen spitz zulaufenden Stroh¬
dach. Die Balken der Wände liegen frei, die Zwischenräume sind mit Lehm
ausgefüllt, den man außen glättet und überweißt. Auf den Giebelenden sitzen
die altsächsischen Pferdeköpfe, hier „Mulapen" genannt. Schornsteine sind nicht
gebräuchlich. Das Haus ist zugleich Menschenwohnung, Stall und Korn¬
speicher. Durch ein mächtiges Thor tritt man auf die Diele, welche die Tenne
bildet. Rechts und links befinden sich Viehstände, im Hintergrund, dem Thor
gegenüber, ist der Heerd, dessen Rauch durch ein Loch im obern Ende des
Giebels und durch den Thorweg entweicht, nachdem er vorher die Schinken
und Würste geräuchert, welche über der Diele unter den Tragbalken hangen, auf
denen der Ertrag der Ernte lagert. Neben dem Heerde führen Thüren in die Wohn¬
stube des Hausbesitzers und in die Altentheilsstnbe. 'wo die Auszügler wohnen-
Die Ausstattung der Zimmer ist verschieden. Im Ncitzeburgischcn findet
man bei wohlhabenden Bauern Mas'agonisecretäre. Sophas und Klaviere.
Anderwärts ist das Hausgeräth auch bei Reichen noch sehr einfach: ein langer
Tisch von Tannenholz, um welchen ebensolche Bänke stehen, ein Milchschrank,
eine Lade, ein Sims. „Bort" genannt, auf dem einige Bücher liegen, ein
Lehnstuhl für den Hausvater, hier und da auch das Bett — ein Monstrum
seines Geschlechts. Je höher es aufragt, je mehr Kissen auf einander liegen,
für desto nobler gilt es. Kopfkissen und Deckbett sind ringsum mit, langen
roth-, blau- und grünseidnen Bändern verziert, der Ueberzug ist buntgeblümtes
„Kammerdauk". das Ganze kostet, wenn es „hübsch" ist. 80 bis 120 Thaler.
Das Oberbett hat entsetzliches Gewicht, aber der Grundsatz der Leute, „des
Nachts die von der Arbeit steifgewordenen Gliedmaßen wieder geschmeidig zu
schwitzen." hilft über die Unbequemlichkeit hinweg. In einigen Gegenden fin¬
det man auch in der Stube eine Bank mit erhöhtem hölzernen Kopfstück, ein
Instrument, welches der „Ratel" heißt und dem Bauer zur Mittagsruhe dient.
Fenster. Tische und Bänke sind in der Regel dunkelbraun angestrichen, die
vornehmere Lade dagegen, welche die Aussteuer, das Leinzeug und das Geld
enthält, ist mit edleren Farben, gewöhnlich zeißiggrün oder himmelblau, ge¬
schmückt.
Neben dem Hause steht die Scheune und der „Kälber", der für die
jüngern Söhne und deren Familien bestimmt ist. wenn der älteste Sohn, bei
Lebzeiten des Vaters schon. „Vicebauer" genannt, das Gehöft erbt. In Holstein
und Südschleswig liebt man äußere Verzierungen an den Wänden, bunten
Anstrich der Thore und Fenster, Zusammenstellungen der Ziegel in den Mauern
ZU Sternen. Dreiecken. Kreisen und andern Figuren. In Mecklenburg kommt
dies nur selten vor. Die Fenster sind allerdings mit Oelfarbe angestrichen,
die große Thür niemals. Der Balken über derselben zeigt bisweilen den
Namen des Erbauers und die Jahreszahl des Baues, aber nur in wenigen
Allen einen Spruch oder Aehnliches. Auch von Blumen hält der Bauer
wenig, man trifft sie nur selten in Töpfen vor dem Fenster, und dann sind
es gewöhnlich starkduftende oder hellfarbige, wie Goldlack. Primeln (Slötel-
vlaumen). Narzissen (Titzen) und Tulpen. Dagegen hält man viel aus Obst¬
bäume und so sieht ein mecklenburger Dorf immerhin anmuthig genug aus.
Versteht man unter Volkstracht eine bestimmt nach ihren einzelnen Theilen
zusammengehörige Tracht, deren Stoff durch die Ueberlieferung vorgeschrieben
ist. deren Schnitt sich seit geraumer Zeit nicht geändert hat, deren Theile
eine eigenthümliche Benennung haben, deren Farbe so und nicht anders sein
darf, so hat man in Mecklenburg noch Volkstrachten. Der Grundstoff des
Werkeltagskleides in Mecklenburg war früher und ist noch jetzt Leinwand,
v»n selbstgezognem Flachs gemacht. Daneben kommen Stoffe aus Lein und
Wolle vor: Bvmsied oder Fünfkamm, noch Art des Atlas gewebt, indem
die Fäden des fünften Kammes über'die andern fallen, ein sehr dauerhaftes
Gewebe. Vierkamm oder Rasch, vorzüglich zu Beinkleidern benutzt, Flanell,
gewöhnlich zu Frauenröcken verwendet, endlich Fcmdcrdauk, dem Flanell
ähnlich, aber mit einem leinenen Aufzug von zwei Fäden, Sehr stark und
meist schwarz gefärbt, dient es besonders den „schwarzen" Bauern bei Rostock
zu Rocken. Die Männer tragen im Allgemeinen ungefärbte Leinwand, die in
der Gegend zwischen Güstrow, Dargun und Stavenhagen gebleicht, sonst
aber in der ursprünglichen' grauen Farbe gebraucht wird. Ausnahmen bilden
jene schwarzen Bauern bei Rostock und Doberan, sowie die braunen im Natze-
burgischen. Zur alten Tracht gehört ein kleiner runder Hut mit schmalem
Rande. Derselbe hat jetzt an vielen Orten der gewöhnlichen Schirmmütze
Platz gemacht und findet sich nur noch fast allgemein bei den Biestower
Bauern, wo er bei den Jungesellen mit einer weißen, bei den verheiratheten
Männern mit einer schwarzen Schnur eingefaßt ist. Früher trug man nur
wollene Strümpfe und Schuhe, jetzt hat diese beinahe überall der hohe
Stiefel verdrängt. Hauptstück der Volkstracht ist der lange Kittel von
halbwollenem Zeug, der Sonntags mit einem Tuchrock, bei der Arbeit
mit einer Schooßjacke vertauscht wird. Er ist das einzige Kleidungs¬
stück, für welches man eine scherzende Bezeichnung hat. Das Volk nennt ihn
„de olle Jakob". Regenschirme sind e,rst seit Kurzem in Gebrauch, dagegen
gehört schon seit lange zum Sonntagsstaat eines wohlhabenden Bauern die
Pfeife mit dem silberbeschlagenen Meerschaumkopf.
Interessanter und kleidsamer ist die Tracht der Mädchen und Frauen,
unter denen man in manchen Gegenden ungewöhnlich vielen regelmäßig ge¬
bildeten Gesichtern und schlanken Gestalten begegnet. Betrachten wir ein
junges Mädchen in der sächsischen (bunten) Tracht. Den Hinterkopf bedeckt
eine kleine Pappmützc (Klöppel), die mit reicher Goldstickerei und vielen aus
den Rücken herabhängenden seidnen Bändern (Start) geschmückt ist. Die
Stirn faßt ein schmaler, fein gekräuselter „Strich" ein, der von den Schläfen
abwärts etwas weiter wird. Die Brust ist mit einem niedrigen Mieder
(Jope) bedeckt, das mit schwarzem oder buntem Band umsäumt ist, und unter
welches die Zipfel des um den Hals geschlungenen, häufig mit Gold- und
Seidenfaden gestickten Halstuches gesteckt werden. Eine herzförmige, mit
Steinen besetzte Schnalle hält letzteres zusammen. Die langen bauschigen
Aermel des Mieders sind oft unter mit silbernen Knöpfen versehen. Der
kurze Rock hat am Schweif einen handbreiten Bandbesatz, dessen Farbe nach
den Verhältnissen wechselt, bald schwarz, bald bunt ist. Schürze und Hals¬
tuch sind bei Leichenbegängnissen weiß, die Strümpfe früher roth, jetzt eben¬
falls weiß, die Schuhe sehr stark ausgeschnitten, mit Schnallen versehen und
auf kleine hohe und spitze Absätze gestellt. Beim Kirchgang gehört zu allem
diesem noch ein weißes Taschentuch, ein kleiner Pelzmuff, der früher auch im
Sommer getragen wurde, und das bei den Reicheren stark mit Silber be¬
schlagene Gesangbuch. Der Hut von Span, den jede Bäuerin besitzt. w>rd.
da er schwer und heiß ist, wenig benutzt. Die Stickereien auf dem Halstuch,
oft von dem Mädchen selbst verfertigt, zeigen einen guten natürlichen Ge¬
schmack.
Eigene Trachten haben die von 1210 hierher verpflanzten deutschen Kolo¬
nisten abstammenden Bewohner der Insel Poet. deren Lieblingsfarbe für die
Männer graublau, für die Frauen braun ist. ferner die Zepeliner. deren
Kleidung an die der Mönchguter auf Rügen erinnert, die Warnemünder, die
von dänischen Ansiedlern stammen sollen, endlich die Biestower sowie die
Bauern des nordwestlichsten Theils von Mecklenburg-Strelitz. einer Gegend,
wo sich die Slaven am längsten erhielten. Zum Unterschied von der bunten
sächsischen Tracht heißt diese letztere allgemein die schwarze. Sonntags trägt
der Mann hier, wenn er sich noch nicht zum fersenpeitschenden Gottestischrock
bekehrt hat. was hier noch selten ist. eine schwarze, mit weißem Wollenstoff
gefütterte Tuchjacke (Schwubbjack), die bis über den Bauch fällt und hinten
Mit einem kleinen gefalteten Schooß endigt. Dieselbe hat einen Stehkragen
und zwei Reihen runder oben platter Zinn- oder Silberknöpfe. An Werkel-
wgcn zieht man statt dieser Staatsjacke eine von Wollengarn gestrickte, meist
gon und weiß gestreifte an. Die Weste ist das alte Wams, unten ringsum zu
und nur bis auf die Hälfte des Oberleibes offen. sodaß sie über den Kopf
gezogen werden muß, weshalb sie „Krup in" d. h. kriech hinein, genannt
wird. Sie ist gewöhnlich von Bomsied und hat eine Reihe sehr nahe anein-
anderstehender Knöpfe. Das sehr weite und vielfältige Beinkleid wird nur
durch einen großen sichtbaren und einen kleinen verdeckten Knopf über den
Hüften zusammengehalten, besteht aus schwarzer Leinwand und reicht nur bis
SU den Knien, wo es durch Lederbändchcn zusammengefaßt wird. Hohe Stie¬
fln, bisweilen noch weiße Strümpfe und Schuhe, ein dickes lose um den
Nacken geschluugucs Halstuch, dessen Zipfel lang herabhängen, und der kleine
runde, schon beschriebne Hut vollendet den Anzug.
Gleich wesentliche Verschiedenheiten von der sächsischen Tracht zeigt der
Anzug der Frauen unter den schwarzen Bauern. Die Röcke sind an Wochen¬
tagen roth, Sonntags und sonst bei feierlichen Gelegenheiten schwarz, die
Strümpfe roth oder weiß. Nur selten sieht man diese Bäuerinnen in Hemd¬
ärmeln gehen, während die sächsischen häusig so getroffen werden. Die All¬
tagsmützen haben nur einen kleinen, die Sonntagsmützen dagegen einen fast
fußbreiten. am Scheitel weit abstehenden, an den Wangen sich anschließenden
Strich. Sie sind schwarz wie das Band des kleinen nur den obersten Theil
des Kopfes schüsselartig bedeckenden Spanhutes. Das Mieder ist gleichfalls
schwarz, mit rothem oder schwarzem Bande umsäumt, an der Brust durch einen
bunten Latz (Boschen) geschlossen, das Tuch gewöhnlich bunt, Sonntags
schwarz, beim Abendmahl weiß. Die ganze Tracht ist entschieden weniger ge-
schmackvoll als die sächsische, namentlich sehen die großen Mützenstriche hä߬
lich aus, und das ist um so mehr zu beklagen, als die Frauen dieser Ge¬
genden schon an sich nicht hat wohlgestaltet sind, als die vom sächsischen
Stamm.
Die schwarze Tracht gestattet ferner weniger, als die bunte, sociale Unter¬
scheidungszeichen. Letztere läßt namentlich bei den Frauen den Stand recht
wol zeigen, und das will unter Bauern noch etwas bedeuten. Die Frau
des Husners. der seine vier oder sechs Pferde im Stall hat, ist etwas besseres,
als die des Büdners, der seinen kleinen Acker mit fremdem Geschirr bestellt,
diese wieder vornehmer, als die des Tagelöhners, der seine Parzelle mit dem
Spaten bearbeitet. „Schultenmutter" klingt ganz anders, als „Möllersch"
oder „Meiersch". Warum soll sie nicht auch ernster, würdiger auftreten, warum
ihre Stellung im Dorfe nicht außer einem stattlicheren „Dickbuk" (ein wohl¬
gerundeter Bauch ist dem mecklenburger Bauer ein Ehrenzeichen, das er sorg¬
sam pflegt) auch durch besonders viel Goldstickerei an Tuch und Mütze re-
präsentiren?
Wir folgen unserm Berichterstatter in das Familienleben. Da gilt zu¬
nächst, daß der Hausvater Herr im Hause ist. Er leitet namentlich die Ver¬
waltung des äußern, seine Frau die des innern Hauswesens. Zwischen den
Kindern jeden Geschlechts besteht eine feste Nangabstufung sowol hinsichtlich
ihrer Bedeutung in der Familie, wie hinsichtlich ihrer Beschäftigung. Der
älteste Sohn hat den nächsten Platz nach dem Vater und führt, sobald er er¬
wachsen, bei der Arbeit eine Art Oberaufsicht. Doch muß er, gleich seinen
Brüdern, von der Pike auf dienen, vom Gänsejungen zum Kuhjungen, von
dieser Würde zum Ochsen- oder Kleinknecht, endlich zum Pferde- oder Groß-
e'recht sich emporarbeiten. Ebenso die Töchter. Auch hier findet eine Stufen¬
folge statt, die mit dem Departement des Federviehs beginnt und mit dem
der Kühe endigt. Die Küche bleibt Reservat der Hausfrau. Von der Con-
firmation an bezieht jedes Kind seinen Dienstbotenlohn, der auf der obersten
Stufe für die Söhne 14—24 Thaler, für die Töchter 10—18 Thaler zu be¬
tragen pflegt. Ungern gibt der Bauer seine Kinder in fremden Dienst, und
sein Familiensinn geht so weit, daß er beim Mangel eigner Kinder lieber die
von Verwandten, als fremde Knechte oder Mägde ins Haus nimmt. Auch
wenn der Vater stirbt und der älteste Sohn die Wirthschaft übernimmt, blei¬
ben die Geschwister bei ihm, die Schwestern bis zu ihrer Verheirathung. die
Brüder über diese hinaus. Hcirathet der Erbe, so ziehen die bei ihm ver-
buchenen Brüder in den zu jedem Gehöft gehörenden Kälber und gehen
nun allmälig in die Stellung bloßer Dienstboten über.
Gefreit wird fast immer nur nach praktischen Rücksichten. Selten verirrt
sich die Neigung eines Burschen zu einem Mädchen, welches den Eltern nicht
anstehen könnte; gewöhnlich wählt er eine aus demselben Dorfe, da eine
Fremde, wie man sich ausdrückt, „met armer Water böse" — mit anderen
Wasser getauft ist. Kaum kommt es vor. daß einer unter seinen Stand und
Vermögen verheirathet.
Einfach wie die geschilderten Verhältnisse ist auch das tägliche Leben der
Leute. Den Tag über nimmt sie die ländliche Arbeit in Anspruch. Nach der
Abendmahlzeit sehen sich im Sommer die jungen Leute vor die Hofthür und
erzählen sich „Lauschen und Riemels".- wie sie uns Fritz Reuter mitgetheilt
hat. An den langen Winterabenden bleibt man in der Stube, der Vater
liest bei einer Thranlampe oder einem Talglicht in einem Buch, die weiblichen
Hausgenossen spinnen oder schälen Kartoffeln, die Söhne schnitzen Löffel oder
flechten Weidenkörbe. Mitunter gibt ein witziger Kopf Räthsel oder aus der
Stadt mitgebrachte Kunststückchen zum Besten, häufiger spielen die Männer
Karten: Scherwenzel. Solo. Fünfkart. Schafskopf. Hund u. s. w. Jeder hat
die Mütze auf dem Kopf, die Pfeife mit ff. grünem Jägcrtabnk im Munde
und ist bemüht, die Atmosphäre in der niedrigen Stube so angenehm als
möglich zu machen, wozu bisweilen eine Brütgans hinter dem Ofen das Ihre
beiträgt.
Des Sonntags geht man früh zur Kirche, des Nachmittags in die Stadt
zum Einkauf, des Abends in den Krug, doch nur selten lange. Säufer sind
un Allgemeinen nicht häufig, obwol der Bauer nur beim größten Durst Wasser
trinkt. Sein gewöhnliches Getränk ist seibstgcbrautes säuerliches mit gelben
Wurzeln abgekochtes und versüßtes Bier und gelegentlich ein Schnaps. Letz¬
terer ist. wie Scorpionenöl äußerlich, ein Universalmittel für alle innern Uebel,
Zumal gegen „Wasser in den Stiefeln". Außerordeutlich sind die Leistungen
des mecklenburger Bauern auf dem Gebiet des Essens. Früh ehe man aufs
Feld geht, ißt man in der einen Gegend eine breiartige Suppe aus Mehl und
Milch, scherzweise „Sanftlieschen" genannt, in der andern Kartoffeln mit
Speck in Wasser gekocht, im Süden Butterbrot, wozu man Eichoricnkaffee
in Menge trinkt. Echter Kaffee wird selten getrunken; doch schreibt ihm der
Volksglaube große stärkende Kräfte zu. Nach jenem ersten Essen, dem „Morgen¬
brot", folgt gegen 8 Uhr tels „Hochimt". anch „Kleinmittag" genannt, bei
dem es Speck und Brot in Fülle, einen Schnaps oder auch selbst gebrautes
Bier gibt. Vorsorgliche Gemüther — und das sind die Meisten — nehmen
sich von da ein tüchtig Stück Brot mit zur Arbeit, für den Fall, daß der
Magen.„grölen" sollte. Mittags 12 Uhr folgt die Hauptmahlzeit, die aus
den grünen Gemüsen der Jahreszeit mit Kartoffeln, Speck und Schinken be¬
steht. Sonn- und Festtage fügen dazu noch Pfannenkuchen, „Appclbackbeern"
(Backobst), dicken Reis mit gekochtem Nind- oder Hammelfleisch (Grapen-
braden) und getrockneten Pflaumen. Ein Lieblingsgericht ist Reis und Klöße,
das beliebteste Fleisch Schweinefleisch, besonders Rippenbraten, der mit Pflaumen
gestopft ist. „Gösbraden". sagt der Bauer, „fall de beste sieu, awer Swien-
bratcn is't." Um 4 Uhr folgt ein „Abendbrot" von Brot. Butter. Speck
und Schinken, dann schließt man mit der Nachtlose, die gewöhnlich wieder
ein Kartoffelgericht ist. Das Hauptnahrungsmittel ist grobes, aus üngesich-
tetem Roggenmehl gebacknes Brot, das dem westphälischen Pumpernickel gleicht.
Weizenbrod (Stuten) gilt auf dem Lande noch allenthalben als Leckerbissen.
Milchspeisen ißt man gern, aber nicht oft. Kartoffeln genießt der Bauer von
altem Schrot und Korn nur wenn er muß. Die Städter nennt er verächtlich
„Kantüffelbük" (Kartoffelbäuche), eine dicke rothe Nase „Kantüffelsnut". Ob¬
gleich der See nahe, macht sich der hiesige Bauer wenig aus Fischen, höch¬
stens befaßt er sich mit „Butt" (Plattfischen) und „grünen" d. h. frischen
Heringen. Eine Ausnahme ist die Gegend bei Dargun, wo man bei allen
festlichen Gelegenheiten Fische die Hauptrolle bei Tische spielen sieht. Obst¬
mus bekommen nur die Kinder zum Brot. Käse wird, da er nicht fett genug
ist, wenig gegessen und daher auch wenig bereitet. Von würzender Zuthat
zu den Speisen kennt man fast nur Zwiebeln und Salz. Senf und Pfeffer
werden selbst in den Städten weniger gebraucht als im südlichen Deutschland.
Die Volksküche sieht überhaupt hier nicht so sehr auf das Was und Wie,
als auf das Wieviel. Unglaubliche Massen schwerwiegender fetter Speisen
werden, wenn es gilt', in stundenlangen Sitzungen dem Magen einverleibt,
dessen Winkel, wenn man aufsteht, allesammt gefüllt sein müssen. Jeder ar¬
beitet mit emsigen Bemühen aus Dickbäuchigkeit hin; denn „de Wind", sagt
das Sprichwort, „weiht wol Barg tausamm. awer keen dick Buel."
So reinlich die Leute im Allgemeinen, zumal in der Kleidung sind, so
„unnasch" geht es in der Regel beim Essen zu. Das Salz wird an die.Speisen
gethan, um den Magen auszuscheuern, und das kann, meint der Bauer, ein
Bischen Sand oder Schmutz auch. Das Tischtuch ist da, damit man sich vor
dem Aufstehen Finger und Mund daran abwische. Alle essen aus einer großen
Schüssel. Nach der Mahlzeit leckt man sorgfältig seinen Löffel ab, bevor man ihn
an den an der Wand befestigten Riemen steckt. Im westlichen Theil des
Landes, besonders unter den ratzeburger Bauern, wo überhaupt mehr Bildung
und feinere Sitten herrschen, trifft man mehr Reinlichkeit und Anstand, als
im östlichen und südlichen. Die Hufen sind hier größer, die Bauern Besitzer,
nicht blos Pächter des Landes, auch haben diese Gegenden weniger als andere
von den Nachwehen des dreißig- und des siebenjährigen Krieges zu leiden gehabt.
Die Familienfeste der Dorfbewohner beschränken sich auf Taufschmäufe
Hochzeiten und Leichenessen. Statt der Taufschmäuse gibt es jetzt in vielen
Gegenden nur noch einen Kaffee mit Stuten. Mit großen Ceremonien und
nicht unbedeutendem Aufwand dagegen werden die Hochzeiten gefeiert, an denen
fast immer das ganze Dorf theilnimmt. Man wählt in der Regel zur Ber-
heirathung den Herbst; für den günstigsten Tag gilt (wie in Holstein) der
Freitag, doch darf er nicht auf den 13. oder 17. Tag des Monats fallen.
Ein wichtiger Gegenstand der zu diesem Zweck angestellten Familicnberathung
ist die Wahl der Köchin. Sie muß nicht blos gut kochen können, sondern
auch wissen^ was sich schickt und nicht schickt, unter Anderm, daß man Fremde
nicht in die Töpfe gucken lassen darf, weil sie damit dem Brautpaar etwas
anthun tonnen, ferner, daß man bösen Zauber von Neidern, der zum Beispiel
durch einen kreuzweise an das Bratenfeuer gelegten Strohhalm geübt werde»
kann, am schnellsten unwirksam macht, wenn man sofort erst über die rechte,
dann über die linke Schulter spuckt u. s. w. Ein andrer Gegenstand der
Ueberlegung ist der Hochzeitsbittcr (Köstenbidder), doch nimmt man dazu in
der Regel den Großknecht des Brautvaters, und nur wenn dieser zu wenig
Witz und Geschick hat, denkt man an einen andern.
Der Köstenbidder ist. wenn er seine Aufträge ausrichtet, beritten. Sein
Pferd muß das beste des Stalles und gut gefüttert und gestriegelt sein, sonst
gibt es ein Unglück. Mähne und Schweif werden in viele kleine Zöpfe ge¬
flochten, der Hochzeitsbittcr selbst mit Sträußen von künstlichen Blumen, Flitter¬
gold und Glasperlen an Hut, Brust und Achseln geschmückt. Dann beginnt
N' seinen Ritt, um den verschiedenen Gästen seine Botschaft in zierlichen Rei¬
men vorzutragen. In jedem Hause, wo er einspricht, erhält er ein Glas
Wein oder Branntwein und sein Pferd ein langes buntes Seitenhaut, welches
an einem der vielen kleinen Zöpfe befestigt wird. Man kann sich vorstellen,
welch eine groteske Erscheinung ein solcher Reiter ist, wenn er nach Ausrichtung
von einem halben oder ganzen Hundert Einladungen, den Kopf voll Wein
Mit lautem Johlen und Jauchzen durch die Dörfer nach Hause gnloppirt.
In einigen Gegenden des Landes, wo der Bater des Bräutigams die
Hochzeit auszurichten hat. beginnt die letztere am Abend des Donnerstags
damit, jdaß die Aussteuer der Braut nach der Wohnung ihres Zukünftigen
»hingeblasen" wird, wobei die verschiedenen Koffer oder Laden einzeln auf
vierspännigen Wagen gefahren werden. Der blaubemalte „Staatskoffer",
welcher das beste Leinenzeug enthält, nimmt als Hauptstück den ersten Wagen
co- Im Dorfe sind alle Gehöfte weit geöffnet, nur das des Bräutigams ist
sorgsam verriegelt, und dieser stellt sich, als sähe und hörte er von dein ganzen
Aufzuge nicht' das Mindeste. Erst auf ein furchbarcs Geschmetter der Musik,
gewaltiges Peitschenknallen und Pochen an das Hofthor nimmt er von den
vor letzterem haltenden Wogen Notiz, und erst durch viele Bitten und allerlei
kräftige Späße des Köstenbidders ist er, der von nichts weiß, zur Oeffnung
des Thores zu bewegen. Nachdem die Wagen abgeladen sind, folgt ein Tänz¬
chen, „um die Beine für morgen geschmeidig zu machen."
Am Freitag beginnt mit dem frühesten Morgen das Anputzen der Braut,
wobei die Predigersfrau Hilfe zu leisten pflegt. Endlich tritt sie reich geschmückt,
begleitet von zwei oder vier Brautjungfern aus der Kammer dem Bräutigam
entgegen. Ihre Kleidung besteht aus schwarzem Wollenstoff, um den Leib
trägt sie buntseidne Schärpen, um den Hals ein weißes mit Gold und Silber
gesticktes Tuch,, auf dem Kopfe die fußhohe Krone von Flittergold.. Glasperlen,
künstlichen Blumen und Silberdraht, in welcher kleine bunte Vögel sitzen, an
Brust, Seiten, Schultern und Ellenbogen Sträußchen von Flittergold und
Glasperlen. In der rechten Hand hält sie das Gesangbuch, in der linken das
„Thränendauk". Bräutigam und Brautführer sind ähnlich ausstaffirt. Die
Pferde vor dem Wagen, welcher die Leute zur Trauung führen soll, sind an
Mähne und Schweif reich bebändert. Aus dem einen reitet der Köstenbidder.
Die Musik eröffnet den Zug. der sich nach ihren Klängen langsam nach der
Kirche begibt. Auf dxm Rückweg von da fahren die Wagen mit den Spiel¬
leuten und dem Hochzeitsvater voraus, damit der Empfang der Gäste durch
letzteren im Hochzeitshause ordnungsmäßig vor sich gehen kann^ Jedem ein¬
zelnen der andern Wagen schallt hier ein gewaltiger Tusch als Willkommen
entgegen. Man steigt aus und nähert sich dem großen Hausthor. Da wird
dieses plötzlich verschlossen. Einer der Gäste pocht und bittet um Einlaß.
Vergebens. Die Braut klopft und verlangt Oeffnung der Thür. Umsonst.
Erst vor dem Bräutigam läßt sich der Hochzeitsvater zu Verhandlungen herbei,
aber nicht eher wird aufgethan, als bis die jungen Leute das Versprechen
gegeben haben, im Hause.friedlich.mit einander zu leben und ihre alten Eltern
in Ehren zu halten. Die Thür geht nun auf, und während das Brautpaar
über die Schwelle schreitet, spricht der Hochzeitsvater den Segenswunsch aus, daß
man sie einst zusammen über dieselbe zur ewigen Nuhe tragen möge. Daran
schließen sich die Glückwünsche der Gäste, die darauf von den Schaffnern,
jungen Burschen in Hemdärmeln und zurückgeschlagenen weißen Schürzen, welche
Aufmärterdienste verrichten, mit einem Trunk, willkommen geheißen werden.
Das Mahl, das nun folgt, ist ein wahrhaft homerisches. Die Honora¬
tioren haben ihren Platz in der „Dönsk". die übrigen Gäste — häusig über
hundert Personen — reihen sich ihrem Nang gemäß, an langen rings um die
Diele gestellten Tischen. Eine Hühnersuppe mit Klößen, in welcher die ganzen
Hühner schwimmen, eröffnet die Reihe der Gerichte. Dann folgen Fleisch
in allerlei Gestalt nebst Kartoffeln und gekochten Pflaumen, dicker Reis, Ku¬
chen, Pudding aus Semmeln und Rosinen mit Pflaumensauce u. s. w. Bei
großen Hochzeiten werden ganze Kühe, Kälber, Hammel und Schweine ver¬
zehrt. Bei einer derselben verbrauchte man an Weizenmehl 25 Scheffel, an
Zucker 26 Hüte.
Charakteristisch ist, daß die Butter in Gestalt eines Hahnes auf den Tisch
kommt. Eine eigenthümliche Speise ist der „grotc Klump", ein gewaltiger
Kloß aus geriebenem Zwieback, Rosinen, Gewürzen und Butter. Er ist dos
volksthümliche Pfingstgericht. äußerst wohlschmeckend, aber auch sehr fett und
schwer. An Getränken gibt es Schnaps, Punsch und Weißwein, den man
sich mit Zucker versüßt, selten Rothwein. Die Schaffner sind während des
Mahles in steter Bewegung. Sie tragen den Gästen die schweren dampfenden
Schüsseln unter dem fortwährenden, zur Vorsicht mahnenden Rufe: „Hetigkeit!
Hetigkeit!" zu. (Hetigkeit d. i. Heißigkeit.) Das Essen dauert gegen sechs
Stunden und jeder ist mit allen Kräften bestrebt, so viel als möglich darin
zu leisten. Gelegentlich läßt sich die Musik hören, für welche dann eingesammelt
wird. Zum Schluß kommt die Köchin, ein Büschel glimmendes Werg in der
Hand, um sich unter dem Borgeben, daß sie beim Kochen ihre Hand verbrannt
habe, von den Gästen ein Trinkgeld zu erbitten.
Nach Tische steckt man die Pfeife an und trinkt Kaffee. Darm folgt auf
der Diele ein Ball, der mehre Stunden währt, und bei welchem noch verschie¬
dene alterthümliche Tänze getanzt werden. Dahin gehört zunächst der. wel¬
cher „Schöndör und stolz" heißt, eine Quadrille mit zwei Touren, bei deren
erster vier Personen kreuzweise durcheinander (schön durch) tanzen, während sie
bei der zweiten die Arme in die Seiten gestemmt, (stolz) einhergehen. Sodann
ist hierher der ..Auskchr" zu zählen, eine Polonaise, welche gegen das Ende
der Festlichkeit von allen Theilnehmern an derselben getanzt wird. Alt und
jung, jedes mit einem Werkzeug der Wirthschaft bewaffnet (nur Besen find
verboten, da sie Unglück bringen würden) zieht dabei nach der Melodie: „Un
as de Grotvare de Grotmodcr nahm" durch das Haus, durch Thüren und
wmster, in die Ställe, auf den Heuboden, und es gibt manche ergötzliche Scene.
Endlich gebört in diese Reihe der Tanz, welcher, „Nückclreih" genannt, die
eigentliche Hochzeitsfeier um die Mitternacht des Freitags schließt. Sein Zweck
^ör, die Braut „auszutauzen", nämlich aus der Gemeinschaft der Unverheiratheten,
zu der sie bisher gehörte. Zwei Bursche nehmen sie zwischen sich, um sie
schließen die jungen Mädchen, sich an den Händen fassend einen Kreis, welcher
wieder ebenso von den ledigen Mannspersonen umkreist wird, doch der Art,
daß sich in diesen, äußern Kreise zwei Männer nicht angefaßt haben. Der
e>"e von diesen reitet auf einer Gaffel (einer beim Dreschen gebrauchten höl¬
zernen Gabel), während der andere ihn mit knallender Peitsche antreibt. So¬
lort drehen sich beide Kreise um die Braut, und der Bräutigam muß nun
verbunden, jene von außen her durchbrechend zu der Braut zu gelangen. Ist
ihm dies »ach heftigem Kampf gelungen, so drehen sich die Kreise von Neuem
und es ist jetzt an den verheiratheten Frauen, sich durch dieselben hindurch
zu drängen. Die Verwirrung, das Kreischen und Jauchzen bei diesem Spiel,
an dem oft an fünfzig Personen theilnehmen, ist unbeschreiblich. Am Ende
erHaschen dann die Frauen die inzwischen gewaltig zerzauste Braut und bringen
sie mit den Resten ihrer jungfräulichen Krone in die Brautkammer, wo sie ihr
die Mütze oder Haube aufsetzen, die sie zur Frau macht.
Bei großen Hochzeiten findet am Sonnabend und Sonntag noch eine
Nachfeier statt, bei welcher wieder getanzt und das vom Hochzeitsschmaus
übrig gebliebne Essen verzehrt wird. Nur die Gäste aus der Stadt geben
Hochzeitsgeschenke, die bäuerlichen unterlassen dies, doch will die Sitte in
einigen Gegenden, daß jede geladene Familie ein Huhn zum Gastmahle bei¬
steuert.
Die Gebräuche, die sich an Todesfälle knüpfen, haben wenig Eigenthüm¬
liches. Das Volk fürchtet den Tod im Allgemeinen nicht, da ihm ja nie¬
mand entrinnt. Viele alte Frauen haben jahrelang das selbstgesponnene
Leichenhemd in der Lade liegen und den ihnen schon bei Lebzeiten angemeß-
nen Sarg in der Kirche stehn. Ein alter Kuhhirt ersparte sich mühsam drei¬
ßig Thaler, um sich mit Geläut begraben zu lassen. Bei der Beerdigung, an
der oft mehre Hunderte theilnehmen. geht der Leichenzug gewohnlich, bevor
er sich nach dem Grabe bewegt, einmal um die Kirche herum, damit „der
Todte nicht wiederkomme". Nach vollzvgner Einsenkung begibt sich das Leichen-
gefolge entweder in den Krug oder in das Sterbehaus, wo e.in Schmaus seiner
wartet, der in der Regel in Schweinebraten mit dickem Reis und Pflaumen
besteht. Man nennt das scherzend „de Hut verkehren", die Haut verzehren.
Altgläubige beobachten bei Todesfällen allerlei Regeln der Vorsicht. Man
darf z. B. die Leiche, wenn sie nicht spuken soll, nicht an einem unverdeckter
Spiegel vorbeitragen, sich nicht auf die Bahre setzen, nichts ins Grab fallen
lassen, weil man sonst bald sterben muß. Kommt dem Todten ein Zipfel
seiner Bekleidung in den Mund, so holt er seine Familie nach. Man legt
ihm deshalb, um die Bekleidung zusammenzuhalten, ein,e Scholle Nasen ans
die Brust. Eine Stecknadel dazu zu nehmen, ist nicht gerathen, da sie schon
von jemand gebraucht sein könnte und dieser dann sterben müßte. An man¬
chen Orten wird im Sterbehause von der Stelle, wo die Bahre gestanden,
bis zur Hausthür Asche gestreut, wobei der Streuende rückwärts geht. Ander¬
wärts fegt man sofort nach dem Hinaustragen der Leiche das Haus, ebenfalls
rückwärts schreitend, und läßt niemand eher über die Schwelle, als bis diese
Reinigung vollzogen ist.
» Ein Ueberblick über die Familienfeste des Mecklenburgers zeigt, daß sie
sehr einfach sind und wie das ganze übrige Leben im Wesentlichen aus euch-
tiges Essen und Trinken hinauslaufen. Die materiellen Genüsse sind das
Wichtigste, ein voller Bauch die Hauptsache. Wird doch selbst der Weihnachts¬
abend im Kreise dieser Bauern nur durch einen mächtigen Schmaus gefeiert
und darum vorzugsweise der „Vullbuksabend" genannt.
Die Dorffeste, welche sich an bestimmte Zeiten knüpften, sind meist der
bemutternden Fürsorge einer löblichen Polizei erlegen, die sie für nicht an¬
ständig genug hielt. So die Wettrennen am Pfingstfest und der Gebrauch
der Hirten bei Parchim, nach welchem dieselben mit Peitschengeknall von
Haus zu Haus zogen, um Gaben einzusammeln. So auch die Feier des
Johannistags, wo die jungen Leute des Abends „Wiemen" (Strohwische) an
lange Stangen befestigten, sie anzündeten und ans dem Felde damit im Kreise
umhersprangen. Im Ratzeburgischen findet um Pfingsten noch das „Kranz-
Mten" statt. Die junge» Burschen reiten in langer Reihe hintereinander her und
stechen nach eisernen Ringen; wer die meisten sticht, ist Konig des nun folgen¬
de» Tanzfestes. Interessanter ist das Erntefest, das Erntebier oder „Austtösi"
genannt wird. Der Tag dazu wird in einer allgemeinen Bauemvcrsammluug
>>n Schützenhaus bestimmt. Das Fest selbst geht bei den Hofbesitzern der
Reih? »ach um. Am Morgen des Tages versammeln sich die jungen Leute
»»d flachem zunächst eine große Krone aus Kornähre« und Fichtenzweigen. die
mit Schnuren von Hagebutten, mit seidnen Bändern und Rauschgold geschmückt
wird. In die Mitte derselben setzt man einen aus Holz oder Tragant verfertigten
Hab», das Symbol der Fruchtbarkeit, das früher auch die Brautkrone zierte.
>)>t die Krone fertig, so bringt sie der Großknecht des Festhauses, dem im
westlichen Mecklenburg ein langer Zug von Burschen und Mädchen folgt,
durch das Dorf in das Fesilocal, die Diele des Gehöfts, wo sie an einem
^alte» befestigt wird. Nachmittags wird hier getanzt und den bereit gchal-
ume» Bier- und Branntweintonuen fleißig zugesprochen. Der Wirth hat nur
l>U' reichliches Getränk zu sorgen, doch findet sich selten einer, der nicht zu¬
gleich ein Butteibrot sür die Knechte und Tagelöhner und einen Schweine¬
braten sür die Bauern hätte.
(Schluß im nächsten Heft.)
Am 24. December 18K0 ist in öffentlicher Sitzung des Landgerichts zu
Bonn das Urtheil in einem Processe gesprochen worden, dessen Anlässe längere
Zeit die gesammte Presse Deutschlands und Englands beschäftigt habe».
Es hat damit ein Nationalstreit wenigstens formell sein Ende erreicht, welcher
von beiden Seiten die Geister heftig hat aufeinander platzen lassen.
Es ist eine bekannte Thatsache, daß der Verkehr anreihenden Engländern
in Deutschland durchschnittlich nichts weniger als beliebt ist. Sie nehmen
gern mehr Platz ein als ihnen gebührt, machen von ihren Ellbogen einen
sehr ausgedehnten Gebrauch, lassen es an der natürlichsten Aufmerksamkeit
gegen Mitreisende fehlen, sprechen jeden in ihnen keimenden Verdacht einer
Uebervorthcilung gegen Verkäufer und Kassenbeamte ohne Weiteres auf das
schonungsloseste aus. Lassen sie einmal die Ansicht durchfühlen, daß wegen
der großen Summen, die sie alljährlich auf den Kontinent führen, sich ihnen
doch Alles beugen müsse, so erbittert das natürlich noch mehr. Kaum anders
ist in Städten, wo Engländer sich stehend aufhalten, das Verhältniß der Ein¬
wohner zu diesen, wozu besonders noch die häufige Vorstellung mitwirkt, daß
meistentheils nicht grade die in England angesehensten Familien nach dem
Continent ziehen. Selbst die gewerbtreibenden und arbeitenden Classen,
welche von ihnen Vortheil haben, erdulden nur ungern ,hre Ansprüche und
ihr herrisches Wesen. In Bonn, wo seit lange eine zahlreiche Kolonie von
Engländern besteht, tritt noch der Umstand hinzu, daß daselbst auch mehrere
Erziehungs instituee für junge Engländer sind und das Benehmen heranwach¬
sender englischer Knaben für Deutsche leicht unerträglich wird. So bildete
sich seit geraumer Zeit in der Bevölkerung dieser reizvollen Universitätsstadt
eine, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, wenig freundliche Stimmung ge¬
gen die fremden Gäste aus, welche im letzten Herbste durch einen unerwarte¬
ten Anlaß plötzlich die reichste Nahrung fand.
Das Jahr, 1860 rief in leicht erklärlicher 'Reaction gegen das voran¬
gehende Kriegsjahr eine ungewöhnliche Reiselust hervor. Besonders auf der
noch nicht lange eröffneten Eisenbahnstrccke Mainz-Cöln nahm der Personen¬
verkehr während der zweiten Hälfte des Sommers eine Ausdehnung an, daß
es den Beamten derselben schwer wurde, die nöthige Ordnung und Pünkt-
keit aufrecht zu halten. Namentlich wurde bei einem Zuge, der Nachmittags
um vier Uhr die Station Bonn passirt, immer ein sehr reges Treiben be¬
merkt. Dies war unter anderm in hohem Grade am Nachmittage des 12.
September der Fall, was zu einem Vorgänge führte, der eine europäische
Berühmtheit erlangt hat. Ein Engländer. Capitain Macdonald, auf der Reise
vo» Mainz nach Cöln begriffen, saß in einem Coupe; zweiter Classe und be¬
wahrte für seinen Schwager Kühe, dessen Kind und das begleitende Kinder¬
mädchen, welche ausgestiegen waren, die Plätze^ während Frau Kühe in dem
Coup6 geblieben war. Ein Bonner Einwohner. Dr. Parow-, wollte mit seiner
Frau abreisen und wurde von den Bahnbeamten in dieses Coup6 gewiesen.
Hierbei entspann sich zwischen Capitain Macdonald und ihm ein Streit, der
mir wenige Secunden gedauert haben kann, dessen Details aber, so viel auch
darüber geschrieben und gesprochen worden ist, nichts weniger als aufgeklärt
sind. Es scheint, das, Macdonald, der deutschen Sprache unkundig, sich durch
heftige Pantomimen verständlich zu machen suchte, die entweder an Tätlichkeiten
grenzten oder in solche ausarteten und daß Dr. Parow sich diesen besonders
insofern widersetzte, als sie seine Frau betrafen. Auch das ist. soweit wir
die Verhandlungen haben verfolgen können, nicht festgestellt, wie viele Per¬
sonen schon in dem Coupe; säße»; doch geht aus anderweitigen Aussagen her¬
vor, daß Macdonald bereits während des früher» Theiles der Reise das An¬
füllen des Coupes, in Bonn selbst das Einsteigen eines Herrn Buchholtz aus
Burtscheid und seiner Frau zu verhindern gesucht hatte. Wir dürfen übrigeus
nicht verschweigen, daß einem Fremden schwer der Gedanke kommen kann,
um Coup6 zweiter Classe der rheinischen Eisenbahn sei für zehn Personen be¬
stimmt, denn dieselben sind zum großen Theil unerlaubt schlecht und haben'
kaum für acht Platz, Um zwischen dem Engländer und Dr. Parow zu ver¬
mitteln, eilte der Inspektor des Bahnhofs. Herr Hoffmann, herbei und wollte
ZU diesem Zwecke zunächst den ersteren zum Ausstcigc» veranlassen, wobei die¬
ser ihm einen Stoß vor die Brust versetzte, eine Handlung, welche un¬
zweifelhaft eine Beleidigung eines Beamten im D.ienst enthielt und später in-
Mmiuirt und bestraft worden ist, Macdounld wurde daun, da er sich den
Anordnungen der Bahnpolizei nicht gutwillig fügte, durch zwei Schaffner aus
dem Coupe; gehoben. Zur Verschärfn».; der beiderseitigen Stimmung trug
folgender Umstand wesentlich bei. Während der Zug sich wieder in Bewegung
setzte, folgte Frau Kühe mit ihrem inzwischen wieder herbei gekommenen
Manne ihrem Schwager, als derselbe zum Behufe der weiteren Untersuchung
in das Bahnhofslocal geführt wurde; hier überhäufte sie, des Deutschen voll-
kommen mächtig, Herrn Hoffmann mit den beleidigendsten Schmähungen.
Wir glauben diese Frau am glimpflichsten zu beurtheile», wenn wir an¬
nehmen, daß sie i» Folge körperlichen Leidens (das möglicher Weise anch Mac¬
donalds übertriebene Fürsorge für die Plätze veranlaßt hat) nicht völlig
Zurechnungsfähig war.
Das Ereignis; des ersten Tages endete damit, daß Macdonald der Polizei¬
behörde übergeben und in Haft gebracht wurde. Wie der königliche Ober-
procurator von Bonn, Herr v. Ammon, in einer etwas kurz gehaltenen amt¬
lichen Erklärung in Ur 263 der Kölnischen Zeitung mittheilt, geschah am
folgenden Tage, 13. September,, die Vernehmung vor dem Jnstructionsrichter
und begann damit das gerichtliche Verfahren. Aber spater erschien in der
Cölnischen Zeitung vom 30. October eine Zuschrift aus offenbar gut unterrich¬
teter Feder, welche behauptete, der gerichtliche Haftbefehl sei erst am 15. Sep¬
tember Nachmittags nach vier Uhr übergeben worden, und blieb ohne Er¬
wiederung. Diese Unregelmäßigkeit ist in den folgenden Verhandlungen von
Herrn v. Ammon zugegeben und durch eine dringende dienstliche Abwesenheit
des betreffenden Beamten' entschuldigt worden. Leider ist das Gesetz, welches
die Ausdehnung der blos polizeilichen Verwahrung über die Frist von 24
Stunden hinaus verbietet, anderswo in Preußen zu oft und zu schwer ver¬
letzt morde», als daß wir nicht in einem Falle wie der vorliegende seine
strengste Beobachtung auf das dringendste gewünscht hätten.
Am 18. September wurde der Proceß gegen Macdonald in öffentlicher
Sitzung des Zuchtpolizeigerichts zu Bonn verhandelt, der Angeklagte des ihm
zur Last gelegten Vergehens schuldig befunden und zu einer Geldbuße ver-
urtheilt. Im Interesse einer schnellen Erledigung der Sache hatte man.das
Zeugenverhör auf das knappste Maaß beschränkt, so daß die Entscheidung
eigentlich ganz auf dem Zeugnisse des Herrn Hoffman beruhte. Juristisch be¬
frachtet ist hiergegen wenig einzuwenden, da die Beleidigung eines Beamten
in Bezug auf seinen Beruf, aus die es ankam, am einfachsten durch den Amts¬
eid des Betheiligten constatirt werden konnte, allein wie der Fall moralisch
zu beurtheilen sei, blieb dabei ziemlich im Dunkeln. Hierfür kam alles auf
die Entstehung und Entwicklung des Streites mit Parow an; war Capt.
Macdonald bei diesem nicht im Unrecht, so mochte er, als Herr Hoffmann
hinzukam, schon gereizt sein und sich dem fremden Manne gegenüber, dessen
Stellung ihm unbekannt war, im Zustande einer gezwungenen Nothwehr glau¬
ben. Dr. Parow. der von Bonn abwesend war. wurde nicht geladen, ebenso
wenig aber anch eine Dame aus Cöln, die während des Vorganges in dem
welthistorischen Coupv gesessen hatte und deren für Macdonald günstige, der
Parow'sehen theilweise entgegenstehende Aussage merkwürdiger Weise erst in
dem im December geführten Processe gegen die Unterzeichner des Protestes
zum Vorschein gekommen ist. Was die Hauptsache betrifft, so kann nie¬
mand darüber im Zweifel sein. daß. wenn nicht die größten Gefahren für die
Sicherheit der Personen entstehen sollen, die Anordnungen einer Eisenbahn¬
polizei eine ebenso unbedingte Autorität in Anspruch nehmen müssen, wie
die eines Schisfscapitäns und daß ein Widerstand gegen die damit Betrauten
straffällig sein muß.
Ein Incidenzfall in der Sitzung vom 18. September ließ jene ersten Keime
des Zwiespaltes in den Hintergrund treten. Der darin fungirendc Staats,
procurator. Herr Möller, verbreitete sich in seiner Anklage über den Charakter
der Engländer im Allgemeinen und führte aus, wie dieselben, auf ihrer Insel
die Gesetzlichkeit und der Ordnungssinn selbst, diese Eigenschaften und die
Manieren eines Gentleman meistentheils sofort ablegten, sobald sie ihre Insel
verließen, und daß sie auf dem Eontinent ein Betragen anzunehmen pflegten,
das als Anmaßung, als Unverschämtheit, ja als Lümmelei bezeichnet werden
müsse. Es versteht sich, daß diese Worte, sobald sie bekannt wurden, einen
Sturm der Entrüstung unter den in Bonn wohnenden Engländern Hervorrie¬
sen. Sie waren nicht allein wegen der darin liegenden Kränkung der briti¬
schen Nation tactlos, sondern auch deshalb sehr unklug, weil sie die erhobene
Anklage selbst in ein zweifelhaftes Licht stellten. Zumal bei der sehr summa-
rischen Behandlung des Processes erzeugten sie nothwendig die Vorstellung,
daß die wahre Ursache derselben nicht eine aus den Thatsachen geschöpfte ju¬
ristische Ueberzeugung, sondern die den Engländern im Allgemeinen entgegen¬
stehende Präsumption sei. so daß in unvermeidlicher Gedankenfolge Macdo¬
nald als das unschuldige Opfer eines deutschen Nationalvorurtheils betrachtet
wurde. Daß eine solche Aeußerung, die Frucht eines unbewachten Augen¬
blickes, ungerügt fallen konnte, hängt mit einem Uebelstande nicht sowol in
unserm Gerichtsverfahren als in unsern Gerichtsgcwohnheiteu zusammen.
Wäre es. wie es sein sollte, so wäre der Präsident des Gerichts sogleich da¬
gegen eingeschritten, allein leider ist es bei uns ganz außer Gebrauch, daß
die Gerichtsvvrsitzcnden ihre Antoritüt gegen die Staatsprocuratorcn geltend
Machen, die vielmehr durchaus als ihnen gleichstehend behandelt werden.
Gegen die Beleidigung, welche unzweifelhaft den in Bonn wohnenden
Engländern mittelbar zugefügt war, wäre es nach preußischen Begriffen das
Natürliche gewesen, bei den Vorgesetzten des Herrn Möller Abhilfe zu suchen,
sei es durch eine gerichtliche Klage bei dem über ihm stehenden Obcrprocura-
tvr. sei es durch eine Beschwerde bei dem Justizmuüster. Aber den Söhnen
jener Insel, ans welcher die Presse die größte Macht ist. lag dies fern, und
erschi'en eine sofortige öffentliche Abwehr als das einzig Gebotene. Die Bon¬
ner Zeitung vom 2». und die Kölnische vom 21. brachten einen von zwölf
Engländern unterschriebenen Protest, worin nicht nur die Aeußerung des Hrn.
Möller zurückgewiesen, ein „feiger Angriff auf die ganze britische Nation" ge¬
nannt und auf das Motiv des Privathasscs zurückgeführt, sondern anch Mac-
donald als völlig unschuldig dargestellt und das Gefängniß, in dem er geme¬
in war. als ein „schmutziges" bezeichnet wurde. Wir müssen leider beken¬
nen, daß uns selten ein geschmackloseres Schriftstück vorgekommen ist und daß
wir hinterher sehr erstaunt gewesen sind zu erfahren. daß dasselbe von Ol-,
Perry, einem fein gebildeten und literarisch rühmlichst bewährten Manne, auf-
gesetzt sei, ein warnendes Beispiel, wie eine starke leidenschaftliche Erregung
auch bedeutende Gaben verdunkeln kann. Keine Spur darin von jenen? männ¬
lichen Stolze, den wir uns sonst so gern von dem englischen Charakter nn-
zeitrenulich denken, vielmehr ein fast weinerlicher Ton von Anfang bis Ende.
Am auffallendsten war den Deutschen, das? auch die Königshäuser in. dem
Proteste aufmarschiren mussten, indem daran erinnert wurde, das; die Prin¬
zessin Friedrich Wilhelm von Preußen eine aus dem Continente wohnende
und in nächster Frist die Königin von England eine auf dem Continente rei¬
sende Engländerin sei; dies verletzte namentlich auch die Behörden. Noch
mehr wurden diese natürlich durch die Darstellung des gegen Macdonald beob¬
achteten Verfahrens gereizt.
Bald darauf erfuhr man, daß der Oberprocurator, Herr v. Ammon. ge¬
gen die Unterzeichner der Adresse eine Untersuchung wegen Beleidigung eines
Beamten in Beziehung auf seinen Beruf eingeleitet habe. Wir möchten die¬
sen Schritt nicht eben mißbilligen, wie man auf den ersten Blick leicht geneigt
sein kann zu thun. Gewiß ist eine gar zu ängstliche Bewachung jedes ge¬
druckten Wortes sehr vom Uebel, und zumal hätte eine natürliche menschliche
Zartheit einer Staatsanwaltschaft, welche durch eines ihrer Mitglieder belei¬
digt hatte, wohl gebieten können, dem Beleidigten die freieste Gegenrede zu
gönnen; allein wir dürfen nicht verkennen, daß auch gewichtige Gründe für
die Anklage sprachen. Der Protest überschritt die Grenzen einer Abwehr und
ging in mehreren Ausdrücken in einen ungerechtfertigten Angriff über. Der
Vorwurf, daß Herr Möller „aus Privathaß" gegen die Engländer gehandelt
habe, beruhte auf einer durch nichts zu beweisenden Boraussetzung; der der
„Feigheit", hatte im deutschen einen viel schlimmeren Klang als das entspre¬
chende englische Wort, das sehr häusig gebraucht wird (cmvarclioo), und ent¬
hielt eine positive Injurie; das völlige Jgnoriren des gefällten richterlichen
Spruches bedrohte geradezu das Ansehen der Justiz. Die Engländer glauben
auf dem Kontinent so leicht Zustände des Faustrechts vor sich zu haben und
maßen sich so gern eine exceptionelle Stellung an, daß es gut ist, wenn ihnen
bei jeder Gelegenheit die Geltung des Gesetzes in allen seinen Einzelheiten
gezeigt wird. Auch benahmen sich die Bonner Engländer in einem Punkte
sehr unklug. Sie hatten schon Anfangs verlauten lassen, daß Macdonald im
Dienste der Königin reise und darum seiue Verhaftung Unannehmlichkeiten
nach sich ziehen könne, sie pochten fortwährend auf eine eventuelle diploma¬
tische Intervention: es versteht sich von selbst, daß diese Versuche einer Ein¬
schüchterung auf unabhängig denkende Justizbeamte die entgegengesetzte Wir¬
kung übe» und sie veranlassen mußten zu beweisen, daß sie unbekümmert um
die möglichen Folgen ihre Pflicht erfüllten. Hierzu kam ferner noch der Um¬
stand, daß eine genau geführte Untersuchung am besten alle Thatsachen an
das Licht ziehen und aller Weit klar machen konnte, daß man deutscherseits
die vollste Offenkundigkeit nicht scheue.
Gegen Ende Septembers begegneten sich der Prinz-Regent von Preußen
und die Königin von England am Rheine, Mitte Octobers kamen sie in
Coblenz zusammen, und ihre auswärtigen Minister hielten Conferenzen, was
auf eine Annäherung der beiden Staaten deutete. Daß eine solche jenseits
des Canals eine starke Partei gegen sich haben würde, war zu erwarten, aber
die Weise, in welcher dieselbe ihre Ansicht geltend machte, war eigenthümlich
genug. Die auswärtige Politik Preußens hatte es wahrlich an Anlässen nicht
fehlen lassen, das Anschließen an diesen Staat mit Gründen zu bekämpfen;
statt dessen wurde, um ihm entgegenzuwirken, der in den abenteuerlichsten
Farben ausgemalte Macdonald'sche Fall ausgebeutet. Die Times und andere
Blätter gössen über Preußen eine Flut der beleidigendsten Ausdrücke aus und
suchten darzuthun, daß dasselbe in seinen inneren Einrichtungen kaum auf
gleicher Höhe mit dem von den Bourbons regierten Neapel stehen. Dazu kam.
daß die Times ihre schamlose Parteilichkeit so weit trieb, daß sie einer be-
nchtigenden Zuschrift des Dr. Parow die Aufnahme verweigerten. Dieses Ge-
bahren erregte in Deutschland mit Recht den allergrößten Anstoß, es empörte
außer dem Nationalgefühl der Deutschen noch eine andere Seite, die bei ihnen
viel empfindlicher ist als dieses. Der deutsche Patriotismus hätte die groben
Schimpfreden über Preußen allenfalls verschmerzt, aber die deutsche Logik
konnte sich die haarsträubende Schlußfolgerung nicht gefallen lassen, daß we-
gen der Mißgriffe einiger Beamten in einer Provinzialstadt das Bündniß
zweier durch ihre Interessen auf einander angewiesenen mächtigen Reiche un¬
möglich sein sollte. In der That möchte ein sehr genauer Kenner der Eng.
lauter dazu gehören, um das seltsame Manoeuvre vollständig zu erklären. Ent-
weder liegt in dem britischen Naturell ein Bedürfniß, von Zeit zu Zeit eine
Gelegenheit vom Zaune zu brechen, um einen großen Lärm zu machen, oder
°s sind die Leiter der so mächtigen öffentlichen Meinung bei ihnen genöthigt,
bei entscheidenden Wendungen sehr viel mehr durch die Erregung von Leiden,
schaften als durch vernünftige Erwägungen >zu wirken. Das Letztere würde
auf den inneren Zustand der Insel gerade kein sehr günstiges Licht werfen.
Die Rückwirkung in Deutschland blieb nicht aus. Man las damals oft
"> unsern Zeitungen die Bemerkung, ein so einträchtiges Zusammenstehn einer
ganzen Nation, wo auch nur scheinbar einem ihrer Angehörigen Unrecht ge-
schehe, habe etwas sehr Jmponirendes. aber eigentlich.sollte dies nur eine
Mahnung an die eignen Landsleute sein. Im Ganzen gewöhnte man sich
die Engländer wie eine Schaar schreiender Knaben zu betrachten, auf die man
nur durch feste Haltung, nicht durch Gründe der Vernunft und durch objective
Gerechtigkeit Eindruck macht. Man begann die Angelegenheit auch unsrer-
seits im Lichte einer nationalen Parteisache zu sehen, die den Bonner Eng¬
ländern wirklich zugefügte Beleidigung geriet!) in Vergessenheit.
- In Folge der diplomatischen Anfragen und der Wichtigkeit, welche die
Angelegenheit gewonnen hatte, hatte die preußische Negierung eine noch¬
malige genaue Untersuchung aller auf den Eisenbahnvorsall bezüglichen That¬
sachen angeordnet und veröffentlichte die wichtigsten Zeugenaussagen, nament¬
lich die Hoffmann's und Dr. Parow's. Sie waren geeignet, die Ueberzeugung
zu verstärken, daß der ganze Streit von Anfang nur durch das Benehmen des
Engländers hervorgerufen worden war. Andrerseits gab Capt. Macdonald
am 11. October vor einem Friedensrichter in Sussex eine eidliche Erklärung
über den Vorgang ab, welche gleichfalls in die Zeitungen übergegangen ist.
Die Behauptungen stehen sich keineswegs in der Weise gegenüber, daß noth-
wendig entweder auf der einen oder der andern Seite ein Meineid vorliegen
muß; vielmehr scheint es, daß jeder Theil in der Hitze des Moments nur das
bemerkt und behalten hat, was von dem andern Provocirendes ausgegangen
war; auch gesteht Macdonald ein, daß er Hrn. Hoffmann Widerstand geleistet
und ihn zurückgedrängt habe, und gibt damit das entscheidende Factum zu.
Aber die unbedingte und ausschließliche Schuld des englischen Reisenden wurde
in Deutschland, seine völlige Unschuld jenseits des Canals zum nationalen
Dogma.
Allmälig verlautete, daß Herr Möller wegen seiner Aeußerung gegen die
Engländer einen Verweis erhalten hatte, aber — es verlautete nur. Erst in
dem Plaidoyer gegen die Unterzeichner des Protestes erwähnte es Hr. v. Ammon,
während es doch wol in der Ordnung gewesen wäre, daß. wenn nicht der
Wortlaut des Verweises, so doch das Factum, daß er ertheilt worden war,
eine officielle Publication gesunden hätte. Da der von den Beleidigten ein¬
geschlagene Weg der Selbsthilfe von der Staatsbehörde bemängelt wurde, so
hätte eine anderweitige öffentliche Genugthuung einem gesunden Rechtsgefühl
entsprochen. Aber die Parteigegensätze waren zu scharf geworden, als daß in
dieser Hinsicht noch eine Theilnahme für sie möglich gewesen wäre.
In der zweiten Hälfte deS Monats December kam der Proceß gegen sie
zur öffentlichen Verhandlung, am 17. war der größte Theil des Zeugenverhörs,
am 18. die Plaidoyers. Es war augenscheinlich daraus angelegt, alle ein¬
schlügigen Facta ohne Ausnahme rü ein recht Helles Licht zu stellen, daher
denn auch noch einmal- die Aussagen über den Eisenbahnvorfall vorkamen,
aber um so unbegreiflicher ist es, daß man nicht für eine stenographische Auf¬
zeichnung gesorgt hat. Der Bericht der Kölnischen Zeitung ist hinterher so-
wol von der Staatsanwaltschaft als namentlich von den Angeklagten, die
dieses Blatt überhaupt der Parteilichkeit zeihen, für ungenügend erklärt wor¬
den, so daß es an jedem rechten Anhalt fehlt. Der königliche Oberprocurator
machte einen starrn Unterschied zwischen dem Verfasser des Protestes. Dr. Perry
und den Mitunterzeichnern, von denen er für einige, welche die Bestimmung
zur Veröffentlichung nicht gekannt hatten. Freisprechung, für die übrigen
eine geringe Geldstrafe beantragte. Dagegen lautete sein Antrag gegen
Dr. Perry, den er für das Geschehene moralisch verantwortlich machte, auf vier¬
zehn Tage Gefängniß. Dieser hatte nicht allein den Protest verfaßt, wie er
denn von jeher als das Organ der Bonner Engländer anerkannt worden war.
sondern seine Landsleute schenkten ihm auch deshalb leicht ihr Vertrauen, weil
er. seit langen Jahren in Deutschland lebend, mit den Einrichtungen dieses
Landes bekannt sein mußte. Hierin äußerte sich ohne Zweifel eine sehr rich¬
tige Grundanschauung. Auf eigne Gefahr mag man auch einmal ein leicht¬
sinnig hingesetztes Wort in die Welt senden, aber wer ein von Andern zu
unterzeichnendes Schriftstück verfaßt, sollte unter allen Umständen die Conflicte
berechnen, in welche er diese dadurch bringen kann, und die Thatsache, auf
welche er sich beruft, auf das Genaueste prüfen. In diesen beiden Hinsichten
aber trug der Bonner Protest, bei dem der Gedanke an schnelle Veröffentlichung
jeden andern überwogen hatte, das Gepräge der Uebereilung, Auch wurde
gegen Dr. Perry noch besonders geltend gemacht, daß er das deutsche Wort
»Lümmel" in der englischen Uebersetzung durch ein viel beschimpfendcrcs (dlaek-
lZuarZ) wiedergegeben und dadurch die Aufregung unnöthig gesteigert habe,
worauf indessen wol kaum so viel ankommt, da sich die Bedeutung der Schimpf¬
wörter in verschiedenen Sprachen leicht mannigfach modificirt und abschleift.
In einem Punkte wünschten wir indessen das Verfahren des Hrn. v. Ammon
anders als es gewesen zu sein scheint. Aus einer Erklärung des Dr. Perry in
der Bonner Zeitung vom 23. December müssen wir schließen, daß ihm der¬
selbe die Urheberschaft mancher Gehässigkeiten in englischen Blättern zur Last
gelegt hat. wogegen sich Dr. Perry auf das Bestimmteste verwahrt. Bei der in
Deutschland herrschenden Stimmung war dies eine keineswegs leichte Beschul¬
digung, wenn auch die vorausgesetzte Handlung nicht dem Strafrechte unter¬
lag; ein öffentlicher Ankläger aber sollte niemals zum Nachtheile des Angeklag¬
ten Thatsachen geltend machen, die blos auf Gerüchten beruhen. Auch deshalb
wäre es zu vermeiden gewesen, weil das gerichtliche Vorgehen auf diese Weise
gewissermaßen als ein Act in dem internationalen Parteikämpfe, als eine Rache
an der englischen Presse erscheinen konnte; je ausschließlicher dagegen die Auf-
rechthaltung des Gesetzes in das Auge gefaßt wurde, desto vollständiger war
die Würde der Justiz gewahrt. Grade der Schein, als ob die geschützte
Stellung eines Staatsanwaltes zu irgend etwas mehr benutzt werden könnte,
hatte ja von Anfang an auf die Engländer einen uns so wenig günstigen
Eindruck gemacht.
Das Gericht fällte seinen Spruch am 24. December. Obgleich alle An-
geklagten sich für den Protest solidarisch verantwortlich erklärten, ein Schritt,
dessen Motive von dem Vorsitzenden ausdrücklich gewürdigt wurden, trat es
der von dem Obcrprocurator gemachten Kategorienunterscheidung bei und sprach
einen Theil der Angeklagten frei, während es einen andern unter Annahme
mildernder Umstände zu einer Geldbuße von 25 Thlrn. verurtheilte. Aber
auch bei dem Hauptbeschuldigten Dr. Perry erkannte es, nur in geringerem
Grade, mildernde Umstände an und legte ihm deshalb, abweichend von dem An¬
trage des öffentlichen Ministeriums, blos eine Geldstrafe von hundert Thalern aus.
Wir müssen Genugthuung darüber empfinden, daß dem Gesetze seine
Sühnung geworden ist, aber wir können zugleich denen, welche es aus solcher
Ursache verletzt haben, unsere Sympathie nicht versagen. Wol haben die
Bonner Engländer und ihr Führer in aufbrausender Leidenschaft gehandelt,
aber einen Theil des edlen Zornes, dessen Uebermaß sie verführt hat, möch¬
ten wir bei ähnlichen Veranlassungen uns allen wünschen.
Aus Tirol, 25. December. Wenn wir auf Zustände in Oestreich zurück¬
kommen, die nach dem Ministerprogramin Schmerlings als abgethan erscheinen
möchten, geschieht es deshalb, weil wir nicht glauben, daß eine tief ciiigefresscne
Fäulniß durch einen Zauberstab geheilt wird; um dies gründlich zu thun, muß
man die ganze schadhafte Stelle bloßlegen, die Ursache des Siechthums heben.
Wir können nicht umhin festzustellen, daß der Ausgang des Uebels nach oben,
in die der Krone zunächst stehenden Kreise zurückführt; man will betrogen
werden, darum wird man es auch. Es ist eine bequeme, eine süße Art des
Denkens, dasjenige für wahr zu halten, was wir wünschen, und nirgends wird
die Kunst, diese Täuschung zu befestigen, mit mehr Meisterschaft geübt als an
den Höfen der Könige und Herrscher; sie scheint der leichteste Weg Geld. An¬
sehen, Gunst und Einfluß zu erringen. Niemand treibt sie mit feinerem Ge¬
schick als die Jesuiten. In den Palästen, wo sie nisten, wird ihre üppigste
Blüthe, ihre glänzende Frucht nie vermißt. Heuchelei und Lüge ist ihr Ge¬
werbe, Frömmigkeit der bergende Mantel. Ihre Moral findet eine Sünde
probabler als die andere, Ehrenhaftigkeit kennt sie nicht, sie fordert nur blinden
Gehorsam. Knechtsinn heißt ihre höchste Tugend. So werden denn jene ge¬
schmeidigen, feilen Seelen herangebildet, die man in absoluten Staaten
nie entbehren kann. Wie weit es damit in Oestreich gekommen, zeigt der
Prozeß Richter wieder einmal recht augenfällig, darum haben wir ihn zum Vor¬
wurf genommen. Das fraiicisceifche „^ustitm regnorum kuväa.rri6nom" ge¬
hörte einer anderen Zeit an, unsre letzte zählte auch die Justiz zu den Dingen,
die faul waren im Staate Dünemark.
Die Schlacht von Solferino war verloren. Die Ursache davon zeichnete
die Geschichte auf. Für uns genügt, daß die nächste Umgebung des Kaisers es
nicht wahr lassen wollte, daß die schlechte Führung des Heeres die Schuld
davon trage ; man wünschte vielmehr andere Gründe mit einer Art von Eclat
der Welt aufzudringen, nach manchen mißlungenen Versuchen dachte man den
annehmbarsten am Schoße zu halten. Die mangelhafte Verpflegung der Armee
wurde trotz der aufgehäuften Schichten verdorbenen Zwiebacks durch verwirrende
Marschbefehle gerechtfertigt, doch schon der wahrheitsliebende Feind, der
Franzosenkaiser hatte in Villafranca Winke anderer Art gegeben. Das ent¬
lastete Gewissen eines Sterbenden, des Hofraths v. Noe. und die ^Stimme
des Volkes zogen einen Mann in Verdacht, der bisher das unbedingte Ver¬
trauen des Kaisers genoß. Es war der F. M. L. Freiherr v. Evnatten.
Die bekannte Verschwendung seiner Frau, deren Schulden ihn mit Hermann
Jung in Berührung brachten, die Pfänder in den Leihhäusern zu Salzburg
Und Venedig, die Makel einer früheren Untersuchung, eine plötzliche Urlaubs¬
leise nach Paris, vom Generalauditcur v. Kommers insgeheim gesammelte
Belege drängten zur Vermuthung von Unterschleifcn. 'Trotz eines vom genann¬
ten Generalauditcur vorgelegten Berichtes und Antrages auf Verhaftung zö¬
gerte man damit doch in Ansehung der bevorzugten Stellung des Generals,
was der Staatsanwalt dadurch entschuldigte, daß „die Verläumdung oft die¬
selben Wege wie die Wahrheit macht". Eynattcn war ja durch das Vertrauen
des Kaisers in einer Weise ausgezeichnet, daß ein Handbillet vom 22. April 1859
'du ermächtigte: „bei Sicherstellung der Armeebedürfnisse von den für ge¬
wöhnliche Zeiten vorgeschriebenen Wegen abzugehen." Als ihn seine Gattin,
durch ein Gerückt von seiner Absetzung aufgescheut, durch den Telegraphen von
Paris zurückrief, trieb ihn der Uebermuth. sich selbst von dem Kaiser eine ad¬
ministrative Prüfung seiner Amtshandlung zu erbitten. Die nun endlich ein¬
geleitete Untersuchung führte zur Entdeckung, daß für ihn vom 1. October bis
zum 4. December v. I. 25 Stück Nordbahnactien. 22.000 Fi. C. M. in
Metalliques und 12,000 Fi. ungarische Grundentlastungsobligationen bei der
Creditanstalt hinterlegt waren. Man forschte nach dem Rechtstitel dieses Be¬
sitzes. Seine Frau, die ihr ganzes Erbe durchgebracht, wollte die Papiere
als ihr gehörig ansprechen, und Franz Richter, der Director der Creditanstalt,
Kab an. für sie die 25 Stück Nordbahnactien gekauft und die volle Bezahlung
dafür erhalten zu haben. Bei einer spätern Vernehmung änderte jedoch Richter
seine Aus sage betreffs der erhaltenen Summe und zog dadurch den Verdacht schuld-
baren Einverständnisses auf sich. Freiherr v. Eynattcn gab sich nach einem offenen
Geständnisse, daß er 39,000 Fi. von Jung als Bestechung erhalten, in der Nacht
vom 7. auf den 8. März selbst den Tod, betheuerte aber noch kurz vorher in
seinem Verhöre: „Richter sei ein Ehrenmann." Ein allerhöchster Befehl ord¬
nete sofort die strengste und eingehendste Untersuchung aller auf die Armee-
bcdürfnisse bezüglicher Unterschiede an, die Criminalgerichte sämmtlicher Pro¬
vinzen erhielten die Weisung, alle derlei Prozesse dem k. k. Landesgerichte in
Wien abzutreten. Welch ein Feld für Verdienst und Auszeichnung! Wie
glücklich waren der Untersuchungsrichter und seine Mitarbeiter von nah und
fern, der Staatsanwalt und alle jene, die hinter den Coulissen oder von oben
Wink und Parole austheilen durften! Das Ergebnis; konnte selbstverständ¬
lich kein anderes sein als die Ansteckung eines längst geahnten, weitverzweig¬
ten, ungeheuren Netzes von Betrug, das alle Lieferungen und Lieferanten
und vielleicht Gott weiß wen noch umspann. Soviel mochte als gewiß gelten,
daß hier goldene Früchte winkten. Weniger willkommen war es. daß der
wegen angeblicher Rückdatirung eines Devisenkaufes verdächtigte Finanzminister
Freiherr v. Brück, als er die opferlüsternen Gesellen an sich herankommen sah.
freiwillig aus dem Leben schied. Es erfaßte ihn eine richtige Ahnung von
dem Schauspiele, das man mit Franz Richter vorhatte, er dachte sich schon
im Geiste an jene Armesünderstelle, wo man das Urtheil nach den Regeln
unserer wohlersonnenen Prozeßkunst empfängt. Nun sammelten sich alle un-
lreilschwangeren Wolken zunächst über dem Haupte Richters. Er hatte bei einer
frühern Einstellung seiner Zahlungen dafür gesorgt, daß keiner seiner Gläu¬
biger verkürzt werde, schon dies war ein Betrug; damit daß er mit dem Armee-
obercommando Geschäfte angeknüpft, reihte sich Verbrechen an Verbrechen.
Alle Daten waren gefälscht, alle Nechnungsansätze ungenau, alle Ziffern un¬
richtig, die ^Urkunden betrüglich corrigirt, die gelieferten Stoffe schlecht und
andere vertragswidrige unterschoben, Fäden, die mit der Loupe nicht zu ent¬
decken, fehlten, die Maaße waren falsch, die Unrathsprocente, wofür man
Tausende wie für echtes Korn bezahlt, unerhört, die Militärs, welche die Lie¬
ferungen faßten, bestochen, der Staat, die Creditanstalt, die Subcontrahen-
ten um unberechenbare Summen verkürzt. Man entblödete sich nicht, den
Zeugen, die ihren Schaden nicht finden konnten, ihn geschickt an die Hand zu
geben, dem verhafteten Dr. Zugschwert „die volle Angabe der Wahrheit" als
ein „nicht zu unterschätzendes Verdienst" hinzustellen, die Angaben Richters
selbst, namentlich über die angebliche Bestechung, in einem andern Sinne zö
deuten, als er sie gemacht hatte. Wer zählt alle die Mittel, deren sich
der Untersuchungsrichter und seine Helfer, noch mehr aber jener öffentliche
Ankläger bedienten, der „lediglich nach seiner Ueberzeugung und reinem Ge¬
wissen" vorging? Und siehe da, die Belastungszeugen wurden bei ihrer offene-
lieben Vernehmung Zeugen dn Unschuld, Menschenliebe. Ehrlichkeit und Un-
eigennützigkeit Richters. das angebliche Gewebe von ungeheurem Lug und Trug
zerriß, als der frische Hauch eines freien Wortes dazwischen fuhr. Nicht nur
daß alle, die über Richters Handlungen und Charakter vernommen wurden,
ihm das ehrenvollste Zeugniß gaben, daß sie den angeblichen Betrüger als
einen Mann schilderten, welcher der angeschuldeten Verbrechen unfähig war,
auch Männer, die, wie Freiherr von Brentano, außerhalb jedes Angriffes
standen, fanden sich durch die schiefe Darstellung der Anklage verletzt. Der
Staatsanwalt mäkelte anfangs bei jedem Zeugen, der für Richter günstig
aussagte, wegen der Beeidigung, selbst den wackern Oberst v. Georgi wollte
er erst dann zum Schwüre zulassen, wenn Sachverständige seine Ansichten
als richtig bestätigt hätten, bald aber zeigte sich, daß man alle Zeugen ver¬
werfen müsse, wenn sie blos das Lob des Angeklagten verdächtig machen
sollte. Nur Ein Vorwurf blieb an ihm haften, jener der falschen Angabe.
Freiherr v. Eynatten war es. der seiner Frau die Jnformation gab. wie
sie vor Gericht aussagen müsse. Sie selbst gestand. er sei vor sie getreten
Mit einem von ihm geschriebenen Zettel, den sie auswendig lernen mußte,
des Inhalts: „sie Hütte Richtern das Geld für die angekauften Nordbahn-
actien gebracht." Richter that ihr. wie er angab, den Gefallen, zu bestätigen:
>,sie habe die 25 Nordbcchnacticn vollständig bezahlt," und glaubte nachher
sich über diese falsche Aussage am leichtesten dadurch zu rechtfertigen, daß er
sich nach deren Ankauf entschlossen habe, den Mehrbetrag über die daran er¬
haltenen 20.000 si., „wenn nöthig, ans seinem Eignen zu tragen, da ihm
sure Verhältnisse gestatteten, ein solches Cadeau zu machen." Das Geschenk
sollte also die Zahlung vollständig machen, dies aber auch nur dann, wenn
^ genöthigt würde, ein solches Opfer zu bringen. Der Staatsanwalt und
°le Richter fanden nun in diesem Nothbehelf zwei Umstünde zur gesetzlichen
Überweisung: die falsche Verantwortung und das Gestündniß. das nur eine
willkürliche Deutung in jene Worte hineinlegen kann. Es war überdies
Tage des Kaufes der Nordbahnactien. am 15. Juli 1860. kein Grund
in einer Bestechung vorhanden, weil der Friede bereits abgeschlossen, somit
in neuen Geschüften mit dem Armeeobercommando keine Aussicht offen stand,
Gewinn der beHangenden aber keinen Anlaß dazu bot. Es fehlte also
Gegenstand der Parteilichkeit und die Absicht der Verleitung. Gegen die
^Wahrung des zweiten Antlagcpunctes, die Rückdatirung des Devisenkanfes.
Aachen sich alle dazu in einiger Beziehung stehenden Zeugen aus. Schiff,
^lentono. Hvrnbostel, Hoppe. Selbst der Leiter des Finanzministeriums gab
sein Gutachten zu Gunsten Richters ab. Ja was an Beweisen aufzubringen
^ar. deutete aus den am 7. Juli erfolgten Kaufsabschluß und keinen späte¬
rn. Der ganze Rest der Anklage war durch die Zeugen bis auf die kleinsten
Einzelnheiten widerlegt. Führt man nun das Ergebniß jener maßlosen Be¬
schuldigungen auf ihren Kern zurück, so ist es eine Schwäche, die jene Dame,
die vor Gericht in Trauer erschien, die Wittwe Eynatten, so trefflich zu be¬
nutzen verstand. Der Vorsitzende erinnerte sie mit zarter Schonung, daß sie
in eine kriegsgerichtliche Untersuchung wegen Betruges verwickelt gewesen, und
frug, ob rhre Haft eine Strafe oder blos eine AnHaltung gewesen. Alle Welt
weiß, daß sie wegen eines Betruges von 3000 si. zu 3 Jahren schweren Ker¬
kers vermtheilt. diese Strafe aber im Gnadenwege „in Berücksichtigung der
unschuldigen Kinder" in dreimonatlichen Arrest verwandelt wurde, sie selbst
gab an. daß sie „nach 3 Wochen befreit wurde". Um sie nicht zu sehr zu
beschämen, ward ihr knapp am Gerichtstisch ein Sitz angewiesen, wegen Kränk¬
lichkeit ein Fußschemel gereicht, und so leise zu sprechen gestattet, daß sie kaum
der nahe sitzende Schriftführer vernahm. Man hatte bei ihrer Verurtheilung
ziemlich laut davon gesprochen, daß ihre Verschwendung es gewesen, die ihren
Gemahl zum Verbrechen verleitet; darnach frug man nicht, weil hierdurch sie
als die Veranlassung alles Uebels erschienen wäre; anstatt dessen gab sie eine
„nicht zu unterschätzende" Enthüllung. Sie erzählte nämlich, ihr Mann liabe
ihr aus dem Kerker in einer zugedeckten Schale ein mit Kohle geschriebenes
Billet gesandt, das sie verbrannte. Auf das Andringen des Vertheidigers,
was dessen Inhalt gewesen, sah sie den Staatsanwalt und den Richter fra¬
gend an. ob sie die Worte wiederholen solle, und gab endlich auf die Auf¬
forderung des Vorsitzenden auch dieses Geheimniß kund. „Es stand darauf:
?g.it<zö savoir a Riclrter, pu'on pr6tora<z, pu'it in'g, 6vim6 an8si ac
Ihr Gatte und Richter waren also einverstanden, ja dieser letztere war es
nach den Aussagen der Eynatten, der ihrem Gemahl den oben erwähnten
Zettel dictirt, daraus folgerte der Staatsanwalt, auch er sei es gewesen, der
die Baronin zur falschen Aussage verleitete. Er ahnte dies blos; denn sie
hatte es nicht gesagt, und selbst ihre Angaben schienen ihm früher so ver¬
dächtig, daß er wegen der erwiesenen Unwahrheit wesentlicher Umstände ihre
Beeidigung „entbehrlich" fand.
„Mit merklich bewegter Stimme," wie die Zeitungen berichteten, verkün¬
dete der Vorsitzende unbeirrt von den schlagenden Gründen des Vertheidigers,
dem Wahrspruch so.vieler ehrenwerther Zeugen, dem lauten Rufe der öffent¬
lichen Meinung das Urtheil auf „schuldig" wegen Bestechung und blos auf
Freisprechung von der Anklage aus Mangel an Beweisen wegen betrüglicher
Rückdatirung des Devisentauss. Die Strafe wurde trotz der Annahme, daß
das gegebene Geschenk 25,634 si. 5 kr. betragen habe, blos aus einen Mo¬
nat Kerkerstrufe, verbunden mit zwei Fasttagen bestimmt, gerade als ob die
Richter selbst die Wahrheit ihres Ausspruchs bezweifelten. Der Angeklagte,
der die Berufung angemeldet, wurde, nachdem sich in den oberen Regionen
' mittlerweile Wind und Wetter geändert, auf eine Weisung des Justizministe¬
riums bis zum Urtheil zweiter Instanz seiner Haft entlassen.
Die Herren Bach und Rauscher mögen sich freuen, durch die Künste einer
Zwölfjährigen Leitung der öffentlichen Angelegenheiten in Oestreich so dienst¬
beflissene, gehorsame, so ..correcte" Werkzeuge ihres Willens herangebildet zu
haben. Es ist jammerschade, daß diese gottesfürchtigen Leute, denen wir Je-
suiten und Concordat verdanken, sich nicht durch ein zweites Jahrzehent hiel¬
ten. Verbesserte Schulen, eindringliche Kanzelvortrage, Vereine und Missionen
Hütten ein frömmeres Geschlecht erzogen. Leider blieb der Mittelstand, das be¬
wies er durch seine laute Entrüstung über solche Justiz und nun allenthalben
beim neuesten Umschwung der Dinge, solchdm Einfluß ferne. Kein Wun¬
der, daß jene heilige Schaar die ganze Macht ihrer salbungsvollen Rede ge¬
gen Schmerling aufbot, als ihn des Kaisers Vertrauen an seine Seite rief,
ihn, der trotz aller Ungunst der Zeiten seiner Ueberzeugung treu blieb, und
das Horazische „Im^planen t'an-loue ruinav" zu seinem Wahlspruch nahm. Wir
rufen unserm Vaterlande aus vollem Herzen ein freudiges Glückauf zu, daß
endlich statt seiner Feinde ein wackerer Freund an seinem Steuerruder sitzt.
Wir hoffen, daß er den verderblichen Bund mit Rom lösen und durch freie
Männer seiner Wahl eine neue Ordnung begründen wird. Ist aus zwölfjähri¬
ger Erfahrung die Ueberzeugung gewonnen, daß Jesuiten und Jesuitismus
uns nur an den Rand des Verderbens führen, dann sind Thränen und Blut
nicht umsonst geflossen, wir sind geborgen sür die Zukunft.
Es ist ein bedenkliches Unternehmen, sich jetzt über den Charakter des verstor¬
benen Königs aussprechen zu wollen: nicht blos der äußeren Rücksichten wegen, son¬
dern weil die Zeit noch kaum gekommen ist, daß wir ihm gegenüber die innere Un¬
befangenheit wahren. Mußte sein langes schweres Leiden jeden aufs Tiefste erschüt¬
tern, der ein Her/in der Brust hat, so ragen die politischen Verwicklungen der letzten
zwölf Jahre noch zu weit in unser gegenwärtiges Leben hinein, sie sind noch zu
stark mit Hoffnung und Sorge verknüpft.
Aber der König war eine zu hervortretende Erscheinung, und sein inneres
Leben hat jeden von uns wie ein Räthsel zu ausdauernd beschäftigt, als daß wir nicht
wenigstens den Versuch wagen sollten, uns in unsern Gedanken offen zu orientiren.
Zwei Vorurtheile möchten wir von vornherein wegräumen. Nach dem einen
hätte dem König ein leitendes Princip gefehlt; seine Politik sei von dem Drang des
Augenblicks bestimmt worden. Starke Schwankungen sind nicht wegzuläugnen. Oft
begegnet uns eine gewisse Hast des Wunsches, welchem der Wille nicht rasch genug
zu folgen weiß; das Bild steht schneller in der Seele fest als das Urtheil; die Be¬
denken werden erst erwogen, wenn der Plan bereits in Angriff genommen ist und
dann wol zu viel erwogen. Aber wenn man das politische Leben des Königs im
Großen überblickt, so entdeckt man im Hintergründe etwas Bleibendes und stetiges,
das der spätere Geschichtschreiber vielleicht in den Mittelpunkt stellen wird. Von der
Gründung der Provinziälstcinde (1823) an bis zu Errichtung des vereinigten Land¬
tags (1847) wird man leicht ein politisches System verfolgen können, daß dann, durch
die äußern Umstände plötzlich unterbrochen, für den Augenblick seinen Schwerpunkt
verliert, aber doch in den spätern Anordnungen immer wieder durchklingt. Freilich
ändern sich die Werkzeuge, und mit ihnen nimmt auch die Sache selbst eine andere
Farbe an: Raumer unterscheidet sich von Eichhorn ebenso als Westphalen von Bodel-
schwingh. — Aehnlich ist es mit der deutschen Politik des Königs. Ueber die Vellei-
täten der Jahre von 1848 hat Radowitz berichtet. Im Ganzen kommt die Politik
des Ministeriums Brandenburg wieder daraus zurück, und wenn durch den Tag von
Olmütz das System in Verwirrung geräth, wenn es aufhört activ zu sein, so wirkt
es doch ablehnend fort.
Es ist ein zweiter Irrthum, wenn man sich durch den polizeilichen Druck der
letzte« Jahre und durch den Einfluß, welchen das Juukcrthum in demselben ausgeübt,
verleiten läßt, den König als den Träger des einen oder des andern dieser Prin¬
cip lau zu betrachten. Niemand konnte das System Polizeilicher Bevormundung, wie
er es bei seiner Thronbesteigung vorfand, mehr zuwider sein als dem König Friedrich
Wilhelm dem Vierten, und wenn er auch in seinem System dem Adel eine hervor¬
ragende Stelle gab, so hatte er doch für das eigentliche Juukcrthum nicht das min¬
deste Interesse; die Geschäfte und Vergnügungen desselben waren ihm fremd und die
herrschende Bildung des Standes betrachtete er mit unverholener Ironie.
Er hat kein Wort gesprochen, das so entschieden aus seinem Innern kam, als
jenes: ein freies Volk, aber auch ein freier König! So paradox es klingen
mag; die Liebe zur Freiheit, d. h. zur vollen unbedingten Entfaltung der eignen
Persönlichkeit war vielleicht der Lcittvn seines Charakters. Gern wollte er seinen
Unterhalten dieselbe Freiheit gönnen, die er für sich als König in Anspruch nahm;
natürlich unter der Voraussetzung, das eine könne dem andern nicht in den Weg
kommen. Leider ist keine Freiheit ohne Gebundenheit denkbar, und gebundener als
alle an das sittliche Ganze, dem er angehört, muß der König sein, grade wegen
seiner größeren Macht. Denn eines guten Willens sich bewußt, auch wol im Gefühl
höherer Bildung, wird er zu leicht versucht, wenn andere ihn in seiner Freiheit nicht
gelten lassen, den Grund in ihrem bösen Willen zu suchen, und wenn er früher von
der menschlichen Natur zu viel erwartet, nach der bitteren Enttäuschung ihr mißtrau».
Das Gefühl, nur Gott verantwortlich zu sein, wird bei einem stark und hastig be¬
wegten innerlichen Leben ein starkes Gegengewicht bedürfen, um sich nicht über die
Schranken der wirklichen Macht zu täuschen.
Ein künftiger Historiker wird für die gegenwärtige Epoche vielleicht keinen se'
ausgesprochenen Repräsentanten finden als Friedrich Wilhelm den Vierter; jene Epoche,
welche der früheren Aufklärung ein neues Lebenömotiv entgegenzusetzen versuchte.
Die Aufklärung in ihrem einseitigen Streben nach Nützlichkeit hatte dem Leben keinen
andern Inhalt gelassen als die Arbeit, d, h. die Unterordnung unter einen gemein¬
nützigen Zweck, der dann seinerseits wieder einem noch gemeinnützigeren dienen mußte.
Das schöne Spiel hatte sie dem Menschen verkümmert, das Reich der Phantasie in
die engsten Grenzen eingeschränkt, von der Religion nur die Moral, d, h. die Ord¬
nung der allgemeinen Arbcitsanstalt übrig gelassen; selbst die Regungen des Gemüths
allgemeinen Regeln unterworfen. Der Niederschlag dieser Sinnesart waren die Staa¬
ten, die aus den Trümmern des zerstörten napoleonischen Kaiserreichs hervorgingen.
Zwar waren sie insofern den Ideen von 1 789 entgegengesetzt, als sie das Volt von
aller Betheiligung am Staatsleben ausschlossen und die Leitung des Ganzen der
Polizei in die Hand gaben; aber das galt nur den Mitteln, nicht dem Zweck. Die
Hauptsache des Lebens war, sein Brot zu verdienen, am sichersten als Officiant,
wegen der Pension für das Alter, sonst aber in irgend einem nützlichen Geschäft,
das durch die Polizei beschützt wurde. Religiöse Freigeistern wurde untersagt, weil
sie den Menschen zu Unruhen gegen die Obrigkeiten verleitet; aber mehr Religion,
als zu diesem Zwecke nöthig, wurde nicht gewünscht. Das erste und letzte Wort des
regierenden Beamtenthums war! nicht raisonnirt! denn aus dem Raisonniren geht
nichts Gutes hervor. Deshalb wurde das Militär sehr geschätzt, nicht weil man auf
Eroberungen dachte, sondern weil man im Dienst am sichersten sich des Naisonnircns
entwöhnt. Diese Schilderung gilt nicht blos für Preußen, so waren mehr oder
minder alle Staaten eingerichtet, nur Preußen am konsequentesten, wegen der all-
llcmeincn Dienstpflicht. Außerdem waren die Beamten sehr gut geschult, sie hatten
ttcwichtigc Prüfungen zu bestehn, das Ehrgefühl des Standes war bis in 'die un¬
tersten Classen sehr lebhaft, und wenn einmal eine Classe die andere bevormunden
sollte, so war eine zweckmäßigere Wahl nicht vcnkbar. — Der damalige französirende
Liberalismus war nur ein anderer Niederschlag desselben Princips, das er bekämpfte,
Eine andere Opposition, beiden entgegengesetzt, regte sich schon um die Mitte
der dreißiger Jahre, und wurde am lautesten nach der Julirevolution. Es war die
Partei des berliner WochcnblattS, zum Theil die persönlichen Freunde und Schlitz¬
auge des damaligen Kronprinzen. Die Grundlage ihrer Gesinnung waren theils
die letzten Ausläufer unserer poetischen Bildung im vorigen Jahrhundert, theils die
Freiheitskriege. Ein Theil dieser ncupatriotischc» Partei war früher von den Da-
"'ügogenricchcrn verfolgt worden, weil er sich an einem Gefühl, das dem herrschenden
Aecnuteuthnm als überspannt außerhalb des Kreises vernünftiger Staatszwecke zu
^'gar schien, noch länger erheben wollte. Die alten Burschenschafter waren jetzt
^egitimisten geworden, sic vertraten gegen den Mechanismus des Nützlichkeitssystcms
die höheren idealen Staatszwecke, sie wollten sittliche Läuterung und Erhebung des
Gemüths, sie wollten nicht blos in der Kunst, sondern auch im Staatsleben der
Phantasie und dem Gemüth Spielraum verschaffen u. s. w. Das Charakteristische
der Schule war nicht das politische Glaubensbekenntniß, sondern die gesammte
Sinnesart, welche ebenso ein Niederschlag der poetisch-rhetorischen Bildung Deutsch¬
lands von 1790—1806 war, als das wirkliche Staatsleben ein Niederschlag der
d'eher vorangegangenen Ausklärung.
Der Kern dieses Lebens, das in unserer klassischen Periode so schöne Früchte
fragen, war das Bedürfniß, in allen Angelegenheiten die volle Persönlichkeit, das
^genstc der Individualität geltend zu machen. Wie Schiller sich in seinen Gedichten
und Reden nach Griechenland zurücksehnte, wo die Arbeitsteilung noch nicht statt¬
gefunden, wo die Menschen und ihre Götter sich zu schönen und vollen Erscheinungen
abrundeten, so wandte man später seine Augen auf das Mittelalter, nach Indien,
dem Orient überhaupt, auch wol in das Idyll des Dorfs, überall mit dem Wunsch
lebendige Bilder an die Stelle der todten Begriffe zu sehen. Die Dichtkunst heiligte die
Eingebung des Augenblicks, im weitern Sinn die Willkür. Schiller hatte den spätern
Dichtern das entscheidende Wort vorgesprochen: die Kunst entspringe aus dem Spiel-
trieb; wie da« Kind nur im Spiel sich mit wahrer Freiheit bethätige, so der Mensch
nur in der Kunst. Dann ging man weiter und machte die Kunst zu einem wirk¬
lichen Spiel, d. h. man löste sie von den Gesetzen des wirklichen Lebens und gab
ihr die Freiheit, auszusprechen was ihr einfiel, zu empfinden und zu denken wie sie
irgend Lust hatte: Logik und Moral wurden im Gebiet der Kunst aufgehoben. Dann
noch ein Schritt: der wahre Merhet? müsse im Leben frei sein wie in der Kunst, auch
das tiefere Gefühlsleben sei ein Spiel der Freiheit, und die schöne Seele finde ihr
Gesetz nur in sich selbst. Dem Bildersturm der früheren Zeit folgte nun, eine unbe¬
dingte Anbetung der Bilder, immer mehr dehnte sich der Nahmen aus, welcher die
Phantasmagorien, mit denen man spielte, umschloß. Der Sinn für Paradorie wurde
außerordentlich geschärft, jedem geistreichen Menschen wurde die unbedingte Freiheit
verstattet, seinen Eingebungen nach Herzenslust nnchzugehn. In dieser Fülle neuer
Gesichtspunkte entwickelte sich eine große Beweglichkeit des Charakters. Durch Ein¬
gebungen bestimmt, durch Vorbilder verschiedener Art angestachelt, trieben die Wünsche
und. Ideen sich unruhig umher, sie flatterten in der Lust, der harten, mühsamen,
langsam fortschreitenden Arbeit wurde man entwöhnt, und während man im Feld
der Ideen sich schrankenlos tummelte, sah man im wirklichen Leben das leichteste Hin¬
derniß für unüberwindlich an, und fand dann wie Hamlet Gründe, auch die Resig¬
nation als eine ideale That zu verherrlichen. Der angebornen Farbe des Entschlusses
wurde des Gedankens Blässe angekränkelt.
Die stehenden Begriffe der Aufklärung zersetzte mau theils durch Gefühlsselig-
keit, theils durch die Ironie und den Witz einer allseitigen Bildung, die entweder,
wie bei Heine, mit allen Ideen ohne Unterschied ein frivol-sentimentales Spiel
trieb, oder sie, wie bei Hegel, in ein großes Herbarium eintrocknete, wo sie'alle
nebeneinander lagen,, farblos und, schattenhaft, aber doch an ihrer Physiognomie
noch kenntlich. In der Mitte dieses phänomcnologischcn Schattenspiels bewegte sich
betrachtend, oder spielend, oder wünschend die freie souveräne, durch Bildung und
Gemüth von allen Bestimmtheiten gelöste Individualität.
Doch wir sind weit von unserm Ziel abgekommen: wir wollten die Politiker
der Wilhelmsstraße und Friedrich Wilhelm den Vierten schildern und haben statt dessen
den Geist der spätern, nachgebornen Romantik geschildert. — Wir kehren zur
Wilhelmsstraße zurück.
Für den Staatsmann, der von diesem Princip der absoluten Freiheit erfüllt
war, kam es darauf an, das Ganze so zu gliedern, daß alle einzelne Freiheit dem
Betrachtenden ein in wohlthuenden Farben und Kontrasten an einander gereihtes
Gesammtbild darbot. Die Freiheit des Einzelnen sollte gefärbt werden durch freie
Gattungen. Der moderne Frack, der nüchterne, aufgeklärte, gleichmachende wich
der bunten Stcmdcstracht. Freie Individuen, aber auch freie Zünfte! ein freier Staat,
aber auch eine freie Kirche! Eine freie Kirche, aber auch freie Seelen! Freie Ge¬
meinden, aber auch ein freier Landrath! Freie Collegien, aber auch ein freier Prä¬
sident! Freie Bauern, aber auch ein freier Gutsherr! Ein freier Adel, ein freier
Bürgerstand, ein freies Herrenhaus! Und was die allgemeinen deutschen Entwürfe
betrifft! absolute Freiheit der nationalen Wünsche, aber auch absolutes Zartgefühl
den Rechten derer gegenüber, die durch diese Wünsche in ihren Wünschen beeinträchtigt
werden konnten. Es war nicht zu wenig, sondern zu viel Freiheit in diesem System.
— Endlich ging man noch einen Schritt weiter und fragte: warum soll in dieser
allgemeinen Freiheit nur eine einzige Macht geächtet sein? es werde auch diese be¬
freit! Diese letzte freigelassene Macht war: — die Polizei.
Die Umkehr war begreiflich. Indem man überall auf die Freiheit ausging,
daneben aber auch auf Schönheit der Gesammtwirkung, hatte man stillschweigend
etwas vorausgesetzt wie Leibnitz' prästabilirtc Harmonie. Diese Voraussetzung er¬
wies sich als unhaltbar. Es blieb im Gemüth des wohlmeinenden Fürsten eine
tiefe innere Kränkung zurück, welche in den Bestrebungen, ^>in den seinigen zuwider
liefen, eine Beeinträchtigung seiner eigenen persönlichen Freiheit sah. Die Menschen
hatten sich schlechter gestimmt erwiesen, als sie vorher der Glaube gezeigt: nun trat
eine Nachsicht gegen die Schlechten ein, wenn sie nur richtig gestimmt waren. Wahr¬
scheinlich war lange, bevor die Katastrophe wirklich eintrat, das Gemüth des Königs
wenigstens theilweise den Eindrücken erlegen, die von allen Seiten darauf einstürm¬
ten. — Möge die Erde ihm leicht sein; viel angefochten, hat er in seinen Leiden
auch treue Liebe gefunden, und die Geschichte wird sein Andenken aus einem Blatt be¬
Wir haben vor einigen Wochen zwei politische Stichwörter analysirt. mit denen
mal Mißbrauch getrieben wurde; die Veranlassung unsrer heutigen Untersuchung
'se die Confiscation des Hefts 51 der Grenzboten, in welchem der Ausdruck „revolu¬
tionär" auf das Verfahren des Bundestags in der kurhessischcn Frage angewandt
worden war. Ob diese Anwendung gesetzlich nicht gestattet ist, darüber wollen
wir dem Ausspruch des Gerichts in keiner Weise vorgreifen; wir haben es nur
mit dem Publicum zu thun, das hier wie in ähnlichen Fällen durch die Gewohn¬
heit der Parteien leicht verführt wird, mit einem Begriff Vorstellungen zu verbin¬
den, die nicht darin liegen.
Es sind namentlich zwei Vorurtheile zu bekämpfen. Einmal ist jede politische
Partei gewöhnt, in den Namen, womit sie ihre Gegner benennt, etwas Tadelndes
SU legen, und wenn die eine Partei in einem gewissen Zeitraum die übermächtige
ist. so verwandelt sich die politische Bezeichnung leicht in ein Schimpfwort. So
war seit 1789 in Frankreich der Ausdruck Aristokrat, in Deutschland der Ausdruck
Demokrat ein Schimpfwort; das letztere wiederholte sich bei uns 1849, obgleich in
den Ausdrücken selbst nicht die geringste Beimischung eines Tadels liegt. Kommt
dann wieder eine andere Partei zur Herrschaft, so wird mit demselben Ausdruck
ein ehe» so ungerechtfertigtes Lob verknüpft. Der Ausdruck „revolutionär" hat das
Schicksal erfahren, als der höchste Ruhm eines Bürgers zu gelten: man war nicht
zufrieden, „Demokrat" oder „Republikaner" zu sein, man mußte, um auf der Höhe
der Zeit zu stehen, eine „revolutionäre" Energie, eine „revolutionäre" Thatkraft ent¬
wickeln. Dieses Schicksal begegnet^ allen politischen Stichwörtcrn in der Hitze des
Gefechts: nur muß man sich hüten, die Nebenbedeutung festzuhalten, sobald das
Gefecht vorüber ist. In unsern Tagen z. B. würde sich derjenige lächerlich machen,
der den Ausdruck Demokrat als ein Scheltwort gebrauchen wollte; ebenso sollte man
sich jetzt daran erinnern, daß Revolutionär nicht soviel heißt als Halunke, sondern
daß der Ausdruck einen ganz bestimmten durch die Geschichte ausgeprägten Sinn besitzt.
Es gilt das nicht blos von der Politik, die religiösen Parteien haben ähnliche Stichwörter.
So hat man lange Zeit die „Pietisten" gescholten, ohne genau zu wissen, was man
eigentlich damit meinte; wer mit der Kulturgeschichte vertraut ist, wird aber wissen,
dnß es ein Bildungselement bezeichnet, welches ebensowohl Lob als Tadel verdient.
Aber mit dem Ausdruck „revolutionär" ist in unsern Tagen ein ganz beson¬
derer Mißbrauch getrieben, der aus den Sophismen eines geistreichen Schriftstellers
entspringt. Revolution heißt auf deutsch Umwälzung, also auf das Staatsleben
angewandt, Verdrängung der einen Staatsform durch die andern ohne Beistimmung
der zum Widerspruch Berechtigten. Eine solche Umwälzung ist nach allen Dimensionen
möglich: Völker haben durch eine Revolution die bestehende monarchische oder aristo¬
kratische Verfassung in eine Demokratie verwandelt, der Adel hat durch eine Revolution
die Aristokratie an Stelle der Demokratie oder Monarchie gesetzt; Könige haben
die gesetzlich bestehende Verfassung abgeschafft. Für jede dieser sechs Formen bietet
die Geschichte nicht eins, sondern hundert Beispiele; und sie hat niemals Anstand
genommen, das Wort anzuwenden, welches die Sache wirklich ausdrückt.
Dem Führer des preußischen Herrenhauses, dem Philosophen und Rechtslehrer
Stahl war es vorbehalten, der Sache eine andere Wendung zu geben. Während
sonst die Revolution einen Act bezeichnet, bezeichnet Stahl damit eine Gesinnung.
Er nennt Revolution diejenige Gesinnung, welche Emancipation der Juden, Gc-
wcrvcfreihcit, constitutionelle Verfassung, Associationsrecht, freie Presse u.''tgi. will.
Niemand wird daran zweifeln, daß Stahl ein geistvoller Mann ist; da aber be¬
kanntlich auch zuweilen der gute Homer schläft, so wird es dieser Anerkennung
wol keinen Eintrag thun, wenn wir behaupten, daß noch nie ein grenzenloserer
Unsinn ausgesprochen worden ist, so lange man deutsch spricht. Denn bei anderen
Unsinn hat man doch in der Regel eine Handhabe, den Irrthum zu erklären, aber
hier gibt es keine. Denn da doch Staaten existiren, in welchen Gewerbe- und
Prcßfteiheit, constitutionelle Verfassung u. tgi. bereits zu Recht bestehen, so würde
man nach dieser Erklärung grade die Konservativsten des Landes, die Anhänger der
Verfassung, für revolutionär, und die Empörer und Meuterer sür konservativ aus¬
geben müssen. Der Irrthum ist nicht logisch sondern nur psychologisch zu erklären:
die feudale Partei in Preußen, so sehr sie sich dagegen sträubt, mißt alle Politik
nach der Schablone aus und wendet auf das, was ihrer beliebten Schablone nicht
entspricht, jeden beliebigen Ausdruck an, der in ihrem Sinn etwas Tadelndes enthält.
Wir gehören nicht zu dieser Art Politiker; wir halten unter gegebenen Cultur-
umständen bald die Monarchie, bald die Aristokratie, bald die Demokratie, bald eine
Mischung von zweien oder dreien unter ihnen für das zweckmäßigste; wir ehren
Epaminondas, obgleich er ein Republikaner, wir ehren Friedrich den Großen, ob¬
gleich er ein König war. Wir stehn im Juli 17 89 auf Seiten der Revolution
gegen die conservative Partei; wir werden in den meisten Fällen auf der entgegen¬
gesetzten Seite stehn.
Eine revolutionäre Gesinnung als solche gibt es nicht. Man kann entschlossen
sein, die politischen Zwecke, die man verfolgt, wenn man sie nicht anders erreichen
kann, auf revolutionärem Wege zu erreichen; die Revolution kann aber nur Mittel,
nie Zweck sein. Man kann gute und schlechte Zwecke haben. In Schillers „Fiesko"
wollte Fiesko die Revolution, um sich zum Herrscher zu machen; Verina wollte
sie, um eine Republik herzustellen, sueno. um seine Gläubiger umzubringen, Calcagno,
um Fiaskos Frau zu verführen, der Mohr, um zu plündern u. s. w. — aber bei
allen war die Revolution nur Mittel. Für den Demokraten ist der Zweck die De¬
mokratie, für den Aristokraten die Aristokratie, für den Republikaner die Republik,
für den Communisten der Communismus u. f. w. Hier bezeichnet der Ausdruck
durchweg den Zweck. Aus diese Weise gibt das Wort revolutionär gar keinen Sinn:
es gibt keine revolutionäre Partei, es gibt keinen revolutionären Charakter, sondern
es gibt nur revolutionäre Handlungen. Die Revolution ist immer nur etwas
Vorüber gehendes, so lange sie auch dauert; sie kann nicht als das bleibende Motiv
eines Menschen oder einer Partei betrachtet werden. Wenn man in unsern Tagen
statt Revolution „Staatsstreich" sagt, so ist damit nichts geändert: denn ob wir
sagen. Louis Napoleon hat sich durch einen Staatsstreich zum Dictator Frankreichs
gemacht, oder ob wir sagen, er hat es durch eine Revolution gethan; ob wir sagen,
Franz der Zweite von Neapel ist durch einen Staatsstreich oder durch eine Revolution ge¬
stürzt: — das Prcßgcsetz mag darin einen Unterschied sehen, die Sprache macht keinen.
Was nun die Frage betrifft, ob Revolutionen zu billigen sind oder nicht, so
entscheidet die Geschichte in der Regel nach dem Erfolg. Wenn eine Revolution zum
Wohl eines Staats ausschlägt, so wird sie von der Nachwelt gelobt, wo nicht, so
wird sie getadelt. Die Engländer sprechen noch heute von der glorreichen Revolution
von le!8!>- hätte Wilhelm in der Weise der Stuarts regiert, so würden sie nicht so
sprechen. Ueber die französische und italienische Revolution ist das letzte Wort noch
">ehe gesprochen. — Wir wollen einen sehr unwahrscheinlichen Fall annehmen. Ge¬
setzt, der Bundestag macht wirklich eine Revolution, d. h. er erfindet eine Verfassung,
durch welche Deutschland groß und glücklich wird, und setzt sie mit Gewalt durch:
s" wird zwar im Anfang vom Ncchtsstandpunkt ein sehr lebhafter Widerspruch cr-
Wlgen, aber wenn die Sache gelingt, so wird die Geschichte den Bundestag vcrhcrr-
i'eben wie sie Wilhelm von Oranien verherrlicht hat.
Wir haben oben die Erklärung von Revolution gegeben: Staatsvcrändcrung
'U't Nichtachtung eines rechtlich begründeten Widerspruchs. Man muß noch hinzu-
n durchgreifende Veränderung, die zu gleicher Zeit, wie jede durchgreifende
Veränderung, mit einer innerlichen Umwandlung verbunden ist.
^ Jeder große Fortschritt in der Geschichte ist dadurch geschehen, daß mit dem
schein des Lebens aber nicht mit wirklichem Leben ausgestattetes Alte zertrümmert
wurde. Die größte Revolution, welche die Menschheit kennt, ist die Einführung des
Ehnstcnthums. — Woher kommt die Abneigung, mit der man gewöhnlich diesen
Ausdruck betrachtet? — In einem Brief an den Kanzler Grafen Boineburg 1695,
sagt Leibnitz- M ooutums 6e airs ein'it S6rs.it, bon MS Iss xrinoos küssend per-
su-reich <ins les xeuxles ont le äroit ac leur resister, se c^u'-rü contraire Iss peu-
plss küssend xersuacles as I'obeissance passive. vepenäa.ire ,js crois <iue reFuIiüre-
ment on äoit olieir, le mal <Ze la revvlto plant. orcliiuiirement ineomMrablement
plus grana ciuo es <M en äonne su^jot. 5'avons pourtant c^us le prince peut aller
un tel excös et melero !e salut 6e la rexubliciue en un tel (langer eins I'obliZMoii
6e soulkrir eesss. — Es ist zu fürchten, daß das Uebel der Revolution schlimmer
ist als das, welches man durch sie zu vermeiden sucht; aber es gibt doch, freilich
selten. Umstände, wo man es muß darauf ankommen lassen. So haben, die Weisen
Das Bibliographische Institut in Hildburghausen erlaubt sich in der
Ankündigung einer sogenannten Bibliothek der deutschen Klassiker auch die
Namen noch lebender Autoren aufzuführen, deren Werke in einer Auswahl dem
Publicum dargeboten werden sollen, obgleich diese Werke sämmtlich im festen Verlage
sind, und dem Bibliographischen Institut nicht im entferntesten das Recht zusteht,
über sie zu disponiren. Diese Angelegenheit auf dem Wege Rechtens zu verfolgen
oder nicht, muß den betreffenden Verlegern überlassen bleiben i die unterzeichneten
Schriftsteller aber wollen sich wenigstens auf das allcrentschicdenstc gegen eine Methode
der Plünderung verwahren, die selbst in Deutschland noch neu sein dürfte. Sie
wollen selbst durch Schweigen nicht die Hand dazu bieten, daß der alten Rechtlosig¬
keit, unter der das geistige Eigenthum litt, aufs neue und im weitesten Umfange
Thür und Thor geöffnet werde. Sie fordern alle übrigen Autoren, die mit einer
gleichen classischen, gleichviel auf welche Weise ausgeführte», Plünderung bedroht sind,
auf, sich dieser Erklärung anzuschließen, und ersuchen alle ehrenwerthen Blätter
Deutschlands um Aufnahme und Verbreitung derselben.
Es darf niemand darüber im Zweifel bleiben, daß die Unterzeichneten dies Unter¬
nehmen, einstweilen so weit es sie angeht, für einen Nachdruck erklären, wie er noch
niemals zur Verhöhnung - jedes Eigenthumsrechtcs so offen ausgeboten und an¬
gepriesen wurde.
Berthold Auerbach. Friedrich Bodcnstcdj. Lud. Aug. Fränkl.
Gustav Freytag. Emanuel Geibel. Grillparzer. W. Haering (WiU-
bald Aleris). Moritz Hartmann. Friedrich Hebbel. Paul Heyse. Ed¬
mund Hoefer. H. König. Laube. H. Lingg. Menzel. E. Mörike-
Frh. Münch (Frh. Halm). I. G. Seidl. Adalbert Stifter.
„Ich habe.niemals von mir öffentlich gesprochen" so durfte der Mann,
dessen Andenken die folgenden Zeilen gewidmet sind, von sich schreiben in Ta¬
gen, wo die kräftige Vertheidigung der Rechte Schleswig-Holsteins, der her¬
vorragende Antheil an der Begründung des Verfassungslebens in Hannover
den Ruhm seines Namens schon längst durch alle Gaue getragen, seine Per¬
son zu einer historischen geweiht hatten. Und als Dahlmann von diesem
Grundsatz abweichen, zum ersten und zum letzten Male öffentlich von sich viel
sprechen mußte — in seiner Verständigung über die Göttinger Ereignisse —
so that er es nur nothgedrungen. weil schnöde Gewalt die lieben Freunde
und Thatgcnossen auseinander gesprengt. Könnte er zu uns herabblicken, träfe
sein Auge diese Zeilen, gewiß würde er in seiner liebenswürdig bescheidenen
Weise den Kopf schütteln, und es „bedenklich" finden, daß wir von ihm und
seinem Wesen so viel, nach seiner Meinung zu viel der Welt erzählen. Doch
diesmal mag er uns vergeben.^daß wir seinen Wünschen entgegen handeln.
Wir konnten nicht anders. Beim Abschied von ihm ans immer und ewig trat
unwillkürlich das Bild des besten deutschen Mannes in scharfen Zügen vor
den Geist; sein Leben, so reich und doch so anspruchlos, noch einmal durchzu¬
denken, bot uns allein Trost und Erhebung. Diesen Trost möchten wir gern
mit den Andern theUen, sein Bild in klarer Erinnerung festhalten, so wie es
bei Nahen und Fernen sich gestaltet hatte, als die Verkörperung mannhafter
Ehre, als das Leib gewordene ehrliche, treue, deutsche Gewissen. Er besaß
der Gaben von Natur gar manche und seltene, die ihm die Verehrung und
Freundschaft des Einen und Andern zubrachte. Allen gleichmäßig werth, der
Nation unvergeßlich bleibe Dahlmann. daß er sein ganzes Leben hindurch freu¬
dig und muthig einstand für Ehre und Recht, daß er kein Opfer zu groß
kannte für die Bewahrung dieser sittlichen Güter, aber auch keinen Gewinn
s° groß, um ihn zum Preisgeben derselben zu bewegen. Doch was sagen
Wir: Preisgeben. Selbst das leiseste Schwanken galt dem strengen Manne
unstatthaft, auch die geringste Abweichung wies der gegen Andere so Duld¬
same von sich mit Festigkeit zurück, mochten darüber die liebsten Hoffnungen,
die schönsten Ideale ihm zertrümmert werden. „Mir ist der gute Name mehr
werth, als ein wissenschaftliches Unternehmen," so schrieb Dahlmann an Stein,
als er seine Mitwirkung an Pertz' Monumenten auskündigte, weil im Direkto¬
rium auch Unterzeichner der Karlsbader Beschlüsse sich befanden und er darüber
von Stein getadelt wurde. Nicht in diesem einzelnen Falle allein lieh Dahl¬
mann seine Handlungsweise vom Gebote dn sittlichen Ehre leiten; immer und
überall, wo er aus seiner still bescheidenen Wirksamkeit hervortritt, in allen
epochemachenden Momenten seines Lebens bestimmt ihn der gleiche Grundsatz.
In Göttingen ruft er dem Dichter nach:
So hoch gestellt ist Niemand auf der Erde,
Daß ich mich selber neben ihm verachte.
und schreibt muthig den Protest gegen den königlichen Rechtsbrecher, und an
dem andern verhängnißvollen Tage seines politischen Lebens, am 4. Septem¬
ber 1348, ist es wieder die Ehre, die Ehre Deutschlands, die er in die Wag¬
schale wirst gegen die Verfasser des Malmöer Waffenstillstandes. Das mußte
freilich den Handwerkern der Politik, den Frivolen und Selbstsüchtigen, Allen,
die nur dem Augenblicke leben und nur die Vortheile berechnen, seltsam und
unbegreiflich dünken; wir fanden in dieser sittlichen Strenge nicht allein den
Schlüssel zum Verständniß seines Wirkens, sondern auch das Geheimniß der
Macht, die er ausübte, der scheuen Ehrfurcht, die er selbst seinen politischen
Gegnern einflößte.
Es läßt sich darüber streiten, ob auf dein Platze, wohin ihn das Schick¬
sal, der einstimmige Ruf seiner Landsleute gestellt, nicht ein anderer Cha¬
rakter Größeres geleistet; aus die Beurtheilung des persönlichen Wesens kann
der größere oder geringere Erfolg seines politischen Wirkens keinen Einfluß
üben, da vor Allem in der Wahl der Mittel und Wege ihn die strengsten
ethischen Rücksichten banden, und die blinde Energie der Leidenschaft, die Alles
durchsetzt, weil sie Alles benutzt, unvereinbar war mit seinem stolzen sittlichen
Muthe. Dahlmann stand wol mit seiner ganzen männlichen Kraft für seine po¬
litischen Ideale ein, aber die politische Wirksamkeit verbrauchte nicht die ganze
Kraft des Mannes, der, was häusig vergessen wurde und doch so wichtig ist
für Dahlmann's Verständniß, zur praktisch-politischen Thätigkeit erst in späterer
Zeit gegen seine Absicht herangedrängt wurde, ursprünglich für einen anderen
Beruf sich vorbereitete.
Das Bürgermeisterhaus in Wismar ist Dahlmann's Heimat. Ein eigen¬
thümlicher Zufall waltet darin, daß unsere beiden wackersten Kämpfer für deut¬
sches Recht und deutsche Freiheit, der alte Arndt wie Dahlmann. unter frem¬
der schwedischer Herrschaft ihre Jugend verlebten. Wer weiß, ob nicht grade
der Umstand, daß ihr Auge frei blieb von den Eindrücken der schlimmen
Reichsroirthschaft, ihre Zuversicht zum deutschen Wesen mit geboren hat und
dessen unverwüstlicher guter Kern schon^so frühe ihren Sinn erfüllte, weil sie
die deutschen Zustände aus einer idecilisirenden, die häßlichen Flecken verwi¬
schenden Ferne zuerst gewahrten. Dahlmann gehört übrigens nicht blos nach
seiner politischen Nationalität, sondern auch durch Familienursprung Schwe¬
den an und zwar einem adeligen Geschlechte, dessen Wappen, wie uns Arndt
öfter erzählte, im Stockholmer Ritterhause prangt. Anlage und Neigung führ¬
ten Dahlmann zum Studium der Alten und weckten in ihm den Entschluß,
die philologische Laufbahn zu verfolgen. Als die Zeit zum Besuche einer Uni¬
versität nahte, entschied der Ausenthalt seines Mutterbruders, Imsen. in Ko¬
penhagen, daß Dahlmann im sechszehnten Jahre die dänische Hauptstadt auf¬
suchte. Beinahe hätte ihn das Schicksal für immer Deutschland entrissen und
nach Dänemark verpflanzt. Moldcnhawer. der Hauptlehrer der Universität,
schenkte ihm seine besondere Gunst, suchte ihn dauernd an sich zu fesseln und
durch die Aussicht auf rasche Beförderung zu gewinnen. An dieser lMte °6
auch nicht gefehlt, da Moldenhnwer dem gesammten dänischen Schulwesen vor¬
stand. Aber Dahlmann reizte nicht die Aussicht, lockte nicht der trockene, in
der Heyne'schen Schule erzogene Mann, wohl aber packte ihn die Sehnsucht,
deutsche Wissenschaft an den unmittelbaren Quellen kennen zu lernen. Er zog
1803 nach Halle, saß hier ein Jahr lang zu den Füßen Wolf's, blickte auch
von Zeit zu Zeit in die Hörsäle Steffens' und Schleiermacher's. um aber im¬
mer wieder zu dem Meister zurückzukehren, von dem er, so lang erlebte, mit
warmer Begeisterung sprach und dessen persönlichem Umgänge, dessen Prolcgo-
wenen. dem ältesten Muster streng historischer Kritik, er den größten Einfluß
auf seine Bildung, die ganze Richtung seines Geistes zuschrieb. Eine schwere
Krankheit hemmte die Fortsetzung seiner Studien und zwang ihn. die nächsten
Jahre mit einer kurzen Unterbrechung, die ihn abermals nach Kopenhagen
führte, in stiller Vorbereitung auf seinen Beruf in seiner Heimat zu verleben.
Er las Herodot und insbesondere die griechischen Dramatiker, versuchte sich
auch an einer Uebersetzung der Eumeniden. des gefesselten Prometheus, sowie
der Wolken des Aristophanes.
Wie Dahlmann 1809 nach Dresden kam, den Freundschaftsbund mit
Kleist schloß und gemeinsam mit diesem Böhmen und die Schlachtfelder in
Mähren bereiste, hat er selbst in still-anmuthiger Weise in der Einleitung zu
Kleist's gesammelten Schriften (herausgegeben von Julian Schmidt) erzählt:
"Ich war damals vierundzwanzig Jahre alt — man wußte in dieser Napo¬
leonischen Welt nichts mit sich anzufangen — von Wismar nach Dresden
gegangen, um dort, wie ich mir dachte. Vorträge über ätherische Geschichte
vor einem größeren Publicum zu halten." und wie wir hinzufügen dürfen, im
»Phöbus" einzelne literarische Arbeiten zu veröffentlichen. Gelang ihm das
^tztere auch nicht, so war denn doch die Reise nach dem Kriegsschauplatze,
die Begegnung mit glühenden Patrioten, wie Knesebeck, Pfuel u. A, ein
reicher Gewinn. Wie dadurch der deutsche Sinn und die Vaterlandsliebe die
tiefsten Wurzeln faßten, sein Denken und Fühlen überhaupt eine bestimmte
Richtung empfing, so hielt auch seine Erinnerung die Ereignisse jener Zeit
mit merkwürdiger Treue fest. Dahlmann liebte es noch in seinen alten Ta¬
gen von den Ereignissen seiner Reise zu erzählen: mit welcher Anschaulichkeit
und Wärme, wie ihm Alles und Jedes bis zum einzelnen Baume und Strauche
der Landschaft gegenwärtig war. wie er, in die Kämpfe der vergangenen Tage
sich> versenkend, noch in später Zeit mit seinem ganzen Herzen bei der Erör¬
terung der Frage stand, welche Schuld den Erzherzog Johann an dem Ver¬
luste der Schlacht bei Wagram treffe, dies bleibt Allen unvergeßlich, die das
Glück zu seinen Zuhörern machte. Möglich, daß ihn die politischen Ereig¬
nisse, denen er so nahe gestanden, auch dem Studium der Geschichte zuführten.
Denn während ihn bis dahin die Alten ausschließlich in Anspruch genommen,
ja sogar, wenigstens in den Jugendjahren, das Studium der Geschichte voll¬
kommen gleichgiltig gelassen, sehen wir ihn gleich nach dem Jahre 1809 mit
einer Darstellung der Geschichte der sächsischen Kaiser beschäftigt. Doch blieb
seine Hauptkraft noch immer der Philologie zugewendet, und seine Habilitations¬
schrift (von den Anfängen und der Entwickelung der attischen Komödie) wie
seine ersten Vorlesungen in Kopenhagen 1811 (über die Wolken des Aristo-
phanes) waren philologischen Gegenstünden gewidmet. Aber schon im folgenden
Jahre traf ihn nach Hegewisch's Tod der Ruf als Professor der Geschichte
nach Kiel, welchen er. wenn auch zögernd und schüchtern, annahm. „Ich
wurde." pflegte er scherzend zu äußern. „Professor der Geschichte, obgleich ich
in meinem ganzen Leben kein historisches Collegium gehört hatte."
Während er sich in seinen neuen Beruf mit der stillen Pflichttreue, die
ihn in allen Lagen auszeichnete, einzuarbeiten begann, erzitterte schon Europa
vom Schlachtengetöse. Unmittelbar an dem Befreiungskampfe mitzuwirken,
war ihm nicht vergönnt, doch durste er sich rühmen, auch seinen Theil, soweit
eben die Gelegenheit reichte, beigetragen zu haben, zur Belebung der Geister,
zur Entflammung des Muthes. Durch schwedische Blätter erfuhr man in
Kiel den Ausgang des russischen Krieges rascher, als im größten Theile des
übrigen Deutschlands. Dahlmann war eifrigst bemüht, diese Nachrichten zu
sammeln und an die Angehörigen nach Wismar zu senden. Seine Briefe
gaben die einzige, die sicherste Kunde von den Ereignissen, sie wanderten weit
durch das Mecklenburger Land bis an den Hof und bereiteten wirksam die
Erhebung des Volkes vor. Wir besitzen noch ein anderes Zeugniß von der
glühenden Theilnahme Dahlmann's an dem großen Werke der Befreiung
Deutschlands. Am 7. Juli 1815 feierte die Kieler Universität die Erinnerung
an die Schlacht von Waterloo. Dahlmann trat als Festredner auf. Mit der
Weisheit, die ihm die liebevolle Beschäftigung mit dem classischen Alterthum
geschenkt, bettachtet und erwägt er die Natur und die Folgen des Sieges,
Mit feuriger Begeisterung preist er den Tag. „an dem uns großes Heil wi¬
derfahren ist." Wollten wir angeben, was schön und ergreifend in der Rede
uns berührt, wir müßten sie vollständig wiederholen. Hoffentlich bleibt sie.
wie die übrigen kleinern, ältern Schriften Dahlmann's, dem deutschen Volke
nicht lange vorenthalten. Eine Stelle ist aber zu wichtig für das Verständniß
seines Wesens, als daß wir sie nicht hier einverleiben müßten, „Allgemein,"
ruft Dahlmann. „sei die Freude. Wie sie durch alle Gaue des übrigen
Deutschlands sich verbreitet und ein neues Eintrachtsband schlingt, möge sie
so auch hier im Lande, möge sie in unsern beiden Herzogthümern so empfun¬
den werden. Ihnen beiden gehört dieser Sitz der Wissenschaften in gleichem
Maaße an, und in diesem Sinne, des Mitgefühls beider versichert, hat unsre
Universität diese Feier angeordnet, zugleich aber auch, um einmal auszu¬
sprechen, wie sehr sie es empfinde, daß alles Wissen nichts sei ohne das Leben,
und daß die Bewahrung des heiligen Feuers der Vaterlandsliebe Niemandem
so nahe stehe, als den Pflegern der Wissenschaft. Wenn auch der Schleswiger
nie im Deutschen Bunde gewesen ist, er gehört ihm und gehört ihm noch
durch den verbrüderten Holsteiner an, dem er seit Jahrhunderten die treue
Hand gereicht hat, mit dem er in Verfassung, Freiheiten und Gerechtsamen
innigst verschmolzen ist." So hat Dahlmann schon vor einem Menschenalter
offen und beredt ausgesprochen, was uns Allen noch in dieser Stunde auf
der Seele* brennt, so mit ritterlicher Liebe gelohnt, daß ihn Schleswig-Holstein
als Sohn adoptirt.
Was sein Rechtsbewußtsein zu vertheidigen ihn aufforderte, das nach
Außen kräftig zu vertreten, war inzwischen auch eine Amtspflicht für ihn
geworden. Bald nach seiner Ankunft in Kiel hatte ihn Graf Christian Stol-
berg von Windeby aufgefordert, die Stelle eines Secretärs bei der fortwäh¬
renden Deputation der Schleswig-holsteinischen Prälaten- und Ritterschaft
anzunehmen. Das Amt war gleichsam in der Dahlmann'schen Familie ein¬
gebürgert. Der Großvater Imsen und ein Oheim hatten dasselbe in frühe-
^r Zeit bekleidet. Natürlich, daß dieß die Aufforderung gar lockend er¬
scheinen ließ. Als auch das Bedenken, das Dahlmann erhoben hatte.
^ seien zur rechten Verwaltung des Amtes praktisch-juridische Kenntnisse er¬
forderlich, beseitigt wurde, zögerte Dahlmann nicht, die ihm gebotene Stelle
anzunehmen. Er hat in späterer Zeit stets mit einer gewissen Genugthuung
"uf die Jahre, die er dem Dienste der Ritterschaft gewidmet, zurückgeblickt,
und die praktische Schule, die er hier sich erworben, dankbar gelobt. Mit
"och größerer Genugthuung durfte die Ritterschaft der getroffnen Wahl sich
rühmen. Unermüdlich und unerschrocken pflegte er die ihn, anvertrauten In-
reffen. Von der Gründlichkeit seiner Amtsverwaltung legen seine beiden
Schriften: Sammlung der wichtigsten Actenstücke, die gemeinsamen Angelegen¬
heiten der Schleswig-holsteinischen Ritterschaft betreffend, 1815. und die urkund¬
liche Darstellung des dem holsteinischen Landtage zustehenden Steuerbewiili-
gungsrechtes. 1819, ein glänzendes Zeugniß ab. Seinen furchtlosen Eifer
bekundet die dem Bundestage überreichte „Denkschrift" der Prälaten und Ritter¬
schaft des Herzogtums Holstein, enthaltend die Darstellung ihrer in aner¬
kannter Wirksamkeit bestehenden landständischen Verfassung und insbesondere
ihrer Steuergerechtsame. 1822. Wir ziehen wieder aus der Vorrede einige
Worte aus, die uns für Dahlmanns Denkweise bezeichnend scheinen. Wie
ihn die allgemeine Betrachtung des Sieges von Waterloo das besondere
Schleswig-Holsteinsche Interesse keineswegs vergessen ließ, wie er es in seinem
Gratulationsprogramm zur Feier des königlichen Geburtstages 1820 für seine
Pflicht hielt, die Verdächtigungen, die der preußische Minister Bernstorf gegen
Universitäten und Professoren ausgesprochen, zurückzuweisen und auf die po¬
litischen Verhältnisse Deutschlands den prüfenden Blick zu werfen, so kann er
auch hier, wenngleich der Gegenstand ein besonderer ist. die Gelegenheit nicht
vorübergehen lassen, auch seine allgemeinen politischen Grundsätze zur Sprache
zu bringen. Mit seiner, alten Freunden wohlbekannten Ironie führt er die
abmahnende Stimme der Wohlgesinnten an, „nach deren Glauben die jetzige
Lage der Welt am wenigsten geeignet ist, erlittene Unbilden ans Licht zu
ziehen und vielmehr alles Heil aus dem Gehorsam beruht." Aber sofort er¬
hebt er seine Stimme, um sein Recht und seine Pflicht zu sprechen, darzulegen:
„das Bewußtsein, daß er einer der Nothwendigkeit gleichzuachtenden Ver¬
pflichtung, daß er einem Interesse folge, das zugleich dasjenige seines Vater¬
lands ist," läßt ihn alle Bedenken bei Seite setzen. Er darf auch der Mi߬
deutung zum Trotze getrost sein Ziel verfolgen, weil er an seine Schrift die
Hoffnung knüpft, „an der Hand weiser Vermittlung aus einem Zustande schmerz¬
licher Entzweiung die alte Eintracht hervorgehen zu sehen." Ach, jene Ironie
wäre auch noch nach zwanzig und dreißig Jahren am Platze gewesen, aber
auch diese Ueberzeugung hat Dahlmann wie in jungen, so in alten Jahren
unverbrüchlich bewahrt. Er war damals der Prophet seiner eigenen Zukunft,
er hat sein Glaubensbekenntniß blos vordatirt.
Die concrete Gedankenbildung, welche niemals bei verflüchtigenden all¬
gemeinen Grundsätzen verweilt, vielmehr, wie diese am Besonderen und Gegen¬
wärtigen lebendig werden, vorzugsweise betont und dann wieder an den letz¬
teren das Allgemeine und Gesetzmäßige eifrig hervorhebt, ist schon längst als
ein unterscheidendes Merkmal der politischen Anschauungen und historische"
Urtheile unseres Dahlmann von jenen seiner Fachgenossen dargethan worden.
Nicht minder wichtig, für die Würdigung seiner Natur noch bedeutungsvoller
ist die strenge Folgerichtigkeit seines politischen Verhaltens, die seltene Treue
und Beharrlichkeit seiner Gesinnung. Nichts lag ihm seiner, als ein eigen¬
sinniges Beharren du seinen Meinungen, wie überhaupt die Geltung seiner
eigenen Persönlichkeit das letzte war. woran er dachte; wol aber hielt er un¬
verbrüchlich fest an den sittlichen Grundlagen des staatlichen Lebens und ließ
sich von dem offenen Bekenntniß des als wahr Erkannten durch keine Macht,
keine Verkettung der Verhältnisse oder wie sonst die Beschwichtigungsmittel
des mahnenden Gewissens heißen mögen, abbringen. Daher vermochte die
spätere Zeit, mochte sie auch seine Lebensstellung ändern, die Kreise seiner Wirk¬
samkeit erweitern oder verengern, in seinen Anschauungen keinen Wechsel her¬
vorzurufen, daher finden wir zwischen älteren und jüngeren Urtheilen, früheren
und späteren Aeußerungen niemals einen Widerspruch, stets und immer in den
Hauptdingen die vollkommenste Uebereinstimmung. Die Veröffentlichung seiner
Politik füllt zwar erst in tue dreißiger Jahre, noch näher liegt uns die Zeit
seiner hervorragendsten praktischen Thätigkeit als Staatsmann. Wenn wir
aber genauer forschen, so entdecken wir die Grundlinie seines politischen Glau¬
bens bereits in den ältesten politischen Schriften vorbereitet. Die Abhandlung:
.Ein Wort über Verfassung." in den ersten Heften der Kieler Blätter 1815
abgedruckt, offenbart uns schon Dahlmanns politisches Ideal, welches er nach¬
mals nur reicher entwickelt, breiter angelegt, aber niemals im Wesentlichen
verändert hat. Zu keiner Zeit verlüugncte er das Zeugniß, das er daselbst
zu Gunsten der englischen Verfassung abgelegt : „Das neuere Europa hat bei
aller Verschiedenheit seiner-einzelnen Völkerschaften einen gemeinsamen Grund¬
charakter, ist also ähnlicher Verfassungen sähig. ' Auch sind alle diejenigen,
welche überhaupt den Werth einer zweckmäßigen Gliederung des Staats aner¬
kennen, darin einig, daß in England die Grundlagen der Verfassung, zu wel¬
cher alle neu-europäischen Staaten streben, am reinsten ausgebildet und auf¬
bewahrt sind." Noch weniger hatte er Ursache, was er daselbst über die
Unzulänglichkeit bloßer Provinzialstände. über das Gefährliche der Staatsstreiche
'w. Finanzwesen oder wol gar über die Rechtsbeständigkeit der Schleswig-
Hvlsteinischcn Verfassung schrieb, in den spätern, auch nicht in den jüngsten
Tagen zurück zu nehmen.
Die Veröffentlichung der erwähnten Abhandlung in den Kieler Blättern,
die Theilnahme an der Redaction der letzteren bezeichnet den Anfang eines
Lebensabschnittes, den Dcihlmann stets seinen liebsten und freudigsten Er¬
innerungen anreihte. Ausgedehnt und segensreich war seine Wirksamkeit als
akademischer Lehrer. Wie nachmals in Bonn seine Vorlesungen über Politik
und deutsche Geschichte, so bildeten hier seine Vorträge über alte Geschichte
und Aristophanes den förmlichen Mittelpunkt der Universitätsstudien und üb¬
len die größte Anziehungskraft weit über die studentischen Kreise hinaus.
Gleichgesinnte Freunde wie Fakel, Hegewisch, Pfaff, Reinhold. Tochter u. A.
standen ihm wacker zur Seite und erheiterten auch das gesellige Leben. Fest
begründet war sein Ansehen in den beiden Herzogthümern; ohne daß er es
wollte oder beabsichtigte — wo hätte er sich je zu Ehren gedrängt, wo seiner
Persönlichkeit eine besondere Geltung verschaffen wollen — zählte Dahlmann,
so lange er in Kiel weilte, zu den bedeutendsten und einflußreichsten Männern
Holsteins. Alles war ihm hold und schützte und ehrte den unvergleichlichen
Mann, nur die dänische Regierung dankte ihm seine Bemühungen für die
Rechte Schleswig-Holsteins mit kränkender Zurücksetzung, ließ ihn siebenzehn
Jahre als außerordentlichen Professor. So schwer ihm auch die Trennung
von dem liebgewonnenen neuen Vaterlande wurde, er surfte nicht schwanken,
als ihm durch den Ruf nach Göttingen (1829) die Aussicht auf eine noch
segensreichere akademische Wirksamkeit sich öffnete. Auch in Göttingen gesellte
sich bald der letzteren eine praktisch politische Thätigkeit hinzu, auch hier.nahm
er wie in Kiel eine Doppelstellung als Lehrer und Staatsmann ein und
wußte sich bald einen durchgreifenden Einfluß aus die öffentlichen Angelegen¬
heiten des Landes zu erwerben. Seine entscheidende Mitwirkung an der Fest¬
stellung des Staatsgrundgesetzes hat der Geschichtsschreiber Hannovers zu
würdigen. Wer die gegenwärtige Lage des Landes erwägt, hat wahrlich
nicht Ursache, den gewaltsamen Umsturz des Dahlmann'schen Werkes zu lo¬
ben, nicht einmal einen Scheingrund, das böse Unrecht, das seitdem immer
neue Sünden geboren hat, beschönigen zu wollen. Nicht minder bekannt,
wie die Geschichte seiner Thätigkeit in Hannover. » ist die Geschichte seines
Leidens. Dahlmann hat sie selbst in seiner Schrift: Zur Verständigung,
1838 erzählt, erzählt, wie er sein „Zeugniß für Wahrheit und Recht gegen ein
System der Lüge und Gewaltthätigkeit" büßen mußte mit Absetzung und schnöder
Verbannung, erzählt, wie Hannover an der Regierung von Hesscnkassel einen
willfährigen Helfershelfer fand, um «die Geflüchteten zu peinigen und zu krän¬
ken, aber in seiner Bescheidenheit nicht erzählt, daß er grade jetzt den herr¬
lichsten Triumph feierte, sein Name von nun an als ein Ehrenschild der Na¬
tion betrachtet wurde, und was er an Schmerzen erduldete über den feigen
Abfall so mancher Collegen? über, die hündische Unterwürfigkeit so Vieler,
die mit ihm den gleichen Eid geschworen, tausendfältig vergütet bekam durch
die begeisterte Liebe, die ihm von allen Seiten zuströmte.
In Kassel trennte er sich von seinem „letzten treuen Freunde" Jakob
Grimm und flüchtete nach Leipzig, wo er, wie die sächsischen Verhältnisse da¬
mals standen, zuerst wieder ruhig Athem schöpfen und sich frei fühlen konnte.
Der wackere Gastfreund Karl Reimer, der liebenswürdige Hirzel und Andere,
die gewiß gern genannt sein möchten, weil es eine Ehre ist, Dahlmann nah
gekommen zu sein, deren Namen wir aber leider nicht kennen, beeiferten sich.
ihm den. Aufenthalt in Leipzig nach Kräften zu schmücken. Mit den alten
Freunden, die ihm von Göttingen her geblieben/ mit den neuen, die er sich
besonders in Leipzig erworben, durfte Dahlmann wieder als reicher Mann
gelten. Der Plan, ihn für die Leipziger Universität zu gewinnen, scheiterte.
Auch die Vorlesungen, die Dahlmann als einfacher Docent in Leipzig zu hal¬
ten gedacht, kamen nicht zu Stande; die sächsische Negierung trug Bedenken,
die Anzeige der Vorlesungen im Lectionskatalog zuzulassen. Das setzte zwar die
kräftige Einsprache Gottfried Hermanns durch, aber noch andere Conflicte droh¬
ten, wie es scheint, und bestimmten Dahlmann zum Aufgeben seiner Absicht.
Er zog 1838 nach Jena, in literarijcher Muße lebend, bis ihn endlich im
Jahre 1842, von den Göttinger Sieben den letzten, ein Ruf nach Bonn der
akademischen Wirksamkeit zurückgab.
Die Jahre 1842 bis 1848 mochten wol als die glänzendsten und an
Fülle der Wirksamkeit und an äußern Anregungen reichsten seines Lebens gel¬
ten. Er traf hier in Brandes einen Freund seiner Jugend von der Kopen-
hagner Zeit her, in Arndt und Welcker durch die Gleichheit der Gesinnung
und die Aehnlichkeit der Schicksale eng verbundene Genossen. Die Zuhörer,
die allabendlich in unerhörter Zahl das größte Auditorium füllten, um seinen
Vorträgen zu lauschen, waren ebenso viele begeisterte Anhänger. Wol mochte
anfangs den Einen und Andern die Neugierde, der Wunsch, den berühmten
Mann kennen zu lernen und zu hören, locken. Wer einmal kam. kehrte immer
wieder zurück, gefesselt von der vollendeten, anmuthigen Form, in welcher
Dahlmann seine Gedanken auszuprägen verstand, hingerissen von der Macht
der Ueberzeugung, die aus jedem Worte sprach. Wer da die Entwicklung
theoretischer Lehrsätze zu hören erwartete, empfing mit der bewältigenden Kraft
des Glaubens vorgetragene Gebote, die unmittelbar das politische Gewissen
Grasen. Wer der Erzählung historischer Thatsachen entgegenharrte, vernahm
eindringliche Lehren und Warnungen, die erschütterten. Und doch blieb stets
das Recht der Wissenschaft gewahrt, die äußerliche Tendenz, die Absichtlichkeit
auf das strengste verbannt. Nicht die Studenten und gebildeten Männer von
Avril allein, ganz Deutschland durfte Dahlmann, besonders seit der Veröffent¬
lichung seiner Geschichte der englischen Revolution zu seinen Schülern rechnen.
Jahre 1843 hielt er zum ersten Mal Vorträge über diesen Gegenstand.
Hirzel, dem seit der ersten Begegnung von Leipzig her Dahlmann zu sehen
und zu sprechen stets wie uns Allen einen Festtag bereitete, war nach Bonn
zum Besuche gekommen, hatte sich glücklich im Ricsenauditorium noch ein
Plätzchen als Hospitant erobert und aus das tiefste ergriffen von der Gewalt
der Schilderung, von der Lebendigkeit der Darstellung auf dem Heimwege in
schüchternen Worten den Wunsch ausgesprochen, die Vorträge durch den Druck
dem. ganzen Volke zugänglich zu machen. Dahlmann hemmte seine Schritte,
hob. wie er gewöhnlich zu thun pslcgie. wenn ihm etwas Unerwartetes vor¬
kam, den einen Arm zweifelnd in die Höhe, und während er den Freund gut¬
müthig lächelnd von der Seite ansah, antwortete er: „Ja, wenn nur das
Manuscript schon vorhanden wäre." Es wurde später glücklicher Weise doch
das Manuscript zusammengestellt und das Buch gedruckt, das sich in wenigen
Monaten ganz Deutschland eroberte und auf die politische Bildung des Vol¬
kes den mächtigsten Einfluß übte. Wir betonen nicht, daß es in Berlin zum
guten Tone gehörte, das Buch gelesen zu haben, dieses Schicksal haben auch
schlechte Bücher erfahren; wir heben nicht hervor, daß dasselbe, wie überhaupt
, die ganze Thätigkeit, die Dahlmann entwickelte, in den ministeriellen Kreisen
übel vermerkt wurde. Was konnte man vom Ministerium Eichhorn anders
erwarten. Ergötzlicher ist es zu vernehmen, dos; der verstorbene Butan, als
er das Buch gelesen hatte, mit seiner bekannten schlauen Miene ausrief: Noch
ein solches Buch, und Dahlmanns Ruf ist verloren! War die Befriedigung
gerecht, wenn der Blick Dahlmanns in die Vergangenheit sich versenkte, so war
die Hoffnung noch ungleich reicher, wenn er in die Zukunft blickte. Als auf
der Lübecker Germanistenversammlung Jakob Grimm mit vor Erregung zit¬
ternder Stimme Deutschlands Zukunft hoch leben ließ, als mächtiger Jubel
von allen Seiten, ihn und die Gesinnungsgenossen begrüßte, und Grimm
und Dahlmann sich in die Arme sanken, die liebsten Freunde, die wie ein
zärtlich Geschwisterpnar zu einander standen, da durfte Dahlmann wol denken
und hoffen, die Zeit, wo seine Ideale erfüllt werden, wo er als deutscher Staats¬
mann wirken werde, nahe heran. Sie kam rascher und plötzlicher, als wir
Alle es erwarteten.
Das Jahr 1848 kam heran. Wer sollte uns führen, wenn nicht der
Mann, der vor den Männern der politischen Ersahrung das umfassende Wis¬
sen, vor den Theoretikern die reiche Fülle der Erfahrung, die Erprobtheit in
Staatsgeschäften voraus hatte, dessen Besonnenheit den Fürsten, dessen Vater¬
landsliebe dem Volke für ein gedeihliches Werk bürgte. »Regierungen und Ne¬
gierte, Fürsten und Unterthanen riefen gleich laut nach ihm, wählten ihn mit
wetteifernder Uebereinstimmung zum Mann ihres Vertrauens. Er wurde der
Rathgeber der Könige und Völker. Diese Seite seiner Thätigkeit, die ihn zu
einer Korrespondenz mit halb Europa veranlaßte, ist bei der strengen Discre-
tion Dahlmann's den weiteren Kreisen natürlich unbekannt geblieben. Sollten
einmal die Briefe Dahlmann's aus dem Jahre 1848 veröffentlicht werden,
wir würden dann gewiß nicht nur seine Hingebung, seine offene Wahrheits¬
liebe, seinen rastlosen Eifer bewundern — wie wußte er nicht hier zu ermuti¬
gen, dort.zu warnen, die Einen spornte er an. die Anderen suchte er wieder zur
Mäßigung zu gewinnen, überall sah er nur die heilige Sache, nirgends und
niemals die eigene Person — sondern gewiß auch beklagen, daß wir so bald
seiner Führung verlustig wurden. Denn freilich, seiner öffentlichen politischen
Thätigkeit machten die überstürzenden revolutionären Ereignisse ein rasches
Ende. Die Hoffnungen, mit welchen erfüllt Dahlmann nach Frankfurt
zog. waren schon nach wenigen Monaten geknickt. Gegenwärtig, wo
wieder ähnliche Parteibildungen anschießen, wie sie uns im Jahre 1848 spal¬
teten, wäre es wol am wenigsten thunlich, über Dahlmann's Stellung in
der Revolutionszeit ein abschließendes Urtheil zu fallen. Nur soweit sein per¬
sönlicher Charakter mit in den Streit gezogen wurde, sei es gestattet, einige
Worte der Verständigung zu äußern. Wenn der augenblickliche Erfolg den
Werth eines Staatsmannes bestimmt, gewiß, dann hat Dahlmann über sich
selbst das Urtheil gesprochen. Nimmermehr hätte er aber die Richtigkeit die¬
ses Grundsatzes anerkannt, nimmermehr zugegeben, daß. wenn nur das be¬
absichtigte Ziel erreicht werde, alles Andere dem freien Belieben und der straf¬
losen Willkür anheimgestellt sei. Sein Glaubensbekenntniß in dieser Bezieh¬
ung hat er schon in einer Kammerrede in Hannover 1832 aufgestellt: „Der
guten Zwecke rühmt sich Jedermann: der Absolutist. wie der Liberale: jener
von der Ordnung, dieser von der Freiheit ausgehend; eben darum soll man
die Menschen nicht nach ihren gepriesenen guten Zwecken, man soll sie nach
ihren Mitteln beurtheilen. Einen Liberalismus von unbedingtem Werthe,
das heißt, einerlei durch welche Mittel er sich verwirkliche, giebt es nicht.
Ich kann die Politik durchaus nicht als getrennt von der Moral betrachten.
und erkläre mich hierin eines ganz altvüterischen Glaubens: Wenn jemals
der Tag erschiene, an welchem ich meines Irrthums inne würde, an welchem
wir klar würde, Moral und Politik wären ganz getrennte Gebiete, ich würde
keine Stunde mehr mich mit Politik lehrend oder lernend beschäftigen; ich
würde von dem Augenblicke an den Staat als eine Erfindung des Verder¬
bens für die Menschheit betrachten." So dachte und handelte Dahlmann
auch im Jahre 1848. Er war sich wohl bewußt, daß ein Aufgeben seiner
Grundsätze den Erfolg seiner Thätigkeit begünstigen würde; er kannte die
Wege, welche ihn zur Macht, seine nächsten politischen Zwecke zur Verwirk¬
lichung gebracht hätten. „Aber", pflegte er damals und später zu sagen, „ich
konnte doch nimmermehr mit Robert Blum zusammen ein Ministerium bil¬
den." Gewiß nicht, er hätte sich selbst aufgeben müssen, hätte seinen Halt und
seine Kraft. Alles was ihn befähigte, eine politische Rolle zu spielen, was
ihm den Glauben an seine Wirksamkeit verlieh und Vertrauen zu sich selbst
gab. verloren.
So verbrannte er denn, nachdem in Gotha und Berlin auch die letzten
Illusionen in Bezug auf Deutschlands Befreiung oder, was dasselbe ist, Eini¬
gung schwanden, die Schiffe der politisch-praktischen Thätigkeit und zog sich
"ach Bonn zurück, um fortan seiner akademischen Wirksamkeit zu leben.
Niemals ein Mann eitler Worte, jetzt verschlossener als je, freiwillig auf den
Kreis der Treuen sich einschränkend, mußte er sich es wol gefallen lassen, daß
ihn Thoren bald für zusammengebrochen, bald für abgestumpft erklärten. Wer
ihm näher stand, konnte über solche Meinungen nur lächeln. Das Alter
hatte ihn wol in der Bewegung schwerfälliger gemacht, seinen Rücken beim
Gange ein wenig gebeugt. Aber der Kopfschmuck, das reiche schwarze Haar,
war ihm in jugendlicher Frische geblieben. Und so hatte er sich auch Kopf
und Herz jugendlich frisch und empfänglich erhalten. Wer ihn sah, als die
Kunde von Wilhelm Grimms plötzlichem Ableben eintraf, wie er beinahe den
eignen Schmerz in der zärtlichen Sorge für Jakob vergaß, wer Zeuge war,
wie ihn alles Gute, was einem Freunde wiederfuhr, bis in das innerste Herz
hinein erfrischte, wer sich noch des wahrhaftigen Tones erinnert, mit dem er
seine theilnehmende Freude zu äußern pflegte, wer ihn in seiner stillen Be¬
hausung kannte, immer wohlwollend, immer seine eigne Person bescheiden in
den Hintergrund schiebend, unter wenigen guten Freunden zu gutmüthigem
Scherze, zu harmlosen Necken stets aufgelegt, der konnte nimmermehr zu¬
geben, daß Dahlmann alt geworden war. Das Gold seiner Freundschaft
verschwendete er nicht. Es wäre ja nicht das reine Gold geblieben, hätte er
es jedem, der an ihm vorüberging, bereitwillig zugeworfen. Wem er es schenkte,
der bewahrte es als seinen köstlichsten Schatz. Wenn wir Dahlmann entgegen¬
raten, da war es uns, als müßten wir ihm die innersten Herzensgedankcn
offenbaren, sein Vertrauen löste alle Hüllen, seine Wahrheitsliebe forderte zu
gleicher Aufrichtigkeit auf. Und wenn wir von ihm gingen, immer hatte er
uns etwas, was uns freute, tröstete, erhob, auf den Weg mitzugeben. Sein
Trost war stets wirksam, sein Rath stets bewährt, Alles rein, lauter und un¬
persönlich, und von seiner Nebenrücksicht bestimmt. Zur Fortsetzung seiner
literarischen Thätigkeit war er nicht zu bewegen. Wenn man ihn zur Heraus¬
gabe seiner deutschen Geschichte drängte, antwortete er: den Weg aus der
Vergangenheit heraus darf ich nicht weisen, und wenn ich dies nicht kann,
hat das Werk keinen Werth für mich. Doch verfolgte er mit emsigen Fleiße
den Gang der Wissenschaft, betrachtete mit gespannter Aufmerksamkeit alle
politischen Ereignisse. Seinem alten Grundsatze getreu, das Wissen mit den
lebendigen Interessen zu verknüpfen, wählte er gern für seine Vorlesungen
Gegenstände, die mit dem, was die Welt grade bewegte, in einem gewissen Zu¬
sammenhang standen. So las er, als der orientalische Krieg tobte, die Ge¬
schichte Rußlands seit Peter dem Großen, so hatte er noch in diesem Winter,
wol im Hinblick auf den Zustand Deutschlands, die Geschichte Friedrichs des
Großen zu erzählen begonnen. Auch in seinen Vorlesungen über deutsche Ge¬
schichte verweilte er in den letzten Jahren gern und ausführlich bei den Er¬
eignissen, deren Zeuge er selbst gewesen war.
Wir haben leider nicht den Trost, daß Dahlmann von uns schied,
mit Zuversicht das Auge auf unsere Zukunft gerichtet, mit freudiger
Hoffnung auf bessere Zeiten das Herz erfüllt. Trübe und traurig war der
Inhalt seiner Gedanken, welche die politische Lage Europas und insbesondere
die Zustünde Deutschlands zum Gegenstand hatten. Sein Vertrauen zu den
bestehenden Gewalten wankte, seine Furcht vor dem drohenden Uebergewicht
zerstörender Mächte stieg. Ost wenn er von politischen Dingen sprach, von
dem, was wir erduldet, und von jenem, was uns bevorsteht, und wenn er
dann feine Befürchtungen und Sorgen laut werden ließ, umspielte seine Lippen
die Miene, als wollte er ausrufen, was er in jenen schlimmen Göttinger
Tagen in fein Handexemplar der „Verständigung" eingeschrieben: „Ich zittre
für mein Vaterland, wenn ich bedenke, daß Gott gerecht ist und daß diese
— Seit einigen Wochen zweifelt man hier
nicht mehr daran, daß die Anleiheangelcgenheit als arrangirt anzusehen ist.
Die ersten Fonds derselben kamen Mitte dieses Monats aus Paris hier an
und vcliesen sich auf 12>/- Millionen Franken. Wenn die Anleihe schon wegen
der Größe der contrahirten Summe eine außergewöhnliche Bedeutung hat. so
darf sie eine noch höhere in politischer Hinsicht ansprechen. Sie ist bestimmt,
die nächsten und dringendst nothwendigen finanziellen Mittel behufs einer durch¬
greifenden Reform und Restauration des osmanischen Staatswesens darzu¬
reichen. Man erinnert sich in Europa, daß eine solche Reform unmittelbar
»ach dem Kriege erwartet, aber nicht nur nicht durchgeführt, soudern auch
kaum eingeleitet wurde. Die Türkei befand sich damals in jenem Zustande
der Erschöpfung, von dem nur sehr stark constituirte Reiche nach einem lang¬
dauernden und alle Anstrengungen herausfordernden Kampfe ausgeschlossen zu
sein pflegen. So lange der Krieg gewährt, hatte der Jntrigucnkampf, den
Mehrere Große wider einander seit einer langen Zeit führen, nothwendig pausircn
wüssen. Er trat aber um so stärker in den Vordergrund, nachdem er durch
den Friedensschluß wieder Raum gewonnen hatte. Es handelte sich nicht allein
zunächst um eine Beschränkung des Einflusses Omer Paschas, der durch den
Krieg zu einer Hauptgröhe geworden war, wenn auch sein Ansehen im Serail
stets auf schwachen Füßen gestanden hatte, sondern wesentlich um die Zwistig-
keiten zwischen Reschid und Risa Pascha. Ersterer starb zu Anfang des Jahres
1858, bald nachdem Lord Stratford de Redlisfe von Constantinopel abberufen
worden war; und ihm folgte Fethi Achmed Pascha, der dem Sultan be¬
sonders befreundete und einen sehr starken Einfluß auf ihn ausübende Gro߬
meister der Artillerie ins Grab nach. Wenn Risa Pascha durch den Tod
Reschids eines bedeutenden und sicherlich des größten unb am meisten
zu fürchtenden Gegners ledig geworden war, so gewann er direct auch durch
das Hinscheiden Fethi Achmed Paschas, indem er als neu ernannter Muschir
von Top-Hane vnd gleichzeitiger Scraskier, dessen Platz einnahm, und die
entscheidende Stelle am Ohre des Sultans gewann. — Man kann die Periode,
welche darauf folgte, in zwei Abschnitte eintheilen; in eine erste Zeithälfte,
wo der Einfluß Risus entschieden über jeden andern dominirte. und eine
zweite, in der er nachdrücklich von den türkischen Reformern, an deren Spitze
Mchemmed Kiprisli Pascha, der heutige Großvezier steht, bekämpft wurde.
Risa Pascha befindet sich noch heute in einer starken und respectablen Stellung,
aber er repräsentirt nicht, wie vor anderthalb Jahren noch, die ministerielle All¬
macht. Die Bewegung und Leitung des Reiches geht im Wesentlichen gegen¬
wärtig vom saber Asam (Großvezier) aus; nur im Serail selber besitzt der
Doppelminister Seraskier und Muschir von Top-Hane ein Feld, auf dem er
ausschließlich herrscht, und welches ihm in jedem Augenblick zur starken Basis
und zum Rückhalt werden kann, um den reformirenden und den Neuerungen
zugewendeten Premierminister (Großvezier) in nachdrücklichster Weise anzugrei¬
fen. Alle anderen türkischen Staatsmänner, die vordem mit Risa und Me-
hemmed Kiprisli ziemlich auf einer Linie gestanden, sind, nachdem der ganze
- Gegensatz zwischen Alt und Neu, Stillstand und Fortschritt, Reform und Be¬
lassen beim Früheren sich in diesen beiden verkörpert hat. mehr in die zweite
Linie zurückgewichen; und zwar weniger um von dort aus für den Einen
oder Anderen Partei zu nehmen, als vielmehr um von annähernd neutraler und
jedenfalls von einer Zwischenposition aus dem Kampfe der Extreme zuzuschauen.
Es gilt dies auch von Fuad und Ali Pascha, welchen ersteren schon seine
Entsendung nach Syrien daran hindert, an den Angelegenheiten im Schooße
des Ministeriums einen unmittelbaren Antheil zu nehmen.
Man kann durchaus nicht läugnen, daß die Zukunft der Türkei im hohen
Maße davon abhängt: ob Mchemmed Kiprisli Pascha sich in seinem hohen
Amte zu erhalten wissen wird, oder nicht. Sein Auskommen zum entscheidend¬
sten Einflüsse im Divan war so lange nicht möglich, als der alte Reschid lebte.
Heute kann man sagen, daß er im „besseren Sinne" dessen Stelle eingenom-
wen hat. Jener war im Anfang seiner Carriere nur ein aufrichtiger Reform-
minister gewesen. Was er damals erstrebt: die Türkei aus eine durchaus im
modernen Zeitgeiste und in dem der Cultur umgewandelte Grundlage zu
stellen, das hat Mehemmed Kiprisli getreu aufgenommen und zu seinem leiten¬
den Richtpunct gemacht; aber ohne bis jetzt in jene persönliche und wesent¬
lich intriguante Politik einzugehen, die Neschid so meisterhaft. zu handhaben
wußte, um seine eigensten Interessen zu befördern und zu vertheidigen.
Der heutige Großvezier war vor zehn Jahren Gesandter der Pforte in
London und Paris; er hatte in den beiden Hauptstädten seine Ausbildung
erhalten und namentlich mit französischem Wesen sich bekannt gemacht. Dar¬
nach ging er als Commandeur des Armeecorps von Arabistan nach Sy¬
rien, bekämpfte die Drusen, aus Anlaß der von ihnen verweigerten Rekruti-
rung, mit zweifelhaftem Erfolg und kam darnach als Generalgouvemeur nach
Adrianopel, von wo er gleich nach Ausbruch des Krieges als Marineminister
nach Constantinopel berufen, und darauf für einige Wochen Großvezier
wurde. Das ihm seitdem verbliebene Prädicat „Hoheit" stammt aus jenen
Tagen. Nachdem er das Präsidium des Divan niedergelegt, lebte er ab¬
wechselnd als Minister und ohne Amt. Er war mehrere Jahre hindurch
Präsident oder Mitglied des Tansimat-Conseils. Erst seine Ernennung zum
Großvezier im Frühjahr 18K0 scheint eine entscheidende Wirksamkeit für
ihn eröffnet und eine große staatsmännische Laufbahn ihm gesichert zu haben.
Es muß als sehr wichtig angesehen werden, daß er ganz im Gegensatz zu
seinem Großvezierat vom Herbst 1859. dessen man sich in Europa kaum noch
erinnern wird, in jener letztgewonnenen Stellung zum ersten Mal das Ver¬
trauen Englands und seines hiesigen Vertreters, des feinen und sehr gewand¬
ten Sir Henry Bulwer.fich erworben hat. Es war ein traditionell gewor¬
denes Urtheil des Lord Stratford de Redcliffe gewesen, daß Mehemmed Kiprisli
Pascha nur ein orientalischer Charlatan und als activer Staatsmann aus erster
und vorderster Linie schwer zu verwenden sei.
Die Besiegung dieses Vorurtheils war kein kleiner Gewinn und zum
größern Theil hat er ihr seine heutige Stellung, die besser wie jemals, wenn
auch eine immerhin eine noch bedrohte ist, zu danken. Wir sind nicht aus¬
reichend in die augenblickliche Lage der Dinge und die fremdmächtlichen Be¬
gehungen eingeweiht, um ein sicheres Urtheil über Mehemmed Kiprisli's Ver¬
hältniß zu Frankreich und zur hiesigen französischen Gesandtschaft nussprechen
^ können. Im Herbst 1859 scheinen diese Relationen ihm günstiger gewesen
^ sein, wie heute, wo sie allem Anschein nach etwas erkalteten. Man will
wissen, daß Frankreich gegenwärtig Risa Pascha seine Unterstützung zukommen
I"sse. und allerdings spricht Manches für diese Annahme. Jedenfalls wird Herr
von Lavalette, der hiesige französische Botschafter, nichts unterlassen haben, um
sich in die Verfassung zu seyen, dem den englischen Einflüssen zuneigenden Groß-
vezier einen energischen Krieg zu machen. Daß man aber in Paris ein be¬
sonderes Verlangen darnach haben sollte, solchen zum Ausbruch kommen zu
lassen, muß sehr bezweifelt werden. Als Lord Stratford von Constantinopel
abberufen wurde und damit seine langjährige und glanzvolle diplomatische
Carriere endete, geschah dieser Schritt seitens der britischen Regierung, allem
Anschein nach, auf Grund eines Abkommens mit Frankreich, und um eine
einige französisch-englische Politik im Orient zu ermöglichen. Wenn England
das große Opfer brachte, einen seiner geschicktesten und hier im Osten ohne
Zweifel das meiste Ansehen genießenden Unterhändler bei Seite zu schieben,
so geschah es jedenfalls nicht, ohne daß Frankreich auf demselben Puncte sich
zu einer Gegenleistung verpflichtete. Dieselbe bestand, wie man annehmen
darf, in sehr bestimmten Weisungen an den damaligen Ambassadeur Herrn
Thouvenel, sich dem englischen Botschafter gegenüber gefügig und nachgiebig
zu erweisen, und man hat allen Grund, anzunehmen, daß diese Jnstructionen sich
auf Herrn von Lavalette. seinen Nachfolger, übertragen haben. Diese Ver¬
hältnisse eben begründen die Garantie für Mehemmed Kiprisli Pascha, daß
seine Stellung von fremdmächtlicher Seite nicht angefochten werden wird.
Im Serail und dem in diesem vorherrschenden Einfluß Risa Paschas gegenüber
besitzt er allerdings nicht dieselbe Gewähr; aber die von dorther drohende
Gefahr ist durch die nicht abzuleugnende Verminderung von Nisas Ansehen,
gegenüber der europäischen Diplomatie und durch manche andere Umstände
wesentlich reduzirt worden. Wir meinen eben darum mit Recht an eine lange
Dauer des heutigen Vezierats, und in Folge dessen an eine der Pforte günstige,
nächste Zukunft glauben zu können, wenn nicht Verhältnisse ganz unberechen¬
barer Art eintreten, und von denen wir fürchten, daß sie an die Ereignisse
anknüpfen dürften, die in Venetien im kommenden Frühjahr ihren räum¬
lichen Mittelpunkt finden sollen.
Man rechnet darauf, daß im Monat März des kommenden Jahres ein
bedeutender Theil vom Betrage des türkischen Urlebens hier eingetroffen
sein wird. Um die Summen, welche alsdann zur Hand sein werden, wirklich
im bessern Sinne nutzbar zu machen, wird viel darauf ankommen, daß die
Neorgnnisativnspläne. mit denen der Großvezier sich beschäftigt, unmittelbar
ins Leben treten können. Es handelt sich um nichts Geringeres, als um einen
förmlichen Neubau des türkischen Staats, um eine Umwandlung der Regierungs-
maschinene, der Verwaltung des Heeres und der Flotte, um Anlage von
Chausseen und gangbaren Landwegen, von Kanälen, von Schulen, um
eins Reorganisation des Abgabenwesens u. s. w. Ob die Türkei lebensfähig
ist und als ein auf eigenen Füßen stehender Staat in der europäischen Staaten-
samilie eine dauernde Stelle finden kann, muß recht eigentlich erst durch
den Erfolg dieser Reformen bestätigt werden. Wir, unserer Seits. haben
die besten Hoffnungen, aber eine unfehlbare Garantie ist noch nirgends
An Aberglauben mangelt es unter den mecklenburgischen Bauern nich
und in vielen Gebräuchen und Meinungen klingen noch Reste des alten Heiden-
thums nach. An den Wodanscultus erinnert vor Allem die Sitte, die letzte
Garbe auf dem Felde stehen zu lassen, sie mit Bändern zu schmücken und sie
dem „Wode" mit den Worten zu weihen: „Wode, sale dinen Rosse nu
Voder, nu Distel un Dorn, tom andern Jahr beler Korn." Dieser Gebrauch
war im 17. Jahrhundert noch sehr verbreitet; jetzt sind hier und da nur noch
die Reime im Munde des Volkes. Anderwärts heißt die Garbe „de Ernte-
wod" oder „de Wulf" (der Wolf war Wodans heiliges Thier), wieder in an¬
dern Gegenden, z. B. an der preußischen Grenze, nennt man sie „de Otte".
Bei Ludwigslust führt die Binderin, welcher die letzte Garbe zu Theil wurde,
das ganze Jahr den Namen „de Wolf". Bei Parchim macht man aus der
Garbe eine Puppe, die man mit Bändern verziert und jubelnd auf dem letz¬
ten Erntewagen heimführt. Bei Rostock verbindet man mit diesem „Wolf" den
Begriff des Schadens. Die Magd, die hier die letzte Garbe band, muß die¬
selbe unter demMusruf „de Wulf" mit geschlossnen Augen hinterrücks von sich
werfen, sonst wird sie unfruchtbar. Im südöstlichen Landestheile ist die gleiche
Sitte auf die Kartoffelernte übertragen worden: wer hier die letzte Staude
dieser Frucht hat ausheben müssen, heißt „de Kantüffelwulf".
Andere Erinnerungen an den alten Gott knüpfen sich an die Weihnachtszeit.
In den Tagen vor den Zwölften geht er in der Gestalt des „Rugklas" unar¬
tige Kinder bestrafend umher und treibt er als der wilde Jäger Wode in den Lüften
sein Wesen. In den Zwölften ferner, der Zeit des alten Julfestes, darf man
keine Arbeit vornehmen, welche beschmutzt, nicht die Ställe reinigen, nicht
spinnen und waschen, keine Erbsen essen u. s. w. „Wer in den Zwölften
den Zaun bekleidet (Wäsche zum Trocknen darauf hängt), der muß noch in
dem Jahre den Kirchhof bekleiden." sagt der Bolksmund.
An Donar, den Blitz- und Feuergott. mahnen die sogenannten Nothfeuer,
mit denen der mecklenburgische Bauer früher sehr allgemein Viehseuchen, na¬
mentlich die Feucrkrankheit der Schweine zu curiren pflegte und die trotz
wiederholter Verbote noch jetzt vorkommen. „Wenn wir nicht irren," sagt
Fromm, „so wurde noch im Jahre 1856 auf einem Dorfe in der Nahe von
Ludmigslust ein Nothfeuer angezündet, weil die Schweine von der Feuer¬
krankheit befallen waren." Ein Augenzeuge erzählte den Hergang folgender¬
maßen. Am dunkeln Abend war die Bevölkerung auf einem freien Platze
zusammengekommen, nachdem im Dorfe alle Heerdfeuer und Stubenlichte aus¬
gelöscht worden. In die Erde rannte man einen trocknen eichnen Pfahl, um
welchen vermittelst eines Strickes ein Rad schnell und unaufhörlich gedreht
wurde. Nahe dabei wurde ein Scheiterhaufen von siebenerlei Holz aufgethürmt.
Einzelne hatten trockne Strohwische in den Händen, um die sich durch die
Reibung entwickelnden Funken aufzufangen und durch Schwingen im Winde
das Stroh in Brand zu setzen. „Nu" — sagte jener Augenzeuge — „ging
dat Dreien los; äwerst wi drcieten, dat de Hut von de Hannen gnug und
kriegten keen Füer. Un worum nich? Weil Herr Pastor to Hus wier un Licht
in de Stuw harr." Sobald man dies bemerkte, ließ man von dem Versuche
ab, in der festen Ueberzeugung, daß man kein Feuer erhalten werde, da sich
Licht im Dorfe befand. Aber am dritten Tage darauf, als der Pastor zufällig
verreist war. versammelten sich die Leute wieder, und „dat tuer keen Viertel-
stunn, so harren wi Füer". Die Seuche des hierauf mit vieler Mühe durch
den Rauch, nahe am Holzhavfen vorbcigctriebcncn Viehes soll sich sofort ver¬
loren haben.
Auch bei manchen sympathetischen Euren lebt uoch der Glaube an die
heilende Macht des Feuers, selbst der Asche von Eichenholz legt man solche
bei. Andere hierher gehörige Meinungen knüpfen sich an die sogenannten
Donnerkeile (Dunncrpiler), denen man übernatürliche Kräfte zuschreibt, und
an den Donnerstag, der jedes an ihm begonnene Werk gedeihen läßt, wo¬
gegen es für Umecht gilt, am Mittwoch, dem Tage Wodans, eine wichtige
Arbeit anzufangen.
An sehr vielen Orten ferner schöpft man noch Osterwasser, an andern hat
auch das Wasser der Johannisnacht heilende und verschönernde Kraft. Glaubt
man nur hier und dort noch an Hexen, so ist der Glaube an das „Vcrredcn"
und „Anthun" noch sehr allgemein. Oft ereignet es sich, daß ein böser Nach'
bar dem Bauer einen Nagel in den Trog schlägt, aus dem die Schweine
fressen, und so bewirkt, daß eines nach dem andern stirbt. Oft verredet >»a»
einem ein Kind oder Kalb, oft schadet der „böse Blick" einer alten Frau den
Bewohnern des Hauses. Häufiger indeß bewahren die Schutzmittel vor >ol-
chen Schaden, die der alte Glaube dagegen empfiehlt. Tadelt dem Baue»
jemand sein Kind, so sagt er „Steen un Been lau klagen", lobt es jemand
ohne „Gottlob " hinzuzufügen, so spricht der Vater für sich „Unverropen",
nennt er es ein Ding, so antwortet er, „Keen Ding, Gott sie Dank!" —
sonst wächst es nicht. Solche Regeln umgeben das Volksleben wie ein Zaun,
der den Garten vor Schaden bewahrt, so lange er keine Lücke hat. Dafür
muß der Mensch sorgen: er muß alle Gebräuche dieser Art im Gedächtniß
haben und befolgen; denn „wo de Tun am siedstcn is, dar is am lindester
äwerstiegen."
Die Sprache des Mecklenburgers ist reich an Kraftausdrücken, wißigen
Schlagworten und kernfrischcr Satire. Dagegen hört man ihn bei Weitem
nicht so viel fluchen wie den Süddeutschen und seinen Nachbar, den Holstci-
»er, der in diesem Gebiet ebenfalls Bedeutendes leistet. Man hört allerdings,
namentlich unter jüngern Leuten, Zorn oder Ungeduld sich in einem Fluch Luft
machen, aber man bleibt damit doch in den niedern Regionen, bei „Dunner-
werer", „Dummer um Hagel" oder „Düwel Stab", während die südlicher woh¬
nenden Deutschen mit ihren Anrufungen nicht hoch genug steigen können. Im
Allgemeinen schwerfällig und langsam, ist der Mecklenburger auch nicht leicht
in Harnisch zu bringen, aber einmal in die Hitze gejagt, ist der stille gelassene
Mann nicht wieder zu erkennen. In Berserkerwuth schlägt er mit der Zunge
und den Fäusten blindlings.um sich, schäumt und tobt und greift sogar nicht
selten zum Messer.
Ziemlich allgemein ist, wie allenthalben unter wenig cultivirten Völkern,
ein gutes Gedächtniß, und es gibt nicht wenige, welche die eben gehörte
Predigt fast wörtlich wiederholen können. Auch das musikalische Gedächtniß
ist durchschnittlich sehr stark. Das Volk übt sich neue Melodien leicht ein und
spielt sie dann entweder auf der sehr verbreiteten Harmonika nach oder pfeift
ste auf dem einfachern Instrumente, das jeder in seinen Lippen mit sich her¬
umträgt. An stillen Sommerabenden, wenn die Burschen und Mädchen auf
den Steinen vor der Hofthür sitzen, geht die Harmonika von Hand zu Hand,
und jeder trägt sein Leiblied mit großer Gewandtheit vor. Besonders beliebt
>It das Lied vom meernmschlungnen Schleswig-Holstein. welches nicht nur
spitzig gespielt und gepfiffen, sondern auch — bei Erntebieren und andern
"Kosten" leidenschaftlich getanzt wird.
In jedem Dorfe finden sich Personen, welche aus eignem Antriebe und
oft ohne Unterricht ein Instrument spielen lernen, ja der Verfasser unsrer
^christ kennt solche, die sich ihre Geige selbst verfertigten. Der vierzehnjäh¬
rige Bube beginnt damit, daß er den Baß streicht, und bringt sich dann all-
wahlig bis zur Violine empor. Ein Künstler wird er zwar nicht, doch lernt
er genug, um bei ländlichen Festlichkeiten zur Erhöhung des Vergnügens beitra¬
gen zu können. Bei dieser Neigung zur Musik ist es zu verwundern, daß das
Volk wenig singt, und daß es, wenn es nicht besondern Unterricht gehabt hat,
durchweg schlecht singt, z. B. in der Kirche. Das Sprichwort „der Sachse
singt nicht" ist zwar schon alt, aber es sagt nicht, weshalb er's nicht thut.
In den meisten Füllen ist das. was man Gesang nennt, nur ein Geschrei;
nur wenn des Abends bisweilen die Mädchen in den Dörfern ein Lied an¬
stimmen, hört man einige angenehme Töne.
Das gute Gedächtniß wird wenig benutzt, und so kann von eigentlicher
Bildung unter dem Volke nicht die Rede sein. Was man dahin rechnen
mag, beschränkt sich auf Lesen, etwas Schreiben und Rechnen. Vor wenigen
Jahren noch waren die Dorfschulen in Mecklenburg nur Bcaufsichtigungsan-
stalten; was die Kinder von Unterricht erhielten, war Zugabe, die denn auch
nach dem, was sie werth war, bezahlt wurde. Jetzt hat sich hierin mancher¬
lei besser gestaltet; fast überall wirken tüchtige Lehrer, und das Volk zeigt im
Allgemeinen Lust zum Lernen. Ob es bildsam ist, muß die Zukunft lehren,
verständig ist es jedenfalls. Viele literarische Größen hat es bis jetzt nicht
hervorgebracht, aber' alle spiegeln in ihren Schriften einen tüchtigen realisti¬
schen Kern ab. So der Wittenburger Christian Ludwig Liscow, der Som-
mcrsdorfer Johann Heinrich Voß und der Eichhorster Ludwig Kortüm, der
Verfasser der Jobsiade. So in neuester Zeit vor Allen Fritz Reuter. dessen
„Otte Kamelien" entschieden das beste Buch sind, weiches die neuerwachte
plattdeutsche Literatur hervorgebracht hat.
Was wir bisher von der geheimnißvollen Secte der Drusen wußten, die
durch die Ereignisse im Libanon wieder einmal die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich lenkte, beruhte im Wesentlichen auf den Mittheilungen, welche Syl¬
vester de Sacy in seinem „lüxposiz 6o ig, religion clss Oruses" nach einem
ihrer Religionsbücher gab, das als Beutestück in einem der letzten Kriege Me-
hemmed Alis nach Paris gekommen war. Das Folgende, eine Auswahl des
allgemein Interessanten aus dem Anhang zum ersten Bande des soeben erschien
neuen Reisewerks Professor Petermanns"), beansprucht insofern besondere Ve-
achiung, als es dem eigens für Petermann niedergesehriebenen Aufsah eines
gebildeten Arabers in Damaskus entnommen ist, der einst zu den Wissenden
der Drusen gehört, sich aber dann zum Protestantismus bekehrt hatte.
Ob der Bericht in allen Einzelnheiten vollen Glauben verdient, lassen wir
dahingestellt. Es fehlt darin nicht an Widersprüchen, aber jedenfalls gibt er
in vielen Stücken Veranlassung, die räthselhafte Secte günstiger zu beurtheilen,
als bisher geschehen, und da der Verfasser keinerlei Gründe gehabt zu baben
scheint, uns seine ehemaligen Glaubensgenossen in zu vortheilhnftem Lichte zu
zeigen, so werden wir annehmen dürfen, daß er mindestens in dieser Hinsicht
die Wahrheit niederschrieb.
Der Name Drusen ist von Mohammed Ed Derezi (Mohammed der
Schneider) abzuleiten, den man als ihren ersten Propheten anzusehen hat.
Sie selbst erkennen jenen nicht an, verschmähen daher den Namen Drusen und
»enner sich Einheitsbekcnner. Sie sind aus der Secte der Karmaticr hervor¬
gegangen, die sich in den Städten Hadschar und Suad El Kusa erhob, sich
zu Ende des dritten Jahrhunderts der Hedschra bis in die Gegend von Da¬
maskus verbreitete und von den abbasidischen Chalifen vielfach verfolgt wurde.
Einer dieser Secte. Obeid Allah, floh bei Eroberung der Stadt Selcmje, die
bei Haina lag, nach Afrika, wo er sich scheinbar zum Islam bekannte, sich
für einen Nachkommen Fatimcs, der Tochter des Propheten ausgab und in
Tunis eine Dynastie gründete, welche ihre Herrschaft über den größten Theil
Nordafrikas ausbreitete und mit Maadd. bekannt unter dem Namen El Melik
El Muizzedin. den Thron der Ehalifen in Aegypten bestieg, den sie als Fa¬
milie der Fatimiden mehre Jahrhunderte innehatte.
Unter dem Chalifen Hakim, mit seinem vollen Namen El Hallen Bcamr
J»ah Achmed Bau Nezar, versuchte der in dieser Herrscherfamilie fortlebende
Sectengeist seinen Glauben an die Stelle des Islam zu setzen. Im Jahre 407
H. trat einer der Diener Hullah, der erwähnte Mohammed Ed' Derezi
"uf. lehrte, daß der Chalif Gott in Menschengestalt sei und forderte vom Volke
die Anbetung desselben. Die Folge war ein Aufruhr, in welchem der Prophet
^schlagen wurde. Hüllen, in dessen Auftrag er ohne Zweifel gepredigt, stellte
sich erst, als ob er die Ermordung billige, ließ aber später die Mörder hin¬
richten, und schon im nächsten Jahre folgte jenem ein zweiter Prophet, der
die ?ehre von Hakims göttlicher Natur vortrug.
Es war dies Hamza Ihn Ali Bau Achmed, mit dem Beinamen El
Adschemi. d. i. der Perser. Derselbe wählte sich vier Gehilfen Namens Is¬
mail, Mohammed, Salama und Bchaeddin, die er seine vier Frauen oder in
Perbindung mit sich selbst die fünf Endpunkte der Verkündigung der Einheit
(Gottes) nannte. Auch sich selbst legte er verschiedene hochtlingcnde Namen
bei. wie: die allgemeine Vernunft, der Mittelpunkt, der Imam, der Führer
der Gehorchenden, der Messias der Völker, Iefsu (Jesus), der Hermes der
Hcrmesse, der Verbundene, d. i. der in steter Verbindung mit dem Gotte Ha-
kim Stehende u. a in. Auszer jenen vier Haupijüngcrn, von denen Ismail
der Schwager Hamzas, den Drusen als der vornehmste gilt, wählte sich Hamza
noch 159 andere Gehilfen, von denen er einige als Glaubensboten, andere
als Vorsteher, noch andere als Hausnachbarn bezeichnete. Wie durch Predigt
wirkten Hamza und seine Gefährten auch durch Abhandlungen, deren die Secte
111 besitzt. Die Drusen nennen diese Schriften „die Sitzungen der Herrscher
und ihrer Gelehrten", und dieselben sind jetzt in sechs Bücher zusammengefaßt,
die man theils nach dem ersten der darin enthaltenen Tractate. theils nach
einem andern benennt. Das erste Buch heißt das Diplom, das zweite die
Widerlegung oder die Vernichtung (wörtlich: Kopfwunde), das dritte die Er¬
weckung, das vierte der erste der sieben Theile, das fünfte die Treppe, das
sechste endlich die Vorwürfe. Im Jahre 1817 n. Chr. gelangten die Drusen
noch in den Besitz eines siebenten, acht Abhandlungen enthaltenden Buches,
welches sie von einem Christen, der es in einer ägyptischen Schule gefunden,
erhielten, und das von ihnen das Buch der Griechen genannt wird.
Der Gegenstand dieser Abhandlungen ist verschieden: einige behandeln
die Glaubenssätze, andere polemisiren gegen die Mohammedaner, die Juden,
die Christen, wieder andere vertheidigen die Laster Hakims. denen sie weise
Absichten und geheimnißvolle Winke unterlegen; einige geben nur die Anreden,
mit, denen Hamza seinen Gefährten Aemter .verlieh, die meisten bestehen in
dunkeln Andeutungen, Räthseln und Spielereien mit Worten und Buchstaben.
Während die Lehre Hamza's in Kcchira wenig Anklang gefunden zu haben
scheint, (es wäre auch zu verwundern gewesen, da der Gott Hakim eines der
blutdürstigsten Ungeheuer der Geschichte und in allen seinen Neigungen ein
sarazenischer Nero war) machte die neue Religion in Syrien rasche Fortschritte.
Die Predigt der Boten Hamza's überzeugte zuerst die Emire vom Geschlecht
Tenuch, welche den westlichen Libanon beherrschten, verbreitete sich dann in die
Gegend von Raschen und die Provinz Bellan, östlich vom großen Herum»,
und unterwarf sich im Verlauf von drei Jahren das ganze Gebirge mit Ein-
Schluß des Antilibanon oder Wadi Et Teiin. Daheim in Aegypten nahm die
Sache einen andern Gang. Die wüste Ketzerei Hakims empörte die Recht¬
gläubigen, seine unerhörte Grausamkeit das ganze Volk. Sitt El Mull, die
eigne Schwester des tyrannischen Mystikers, stellte sich an die Spitze der Mi߬
vergnügten und ließ ihn, als er seiner Gewohnheit gemäß eines Abends ans
seinem weißen Esel nach dem Mokattamberg geritten, von vertrauten Männern
ermorden. Nachdem sie ihn mit Dolchstichen getödtet. zogen sie ihm die Kleider
ans, die sie sorgfältig wieder zuknöpften, während sie den Leichnam verbargen.
Das Zuknöpfen der Kleider scheint auf Befehl der Schwester stattgefunden zu
haben, welche den Glauben an die Gottheit des Bruders erhalten wissen
wollte. Wenigstens sagte man, als der Chalif nicht wiederkehrte und die nach
ihm Ausgefärbten die Kleider in diesem Zustande ohne den Körper fanden,
Hakim habe sich nur unsichtbar gemacht, um die Seinen zu prüfen und die
Abtrünnigen unter ihnen bei seiner Wiederkehr strafen zu können. Um dieses
Wunder zu erklären, sagen die Drusen, daß Hakim einen Leib von feinerer
Substanz als der menschliche Körper gehabt, der aus seiner Hülle verschwinden
konnte, ohne sie aufzuknöpfen und zu zerreißen. Er war, wie es im Koran
heißt: „gleich dem trügerischen Wasscrschein, den der Durstige für Gewässer
hält, wenn er aber dahin kommt, findet er nichts, aber Gott findet er bei sich."
Daß Dolchstiche an den Kleidern sichtbar waren, wird von den Drusen nicht
in Abrede gestellt, aber als ein mysteriöses Zeichen gewisser Absichten ihres
Gottes angesehen.
Hakim hinterließ zwei Söhne, aber dieselben wurden von der Secte nicht
als seine Kinder anerkannt. Man erzählt, daß der eine derselben, der dem
Vater in der Chalifenwürde folgte. Ali Eß Ssahir. zu Hamza gesagt habe:
„Verehre mich wie Ihr meinen Vater verehrt habt." jener aber habe erwidert:
„Unser Herr, der gepriesen sei, hat weder gezeugt noch ist er gezeugt worden."
Ali entgegnete: „Also bin ich und mein Bruder Mohammed unehelich?"'Hamza
sprach: „Du hast es gesagt und gegen dich selbst Zeugniß abgelegt." Dadurch
in Wuth versetzt, befahl Ali die Ermordung der Unitarier. Wie viel davon
wahr ist, wissen wir nicht. Sicher ist, daß Ali Eß Ssahir, um das durch die
Tyrannei seines Vaters schwer bedrängte und erbitterte Volk für sich zu gewin¬
nen, die etwaigen Hoffnungen auf göttliche Verehrung aufgab und sich von
der Lehre Hcnnzas abwendend den Befehl ertheilte, jedermann solle zum Js-
zurückkehren. Die, welche bei der Secte verblieben, wurden entweder
ttetödtet oder flohen zu ihren Glaubensgenossen nach Syrien, wo sie sich meist
'w Antilibanon niederließen.
Wir wenden uns jetzt zu den Glaubenssätzen der Drüsen. die bei näherer
Vetrachtung als ein Gemisch von Philosophemen der Neuplatoniker. von An¬
fängen ein die Gnostiker, an den Islam und an die Meinungen der Bateni-
den-Secte erscheinen. Die Sittenlehre der Drusen feste Anfangs, d. h. so
lange Hakim lebte, die vollkommene Immoralität auf den Thron. Es scheint,
daß damals in dieser Beziehung dasselbe vorgetragen wurde, was noch jetzt
als Princip für ihren Glauben gilt. Wie dieses dahin geht, das für wahr
zu halten, was andere Religionen lüugnen, so scheint die Ethik der Drusen
anfänglich darin bestanden zu haben, das als gut zu gebieten, was andere
Glaubensgenossenschaften als böse untersagten. Die Verfolgung wirkte dann
läuternd, und Behaeddin, der jüngste von den fünf „Endpunkten", welcher
die andern überlebte, schrieb mehre, im Buch der Vorwürfe enthaltene Ab¬
handlungen, in denen er die Lehren Mohammed Ed Derezis und der ersten
Missionäre Ihr El Berberije und solam als schändlich verurtheilte.
Ihren noch jetzt anerkannten Glaubensartikeln zufolge glauben die Drusen
zunächst an einen einigen ewigen und vollkommenen Gott. Dieser schuf im
Anfang das Licht und die Finsterniß. Das Licht war die allgemeine Ver¬
nunft, seine Menschwerdung und sein Prophet Hamza Bau Ali Ben Achmed,
der Führer der Gehorchenden. Die Finsterniß war der sprechende Geist,
Ibus, d. i. der Teufel, und seine Menschwerdung und sein Prophet war
Mohammed, der Stifter des Islam. Aus dem Lichte Hamzas wurden vier
Geister, die obenerwähnten „vier Endpunkte der Einheitslehre" erzeugt, deren
größter Ismail ist. Ebenso entsprangen aus der Finsterniß Mohammeds
seine vier Gefährten Abu Bekr, Omar, Othman und Ali Ihr Adi Talch.
welcher letztere den Drusen als der vornehmste gilt und deshalb als der
Asas (Grundstein) oder auch als der Satan bezeichnet wird. So standen
vier Endpunkte der wahren Lehre vier Endpunkten der Irrlehre und der
Sprechende der allgemeinen Vernunft gegenüber, Gott aber blieb allein,
getrennt von seinen Geschöpfen. Sein Wesen mit den Sinnen des mensch¬
lichen Körpers zu erfassen ist unmöglich. Hätte er sich seinen Creaturen
nicht offenbart, so würden sie keinen Beweis für seine Existenz haben.
Zufolge seiner Gerechtigkeit aber hat er sich ihnen zu verschiedenen Zeiten
kundgegeben, wenn auch in einem Schleier der Körperlichkeit. Dieser Schleier
muß von dem edelsten seiner Geschöpfe sein, und darum erschien er ihnen
zum letzten Mal in der Gestalt Hakims. welcher ein großer König war.
„Denn wer Männer beherrscht, hat," wie die Drüsen sagen, „den Verstand
von allen, und Hakim war Herrscher über viele Tausende, hatte also anch
den Verstand vieler Tausende."
Die Welt wurde nicht in sechs Tagen oder Epochen, sondern auf einen
Ruck erschaffen. Ebenso traten die Menschen auf einmal und nicht durch Ab¬
stammung von einem Vater ins Leben. Die Zahl der menschlichen Seelen
ist von Anfang an bis jetzt die gleiche geblieben, sie vermehrt sich nicht und
nimmt nicht ab, jedesmal, wenn ein Mensch stirbt, geht seine Seele in ein
neugebornes Kind über. Dieser Vorgang wird von ihnen als Trennung,
als Schöpfung oder auch als Umkleidung bezeichnet. Sie sagen: „Wie das
Hemde das Kleid des Körpers ist, welches abgenutzt und dann mit einem
neuen vertauscht wird, so ist der Körper das Kleid der Seele, er wird eben¬
falls abgenutzt und mit einem neuen vertauscht." Anderswo vergleichen sie
die Seele mit einer Flüssigkeit, die eines Gefäßes bedarf, sie zusammenzu¬
halten; z-rbricht dieses, so muß die Flüssigkeit von einem andern Gefäß auf¬
genommen werden, damit sie nicht verloren gehe.
Die Menschheit ist nach den Drusen unendlich viel älter als nach bibli¬
scher Angabe. Sie hat bis jetzt 70 Zeitalter gelebt, jedes zu 70 Perioden
gerechnet, von denen wieder jede 700.000 Jahre hatte, sodaß von Erschaffung
der Menschen, denen beiläufig in den Dschinn, den Birn, den Nimm und
Timm andere Erdbewohner vorausgingen, bis zur Erscheinung Gottes in
Hakims Gestalt nicht weniger als 3,430,000,000 Jahre verflossen waren.
Hakims Auftreten siel in das Ende der körperlichen Welt. Die Zeit von
da an bis jetzt gehört zur Periode der Auferstehung, die von den Drusen
(wie von den Latterday-Saints und andern ähnlichen Secten) in Bälde er¬
wartet wird.
Gott ist aber seinen Verehrern nicht blos in Hakim, sondern in jedem
der 70 Zeitalter erschienen, und ebenso offenbarten sich die „Endpunkte" des
Achtes und der Finsterniß in jedem Zeitalter. Aber nur zehnmal wurden
diese Offenbarungen, die sie als Stationen bezeichnen, ihnen bekannt. Das
erste Mal erschien der Erhabne in der Stadt Hadschar und zwar in Gestalt
eines Vermicthers von tausend Kameelen. „Nach Ansicht der Drusen war also",
bemerkt der Witz unseres Exdrusen, „in seiner damaligen Erscheinung sein
Verstand dem Verstände von den tausend Kameelen, die er beherrschte, gleich."
Daraufgab er sich in der Person von Elbar, dann als Mulli, Ali, Abu Zakarija,
Mansur, Muizz, Kaim, Aziz. endlich als Hakim Bcamrihi (Richter durch sei¬
nen eignen Befehl; so nennen ihn die Drusen statt Hakim Beamr Ilias,
Richter durch den Befehl Gottes, wie er eigentlich hieß), mit dessen Körper
bekleidet er in der Auferstehung wiederkommen wird.
Die „Endpunkte" traten, wie bemerkt, ebenfalls schon in sehr früher Zeit
auf. doch werden immer nur die von den fünfen des Lichts und den fünfen
der Finsterniß genannt, welche hier Mohammed und seinem Hauptjünger Ali.
^re Hamza und seinem vornehmsten Gefährten Ismail entsprechen. Die
erste Verkörperung der Finsterniß, des Nadel oder sprechenden Geistes, des Ib>
l's war der, den die Andersgläubigen Adam, den Stammvater der Menschen
nennen. Er war aber nicht aus Erde geschaffen, sondern der Sohn Termachs.
"ud hieß nicht Adam, sondern Harald. Sein Asas oder Hauptjünger war
sehn (Seid). Die erste Verkörperung des Lichts oder der allgemeinen Ver-
nunft war Schatnil. der Weise, Sohn Damils. Gott befahl Haretl), dem
Schatnil seine Verehrung zu bezeigen, und da dieser sich weigerte, vertrieb
er ihn aus dem Paradiese, d. h. nahm er ihm die Erkenntniß seiner Einheit.
Denn die Drusen glauben, daß das Paradies ihre Einheitslehre, die Hölle
die Verehrung des Nichts, d. h. eines unsichtbaren Gottes ist.
Der Geist Hareths wanderte später in Ruch (Noah). der Geist seines
Hauptgesährten sehn in Sam (Sem), dann kamen sie in Ibrahim (Abraham)
und Ismail, darauf in Musa (Moses) und Harun (Aaron), dann in Isa
(Jesus) und Petrus, nachher in Mohammed und Ali. endlich in Said und
Kaddah wieder. In gleicher Weise machte der Geist Schatniis seine Wan¬
derungen. Zur Zeit des Moses war er in Jethro, dem midianitischen Pre>
ster. den die Drusen Schoaib nennen. Zur Zeit der griechischen Philosophen,
die sämmtlich als Verkörperungen der fünf Endpunkte der Einheitslehre gelten,
lebte er in Aeskulap und Pythagoras. Zur Zeit Jesu redete er aus Jessu,
der (Aehnliches lehrt der Koran) von Isa verschieden und der wahre Messias
ist. Die Geister der vier „Frauen" Hamzas waren in den vier Evangelisten
Matthäus, Markus. Lukas und Johannes; letzterer war von Johannes dem
Täufer nicht verschieden und wird von den Drusen auch Chrysostomus genannt.
Zur Zeit der Gründung des Islam endlich wohnte die Seele Schatnils (die
später bei Hakims Auftreten Hamzas Körper anzog, in Selman dem Perser
und die Seelen der vier Mit-Endpunkte oder Frauen in dessen vier Gefährten:
El Mekdad. Abu Dsarr El Ghaffari. Ammar Ben Jäher und En Nedschaschi.
Die Drusen nehmen eine Art von Dreieinigkeit an. Gott hat nach
ihnen einen Namen, ein Geräumtes, d. h. Bestimmtes und eine Bedeutung,
d. h. Realität. Der Name Gottes ist Ismail, die „universelle Seele", das
Genannte, womit man sein Inneres bezeichnet, ist Hamza, die „allgemeine
Vernunft", die Bedeutung oder Realität endlich Hakim Beamrihi.
Hamza ist nicht blos ein gottgesandter Prophet, sondern „die Ursache
der Ursachen", der „geschaffne Schöpfer", der „empfangende Geber". Er hat
völlige Macht über alles Seiende wie Gott, nur daß er geschaffen ist. Gott
der Erhabne, Hakim Beamrihi, ist „der, welcher die Ursache der Ursachen ver¬
ursacht", er ist fern von aller Action und hat sie von Ewigkeit in die Hand
des Schatnil-Hamza gelegt, „welchem die Rechenschaft, die Belohnung und
Bestrafung, die Vertheilung der Bedürfnisse und die Bestimmung des Todes
obliegt, mit Ausnahme dessen, was von dem Wesen des erhabenen Schöpfers
allein abhängt."
Der Hauptsatz, den Hamza seiner Lehre zu Grunde legt, ist, wie schon
bemerkt: der echte Gläubige müsse für wahr halten, was die Uebrigen leugnen-
Er sagt in seiner Abhandlung: „Die Rechtfertigung und die Verwarnung"
unter Anderm: „Das Beste, was für das zukünftige Leben erlangt wird, und
was man sich als Reisegeld für die Rettung der Seelen bereitet, ist das Stre¬
ben nach der rechten Verbindung mit Gott und dem rechten Glauben, und
das Festhalten an dem, was die übrigen Secten in Abrede stellen. Mir aber
hat der Gepriesene offenbart, daß die besten von Euch und die Auserwählten
auferstehen werden mit diesem Beweis gegen das Voll des Abfalls."
AIs Hauptpflichten der Bekenner der Einheitslehre stellte Hamza den sieben
Geboten des Islam gegenüber folgende auf: Wahrheit der Zunge, Unterstützung
der Brüder. Verlassen dessen, was sie hatten und glaubten von der Verehrung
des Nichts und der Lüge, Lossagung von den Teufeln und der Gottlosigkeit,
Bekenntniß der Einheit ihres Herrn (Hakims) zu jeder Zeit, Wohlgefallen an
seinem Thun, wie es auch gewesen. Ergebung in seinen Befehl im Glück und
Unglück. Das Fasten gilt für eine wohlthätige Observanz, indem es die Be¬
gierden des Fleisches schwächt. Sünde aber ist es, im Namadhan zu fasten,
da dies eine Satzung des Ibus ist.
Die Drusen glauben, daß es für die religiöse Wahrheit Zeiten der Ent-
hüllung, wo ihre Offenbarung nöthig sei. und Zeiten der Verhüllung gebe,
wo sie verborgen gehalten werden müsse. Zur Zeit Hakims fand die letzte
Enthüllung statt: die Aufforderung, ihn zu verehren war über die ganze
Erde verbreitet, wer glaubte, wurde unter die Erlöstes, wer nicht glaubte,
unter die Verdammten geschrieben. Nachdem Hakim verschwunden, sich
vor den Menschen wieder verhüllt, hörte die Gelegenheit, Unter die Gläu¬
bigen zu gelangen, für immer auf. das Glaubensthor wurde verschlossen, und wenn
jetzt ein Mensch stirbt, so'wird er stets in dem Glauben wieder geboren, den er
zuerst bekannte, gleichviel ob er in der letzten Zeit seines Lebens die Bücher
der Drusen kennen gelernt und sich zur Religion der Einheitsbekenner bekehrt
hat. Dieser Ansicht gemäß gestatten sie jetzt, in der Zeit der Verhüllung, keinem
den Uebertritt zu ihrem Glauben.
Unter sich theilen sich die Drusen in Wissende und Unwissende. Ein
Wissender ist. wer nach ihrem Gesetz, ein Unwissender, wer dawider handelt.
v»n letzteren hoffen sie indeß, daß er während seines Lebens in Buße zurück¬
kehre. Stirbt er als Unwissender, so ist nach seiner Wiedergeburt eine Um¬
kehr nicht mehr möglich, sondern in jedem Wechsel seines Körpers wird er im
Zustand der Unwissenheit sterben. Betritt ein Unwissender den Weg des
Wissens, so schreiben sie ihm darüber eine Bescheinigung, die sie „Vertrag
des Oberhauptes der Zeit" nennen. Sie glauben, daß Hamza die Verträge,
d'e er mit den durch seine Predigt Bekehrten geschlossen hatte, in den ägyp¬
tischen Pyramiden aufbewahrte, um nach seiner Rückkehr bei der Aufer¬
stehung jenen den Inhalt derselben abfragen zu können. Anderwärts
liest man. daß jeder Unwissende, der zum Wissenden wird, sei es auch
"se kurz vor seinem Tode, schon in einem frühern Leben ein Wissender war
und nur wegen eines Vergehens von Hamza auf einige Zeit in den Zustand
der Unwissenden verseht wurde. Ueberhaupt sind alle, welche in diesem Leben
Unglück haben, arm, gebrechlich, blind u. s. w. sind, darin Büßer für Sün¬
den in einem frühern Leben, und umgekehrt alle Reichen, Klugen und Mäch¬
tigen Empfänger der Belohnungen, die sie sich in einer vorhergehenden Da-
scinsepoche verdient haben. Indeß geht nur der, dem die Wissenden bei
seinem Tode seine Tugend bezeugen, im Glück aus dem Leben, und deshalb
versammeln sich die Wissenden, wenn einer stirbt, an dem Grabe, gehen seine
Vergangenheit durch und urtheilen, ob er der Gnade würdig oder nicht.
Das Evangelium und der Koran gelten den Drusen bis zu einem ge¬
wissen Grad als Glaubensnorm. Sie nehmen an, daß Hamza unter dem
Namen Jessu bei Jsa (dem falschen Jesus) und unter dem Namen Selman
bei Mohammed war und mit seinen vier Gefährten (den Evangelisten) das
neue Testament, mit Mekdad, Abudsarr, Ammar und Nedschaschi den Koran
schrieb. Später aber sei jenes wie dieser verfälscht worden, sodaß nur wenige
Sätze noch die Wahrheit enthalten und es auch bei diesem der Interpretation
bedürfe, um sie zu finden. Welcher Art die drusische Exegese ist, mögen einige
Beispiele zeigen. Die Frage der Apostel, ob der Blinde seine Blindheit der
eignen Sünde oder der seiner Eltern verdanke, beweist, da jener blind geboren
war, daß er vor diesem Leben gesündigt haben konnte, und damit lehrt das
Evangelium die Seelenwanderung. Dieß wird auch dadurch bestätigt, daß
der Messias (d. i. Hamza als Jessu) im Matthäusevangelium sagt „Johannes
ist Elias", welches.bedeutet, Johannes ist die mit einem andern Körper be¬
kleidete Seele des Propheten Elias. Ferner deuten sie den Spruch: „Hütet
euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, in¬
wendig aber sind sie reißende Wölfe" auf die christlichen Mönche und Geist¬
lichen, die schafwollnc Kleider tragen. Sodann erklären sie die Stelle im
Koran, wo es heißt: „Siehe, Wein, Loose, Bilderund Wcissagungspfeile sind
ein Gräuel von den Werken des Satans, daher vermeidet solche" dahin, daß
mit jenen vier Gegenständen die erwähnten vier Nachfolger Mohammeds:
Abu Bekr, Omar. Othman und Ali gemeint seien. Endlich kommen im Ko¬
ran häufig die Worte vor „das Schlechte und das Mißfällige", und damit
sind nach drusischer Jnterpretirkunst wieder Abu Bekr und Omar bezeichnet.
Man wirst den Drusen vor, daß sie das Kalb anbeten, den Ehebruch er¬
lauben, die Ehe eines Mannes mit seiner Schwester oder Tochter gestatten.
Dieß alles erklärt unser Berichterstatter für Mißverständniß oder Erdichtung-
Das Kalb ist den Drusen der Nadel. der sprechende Geist der Finsterniß. Die
Ehe ist bei ihnen erst im vierten Grade gestattet, d. h. mit der Tochter des
Oheims oder der Tante. Jene falsche Anklage rührt von den in mehren ihrer
Lehren von den Rechten der Gattin vorkommenden metaphorisch zu nehmen-
den Worten her: „Wenn sich der Glaubte mit seiner gläubigen Schwester
vermählt." Die äußere Stellung der Gatten soll gleich sein, eines soll eine
Wissende keinen Nichtwissenden heirathen; wo eine Ausnahme vorkommt, spricht
die Frau nie mit ihrem Manne über religiöse Angelegenheiten und verbirgt
ihre Bücher vor ihm in' einer verschlossenen Kiste. Die drusischen Frauen ge¬
hören größtentheils zu den Wissenden und haben überhaupt eine weit bessere
Stellung als die der übrigen Orientalen. Sie können fast alle lesen und
schreiben. Nie zeigen sie, einem Fremden begegnend, von ihrem Gesicht mehr
als das eine Auge und die Wange darunter, und ihre Rede wie ihr Betrage»
ist im hohen Grade liebenswürdig, sittsam und züchtig. In den Versamm¬
lungen der Männer ziemt es sich nicht, der Frauen zu gedenken; muß es ge¬
schehen, so hat der Sprechende solche Worte vorauszuschicken, welche bei den
Arabern gebraucht werden, wenn sie genöthigt sind, Dinge in den Mund zu
nehmen, deren Erwähnung für unschicklich gilt. z. B. Kloaken und Leichname.
Will ein Druse gegen einen Andern von einer Fron reden, so sagt er: „Gott
zeichne Euch aus, die N. N."; doch sind davon die Mutter, die Großmutter
und die Schwester des Baders oder der Mutter ausgenommen, von denen man
zu denen, die gleichen Ranges sind: „Die für Dich betet, meine Mutter"
u. s. w., zu Höherstehenden aber: „Deine Magd, meine Mutter" u. f. w.
sagt. Die Drusen gestatten keine Vielweiberei, und die Scheidung ist zwar
erlaubt, doch darf eine Geschiedene nicht wieder zu ihrem Manne zurückkehren.
Beide Gatten haben gleiche Rechte. Erfolgt eine Trennung, weil der
Mann sich gegen die Iran vergangen hat, so hat sie die Hälfte seines Ver¬
mögens zu beanspruchen; hat sie Veranlassung zur Scheidung gegeben, so
darf er die Hälfte ihrer Habe nehmen. In der Ehe hat der Mann Alles mit
Kiner Gattin zu theilen, er darf ihr keine zu schwere Arbeit aufbürden und
">uß ihr Ruhe und Muße zum Gottesdienst lassen. Ein Druse soll ferner
mit seiner Frau nur einmal im Monat geschlechtlichen Verkehr haben.
Während der Schwangerschaft und der darauf folgenden zwei Jahre des
Stillens darf er sie gar nicht berühren. Hat ein Reicher schon vier, ein Ar¬
mer zwei Söhne, so muß er sich von dieser Zeit an für sein ganzes übriges
Leben von seiner Frau fern halten, „auf daß sie nicht in Noth gerathen und
Muße haben zum Gottesdienst." Halten sich manche nicht an diese Bestimmungen
idie einem Commentar des Emirs Sejd Abdullah Et Tenuchi zu Hamzas
Schrift über die Ehe der Einheitsbekenner entnommen sind) so liegt darin kein
Tadel, sondern eine Uebertretung ihres Gesetzes.
Der Druse lebt überhaupt in Speise, Trank und Kleidung sehr mäßig
u»d einfach. Der Wissende raucht niemals, schnupft sehr selten und trinkt
weder Wein noch andere berauschende Getränke. Das Weintunken war ihnen
bis aus jenen Emir Sejd erlaubt. Da aber sandte dieser einen seiner Schüler,
den Ihr Sebae nach Aegypten. Dieser las. was an der Mauer der Moschee
des Hakim in Kahira geschrieben stand, und fand, daß Hakim die Trauben
Masrs abgeschnitten habe, um das Keltern derselben zu verhindern. Darauf
verbot der Emir den Weingenuß, und man gehorchte seinem Befehl, weil er
für die Wiedergeburt eines der Apostel Hamzas, des Nasr Ihr Fetuch galt
und in dieser Eigenschaft sich hohen Ansehens erfreute.
Man hat beobachtet, daß besonders fromme Drusen sich Jahre laug des
Essens vou Fleisch und frischem Obst enthielten und sich die ganze Zeit über mit
trocknem Brot und Rosinen begnügten. Der Bart wird niemals rasirt. da
seine Pflege zu den Gesetzen der Vollkommenheit gehört. Kein Wissender
trägt seidne oder bunte Kleider. Früher zeichneten sich die Wissenden dadurch
vor den andern aus, daß sie den Kopf mit einer Takije von rothem Tuch be¬
deckten und darum ein weißes Tuch korbartig wickelten, welches sie Tabije
nannten. Jetzt wird diese Kopfbedeckung nur noch von ihren Einsiedlern ge¬
tragen. Die Uebrigen bedienen sich des gewöhnlichen Tarbusch, um den sie
den weißbaumwollnen Turban winden. Nur die schwarz- oder blauseidne
Troddel, die am Tarbusch zu sein pflegt, wird abgeschnitten. Die Kleidung
der Drusen wird nur aus vaumwollnen oder leinenen Stoffen gemacht. Sie
besteht aus einem Hemd und Beinkleidern, einem Kuubaz (Kaftan), der ent¬
weder weiß oder schwarz ist und um die Hüften durch einen Gürtel von
weißer Baumwolle zusammengehalten wird, endlich einem kurzen engen Rock,
dessen Aermel schwarz und weiß gestreift sind. Bei feierlichen Gelegenheiten
zieht man darüber noch einen schwarzen Mantel und steckt die Füße in Schna-
belschuhe von rothem Saffian.
Die Frauen tragen Hemd, Beinkleider und Kunbaz wie die Männer.
Jedes einzelne Stück davon ist einfarbig, weiß, schwarz, grün, blau oder violett,
niemals roth oder gelb. Den Kopf bedecken sie mit einer Tusa, d. h. einer
Mütze, die, etwa einen Fuß hoch und mit Blech überzogen, Aehnlichkeit mit den
Mützen der Grenadiere Friedrichs des Großen hat. und über welche der laug
auf den Rücken herabhängende weißbaumwollene Schleier gezogen ist. Wenn
sie sich in die Versammlungen begeben, kleiden sie sich in Röcke von schwarzem
geglätteten Baumwollenstoff. Von Schmuck sieht man an ihnen nur grobe
Armspangen von Silber oder Messing und die aus drei violettseidnen Schnü¬
ren bestehende Flechte, in welche sie ihr Haar binden. Am Ende jeder Schnur
befindet sich ein Büschel dünner Fäden, die in einem silbernen Kügelchen ver¬
einigt sind.
Das Kloster- und Einsiedlerleben der Christen findet unter den Drusen
sein Seitenstück. Die Enthaltsamen unter den Wissenden, weiche sie die „Aus¬
gezeichnetsten" (arab. Edschauid) nennen, bauen sich in einiger Entfernung von
den Ortschaften, gewöhnlich auf Anhöhen Andachtsorte, wo sie die meiste Zeit
ihres Lebens Tag und Nacht zubringen. Man heißt diese Häuser Einsiedeleien.
Doch befinden sich oft mehre derselben beisammen, und dann wählen die Be¬
wohner dieses Einsiedlerdorses einen von sich zum Schech. Die berühmteste
dieser Einsiedleien (Chalwe, xlur. Chalawat) ist die auf einem Berge bei
Chasbaya gelegene Bajjada, die einst über 60 Einsiedlerwohnungen hatte,
aber 1838 von dem Heere Ibrahim Paschas zerstört wurde. Die Chalawat
stehen in hoher Verehrung unter den Drusen, und jeder von ihnen ausgehende
Befehl wird von dem Volke gehorsam befolgt. Gehen die Frommen auf
Reisen, so machen sie den Weg. um sich zu casicien, meist zu Fuß; nur wenn ihr
Ziel sehr entfernt ist, reiten sie, aber um ihre Demuth zu zeigen, blos auf einer
Eselin und zwar meist auf einer solchen von weißer Farbe, wie Hakim sie liebte.
Die Drusen haben oft Ueberfälle der neben ihnen wohnenden Anders¬
gläubigen ausgeführt und dabei vielfach fremdes Gut geraubt. Eigentlich aber ist
ihnen der Gebrauch fremden Eigenthums verboten. Auch essen sie. wenn sie
zu den Frommen gehören, nicht in den Häusern von Richtern, Wucherern und
Zöllnern oder bei christlichen Geistlichen, „weil diese das Vermögen der Todten
an sich reißen." ja sie lassen nicht einmal ihre Thiere bei den Genannten füt¬
tern. Ferner ist ihnen nicht gestattet, nothwendige Dinge, wie Speise und
Kleider, für Geld zu kaufen, das sie von jenen bekommen haben. Sie ver¬
wenden daher solches Geld in der Regel für Dinge, die nicht unbedingt Be¬
dürfniß sind, als Seife, Färberlohn u. s. w.. oder zur Bezahlung der Steuern
und Strafgelder. Am liebsten aber vertauschen sie es bei einem Kaufmann
gegen gleiches Geld und verwenden dann die erlaubte Münze auf den Ein¬
kauf ihrer Bedürfnisse.
Hat einer von den Drusen ein Verbrechen begangen, so ist die größte
Strafe, daß sie ihn mit dem Bann belegen, wo keiner der Okkals (Wissenden
oder Eingeweihten) mit ihm essen darf. Die Vornehmen, welche Fremde bei
sich aufnehmen, führen in ihren Häusern doppelte Casse, für erlaubte Ausgaben
d. h. für das. was sie den Okkals vorsetzen, und für unerlaubte, d. h. für
das. was sie Andern reichen. Die Rede der Drusen ist stets voll Würde und
Anstand, nie geht aus ihrem Munde ein thörichtes, grobes oder unfläthiges
Wort, nie ein Fluch oder Schwur. Stets zeigen sie Achtung gegen den, mit
dem sie sprechen, selbst wenn er ihr Feind ist, auch beweisen sie Trauer und
Mitleid über das Unglück Anderer. Doch ist dies nur Ausfluß ihrer guten
Natur. Ihre Neligionsbücher wollen eine andere Denkart. Unter den 72 Hand¬
lungen, welche von der Einheitsreligion ausschließen, wird da auch die auf¬
führt, daß ein Gläubiger das Unglück eines „Schwarzen" d. i. Andersgläu¬
bigen als unverdient bedauert, ferner die, daß man zugibt, ein solcher könne
^''» guter Mensch sein, daß man ihn vor einer drohenden Gefahr warnt, daß
'"an ihm Liebe und Hochachtung bezeugt u. f. w.
Unter den sieben Hauptgebotcn Hamza's findet sich auch das der Wahr¬
haftigkeit; doch gilt dies nur gegen die Gläubigen und durchaus nicht da, wo
es mit dem Gebot, die Brüder zu schützen und zu unterstützen in Conflict ge¬
räth. Selbst gegen die Nichtwissenden unter ihnen (die sehr gering geachtet
werden, die ihre Bücher nicht lesen dürfen, und denen überhaupt nur die
wichtigsten ihrer Lehren als die Seelenwanderung, die Gottheit Hakims, das
Iinamat Hamzas und die vier Endpunkte oder Frauen mitgetheilt werden)
haben sie nicht nöthig, aufrichtig zu sein. Gegen Christen. Mohammedaner
und Juden ist ihnen jedes Verbrechen, namentlich aber Lüge und Heuchelei
erlaubt. In dem von Hamza herrührenden Buche „die sieben Theile" heißt es
geradezu. Wahrhaftigkeit gegen Fremde sei nur gestattet, wenn sie den Gläubigen
keinen Nachtheil oder wenn sie ihnen Nutzen bringe; aber wenn einer eine
Schuld an einen Fremden zu bezahlen oder sonst ein Versprechen, das nicht
vor Zeugen geleistet worden, zu erfüllen habe, solle man lügen. Ebenso dürfe
man, vor „Schwarzen" über die Angelegenheiten eines Einhcitsbekenners be¬
fragt, das Gegentheil des wahren Sachverhalts sagen; „erst wenn der Schai-
tan (Satan, d. i. der Fremde) weggegangen ist," sagt Hamza, „berichtet der
Bruder dem Bruder die Wahrheit der Sache."
Sind Drusen mit einem Mohammedaner zusammen, so bekennen sie sich
zum Islam. Unterhalten sie sich mit Christen, so behaupten sie, dem Christen¬
thum näher als alle Anderen zu stehen und auf die Lehre des wahren Messias
leben und sterben zu wollen, wobei sie allerdings verschweigen, daß sie unter
dem wahren Messias nicht Jsa (den Jesus der Christen), sondern Jessu, in dem
die Seele Hamza Ben Ali's war, verstehen. Dies geschieht aus Scheu vor
Verletzung des Gebotes, in Sachen ihrer Religion strenge Verschwiegenheit zu
bewahren, und sie bekennen, durch Umstände genöthigt, daß man den kostbaren
Edelstein vor den Augen dessen, der seinen Werth nicht zu schätzen wisse, zu
verbergen habe.
Dieses Geheimhalten ihrer Religion führte zu ähnlichen Erkennungszeichen,
wie sie die Freimaurer und andere geheime Gesellschaften der civilisirten Welt
unter sich haben. Wenn sie in Zweifel waren, ob ein ihnen Unbekannter,
mit dem sie verkehrten, zu ihnen gehörte oder nicht, so fragten sie ihn: „Säen
die Landleute in eurer Gegend die Körner des Ehliledsch?" (eine Balsamstaudc).
Antwortete er: „Ja, sie werden gesäet in die Herzen der Gläubigen," so wurde
es ihnen höchst wahrscheinlich, daß er einer der Ihren war. Er konnte aber
zu den-Nichtwissenden gehören, und darum fragten sie nach den Namen der
Endpunkte und ihrer Grade, um seine Wissenschaft zu prüfen. Gab er eine
falsche Antwort, so wußten sie, daß er kein Einheitsbekenner. wenigstens keiner
der in die höheren Mysterien Eingeweihten war. Oft veränderten sie ihre Er¬
kennungszeichen, nachdem sie entdeckt waren, und dies wird namentlich damals
stattgefunden haben, als durch die Einnahme des EinsiedlerdorseÄ Bajjuda ihre
heiligen Bücher in die Hände der „Schwarzen" gelangten und sich auf diese
Weise die Kenntniß ihrer Geheimlehre in weiten Kreisen verbreitete.
(Schluß in nächster Nummer),
Die öffentliche Meinung ist als eine Macht anerkannt,
und die Politiker der Cabincle wie der Presse geben sich Mühe, dieselbe für ihre
Zwecke zu gewinnen. Diejenigen, welche das aufgehobene europäische Gleichgewicht
auf einer neuen, dem Geiste der Zeit und den Interessen der Volker zusagenden
Grundlage herstellen wollen, müsse» wünschen, daß über ihre Mittet und Ziele die
Wahrheit bekannt werde; Jene dagegen, welche die Restauration der heiligen Allianz
auf der Basis des Haller'schen göttlichen Rechts, durch physischen Zwang und Unter¬
drückung anstreben, werden sich angelegen sein lassen, die öffentliche Meinung über
ihre Absichten so lange zu täuschen, bis das Erwachen zu spät kommt. Bezeich¬
nen wir die beiden feindlichen Lager um der Kürze willen mit „liberal" und „reak¬
tionär," so fällt es den Reaktionären leichter, Verwirrung in die Reihen der Gegner
zu bringen, als umgekehrt. — Unter den Liberalen herrscht, zumal in Deutschland,
wenig Klarheit über das, was sie wollen, noch weniger Einigkeit über die Mittel zu
ihren Zwecken, und zahlreich sind unter ihnen die Elemente der Konfusion,, die, ohne
es zu wollen, den Gegnern dienen. Dazu kommt, daß in den Ministerien und bei
den Missionen liberaler Regierungen die Reactionäre noch immer in Stellungen sich
befinden, in denen sie die Vorgänge genau kennen lernen und für ihre Vorgesetzten
wie für die Presse zurecht machen können.
Diejenige Gruppirung der Mächte, welche dir Reaction nächst einer allgemeinen
Koalition gegen Frankreich die angenehmste sein würde, wäre: Rußland, Preußen
Und Oestreich ans der einen, Frankreich und England aus der andern Seite; even¬
tuell aber auch Frankreich, Preußen und Rußland auf der einen, England und Oest¬
reich aus der andern Seite, Jede dieser vRdeu Combinationen bedingt die Trennung
Preußens von England, Aus dieses Ziel zunächst steuert die Reaction los, ihm ist
man mag dcsavouiren so viel man will-—in Teplitz und Warschau vorgearbeitet
worden, ihm kommen ungeschickte Regungen unter den Liberalen, — wir verweisen
"us die unverdaute Erklärung der Herren Nodbertus, v, Berg und Bücher — ihm
kommt die englische Presse, insbesondere die Times mit ihren Diatriben gegen Preußen,
»u Hilfe. Nach unserer Ueberzeugung ist eine politische Scheidung zwischen England
und Preußen für jeden von beiden Staaten schädlich. Für Preußen, weil dasselbe
alsdann unaufhaltsam in die Nestauratiouspolitik hineingetrieben, von einem schlim-
wen Ausgange derselben am härtesten getroffen, in dem unwahrscheinlichen Falle
"»es momentanen Erfolges aber zu der klägliche» Rolle, die es seiner Natur zu¬
wider früher gespielt, abermals verurtheilt werden würde. Für England, weil es,
von Preußen getrennt, entweder isolirt, oder ans Bundesgenossen angewiesen sein
würde, die seinen Interessen gefährlicher werden können, als offene Feinde.
Wir irren nicht, wenn wir behaupten, daß das Zusammengehen beider Staaten
im auswärtigen Amte zu London wie an der maßgebenden Stelle in Berlin als
vortheilhaft erkannt und gewollt, die Trennung als schädlich nicht gewollt wird.
Ebenso wenig irren wir aber auch in der Behauptung, baß Andere einen entgegen¬
gesetzten Willen haben und keine Wege scheuen, um denselben geltend zu machen.
So der 'französische und russische Einfluß sammt der dänischen Intrigue in London;
so die Kreuzzeitungspartei in Berlin.
Die gefährlichste Handhabe für die reactionären Umtriebe zur Trennung Preu¬
ßens von England bietet diejenige Angelegenheit, in welcher Preußen zunächst zur
Action berufe» sein dürfte, die Schleswig-holsteinische. Hier vor allem bedarf
es für Alle, welche auf die öffentliche Meinung Einfluß haben, der Mahnung zur
Vorsicht, und wir wollen an einem concreten Falle dafür el» Beispiel liefern.
Der englische Gesandte in Kopenhagen, Herr Pagel, sendet eine Denkschrift
über die Schleswig-holsteinische Angelegenheit nach London. Er hat es bequem gefun¬
den, von der Bereitwilligkeit der dänischen Staatsmänner, ihm das Material zu
liefern, Gebrauch zu machen. Das Memorandum tragt die Farbe seines Ursprungs
und erregt daher in den deutschgesinntcu Kreisen, in denen es bekannt wird, gerechte
Mißstimmung. Nicht viel angenehmer war der Eindruck, den das Schriftstück im
toreign <Mes hervorbrachte. Lord John Russell fühlt sich veranlaßt, einen Schritt
zu thun, um die störenden Wirkungen des Mißgriffs zu beseitigen, seine Ansicht außer
Zweifel zu stellen und in Berlin zu der wünschenswerten Verständigung die Hand
zu bieten. Er schreibt an dem nämlichen Tage (in der ersten Hälfte des December)
zwei Depeschen gleichen Inhalts; die eine, kürzer und bestimmter, an den bequemen
Verfasser der Denkschrift nach Kopenhagen, die andere an den Stellvertreter des
(abwesenden) britischen Gesandten in Berlin, Herrn Lowther. In diesen Depeschen
waren folgende Sätze aufgestellt!
Neben diesen positiven Sätzen, dann einer Verwahrung und Abwehr in Be¬
ziehung auf das Memorandum, wird in dem Schreiben nach Kopenhagen auf die
schlimmen Folgen aufmerksam gemacht, welche das Einschreiten des Bundes in Hol¬
stein nach sich ziehen würde, und dringend darauf hingewiesen, daß e« im Interesse
Dänemarks liege, durch Anerkennung der deutschen Ansprüche in Betreff des Unter¬
richts und der Kirche in Schleswig die Gemüther zu beruhigen. — Nach Berlin
wurde bemerkt, das man jenes Memorandum lediglich als ein dänisches betrachtet
und von Seiten^Englands niemals empfohlen habe.
Wie wurde nun dieser Schritt des britischen Ministers aufgenommen?
In Kopenhagen gab man sich wenigstens den Schein, ihm die gebührende B»
achtung zu schenken, und erließ wegen des Gebrauchs der deutschen Sprache bei der
Konfirmation und wegen der Zulassung deutscher Hauslehrer eine Verordnung, die
man in London als Erfüllung eingegangener Verbindlichkeiten darstellen zu können
hoffte. Dagegen besorgte die dänische Geschicklichkeit. welche für Schleswig und
Lauenburg Sitz und Stimme im deutschen Bundestag hat, einen Artikel in die
Frankfurter Postzeitung, worin die Aeußerung des britischen Ministers als ein Aus¬
spruch zu Gunsten Dänemarks erschien! Diese Kunstfertigkeit darf uns nicht über¬
raschen, wohl aber die Wahrnehmung, daß die officiösen Mittheilungen aus Berlin
an preußische Zeitungen, z. B. an die Kölnische und die Magdeburger, grade ebenso,
wenn auch mit einer andern Wendung, verfuhren. Die Leitung der Preßangclegcn-
hcitcn in Berlin ist in zu guten Händen, als daß ihr eine derartige Entstellung
der Wahrheit im Sinne der Reaction im entferntesten zuzutrauen wäre. Es scheint
aber ihr nicht anders zu ergehen wie der Leitung anderer Geschäftszweigen sie wird
von den unter ihr arbeitenden Werkzeugen der Ncactionspartei unterminirt. Ist
dies schlimm bei der Presse, so ist es noch schlimmer in der Gcbahrnng der aus¬
wärtigen Angelegenheiten. Der Presse ist für ihre Mittheilungen über die Depeschen
des britischen Ministers nnr ein einzig thatsächlich richtiges Moment zugeflossen- daß
Lord John Russell über die Schleswig-holsteinische Angelegenheit sich geäußert hat; den
Inhalt seiner Aeußerung erhielt sie theils entstellt, theils erfunden. Dem Ministerium
des Auswärtige» dagegen lag die Depesche vom 8. December wörtlich vor; es konnte
unmöglich verkennen, daß dieselbe den Zweck hatte, einem Mißverständnisse vorzu¬
beugen, zu einer Verständigung die Hand zu bieten. Anstatt jedoch auf Grundlage
der aufgestellte» Sätze eine entsprechende Erklärung abzugeben, hat man die De¬
utsche zu einer kleinlichen Exercitien-Correctur verwendet und sich bemüht, dieselbe
">it einigen unangenehmen Redensarten zu würzen. In demselben Geiste hat man,
wie angedeutet, die Presse unterrichtet. Dies ist sicher nicht der Geist, welcher in der
h">te hier gehaltenen Thronrede es als nationale Pflicht anerkennt, die gebührende
Lösung der Frage der Herzogthümer herbeizuführen. —Dieser Geist will Wahrheit
und wer ihm dient, möge sich bemühen, die Künste zu vereiteln, welche Preußen
und Deutschland in die Reaction, das heißt: in ihr Verderben zu treiben trachten.
Aus Norddcu tschland, 10. Januar. In Kopenhagen herrschte früher eine große
Zufriedenheit mit der Stellung, welche die englische Regierung zu Dänemark und
seinem Streit mit den Herzogtümern einnahm. Wer in den dänischen Blättern
»wische» den Zeilen zu lesen versteht, wird seit einigen Monaten gefunden haben, daß
Man dänischerseils findet, die engliche Regierung könne wol etwas mehr für Däne¬
mark thun, als demselben Noten schicken, welche bei allem lebhaften Interesse, welche«
für Dänemark verrathen, doch keineswegs geneigt sind, der nur mit der chinesi¬
schen Halsstarrigkeit vergleichbaren Haltung' der dänischen Regierung in Bezug auf
Schleswig Bewunderung zu zollen.
Gegenwärtig hat die dänische Regierung durch ihre officiösen Blätter noch den
Anschein zu behaupten gesucht, als stehe die englische Regierung ganz auf ihrer Seite.
Die Vorschlüge, welche die dänische Regierung in Betreff der Regulirung der hol'
steirischen Angelegenheit hat macheu lassen, werden in Dänemark nicht als dänische,
sondern als englische bezeichnet,, die Verwerfung derselben durch Preußen trifft daher
wesentlich England. Die dänische Negierung geht svgnr weiter, sie läßt durch ihre
officiösen Korrespondenten in deutschen Blättern die Nachricht verbreiten, daß die
englische Regierung Deutschland in einer Depesche von 8. December v. I. jedes
Einmischnngsrccht in fchleswigfche Angelegenheiten abgesprochen habe. Indessen ist
in Kopenhagen in engeren Kreisen das Sachverhältniß mit jenen Depeschen bekannt,
und ich bin im Stande, aus Grund einer Uebersetzung Ihnen die nach Kopenhagen
gerichtete englische Depesche mittheilen zu können. Dieselbe lautet:
Angeschlossen übersende ich Ihnen die Abschriften einer Depesche des Frhrn. v.
Schleinitz an den Grasen Bernstorff und der Antwort, die ich in einer Depesche an
Hrn. Lowther darauf gegeben habe.
Sie wollen beachten, daß ich in dieser Depesche die Verbindlichkeiten bezeichnet
habe, die nach der Ansicht der Regierung Ihrer Majestät der Königin der König
von Dänemark zu erfülle» in Ehren verpflichtet ist. Ich habe gesagt: „er ist ver¬
pflichtet. Schleswig nicht in Dänemark zu incorporircn. die schleswigschen Nepräsen-
tationsständc aufrecht zu halten, sowie die deutsche und die dänische Nationalität im
Herzogthum Schleswig zu beschützen."
Was auch der juristische Werth der gegen Oestreich und Preußen eingegangenen
Verpflichtungen sein mag, so ist die Regierung I. M. doch nicht zweifelhaft, daß der
König von Dänemark in Ehren verpflichtet ist, diese Bedingungen zu erfüllen. Er
hat sie öffentlich proclamirt, er hat sie nicht nur seinen Unterthanen, sondern anch
den Vertretern fremder Mächte bekannt gemacht, ihre Erfüllung ist nicht weniger sei»
Interesse, als seine Pflicht.
Seine deutschen Unterthanen sollten empfinden, daß sie unter seiner Herrschaft
in Rechtsgleichheit mit ihren dänischen Mitbürgern stehen. Sie würden dann zugleich
das Gefühl einer loyalen Anhänglichkeir an die dänische Monarchie und des aufrich¬
tigen Wunsches, sie unvermindert zu erhalte», besitze». Wenn aber im Gegensatz
dazu die Erziehung ihrer Kinder in den öffentlichen Schulen, und ihr Gottesdienst
ihnen durch vcratvrischc Anordnungen abgeschnitten wird, wenn die Regierung von
dem Wunsche beseelt erscheint, die Nationalität ihrer Unterthanen deutscher Geburt
zu unterdrücken, dann können nur unselige Folgen eintreten. Sollte der deutsche
Bundestag dazu schreiten, seine Beschlüsse von letzten März mit Gewalt durchzu-
führen, so wird sicherlich das benachbarte Herzogthum Schleswig der Schauplatz der
Agitation, vielleicht von Unruhen und Aufstand werden. Dann würde sich dem
König von Dänemark der Werth solcher Zugeständnisse an die Schleswiger fühlbar
machen, die in ihren Augen ihn über jeden Verdacht eines Wortbruchs und über
die Beschuldigung erheben möchten, einen intelligenten und betriebsamen Theil seiner
Unterthanen in eine gehässige untergeordnete Stellung gebracht zu haben.
Lesen Sie diese Depesche in Verbindung mit der an Herr» Lowther gerichteten
dem Hrn. Hall vor und lassen Sie ihm Abschrift. 5 I. Russell.
Zur Ergänzung mögen die von den Federn der dänische» Regierung in entstellten
Auszügen wieder gegebenen Aeußerungen Lord John Rüssels über die völkerrechtlichem
Verpflichtungen Dänemarks gegenüber Deutschland, wie sie sich in der erwähnten
Depesche nach Berlin finden, dienen. Sie lauten:
Werfen wir zunächst einen Blick auf die Form und dann auf den Inhalt der
gedachten Versprechungen.
Ihrer Form nach sind dieselben vom König von Dänemark zuerst an seine
Unterthanen gerichtet. Indessen die östreichische Depesche von 20. Dec. 1851 und
die Antwort des dänischen Ministers des Auswärtige» in Vcrbi»du»g mit der fast
gleichzeitigen Proclanurtion des Königs von Dänemark gehen darauf binäre., diesen
Versprechungen die Wirkung, wenn auch grade nicht die genaue Form, einer suristi-
schc» Verpflichtung zu geben.
Der östreichische Minister seht den Inhalt des Programms des Königs von
Dänemark auseinander, verlangt in Betreff der bindenden Form eine ans Befehl.
Sr, Mas. des Königs abgegebene Erklärung und schließt mit dem freiwillige» Er¬
bieten unter dieser Bedingung das Mandat, welches Oestreich und Preußen von dem
dentschen Bunde erhalten hatten, niederzulegen und die Nünmung Holsteins zu be¬
wirken.
Am 29. Januar 1,852 gab der dänische Minister des Auswärtige» „in Folge
der mir allerhöchste» Orts ertheilten Ermächtigung die Erklärung, daß der König,
unser Herr, die in dem Erlasse des kaiserlichen Hoff zu Wien vom 2ti. Den. v. I.
und der Anlage dazu :c. niedergelegte Auffassung der den Höfen von. Berlin und,
Wie» knndgcgebnc» höchsten Absichten als mit den Seinige» übereinstimmend an¬
erkennt".
Was den Inhalt dieser Versprechungen anbetrifft, so verspricht 1) der König
von Dänemark daß weder eine Incorporation des Herzogthums Schleswig in das
Königreich stattfinden, noch irgend dieselbe bezweckende Schritte vorgenommen wer¬
den sollen 2) die Proklamation vom 28. Januar 1852 verspricht eine konstitutionelle
Entwicklung der schleswigschen Stände und daß das zu diesem Zweck zu gebende
Gesetz die nöthige Fürsorge für die Gleichberechtigung und den wirksamen Schutz
der dänischen und deutschen Nationalität des gedachten Herzogthums treffen soll.
Nach der Ansicht der Regierung Ihrer Majestät der Königin kann darüber
kein Zweifel obwalten, daß diese Versprechungen eine Verbindlichkeit herstellen, die
Se. Maj. der König von Dänemark zu erfüllen in Ehren verpflichtet ist. Er ist
verpflichtet, Schleswig nicht in Dänemark zu incorvorircn. die schleswigschen reprä¬
sentativen Stände aufrecht zu halten, sowie die deutsche und die dänische Nationalität
>in Herzogthum Schleswig zu beschützen.
Indeß geben diese Versprechen weder der Form noch dem Inhalt nach, wie
die Regierung I. Maj. der Königin meint, Oestreich und Preußen oder dem deutschen
Bunde ein Recht, sich in alle Einzelheiten der Verwaltung des dänischen Herzogthums
Schleswigs einzumischen. ,Wenn Schleswig in Dänemark incorporirt würde, wenn
Schleswig seiner getrennten Verfassung beraubt würde, so könnte Deutschland ein
Necht der Einmischung in Anspruch nehmen. Wenn dagegen das Reglement für
i>'de einzelne Kirche und jede einzelne Schule in Schleswig der Gegenstand der Ein-
unschung des deutschen Bundes würde, so würden die Hoheitsrechte des Königs von
Dänemark nur dem Namen nach existiren.'
„Die Regierung I. M. wird ihrerseits stets den Einfluß, den sie am däni¬
schen Hofe besitzen möchte, dazu benutzen, den deutsche» Einwohnern Schleswigs
Schutz zu verschaffe»."
Ohne Zweifel lasse» die Aeußerungen des englischen Ministers Manches zu
wünscht» übrig. Sie zeigen aber doch we»igstc»s, daß die englische Regierung be¬
schlossen hat, endlich jenen Znstnnd von Blindheit sür alles und jedes Recht Deutsch¬
lands aufzuheben, der Jahre lang in Deutschland ein Gefühl des Hasses gegen Eng¬
land herauf beschworen hat .
Die Depesche Lord John Nussells nach Kopenhagen steht de»n doch wenigstens
>u einiger Verbindung mit seiner berühmten italienischen Depesche. Sie ist auch
wenigstens formell nicht ganz ohne Folgen geblieben.
Die Erlasse der dänischen Negierung in Betreff des Sprachzwangs bei Con-
lMncttion und häuslichem Unterricht in Schleswig sind unmittelbare Folgen der J»ter-
ecssion Englands. Jene Erlasse sind illusorisch, weil sie nur den geschlichen Sprach-
zwang bei jenen Gegenstände» aufheben und daneben den dänischen Beamten über¬
lassen, denselben ans einem Umwege wieder herzustellen. Indessen zeigen jene Ma߬
regeln, wie sehr eine aufrichtige Eoopcration Englands die Verhältnisse Preußens zu
Dänemark erleichtern könnte.
Diese zu erreichen würde für Preußen leicht sei». Es würde leicht sein, die eng¬
lische Negierung, welche sich niemals durch Sympathien und Antipathien bestimmen
läßt, sondern welche ihren Interessen folgt, selbst zu einer activen diplomatischen
Kooperation zu bestimmen, d. h. dazu, daß sie den übrigen europäische» Mächten
in der Schleswig-holsteinischen Angelegenheit das Gegengewicht hielt und Preußen und
Dänemark daher einander allein gegenüberstünden.
Es wird nur daraus ankomme», daß der preußische Minister des Auswärtigen
sich klar mache, daß das nächste und dringendste Interesse Preußens in der endlichen
ehrcnvoUcn^Erledigung der Schleswig-Kolstcinischcn (nicht der holsteinischen) Angelegen-
heit liege, und daß wenigstens zunächst andere Iutcnsscn zurückzutreten haben.
Nach der Thronrede kann Niemand zweifelhaft sei», daß diese Auffassung zugleich
dem Willen des Königs entspricht.
Wir haben wieder zwei politische Stichwortc zu airalysircn. Die Veranlassung
gibt unsj das von drei ehemaligen Mitgliedern der demokratischen Partei, Nod-
bcrtus, l'on Berg und Bücher unterzeichnete Manifest. Die allgcuieiuc Hal¬
tung desselben ist vo» den Blättern ihrer ehemaligen Partei bereits hinreichend ge-
würdigt worden! wir hoffen, daß diese Blätter jetzt einsah», wie bedenklich es ist,
Correspondenzen aufzunehmen, die, weil geistreich geschrieben, das Publicum amü-
siren, aber es auch verwirre», weil sie der allgemeinen Haltung des Blatts wider¬
sprechen. Die Stichwortc, mit denen wir es zu thun haben, sind folgende.
Oestreichs Besitzstand in Venedig ist gefährdet; es handelt sich darum, ob Deutsch¬
land ihm zu Hilfe komme» soll. Dafür und dawider lasse» sich viele erhebliche
Gründe anführen; vollkommen leer und nichtig ist aber der Grund, den das Mani¬
fest anführt. Es heißt- wir Deutsche dürfen nichts herausgeben, was wir einmal
habe»! wir haben Venedig, also dürfen wir es nicht herausgeben. — Wir haben
Venedig nicht! — Die Herrschaft Oestreichs über Venedig hat für uns keinen an¬
dern Nutzen gehabt, als daß der deutsche Name den Italienern, einem Volk, mit
dem wir alle Ursache haben gut zu stehen, verhaßt und verachtet ist; keinen andern
Nutzen« als daß wir dadurch fortwährend in Kriegsgefahr stehe». Wir yaben nicht
den mindesten Einfluß auf das östreichische Cabinet, und wir können ihn niemals
haben, solange die östreichische Monarchie besteht; im Gegentheil hat diese Monarchie
lange Zeit hindurch aus uns mit ebenso schwerem Druck gelastet, wie auf den Ita¬
lienern, und wir haben denselben Grund wie die Italiener, zu wünschen, daß dieser
Druck aufhört. Wenn wir dem Hause Oestreich zu Hilfe kommen, so kann das
nur in der Form freier Bundesgenossenschaft geschehen, d. h. für die Erreichung
unserer eigenen Zwecke, nicht aber um eine Provinz zu behalten, die wir gar nicht
haben. Wenn der Umstand, daß ein deutsches Haus in einem fremden Lande regiert,
dieses Land zu unserem Eigenthum machen soll, so wäre allerdings nicht blos die
östreichische Monarchie, sondern auch Dänemark, die Niederlande, ja Rußland unser
Eigenthum, so wäre vor einem Menschenalter auch England unser Eigenthum ge¬
wesen. In der Einbildung wären wir dann freilich recht reiche Herren! und der
großdcutschcn Phantasie ist nichts unmöglich.
Die zweite Phrase ist folgende.
In den Gefahren, die Deutschland bedrohn, bemüht sich das preußische Cabinet,
eine Wehrverfassung in Deutschland herzustellen, durch welche es uns möglich wird,
den Feinden erfolgreichen Widerstand zu leisten. Das Manifest hält das für un-
nöthig- es behauptet, der Bundestag sei zwar todt, (wohlgemerkt: nicht wir sind
es, die diese höchst verwerfliche und höchst ungereimte Ansicht aufstellen, da wir doch
allmonatlich von der Existenz des Bundestags in den Zeitungen lesen!) aber eS
wäre auch vorläufig gar nicht nöthig, etwas anderes an die Stelle zu setzen, da
die Volkskraft oder das Völlegefühl ausreichte, uns ganz Europa fürchterlich zu
machen. — So stecken wir denn glücklich wieder in den Kinderschuhen von 1848!
da wir doch damals gelernt haben sollten, daß uns diese bloße Substanz noch nicht
einmal bei den homburger Spielpächtcrn fürchterlich gemacht hat. Das Voltsgefühl
ist eine respectable Kraft, wo eine Staatsmaschine vorhanden ist, zu der sie gleichsam
den Dampf hergibt; so ist sie sehr bedeutend in England, so war sie sehr bedeutend
in der französischen Revolution. Ohne diese Maschine aber verfliegt der Dampf
wirkungslos in alle Lüfte. Oder um ohne Bild zu sprechen: um eine Negierung
zu treiben "oder aufzuhalten, ihr Kraft zu geben, oder ihre Richtung zu verändern,
auch wohl sie zu stürzen, ist die Voltsgcsinnung stark genug; aber sie ist nicht fähig
einen Staat zu schaffen. Organische Bildungen gehen niemals aus einem Winde
hervor, der Atome znsammenwcht. Wo eine Revolution gelang, war es nur, weil
der Organismus schon vorhanden war, dessen sie sich, nur zu bemächtigen hatte.
Ewig wird unsere große Volkserhebung von 1813 der Stolz unserer Nation bleiben;
aber es war ihr nur daruiu möglich, weil sie den preußischen Staat vorfand, auf
den sie sich stützen konnte. Darum unterscheidet sich die gegenwärtige italienische
Revolution so unendlich von allen früheren Experimenten. — Die Sache ist in
diesem Augenblick sehr ernst, da Preußen im Begriff steht, in der Vertretung der
deutschen Sache gegen die Anmaßungen Dänemarks die Gesahr eines allgemeinen
Krieges auf sich zu ziehen. Preußen kann und soll diese Gefahr übernehmen, es ist
seine Ehrenschuld gegen die deutsche Nation, aber es kann und darf sie erst dann
übernehmen, wenn im eignen Hause Ordnung ist. Bevor es sich nicht vor der
dringenden Gefahr eines Rheinbunds durch positive, feste Garantien, durch Garan¬
tien, die in mehr bestehen als in Worten, gesichert hat, darf es sich nicht in ein
Unternehmen einlassen, in dem es seine Existenz aufs Spiel setzt. Die. deutschen
Regierungen haben sich in Bezug auf das Unternehmen selbst günstig ausgesprochen,
sie haben erkannt, daß wenigstens für diesen Fall die Führerschaft.! Preußens
durch die Lage der Dinge geboten ist: in ihrer Hand liegt es setzt, Preußen die
D as Läuten der Glocken und die Kanonen verkündigen
die Eröffnung des Landtages, welche König Wilhelm im weißen Saale vollzieht.
Lange hat wol keine Session unter so ernsten und gewichtigen Umstünde» begonnen,
als die diesmalige. Das Provisorium der Regentschaft ist zu Ende, in eignem Rechte
steht der Fürst, eine königliche Gestalt, nicht neben, sondern unter dem Thronhimmel.
Zur Seite liegen Krone und Reichsapfel, vor ihm versammelt sind die Vertreter -des
preußischen Volks, den Eid der Treue zu schwören. Ans der Tribüne sieht man die
Königin, die Kronprinzessin und zahlreiche andere Fürsten und Fürstinnen.
Mit bewegter Stimme beginnt der König die vom Fürsten Hohenzollern über¬
reichte Thronrede zu lesen, aber sein Wort wird fest, als er von der Aufgabe spricht,
Weiche ihm zugefallen und gewinnt den ganzen Nachdruck ernstester Ermahnung,
als er erklärt, daß Krolle und Land nicht länger auf einen erhöhten Ertrag der
Grundsteuer verzichten können, daß die Verstärkung unsers Heeres erst dann gesichert
sein wird, wenn alle Stände und Landestheile, wie sie die Wehrpflicht gleichmäßig
erfüllen, so auch zu dem Aufwande, welchen das Heer erfordert, im Verhältniß ihrer
Steuerkraft gleichmäßig beitragen. Der lebhafte Beifall, der diesen Worten folgt,
mag zwar nicht von den Mitgliedern des Herrenhauses kommen, aber wird bei ihnen
die heilsame Mahnung der königlichen Worte bestärken.
Nachdem der König von seinen Absichten für Kurhessen und die Herzogthümer
gesprochen und die gebührende Lösung dieser Fragen als nationale Pflicht anerkannt,
macht er eine Pause und fährt dann mit erhöhtem Tone fort:
„Meine Negierung hat in bewegter Zeit begonnen, Was uus beschieden sein
möge, Ich werde'^ feststehen auf den Grundsätzen, mit welchen Ich die Regentschaft
übernommen habe. Die Erfahrung, welche Ich in deren Anwendung gemacht, hat
Mich von dem Werthe derselben nur noch inniger überzeugt. Entschlossen, die Wirk¬
samkeit unserer Institutionen und unserer^Gesetzt.''zu kräftigen, die nationalen Interessen
Preußens und Deutschlands mit Ernst und Nachdruck zu fordern, erblicke Ich in
dem unbeirrten Festhalten dieses Weges die sicherste Bürgschaft gegen den Geist des
Umsturzes, welcher sich in Europa regt.
Ich vertraue, daß Preußen unter Meinem Scepter sich selbst treu bleiben wird.
Ich vertraue, daß Preußen im Rathe seiner Vertreter wie in den Thaten seines Volks
beweisen wird, daß es nicht gemeint ist, hinter der Eintracht, der Kraft und dem
Ruhme seiner Väter zurückzubleiben. Ich vertraue, daß das Land in unverbrüchlicher
Treue zu Mir stehen wird in guten und bösen Tagen.
Bei der Uebernahme der Regentschaft habe Zeh gelobt, die Mir von Gott ver¬
liehene Macht der Verfassung und den Gesetzen des Königreichs gemäß üben zu wollen.
Indem Ich auf jenes Gelübde verweise, fordere'ich Sie auf, Mir die Treue zu ge¬
loben, welche Sie Meinem verklärten Bruder geschworen und gehalten haben.
So werden Sie Mir denn jetzt vor Gott dem Allmächtigen einen feierlichen
Eid schwören, daß Sie Mir in Treue Unterthan sein wollen, daß Sie mir in der
Ausübung meiner Rechte und Pflichten mit Gut und Blut beistehen wollen."
Auf das freudig zustimmende Ja der Versammlung erwidert der König mit
einem kräftigen „Das walte Gott", und auf die Aufforderung des Ministers des
Innern. Grafen Schwerin, treten die Mitglieder beider Häuser der Reihe nach vor
den König hin, den Eid der Treue zu schwören, eine Handlung, die derselbe schließt
mit den Worten: An Gottes Segen ist Alles gelegen.
Wir haben nie die Befürchtungen getheilt, der König werde die Bahnen ver¬
lassen, welche der Regent gewandelt. Seine Worte haben ausdrücklich diese Ansicht
beseitigt, er hat die Pflichten seines königlichen Amtes im rechten Geiste ergriffen,
an der Volksvertretung ist es jetzt, ihm im rechten Geiste entgegenzukommen. Beide
Häuser werden in ihrer Antwortsadresse auszusprcclM haben, welche Stellung sie
einnehmen wollen. Die Sicherheit it/rar Loyalität ist über allen, Zweifel, das Haus der
Abgeordneten aber hat namentlich die Pflicht, offen dem König zu sagen, daß, wenn
es mit Freudigkeit dem von ihm eingcschlagneu Wege zustimmt, die Nä-the der
Krone seine Absichten doch bisher nnr unvollkommen ausgeführt. Die Lage der
Dinge ist zu ernst für schwächliche Rücksichten. Zwischen Fürst und Volk muß
Wahrheit sein und die Adresse und ihre Debatte muß dem König zeige», was die
Vertreter des letztern wollen, nicht als unüberlegte Wünsche, sondern als reiflich cr-
wogne Ueberzeugungen. Es ist keine Zeit für Phrasen. Nur solche Worte sollen
gesprochen werden, welche zu Thaten führen. Möge ein guter Stern die Geister
Wenn ein französischer Militärschriststeller, Cuturier de Vienne. sagt, daß
Oestreich in seiner Armee seine einzige, aber eine wichtige Stütze habe, so
ist dieser Satz nicht unrichtig. Denn wenn auch einzelne Völker, wie die
Deutsch-Tiroler, die Ober- und Niederöstreichrr. die Steirer und Andere der
herrschenden Dynastie im Allgemeinen zugethan sind, so ist ihre Zahl doch
viel zu gering, um den Ausschlag geben zu können. Ueberdieß gilt ihre An¬
hänglichkeit nur der Herrscherfamilie, und wenn bei ihnen vom Vaterlande die
Rede ist, so verstehen sie darunter immer gewiß nur Kärnthen, Tirol oder
sonst eine Provinz, niemals die gesammte Monarchie. Sollte letztere auch
ganz in Trümmer gehen, so würden sich die Bewohner der genannten Länder
darüber ohne Zweifel nur wenig betrüben, falls sie nur ihr Land zu einem
selbständigen Fürstenthum. (mit einem bei ihnen gerade populären Prinzen
des kaiserlichen Hauses an der Spitze), umschaffen könnten. Ungarn strebt,
offen wie es am Tage liegt, seine völlige Selbständigkeit um. Venetiens
Bewohner betrachten ihre Vereinigung mit dem Sardenreiche schon als halb
vollzogene Thatsache. Die Dalmatiner. Südtiroler und Jstrianer ferner wer¬
den ihrerseits ebenfalls nicht vergessen haben, daß sie nach Sprache und Sit¬
ten, wenn auch nicht nach Abstammung und politischer Eintheilung Italiener
sind. Galizien ist zwar bis jetzt noch ziemlich ruhig geblieben, doch fehlt dort
nur der Impuls zum Erwachen, und die Elemente zu einer nachhaltigen Er¬
hebung sind zahlreich genug vorhanden. Die Südslawen und die Rumänen
blicken in fieberhafter Erwartung nach Serbien und den Donaufürstenthümern
und hoffen von dort eine Veränderung ihrer gegenwärtigen Verhältnisse, Es
bleiben also nur die deutschen Provinzen übrig, und auch in diesen ist die
Lage der Dinge nicht besonders günstig. Schlesien ist zu unbedeutend, und
Zudem ist das Volk dort in politischen Fragen durchschnittlich gleichgültig.
Die Bewohner Mährens sind bis jetzt eigentlich noch zu keinem nationalen
Bewußtsein gekommen und besitzen auch noch gar kein bestimmtes politisches
Programm. — wahrscheinlich würden sie sich jedoch im entscheidenden Falle
Zu den Böhmen schlagen. Diese Letzteren aber denken gerade in der neueren
Zeit wieder viel an ihren Karl IV., die Hussitenzeiten. Georg von Pvdiebrcid
und die Schlacht auf dem weißen Berge zurück!
Auch in den übrigen Ländern wurde die schon seit längerer Zeit gäh-
rende Unzufriedenheit durch die Geschenke des 20. October nicht beschwichtigt,
sondern eher verwehrt, da wan billig erstaunt war, warum den Ungarn eine
fast ungemessene Freiheit, den übrigen Ländern eine höchst beschränkte Begün¬
stigung zu Theil' geworden war.
So hätte denn das Bestehen des Gesammtstaates bei der Bevölkerung
Oestreichs nur auf geringe Sympathien und auf eine noch geringere that¬
kräftige Unterstützung zu zählen. Anders verhielt sich's früher bei der Armee
und verhält sich's bei derselben zum Theile noch. Zwar kennt auch sie keinen
eigentlichen Patriotismus, aber desto fester ist sie der Dynastie zugethan, so
daß die letztere selbst in den verzweifeltsten Lagen immer auf die Unterstützung
wenigstens des größten Theiles ihrer Truppen mit Sicherheit zählen konnte.
Ob dieses Verhältniß noch gegenwärtig allenthalben besteht, dürfte
zweifelhaft erscheinen, da in den letzten Jahren auf das östreichische Hee¬
reswesen zu viele nachtheilige Einflüsse eingewirkt haben. Was demun-
geachtet noch Gutes verbliebe» war, ist allem Anscheine nach durch den
letzten Krieg in Italien, noch mehr aber durch die Folgen desselben vielfach
geschwächt und zerstört worden, und der Geist, welcher unter dem alten Ra-
detzky jeden Einzelnen vom Feldherrn bis zum letzten Trainsoldaten herab be¬
seelte, ist sicher nicht mehr vorhanden.
Es ist behauptet worden, daß man seit 1849 in der obersten Sphäre nur
für das Kriegswesen Sinn und Aufmerksamkeit gehabt und demnach die Ar¬
mee vor allen andern Zweigen des Staatswesens bevorzugt hätte. Das ist
wahr. Aber die ganze militärische Thätigkeit dieser Sphäre war eigentlich
nichts Anderes als ein großartiges Soldatenspiel. Das Ezerziren und Para¬
diren, die Ausführung von meist nach kopflosen Jnstructionen angelegten Ma-
noeuvres, die Feststellung der bis auf die lächerlichsten Kleinigkeiten eingehen¬
den Bestimmungen über Adjüstirung, Ehrenbezeugungen, Kaserncndienst und
endlich eine bis ins Ungeheuerliche getriebene Controle der Administration,
solche und ähnliche Dinge waren es, denen man seine Aufmerksamkeit fast allein
widmete. Allerdings opferte man auf diese Weise den größten Theil seiner
Zeit und Thätigkeit der Armee, doch wußte dieselbe hiefür nur geringen
Dank. Wenn früher, zumal vom Kaiser Ferdinand, die Entscheidung von
Angelegenheiten, die eigentlich nur der Anordnung des Monarchen zugestan¬
den hätten, häufig mit den Worten: „Machen Sie das nach Ihrer Einsicht,
Sie verstehen das besser und haben ja mir immer treu gedient/' an einen
alten erfahrenen General übertragen worden war: so wollte man jetzt Alles
selbst anordne» und entscheiden. Dies ging bald so wett, daß selbst die er-
Probtesten Männer für ihre aus Ueberzeugung und Pflichtgefühl hervorgegan-
genen Einwendungen und Verschlüge mir Zurücksetzung ernteten. So man¬
cher verdiente General mußte eine wohlgemeinte Bemerkung damit büßen,
daß er sofort mit einem mehr oder minder knappen Gehalte in den Ruhe¬
stand versetzt wurde. Die Folgen davon konnten nicht ausbleiben. Mau sah,
daß nur Schmeichler sich in der Umgebung des Hofes erhalten konnten und
daß letzterer daran gewöhnt war, sich durch Decorationen und Schlußcffectc
tauschen zu lassen. Im ängstlichen Bemühen, sich um jeden Preis die kaiser¬
liche Gnade zu erhalten, wetteiferten fast Alle in der Hervorbringung von sol¬
chen Blendwerken, und nur wenige kümmerten sich um reelle Dinge. Die
meist nur nach Laune und Belieben jener höchsten Sphäre rasch auf einander
folgenden, sich oft widersprechenden Anordnungen, Verbote und Reformen tru¬
gen das Ihrige dazu bei, selbst die fähigsten und entschlossensten Männer in
Ungewißheit und Zweifel zu verstricken. Die Gesetze waren fast ohne Aus-
nähme provisorische und wurden gewöhnlich schon nach einigen Monaten durch
andere, ebenfalls provisorische ersetzt. So wurden z. B. binnen nicht ganz
eilf Jahren die militairärztliche Branche vier, das Justizpersonal drei, die
Artillerie- und Genietruppen drei und das Administrationswcsen wenigstens
vier Mal ganz oder größtentheils reorganisirt. Daß dadurch die allgemeine
Zufriedenheit nicht erhöht werden konnte, ist um so begreiflicher, als fast bei
jeder dieser Umformungen zahlreiche durch Nichts zu rechtfertigende Beseitigungen
verdienter Männer und Gehaltsverminderungen bei den untersten Graden
stattfanden. Allerdings soll der Militär nicht um's Geld, sondern der
Pflicht und Ehre wegen dienen; aber er spricht wenigstens ein solches Ein¬
kommen an, um anständig leben zu können. Dieses ist aber trotz der 1851
^folgten Gagenerhöhung nicht der Fall. Nicht nur sind die Besoldungen der
Subalternoffiziere und Unteroffiziere an und für sich zu gering, sondern
es wird überdem noch dieses Wenige durch die Entwertung des östreichischen
Papiergeldes um mehr als ein Drittel vermindert. Alle übrigen Mini¬
ster wußten darum auch für die Beamten ihrer Departements Theuerungs¬
zulagen und Subsistenzbciträge auszuwirken; nur bei der Armee blieb
es beim Alten. Auch in andern Beziehungen ist das^ Loos des östrei¬
chischen Militärs gegenwärtig schlechter als früher. Die schimpfliche Prügel¬
strafe wird zwar in geringerem Ausmaße als früher, aber ebenso häufig und
oft der unbedeutendsten Vergehen wegen ertheilt. Außerdem aber sind noch
eine Menge anderer Bedrückungen gebräuchlich und, was das Empfindlichste
'se. die persönliche Freiheit des Soldaten ist jetzt beschränkter als je. Nicht
"ur bei den gemeinen Soldaten und llnterofsizieren, sondern auch bei dem
Offizier wurde (in, directen Gegensatz gegen das Princip, welches bei dem
N'anzösischen»Heer herrscht und neuerdings von einem preußischen Prinzen leb-
haft empfohlen wurde) alle Selbstthätigkeit und dadurch auch das Selbstge¬
fühl systematisch unterdrückt; die maßlose Bevormundung, Aengstlichkeit und
Pedanterie führten dahin, daß selbst die geringste Dienstverrichtung des Sol¬
daten von mehreren Unteroffizieren und mindestens von einem Offizier, die
Thätigkeit des letzteren aber wieder von mehreren höheren Vorgesetzten, ja
selbst von seinem Obersten nicht nur überwacht, sondern bis in'die kleinsten
Details angeordnet wurde. Mit einem Worte, der Stabsoffizier mußte die
Dienste des Offiziers und dieser wieder den Dienst des Korporals überneh¬
men, um als eifriger Soldat angesehen zu werden!
Bei der Einführung des neuen Münzfußes (1858) und des neuen Ge-
bührcnsystems wurde aber sogar die Löhnung des gemeinen Soldaten noch
um etwas vermindert, was eine allgemeine Unzufriedenheit erregte. Nur die
Erwartung, daß nach Beendigung des damals nahe bevorstehenden Krieges
eine Menge Verbesserungen erfolgen würden, beschwichtigte den lauten Aus¬
bruch des Mißvergnügens. ' Ueberhaupt war man bei den meisten Gelegen¬
heiten, wo man die erhöhte Willigkeit der Armee in Anspruch nehmen mußte,
mit Ursagen und Versprechungen, welche man später nicht erfüllen konnte,
sehr freigebig. So erklärten sogar Generale (ob aus Inspiration oder aus
eigenem Antriebe?), daß nach der Geburt eines Kronprinzen die Dienstzeit
aller dermalen bei der Truppe befindlichen Soldaten um zwei Jahre vermin¬
dert werden würde. Ebenso wurden Offiziere, welche über ihre kärgliche Be¬
soldung klagten, gewöhnlich mit der Versicherung einer bald zu gewürtigen-
den Gagevermehrung vertröstet; natürlich blieben auch diese Zusagen unerfüllt.
Würde aber auch ein oder das andere Mal eine wirklich wohlthätige Ma߬
regel eingeführt, so war doch gewöhnlich ein Zusatz, welcher das Ganze ver¬
kümmerte und beschränkte, beigefügt. So hatte das neue Pensionsgesetz un¬
geachtet seiner zahlreichen Schattenseiten vor dem früheren viele Vorzüge vor¬
aus; aber kurz vorher entzog man den Artillerieoffizieren die bis dahin
gewährte Begünstigung der Versetzung in den Ruhestand mit dem Pensions¬
genusse des nächst höhern Grades. Ueberhaupt beschnitt man die wohlbegrün¬
deten Vorrechte der Artillerie und der, sogenannten technischen Truppen soviel
als möglich, weil eben bei den obersten Behörden mehrere Männer waren,
welche für wissenschaftliche Bildung keinen Sinn hatten und den Exerzirplatz
als alleinigen Prüfstein militärischer Tüchtigkeit betrachteten. So wurde ein
nichts weniger als technisch gebildeter Jnfanteriemajor nur darum als Oberst¬
lieutenant in das Jngenieurcorps versetzt, weil sein Bataillon bei einer Pa¬
rade in Wien sich durch vorzüglich steife Haltung hervorgethan hatte, die
Zöglinge der Jngenieurakademie sich aber beim Tirailliren das Mißfallen
eines Hochgestellten zugezogen hatten.
Die Zahl der Unzufriedenen wurde übrigens alljährlich durch die aus den
militärischen Unterrichtsanstalten Austretendcn vermehrt. In den ehemaligen
Regimentserziehungshäusern wurden die Zöglinge (Kinder von Soldaten und
Unteroffizieren) mit beinahe spartanischer Strenge zu tüchtigen Unteroffizieren
herangebildet. Sie waren genügsam, abgehärtet, von einem wahren kriege¬
rischen Geiste beseelt, und hatten als höchstes Ziel ihrer Wünsche die Stelle
eines Feldwebels vor Augen. Nun aber hat eine irrig aufgefaßte Humanität
diese Anstalten so reformirt, daß die Zöglinge darin verweichlicht und an eine
Kost und Behaglichkeit gewöhnt werden, wie solche von ihnen auch nach der
Beförderung zum Offizier nur selten' erlangt werden kann. Der junge, im
Ganzen nur oberflächlich unterrichtete Soldat rückt jetzt zur Truppe ein. muß
die schlechte Kost und die Strapazen der übrigen Soldaten theilen, hat den
Kopf voll hochfliegender Gedanken, sieht aber bald, daß sein Avancement zum
Offizier nur von dem Zufalle und von Protection abhängt, was Wunder,
wenn er da unzufrieden und nachlässig wird! Ferner hatte auch ehedem in
den technischen Corps Jeder, ohne Unterschied des Standes oder Vermögens,
wenn er nur die hinreichenden Fähigkeiten besaß und sich gut betrug, Hoff¬
nung, zwar langsam,, aber sicher selbst bis zur Stelle eines Generals avan-
ciren zu können. Namentlich war das Bombardiercorps aus lauter Männern
zusammengesetzt, welche gründlich ausgebildet, in der Hoffnung auf Beförder¬
ung gewöhnlich über ihre gesetzliche Verpflichtung dienten und im Falle eines
Krieges eine fast unerschöpfliche Quelle bei Besetzung der abgängigen Offizicrs-
stellen bildeten. Die gegenwärtige Artillerieakademie. deren Zöglinge zwar
vollkommen salonmäßig, aber weit weniger in ihrem Fache ausgebildet sind,
wie jene des Bvmbardiercorps. genügt kaum sür den Friedensbedarf, daher
beim Ausbruche eines Krieges viele ganz untaugliche Subjecte zu Offizieren
befördert werden. So lassen sich gewöhnlich nur solche Individuen zur Ver¬
längerung ihrer Dienstzeit bewegen, welche zur Wiederausübung ihres etwai¬
gen frühere» Handwerkes zu träge, zu einer Civilbedicnstung zu ungebildet,
kurz zu jedem anderen Erwerbszweige beinahe unfähig sind und auch als
Soldaten selten einen besondern Werth besitzen. Daß die Vertheilung der
untergeordneten Civilposten, ungeachtet aller darüber ergangenen Befehle nur
selten verdienten Unteroffizieren zu Gute kommt, hält gleichfalls Viele von
einer freiwilligen Verlängerung ihrer Dienstzeit ab. Der Kaiser ordnete be¬
reits vor mehreren Jahren an. daß alle Posten untergeordneter Art bei den
Ministerien und bei allen landesfürstlichen Aemtern, wofern nicht ganz specielle
Kenntnisse erfordert würden, nur mit alten Soldaten besetzt werden sollten, und
sollte jede sich bildende industrielle Unternehmung strengstens verpflichtet
werden, bei Besetzung ihres untergeordneten Betriebspersonnles nur gediente
Militärs zu berücksichtigen. Diese Anordnung erfolgte kurz vor dem Aus¬
bruche des in Oestreich ziemlich unpopulären orientalischen Krieges, sür wei-
chen man die Armee durch die verschiedensten Mittel zu enthnsiasmiren suchte.
Demungeachtet hat man seither fünf Eisenbahngesellschaften und vielen an¬
dern industriellen Unternehmungen die Concession ertheilt, ohne jenen Zusatz
zu berücksichtigen; ja man sicherte bei dem Verkaufe der Staatsbahnen nicht
einmal die Stellung der dort bereits bediensteten ehemaligen Militärs. So
trachtet Jeder, seine gesetzliche Dienstzeit, so gut als es eben gehen mag,
hinzubringen und wo möglich durch längeren Urlaub oder durch die Erdich¬
tung eines körperlichen Leidens, auch wol durch Selbstbeschädigung abzukürzen.
Nie gab es so viele Selbstverstümmler als jetzt!
Man könnte dagegen einwenden, daß sich wol in keinem Staate Viele
finden würden, denen das Loos eines gemeinen Soldaten während des Frie¬
dens angenehm erscheinen wird. Es ist aber denn dock ein großer Unter¬
schied: während'der englische und der französische Krieger im Felde reichlich,
bisweilen luxuriös verpflegt wurden, erhielt der östreichische Soldat weder
Kaffee noch ein anderes die Nerventhätigkeit erhöhendes Mittel, nur ein Mi¬
nimum von Fleisch, Mehl oder Hülsenfrüchten und eine geringere Portion Brod
oder Zwieback. als selbst der russische. Jetzt ist allerdings dem ersten Uebel¬
stande abgeholfen und die Vertheilung von Kaffee bewilligt. Auch sind die
für Tapferkeit ertheilten Medaillen theilweise mit dem Genusse einer Zulage
in Geld verbunden, doch bezieht der Soldat diese Zulage nur solange, als
er sich im activen Dienste befindet. Endlich wird auch für die Invaliden
nur wenig gesorgt. Die Jnvalidenhäuser sind zu klein, schlecht dotirt und
überhaupt von einem dem verstümmelten Krieger willkommenen Asyle beinahe
der vollständige Gegensatz. Invaliden, welche in den Jnvalidenhäusern keinen
Platz finden, erhalten zwar den sogenannten „Paientalgehalt". Derselbe ist
aber wirklick außerordentlich niedrig und geht verloren, sobald der Betreffende
auf irgend welche Weise zu einem anderweitigen, dreimal größeren täglichen
Einkommen gelangt.
Auch das Offizierscorps hatte keine Ursache zu besondrer Zufriedenheit.
Die Unzulänglichkeit der Gagen wurde bereits besprochen. Dieselbe wird
aber noch vermehrt durch die häusigen, gewöhnlich mit bedeutenden Geld¬
auslagen verknüpften Versetzungen zu andern Truppenkörpern, (die meist statt¬
finden, um irgend einem Hochadeligen Platz zu raschem Vorrücken zu ver¬
schaffen), durch die an und für sich kostspielige Uniformirung, durch die
häufigen Abänderungen an derselben, und endlich durch verschiedene Auslagen,
zu welchen der Offizier von seinen Vorgesetzten genöthigt wird. z. B. für
Unterhaltung von Musikbanden, Errichtung von Offiziers-Rcitbahnen und Schieß'
Stätten und tgi. Auch ist jeder, selbst der honetteste Nebenerwerb verpönt,
und es werden namentlich schriftstellernde Offiziere, besonders solche, die wirk¬
lich Talent besitzen, vielfach verfolgt, bis sie entweder die Feder bei Seite le-
gen oder austreten. Nur einige Novellenschreiber werden geduldet. Im rein
Wissenschaftlicher aber suchen der Generalstab und die Oberoffiziere des In¬
genieur- und Artilleriecorps das Monopol an sich zu reißen.
Das Avancement geht nur dem Namen nach in der Anciennetät fort.
In Wahrheit beschließen die Bürgerlichen und die meisten niederen Adeligen
ihre Laufbahn gewöhnlich als Hauptleute, indem die höheren Stellen fast aus¬
schließlich von dem hohen Adel und den Günstlingen desselben eingenommen
werden. Die wenigen Bürgerlichen, welche sich zu einem hohen Range auf¬
geschwungen haben, sind entweder die unentbehrlichen Stellvertreter unfähiger
Aristokraten, oder Hofschranzen der gemeinsten Art. welche nur durch Augen-
dienerei so hoch gestiegen sind. Das Beispiel Benedcks kann hier nicht als
Gegenbeweis angeführt werden, indem dieser General durch den Aristokraten
Gyulcu in früherer Zeit wol längst entfernt worden wäre, wenn Radetzky nicht
für ihn gesprochen. Jetzt aber wird Benedek durch den einmüthigen Wunsch
der Armee und der Bevölkerung anf seinem Posten erhalten und ist in der
That der Unentbehrliche und so zu sagen der letzte Nothanker!
Aber selbst die Mitglieder der ersten Adelsfamilien konnten sich nur
dann in ihrer Stellung behaupten.-wenn sie in den allgemein eingerissenen
servilen Ton einstimmten. Eine wohlgemeinte, freimüthige Aeußerung, eine
ohne Anfrage vorgenommene Verbesserung, ein Etikettenfehler, ja noch geringere
Dinge konnten die Stellung eines Fürsten, ja eines Erzherzogs gefährden.
Es wäre überflüssig für das soeben Gesagte noch Beispiele vorzubringen. Den
erklärten Günstlingen und den Crenturen derselben war dagegen Altes erlaubt,
sie konnten ungestraft die gröbsten Verstöße begehen.
Was der Graf Grünne. der ungeachtet seiner nomineller Enthebung von
seinem Posten als erster Generaladjutant des Kaisers noch immer einen großen
Einfluß besitzt, gethan hat, lebt noch In zu frischem Andenken. Einen großen
Theil der Unzufriedenheit des Volkes wie der Armee hat der Kaiser nur den
Rathschlägen dieses Mannes zu verdanken. Es ist kaum glaublich, mit wel¬
chem Hochmuthe, welcher Launenhaftigkeit Grünne alle Jene, welche uuter oder
neben ihm standen, behandelte. Sein Beispiel verfehlte nicht, auch aus die
übrigen Mitglieder des militärischen Hofstaates und auf die Machthaber in
den Provinzen Einfluß auszuüben. Darum wimmelte es allerwärts von klei¬
nen Tyrannen, die sich gegen ihre Obern mehr als sklavisch devot, gegen ihre
Untergebenen maßlos impertinent benahmen. Nicht einmal das dem Militär¬
staude gegenüber der Bevölkerung zu beobachtende Ansehn wurde gewahrt, in¬
dem manche Generale ihren nächsten Untergebenen gegenüber öffentlich Aus¬
drücke brauchten, wie sie früher an dem rohesten Corporal getadelt worden
^arm. Gyulai z. B. beehrte einst ein ganzes Regiment, welches auf hundert
Schlachtfeldern seine Tapferkeit glänzend bewiesen und noch jüngst bei Ma-
genta und Solfcrino sich mit Ruhm bedeckt hatte, das aber bei einer Parade in
Mailand nicht den richtigen Marschland hielt, mit dem Namen: „Sauregiment."
Was Wunder also, wenn durch eine solche Behandlung das Ehrgefühl des Ein¬
zelnen gekränkt und Diensteifer und Opferwilligkeit immer seltner wurden.
So lange übrigens Radetzky noch lebte, bewahrte wenigstens die Armee
in Italien noch einen guten Theil jenes Geistes, welcher in den Jahren 1848
und 1849 so große Dinge verrichten half. Radetzky war fast der einzige wahr¬
haft große und redliche Charakter, welchen Oestreich in neuerer Zeit besaß, und
sein Wirken ein Beweis, was ein einziger Mann, ja oft nur der Name dessel¬
ben zu vollbringen vermag. Fast könnte man sagen, daß mit ihm der gute
Genius des östreichischen Heeres entwichen sei.
Somit war denn, es dürfte dieses hier deutlich genug bewiesen worden
sein, ein großer Theil der östreichischen Armee im Jahre 1858 vom General
bis zum Gemeinen herab unwillig, uneinig und des höheren kriegerischen
Geistes ledig. Gyulai wußte die Zeit von der Uebernahme des Heerbefehles
bis zum Ausbruche des Krieges vortrefflich zu benutzen, um das Gute, was
bei den in Italien stationirten Truppen noch übrig geblieben, gründlich zu
verderben.
Nun kam das Jahr 1859.
Wunderbarer Weise hatte fast die ganze Armee von dem Augenblicke an.
wo der Ausbruch des Krieges gewiß erschien, alle bisher erlittenen Unbilden
vergessen und eilte begeistert in den Kampf. Wol mochte zu solch günstiger
Stimmung auch die Hoffnung beitragen, daß nun die Friedensplackerei auf¬
hören, nach beendeten Kriege aber eine wesentliche Verbesserung eintreten werde.
Ferner gab der Krieg Gelegenheit, sich auszuzeichnen und emporzubringen.
Dann erinnerten sich die meisten an die Feldzüge Radetzkys und glaubten,
daß auch Andern gelingen werde, was' jener greife Held anscheinend spielend
vollbracht hatte. Zwar setzte man gleich Anfangs keine besondern Hoffnungen
aus Gyulai; doch hatte man die ganze Unfähigkeit dieses Mannes noch nicht
in ihrer vollen Größe erkannt und hoffte endlich Alles von den ihn umgeben¬
den Kapacitäten.
Es wäre immerhin rathsam gewesen, zu untersuchen, ob dieser Enthusias¬
mus auch allerorts ein wahrer, und nicht etwa ein schnell verfliegender Rausch
des Augenblicks, nicht bei Manchen nur erheuchelt sei. Aber einige dem Kaiser
zugerufene Evviva's genügten, um die Verläßlichkeit der italienischen Regimen¬
ter außer allen Zweifel zu stellen und selbe in den Kampf gegen Landsleute
und Freunde zu schicken. Auch der Civilstand zeigte vielfach seinen Patriotis¬
mus, wenn es auch manche Kreise gegeben haben mag, die dem Feinde den
Sieg über das herrschende System wünschten. Von allen Seiten wurden Opfer
aus dem Altare des Vaterlandes niedergelegt, und überall bildeten sich Vereine
zur Unterstützung und Pflege der Verwundeten. Im großartigsten Maßstabe
bethätigte sich die Opferwilligkeit der Provinzen an der Errichtung der Frei-
corps. Fünsunddreißigtausend Mann, theils zu Pferd theils zu Fuß waren
binnen wenigen Wochen nach dem ersten Aufrufe zu den Waffen geeilt, un¬
gerechnet Jene, welche sich zu den stehenden Truppen anwerben ließen, und
ohne Einschluß der tirolischen Landesvertheidiger und der Trichter Milizen!
Diese Ziffer erscheint um so bedeutungsvoller, wenn man bedenkt, daß
man die Freicorps in Oestreich von jeher, wie etwa die Fremdenregimenter
in Frankreich, d. h. als Kanonenfutter verwendete.
Aber diese Begeisterung sollte sehr bald erlöschen und Unmuth, Ermattung
und Abgestumpftheit an ihre Stelle treten.
Denn trotz der ungeheuren Geldopfer und der überstürzenden Hast, mit
welcher die Rüstungen betrieben worden waren, zeigte es sich gleich bei der
Eröffnung des Feldzuges, daß es eigentlich an Allem fehlte. Das Kriegs-
commissariat, welches erst kurz vorher, zum Belorusse der ganzen Armee, reor-
ganisirt und ungebührlich bevorzugt worden war, erwies sich als gänzlich
unentsprechend, indem es jetzt mit - der Verpflegung mißlicher wie je aus¬
sah. Oft mußte der Soldat ohne genügende Nahrung auf den ermüdendsten
Märschen und auf Vorposten tagelang allen Unbilden der Witterung trotzen,
während die für ihn bestimmten Brod-, Fleisch- und Wcinvorräthe an entle¬
genen Orten theils verdarben, theils später dem Feinde zu Gute kamen. .
Zwecklose Hin- und Hermärsche und der bei jeder Gelegenheit sich, breit ma¬
chende Parade- und Kamaschendienst ermüdeten und verstimmten die Truppen.
Unter den Generalen herrschten Uneinigkeit und Neid, wozu eine" fast unglaub¬
liche Unschlüssigkeit hinzukam, welche bei einigen in dem Gefühle ihrer eigenen
Unfähigkeit, meistens aber darin ihren Grund hatte, daß der alte berüchtigte
Hofkriegsrath? — zwar unter anderem Namen — aber in noch ärgerer Gestalt
wieder erstanden war, indem man die Operationen bis in das kleinste Detail
von Wien aus leiten zu können vermeinte. Demungeachtet wiegten sich höhere
und niedere Offiziere selbst jetzt noch in Siegesträumen.
Aber schon die ersten Unfälle, besonders der Tag bei Montebello, erzeugten
>n dem Hauptquartier die maßloseste Verwirrung. Furcht vor der Größe der
Zu übernehmenden Verantwortlichkeit lähmte die Thatkraft der Einen, während
Andere in gut gemeintem, aber schlecht angewendeten Eifer sich in ihnen nicht
zugewiesene Dinge mengten und dadurch Unordnung hervorriefen. Jene end-
uch, welche Willen und Einsicht besaßen, wurden am Bessermcichcn durch das
Mißtrauen der Uebrigen oder durch den zu beschränkten Wirkungskreis ihrer
Stellung verhindert. So bei Magenta nach der Ankunft des Feldzeugmeisters
Heß- Das Erscheinen, des Letzteren wurde mit Jubel begrüßt, da man längst
°'nen Wechsel im Oberbefehle als das einzige Rettungsmittel erkannt hatte.
Aber der Frldzeugmcister, im Laufe der Schlacht anlangend und ohne unum¬
schränkte Vollmacht, konnte beim besten Willen auf die an ihn gerichteten
Anfragen und Bitten nichts anderes erwiedern, als: „Ich bin nicht Armee¬
commandant; — wenden Sie Sich an den Feldzeugmeister Gyulai." Noch
ärger kamen die Dinge, nachdem der Kaiser den Befehl persönlich übernommen
hatte. Niemand wagte es, dem Letzten die ganze Sachlage offen zu enthüllen,
oder Einrede zu thun. Diejenigen, welche noch soviel Freimuth besaßen, um
wenigstens einen nützlichen Vorschlag zu machen, wurden meist bald davon
abgeschreckt. So z. B. jener bewährte Artilleriegeneral, welcher sich bei Sol-
ferino die Aeußerung erlaubte, daß „es an der Zeit wäre, die Reserveartillerie
vorzunehmen", und welchem hieraus ein Adjutant aus der kaiserlichen Suite
bedeutete, daß „Seine Majestät solche Einmengung in die Führung des Ober¬
befehls sehr unliebsam aufnehmen würden!"
Beinahe alle einsichtsvollen Generale waren vor dieser Schlacht der An¬
sicht, daß mit einem entscheidenden Schlage wenigstens so lange gewartet
werden müßte, bis die Armee wieder gesammelt und in ihrer Stimmung so¬
wie der Zahl nach durch die zu erwartenden Verstärkungen gekräftigt wäre.
Aber die Ungeduld des Kaisers und der denselben umgebenden jungen Offiziere
ließ eine hoche Zögerung nicht zu. Die Schlacht wurde gewagt und — ver¬
loren. Wenige Tage darauf langten bei fünfzigtausend Mann frischer Truppen
auf italienischem Boden an und vielleicht dreißigtausend waren noch auf dem
Marsche dahin begriffen. Ja viele andere Truppen und der größte Theil der
Freicorps waren noch nicht einmal aus ihren Friedens- oder Errichtungssta¬
tionen im Innern des Reiches aufgebrochen.
Der Friede zu Villafranca beendigte den Kampf. Ob zum Vortheile
Oestreichs, dürfte jetzt noch mehr, als damals verneint werden müssen. Jeden¬
falls aber mochte man schon damals fühlen, daß man sich übereilt und daß
man, wenn auch den scheinbaren finanziellen und politischen Bedürfnissen des
Augenblicks, so doch nicht dem Gebote der militärischen Ehre, welche wenigstens
noch einen Versuch verlangt hätte, Genüge gethan habe. Daher ließ man
den Soldaten noch mehrere Wochen in dem Glauben, daß der abgeschlossene
Frieden nur ein Waffenstillstand sei. während dessen zur Wiederaufnahme des
Kampfes gerüstet werde. Aber Regiment um Regiment wurde zurückgeschickt,
die Freicorps wurden aufgelöst und das Werk des Friedens begann.
Was vorauszusehen war. geschah. Hütte der Krieg für Oestreich glücklich
geendet, so hätte der militärische Hofstaat des Kaisers ohne Zweifel allen
Ruhm sich beigemessen, alle Vortheile für sich ausgebeutet. Wahrscheinlich
hätte indessen auch der Kaiser in seiner Freude den Truppen Belohnungen (beson¬
ders solche, die nicht mit großen augenblicklichen Geldopfern verbunden gewesen
wären) zukommen lassen, und die von Einzelnen begangenen Fehler wären in dem
allgemeinen Freudentaumel vergessen worden. Nun aber wurde die Schuld des
ganzen Unheils überall — nur nicht dort, wo sie wirklich lag — aufgesucht. Zuerst
wurden zahlreiche Pensionirungcn eingeleitet. Wer während seiner ganzen
Dienstzeit nur das Geringste gethan, was mißliebig gedeutet werden konnte,
war sicher, aus die Liste der Auszumusternden gesetzt zu werden, wofern er
nicht besonders einflußreiche Gönner besaß. Das Avancement in den untern
Stellen wurde gänzlich eingestellt, wogegen bei der Generalität, beim General-
stabe und beim Adjntantencorps ungeachtet vieler Ueberzähligen fortwährend
Beförderungen stattfanden. Die Befehle über ordonanzmäßigen Anzug, über
Ehrenbezeigungen u. tgi. wurden verschärft und die Parade- und Exerzirplätze
nunmehr höchstens zur Nachtzeit leer. Die Insolenz der kleinen Tyrannen
wuchs zu einer früher kaum geahnten Höhe. Da der Finanzminister seine
Klagen dringender als je erhob, so suchte man um jeden Preis überall zu
sparen und beging Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten in Menge. Von allen
Gebühren, besonders aber von jenen der Subalternoffizicre, Unteroffiziere und
selbst der Soldaten wurde etwas abgezwackt, und sogar die ohnehin magere
Kriegsgebühr auf eine bedeutend geringere Ration herabgesetzt.
Allerdings wurden die meisten Truppen reorganisier und hiebei mehrere
der frühern Einrichtung anklebende Fehler verbessert; aber die Hast und ander¬
seits die Halbheit, womit diese Reformen durchgeführt wurden, sowie der
häufig angefügte Beisatz „Provisorium", erstickten im Voraus das Vertrauen.
Durch diese Reorganisation sielen sehr viele Offiziere als überzählig aus.
Um dieselben möglichst bald los zu werden, wendete man verschiedene
Mittel an. Den meisten Erfolg hatte die Bewilligung des Auftrittes mit
einer zweijährigen Gageabfertigung. Diese Maßregel, in gewöhnlichen Zeiten
sehr billig ja gerecht, war in diesem Zeitpunkte durchaus inhuman, indem
Viele, durch augenblickliche Unzufriedenheit, durch die schlechten Avancements¬
verhältnisse und häusig auch durch Geldverlegenheiten aufgeregt, sich durch
die geringe Summe von 800—1000 Gulden blenden ließen und, ohne eine
gesicherte Zukunft vor sich zu haben, den Abschied forderten. Mehr als 800
Offiziere verließen in der kurzen Zeit von sechs Monaten das Heer. Als man
nun aber die Masse der Ueberzähligen hinlänglich gelichtet glaubte, wurde
diese Begünstigung sofort aufgehoben und nunmehr nur der Austritt ohne
Entschädigung gestattet.
Am ärgsten aber verfuhr man mit den Freiwilligen. In dem Aufrufe
Zur Errichtung von Freicorps hieß es ausdrücklich, „daß allen Offizieren ihre
Eharge unter allen Umständen garantirt werde und daß der Kaiser sich vor¬
behalte, bei Auflösung der Freicorps über die Eintheilung der Offiziere zu
verfügen." Der letztere Beisatz wurde Vielen erst nachträglich bekannt gemacht,
dabei jedoch versichert, daß von einer Entlassung keine Rede sein könne. So
verzichteten denn Viele auf ihre, meist vortheilhaften Privatanstellungen und
traten freudig als Offiziere in die Armee oder zu den Freicorps ein, wenn
auch mit niederem Range, als sie ehedem bekleidet hatten. Die Wiener Frei¬
willigen langten kurz nach der Schlacht bei Solferino in Verona an, und ein
Bataillon derselben nahm noch an einer Expedition gegen die Franzosen
Theil. Die Auflösung begann im September und es wurden nun alle neu
eingetretenen Offiziere mit einem Zehrgelde von ungefähr 100 Gulden ohne
Weiteres entlassen und ihnen zugleich bedeutet, ihre Uniform und ihren Titel
sofort abzulegen. In ihren Hoffnungen so unerwartet und bitter getäuscht,
fügten sich diese Veteranen (denn die Meisten hatten schon früher zehn bis
fünfzehn Jahre gedient) gleichwohl ohne Murren in ihr Schicksal und eilten
nur, ihre Heimath zu erreichen, um ihre früheren Anstellungen zu erlangen,
was damals auch fast allen noch gelungen wäre. Da erschien aber ein kaiser¬
licher Befehl des Inhalts, „daß alle diese Offiziere wieder in die Armee ein¬
gereiht werden sollten, wofern keine begründete Einwendung gegen sie zu
machen sei."
Darauf reichten die. welche sich im Besitze einer guten Conduite wußten,
ihre Gesuche ein und opferten in dem monatelangen Zeitraume, welcher bis
zur Entscheidung verfloß, willig ihre letzte Habe auf, indem sie die sichere
Hoffnung auf die Erreichung ihres Zieles tröstete. Nach beinahe einem Vier¬
teljahr aber wurden fast alle unter den nichtigsten Verwänden abgewiesen und
mußten nun zu ihrem noch größeren Schrecken erfahren, daß mittlerweile auch
ihre Privatanstellungen an Andere vergeben worden waren. So wurden mit
einem Federstriche mehrere hundert wanke-rc Staatsdiener brodlos und damit
zu Unzufriednen gemacht. Sollte die Regierung jetzt wieder Freicorps errichten
wollen, man würde trotz der lockendsten Versprechungen schwerlich ein einziges
Bataillon zusammenbringen; man müßte denn dasselbe aus Vagabunden und
den Bewohnern der Strafhäuser recrutiren. Denn auch die Mannschaft war
in ihren Erwartungen vollständig getäuscht worden. Man wollte bei der Auf¬
lösung der Wiener Freicorps die Leute überreden, in die Jägertruppe ein¬
zutreten, und von 1300 Mann meldeten sich nur 43 (von denen zudem die
Hälfte untauglich waren) zur Annahme einer ein- bis zweijährigen Dienstzeit!
Nur bei der Reiterei und namentlich bei den freiwilligen Husaren und
Uhlanen erhielt sich ein besserer Geist und guter Wille.
Daß man sich aber die bitteren Erfahrungen des letzten Feldzuges nicht
besonders zu Herzen genommen hat, zeigt sich noch jetzt bei verschiedenen Ge¬
legenheiten. So will man jetzt, wo der Ausbruch des Krieges in wenigen
Wochen zu erwarten ist, die Verpflegsbeamten und Kriegscommissäre reorga
nisircn und ein ganz neues Verpflegungswesen einführen. Wer aber weiß,
wie schwierig jede solche Aenderung in einer Zeit ist, wo selbst die mit dem
alten Systeme Vertrauten oft in Verlegenheit kommen, wird wissen, was die
Folge davon sein muß.
Die Berufung Venet.elf nach Italien hat allerdings große Freude erregt,
aber dieser brave General wird sehr viel zu thun haben, um nur das. was
seine Vorgänger verdorben haben, wieder in das rechte Geleise zu bringen.
Der Generalstab, welcher unbeschadet der Verdienste einiger seiner Mitglieder
im letzten Kriege zu vielfältigen Klagen Veranlassung gegeben hat, ist seither
auch nicht besser eingerichtet worden. Auch das Adjutantencorps, dessen blo¬
ßes Dasein schon ein Uebelstand war. wurde erst vor einigen Tagen aufgelöst
und gab bis zu diesem Augenblicke seine von der Hofluft durchdrungenen Mit¬
glieder als Offiziere höheren Ranges zu den verschiedenen Truppen der Linie ab.
Diese Uebelstände erkennt setzt mehr oder minder selbst der gemeine Mann
und ist darüber unzufrieden. So ist bei den Truppen, welche gegenwärtig nach
Italien geschickt werden, nicht eine Spur jener Begeisterung zu finden, welche
1859 die östreichischen Soldaten erfüllte. Still und ernst rücken die Leute
auf die Bahnhöfe ab und auch nicht ein Jubelruf erfüllt bei der Ankunft oder
Abfahrt eines Militärtrains die Luft. Selbst die Offiziere unterlassen es, die
Mannschaften zum Vivatrusen aufzumuntern, was früher fast jederzeit geschah.
Man scheint dieses aber auch zu wissen und jeder unangenehm berühren¬
den Kundgebung ausweichen zu wollen, da die Truppen meist in kleineren
Transporten und ohne Aufsehen befördert werden und sich bei ihrer Ankunft
oder Abfahrt fast niemals eine höher gestellte Persönlichkeit einfindet. Sonst
wurden die Soldaten bei derlei Anlässen fast immer durch einen General, oft
auch durch einen Erzherzog empfangen oder begleitet. Selbst Offiziere hörte
man es offen aussprechen, daß sie sich freuen würden, wenn ihr Regiment
uicht nach Italien geschickt würde.
So ist denn auch jetzt fast überall nur Unzufriedenheit und Gleichgiltig'
keit zu finden. Alles hegt nur einen Wunsch, den Wunsch nach einer Abände¬
rung der gegenwärtigen Verhältnisse, gleichviel aus welche Weise dieselbe herbei¬
geführt wird. Ein Gefühl der Niedergeschlagenheit lähmt die Thatkraft selbst
der entschlossensten Männer des Heeres. Auch darf man es nicht übersehen,
daß die nationale Agitation unter den nichtdeutschen Truppen, besonders nnter
den Ungarn und Südslawen viele Anhänger gefunden und die Zahl der Un¬
zufriedenen vermehrt hat.
Endlich drückt auch die durch die Entwerthung des östreichischen Papier-
geldes entstandene Theuerung die Gemüther nieder und der im Venetianischen
Angeführte Zwangscours der Banknoten lastet weniger auf der Bevölkerung,
als auf dem Beamten und Soldaten.
Kommt es also zum Kriege, so wird man zwar nicht wie in Neapel den
Abfall ganzer Regimenter erleben, außer man wäre unvorsichtig genug, niber-
mals Italiener in den Kampf gegen Italiener zu schicken. Auch Gehorsams¬
verweigerungen und Feigheit werden nicht leicht vorkommen. Dank der un¬
verwüstlichen Zähigkeit und Ausdauer der meisten östreichischen, zumal der
deutschöstreichischen und nordslawischen Truppen, werden sich unsre Leute tapfer
schlagen und wol auch an einigen Orten kleine Erfolge erringen. Aber das
Bewußtsein, für eine von Vielen im Voraus aufgegebene Sache zu kämpfen,
mitunter auch der Mangel an Vertrauen zu de» Führern und die Folgen der
mangelhaften Verproviantirungsanstalten werden nur zu bald Unwillen und
Mutlosigkeit herbeiführen. Die Uneinigkeit und theilweise Unfähigkeit der
Oberoffiziere, sowie die Abhängigkeit derselben von den aus Wien ertheilten
Befehlen, manche andere schlechte Anstalten, endlich aber die entschiedene Ab¬
neigung der italienischen Bevölkerung, deren passiver Widerstand, heimliche
Verrätherei, oder gar offene Jnsurrection, werden das Neblige thun. Sehr
wahrscheinlich werden sich dann die Erscheinungen des letzten Krieges in noch
grellerer Weise wiederholen. Helfen könnte nur ein Mann, welcher durch die
unwiderstehliche Kraft seiner Umsicht und seines Willens die Armee in kurzer
Zeit umschaffen und jeden Widerstand, sowol von feindlicher als von der eig¬
nen Seite niederzuwerfen vermöchte. Ob Bencdek dieser Mann ist, wird ab¬
zuwarten sein. Selbst Radetzky hätte unter den gegenwärtigen Verhältnissen
nur wenig zu leisten vermocht. Er hätte aber auch wol schwerlich die Dinge
Wir geben nun das, was Professor Petermanns Exdruse über die po¬
litischen Verhältnisse seiner ehemaligen Glaubensgenossen mittheilt. Es geht
daraus hervor, daß sie eine Art aristokratischer Hierarchie bilden. Jede Ort¬
schaft hat einen Versammlungsort, den sie Mcdschlis (Rathhaus) oder Chalwe
(Einsiedelei) nennen. Hier finden sich in jeder Nacht zwischen Donnerstag und
Freitag die Wissenden und zwar sowol Männer als Frauen ein. um Gottes¬
dienst und zugleich Rath über weltliche Angelegenheiten zu halten, da Regie-
mag und Religion bei ihnen nicht voneinander getrennt find. Die Zeit der
Zusammenkunft ist die zweite Stunde nach Sonnenuntergang, die Dauer der
Versammlung zwei bis drei Stunden. Man hat sie im Verdacht gehabt, daß
sie bei diesen Zusammenkünften, die sehr geheim gehalten werden, unzüchtige
Orgien hielten (wie sie bei unsern Muckern und in den Scheunen, wo die katho¬
lischen Wallfahrer rasten, in der Finsterniß vorkommen), unser Berichterstatter
sagt jedoch, daß diese Behauptung alles Grundes entbehre. Im Gegentheil
soll es in dem Chalwe sehr ehrbar zugehen, und zwischen den Frauen und
Männern eine Scheidewand von Holz oder Zeug gezogen sein, die jene vor
den Blicken dieser verbirgt, ihnen aber doch gestattet, die gehaltenen Reden
zu hören.
In dem größten Orte jedes Bezirks ist eine Kreisversammlung, an welche
die in den Versammlungen der einzelnen Dörfer gefaßten Beschlüsse gelangen.
Diese Kreisversammlungen senden dann wieder ihre Beschlüsse an die General¬
versammlung in dem Orte B'aklin auf dem Libanon. Dies war der befestigte
Sitz der Regierung des Libanon, bevor in diesem Jahrhundert Dejr El Ka-
mar (das „Mondklostcr") als Metropole des Gebirgs erbaut wurde. Jede
Ortsversammlung schickt aus ihrer Mitte einen Vertreter zur Kreisversammlung,
die in jeder Donnerstagsnacht zusammentritt. Derselbe, der zu den „Ausgezeich¬
neten." dem höchsten Grade der Wissenden, gehören, muß. kehrt, sobald die
Berathung geschlossen ist, heim, um darüber zu berichten. Ebenso senden die
Kreisversammlungen aus ihrer Mitte einen Vertrauten zur Generalversamm¬
lung nach B'aklin, und zwar jeden Donnerstag ein anderen, dahin ab.
Die Versammlungen beginnen damit, daß man die von den Ortsbewoh¬
nern überbrachten Nachrichten sowie die Meldungen der aus den Kreis¬
versammlungen und von B'aklin zurückgekehrten Vertraute» erwägt, die darin
enthaltenen Neuigkeiten über Volk, Beamte. Gouverneure u. s. w. bespricht
und darauf hin Beschlüsse vorbereitet. Hierauf liest einer, der eine schöne
stimme hat, etwas aus den sechs heiligen Büchern vor und zwar mit Mo¬
dulation und Gesang, wie die Mohammedaner beim Vorlesen des Koran zu
thun gewöhnt sind. Dann folgt das Absingen einiger ihrer religiösen Ge¬
dichte, die sie „Heereslieder" nennen, und welche das sogleich näher zu schil¬
dernde große Drama des jüngsten Tages, das Erscheinen der fünf „End¬
punkte" mit dem tapfern Heer aus China und die Vertilgung der Christen
und Mohammedaner beschreiben. Endlich folgt eine Art Communion. Es
werden Früchte, je nach der Jahreszeit, aufgetragen oder ein Kuchen von ge¬
trockneten Feigen oder Rosinen mit Wallnüssen und gerösteten Kichererbsen —
^n Mahl, das von dem Depositalvermögen der Versammlung bezahlt wird.
Nachdem die Anwesenden davon gegessen, wird der erste Theil der Sitzung
Schlossen. Die Frauen mit der Mehrzahl der Männer entfernen sich, und
es bleiben nur die „Ausgezeichneten" des Orts mit denen, die aus andern
Versammlungen gekommen sind, zurück. Nun erwägen die Vorsteher die wich¬
tigsten Angelegenheiten, die zu ihrer Kenntniß gelangt sind, sowie alle Ne-
gierungssragen, deren Einsicht dem Volke niedern Grades vorenthalten bleibt.
Dann werden die etwa erforderlich scheinenden Maßregeln, z. B. die Rache
an dem einen oder dem andern Feind, die Absetzung eines Richters oder Gou¬
verneurs, die Plünderung einer Ortschaft berathen. Nachdem man sich darüber
verständigt, geht man auseinander und die fremden Vertrauten kehren in ihre
Heimath zurück, um am folgenden Donnerstag über das, was sie gehört,
Bericht zu erstatten. Auf diese Weise werden die Angelegenheiten der Ein¬
zelnen zu gemeinschaftlichen, wenigstens allgemein bekannten, wie wenn sie nur
eine große Familie wären, und sie wenden allen Fleiß und Eiser darauf, diese
Ordnung der Dinge aufs Beste zu erhalten: „Nach dem. was von ihrer Ge-
schicklichkeit und ihren Einrichtungen bekannt geworden ist," sagt unser ara¬
bischer Darsteller, „haben sie die meiste Aehnlichkeit mit dem, was von der
Brüderschaft der Bauleute (d. d. der Freima u rer) in Europa erzählt wird."
Nachdem die Drusen sich in dem Wadi Et Teju niedergelassen hatten,
breiteten sie sich nach dem Dschebel Esch schuf, sowie nach Arkub, nach dem
Dschurd und nach Meer aus. hierauf über den Dschebel El Ala bei Aleppo.
über die Gegend von Safed in Galiläa wie über das Gebirge Karmel (wo
jetzt aber keine mehr wohnen) und endlich über den Dschebel El Mati. Als
später die Jemeniden im Libanon von den zahlreicheren Kaisiden überfallen
wurden, wanderten viele der ersteren nach dem Hauran, östlich vom Libanon
aus, und hier befestigte sich ihre Herrschaft ganz besonders, weil die Moham¬
medaner und Christen hier wenig zahlreich waren und sich in ihrer Nähe das
für die Truppen der türkischen Negierung schwer zugängliche Bergland der
Ledscha befand. Hier hat die Psorte ihren Willen niemals ganz geltend
machen können, sondern sich damit begnügt, daß die Drusen ihre Obmncht
mit Worten anerkannten. Bei ernstlichem Wollen freilich würde es ihr auch
hier nicht unmöglich sein, die Drusen sich wirklich Unterthan zu machen; vor
der Occupation des Landes durch die Aegypter hatten die Paschas von Da¬
maskus nicht mehr als fünfhundert Mann regulärer Reiterei zur Verfügung, und
doch drangen ihre Befehle meistentheils durch und in allen Theilen des
Paschaliks fürchtete man ihre Macht. Die Negierung will die Drusen aber
nicht zu sehr geschwächt, sie will sie bis zu einem gewissen Grade mächtig
sehen, damit ihre Nachbarn, die Christen durch sie niedergehalten und in der
Entwickelung zur Widerstandsfähigkeit gegen die Türkenherrschaft gehemmt
werden, und sie hat dies wiederholt und erst im verflossenen Jahre wieder da¬
durch bewiesen, daß die Paschas den Drusen unverhohlen zur Bekämpfung
der Christen Hülfe leisteten oder wenigstens bei den Angriffen der Drusen auf
die Christen nicht einschritten. Wenn sie jetzt gegen jene zu Felde zieht,
so geschieht dies einestheils, weil Europa dies verlangt, anderntlieils
aber paßt es sehr gut in ihre Politik. Nachdem die Mcironiten, die freilich
auch nichts weniger als unschuldig waren, durch die von. den Vertretern 'des
Sultans unterstützten Drusen auf lange Jahre geschwächt sind, kann die Pforte
jetzt unter dem Vorwand. gerechte Strafe verhängen zu müssen, auch die
Drusen sich unschädlich machen.
Unter den bisherigen Verhältnissen mußten namentlich im Hauran, die
Macht der Drusen und ihre Anzahl von Jahr zu Jahr wachsen. Ihre Glau¬
bensgenossen eilten zu ihnen aus allen Gegenden, wo sie bedrängt waren.
Christen und Mohammedaner verloren durch sie immermehr von ihren Be¬
sitzungen in der Ebne, und das Gebirge sammelte immer größeren Reichthum.
Wo die Drusen nicht mit Gewalt durchdringen, bedienen sie sich der Schlau¬
heit und Verstellung. Sie verstehen sich vor allen übrigen Bewohnern Sy¬
riens aus schone Redewendungen und edles Auftreten, sowie auf die Kunst,
sich Andere geneigt zu machen und sie für ihre Zwecke zu gewinnen. Wer
sich mit ihnen verbindet, oder zu ihnen seine Zuflucht nimmt, dem lassen sie
keinen Schaden geschehen, und ost hat ein Druse, um den Adel seines Stam¬
mes zu bewahren, seines fremden Freundes wegen die eigenen Verwandten ge-
tödtet. Sie sind im Allgemeinen tapfere Leute, aber nur in den Tagen des
Glückes und der Macht; in den Zeiten der Unterdrückung zeigten sie sich um
so unterwürfiger und ertrugen Gewaltthätigkett und Verachtung wie kein An¬
derer. Aber trotzdem, daß die Christen unter ihnen im Allgemeinen tapferer
und mannhafter sind als sie, unterlagen sie doch in den meisten Fällen, theils
weil die Regierung den Drusen Beistand leistete, theils weil die Scheichs aus
deren Mitte waren; nur unter der Negierung Emir Beschirs aus der Familie
Schehab, der den Drusen niemals half, zogen diese stets den Kürzeren, auch
wenn sie an Zahl überlegen waren.
In früherer Zeit bestrebten sie sich, die Mohammedaner dadurch zufrie¬
den zu stellen, daß sie sich für ihre Glaubensgenossen ausgaben und unter
anderen Beweisen dafür alljährlich Leute aus ihrer Mitte für Lohn mit der
Pilgerkarawane nach Mekka ziehen ließen. Noch unter der jetzigen Generation
bemühte sich der Drusenscheich Beschir Dschunbalctt. Vater des noch heute im
Libanon lebenden Scheich Said, dadurch die Herrschaft zu erlangen, daß er
sich als Anhänger des Islam geberdete. Er erbaute in seiner Residenz, dem Fle¬
cken El Müchtare, eine Moschee mit Minaret, hielt sich einen mohammedanischen
Imam und einen Muezzin und ließ die Drusen der Nachbarschaft die fünf täg¬
lichen Gebete sowie das Freitagsgebet verrichten. Dann überredete er einen
thörichten Jüngling "aus der fürstlichen Familie der Schehabiden, den Emir
Hasar, seinen Vater und seinen Oheim zu ermorden und vorzugehen, er habe
dies als guter Mohammedaner gethan, weil jene zum Christenthum überge¬
treten seien. Dies geschah im Jahre 1819. Emir Hasar befolgte- diesen
Rath, erreichte aber damit nicht, daß er, wie der Verführer ihm vorgespiegelt,
von der Pforte an Emir Beschirs Statt zum Oberhaupt des Gebirges ernannt
wurde. Vielmehr schickte ihn Suleiman Pascha, der damalige Gouverneur
von selda, in Ketten nach Konstantinopel. Scheich Beschir Dschunbalat ließ
sich jedoch dadurch nicht abschrecken, neue Pläne zur Erlangung der Oberherr¬
schaft im Gebirge zu schmieden. Im Jahre 1824 verband sich mit ihm eine
große Anzahl von Drusen sowie ein Theil der Maroniten. die man durch Ge¬
schenke oder Drohungen gewonnen, und so zogen sie unverhofft gegen den Emir
Beschir, der nur 15t) Mann seiner Leibwache bei sich hatte. Zu diesem stie¬
ßen noch die Scheichs von Neked. dje den Scheich Beschir Dschunbalat ha߬
ten, weil er ihre Väter ermordet, und etwa 300 Christen von Dejr El Ka-
mar. Der Emir vertheidigte sich mit dieser geringen Mannschaft erfolgreich
gegen das 13000 Mann starke Heer des Scheichs, erhielt noch einen kleinen
Succurs vom Gouverneur von selda. lieferte dem Feinde drei Treffen und
besiegte ihn trotz seiner Uebermacht. Auf der Flucht aus dem Libanon wurde
Scheich Beschir mit seinem Verbündeten Scheich Ali El Amat von Mustapha
Pascha Bailanli. Gouverneur von Damaskus, gefangen genommen, der den
Scheich Ali sofort niederhauen ließ, den Scheich Beschir aber zu dem Pascha
von selda schickte. Dieser gebot, ihn'als Aufrührer zu erdrosseln, und als
er in Erfahrung gebracht, daß derselbe, um die Mohammedaner zu täuschen, die
Moschee in El Muchtare erbaut, ließ er den Leichnam noch auf Grund eines
eingeholtem Fetwa (Rechtsschluß) in Stücke hauen.
Dies mag hinreichen, zu zeigen, wie die Führer der Drusen Politik
machen. Die Vorgänge der letzten beiden Jahrzehnte sind bekannt, und
wir gehen jetzt zu den Mittheilungen über, welche unser Berichterstatter über
die Zahl der Drusen im Jahre 1853 und über die Hauptfamilien derselben
giebt. Gewöhnlich nimmt man an. daß die Secte 100 bis 160,000 Köpfe
zähle. Dies ist jedoch sehr übertrieben. Die Zahl der Drusen im Libanon
und anderswo übersteigt nicht 50.000 Seelen. Davon wohnen im Libanon
etwa 27,000, in Chasbcya, Rascheya und Merdschajun 7000, im Bezirk von
Bellan, in Damaskus und der Ghuta gegen 4000, auf dem Haurnngebirge
8000. im District von Safed 1500. auf dem Dschevei El Ala 2000 und im
Ras Beirut 500 , welche letzteren zu der Secte Zekutt gehören, mit der die
Drusen wegen ihrer Niedrigkeit nicht umgehen,, die aber zu ihnen zu zählen ist.
Der Adel der Drusen zerfällt in drei Classen oder Grade: Fürsten oder
Emire, Vorsteher und Scheichs.
Zu den Emiren gehörte das jetzt ausgestorbene Geschlecht Tenuch und
die alte Familie Ruslan im Westen des Libanon, die ebenfalls ausgestorben,
aber in den heutigen Ruslan erneuert worden ist. Der erste von diesen war
Fachr Eddin. Als er 1750 starb, folgte ihm in seiner Würde sein blödsinniger
Sohn Abbas, für den seine Gemahlin Hahns im westlichen Theil des Libanon
regierte, wobei ihr der erwähnte Scheich Beschir Dschunbalat zur Seite stand.
1853 lebte von ihren Söhnen noch der jüngste. Emir Emin, ein sehr schlauer
Herr, der stark den Islam heuchelte und im südlichen Theil des Gebirges mit
der Würde eines Kaimnkams (Stellvertreters des Pcidischah) die Drusen re¬
gierte, so weit unter den geschilderten Verhältnissen von einer Negierung die
Rede sein kann. Zu den drusischen Emiren ist ferner dus Geschlecht Abu'l
Lama zu rechnen, welches in drei Familien zerMt: 1) Die Kajid Beis, aus
welcher Emir Beschir El Achmed. der 1853 Kaimakam deF nördlichen Theils
des Libanon war, abstammt. Derselbe war Christ, seine Eltern aber waren
im drusischen Glauben gestorben. 2) Die Familie Murad. 3) Die Familie
Fares. Letztere waren ursprünglich nur Mukkademun (Vorsteher) und gelangten
erst durch den mohammedanischen Emir Haidar zum Emirat. Von den Abu'l
Lama ist keiner mehr Druse, einige bekennen sich zum Islam, die Mehrzahl
derselben aber hat den Glauben der Maroniten angenommen, zu dem sich auch
fast >M Glieder der vornehmen Familie Schehab halten.
Von den Vorstehern der Drusen ist nur noch das Geschlecht Mezher üb¬
rig, welches in dem Gebiet El Meer (in der Mitte zwischen dem jetzt meist
von Maroniten bewohnten Norden und dem vorzüglich von Drusen besetzten
Süden des Libanon ansässig ist und zu den Verwandten der Scheichs Dschun¬
balat gehört.
Die Zahl der drusischen Scheichs ist groß, und um diese Bezeichnung
richtig zu verstehen, bedarf es einer Erläuterung. Das Wort „Scheich" wird
in der Anrede sowie im arabischen Briefstyl im Libanon unter Drusen, wie
unter Christen allen angesehenen Personen gegenüber gebraucht, wie in Pa¬
lästina das Wort „Chowadsche", wie unter den Italienern der Levante „Sig-
nore", wie unter uns „Herr". Sodann versteht man darunter die Obermeister
der Gilden in den Städten und die Vorsteher der Dörfer (Schulzen oder Rich-
ier). obgleich sie aus dem niedern Volk genommen werden. Endlich aber be¬
zeichnet man damit diejenigen Adeligen des Libanon, welche die Emire von
Familie Schehab mit dem Titel „Geehrter Bruder" anreden. Denn der
Adel sämmtlicher Familien des Libanon wird von diesen Emiren verliehen,
K>eil sie das angesehenste Geschlecht in Syrien bilden und von Allen als Vor¬
nehmste anerkannt sind.
Die Scheichs dieser dritten Gattung sind nun doppelter Art: einmal sind
!le einfache Adelige, die von ihren Gütern leben und über niemand Macht
^der Recht haben, dann aber gibt es unter ihnen solche, bei denen mit der
Scheichwürde die Herrschaft über einen bestimmten Bezirk verknüpft ist. Als
die Schehabiden zur Alleinherrschaft über das ganze Gebirge gelangt waren,
standen diese Scheichs im Verhältniß von Vasallen oder Unterfürsten zu ihnen.
Als die Herrschaft jener von der Pforte aufgehoben und der Libanon unter
zwei Emirs, einen drusischen und einen maronitischen getheilt wurde, blieb fast
kein einziger Scheich von ihnen unter der Oberherrschaft des Emirs der Christen,
sondern sie traten mit alleiniger Ausnahme der Vorsteher des Stammes Mezher
unter die Herrschaft des im südlichen Libanon regierenden Drusenemirs. Die
Drusenscheichs gebieten über alles Volk, das in ihren Districten wohnt: Drusen,
Mohammedaner, Christen und Motualis, und die Zahl der Christen unter
ihnen betrügt etwa das dreifache der Zahl der Drusen.
Die vornehmsten und reichsten Scheichs der Drusen sind die von der Fa¬
milie Dschunbalat. Sie beherrschen den Dschebel Esch schuf, den Bezirk
Dschezzin, den Dschebel Er Nisan, und den District Charnub. 1853 stand
an ihrer Spitze Said Bey.
Dann sind zu nennen: das Geschlecht Amat, welches von dem schehabidischcn
Emir das untere Arkub erhalten hat. das aus Nordafrika stammende Geschlecht
Beni Neked, welches von jenem über die Districte El Menasef und Esch Scha-
l,ar sowie über den frühern Regierungssitz Dejr El Kamar gesetzt wurde»(den
sie indeß -1841 im Kriege mit den Maroniten verloren, worauf der Pascha
von Saida dorthin einen besondern Kaimakam sandte), ferner das Geschlecht
Telchuk, welches im vorigen Jahrhundert mit der Scheichwürde über den obern
Westen des Gebirgs belehnt wurde, dann das Geschlecht Abdul Melik. welches
die Scheichs des Dschurd liefert.
Diese fünf Familien erfreuen sich eines größern Ansehens als alle andern
Scheichs der Drusen. Andere sind: die Scheichs der Familie Id, welche das
obere Arknb. und die Beni Hamadi, welche den Flecken B'alcun beherrschen.
Die Stämme des Libanon zerfallen rücksichtlich der Gemeinschaft der
Emire, Scheichs und Unterthanen in zwei Theile: die Dschunbalati und die
Iezbeki. Zu de» erstem gehören die Dschunbalat, die Ruslan und die Id.
zu den letztern die Amat, die Telchuk und die Abdul Melik, sodaß die Emire
des Gebirges, die Schehab und die Abu Lama unter die Dschunbalati und
Jezbeki vertheilt sind. Nur das Geschlecht Relat steht zwischen beiden Gruppe»
in der Mitte und neigt bald zu der einen, bald zu der andern hin.
In Chasbeya herrscht die mit den Dschunbalat verwandte Familie Sehens
und die Familie Kis. Die Scheichs von Nascheya stehen unter denen von
Chasbeya, die größten unter ihnen sind die Familie Orjan und die Familie
Nassar. Die Scheichs von Chasbeya wieder sind dem mohammedanischen
Emir aus dem Geschlecht Schehab unterworfen, der seinerseits unter dem Pascli^
von Damaskus steht. Unter den Adelsfamilien des Hauran sind die Bein
Hamdan die vornehmsten, aus denen der Scheich der Scheichs über ihre Ort-
schalten gewühlt wird. Andere angesehene Familien des Hauran sind die
Hezime. die El Atmsch. die Aamer und die Fachr; sie gelten für edler als die
Beni Hanidan, aber trotzdem gehört die Scheichwürde stets diesen zu.
Der Adel des Hauran gilt für geringer als der des Libanon, und die
Drusen jenes Berglandes sind (wol dnrch den Verkehr mit den benachbarten
Beduinen) rauher und weniger eifrig in Beachtung der Vorschriften ihrer Re¬
ligion geworden. Sie kehren sich nicht viel an den Unterschied zwischen erlaubten
und unerlaubten Speisen, sind ungerecht und habgierig gegen die Schwachen
und halten überhaupt nicht viel von Austand. Rechtschaffenheit und guter
Sitte.
Den niedrigsten Standpunkt endlich nehmen die Drusen ein. die in der
galilüischen Judenstadt Safed wohnen. Sie gelten den übrigen als Feiglinge,
und ihre Geschlechter bekleide» keinerlei Würden.
Dies ist die Gegenwart der Drüsen. Ihre Zukunft gehört wieder in das
Gebiet der mystischen Poesie und hat große Aehnlichkeit mit den Vorstellungen,
welche sich die chiliastischen Secten des Christenthums, der Verfasser der Apo¬
kalypse, die Mormonen und andere Schwärmer dieser Gattung vom jüngste»
Tage und vom letzten Gericht machen.
Wie die Juden auf den Meschiach. die bibelgläubigen Christen aus die
Pnrusie Christi hoffen, so glauben auch die Drusen, daß dereinst ihr Gott
Hakim Beamrihi in ^Begleitung der „fünf edlen Endpunkte" wiederkehren
werde. Sie behaupten, daß diese letztem seit ihrem Verschwinden in den Re¬
gionen des innern China hinter dem „Berg der Scheidewand" leben. Dieser
Berg ist wol die verdunkelte Vorstellung von der großen Mauer, und die Ver¬
weisung der „Endpunkte" nach Immer-China (der Mongolei) vielleicht ein
Nachhall der Mongolenzüge nnter Timur. die bekanntlich sich bis nach Syrien
^streckten. Sie glauben, daß sämmtliche Bewohner des Reichs der Mitte
Drusen lind daß sie zugleich Nachkommen der Verlornen zehn Stämme Israel
sind. (Die Mormonen haben diese Vermißten bekanntlich in den Rothhäuten
Amerikas wiedergefunden.) Sie sind das Volk des „edlen Gog und Magog"
und ihre Zahl beträgt den fünften Theil des gesammten Menschengeschlechts.
Versucht man ihre oben angeführte Ansicht, daß hie Zahl der Menschen
sich stets gleich bleibe, nie zu- und nie abnehme, mit der Erfahrung zu widcv-
legen. nach welcher die Zahl ihrer eignen Glaubensgenossen in Syrien nickt
"mener dieselbe war. und im Kriege oft an einem Tage mehr Menschen
umkommen, als an demselben geboren werden, im Frieden dagegen die Zahl
der Geburten die der Todesfälle übersteigt, so erwidern sie darauf, daß die
Überzahl der Todten in China wieder geboren werde, die Ueberzahl der
Geburten aber von dort herkomme. Wie sie sich diesen Vorgang denken, er-
^de man aus dem Gebrauch, nach welchem, wenn bei den Drüsen ein Kind
zur Welt kommt, das nicht sofort schreit, die Eltern dos Fenster des Gemachs
öffnen und die Leute, die sich um das Neugeborne drängen, entfernen, damit
die Seele zu ihm kommen könne.
Die Wiederkehr Hakims und den Tag der Auferstehung und des Gerichts
werden nach der Meinung der Drusen verschiedene Zeichen der Welt verkün¬
digen. Zunächst werden die Franken mit Gewalt die Meeresküste von Syrien
wegnehmen. Darauf wird der Padischah der Moslemin sich rüsten, sie zu
bekriegen und die Kirche der Auferstehung in Jerusalem (Keniset El Kijame,
von den Drusen mit den Mohammedanern als Keniset El Kumame. d. i.
„Kirche des Kothes" bezeichnet) zu zerstören. Er wird mit ihnen kämpfen, sie
verjagen und die genannte Kirche niederreißen. Wenn dies die Könige der
Christen erfahren, werden sie sich mit dem König Johanna und dem sudani¬
schen König Abu Sewiktin (in welchem letzteren der Asas oder Satan wieder¬
geboren sein wird) verbinden, eine große Versammlung halten und den
Beschluß fassen, zur Rache wegen ihres zerstörten Heiligthums die Kaaba
zu vernichten. Mit zahlreichen Heerschnaren werden sie gen Mekka ziehen,
und wenn dies die Mohammedaner hören, werden sich ihre Padischahs,
Emire und Khane ebenfalls aufmachen, den Feind von ihrer heiligen Stadt
abzuhalten.
Während beide Theile nun nach Arabien marschiren, um sich dort eine
Schlacht zu liefern, trifft die Kunde bei ihnen ein, daß aus dem fernen Osten
ein gewaltiges Kriegsheer heranzieht. Dies ist Hamza Ben Ali und die vier
andern Endpunkte, die sich aus dem Innern Chinas in Bewegung gesetzt haben,
an den Berg der Scheidewand gelangt sind, das mit Metallplatten bekleidete
Thor durchbrochen haben und mit ihrem Volke, dem edlen Gog und Magog
dritthalb Millionen Reiter stark herausgezogen sind, um das Gericht über die
Ungläubigen zu bringen. Sie rücken zuerst mit ihren Reisigen in das Land
der Chazaren ein, fahren dann in Schiffen über das indische Meer und steigen
in der Gegend von Hadschar, wo die Secte der Karmcitier zuerst auftrat, aus.
Dies geschieht im Monat Dschumadi oder Redscheb. Dort hält Hamza Muste¬
rung, vertheilt das Heer unter die vier Endpunkte und gibt einem jeden fünf-
hunderttausend Mann, indem er für sich ebensoviel behält. Dann rückt er
in der Richtung von Mekka vor.
Wenn die Christen und Mohammedaner dies hören, befüllt sie großer
Schrecken. Sie stellen ihren Kampf ein und vereinigen sich zu gemeinschaftlichem
Widerstand gegen das Heer aus Osten. Aber ihre Angst vermehrt sich mit
dem Herannahen desselben. Ihr Muth entsinkt ihnen und gewaltiges Zittern
kommt über sie. Sie halten Rath und beschließen, sich dem großen König-
der von Morgen her gegen sie heraufzieht, in Demuth zu unterwerfen. Aus¬
gesuchte Geschenke werden von ihnen zusammengetragen, und ihre Könige
bringen dieselben auf ihren Schultern, unbedeckten Hauptes und barfuß daher
schreitend dem Feldherrn des edlen Gog und Magog entgegen.
Sie treffen auf ihrem Wege zunächst auf einen ausgezeichneten König,
unter dessen weißem Panier eine halbe Million Reiter in weißer Rüstung auf
weißen Rossen stehen. Sie halten ihn für den Imam, er aber sagt ihnen,
daß er Beda Eddin, der kleinste der Endpunkte ist. und daß der Imam sich
hinter ihm befindet. Weiter ziehend stoßen sie auf ein zweites Reitergeschwader,
das ebenso stark als das erste ist und veilchenblaue Banner. Pferde und Klei¬
der hat. Der Führer desselben ist Abul Chair Salama, der vierte der End¬
punkte. Er weist sie hinter sich, und sie kommen zu dem dritten Endpunkte,
Mohammed El Keleme, dessen Heer, so stark wie die vorigen, gelbe Fahnen,
Pferde und Gewänder führt. Von diesem gleichfalls weiter gewiesen, gelangen
sie zu einem Heere mit rothen Standarten, Rossen und Rüstungen, geführt
von Ismail, dem zweiten der Endpunkte, der „universellen Seele", dem „Herrn
des Saugens" (weil er Weisheit aus Hamza saugte), welcher nächst dem Imam
der vornehmste in der Hierarchie der Drusen ist. Die rothe Farbe seiner
Schaar bedeutet Zorn und Rache; denn er wurde nach der Tradition, als er
>n der Gestalt Johannis des Täufers auf Erden wandelte, von Herodes und
später in der Periode des Hamza wieder von den Griechen getödtet. Auch er
weist die Könige mit den Geschenken hinter sich, und nun begegnen sie „dem
glückseligen Herrn", dem Imam Hamza Ben Ali selbst. Ueber seinem Haupt
stottert eine gelbe Fahne, seine fünfmalhunderttausend Reiter haben Rosse und
Kleider von grüner Farbe', alle wilden Thiere der Erde gehen vor ihm her
und sind ihm Unterthan.
Wenn nun die Könige der Ungläubigen ihm mit der demüthigen Bitte,
>Kner gnädig und barmherzig zu sein, und ihre Gaben in Gnaden auzuneh-
wen, entgegentreten, wird er sich letztere überreichen lassen unh, den Ueberbringern
^fehlen, vor ihm her nach Mekka zu ziehe». , Mittwoch, den achten Tag des
Monats Dsul Chiddsche werden alle dahin gelangen. Den folgenden Tag
wird die Aufstellung zur Rechenschaft stattfinden. Freitag den neunten wird
..Opferfest", die Auferstehung und das Gericht mit dem Schwert über die
Ungläubigen gehalten werden.
Die Nacht vom Mittwoch auf den Donnerstag bringen die Christen und
Moslemin auf der Ebne von Mekka in größter Angst urtd heftigstem Zittern
Am nächsten Morgen mit Aufgang der Sonne erscheint plötzlich Hakim
^amrihj und zwar in derselben Gestalt, wie er sich zuletzt in Kahira zeigte,
^nent auf Kamar(Mond), seinem weißen Esel. Er steigt auf das Dach der
Kaaba, stellt sich auf die östliche Spitze, schwingt ein goldnes Schwert und
^si den Ungläubigen mit einer Stimme, die sie erbeben läßt, ins Gedächtniß,
^ sie nicht geglaubt haben, als er ihnen in menschlicher Gestalt sich offen-
hart. Er zählt ihnen die Perioden vor, in denen er sich ihnen im Fleisch
gezeigt und sie aufgefordert zu seiner Verehrung und zum Bekenntniß der Ein-
heitslehre, und erinnert sie, wie sie trotzdem in ihrer Verblendung und Wider¬
spenstigkeit beharrt.
Dann werden sich auf Gott Hakims Befehl Gewitter über der Kaaba
entladen, sie zerstören und spurlos von der Erde vertilgen. Hierauf w!rd
Hamza mit seinen Gefährten, den vier Endpunkten auf goldnen mit Perlen
und Edelsteinen geschmückten Thronen unter einem prachtvollen Baldachin
sitzend den Versammelten Rechenschaft abnehmen. Zuerst werden die Gläubi¬
gen vortreten. Gott Hakim wird sie mit gnädigem Antlitz empfangen, ihnen
alle ihre Vergehungen verzeihen, ihnen köstliche Gewänder geben, ihnen Kro¬
nen von Gold und Juwelen aussetzen, sie auf wunderbar schönen Rossen
reiten lassen und sie mit den werthvollsten Waffen zieren zum Lohne für das,
was sie durch die Gewaltthätigkeit der Ungläubigen erlitten haben.
Nachdem dies geschehen, übergibt Hakim sein goldnes Schwert an Hamza,
und dieser tödtet damit den Ibn El Berberije und den Mohammed Ed Derezi,
die wiedererstandenen Lügenpropheten. Den Abu Sewiktin aber, welcher der
Satan ist, legt er in Ketten, läßt ihn in den Ländern umherführen und ge¬
bietet ihn. sobald man nach Balkh in Khorassan gekommen ist, in einer gold¬
nen Schüssel abzustechen.
Nachdem Hamza die beiden Lügenapostel erschlagen, übergibt er das Schwert
an den zweiten Endpunkt, Ismail, und nun beginnt ein furchtbares Würgen
und Gemetzel. Die Einheitsbekenner schlagen ihre Schwerter durch die Hälse
der Christen und Moslemin. Weder Groß noch Klein wird geschont, sondern
sämmtliche Bewohner von Mekka mit den Königen und allem ihrem Heer bis
auf die Frauen und Kinder werden niedergehauen. Sie dringen vor bis
Konstantinopel, ir> die Länder der Franken und nach den Inseln des Meeres,
erobern Alles, tödten die Menschen, rauben ihr Vermögen und plündern die
«Schatzkammern der Fürsten. Keine Seele wird in diesen Landen und Inseln
übrig bleiben, und dies ist die Auferstehung. Nun herrscht Hamza in der
heiligen Stadt Aegyptens El Kahira, die vier Endpunkte sitzen zu seiner Rechten
und Linken und Gott Hakim Beamrihi bleibt bei ihnen ewiglich. Die El»'
heitsbekenner bekleiden, jeder nach seinem Verdienst, hohe Würden und werden
zu Königen, Wessnen und Emiren ernannt. Alles übrige Volk (welches er¬
schlagen war, aber, wie man voraussetzen muß, wenn es keinen Widersprach
geben soll, nach einiger Zeit wieder auflebt) wird ewig unter dem Joch der
Sklaverei und der Zuchtruthe bleiben. Man wird ihnen einen Tribut ause^
legen und ihnen Ohrgehänge geben, nach denen sie in drei Classen zerfallen-
» Die erste Classe, welche sie die Gegner oder das Volk des äußerliche"
Gesetzes nennen, begreift die sunnitischen Mohammedaner und die Juden '"
sich. Jeder von ihnen wird in seine Ohren zwei Gehänge, zwanzig Dirhem
(Drachmen) schwer bekommen, und ihr Kennzeichen wird sein, daß das Ende
des Unken Aermels ihres Rocks mit der Farbe von Ringeltauben gefärbt ist.
Man wird von ihnen jährlich drMhalb' Denare (Goldmünzen) als Tribut er¬
heben. ----- " ' '>'-^.
Die zweite Classe, welche die drusischen Bücher als die Götzendiener, das
Volk der mystischen Erklärung oder des innerlichen Gesetzes bezeichnen, umfaßt
die Christen, die Schiiten und die Nosairier. Ihnen wird man in die Ohren
Gehänge von Eisen, dreißig Drachmen schwer hängen. AIs Unterscheidungs¬
zeichen werden sie am rechten Rockärmel einen schwarzen Streifen habe», und
sie werden jährlich einen Tribut von vierthalb Denaren entrichten.
Die dritte Classe sind die Scheingläubigen, die „Magier des Volks Mo-
lsammeds", d. h. solche Drusen, die im Zustande des Nichtwissens starben und
die, welche Hamzas Predigt,einst vernahmen und glaubten, nach seinem Ver¬
schwinden aber von ihm abfielen. Sie werden am übelsten gestellt sein.
Man wird ihnen Ohrgehänge von schwarzem Glas, vierzig Drachmen schwer
geben und ihnen eine Jahressteuer von fünf Denaren auferlegen. Ihre Kenn¬
zeichen werden sein, aschgraue Farbe des Vordertheils ihrer Kleidung und eine
hohe spitze Mütze von Fuchsfell. Der Tribut wird von Allen, vom Greise
bis zum Kinde in der Wiege, Männern und Frauen, eingefordert werden.
Die Ohrgehänge werden sie im Sommer wie Feuer brennen, im Winter ihnen
Kälte verursachen wie Schnee. Jedes Jahr wird man das Gewicht derselben
untersuchen, und die, welche es verringert haben, werden ihre Köpfe verlieren.
Sie werden ferner einen abscheulichen Geruch um sich verbreiten, den aber
nur sie, nicht die Einheitsbekenner riechen, sie werden an Leib und Seele
niemals Ruhe haben und, gleichviel was sie essen oder trinken, fortwährend
einen bittern Geschmack im Munde spüren.
Der Tribut der Unterworfenen wird an drei Orten niedergelegt werden:
Aegypten in der Moschee Ihr El Aas bei der Kible. in Damaskus in der
Moschee des Moawija und in Bagdad in der Moschee, welche an der West¬
seite der Stadt liegt.
Die Glückseligkeit, welche den Drusen zu Theil werden soll, der Ueber¬
fluß an Habe und Genuß, der ihnen verheißen ist, wird ewig währen. Nichts
wird sie quälen, nichts sie verunreinigen, „nicht einmal ein Floh wird einen
von ihnen stechen," wogegen die Andersgläubigen ein Flohstich wie ein Scorpio-
nenbiß brennen wird. Die Seelenwanderung wird allerdings auch dann noch
stattfinden, alle hundertundzwanzig Jahre wird einer von ihnen sterben, aber
der Uebergang vom Tode zur Wiedergeburt wird sich ohne Furcht und Schmerz
u> Ruhe und Genuß vollziehe»,. Jeder von ihnen wird alle seine Verwund¬
ungen von einem Körper in den andern von Erschaffung der Welt bis auf
die letzte Zeit genau kenne» und Freude daran hoben. Die Andersgläubigen
werden dieses Wissen auch besitzen, aber zu ihrem Leidwesen, und wenn einer
von ihnen stirbt, wird er mit Trauer, Angst und Schmerz vom Leben
<»!''et,net«Ä«'<>> «n,»et'»'T '-Niultti^ chjt,(it.j et'-ttöi II«,'/ Iium llvW
Hält man ihnen ein, daß wir nichts von unserm frühern Leben wissen
und so auch nichts davon, daß wir damals nicht geglaubt haben, so ant¬
worten sie: dieses Wissen war verbreitet in den Tagen der Offenbarung, als
die Einladung gläubig zu werden an alle Bewohner der Erde gelangte. Aber
nach dem Verschwinden Hakims zog Hamza diese Gabe zurück, und ertheilte
sie nur denen, die er sich auserwählte. Sie behaupten aber auch, daß viele
von ihren Kindern jederzeit von ihren Seelenwanderungen erzählen und die
Wahrheit ihrer Berichte mit unwiderleglicher Beweisen darthun, sowie daß
am Tage der Auferstehung jedermann die Wanderungen seiner eignen Seele
in jeder Periode wissen werde.
Ein Beispiel dafür, daß Kinder sich erinnern, früher gelebt zu haben und
diese Behauptung bewiesen, mag diese Mittheilungen über die Drusen und
ihren Glauben beschließen.
Vor etwa fünfzig Jahren begann ein drusisches Kind aus dem hohen Ge>
birge. El Dschebel El Ala im Gebiet von Aleppo sich, obwol es noch nicht
fünf Jahre alt war. über die ärmliche Lebensart seiner Eltern zu beklagen,
indem es versicherte, früher im Ueberfluß gelebt zu haben. Als man es fragte,
wo dies gewesen, antwortete das Kind, es habe in Damaskus gewohnt. Abu
Hasar El Kabbam geheißen, ein Haus in der und der Straße im Stadt¬
viertel der Teimenscr (wo die Drusen angesiedelt sind) gehabt und Frau und
Kinder hinterlassen. Nach seinem Ableben sei es in einem andern Orte wie¬
dergeboren worden, aber schon nach einem halben Jahre wieder gestorben
und darauf bei ihnen wieder zu einem Körper gekommen. Da das Kind diese
Erzählung mehrmals wiederholte, so suchte man sich endlich darüber Gewi߬
heit zu verschaffen. Man brachte den Knaben nach Damaskus. und als er
in die Nähe der Stadt kam. sagte er zu seinen Eltern, daß ihm der Weg be¬
kannt sei. Er nannte ihnen ferner die Dörfer, Aecker und Straßen, die sie
berührten. Er gab ihnen die Namen der Gassen und Märkte, als sie nach
Damaskus selbst kamen, ja selbst die von einigen Personen, denen sie dort
begegneten, an. Endlich mit ihm in das Quartier der Teimenser gelangt, zeigte
das Kind ihnen sein Haus. Es klopfte an die Thür, eine Frau antwortete
ihm von innen, und da es ihre Sinne hörte, sagte es zu seinen Begleitern
„dies ist meine Gattin". Der Knabe rief die Frau bei ihrem Namen und
sprach: „Oeffne." Sie that die Thür auf, und er sagte ihr, daß er ihr ver¬
storbner Gatte sei.
So gleich kamen die Drusen, die in der Nachbarschaft wohnten, von der
Geschichte benachrichtigt, herbei und fanden erstaunend, daß es mit den An¬
gaben des Kindes in allen Einzelnheiten seine volle Nichtigkeit hatte. Der
Tod jenes Abu Hasar El Kabbani siel genau in die Zeit, welche er genannt
hatte. Ebenso bestätigte sich, was der Knabe in Betreff der Zahl, der Na¬
men und des Lebensalters seiner Kinder berichtet. Ebenso was er von
Pferden gesagt, die er mit Andern zusammen besessen. Es war ferner voll-
kammen wahr, was er von einem gewissen Moslem gesagt, der ihn während
der Krankheit, die seine letzte gewesen, besucht, und ein Narghile bei ihm
geraucht haben sollte. Dabei war eine Kohle auf die Decke gefallen, in die
er sich gehüllt, und hatte in dieselbe ein Loch gebrannt. So erzählte der
Knabe, und siehe da, als man die Decke untersuchte, stieß man richtig auf
das Brautloch. Sodann bestätigte sich, was er von dem Soll und Haben
gesagt, welches er hinterlassen. Nur ein kleiner Posten, den ein Talarbeveiter
ihm schuldete, war nicht in sein Rechnungsbuch eingetragen. Alles andre ver¬
hielt sich, wie die Frau und die Kinder des verstorbenen und nun in Kindes¬
gestalt wiedererschienenen Abu Hasar versicherten, mit Ausnahme der Schuld
des Schneiders durchaus so, wie der Knabe angegeben. Man ließ den Schnei¬
der kommen, und er gestand auf Vorhalten der Behauptung des Knaben die
Schuld, von der er gegen die Familie nur aus Noth geschwiegen haben wollte.
Endlich der Hauptbeweis: der Knabe berichtete, daß er als Abu Hasar El
Kabbani an einem geheimen Orte seines Hauses einen Topf mit Geldstücken
vergraben, und zählte deren verschiedene Sorten auf. Man hatte denselben
bisher nicht gefunden, aber als man jetzt nachgrub, fand sich der Geldtopf,
und die Münzen darin waren dieselben, die das Kind genannt.
Nach dieser Zeit blieb der Knabe noch einige Tage bei seiner Frau und
seinen Kindern, die natürlich älter waren als er selbst. Man gab ihm einen
Theil seines Vermögens, dann reiste er mit seinen neuen Eltern wieder heim
nach dem Dschebel El Ala.
Unser Berichterstatter war vor dreißig Jahren einmal mit mehren Wis¬
senden von den Drusen zusammen, die ihm erzählten, daß sie Abu Hasar
El Kabbani vor seinem Tode in Damaskus gekannt und auch nach seiner
Wiedergeburt auf dem Dschebel El Ala mit ihm von der Sache gesprochen
hätten. Er hätte ihnen das Ganze mit großen Betheurungen auf ihre Glau¬
benslehren berichtet und ihnen keinen Zweifel darüber gelassen — „aber,"
so schließt unser Exdruse seine Erzählung, „Gott weiß es am Besten!"
....
Es ist vielfach der Wunsch ausgesprochen, daß die Landtagsabgeordneten
etwas kräftiger als es in den beiden letzten Sessionen geschehn in das poli¬
tische Leben Preußens eingreifen möchten. Auch wir halten diesen Wunsch für
gerechtfertigt: aber man hat ihn nicht selten durch politische Stichwörter zer¬
setzt. Wenn man z. B. von den Abgeordneten verlangt, sie sollen „entschie¬
dener" auftreten, sie sollten einer „weiter vorgeschrittenen" Ansicht huldigen:
so würden wir unsern Wunsch lieber so formuliren, daß die Parteien sich all-
mälig klar machten, was in ihren Wünschen, Anforderungen, Ueberzeugungen
die Hauptpunkte und was die Nebenpunkte sind, und daß sie sich darnach klar
machten, wo sie in Bezug a-uf die Hauptsache ihre Freunde und wo sie ihre
Feinde zu suchen haben. Drei ehemalige Abgeordnete der „vorgeschrittenen"
Partei, die Herrn Rodbertus, von Berg und Bucher haben ein Programm
veröffentlicht, welches bei allen Blättern unserer Farbe den Eindruck gemacht
hat, daß sie entschieden nicht zu uns gehören. Wenn sie auch dagegen pro-
testiren würden, Gesinnungsgenossen des Herrn von Blankenburg zu sein,
so müssen wir sie doch unter den gegenwärtigen Umständen vom praktischen
Standpunkt als unsere Gegner betrachten. Denn der praktische Politiker wirkt
nicht für das kommende Jahrhundert, sondern für heute und morgen;
es kommt bei seinen Beschlüssen nicht daraus an, aus welcher Metaphysik
heraus er seine Resultate gewonnen hat, sondern was diese Resultate sind.
Ob man durch Grundsätze der aristokratischen oder der demokratischen Meta¬
physik zu der Ueberzeugung gekommen ist, die gegenwärtige Verfassung Deutsch¬
lands zu conserviren. das ist einerlei: sobald man jene Ueberzeugung hat,
gehört man zur conservativen oder reaktionären Partei.
Wenn man wünscht, in der nächsten Sitzung mehr Männer von „vor¬
geschrittener" Ansicht im Landtag zu haben, so muß man sich immer fragen:
wie denken diese vorgeschrittenen Männer über die Hauptpunkte, auf die es
jetzt ankommt? — So haben wir z. B. aus dem Programm, welches der
Abgeordnete Waldeck seinen Wählern eingeschickt hat, mit Vergnügen gesehen,
daß er für den Augenblick über diese Hauptpunkte denkt wie wir. — Auf die
politischen Ueberzeugungen eines andern Abgeordneten müssen wir heute die
Aufmerksamkeit hinlenken.
Professor Gneist hat ein Werk geschrieben, das nicht blos seinem.Namen,
sondern der deutschen Wissenschaft Ehre macht. Er hat. wo er sich sonst ver¬
nehmen ließ, immer jene Achtung erzwungen, die man einem Mann von Geist
auch da nicht versagt, wo man von vornherein entgegengesetzter Ansicht ist. Er
hat, abgesehn von seinen wissenschaftlichen Arbeiten, sich praktisch nicht blos an
dem öffentlichen Leben Preußens, sondern auch an dem Communallebcn Berlins
betheiligt. Einen Mann von seinem Wissen und seinem Talent würden wir
unter allen Umständen gern im Parlament sehen; so wie wir unter allen Um¬
ständen wünschen, auch Herrn Ger lach darin zu sehn. ' Aber ebenso leb¬
haft wünschen wir, daß es sich endlich herausstellen möge, welche Partei Ver¬
anlassung hat. ihn zu wählen. Nach den Orten zu urtheilen, wo seine» be¬
sonders gedacht wird, sollte man meinen, es sei die demokratische Partei;
aus seiner neulichen Rede dagegen über das Königthum, welche die Natio¬
nalzeitung mittheilt, würden wir eher vermuthen, er werde einmal neben
Stahl und Gerlach sitzen. Einige Punkte aus dieser Rede wollen wir hervor¬
heben?
Die drei, vorhin genannten Abgeordneten haben eine Reform der deutschen
Bundesverfassung für jetzt darum für unnöthig erklärt, weil das deutsche
Nationalgefühl gar wol die Stelle der Regierungen vertreten könne. Herr
Gneist ist darin sehr verschiedener Ansicht — Nationalgefühl und Public
Opinion wird doch wohl auf ungefähr dasselbe herauskommen. — Mit großer
Beredsamkeit schildert er die Verkehrtheit, die darin liegt, den Staat durch
Public Opinion regieren zu wollen, d. h. durch das Publicum, welches jeden
Morgen zum Kaffee seine Zeitung liest und ans derselben erfährt, welche
Stichwörter die gangbaren sind. Was er darüber sagt, ist ganz aus un¬
serem Herzen gesprochen, oder vielmehr, wir haben es selber schon viele
Male gesagt. Aber in seinen Schlußfolgerungen unterscheidet er sich wesentlich
von uns.
Auch wir haben die demokratische Theorie der Volkssouveränetät stets für
eine Thorheit gehalten. Das Nationalgefühl, die öffentliche Meinung u. s. w.
'se unter allen denkbaren Substanzen am wenigsten dazu geeignet, den Staat
ZU regieren, d. h. die Souveränetät auszuüben. Aber wir sind nie gemeint
«/Wesen. die Berechtigung dieses geistigen Factors im Staatsleben zu bestreiten.
Public Opinion ist nicht immer mächtig, sie schläft zuweilen. sie ist noch
häufiger verwirrt; aber es gibt Augenblicke, wo sie wahrhaft productiv wird,
und es gibt nur wenig Augenblicke, wo sie nicht wenigstens ablehnend sich
«ußerte. Public Opinion hat 1813 Ungeheures geleistet; sie hat in den
traurigen Jahren der Reaction wenigstens das Unerträglichste unmöglich ge¬
wacht. Sie ist ihrer Natur nach formlos, aber sie ist nicht ein Nichts, sondern
"n Etwas, und unter Umstünden sehr viel. Nach unserer Ansicht ist die Auf¬
gabe des Staats, Public Opinion zu organisiren und zugleich zu erziehen.
Jenseit des Rheins wohnt ein Mann. der. obgleich kein Gothaner. kein Con-
st'tutioneller. kein „Eigentlicher", diesen Satz sehr wohl zu beherzigen weiß.
Nach unserer Theorie ist zwar nicht das einzige, aber das einfachste und
sicherste Mittel, Public Opinion zu erziehen und organisiren, das Neprcisen-
tativsystem. Das Publicum wählt seine Stadtverordneten, seine Schulzen,
seine Kreisvertreter, endlich seine Landtagsabgeordneten. Wenn es nun ein
Widerspruch scheint, einer formlosen Masse, der wir als solcher die Regierungs¬
fähigkeit absprechen, doch die Grundlage anzuvertrauen, auf welcher das
Staatsleben sich Vertrauen erwerben soll, so vergißt man das Princip der
Wechselwirkung. Die öffentliche Meinung kann in Augenblicken übergroßer
Erregung und übergroßer Erschlafftheit sehr unsinnige Dinge verüben; sie wird
aber im Durchschnitt, im regelmäßigen Verlauf der Tinge, das darstellen,
was das Volk wirklich ist, d. h. auch was ihm zukommt. Es ist damit
grade wie mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ein Hazardspieler kann
zwanzig Mal hintereinander auf Roth sehen und immer verlieren: deshalb
bleibt es doch wahr, daß eben so oft roth als schwarz fällt.
An einer andern Stelle der Rede des Professor Gneist können wir dies
näher erläutern. Da man gewöhnlich den Ausdruck der öffentliche Meinung
in der Presse sucht, so analysirt er die Wirksamkeit derselben: die Presse be¬
stehe im Durchschnitt aus mercantilen Unternehmungen der Buchhändler; um
zu rentiren. müsse sie dem Publicum die Waare bieten, die dieses begehre.
Einzelne Ausnahmen abgerechnet, reiche also die Macht der Presse über das
Publicum nicht weiter, als ihm den Spiegel vorzuhalten.
Andere haben das Gegentheil behauptet: die öffentliche Meinung werde
gradezu von der Presse gemacht; man könne dem Publicum vermittelst der
Presse alles aufreden, wozu man Lust habe. Man hat daher geglaubt, durch
Beschränkung und Beeinflussung der Presse die öffentliche Meinung redigiren
zu können.
Beide Behauptungen erweisen sich durch den Augenschein als unhaltbar.
Die öffentliche Meinung ist nicht eine tabula rasa, der man jeden beliebigen
Inhalt aufprägen; sie ist aber auch nicht eine von vornherein fest gegründete
Ueberzeugung, auf die man nicht einwirken könnte. Wir wollen den respect¬
widrigen Vergleich des Professor Gneist nicht im Mindesten perhorresciren:
das Durchschnittsverhältniß soll so sein wie er es angibt. Der Kaufmann
bietet dem Publicum eine Waare, welche dasselbe begehrt. Was aber begehrt
das Publicum? Wird es nur das hören, was es schon selber weiß? Nie und
unter keinen Umstünden! Das Publicum will etwas Neues lernen und will
sich erbauen, es verlangt von seinem Schriftsteller, daß er an den Punkt an¬
knüpfte, wo es steht, an seine Kenntnisse, Wünsche, Vorurtheile u. s. w.; abu
wenn der Schriftsteller ihm weiter nichts bieten wollte als dieses, so würde
es ihn bald zum Fenster hinauswerfen. Es verlangt vom Kaufmann einen
Schriftsteller, der sich einerseits sein Zutraun erwerbe, andrerseits aber als co
höher Gebildeter ihm imponire. Und da im Durchschnitt die Menschen
Vortheil richtig erkennen, so werde» die Kausieute, d. h. die Buckhändler, in
der Regel bemüht sein, diese Waare wirklich zu liefern. — Die Darstellung
ist gewiß nicht überschwenglich, sondern sehr nüchtern, sie ist aber der sicherste
Beleg, daß in der Presse wie in dem Gewerbe freie Concurrenz. d. h. unbe¬
dingte Preßfreiheit. dem Zweck am besten entspricht, daß durch sie das Publicum
im Durchschnitt wirklich gefördert und zwar so weit gefördert wird, als es im
Stande rst zu gehen. — So viel, um das Princip der Wechselwirkung zu
erläutern.
Da Professor Gneist weder in Bezug auf die Wahlen -noch auf die freie
Meinungsäußerung der Presse in der öffentlichen Meinung eine genügende
Garantie für daß Staatsleben erblickt, da er vielmehr in beiden den noth¬
wendigen Grund des Verfalls der staatlichen Beziehungen in rein gesellschaft¬
liche Beziehungen zu erkennen glaubt (beiläufig ein Unterschied, der uns nicht
recht deutlich geworden ist, der aber wol ungefähr auf das herauskommen
wird, was die Kreuzzeitung unter dem Gegensatz zwischen „Corporation" und
»Association" versteht) so ist er genöthigt auf andere -Hülfsmittel zu sinnen.
Er findet zwei.
Einmal will er das Publicum durch Amtsgentry ersetzen. Nicht die Zei-
wngsleser sollen den Staat regieren, sondern diejenigen, die im Organismus
des Staats obrigkeitlich oder administrativ betheiligt sind. Ob wir hier voll¬
ständig errathen, was er eigentlich meint, können wir nicht behaupten, denn
seine Ausdrücke sind oft sehr gewunden und metaphysisch. Wir wollen die
Sache ins Concrete zu übersetzen suchen.
Eine Stadtverwaltung hat verschiedene Ausgaben: Straßenpolizei. An-
leguiig von öffentlichen Gebäuden u. s. w. Dazu bedarf sie Einnahmen, die
unter die Bewohner repartirt werden. Damit die Obrigkeit nun nicht will¬
kürlich verfährt, hat man ihr Stadtverordnete zur Seite gesetzt, die, wenn
der Nath auf Kosten der Gemeinde zu viel unternehmen will, ihn beschränken,
wo er saumselig ist, ihn antreiben, die Art der Steuer ihm bestimmen, die
Stadtgesctze bewilligen, die richtige Durchführung desselben überwachen u. s. w.
Wer soll nun diese Stadtverordneten wählen? Der Vernunft nach alle
diejenigen, welche bei der zweckmäßigen Anordnung und richtigen Ausübung
der Gesetze betheiligt sind. d. h. die gesammte Einwohnerschaft, das gesammte
Publicum. Wo hier die Amtsgentry zu finden sein soll, würde uns Herr
Gneist schwerlich weisen können; wol aber wissen es die consequenten Gegner
der Freiheit: die Amtsgentry sind die Patricier, die Hausbesitzer, die erd-
,gefesselte Bürgerschaft, die Zunftvorsteher u. s. w. — Nicht Association son¬
dern Corporation! — Auf den Staat angewendet, dessen Haushalt im We¬
sentliche,, doch nur ein erweiterter Stndthaushalt ist. heißt die Antwort: die
Amtsgentry sind die Stände.
Dies ist die eine Stütze des Staatslebenß bei Professor Gneisi; da er
sich aber darüber nicht klar ausdrückt, da er sich vielleicht sein Princip selber
nicht zum Bewußtsein gebracht hat, so sind wir genöthigt gewesen, ihn durch
Schlußfolgerungen zu ergänzen.
Bei dem zweiten Punkt haben wir das nicht nöthig. Die zweite Stütze
seines Staatslebens ist: XinA in Louneil. Die organischen Gesetze des
Staats sollen nicht von dem wechselnden Ministerium ausgehen, noch weni¬
ger vom Parlament, sondern von dem Staatsrath, dem der König prüsidirt.
Das Parlament soll weiter keine Befugniß haben, als diese vom Xing' in
Louneil gegebenen Gesetze pure anzunehmen oder abzulehnen. Mit einem
Wort: es ist das Oorvs IsZisIatit Napoleons III. — Der ganze Verfall der
modernen Staaten soll davon herrühren, daß KinZ in Louneil seine Souve-
rainetät theilweise an seine Minister abgetreten hat.
Wir denken, dieser Punkt wäre hinlänglich klar, und seine Wichtigkeit
nicht zu verkennen. Die ganze Entwickelung des preußischen Staats seit dem
Anfang dieses Jahrhunderts beruht daraus, den Unterschied zwischen Ccibi-
netsregierung und Ministerialregierung mehr und mehr aufzuheben:
man denke an den berühmten Brief des Freiherrn v, Stein an König Fried¬
rich Wilhelm den Dritten. Es ist die Rede von der Einbringung eines Ge¬
setzes über die Verantwortlichkeit der Minister. Wir legen auf die praktische
Anwendung desselben kein großes Gewicht; desto größeres auf den moralischen
Eindruck desselben. Die Minister sollen wissen, daß sie moralisch für alle
Handlungen der Regierung verantwortlich sind, daß sie also die moralische
Verpflichtung haben, sobald ihnen der König in einem bestimmten Punkt sein
Vertrauen entzieht, sofort ihre Entlassung einzureichen. Er entzieht ihnen
aber sein Vertrauen, sobald er sie in Bezug auf einen Theil ihrer Functionen
ihrer Verantwortlichkeit überhebt, sobald er z. B. mit Umgebung des Mini¬
sters der auswärtigen Angelegenheiten mit fremden Mächten unterhandelt.
Der Punkt, auf den es jetzt vielleicht am meisten ankommt, abgesehen von
der großen auswärtigen Politik, auf die wir im nächsten Heft zurückkommen, >
ist die Herstellung einer einheitlichen Regierung in Preußen, einer Regierung,
bei der die reckte Hand immer weiß was die linke thut, bei der beide von
einem Willen bestimmt werden. Für uns ists Amtsgentry vorläufig ein
mystischer Ausdruck; bestehende Mächte sind bei uns theils die Stände,
theils die Büreaukratie. Beide von der Herrschaft des Ministeriums und
mittelbar von dem Einfluß des Parlaments unabhängig zu machen ist der
Hauptzweck unserer Gegner; wer diesen Zweck fördert, ist unser Gegner.
Zwar wissen wir sehr wohl, daß Professor Gneist in seinein eigenen
wußtsein sich sehr entschieden von der Kreuzzeitung scheidet; er wirft ihr vor,
constitutionelle Gelüste zu haben: was unter Westphnlen richtig war;
wieder, wird die Zeit lehren. Er gehört einer andern Schule an. an deren
Spitze Urqhuart steht. Aus der ?r688 dieses Mannes unternehmen
wir eine Collectaneensammlung anzufertigen, in der sich ziemlich alle Stich¬
wörter des Professor Gneist wieder finden sollen. Neben seinen beiden
Hauptsätzen, daß Palmerston von Rußland erkauft ist und daß die europäische
Menschheit nur durch das türkische Bad verjüngt werden kann, spielt der
Kir>s in Louneil bei Urqhuart die Hauptrolle. Hätte England noch einen
KinA W Lounei^, so würde sich Palmerston nicht erdreistet haben, den Gc-
sandtschaftsattachv Urqhuart in der Tscherkessenfrage zu desavouiren. Zu der¬
selben Schule gehört Bucher. einer der drei Unterzeichner jenes Programms,
der sich selbst noch einen Demokraten nennt. Im Ausland geht das auch
recht gut; mitten aber unter unsern wirklichen Verhältnissen ist der Weg von
der Amtsgentry zu den Ständen, vom I^inZ in Louncil zur Cnbinetsregierung
In der Anlage beehre ich mich ein Memorandum abschriftlich zu Ew. Exellenz
Kenntniß zu bringen, welches Lord Bloomfield mir im Auftrage seines Hofes ver¬
daulich mitgetheilt hat, um uns von den Schritten zu unterrichten, welche die
k- dänische Regierung zur Ausgleichung der Differenzen in der holsteinischen Ver-
lassungssache zu thun beabsichtige. Danach würde von dem Kopenhagner Cabinet
>ehe die Ansicht geltend gemacht, daß es unter den gegenwärtigen Umstünden und
« der in Holstein herrschenden Erregtheit der Gemüther zur Zeit unmöglich sei,
>e dem Herzogthum in der Gesammtverfassung der Monarchie zu gebende Stellung
°"dgiltig zu ordnen. Man will vielmehr nur ein vorläufiges Abkommen treffen,
welches zu einer ruhigeren Erörterung zwischen Regierung und Ständen den nö¬
thigen Spielraum gewähre.
Ew. Excellenz werden leicht ermessen, wie peinlich wir uns überrascht finden
mußten. Schon find, seit den Verfassungsverheißungen von 1,851—52, neun Jahre
erfolglos verstrichen. Als vor Jahresfrist der Bundestag endlich zu executivischcn
Maßregeln übergehen wollte, wandte die tgi. herzogl. Regierung den drohenden
Schritt nur durch das Versprechen ab, daß schon in nächster Zeit Verhandlungen
mit Vertretern des Landes eröffnet "werden sollten. Auch dieses Jahr ist abgelaufen,
ohne daß irgend etwas geschehen wäre, und am Schluß wird vollends die Behaup¬
tung aufgestellt, daß die Erledigung der Sache wegen Erregtheit der öffentlichen
Stimmung unmöglich sei!
Besteht eine solche Erregtheit wirklich, so hat sie ihre Quelle grade darin, daß
die gegebenen Verheißungen noch immer der Erfüllung harren, und es ist im Ge¬
gentheil das dringendste Bedürfniß, daß diese Angelegenheit so ba-it als möglich zum
endlichen Auftrage gebracht werde.
Und in welcher Weise gedenkt die Regierung das Jnterimisticum zu regeln?
Ihre Vorschlüge in dieser Beziehung sind nicht minder unbefriedigend.
Bekanntlich hat der Bund durch seinen Beschluß v. 8. März d. I. bereits als
unumgänglich nothwendig ausgesprochen, daß für die Zwischenzeit bis zur Herstellung
eines definitiven Verfassungszustandes alle Gcsetzcsvörlagen in den gemeinsamen An¬
gelegenheiten der Monarchie, welche dem Reichsrathe zugehen, insoweit sie für Hol¬
stein Giltigkeit erhalten sollen, auch den holsteinischen Ständen vorzulegen seien, und
daß kein Gesetz über gemeinschaftliche Angelegenheiten, namentlich auch in Finanz¬
sachen, für Holstein erlassen werden dürfe, wenn es nicht die Zustimmung der Stände
des Herzogthums erhalten habe.
Die jetzigen Vorschlüge Dänemarks bleiben weit hinter dieser Anordnung zurück.
Zwar für Gesetze, welche die Personen- und Eigenthumsrechte betreffen, soll danach
den Stünden ein Zustimmungsrecht eingeräumt werden. In den Finanzangelegen-
heiten aber, und grade diese werden die wichtigste Stelle einnehmen, will man sie
nicht hören. Die Regierung will, aus eigner Machtvollkommenheit, ein AvcrsuM
festsetzen, welches von dem Herzogthum für die gemeinsamen Bedürfnisse der Monarchie,
gewissermaßen als Tribut, beizusteuern wäre. Sie will den Betrag dieses Aversi
nach denjenigen Summen bemessen, welche sie in den letzten sechs Jahren ebenfalls
ohne Bewilligung der Stände und in einer Höhe erhoben hat, die bereits Gegen¬
stand vieler Klagen geworden ist. Ueber die Verwendung jenes Aversi soll den
Stünden Holsteins keine Stimme zustehen. Nur wenn noch eine Erhöhung desselben
erheischt würde, will man hierzu ihre Zustimmung einholen.
In welche Ungleichheit der Stellung Holstein auf diese Weise im Verhältniß
den im Reichsrath vertretenen Theilen der Monarchie versetzt werden würde, leuchtet
ein. Denn der Reichsrath Hütte über die Steuern und deren Verwendung mit ent¬
scheidenden Votum zu beschließen, und es muß als eine naheliegende und gerecht¬
fertigte Besorgnis; erscheinen, daß unter solchen Verhältnissen die Finanzkräfte des
Herzogthums weniger dessen eignen Interessen, als denen der übrigen Landestheile
zu dienen haben würden.-°
Es ist hiernach offenbar eine unbegründete Voraussetzung, auf welche das Me
morandum des Londoner Cabinets die Hoffnung baut, daß die dänischen Vorschlüge
Billigung finden würden, wenn dasselbe annimmt, daß nach diesen Vorschlägen die
holsteinischen Stände über die ihr Herzogthum betreffenden Angelegenheiten thatsäch¬
lich dieselbe Controle auszuüben haben würden, welche dem Reichsrath über die
für die andern Theile der Monarchie bestimmten Angelegenheiten zustehe.
Mehrfach schon haben wir darauf hingewiesen, welche Rechtswidrigkeit über¬
haupt darin liegt, daß die dänische Regierung die Gesammtstaatsverfassung und
namentlich den durch dieselbe ins Leben gerufenen Reichsrath noch fortwährend in
Wirksamkeit beläßt, nachdem sie hat anerkennen müssen, daß dieselben rücksichtlich
Holsteins nicht zu Recht bestehen. Der Reichsrath sollte eine gemeinsame Vertretung
für gemeinsame Interessen bilden. Er hat aufgehört gemeinsame Vertretung zu sein,
seit Holstein aus demselben ausgeschieden ist. Gleichwol entscheidet er über ge¬
meinsame Angelegenheiten, mithin anch über die gewichtigsten Interessen des von
ihm nicht vertretenen Herzogthums Holstein. Wie abnorm dies ist, wie nothwendig
mit dem Ausscheiden Holsteins die Aufhebung des Ncichsraths überhaupt gegeben
war, leuchtet dem unbefangenen Blick ohne Weiteres ein. Eine Adoptirung der
jetzigen Vorschläge Dänemarks aber würde implicite zugleich eine Billigung des Fort¬
bestehens des Neichsrathcs in sich schließen. Und wenn der so begründete interi¬
mistische Zustand ein Ende nehmen würde, ist nicht wol abzusehen.
Wie man aber auch über die Vorschläge Dänemarks urtheilen möge, jedenfalls
kann der Bund sich nicht, wie das Londoner Cabinet anzunehmen scheint, ermäch¬
tigt fühlen, über eine Regelung der Verhältnisse ans dieser Basis mit Dänemark
ZU pacisciren, und Preußen ist daher auch nicht in der Lage, nach dem Wunsche
Lord John Russells in diesem Sinne in Frankfurt zu wirken. Es handelt sich hier
um Rechte der Stände, über welche der Bund nicht zu disponiren hat. Möge die
dänische Regierung darüber mit den Ständen in Unterhandlung treten. Findet sie
deren Zustimmung, so wird von Seiten des Bundes nichts dagegen zu erinnern
sein. Solcher Art aber erscheinen die Vorschläge nicht, daß der Bund bei den Stän¬
den auf deren Annahme hinwirken könnte, und eine etwa von der Regierung nach
Maßgabe jener Vorschläge zu treffenden Anordnung würde der Bund, so lange der-
selben die Zustimmung der Stände fehlte, nicht als giltig anzuerkennen vermögen.
Wie Ew. Excellenz aus Kein Schlüsse der Denkschrift ersehen werden, glaubt
das kopenhagener Eabinet eine Verständigung in der holsteinischen Frage durch
das Anerbieten gewisser Concessionen in Betreff Schleswigs zu fördern.
Wir können uns enthalten, im Einzelnen auf eine Würdigung der Bedeutung
der in Aussicht gestellten Maßregeln einzugehen, denn die Voraussetzung, an welche
s" als eine wesentliche Bedingung geknüpft worden, ist, nach unserer Ueberzeugung,
für den Bund völlig unannehmbar.
Es soll danach dem deutschen Bunde irgend ein Recht der Einmischung in die
Angelegenheiten Schleswigs nicht zustehen. Alle diesem Herzogthum zu machenden
Concessionen sollen ausschließlich als ein Ausfluß des freien Willens der dänischen
Regierung aufgefaßt und nicht als ein Zugeständnis; der Autorität des .Bundes in
Bezug auf Schleswig gedeutet werden. Hierauf wird der Bund nie eingehen
können.
Es ist allerdings ganz richtig und auch stets von uns anerkannt, daß das
Herzogthum Schleswig nicht zum Verbände des deutschen Bundes gehört, und in¬
sofern also auch der Autorität des Bundes nicht unterliegt. Hiermit aber bleibt
es nichts desto weniger sehr wol vereinbar, daß der König von Dänemark, als Her¬
zog von Schleswig, behufs der Ausgleichung der streitigen Ansprüche Holsteins ge¬
gen den deutschen Bund gewisse internationale Verpflichtungen in Betreff Schleswigs
eingegangen und zu deren Erfüllung gehalten ist. Ich darf mich in dieser Hinsicht
auf unsere ausführliche Denkschrift vom Juni d> I. beziehen, welche Ew. Ex¬
cellenz zu seiner Zeit auch zur Kenntniß des englischen Cabinets gebracht haben. Der
Geist, in welchem England so vielfach anderer Orten sein Gewicht in die Wag-
schale gelegt hat, wo es galt, einem Volke Freiheiten gegen seine Regierung zu er¬
ringen, die demselben bis dahin rechtlich nicht zustanden, die Grundsätze in Betreff
der Volksrechte, welche noch in diesen Tagen, unter dem 27. October ze., die De¬
pesche Lord John Nussells an Sir James Hudson in Turin dictirt haben, dürfen
uns nicht zweifeln lassen, daß in der dänisch-deutschen Frage, in welcher es sich
nur darum handelt, wolbcgründctc und verbriefte Freiheiten der Stände zu wahren,
Großbritannien keinen Anstand nehmen werde, bei dem Cabinet von Kopenhagen
mit seinem ganzen Einfluß auf Gewährung des Rechts hinzuwirken.
Ew. Excellenz sind ermächtigt, in Erwiderung auf die uns communicirte Denk¬
schrift dem Lord John Russell von dem Inhalt dieser Depesche Mittheilung zu machen.
I. M. Regierung hat die Depesche des Baron Schlcinitz an Gras Bernstorf
d. d. 8. Novbr. d. I., von der anliegend Abschrift erfolgt, in sorgfältige Erwägung ge¬
zogen. Die erste Bemerkung, die ich über diese Depesche machen möchte, ist, daß die
prcuß. Regierung die Stellung der englischen hinsichtlich des dem Berliner Hofe
überlieferten Memorandums mißzuverstehen scheint. Die darin enthaltenen Vorschläge
sind Vorschläge der dänischen Regierung, die englische hat sie nicht zur Annahme
empfohlen, sie hat nicht einmal behauptet, daß sich auf dieselben eine Ausgleichung
gründen lasse, sondern nur die Hoffnung ausgesprochen, daß Unterhandlungen darauf
hin eröffnet werden könnten. Eine weitere Bemerkung ist, daß I. M. Negierung
keineswegs meinte, daß der son Dänemark vorgeschlagene Steucrantheil Holsteins
nicht controlirt werden sollte, im Gegentheil sollten die holsteinischen Stände wie
der Reichsrath die Macht haben die Verwendung dieser Summen zu prüfen, und
eine solche Forderung von Seiten Preußens scheint ganz im Einklang mit dem
dänischen Memorandum. Offenbar muß Dänemark seine Stellung als unabhängiger
Staat, seine Monarchie, seine Armee und Flotte in einer seinem Range entsprechen¬
den Weise aufrecht halten, auch kann es nicht unbillig sein zu fordern, daß dazu
die Stände von Holstein und Lauenburg beitragen. Nachdem ich versucht, dies
Mißverständniß zu beseitigen, will ich die Stellung von Dänemark und I. M. Re¬
gierung zu dieser Korrespondenz näher bezeichnen.
Dänemark hat gewünscht seine Bereitwilligkeit zu versöhnlichen Schritten z»
zeigen, ohne das Recht einer Intervention von Seiten des deutschen Bundes in
Schleswig zuzugeben. Die dänische Regierung hat gemeint, es sei mehr mit ihrer
Wurde verträglich, diese Vorschläge in Betreff von Schleswig durch die unpar¬
teiisch dastehende englische Regierung und womöglich mit deren Unterstützung zu
machen, als dem deutschen Bunde direct Zugeständnisse zu machen. Die englische
Regierung ihrerseits hat die dänischen Vorschlüge sich nicht angeeignet, noch ihre ein¬
fache Annahme seitens Preußens und des deutschen Bundes empfohlen. Aber sie
gesteht ein Interesse an der Integrität der dänischen Monarchie zu nehmen und
würde bedauern, die an sich nicht bedeutende Macht derselben geschwächt zu sehen.
Von diesem Gesichtspunkt aus hätte I. M. Regierung gern alle Theile der Monarchie
billig in einem Parlamente in Kopenhagen vertreten gesehen War dies unerreich¬
bar, so hätte sie gewünscht, daß Dänemark und Holstein jedes einen verhältni߬
mäßigen Antheil der Lasten trügen, welche zur Aufrechthaltung der dänischen Unab¬
hängigkeit nothwendig sind. Baron Schlcinitz's Depesche vom 8. Nov. scheint dies
»u verwerfen, ebenso wie früher die gleiche Vertretung beseitigt ist.
Es bleibt übrig die Stellung Dänemarks zum Bunde zu betrachten. Die
Herzogtümer Holstein und Lauenburg sind deutsch und bilden einen Theil des deut¬
schen Bundes; sie stehen unter dessen Gesetzen und die Bundesversammlung und der
Herzog von Holstein-Lauenburg haben zusammen darüber zu entscheiden, was diese
Gesetze fordern und was die Zukunft des Landes sein' soll. Schleswig aber ist ein
dänische Herzogthum, auch scheint nach dem preußischen Memorandum, welches I.
Maj. Regierung vom 8. Juli dieses Jahres mitgetheilt wurde, und einer Depesche des
östreichischen Cabinets vom 26. December 1851, ausdrücklich von Preußen und
Oestreich für den deutschen Bund darauf verzichtet zu sein, Bundesgcsctze auf Schles¬
wig auszudehnen. Dennoch behauptet die prcuß. Regierung ein Recht, in Schles¬
wig zu intcrvcniren, in Folge gewisser Versprechungen des Königs von Dänemark
>M Jahre 1851.
Wir wollen erst die Form und dann den Inhalt dieser Versprechungen betrachten.
Der Form nach waren sie vom König seinen eignen Unterthanen gegeben, aber
d>e östreichische Depesche vom 26. December 1851, sowie die dänische Erwiderung in
Verbindung mit der gleichzeitigen Proclamation des Königs geben diesen Verspre¬
chungen den Charakter, obwol nicht die genaue Form einer übernommenen Ver¬
pflichtung. Der kaiserlich östreichische Minister definirt den Sinn des Programms
^s Königs von Dänemark, fordert die bindende Form einer Erklärung des Königs
und schließt mit dem freiwilligen Erbieten unter dieser Bedingung das Mandat
Oestreichs und Preußens als Vertreter des deutschen Bundes niederzulegen und Hol¬
stein zu räumen. Am 29. Januar 1852 erklärte der dänische Minister der aus¬
wärtigen Angelegenheiten im allerhöchsten Auftrags „daß der König, sein Herr. die
Interpretation seiner Absichten, welche von den Höfen von Berlin und Wien auf-
gestellt sei, als mit seinen Auffassungen ganz übereinstimmend erachte."
Was nun den Inhalt der Versprechungen angeht, so hat 1) der König von
Dänemark versprochen, daß keine Einverleibung des Herzogthums Schleswig statt¬
finden solle und keine dahin zielende Schritte gethan werden sollen. 2) hat die Pro¬
klamation vom 28. Januar eine verfassungsmäßige Entwicklung Schleswigs ver¬
sprochen, so wie. daß das Gesetz, welches darüber erlassen werden soll, namentlich
dänische und deutsche Nationalität vollständig gleichstelle und gleichmäßig schütze.
^ Unzweifelhaft bilden diese Versprechungen eine Verpflichtung, welche Se. dänische
Majestät auf seine Ehre übernommen hat zu erfüllen. Der König ist verpflichtet,
Schleswig nicht in Dänemark einzuverleiben, im Herzogthum repräsentative Stände
zu erhalten und die dänische und deutsche Nationalität gleichmäßig zu beschützen,
aber weder der Form noch dem Inhalte nach geben diese Versprechungen Oestreich,
Preußen oder dem deutschen Bunde das Recht, sich in alle Einzelheiten des däni-
schen Herzogthums Schleswig zu mischen. Wäre, es einverleibt oder seiner beson¬
dern Verfassung beraubt, so könnte Deutschland das Recht beanspruchen, zu inter-
vcniren, aber wenn jede Kirchen- und Schulsache in Schleswig zum Gegenstand der
Einmischung des deutschen Bundes werden dürste, so würden die Souveränetäts-
rechte des Königs von Dänemark nur dem Namen nach bestehen bleiben. Die bri¬
tische Regierung wird immer allen Einfluß, den sie am Hofe von Dänemark besitzt,
anwenden, um die Beschützung der deutschen Einwohner von Schleswig zu sichern,
aber wenn die preußische Regierung aus die Gefühle anspielt, welche kürzlich von
I. Maj. Regierung für die italienische Nationalität geäußert sind, so muß daran er¬
innert werden, daß im Herzogthum Schleswig 140,000 Dänen leben und der Rest
der Bevölkerung nicht rein deutsch ist, während weder in Kirche noch Staat des
Königreichs beider Sicilien irgend eine gemischte Bevölkerung sich vorfand.
In eins mögen wir die Verpflichtungen betrachten, welche der König von Dä¬
nemark gegen Oestreich, Preußen und den deutschen Bund übernommen hat, mögen
wir die Befürchtungen der dänischen Regierung erwägen, oder die Mischung der
Racen und die gerechten Rücksichten, weiche Dänen und Deutsche gleichmäßig fordern
können, — I. Maj. Regierung ist überzeugt, daß niemals eine Frage war, welche
so gebieterisch eine gemäßigte Behandlung forderte, oder bei welcher der Ausbruch
eines Kampfes nachtheiliger für alle Jntercssirtc wäre.
Die Antwort auf diese Depesche kann Herrn v. Schleinitz nicht schwer gewor¬
den sein; auf die Bemerkung, daß eine Einmischung Deutschlands in jede einzelne
Vcrwaltungs-Angelegenheit von Schleswig nicht statthaft sei, ist einfach zu erwidern,
daß jeder größere Angriff auf die Rechte Schleswigs aus vielen einzelnen verletzen¬
den'Acten bestehen muß und die systematisch betriebene Danisirung Schleswigs of¬
fenbar ein Schritt zur Einverleibung ist, welche nicht zu unternehmen Dänemark
versprochen hat. Was das Verhältniß der Dänen und Deutschen im Herzogthuwc
betrifft, so hat Lord Russell offenbar aus trüben Quellen geschöpft. Die Schlei
wigsche Ständeversammlung würde ihm unzweifelhaft zeigen, daß er sich correcter aus¬
gedrückt haben würde, wenn er in seiner Depesche gesagt hätte, der Süden Schlei
wigs sei deutsch und der Norden nicht rein dänisch. Wir bezweifeln nicht, daß
diesem Sinne von der Wilhelmsstraße aus geantwortet ist; indeß gestehen wir, nicht
einsehen zu können, was bei diesem Hin- und Hcrschreiben noch weiter herauskom¬
men kann. Der Worte sind genug gewechselt, laßt endlich Thaten reden.
In Betreff des Artikels über Friedrich den Zweiten von O. Klopp in Heft 2
bringen wir folgende thatsächliche Berichtigung, Es ist dort gesagt, daß das Land-
rathscollegium von Ostfriesland dem I)r. Klopp wegen der Tendenz des dritten Ban¬
des seiner Geschichte Ostfrieslands gegen Friedrich den Zweiten von Preußen im Jahre
1858 eine Unterstützung entzogen habe. Die Sache verhält sich dagegen so, daß
Dr. Klopp die ihm gemachte Bewilligung des Landrathcollegiums abgelehnt hat, weil der¬
selben eine Mißbilligung der Tendenz seines Buches hinzugefügt war.
Siciliana. — Wanderungen in Neapel und Sicilien von Ferdinand
Gregorovius, Leipzig. F. A. Brockhaus, 1861. Der Verfasser, bekannt durch
s«ne anmuthigen Schilderungen der verschiedensten Gegenden Italiens und seiner
^"sein, führt uns zuerst nach Neapel, dann nach Sicilien. nach Palermo, Agrigent
und Syracus. Hierauf folgt eine Abhandlung über die sicilianischen Volkslieder,
endlich schließt das Buel mit einem Ueberblick über die Geschichte des Theiles Ita¬
liens, der sich bisher das Königreich beider Sicilien nannte. Ueberall begegnen wir
gründlicher Kenntniß der Verhältnisse und Zustände, der Oertlichkeit und der Men¬
schen, überall einer tüchtigen allgemeinen Bildung, überall warmer Liebe zu dem
schönen Lande, welchem die Heroen unsrer poetischen Literatur ihre besten Stunden
und welchem wir mehre ihrer besten Schöpfungen danken. Die Landschaft und das
Volksleben sind zum Theil sehr anschaulich beschrieben, das Kapitel über die Volks¬
lieder Siciliens ist ein dankenswerther Beitrag zur allgemeinen Culturgeschichte, und
s° reiht sich das kleine Buch dem Besten an. was in den letzten Jahren über den
^über Italiens geschrieben worden ist.
Handbuch der allgemeinen Erdkunde, der Länder- und Staatenkunde.
Von or. W. Eber. Erstes Heft. Darmstadt, 1860. Verlag von Jvnghaus und
Senators kartographisch-artistischer Anstalt.
Das Werk ist eine Gratisbeigabe zu dem jetzt mit dem 38., 39. und 40. Heft
vollendeten, aus 8V Blättern bestehende» Ewaldschen Handatlas, der ramene-
^) wegen der Rücksicht, welche die Herausgeber auf die vergleichende Geographie
Ü"omnem haben, lebhaft empfohlen zu werden verdient. Ueber das Handbuch be-
richten wir ausführlich, sobald der Schluß in unsern Händen ist. Für jetzt genüge,
daß der Verfasser sich die Aufgabe stellte, ein praktisches Buch für das Haus
von mäßigem Umfang zu liefern, welches die einzelnen Länder, Volker und Staa¬
ten nach den. neuesten und besten Quellen schildert und das Gesuchte leicht finden
läßt. Damit war es mehr auf Reichthum des Materials, Uebersichtlichkeit der An¬
ordnung und Deutlichkeit des Ausdrucks als auf Schönheit der Darstellung abge¬
sehen. Das Ganze ist auf 60 Bogen angelegt. Kann man bei dieser Beschränkung
nicht so viel Detail geben als wünschenswerth ist, so hat der Verfasser dem durch
sorgfältige Verzeichnung der betreffenden Literatur über jedem Kapitel abzuhelfen
versucht.
Ludwig K. Schmardas Reise um die Erde in den Jahren 1853—1857.
Erster Band. Braunschweig, Druck und Verlag von Georg Westermann. 1861.
K. Schmarda ist seit Jahren als tüchtiger Zoolog bekannt. Das vorliegende
Buch zeigt, daß er auch für andere Gebiete ein gutes Auge besitzt. Seine kurzen
Schilderungen aus Griechenland (wo er indeß nur Athen und einige der Inseln
sah) und Aegypten (wo er Alexandrien, Kairo und die Städte und Ruinenstätten
Oberügyptens bis zu den ersten Stromschnellen besuchte) sind, wie wir aus eigner An¬
schauung bestätigen können, vortrefflich, und nicht weniger verdienen dieses Lob die
ausführlicheren Mittheilungen, die er weiterhin über die Insel Ceylon und deren
Bewohner gibt. Selbstverständlich tritt in dem Werke die Eigenschaft des Verfassers
als eines Naturforschers vielfältig hervor, aber ohne in dem Grade zu überwiegen,
daß die Schilderung dem Laien ungenießbar würde. Der Reisende ist eben keiner
von den Gelehrten, denen die Entdeckung neuer Pflanzen- und Thiervarictäten allei¬
niger oder auch nur Hauptzweck der Reise ist. Er interessirt sich sür alles, was den
Gebildete» überhaupt interessirt, und bekundet, soweit seine Arbeit uns vorliegt, durch
weg ein gesundes Urtheil (namentlich auch in politischen Dingen) und die Gabe,
das Gesehene, den Charakter der Landschaft, des Meeres, des Gebirgs, der Wüste,
des Urwalds mit wirksamen Farben zu reproduciren. Mit Vorliebe bespricht er
innerhalb des Gebiets der Naturkunde die Cultur der Nutzpflanzen, und die Agn>-
moule verdankt ihm die ersten ausführlichen Berichte über die Landwirthschaft in
den subtropischen und tropischen Ländern und den Einfluß, welchen Boden, Kliu«
und Geldverhältnisse auf dieselbe ausüben. Wir behalten uns eine eingehendere
Anzeige des Buches und Auszüge einzelner besonders interessanter Kapitel für die
Zeit vor, wo die beiden letzten Theile, welche uns nach dem indischen Ocean, J6^'
de France, dem Capland, Australien und Neuseeland, Chile, den Pampas von Me»-
doza, der amerikanischen Westküste, dem Isthmus von Panama, nach Jamaica, Peru,
Ecuador, Neugranada, Nicaragua, den Vereinigten Staaten, Canada und Cuba
führen sollen, erschienen sind, und erinnern nur noch beiläufig daran, daß Schmarda,
der erst in Gratz, dann in Prag als Professor wirkte, zu den Oestreichern gehört, welche
nicht in das seit 1850 im Kaiserstaat herrschende ultramontane und absolutistische
System paßten, weshalb man ihn 1854 zu beseitigen beliebte.
Bei unserm lebhaft aufgeregten Nationalgefühl haben wir uns in der
letzten Zeit nach allen Seiten umgesehn, was uns gehört und was wir nicht
herausgeben dürfen: wir haben z. B. gefunden, daß,uns Venedig gehört,
Ungarn und noch manches andere. Seltsamer Weise ist noch Keinem ein¬
gefallen, daß weit mehr als alle diese Länder die Schweiz zu uns zu rechnen
lst. Unser Leben greift viel inniger und unmittelbarer in das Leben der
Schweiz als in jene Besitztümer des Hauses Oestreich, namentlich wenn man
die Literatur des vorigen Jahrhunderts ins Auge faßt. Wir haben im
Ganzen, wie sich geziemt, mehr gegeben, aber wir haben auch viel empfangen,
und die gegenwärtige Schrift ist ein Inventarium dessen, was wir unsern
Landsleuten, den Eidgenossen, schuldig sind. Es ist nicht etwa eine Wechsel-
Wirkung aus zweiter Hand, wie zwischen allen gebildeten Nationen stattfindet;
sondern diese Männer, die Bodmer. Haller. Drollinger. Geßner. Lavater.
Pestalozzi. Müller u. s. w. haben wirklich in Deutschland gelebt, und wenn
Wir nicht aus der politischen Geographie wüßten, daß Zürich. Bern. Schnff-
hausen außerhalb des deutschen Bundes liegen, aus'ihren Schriften würden
wir es nicht erfahren. Das ist nicht so zu verstehn. als ob sie, durch die
deutsche Literatur angeregt, sich ihrer Heimath entfremdet hätten: sie waren
ebenso gute Eidgenossen als Deutsche; Eidgenossen ihrem politischen Verband
«ach. Deutsche als Nation.
Mögen unsere Landsleute an der Limmat nicht fürchten, daß wir nun auf
Grund des Nationalitätsprincips einen Eroberungszug gegen sie vorhaben.
Wir haben nicht die geringste Veranlassung, sie zu Unterthanen des Königs
von Würtemberg oder des Königs von Baiern oder eines andern Potentaten
^ machen; und sie der Hoheit des deutschen Bundes zu unterwerfen, kann
Referent um so weniger gemeint sein, da er selber als Ostpreuße außerhalb
der Pflicht des deutschen Bundes steht. Aber über kurz oder lang wird doch
wol die Zeit kommen, wo es der großen deutschen Nation gelingt, sich in
ewem großen politischen Bau zu vereinigen, und bis dahin werden sich hoffent¬
lich die Interessen so weit genähert haben, daß wir allgemein den Se. Gott-
hard als unsere natürliche Grenze gegen Italien begreifen. Wenn die Schweizer
"nen andern Dialekt sprechen als wir, so ist das ja in Norddeutschland auch
der Fall, und die plattdeutschen Dichter, die in den letzten Jahren mit ebenso
viel Eiser als Erfolg das Haus- und Familienrecht ihrer Mundart vertreten,
werden sich doch wol nicht als eine von uns übrigen Deutschen gesonderte
Nation constituiren wollen.
Es kann indeß noch lange währen, bis es zu jener Stammesvereinigung
kommt. Bis dahin werden wir freudig alles begrüßen, was das gute Eim
vernehmen der Deutschen diesseit und jenseit der Demarcationslinie zu fördern
geeignet ist. Das vorliegende Buch ist sowol für die Schweizer als für die
Deutschen geschrieben: den einen eröffnet es einen Blick in das Familienleben
ihrer Literatur, den andern gibt es eine wesentliche Ergänzung für das Ver¬
ständniß ihrer allgemeinen geistigen Bewegung.
Das Buch hat zwei große Verdienste. Einmal hat der Verfasser die
handschriftlichen Quellen seiner Heimath, die ihm zu Gebote standen, sorg¬
fältig benutzt, und daher manches Neue gegeben, sodann versteht er deutlich
und ansprechend zu erzählen, was bei unsern neueren Historikern nicht immer
der Fall ist. Der Haupttadcl, der das Buch trifft, ist mit einer liebenswürdigen
Eigenschaft des Verfassers enge verbunden: er ist äußerst gutmüthig und sucht
alles aufs Beste auszulegen. Dadurch wird aber die Charakteristik nicht we¬
nig beeinträchtigt, denn bis jetzt ist es noch keinem Maler gelungen, ein Por¬
trät ohne Anwendung des Schattens deutlich zu machen. Wo er ganz aus¬
führlich darstellt,, und wo die Physiognomie durch die Natur der Sache so
stark herantritt wie bei Bodmer, hat dieser Tadel wenig zu sagen; wo man
aber die Reflexion zu Hilfe nehmen muß, um einen Charakter völlig zu ver¬
steh«, wie bei Haller oder Lavater, vermißt man jene Ironie der Bildung,
ohne die der Historiker leicht monoton wird.
Die Krone des Ganzen ist die Darstellung Bot in ers, namentlich die Be¬
ziehungen zu Klopstock und Wieland, in denen die verschiedenen Richtungen
der deutschen Literatur mit so sinnlicher Klarheit hervortreten, daß man sür
ihr Zusammenwirken und ihr Aufeinanderstoßen ein deutlicheres Bild gewinnt
als aus manchen weitläufigen Deductionen. Den allgemeinen Faden für den
Zusammenhang Bodmers mit unserer Entwicklung zu finden, lag außer¬
halb der Aufgabe des Verfassers; es sei uns verstattet Einiges hinzuzu¬
fügen.
Danzel hat in seiner Schrift „über Gottsched" sehr reichhaltige Unter¬
suchungen anch über Bodmer angestellt, die freilich dadurch etwas verkümmert
werden, daß er in der Bemühung, zu einer bestimmten philosophischen For¬
mel zu kommen, den Standpunkt zu einseitig festhält. Das Resultat, zu wel¬
chem er gelangt zu sein glaubt, daß Gottsched die Aesthetik und Kritik vom
praktischen, Bodmer dagegen vom theoretischen Standpunkt betrachtet, ist
zwar nicht unrichtig, aber keineswegs ausreichend. Auch der Inhalt ist be>
beiden sehr verschieden; nicht blos die Mittel der Poesie, sondern ihr letzter
Zweck erschien ihnen im entgegengesetzten Licht. Sehr richtig dagegen hat
Danzel nachgewiesen, daß beide Theile sich auf Wolf stützen; er hat ferner
im Einzelnen gezeigt, wie sie sich zu der Wolfschen Schule, namentlich zu Bil-
finger. Baumgarten und Meier verhalten. Um dies noch bestimmter
festzustellen, sei es uns erlaubt, etwas weiter auszuholen.
Wir fassen die Periode von 1680 — 1750 — vom Ende der zweiten schle¬
ichen Schule bis zum Messias — als eine Uebergangsperiode zusammen, die,
wie alle Uebergangsperioden, vorwiegend kritischer Natur ist. Es gilt zunächst,
mit dem Alten aufzuräumen, um dem Neuen Raum zu schaffen. Das Alte,
was nicht länger leben konnte, war 1) die orthodoxe Theologie, die sich darauf
beschränkte, gegen die Ketzer zu predigen, die Glaubensartikel in scholastischer
Wcije zu zerfasern und die Sacramente auszutheilen ; 2) die aufs Engste mit
ihr verbundene scholastische Katheder-Weisheit, die von den realen Dingen,
von dem wirklichen Leben der Nation und von ihrer Sprache sich gänzlich ge¬
trennt hatte; 3) die Poesie, die ohne allen wirklichen Inhalt des Gemüths,
nach fremden, meistens nach schlechten Mustern gebildet, nicht Bildung genug
besah, ihre innere Armuth und Leerheit zu verstecken.
Gegen das Zunftwesen der Theologen, der Philosophen und Poeten er¬
hoben sich gleichzeitig 1) der Pietismus. 2) die Leibnitz-Wolfsche Philosophie.
3) der alt nationale deutsche gesunde Menschenverstand, der in keiner Periode
unserer Literatur völlig unterdrückt war. der sich im 16. und 17. Jahrhundert
hauptsächlich in den Satirikern regte und den in unserer Periode zunächst
Christian Weise und Th omasius. später Liskow vertraten. Diese Rich¬
tungen kreuzten sich einander und führten, sobald sie zur klaren Erkenntniß ka¬
men, einen Krieg auf Leben und Tod. Bei ihrem ersten Auftreten aber wa¬
ren sie gleichmäßig gegen das Alte, gegen die zünftige Gelehrsamkeit, gegen
die zünftige Theologie, gegen die zünftige Dichtkunst gerichtet.
Der Pietismus wollte vom Christenthum etwas Positives haben. Nach
der alten Orthodoxie hatte derjenige, der glaubte, d. h. der gegen das Lehr¬
gebäude seines Beichtvaters nicht räsonnirte, vom Christenthum gar nichts mehr;
tun Religionsgeschäft war in guten Handen, und er konnte nun hingehen,
l^ben. denken und empfinde«, wie er Lust hatte. Es ist sehr charakteristisch,
und noch nicht genug hervorgehoben, daß in einer Periode, wo die Recht-
gläubigkeit am brutalsten auftrat, nebenher die Poesie sich gradeso ins Hei-
denthum verlor wie in den Zeiten der Renaissance. Man achtet darauf nicht.
>ont in der Regel Hoffmannswaldau und Lobenstein nicht mehr ge¬
lesen werden. — Spener nun und seine Nachfolger wollten sich zu dieser
Resignation des Glaubens nicht verstehn. Mit dem Glauben sollte das Chri¬
stenthum nicht aufhören, sondern erst recht anfangen; der Wicdergeborne sollte
sich unaufhörlich mit Gott und seiner eigenen Seele beschäftigen, unaufhörlich über
die Unwürdigkeit seiner Natur und die Süßigkeit der Gnade nachdenken, mit
einer Mischung von Furcht und Zittern, aber auch von wonnigem Schauer,
sich in die Geheimnisse der Ewigkeit versenken und dieser Beschäftigung gegen-
über alle andern für gering oder wol gar für schädlich achten. Es war oft
eine grausame Quälerei, aber sie hatten doch nun auch etwas von der Reli¬
gion, denn auch im Grauen liegt ein großer Genuß, wie ja die Kinder zeigen,
wenn sie Gespenstergeschichten lauschen. Sehr hoch wurde die Aufgabe und
die Pflicht des Wicdergebornen, namentlich des Geistlichen, gespannt, der seiner
Heerde als Vorbild vorleuchten sollte. Jeder seiner Gedanken, jede seiner
Empfindungen sollte heilig und verklärt sein. Dies Streben findet zuerst bei den
niedern Ständen Anklang; es entsteh» die Conventikel. Dann fängt der Pietismus
an zu organisiren: das Frankesche Waisenhaus, die Brüdergemeinde; er bemäch¬
tigt sich z. B. in Halle des Katheders und constituirt sich als Facultät, wie seine
ehemaligen Gegner. Aber mit dieser neuen Verweltlichung ist seine Produc-
tivitüt abgeschwächt; die Gedanken, Empfindungen und Bilder, ohnehin an
einen sehr engen Kreis gebannt, werden immer einförmiger und endlich blo¬
ßer' Gcdächtnißkrcnn. Zuletzt bleibt nur ein trüber ungesunder Bodensatz zu¬
rück. Zugleich hat sich aber die Stimmung verflüchtigt und pflanzt sich mias¬
matisch in andere Bildungsformen ein. Es kommen die schönen Seelen, die
fein gebildeten Individualitäten, die mit dem Glauben nicht anfangen, son¬
dern nach dem Glauben sich sehnen, und in dieser Sehnsucht, in diesem Be¬
dürfniß den aristokratischen Stempel einer vornehmen begnadigten Natur an
sich zu tragen glauben. Der heilige Priester, der in der Facultüt wie in der
Secte in kleinen Geschäften untergeht, verwandelt sich in den Scher; er pro-
ducirt seine Religion, seinen Gott: mit anderen Worten, er wird Dichter.
So haben wir das Geschlechtsregister von Spener zu Fräulein v. Kletten¬
berg. Klopstock, Lavater, Haman u. s. w. durchgeführt.
Diesem Pietismus ist die Philosophie ursprünglich entgegengesetzt. Der
Gründer jeder neuen Philosophie hebt sich über die Grenzen seiner Heimath
heraus und wird Weltbürger. Der Gründer der deutschen Philosophie, Leibnil)
hat mit seinen deutsche» Vorgängen wenig oder gar nichts zu thun; er stützt
sich zustimmend oder ablehnend aus Cartesius, Spinoza, auf Newton,
Locke u. f. w. Er spricht und schreibt französisch; lateinisch nothgedrungen.
um sich seinen Kollegen auf den Universitäten verständlich zu machen; deutsch
ungern und unbequem. Deu Kämpfen seiner Zeitgenossen gegenüber entwickelt
er sowol die Ironie als die Urbanität der Bildung, die jeden Standpunkt
versteht, auf jeden sich versetzt, in keinen aufgeht. Auf das Volk hat er nicht
den mindesten Einfluß. Nun aber tritt in seinem Schüler Wolf der echte
Deutsche hervor, der Mann, der klar einsieht was seinem Zeitalter Noth thut-
Die chaotische Verwilderung des Denkens. Redens und Empfindens in Deutsch'
land bedarf einer scharfen, strengen Schule. Die Deutschen müssen wieder
mit dem ABC anfangen, um die Herrschaft über ihre Sprache, also mittclbn>
auch die Herrschaft über ihre Gedanken, wieder zu erobern. Nie gab es einen
strengeren und consequenteren Schulmeister als Wolf. Man macht den Mann
heute häufig lächerlich, weil er vieles gesagt hat. was uns trivial vorkommt;
es ist «her wol der Mühe werth einmal seine ersten Schriften anzusehen —
nicht die aus der Marburger Zeit, in der er sich bereits überlebt hatte —und
ein beliebiges theologisches Buch, oder eine beliebige Poesie der unmittelbar
vorhergehenden Jahre zu vergleichen. Man athmet eine ganz andere gesunde
Atmosphäre, man empfindet nicht blos abstracte Gedanken, sondern mit der
deutschen Sprache auch deutsches Leben.
Der nächste große Einfluß seiner Lehre findet auf die Religion statt. Wolf
'se der eigentliche Vater des Nationalismus. In unserer überstudirten Zeit
spottet man häufig über dies „Christenthum innerhalb der Grenze der bloßen
Vernunft". Freilich hat die Religion noch anderes zu thun als zu denken,
«ber denken muß sie auch, und denken kann man nur mit der Vernunft; wer
ohne Vernunft zu denken versucht, der denkt gar nicht, sondern er faselt. Wolf
sucht das Inventarium dessen zu ziehn. was im Christenthum denkbar und
begriffsfähig ist; er erläutert.« er scheidet aus. Das Inventarium ist unvoll¬
ständig, aber der Versuch mußte gemacht werden, wenn man nicht in das
leere Gerede des vorigen Jahrhunderts zurücksinken wollte. Das „höchste Wesen",
das aus dieser Philosophie hervorging, ist an sich nicht sehr inhaltsreich, aber
ein sehr gesundes und nothwendiges Correctiv gegen den Aberglauben und
Götzendienst der vorigen Jahrhunderte.
Nun lag aber ein zweiter Schritt nahe. Die eigentlichen Wissenschaften
hatten die Forderung des Denkens im Princip nie bestritten, wol aber hatte es
die Poesie gethan. Kann man dichten ohne zu denken? Das mußte unter¬
sucht werden. Leibnitz und Wolf selbst hatten nur einen geringen Sinn für
Poesie ; die Gesetze des Weltgebäudes zu entdecken schien ihnen wichtiger, als
ein gutes Madrigal zu machen; sie verwiesen die poetischen Empfindungen
in das Gebiet der dunkeln unklaren Gedanken. Desto eifriger warfen sich die
Schüler auf dieses Fach der Erkenntniß. Die Dichtkunst war schon bei den
Alten sehr hoch angesehn. sie brachte auch jetzt Nutzen und Ehre; es mußte
untersucht werden, worin ihr Vorzug eigentlich bestände. Bei der ganzen
Richtung der Schule konnte das Resultat kein anderes sein als: die Dicht¬
kunst ist eine erhöhte Redekunst; mit denselben Mitteln wie die Rede wirkt.
°ber concentrirt. sucht sie durch den Verstand auf das Gemüth zu wirken.
E'"e oberflächliche Natur wie Gottsched blieb dabei stehn. Zwar lehnte er
sah mit seinen sogenannten Regeln auf die Alten, oder das was er sich unter den
Alten dachte, aber im Grund waren diese Regeln aus seinem Princip her¬
geleitet: die Dichtkunst ist eine erhöhte Redekunst.
Denselben Standpunkt hielten der Hauptsache nach die tieferen Denker
d°r Schule, z.B. Bilfinger und Baumgarten fest; doch gingen sie weiter
und fragten, wie die Natur der Einbildungskraft beschaffen sein müsse, um
durch die Vermittlung des Verstandes eine Einwirkung zu empfangen. Ein
Aufgehn des Menschen in die Poesie gestatteten sie nicht, und namentlich Bil-
finger warnt sehr ernstlich vor einer zu großen Ausdehnung dieser Nebenstun-
den. (Zui orrmem aetirtem, sagt er 1725, eouäenäis e^rminidus true legen-
clis veterum Zeelg.matiouibus transigunt, nu keroultiitsin clistincte res von-
eipieuäi successive imminuunt.
Genau so dachte die dritte Classe der Neuerer, die wir als Vertreter des
gesunden Menschenverstandes bezeichnet haben. Christian Weise war seiner
Zeit einer der geacvtetstcn Dichter, so wie einer der fruchtbarsten. Er spricht
sich über seine Kunst 1675 und 1691 folgendermaßen aus. „Sofern ein jünger
Mensch zu etwas Rechtschaffenen will angewiesen werden, daß er hernach mit
Ehren sich in der Welt kann sehen lassen, der muß etliche Nebenstunden mit
Versschreiben zubringen. Ist Geschicklichkeit im Reden nothwendig, so folgt
auch, daß man der Poeterei allerdings nicht entbehren könne. Der Nutzen der
Poesie besteht darin, daß man eoMm verdvrum, die Kunst zu variiren und
den numerum org-toi-inen lerne." „Die süße Poesie soll euch nur munter
machen, damit ihr allerseits die Reden und die Sachen geschickt verbinden
könnt, sie soll der Zucker sein, den müßt ihr auf den Saft der andern Künste
streun. Drum lacht die andern aus, die blos in bloßen Reimen den armen
Kopf bemühn und alles sonst versäumen was gut und nützlich ist."
.Indem wir diese Meinung, welche in jener Periode die allgemeine war,
erwägen, und die ganz entgegengesetzte Ausfassung vom Dichter damit in Ver¬
gleich stellen, die seit dem Messias die herrschende wird, geht uns Bodmers
ganze Bedeutung für die Geschichte unserer Literatur aus. Sie liegt nicht im
Gegensatz seiner Regeln zu den Regeln Gottscheds, in denen bald der eine,
bald der andere Recht hat (so wird man z. B. im Urtheil über die allego¬
rischen Figuren bei Milton eher Gottsched als Bodmer beipflichten); sie liegt
nicht in dem verschiedenen Geschmack, nicht in dem Unterschied der poetischen
Uebungen (die Noachide ist jedenfalls noch schlechter als der sterbende Cato);
sie liegt auch nicht einmal in dem bessern Verständniß dessen, woraus es eigenl-
ich ankam. Auch ein feiner Kenner des Schönen ohne Productivität wird schlechte
Gedichte machen, aber nimmermehr solche Dramen und Epopöen, wie sie
Bodmer zu Stande gebracht hat. Die wahre Bedeutung Bodmers liegt da¬
rin, daß er, aus der Wolfschen Schule hervorgegangen, den Begriff eines
Dichters, wie ihn Klopstock aus seiner eignen Seele gebildet hatte, nicht blos
anerkannte, sondern steigerte und für ihn in Deutschland Propaganda machte-
Dies war Bodmers Thatnicht seine Bekämpfung Gottscheds, der auch ohne
ihn gefallen wäre, wie jeder Schulmeister, der seine erwachsenen Zöglinge noch
beim ABC festhalten will.
Wo jener Begriff des Dichters, des Sehers bei Klopstock herkam, haben
wir gezeigt. Er stand im Anfang sehr allein damit; die Freunde, die den
Anfang der Messiade in die „Bremer Beitrage" aufnahmen, waren über
dessen Werth sehr zweifelhaft; erst durch Bodmers unermüdliche Propaganda
wurde er durchgesetzt Unmittelbar daraus beginnt dann die Fluth der in-
spirirter Poesie, die schließlich zu einer Doctrin und zuletzt, wunderbar genug!
ju einer dem Philister geläufigen Redensart wurde.
Was aber Bodmer bestimmte, war im Grunde der Rest jener alten pic-
Mischen Neigungen, die seine rationalistische Bildung nicht ganz unterdrückt
hatte. Dem kirchlichen Leben stand er nicht nah, für Betstuben hatte er
keinen Sinn, aber die Idee eines heiligen gottgeweihten Lebens war ihm
geblieben; an der Vorstellung vom blinden Milton hatte, er sie genährt, im
Messias trat sie ihm nun lebendig entgegen. Er schuf sich in seiner Einbil¬
dung einen Klopstock, der in der Wirklichkeit nicht existirte; sein Brief an Fanny
ist ebenso komisch als rührend, und wenn er es Klopstock als Bescheidenheit
auslegte, daß er diesen Brief nicht abgab, während Klopstock es doch nur
unterließ, um sich nicht lächerlich zu machen, so erklärt das zugleich das Ent¬
setzen, das Bodmer ergreift, als der wirkliche Klopstock lustige Gesellschaften
^suchte, als der schwärmerische Liebhaber der seraphischen Fanny ein junges
Mädchen nach dem andern küßte, und als er sogar — schrecklich zu sagen!
^!n' viel Wein trank! Freilich waren es nur ^alia-xuora, aber so wenig wie
Tpener bei dem wahren Christen, konnte der Apostel der neuen Poesie sie bei
dem wahren Sänger Gottes gelten lassen. — Das Alles ist bei Mörilofer sehr
"»lchaulich und liebenswürdig erzählt.
Um sich den ungeheuern Umschwung in dem Begriff der poetischen Aus¬
übe zu vergegenwärtige», der in Bodmer gegen Weise und Gottsched hervor-
">et (beide hatten von der „brodlosen Kunst", die nicht entwürdigt wurde,
^'Nu man „für eine kleine Erkenntlichkeit" hoher Gönner häusliche Ereignisse
^!arg, ungefähr die nämliche Vorstellung), vergleiche man mit den obigen
Fütterungen Welses den schon erwähnten Brief Bodmers an Fanny, unmittel-
bar nach der ersten Lectüre des Anfangs vom Messias geschrieben. — „Ich
eure Sie nicht mehr, als daß ich weiß, daß der Poet des Messias Sie zur
«trauten und Richterin seines Werks gemacht hat. Dieses ist genug, mir
^um untrüglichen Begriff von Ihren Tugenden zu machen und mich in meiner
"ose wegen des Messias auszurichten. Die geringste Sache kann mir nicht
Üwchgültig sein, welche den Messias angeht; wie sollte mir gleichartig sein
"neu, was für eine Person der Dichter zu seiner Bertrauten, zu seiner irdi-
Muse bei dem Werk der Erlösung gewählt hat. Ein ehrsnrchts-
a ter Schauer überfällt mich, wenn ich gedenke, was für eine herrliche
"ik das Schicksal, Mademoiselle, Ihnen zugedacht hat. Sie sollen den
"«en Me den zärtlichsten Empfindungen von himmlischer Unschuld, Sanft-
aueh und Liebe beseelen; Sie sollen ihm einen Geschmack der Freundschaft
mittheilen, die macht, daß die ewigen Seelen von himmlischer Freund¬
schaft erzittern; Sie sollen seine Seele mit großen Gedanken anfüllen,
ein jedes Glück zu verachten, das pöbelhaft ist. weil es nur irdisch ist. und
eine jede Weisheit zu verwerfen, die kein Gefühl für die Liebe und Tugend
hat. Dieses Alles sollen Sie thun, damit sein Herz in den Vorstellungen
der liebenswürdigen himmlischen Personen nicht erschöpft werde! Das ist das
himmlische Vorrecht der Tugend, daß sie die Herzen der Jünglinge durch
Blicke, durch süße Reden, durch kleine Gunstbezeugungen zu erhabenen
Unternehmungen geschickter macht. Dadurch bekommen Sie an dem
Werk der Erlösung Antheil. Die Nachwelt wird den Messias nie lesen,
ohne mit dem zweiten Gedanken auf Sie zu fallen, und dieser Gedanke wird
allemal ein Segen sein! Wenn ich die Nachwelt sage, was für eine
Menge von Geschlechtern verstehe ich. die auf einander folgen werden!
Ganze Nationen, die ihre Lust am Messias finden, und neben der
Lust göttliche Gedanken und Empfindungen darin lernen werden,
welche sie mit dem Mittler vereinigen und zu dem versöhnten
Gott erheben; Nationen werden Ihnen dann nicht das Gedicht
auf den Messias allein, sondern die .Seligkeit anbauten, welche sie
durch das Gedicht gesunden haben. (Natürlich: die ewige Seligkeit!) Welche
Last von Glückseligkeit ist daran gelegen, daß der Poet das große Vornehmen
vollende! Wie kostbar ist sein Lebe» Weiten, die noch nicht geboren sind. Was
für eine Verantwortung liegt auf denen, die ihn durch unwitzige Geschäfte, durch
widrige Sorgen, durch stumme Wehmuth in seinem Umgang mit der himmlische»
Muse stören, die das göttliche Gedicht dadurch in seinem Wachsthum verzögern.
Wenn das Werk der Erlösung durch den Poeten nicht zu Ende gebracht würde, so
würde es bei mir einen Kummer verursachen, als wenn eben S.atan seine fin'
ödere Entschließung gelungen wäre, den Messias zu tödten und die Erlösung
des Menschengeschlechts zu hintertreiben."
So schrieb nicht ein unbärtiger Knabe, sondern ein Mum von fünfzig Jahre».
— Aus diesen Zeilen lernenwir Bodmers Bedeutungfür dieLiteratur, nicht aus se>'
neu armseligen Zänkereien mit Gottsched, nicht aus seinen epischen Gedichten ^
die aussehn wie ein Lohensteinischer Roman in holperigte Hexameter, gebracht ^
selbst nicht aus seinen theoretischen Werken, in denen Wahres. Halbwahres und
offenbar Falsches sich unbeholfen durch einander drängt. Uns kommen jene Idee»
komisch vor; für jene Zeit waren sie die Ankündigung einerneuen Culturperiode.
Der Raum veranlaßt uns diesmal abzubrechen; wir behalten uns aber
vor, auf die andern Hauptcharaktere, die Mörikofer zeichnet, zurückzukommen-
Nachstehende Skizze aus dem Studentenleben Jenas sollte bei Gelegen¬
heit der Jubiläumsfeier veröffentlicht werden, wo die Mittheilung sich vielleicht
noch aus andern Gründen hätte rechtfertigen lassen. Es unterblieb damals we¬
gen zufälliger äußerer Hindernisse, Aber auch jetzt noch dürfte diese Schilderung
Interesse erregen, da sie viele charakteristische Züge aus dem jugendlichen Trei¬
ben der damaligen Studenten in lebhafter Darstellung enthält. Der Held und
Verfasser nahm später in Weimar eine sehr ehrenvolle Stellung ein, und HZt
die summarische Erzählung, wie er in der Überschrift sagt. Andern zur Nach¬
licht, sich zur Warnung niedergeschrieben. Wir geben sie, einige Kürzungen
abgerechnet, ohne Veränderung wieder, weil eine Umarbeitung den ursprüng¬
lichen Charakter verwischt hätte, und der Stil trotz einiger veralteten Wen¬
dungen leicht verständlich ist. Nur die Mittheilung einer Anzahl sehr ergötz¬
licher Randglossen müssen wir uns versagen.
Daß ein Mensch unglücklicher als der andere, auch Manchem eher Un¬
glück als Glück zu Händen stoße, habe ich leider mehr als zu sehr und zwar
mit meinem großen Schaden erfahren müssen. Denn als am 17. Juli 1687
unserer zehn bei Mr. Härtung it.. swä. in Herrn Dr. Fuchsens Hause zu
Jena beisammen schmaußten, und etliche unter uns sich im Geigen übten,
kam unserm Hvspiti Härtung eine Lust zu tanzen an. Da nun in dem Hause.
Wo wir lustig waren, im untern Stock die Frau Neuenhahn mit ihren beiden
Jgfr. Töchtern wohnte, so ging er herunter, um deroselben bemeldete Jgfr.
Töchter auf ein Ehrentänzchen zu laden. Nachdem er nun hinuntergekommen,
ist Martin Matthäi, Skua. tkeol, da, um einen Besuch abzustatten, welchen
Härtung, weil er die Jungfern wegführte, des Anstandswegen nothwendig in-
vitiren mußte, mit hinauf auf ein Pfeifchen Tabak und ein Tänzchen zu kom¬
men, wofern ihm die Gesellschaft beliebig sein möchte. Er hätte viel besser
gethan, wenn er ihn nicht eingeladen! Da nun derselbe zugleich mit hinauf
k«in. so begrüßten wir ihn zugleich mit den beiden Jungfern, und baten ihn
höflichst, sich niederzulassen, sich mit uns lustig zu machen, und sich unsere
Weise gefallen zu lassen. Einer von uns trank ihm sodann zu, und er that
'n freundlicher Weise Bescheid. Weil nun das Frauenzimmer angekommen
^«r. so durste man es nicht lange brach liegen lassen. Deshalb faßte Här¬
tung die älteste Jungfer Neuenhahn, nachdem er ihr zuvor ein Gläschen zu¬
getrunken, an, und tanzte. Ihm folgte sogleich ein anderer aus unserer Mitte,
Welcher die jüngste Jungfer Neuenhahn aufforderte. Nachdem sie nun etliche
Reihen getanzt, brachte Härtung seine Tänzerin, welche eben Matthäi verehrte,
demselben, welcher sie auch annahm und etliche Mal auf dem Tanzplatz herum¬
führte. Die jüngste Jungfer wurde nach diesem mir präsentirt, mit welcher
ich auch in meiner Unschuld, nicht wissend, was für ein Unglückswind daraus
entstehen und mich anblasen würde, etliche Reihen herumsprang, und welche
ich sodann einem andern von uns zuführte. Matthäi, als er auch etliche
Male herumgesprungen, brachte seine Madame gleichfalls einem andern. Dies
ging nun immer so herum, daß endlich dem Matthäi die Zeit lang wurde,
ehe er seine Geliebte wiederbekam, weil ein Jeder von unserer Gesellschaft
sowol mit der großen als der kleinen Jungfer tanzte. Es erhellt dies aus
seiner spätern Aussage, daß es ihn verdrossen, weil ihm die älteste Jungfer
nicht mehr als einmal zum Tanz zugeführt worden und man ihn am Tisch
nicht obenan, sondern nur an die Ecke gesetzt Hütte. Dies wird aber bestrit-
ten, denn er hat mehr als viermal getanzt, so viel habe ich selbst gesehen,
obgleich ich nicht viel Achtung auf ihn gegeben, denn man trank in bona
eariwtö und rauchte ein Pfeifchen Tabak. Uebrigens hat ein Jeder oben
gesessen, weil der Tisch querüber stand, so daß sich keiner des Obersitzes rüh¬
men, noch des Untersitzes schämen konnte.
Als es nun ungefähr 11 Uhr geworden, nahm Matthäi von einem Jeden
in speoie freundlichen Abschied, bedankte sich für geleistete Compagnie, ange¬
thane Ehre und genossene Höflichkeit, zugleich bittend, wofern er etwas Un¬
höfliches begangen, solle man es'im Besten vermerken, und ging darauf von
uns weg.' Er hat aber die Hausthür bereits verschlossen gefunden, weil es
schon über 10 Uhr war, und vor etlichen Tagen ein fürstliches Edict publicirt
worden, nach dessen Inhalt alle Hausthüren, des Sommers um 10, des Win¬
ters um 9 Uhr geschlossen werden mußten, bei Vermeidung von 10 Thaler
Strafe. Auf Hartungs anderweite Einladung hat er sich wieder bereden lassen,
mit hinaus zu uns zu gehen. Bei seinem Eintritt präsentirte man ihm so¬
gleich wieder eine von den beiden Jungfern, welche er auch annahm und mit
ihr tanzte. Wir andern nahmen hernach des Herrn Dr. Fuchsens kleines
Töchterlein, welches dem Tanze zusahe, benebst dero Köchin, welche nicht weit
davon und welcher die Nase ziemlich nach Tanzen stand, und tanzten also
unter einander herum. — Als nun der Stundenzeiger die erste Stunde über
Mitternacht verkündete, machten wir Feierabend, begleiteten sämmtlich die bei¬
den Mademoisellen nach ihren Zimmern, wo wir, Einer nach dem Andern
mit schönster tzratig-rum activ Abschied nahmen, ihnen auch eine geruhsame
Nacht wünschend. Matthäi aber schlenderte mit ihnen hinein in ihre Stube,
wo er die Nacht auf einer Ban? zubrachte. Wir dagegen marschirten nach
genommenem Abschiede wieder nach Hartungs Stube, wo sich denn ein Jeder
pro posse lagerte. Der eine dcclinirte seairmum, der andere conjungirte
eorxuset terrain, kurzes mußte ein jeder sich hinlegen, wo er hinkam, nicht
wo er hin wollte. Und also war die angestellte Sonntagslust geendigt. Früh,
als die Sonne die Erde bereits etliche Stunden bestrahlt hatte, standen wir
auf. nahmen von einander Abschied, und schlenderte ein jeder, nachdem er zu?
vor etwa für einen Groschen g,qug,in vitas oder aquam ^roms zu sich genom¬
men, in sein Nest. —
Montags den 18. und Dienstags den 19. Juli passirte nichts. — Mitt¬
wochs aber überkam Matthäi einen Wechsel von Haus, davon er nach da¬
maliger nicht löblicher Sitte seinen Herrn Landsleuten auf dem Burgkeller einen
Schmauß gab. dabei auch Spielleute hielt. Hier wurde von Vormittags 9 Uhr
bis Nachts zwei Uhr banqucttirt, gesungen und getanzt. Während des Schmau¬
ses, etwa um halb 10 Uhr Abends kam Matthäi vor das Stubenfenster der
Frau Neuenhahn, und hielt fast mit Gewalt bei derselben an. sie möge ihren
beiden Töchtern erlauben, mit ihm auf den Keller zum Tanze zu spazieren.
Sie schlug es ihm aber rund ab mit dem Bescheide, daß man von solchen
Frauenzimmern, welche auf die Keller zum Tanze gingen, gar nicht viel hielte.
Matthäi wollte sich nicht abweisen lassen, wurde immer zudringlicher und sagte
endlich-, sie verachteten ihn. und wollten deshalb nicht mit ihm gehen; wenn
aber einer von denen käme, die vergangenen Sonntag in ihrem Hause ge¬
schmaust hätten, da würden sie nicht so widerwillig sein; und wenn sie nicht
wie ihm gingen, so wolle er Alles, was ihm von ihnen wissend, ausschwatzen.
Hieraus replicirt Frau Neuenhahn: Er möge sagen, was er wisse, und schloß
ihr Fenster.
Als Matthäi gehört, daß seine Groschen anjetzt ungiltig seien, marschirte
er reetg. via wieder nach dem Burgkeller, wo er noch soviel getrunken, daß
er weder gehen noch stehen konnte. Nachdem sie nun daselbst ein Loch in die
Nacht gesoffen, daß man den Tag durchsehen konnte, machten sie Feierabend,
ließen sich aber von zwei Jungen ein Fäßchen von 24 Kannen Bier nachtragen
und marschirten, die Spielleute voran, auf den Markt. Als sie an der Woh¬
nung der Frau Neuenhahn vorbeikamen, klopfte Matthäi die älteste Tochter
heraus und sagte: Es würde ihr wol bekannt sein, daß er am vergangenen
Sonntag beschimpft worden, da sie ihn nicht wie ehrliche Kerle, sondern wie
Bärenhäuter tractiret. und fing an zu rufen: Härtung ein Hundsfott! Härtung,
sicher oben an seinem Fenster guckte, hörte dies und schrie herunter: Er solle
"ut solchen Worten inne halten, und wenn er was zu suchen hätte, bei Tage
kommen. Da Matthäi mit Schimpfen fortfuhr, schrie Härtung: Wenn die
Hausthür nicht verschlossen wäre, so wollte ich dich schon lehren quis Ms,
so hast du Hundsfott gut schimpfen. Matthäi aber schrie contra: Härtung.
Hundsfott stehe, Fuchspräceptor. Ochsenpräceptor u. s. w. Nach dieser Be¬
schimpfung sind sie aus den Markt marschirt. denselben etliche Mal auf und
ab geschwärmt, haben die Spielleute tapfer ausstreichen lassen, endlich sich in
der Mitte des Marktes niedergesetzt und gesoffen wie die jungen Grasteufel,
Als sie das Bier ausgeschlacket, haben sie sich von bannen und ohne Zweifel
ein jeder nach Hause begeben. —
Donnerstag früh kam Härtung zu mir und erzählte den ganzen Verlauf
der Sache. Da ich nicht gewohnt bin, Bärenhäuter zu verdauen, so war ich
sogleich resolvirt, Nachfrage zu halten, wo man Matthäi antreffen könne,
Damals waren aber vier Studiosi dieses Namens vorhanden, und deshalb
erfuhr ich erst nach längern Erkundigungen, er würde wahrscheinlich in des
Conrectors Hause, auf Herrn von Felde's, seines Landmanns Stube sein. In,
demselben Hause hatte ich auch mein Logement, und bemeldete Stube lag der
meinigen gegenüber. Ich klopfte an und Herr von Felde berichtete mich auf
meine Frage, daß Matthäi ihn schon wieder verlassen habe und er nicht wisse,
wo er sei. Da es schon Abend zu werden anfing, so schlenderte ich aus
meine Stube, und ließ es für diesmal sein Bewenden haben. —
Freitags ließ sich mein Stubengenoß und Landsmann Rost von Herrn
Vorhauern, I>. I,. send. das Französische lehren, an welcher Stunde Härtung
und andere Theil nahmen. Nachdem dieselbe vorbei war, blieben sie sämmt¬
lich sitzen, und wollten, weil es an selbigem Tage schön liebliches und also
durstiges Wetter war, meinen Stubengenossen beschmausen. Da aber die
Spinnen in seinem Beutel gesponnen, und das letzte Viertel eingetreten, bei
mir dagegen vor zwei Tagen erst der Vollmond erschienen war, so hatte ich
die unverhoffte Ehre beschmaust zu werden. Ich konnte dies nicht ablehnen,
weil ich im Fische geboren bin, und mich zum Trinken niemals schlagen ließ.
Es wurde also eine Wasserkanne voll Bier geholt, und als diese xrimo «zMsis
inwiw ausgeleert war. noch etliche andkre nebst den mzesssariis, d. h. Ta¬
bak und Pfeifen. Als wir nun 1'/- Stunden gesessen und in bona, e^ritat
et kratsrnitats eine Kanne se yuoä exeui-rit getrunken hatten, wurden die
Köpfe warm, und auch die am Mittwoch vorgekommenen Sachen wieder rege
gemacht. Härtung behauptete dabei mit eignen Ohren gehört zu haben, daß
Matthäi die ganze Gesellschaft „Bärenhäuter" gescholten habe. Deshalb und
weil ich der Aelteste von den Anwesenden war, wurde ich gebeten, die Sache
auf mich zu nehmen, und den Matthäi zu befragen, welche Ursachen ihn zu>
Beschimpfung der damals versammelt gewesenen Compagnie getrieben hätten.
Ich ließ mich bereden und ging gegen 4 Uhr in des Superintendenten P"'
vathaus. allwo Matthäi wohnte. Als ich an seine Stubenthür, welche offe»
stand, kam, klopfte ich an die linke Thürpfoste, worauf Matthäi herausgetreten
kam. Er war im Schlafpelze, und weil ich ihn am Sonntag im theologische"
Habit gesehen hatte, erkannte ich ihn nicht und begrüßte ihn:
Ego: Sein Diener. Monsieur!
Matthäi: serviteur!
E. Hat Herr Magister Raub seine Stube hier?
M. Ja.
E. Können Sie mich berichten, ob sein Herr Stubengesell Matthäi zu Hause ist?
M. Ja. er wird zu Hause sein.
E. Sie Werdens vielleicht selber sein? ?
M. Ja. was verlangen Sie?
E. Ist ers! Der Herr wird sich erinnern, was er vergangenen Mittwoch
vorgehabt, wie er nämlich die Compagnie, welche am Sonntag bei M. Här¬
tung zusammen gewesen, Bärenhäuter gescholten; da ich nun damals mit
dabei gewesen, und weder ich noch die andern interessirten Herrn Studiosi
sich besinnen können. was sie doch für Ursache ihm mochten gegeben haben,
da ihm ja mit aller Höflichkeit und Ehre begegnet worden, so bin ich hier¬
hergekommen, ihn zu fragen, wodurch oder von wem er zu diesem Ausscheiden
veranlaßt worden.
M. Was gehts ihm an? Ich habe mit ihm nichts zu thun. Ich habe
Härtung einen Hundsfott gescholten und den will ich schon finden.
E. Warum soll's mich nichts^angehen? Ich sowol als die Andern sind von
der Compagnie, welche beschimpft und ausgerufen ist. und deshalb komme
'es hierher, damit ich die Ursache erfahren möchte, werde auch nicht eher von
dannen gehen, bis ich eine gewisse Antwort erhalten habe.
M. Er gehe mir von der Stube weg. und mache nicht viel Wesens, oder —
E. Er sage mir nur erst die Ursachen, hernach will ich ohne sein Heißen
^hen und wird sich das Uebrige schon finden.
M, Ich bin nicht schuldig, sie ihm zu sagen!
E. Und er soll sie mir doch sagen! hater uns können schimpfen, so kann
°r wol auch die Ursache sagen. (Hierbei trat ich ihm einen Schritt näher.)
M. Bleibe mir vom Leibe, du Hundsfott!
Kaum hatte er dies gesagt, so gab ich ihm eine dichte, derbe und wackere
Ohrfeige, daß ihm ohne Zweifel der Kopf davon gebrummt haben wird. Er
schlug nun zwar wieder und griff zugleich nach meinen Haaren, allein weil
'es etwas höherer Statur als er. ging Alles leer ab. Ich meinerseits that
"Un wieder einen Schritt zurück und zog meine Blutpcitsche von der Seite
Willens ihm einen Querschlag über den Kopf zu geben. Matthäi aber. die5
^heut. warf, als ich eben im Schlagen «war. die linke Hand vor. und ick.
"^setzte ihm. wahrscheinlich weil sich der Degen in der Hand gedreht, einen
warfen Hieb in das Innere der linken Hand, von der Wurzel des kleine»
Fingers, nach dem Ballen zu, wovon mir. weil ich einen starken Streich führte,
^r Knopf vom Degen sprang und die Klinge aus der Hand fuhr, so daß ich
"'As mehr als den Griff behielt.
Als dies geschehen war, rief Matthäi: Ach. ich bin verwundet, laust dock
geschwind nach dem Balbierer, Nachdem ich dies gehört, raffte ich mein
bischen Degen zusammen und marschirte geschwind die Treppe herunter und
nach Hause. In meinem jähen Zorn hatte ich nicht recht gesehen, daß ich ihn
so arg getroffen, auch meinte ich. meinen Schlag mehr blächlings geführt und
ihn nur wenig geritzt zu haben. Unter allen Umständen glaubte ich mir so»
viel zutrauen zu können, um die Sache auszuführen; es wäre aber doch bes¬
ser gewesen, ich hätte meinen Kopf zwischen die Ohren genommen und den
Weg nach Lichtenhcnn (allwo andere Herrschaft) getroffen. Doch dies nur
nebenbei. —
Zu Hause angekommen, traf ich die Compagnie noch versammelt, wir
tranken pro xg-tria, und ich erzählte ihnen den Verlauf meiner ^.mdg.88aäe-
Ich ließ mich zum Trinken nicht sehr nöthigen, weil es auf mein Conto ging
und ich mich auch bei der Action ziemlich erhitzt hatte. Lea nubilg.' post
?hoödum! Bald sollte uns und in specis mir die Freude ziemlich versalzen wer¬
den. Als wir ungefähr eine gute Stunde noch gesessen hatten, kam der Pe¬
dell in unser Haus, nachdem er zuvor bei dem Stadthauptmann gewesen und
um Verschließung der Stadtthore, auch um Gestellung etlicher Musketiere an¬
gehalten, so beides geschehen. Er hielt Nachfrage, ob nicht Einer in diesem
Hause eine Stube habe, der Krims oder Krams heiße. Es wollte Niemand
von einem solchen etwas wissen, denn freilich, einen Krims oder Krams kann¬
ten sie nicht, aber den K . . . . s kannte man recht wol. Der Pedell ging
wieder fort, da er den Krimsen nicht ausfragen konnte, kam aber bald rü'it
einem Quasi-Corporal und sechs Philistern — Musketieren wollte ich sagen,
und citirte mich zum Reetori NiigniLeo. Da inzwischen die Philister vor
meiner Stube standen und hineinschauten, wie ein Fuchs ins Hühnerhaus,
gab ich dem Pedell zur Antwort, ich würde gleich kommen, er sollte nur vor»»
gehen, wozu er sich aber nicht verstehen wollte, vorwendend, ich müsse mit'
gehen. Dies stand mir aber nicht an, und ich sagte- Ist's nicht genug, da!)
ich kommen will? Zu was soll ich mit den Wächtern gehen? — Der Pedell
sagte nunmehr den Kuhfußträgern, sie möchten ein wenig vorangehen, ich
würde mit ihm folgen. Als diese nun fort waren, resolvirte ich mich mit'
zugehen, verzog aber noch eine Weile, bis die Philister die Gasse hinauf zie>^
lich ans Thor d^s Collegii gekommen waren und zog dann hinterdrein, hegte>'
tet von meinem Stubengenossen Rost, etlichen 100 Studenten und etwa
2—3000 anderen Zuschauern, durch das Vrüdergäßchen, die Leutragasse »ut
Johannisgasse zum Magnisico, Johann Philipp Slevoigt. — Nachdem w»
da angelangt, sahe derselbe mich ziemlich spanisch an, und mußte ich, nachdew
ich etwa eine Viertelstunde pausirt, in die Audienzstube treten, allwo ich
Verlauf der Sache ordentlich nach einander erzählte, und der Rector Magn''
ficus eigenhändig Alles protocollirte. Es schien jedoch, als traue er mir nicht
"ud ließ, weil ich bei ihm schlimmer als der Teufel verschrien war, später
annoch den Universitätssccretär. holen. Als Alles protocollirt. und die Au-
dienz verrichtet war, wollte ich wieder aus meine Stube geben, erhielt aber eine
abschlägliche Antwort, worauf ich nach kurzen Besinnen erklärte, ich wolle
gern bleiben, wenn ich mein Piüsir und was ich brauchte, nämlich Bier und
Tabak, haben könnte. Magnificus entgegnete daraus: Ich soll ihn doch nicht
als Gast tractiren! Was er braucht das soll ihm nach Nothdurft gereicht
werden.
Inzwischen hatte sich mein Stubencaball Rost ins Haus geschlichen, und
"ur etzliche Tabakspfeifen und zwei Briefchen Tabak zugesteckt. Hierauf wurde
'es in eine grün und weiß gestrichene Stube einlogirt. welches ohne Zweifel
das Gastzimmer war, und brachte mir die Magd in einem kleinen zimmern
Kunnten einen Löschtrunk. der sehr sauer war, wenn überhaupt die Magd
nicht geirrt und die Essigflasche ergriffen hatte. Ich that diesem Trinke
nicht viel Schaden, sondern gab der Magd 1 Gr. und 6 Ps. zu sechs Kannen
Kannen Bier, welches sie auch bald brachte. Nun machten wir. nämlich ich,
Herr Rost, der Pedell und der Famulus eomwunis Compagnie, nahmen den
^es ein, und ließen den gelben Jörgen tapfer herumgehen. Die Pfeifen
hatten wir zuvor auch tüchtig angefeuert. Nachdem die sechs Kannen Bier
«Ah waren, citirte ich die Magd wieder, die zwar erschien, mir aber berichtete,
^ Rose würde schon zu sein, weil es über zehn Uhr. Ich antwortete aber:
Diesem Hacken wollen wir bald einen Stiel finden. Hier habt ihr 2 Gr. K Pf.,
Kofür ihr zehn Kannen Bier bringt. Wenn der Rosenwirth kein Bier Her¬
ren will, so sagt ihr nur, ihr holet es in des Magnisici Haus. — Mit
^sem Bescheide wanderte sie nach der Rose, und setzte uns in kurzer Zeit
^'Ac Wasserkanne voll Bier vor. Da fingen wir es denn wieder an. wo
" es kurz zuvor gelassen hatten. Ich ließ Gott walten, nicht sorgend für
morgenden Tag. —
Während des Trinkens hate sich mein Stubengenosse Rost zu den Mus¬
teren verfügt, und sich mit denselben in eine Disputation eingelassen, all-
o es denn endlich a verbiß aä verböi'g, gekommen, maßen er zu uns wieder
et<u,f fg,^ uns den blutigen Kopf zeigte, welchen ihm Einer von den
Allstem mit der Muskete geschlagen. Er klagte dies auch dem Magnifico.
° cher ihn zwar anhörte, ohne jedoch Hilfe zu geben, und ihn wol auch
«gelacht haben mag. Denn da war keine Rettung für uns! —
Als dies in dem Hause des Magnisici geschah, hatten sich vor demselben
^e Hundert Studenten versammelt, weichen theils mein Unglück zu Herzen
,>^"gen. theils aber die scharfe und üble Procedur sammt Unterdrückung der
emischlu Privilegien Beranlassung zu Mißbilligung und Lesorgniß gegeben
hatte. Sie warteten auf meine Heraus-Convoyirung und hatten die eirl-
müthige Verabredung getroffen, mich, sobald ich aus der Thür heraus¬
treten würde, sogleich unter sich zu mischen und fortzuschaffen, die Wächter
aber, wenn sie sich zur Wehre stellen würden, fein sauber und hübsch trocken
abzuprügeln und heimzuschicken. — Allein dem Magnisicus war es wahrschein¬
lich durch seine Creaturen avisirt worden, oder er hatte den Braten gerochen,
und ließ mich daher bis 1 Uhr pausiren. Inzwischen verliefen sich die Stu¬
denten, auch hatte er zur Hinterstube acht andere Wächter mit einem Korporal
hereingelassen, welche mich aufs Tabulae begleiteten und bewachten. Die
vorigen Philister wurden entlassen, nachdem sie 16 Gr. und 21 Kannen Bier
als Gratial empfangen hatten. —
Der Verfasser erzählt nun weitläufig den Gang der Untersuchung. Er
blieb vorläufig in Hast, und hatte eine Wache von einem Corporal und fünf
Musketieren, für die ihm täglich 1 Thlr. 2 Ggr. in Rechnung gesetzt wurden.
Als Matthäi's Hand, der sich durch ungeschickte Behandlung ein Wundsieber
zugezogen hatte, sich verschlimmerte, wurde diese Wache sogar auf acht Mann
verstärkt, und als sich hernach der Zustand des Verwundeten wieder besserte,
auf vier Mann vermindert. Da diese kostbare Hast sich sehr in die Länge
zog. so baten die Verwandten des Inculpaten den Herzog von Weimar uM
dessen Freilassung. Dieser ordnete dieselbe gegen eine Caution von 1^
Thalern an, und ermäßigte die aus 61 Thlr. 20 Ggr. erwachsenen Wachkostt»
auf 44 Thlr. 4 Ggr. 9 Pf. Der Senat befolgte aber diesen Befehl nicht'
sondern berichtete dagegen. Endlich, am 16, September wurde der Attestat
mit Matthäi consrontirt, beide mußten sich die Hände geben und verspreche»'
daß hinfüro alles vertragen und keiner an den andern etwas zu prätendiren
haben sollte. K. mußte überdies Urphede schwören. Inzwischen kam de>
Bescheid des Herzogs, welcher seinen Befehl aufrecht erhielt. Nachdem
20. September die Canton geleistet, und 44 Thlr. 4 Ggr. 9 Pf. an W"ä)'
kosten bezahlt waren, wurde K. seiner Haft entlassen, welche Ki Tage, wenige
sechs Stunden gedauert hatte.
Die Untersuchung war nun auch geschlossen und K. aufgefordert worden-
seine Vertheidigung binnen vier Wochen einzureichen. Sobald dies geschehe"'
gingen die Acten zum Spruch an die Juristen-Facultät zu Leipzig, deren lU-
theil am 20. December 1687 dem Angeklagten publicirt wurde. Es lautete-
nachdem zunächst das Thatsächliche festgestellt und bemerkt ist. daß nach ^
Chirurgen Bericht die Verwundung des Matthäi gefährlich gewesen, dahin: "
nun wol. daß der Beschädigte Matthäi vermittelst seines am 17. Juli verübte»
Ausscheidens und sonsten ihm dazu Urseins gegeben, sei auch damals ung^
wohnlich trunken und zornig gewesen, er vorwendet, und die That durch ^
mit so schweren Kosten in den neun Wochen erduldete Gefängniß nunwep
genugsam verbüßt zu haben vermeint; dennoch aber und dieweil die angezo¬
gene Action den 17. Juli ergangen, er nicht alsobald des andern Morgens,
sondern erst etliche Tage hernach und zwar gegen Abends um fünf Uhr in
einem solchen Orte, dessen er billig schonen sollen, das unzuläßliche Besprechen
vorgenommen; Monsieur Matthäi so ganz unbewehrt und sich seiner nicht ver¬
sehend nicht nur an den Hals geschlagen, sondern auch heftig beschädigt; die
vorgeschützte, einem Studioso übel auslesende Trunkenheit und Zorn, wie auch
das erlittene, von ihm selbst verschuldete Gefängniß, ihm wenig zu Statten
kommen mag, so ist Jnquisitus I. I. K. dem beschädigten Martin Matthäi
das aufgewendete Arztlohn. Schmerzensgeld und Unkosten nach vorhergehender
Liquidation und richterlicher Ermäßigung zu bezahlen, ebenso die fol. 53 Act.
angegebenen gerichtlichen ExPensen abzustatten schuldig; und wird hierüber
willkürlich mit zweijähriger Relegation oder um 40 Thaler in Strafe genom¬
men. V. N. W.
Gegen dieses Urtheil kam K. beim Landesfürsten, dem Herzog von Wei-
war, mit ein,er Supplik ein. Dieselbe hatte aber keinen Erfolg, und sonach
sollte K. die früher erwähnten auf öl Thlr. 20 Ggr. berechneten Untersu¬
chungskosten, obwol sie vom Herzog schon einmal auf 44 Thlr. 4 Ggr. 9 Pf>-
ermäßigt worden waren, dennoch voll bezahlen. In Folge dieses Falles wurde
aber für die Zukunft angeordnet, daß die Zchrungskosten der Wache nie höher
als täglich 3 Ggr. für den Musketier und 4 Ggr. für den Corpora! be-
rechnet werden sollten. - Matthäi reichte nun auch seine Kostenrechnung ein,
und liquidirte 200 Thlr. Schmerzensgeld und 5, Thlr. 12 Ggr. gehabte
Unkosten. —
Da K. auf dem Gnadenwege nichts erreicht hatte, ergriff er das Rechts¬
mittel der Apellation. Er führte namentlich an. daß der Vorfall nicht in der
Superintendentur, sondern in des Superintendenten Privathaus, welches er
an Studenten vermiethe. sich ereignet habe; und dann, daß die Verwundung
nur durch verkehrte Behandlung gefährlich geworden, aber trotzdem keine nach¬
theiligen Folgen gehabt habe. — Allein der Schöppenstuhl zu Jena, die Ap¬
pellationsinstanz, bestätigte unterm 15. October 1688 das erste Erkenntniß.
Aber schon am 15 April desselben Jahres hatte K. seine Studien absolvirt,
und die Universität vor beendigter Untersuchung verlassen. Wegen dieses neuen
Vergehens wurde er am 4. August 1088 auf zwei Jahre relegirt, welches
Schicksal mit ihm zugleich noch drei andere Studenten betraf, die sich im
gleichen Falle befunden hatten. — Es wurde nun noch ein Verfahren einge¬
leitet, um den Betrag der dem Matthäi zugesprochenen Entschädigung fest-
Wellen. Im Wege der Gnade endlich wurde dieselbe auf 77 Thlr. 4 Ggr.
^gesetzt, und laut Quittung vom 20. November 1690 bezahlt.
Der Stubengenosse. Herr Rost, welcher sich im Kampfe mit den Phili-
stern vor des Magnifici Haus einen blutigen Kopf geholt hatte, mußte für seine
treue Freundschaft leiden; denn er wurde vom Senat am 6. August 1687 auf
fünf Jahre relegirt, und zur Begründung dieses Spruchs gesagt:
Oum publiee modum ern,t, vim illats-in tuisse eommilitoni, et im-
probi taoivoris auctor voearetur aä Nasistrs-tum, tu solus, ez^nasi
alter Hereulö8, monstroruin clomitor, soilieet eorum, a.ni teeuw
kaeisbant, Kuio aäesse kortiter maledas et vel inter manus xerire
eum irii<iun), cjuam erixi! "
Der Verfasser schließt seinen Bericht mit Virgils
?ors»n et Kaeo olim memmisss Moabit.
während wir wünschen, daß diese Schilderung dem Leser einiges Vergnügen
gewährt haben möge.
Als die Babenberger von ihrer Burg am Kahlcnberge die herrlichen Ebe¬
nen an der Donau beherrschten, blühte der Minnegesang, den dieses Ritte»
geschlecht in jeder Weise pflegte. Wer hätte nicht von Leopold gehört, dessen
Freigebigkeit Walter von der Vogelweide preist, und wer wüßte nicht, daß die
neuesten Forscher den Verfasser der Nibelungen für einen Oestreicher halten?
Zu geschweige» von den religiösen Gedichten, welche Frau Ava mit ihren Söh¬
nen in einer Klosterzelle schuf. Da kamen die Habsburger und das Lied ver¬
stummte. Schon Rudolph war ein durchaus nüchterner Charakter. Man weiß-
wie er den Schulmeister von Eßlingen und was sich ihm vom leichten Volk
der Sänger näherte, zurückwies. Die Poesie nützte eben seinem praktischen
Streben nichts, und zur bloßen Unterhaltung reichte auch ein Possenreißer aus-
Dieser Sinn ist so ziemlich allen Gliedern seines Stammes, bis er erlosch'
geblieben; nur der letzte Ritter, Max, eine Ausnahme auch in mancher andern
Rücksicht, wendete den poetischen Schätzen der Vergangenheit ein gnädiges Auge
zu und hatte einen Melchior Pfinzing, der im „Theuerdank" seine Thaten w
steif allegorischer Weise besang. Sein Urenkel Erzherzog Ferdinand hatte vie
Ähnlichkeit mit ihm: er wurde berühmt durch die Sammlung von Kostba»
leiten und Kunstschätzen, welche nach dem Schloß Auras benannt, jetzt eine
Zierde Wiens bildet und vermuthlich dort bleiben wird. Empfindsamen Seelen
wurde er neuerdings durch Redwitz, der seine Vermählung mit der schönen
Philippine Weiser in einem Drama behandelte, vorgeführt.
Von ihm liegt uns ein merkwürdiges Schauspiel vor. welches unter dem
Titel: „Eine schöne Comödie. 8x<zeulum viwe IiumkwÄL, auf deutsch ein Spie¬
gel des menschlichen Lebens" 1584 in der fürstlichen Stadt Insbruck durch
Johan Pawer gedruckt wurde. Die Einleitung sagt, es sei von dem durch-
lciuchtigsten Fürsten selbst erdacht und gemacht und auf seine Erlaubniß in
Druck gegeben worden, damit der Leser alles desto besser ins Gedächtniß fasse,
sein Leben darnach richten und bessern möge. Das Stück, welches ich bisher
in keinem Werke deutscher Literatur erwähnt fand, ist jedenfalls für die Ge-
schichte des Dramas von Belang und auch abgesehn von jeder streng wissen¬
schaftlichen Beziehung durch Form und Inhalt interessant. Wer freilich beim
Gemahl der holden Philippine süße Liebeslieder sucht, geht seht; der Charakter
dieser „Comödie" ist durchweg prosaisch und moralisirend. obgleich sich in den
Gestalten mitunter ein kräftigeres und individuelleres Leben regt, als in den
meisten Erzeugnissen jener Spützeit nach der Reformation. Man denkt hier
und da an Hans Sachs, während die Scenerie, welche uns sogar den Thron
der heiligen Dreifaltigkeit und der Mutter Gottes vor Augen stellt, an Faust
erinnern möchte, wenn auch von dem hohen Schwunge dieser Dichtung hier
durchaus nichts zu spüren ist.
Die Bühne zeigt, nachdem sich der Vorhang gehoben, die Chöre der
Engel, welche unter Musikbegleitung den Psalm beginnen: I^auäate vommum
6ö teri-g., ciraeonos et onmW »l^ssi! Nachdem sie geendet, tritt lustwandelnd
W der schönen Landschaft ein Jüngling von vornehmem Stande auf. ihn be¬
reiten sein Hofmeister, der Stallmeister. Secretär und Hausmeister. Er fragt
su um Rath, wie er seine Jugend mit Ehren hinbringen solle? Der erste em¬
pfiehlt ihm. er solle sich an den Hof begeben; denn es sei ein feines Ding,
wenn ein Herr seine Unterthanen und die Unterthanen ihren Herrn erkennen
lernen, wodurch Beider Liebe und Vertrauen gegeneinander wachsen. Der
Weite empfiehlt den Waffendienst; denn das Kriegswesen sei das lustigste Leben
auf der Welt. Der dritte meint, nachdem er seinen Schrecken vor Pulver und
Lanzen ausgedrückt, er möge auf Reisen gehen. Der vierte spricht: „das beste
Wär. Euer Gnaden ließen sich umsehen, ob ein schönes, junges, häusliches
Fräulein dem Stand und Herkommen gemäß und von einem fruchtbaren Ge¬
schlecht vorhanden wäre, die nit viel in Städten und an 'Höfen erzogen, so
bei allen Kirchweihen, Hochzeiten und Banketten sein wöllen. und verheurathen
fich mit ihr."
Da erscheint ein alter Einsiedler, der aus himmlischer Eingebung weiß,
daß sich der Jüngling nicht entschließen kann, welchen Weg er einzuschlagen.
^ zeichnet dem jungen Edelmann mit scharfen Worten, die eine gründliche
Kenntniß der Verhältnisse jener Zeit beweisen, die Gefahren, welche mit jedem
der empfohlenen Stände verbunden sind, erklärt jedoch schließlich das eheliche
Leben für das beste und fügt noch bei, er möge, was ihm Gott gegeben, mit
gutem Gewissen genießen, allhier seliglich sterben und dort in jener Welt die
ewige Seligfeit erlangen. Nun entrollt sich, als Drama im Drama, vor dem
Auge des Jünglings eine Reihe von Bildern, die das menschliche Leben ab¬
spiegeln. Die Composition ist durchweg eine unkünstlerischc, sie folgt dem
Leitfaden des Katechismus, in dem sie die lieblichen Werke der Barmherzig¬
keit im Gegensatze zu den Todsünden versinnlicht.
Ein frommer mildthätiger Mann besucht den Markt mit seinem hoffär-
tigen Weibe, welches lieber in einem schönen Garten sich an den wolriechen¬
den Röslein und Blumen erlustigen möchte, als hier unter stinkenden Waaren
die Kleider verderben. Er sagt, es sei jetzt Theurung, man müßte den Armen
zu Hilfe kommen und Gott nachahmen, der für Menschen und Thiere sorge.
Sie erwidert spitzig: „O mein Herr, vermeinet ihr es Gott nachzuthun, so ziehet
eure Hosen und Schuhe ub und gehet barfuß, es wird euch bald verdrießen/'
Er kehrt sich nicht daran und trägt trotz ihres Spottes dem Diener auf, M
die versammelten Hausarmen Lebensmittel zu kaufen. Nun folgt die Straft
der bösen Frau. Die zweite Scene zeigt sie auf dem Krankenbette, wo sie vor
dem Priester jammert: „Mich dünkt doch nit anders, mein Leib und Seel.
Mark und Bein, Herz und Gemüt empfinden all bereits den Rauch, Gestank
und Flammen des ewigen Feuers. O weh meiner armen betrübten Seel!"
Der Priester tröstet sie mit dem Leiden Christi, der für uns alle sein Blut
vergossen, und reicht ihr, während die Chöre der Engel den Psalm anstimmen:
„lanhUÄw aurum in tornaoe probavit."
die Sterbsacrcimente. Sie stirbt, ihre Seele fährt zwar nicht in die Hölle,
jedoch in das Fegfeuer, wo sie unter schrecklichen Qualen jammert, bis ein
Engel niederschwebt und sie tröstet, weil sich Gott ihrer bald erbarmen werde,
Das zweite Werk der Barmherzigkeit gebeut die Durstigen zu tränken, ihm
werden Zorn und Geiz gegenübergestellt. Man erblickt in der Nähe eines
Brunnens zwei Männer im Gespräche:
Der erste: O lieber Gott, wie dürft es mich so hart!
Der zweite: Es dürft mich wahrlich auch, wir wollen dort zum nächste"
Brunnen gehen.
Der erste: Was ists, wenn wir schon lang dahin gehen, ist es doch ein
Schöpfbrunn, und wir sind krumm und lahm, können uns doch kein Waffe>
heraufschöpfen.
Der zweite: El lieber Gesell, kümmere dich nichts, laß uns nur herum¬
gehen, etwa kommt ein guter frommer Mann, der sich über uns erbarmet.
Da erscheint der Fromme mit seinem Knechte, legt Rock und Degen ab
und stillt den Durst der Armen. Während er dieses thut, naht hastig ein
reicher Kaufmann im Selbstgespräche.
Der Kaufmann: O es wird nicht recht zugehen; denn vorgestern, als
es in unserer Gasse nahe bei mir gebrummelt, habe ich ein Fäßchen mit Geld,
dasselbig zu erhalten, in den Brunnen, da diese Leute stehen, geworfen. Sie
werden es gewiß schon auskundschaft haben, wenn Sie es anders nit schon
heraus genommen. Wie soll ich mir helfen? Ich will es wagen und zu
ihnen gehen. — Lieber Nachbar, was thust Du da?
Der Fromme: Ich hab mich der Armen erbarmt und ihnen Wasser ge¬
schöpft; mich dünkt, solche Arbeit komme mich sanfter an, denn dein Geld¬
sammeln.
Der Kaufmann: Du thust mir wahrlich unrecht, wo wollt ich das Geld
sammeln? Du und alle Nachbarn sollten es an meinem täglichen Thun
und Wesen, auch an meiner Kleidung wol spüren und merken, daß ich
arm bin.
Der Fromme: Schweig! Es ist ein altes Sprüchwort, daß die. so am
reichsten sind, sich am ärmsten stellen. Wenn man's beim Licht sehen will,
so sein sie wol die ärmsten, denn sie essen und trinken ihnen nimmermehr
genug. Man weiß aber wol. daß du Geld hast. Ist ein guter Dukaten oder
"ne Krone vorhanden, so lässest du sie gewiß nicht dahinten, sie müssen aus¬
gewechselt sein und wenn ihr also einen guten Haufen zusammenbringt, so
versteckt ihr's hin und wieder in die Winkel, leidet Angst und Noth dabei.
Zuletzt wird doch euer Geld einem andern zu Theil, als ihr meint,
Der Kaufmann: Man zeiht uns oft viel, das nit wahr ist. Du machst
wir mein Herz recht schwer.
Der Fromme: Ich hab dir's wol angesehen, daß du schwermüthig bist.
Vertrau mir dein Anliegen, kann ich dir helfen, so will ich es gerne thun.
Der Kaufmann öffnet ihm nun sein Herz und bittet, er möge ihn in
den Brunnen hinab lassen, damit er selber sehen könne, ob das Fäßchen noch
vorhanden sei. Es geschieht. Da erschallt das Geschrei des Kaufmannes aus
d°r Tiefe, er wird mit Hilfe des Knechtes heraufgezogen.
Der Kaufmann: O weh, o weh mir armen Mann, wo sind meine dicke
Portugaleser. Doppeldukaten. Doppclkronen, Sonnenkronen und andere aus¬
geklaubte güldene Münzen hinkommen! Ich sehe wol. daß ich auf dieser Weli
Weder Glück noch Heil habe, bin auch von Gott gar verlassen. O Teufel hilf
^'r wiederum zu meinem Geld, so ergebe ich mich dir mit Leib und Seele.
(Der Teufel erscheint.) Lieber Teufel, thue ein wenig gemach, ich hab mich
eines Bessern bedacht!
Der Teufel: Nein nein, mein Gesell, ich laß dich nimmer, du bist schon
^'n. schleppt den Kaufmann fort.)
Nun werden wir vor das Haus des Frommen geführt, eine Schaar Pil¬
ger kommt und singt ein Lied:
Der fromme Mann kommt vor die Thüre, ladet die Bürger ein und be¬
wirthet sie, während der Knecht schilt und sich dann auf die Schwelle setzt.
Der Knecht: Das ist heute schon das dritte mal. daß ich esse, zu Mor¬
gens hab ich eine große Pfanne Muß verzehrt und einen guten Laib Brod
darein gebrockt; zum Mittagmal habe ich eine Suppe und ein Stück Fleisch
darinnen von ungefähr 5 Pfunden gehabt. Das habe ich alles allein auf¬
gegessen ohne was das Kraut, Schweinefleisch und die Milch ist. Da hab
ich ein Stück Braten und trau mir wol, es zu essen, denn ich fürcht zuo
Nachtmal wird von meines Herrn Tisch nicht viel übrig bleiben, dieweil wir
oleGäe im ausaben.
Endlich kommt der Herr wieder und gibt einem nackten Bettler den Nock
vom Leibe zum großen Aerger des Dieners, der ihn selbst behalten möchte-
Dieser muß ihn nun zum Spital begleiten, wo er die Kranken besucht und
labt. Ein Gerechter stirbt, seine Seele fährt mit den Engeln in die Höh^
welche den Psalm singen: ^ustorum animas in manu sunt. Nun be¬
gibt sich der Fromme in den Kerker, und kauft einen armen Schuldner, der
in Haft sitzt, los. Eine gefangene Frau fleht um seine Hilfe.
Die Frau: El, mein Herr, weil ihr doch so barmherzig seid, so mach
mich auch ledig, ich will's gerne verdienen.
Der Fromme: Was hast du denn gethan?
Die Frau: O mein Herr, ich bin die vergangene Nacht bei meinem Herz¬
allerliebsten gelegen, hat mich der Richter eingesperrt, und ist um ein Pfund
Silber zu thun; so will er mich nit auslassen, bis es bezahlt werde.
Der Fromme: Laß dich den ledig machen, der bei dir gelegen ist.
Der Knecht: Mein Herzlich. wir wollen heut wieder ein guts Mütlein
mit einander haben. Gehab dich nur wol, du mußt mir das Pfund wol be¬
zahlen.
Die Frau: O mein Lieb, ich bin dein, du magst es mit mir machen wie
du willt. (Indeß kommt ein junger Gesell.)
Der junge Gesell: Es gilt mein's auch!
Der Knecht: Sie gehört mir zu und nit dir.
Der junge Gesell: Sie gehört mir soviel zu, als dir ums Geld!
Der Knecht: Du leugst in Hals hinein.
Der junge Gesell: El so leugst du selbst und wehr dich mein!
(der junge Gesell wird erstochen, der Knecht flieht).
Der junge Gesell: Ach ich hab genug!
Nun tritt der Richter auf, läßt die Leiche vom Arzt beschauen und be¬
graben, was die faulen Knechte nicht thun wollen. Sie geben armen Pilgern
ihr Brot und werden von diesen sammt der Leiche durch das Stadtthor hinaus¬
getragen.
Nun öffnet sich der Himmel, wir erblicken die heilige Dreifaltigkeit auf
ihrem Throne, die Christenheit sendet ihren Vertreter, welcher die h, Mutter
Gottes um Fürbitte anruft, worauf Christus den Frommen und Bußfertigen
Gnade, den Sündern Strafe verheißt, die Engel schließen mit dem Lodge-
^ug: Leatus venter, <mi te xvrlavit.
Nun geht der Jüngling mit seinem Hofgesind wieder in den Vordergrund.
Die Scene, welche sich jetzt vor unseren Augen abspinnt, ist jedenfalls sowol
was die Charakteristik als den Dialog anlangt, die gelungenste des ganzen
Stückes, so daß man dem Erzherzog eine gewisse poetische Anlage nicht ab¬
brechen kann. Ebenso lernen wir in ihm einen guten Beobachter des mensch¬
lichen Lebens kennen, dessen väterliche Herrschaft zu den besten Erinnerungen
Tirols zählt, wo noch manche schöne Sage an ihn und seine Philippine er-
'"nere. Wir geben von der Scene nur den Inhalt und einige Reden, weil
^ für den vollständigen Abdruck an diesem Orte zu lang wäre. Zuerst cr¬
ust der Jüngling das Wort:
Jüngling: Ich weiß mich noch wol zu erinnern, daß der gottesfürchtig
nvinn, alt Mann bei mir gewesen und mir viel von der Welt Lauf gesagt,
Elches ich, wie er's gemeldet, in der Zeit zum Theil gesehen, gehört und
fahren; muß auch wol gedenken und daraus schöpfen, daß Gottes Gnad
" ihm gewesen und ein göttliches Leben um einen Einsiedl sei. Dieweil
ich nun vermerk, daß ihr meine Diener mir keiner wie der andere gerathen
und der fromm Mann, der Einsiedl. allein meinem Hausmeister zugefallen,
habe ich nach vielem hin und her Gedenken bei mir gleich beschlossen, daß
ich heurathen will und sind mir also etlich Heurat antragen worden. Erst-
liehen ein Gräfin von Mötsch, welche gar reich und vermöglich sei, ungefähr¬
lich bei 2i Jahren alt; solle aber an einem Fuß einen Mangel haben und
auf der einen Seiten bucklet sein. Zum andern so sei ein Wittib vorhanden,
so zuvor zwen Männer und bei keinem ein Kind gehabt, solle ziemlich reich und
nit scheußlich sein und ist ein Freifrau von Eben bei 30 Jahr alt. Zum
dritten wäre ein Fräulein von Schlitters vorhanden, so inniglich schön, aber
bös und hoffärtig. Letztlichen ein Fräulein von Rottenburg, so ungefähr ein
oder zwei Jahr jünger als ich, nit besonders schön aber auch nit gar scheu߬
lich, gleichwol arm aber von gutem ehelichen Geschlecht und Herkommen,
fruchtbarem Stamme, gottesfürchtigen Vater und Mutter, sei auch das Fräu¬
lein selbst gottesfürchtig und züchtig. Darum weil ich gleichsam irrig bin
und mich auf das Heurathen nit viel verstehe, was rathet ihr mir?" Nun be¬
ginnt eine lange heftige Debatte, wo jeder eine der Frauen kräftig empfiehlt.
Die Rede des Secretärs deutet in manchem Zuge an die lieblichsten Stelle»
deutscher Volkslieder — Ferdinand mochte, als er sie niederschrieb, wol an die
Reize seiner Philippine gedacht haben. Sie verdient hier mitgetheilt zu
werden.
Der Secretär: „Gnädiger Herr, ich halt viel von einem schönen Mäd-
lein, ob einer schon zu Zeiten etwas leiden muß. Wenn man darnach in
das Bett kommt, so vergißt man dessen Alles und mahnt mich gleich, als
wann man in einer Comödie einen schönen jungen Gesellen in Teufels Klei¬
der steckt und wann er dieselben Kleider wegthut, so bleibt darnach die schöne
Creatur Gottes da stehen. Also auch, wann ein schönes Weibsbild eine»
Mann schon den ganzen Tag martert und plagt; zu Nacht zieht sie sich im
Schlafkämmerlein aus bis auf ihr Hemdelein von feiner durchsichtiger Lu»<
wand, steht da auf ihren schneeweißen Schenklein und eh man das Licht
ablöscht, so sieht der Mann durch das dünne Hemd ihren schneeweißen Leib,
legt sich darnach zu ihm, nimmt ihn in ihre Arme, da wird dann sein
erfreut. Sie sieht ihn mit ihrem lieben holdseligen Gesicht freundlich und
lachend an, alsdann erscheinen in ihren rosenfarbnen Wänglei» die holdseeu'
gen Grüblein und sind ihre Augen gerichtet wie einem Falken, so nach dew
Reiger in die Höhe sehen thut. Da wird dann aus dem Leid eine Freude
und vergißt man alles Unmuthes."
Der Jüngling heirathet schließlich das Fräulein von Rottenburg. N""
thut sich der Himmel wieder auf. und die Engel singen wieder den Ps"to<
I,a>nah.t.ö Äommum ac terra, äraconös!
Wann hat Ferdinand dieses Drama verfaßt? Vermuthlich nach 1564,
wo die große Theuerung war, aus welche man eine Scene des Stückes be¬
ziehen kann. Das Urtheil über dieses Werk, vermuthlich das einzige poe¬
tische, welches aus der Feder eines Habsburgers geflossen, möge der Leser selbst
Ziehen.
Man stellt Tirol stets als die Hochburg katholischer Glaubenseinheit dar.
Mit Argusaugen hütet der Klerus seine Schafe und sucht trotz Bundesacte
und Toleranzpatent mit allen erdenklichen Mitteln jeden Protestanten, der sich
ansiedeln will und sei es auch nur der reinen Lust und der schönen Berge
wegen, von der Gränze abzuhalten. Das Kleinod altererbter Bätcrglaubens
>°it um jeden Preis geschützt werden, und der harmloseste Akatholik. der sich
Haus zum Sommeraufenthalt, ein Stück Weinberg zur Erholung für
^'Ne kranke Brust kauft, scheint es den Zeloten schon zu gefährden. Es war
"ber nicht immer so. Vielleicht gedenken diese Eiferer mit Angst der Kämpfe,
welche die katholische Kirche bereits auf dem Boden Tirols zu bestehen hatte,
Kämpfe, die fast in jedem Jahrhundert seit der Reformation ihren Bestand
gefährdeten und die Herrschaft der Geistlichkeit über die Gewissen lockerten.
mächtige Auftreten Luthers erschütterte auch unsere Thäler, der Bauern-
^i'eg tobte unter dem ebenso geschickten als kühnen Grasmair, von welchem
Erzherzog Ferdinand die Dolche spanischer Meuchelmörder befreiten, hier
^ heftig wie in andern deutschen Gauen, und um dieselbe Zeit etwa er-
^°sser sich die trüben Fluten der Wiedertäufer in die entlegensten Schluchten,
'wer der hervorragendsten Prediger dieser Secte, Georg Hüter, stammt ausPuster-
Er stiftete in Mähren viele Gemeinden, wurde aber dann, in die Heimath
^ttickgekehvt. ergriffen, zu Pferde mit einem Federbusch auf dem Kopfe und
^"wu Knebel im Mund nach Innsbruck zur Hinrichtung geschleppt. Man setzte
h'er zuerst in Eis und dann in heißes Wasser, riß ihm Wunden, goß
''«nntwein hinein und zündete ihn an. Nach diesen schrecklichen Martern
wurdeer auf dem Holzstoß verbrannt. Erfolgreicher war das Auftreten
Georgs aus dem Hause Jakob, den ma» nach der Farbe seines Kleides Blau¬
rock nannte. 1526 zu Zürich mit Ruthrn ausgestäupt, fand er nach langem
Herumirren eine Zuflucht in Tirol. Nach seinen Predigten zählte Schwätz
allein unter 1200 Einwohnern 800 Wiedertäufer. Da erließ König Ferdinand
ein strenges Mandatj, die Verfolgungen begannen mit grausamer Wuth, um
die verderbliche Saat mit Feuer und Schwert auszurotten. In dem winzigen
Städtchen Kitzbüchl nennt eine Liste 67 Menschen, welche des Glaubens willen
hingerichtet wurden, zu Kallenberg fielen 66, zu Kufstein 22 in die Hand des
Scharfrichters; für ganz Tirol rechnet man über 1000. Der Zweck wurde aber
nicht völlig erreicht, wie die von Zeit zu Zeit erlassenen Befehle der Obrig¬
keit bekunden: alle, die einen Wiedertäufer wissentlich beherbergt, gefangen zu
nehmen und gegen sie mit der Tortur vorzugehen, damit man erfahre, ob
ihre Seele bereits mit dem Gist der Ketzerei befleckt sei. Selbst ein Graf
Wolkenstein wurde dem Katholicismus abtrünnig; schnell verhaftet, erbot er
sich zur Rückkehr in den Schooß der Kirche; man entließ ihn gegen Bürgschaft
aus dem Kerker und sah ihm später aus Rücksicht aus die Glieder seiner edlen
Familie sogar den Widerruf nach, den er leisten sollte.
Nachdem die Häupter der Secte auf dem Scheiterhaufen oder unter dem
Henkerbeil erlegen waren und die Verfolgung in den Nachbarländern gleich
oder noch heftiger wüthete, beobachteten die Wiedertäufer allmälig größere Vor¬
sicht, hielten jedoch mit der Zähigkeit, welche den Gebirgsbewohnern eigen¬
thümlich ist, an ihrem Irrthum sest, bis endlich — zumeist durch das Be¬
mühen der Jesuiten, welche Ferdinand 1563 in Tirol ansiedelte — die letzten
Spuren um 1630 verschwanden. Sie hatten Regierung und Klerus länger
als ein Jahrhundert in Athem gehalten. Später trat ein Sectenstifter aus
Stubai mit einer von ihm selbst erfundenen Religion auf, wurde indeß bald
gefangen gesetzt und hingerichtet; zugleich sammelte man die noch übrigen
lutherischen Bücher und verbrannte sie.
Von nun an war es, wie überall in den altkatholischen Ländern nach
dem Concil zu Trient, in Tirol sehr still. Die Jesuiten verbreiteten sich weiter
und weiter, bauten prachtvolle Kirchen und palastähnliche Klöster, übernahmen
die Gymnasien und sorgten eifrig, daß sich nirgends ein Hauch von Ketzerei
regte. Die Vertreibung der Protestanten aus Salzburg berührte nur das
Zillerthal, welches zum Sprengel des Erzbischofs gehörte; hier glimmte der
Funken jedoch heimlich fort, bis er vor wenigen Jahren, wo man größere
Toleranz hoffte, zur Flamme aufschlug, welche aber der Fanatismus des Land¬
tages dadurch dämpfte, daß er die Abtrünnigen zur Auswanderung nach Preu¬
ßen zwang. Vor Kurzem sagte uns ein Zillerthaler: „Nur die Dummen sind
fort, die Klugen haben sich verstellt und sind geblieben!" Sorgfältige Erkun¬
digungen bei Geistlichen indeß bestätigten diese Angabe nicht. Auch die Secte
der Mann hart er im Unterlande, welche christlicher als Christus und zugleich
päpstlicher als der Papst sein wollte, ist fast spurlos erloschen.
Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wurde der Klerus durch die Frei¬
maurer beunruhigt. Freimaurer in Tirol? Allerdings! Treten Sie mit
mir auf die Jnnbrücke. jenseits derselben zieht sich auf den sanften sonnigen
Hügellehnen das Dorf Holting empor. Ueber der Kirche erhebt sich der Vorsprung,
wo einst auf einmal sieben Hexen dem Aberglauben ihrer Zeit als Brandopfer sielen.
Auf der andern Seite desThälchens aber erhebt sich mit der schönsten Fernsicht
»vn der steinernen Terrasse das schmucke Landhaus, in welchem sich — die'
Gegensätze liegen oft nahe beieinander — „die Johannesloge zu den drei Ber¬
gen" versammelte. Wie mir ein Bauer, dem es seine Großmutter erzählt, mit¬
theilte, soll es hier so gotteslästerlich zugegangen sein, daß sich der Teufel
n»t feurigem Schweife Nachts durch die Luft fahrend .selber als Gast ein
gefunden habe. Man riecht zwar an dem Platze jetzt nur den Duft der Feld¬
blumen und nichts mehr von dem Schwefelduft, den Junker Satanas gewöhn¬
lich,als Visitenkarte zurückläßt; doch ist noch das Siegel übrig, dessen sich die
Gesellschaft bediente. Es zeigt von einem wogenschlagenden Meere umflutet
drei Felsen, die den Namen der Loge andeuten und zugleich, wie die Inschrift:
„8g,Jon8 immotus in unäis" errathen läßt, ein Symbol der Festigkeit sein soll¬
ten, die man in einem Lande wie Tirol gegen Gefahren jeder Art zu bewähren
hatte. Die Loge wurde 1777 vom Grafen Leopold, königl. Vicepräsidenten
des O. Oe. Landesguberniums und erstem Meister vom Stuhl, gestiftet. Im
Jahre 1785 zählte sie sechzig Mitglieder, darunter Kavaliere von hohem
Rang und Adel, wie die Grafen Heister. Thurn. Sarnthein. Seid, Trapp,
Spaur. Garienti, Tannenberg. Cuschi, Sternbach; einen Würdenträger der
Kirche, wie den Probst von Botzen. Gelehrte, wie den als Naturforscher ruhen
Ach bekannten Lauhartnng und den Archäologen Primisser, Exjesuiten. wie
Michaeler. Kaufleute, Schullehrer und auch einen Bedienten. Ihr Constitu-
t'onssest feierte sie jedes Jahr am 25. Januar. Man kann sich leicht vorstellen,
welchen Eindruck eine solche Gesellschaft auf den ultramontanen Klerus machte,
den ohnehin schon die Reformen des großen Kaisers bis zur Wuth erbittert
hatten, so daß man bereits einen Aufstand besorgte. Besonders heftig waren
d'e Angriffe im Jahre 1783. wo sich die Nachricht verbreitet hatte, daß
"lie Logen Deutschlands sich verbrüdern und reformiren wollten. Der Jesuit
Gallinger ruft aus: „O wie mangelt überall wahre Aufklärung und Philosophie
und nochweit mehr eine katholische Theologie den Maurern! Es liegt ihnen daran,
reiche Brüder zu gewinnen, sie sind aber nicht zufrieden, wenn man etwas für arme
Archen zur Beförderung des Gottesdienstes verwendet. Ihre Wohlthaten haben
keinen Werth; auch in einer ketzerischen Kirche und Räuberbande kann da und
dort etwas Gutes geschehen Diese Gesellschaft umschließt Leute von verschie¬
denen Religionen, Benedict der Vierzehnte hat sie mit dem Bann belegt. Ebenso
ist es bekannt, wie nachmals die jüngst verstorbene Kaiserin Maria Theresia
höchst seligsten Andenkens dieselbe auf das schärfste verboten und ihre Mit¬
glieder zerstreute oder gefänglich einziehen ließ." Gegen die Bulle Benedicts des
Vierzehnten veröffentlichte Michaelcr eine Broschüre, die von allen Seiten
und auf das Gröbste angefochten wurde. Die Freimaurer in Tirol waren
übrigens sehr unschädliche Leute, wie dieses am Besten eine Stelle aus
der Festrede. Lauhardings, welche mir handschriftlich vorliegt, darthun kann.
„Erinnern Sie sich, meine Brüder, an die vortrefflichen Grundsätze, die wir
den Lehrlingen, Gesellen und Meistern bei ihrer Gradertheilung geben; sind
sie nicht alle rein evangelisch? Schwören wir nicht auf jenes Evangelium,
welches die Göttlichkeit Jesu Christi und dessen ewige Wesenheit mit dem
Vater zum eigentlichen Gegenstande hat? Sind nicht beinahe alle unsere
Sinnbilder aus 'der Bibel, der Grundlage des Christenthumes? Sind nicht
die erleuchtetsten Freimaurer immer die überzeugtester Christen und die ge¬
schworenen Feinde des Freigeistes? Sprechen sie nicht von der Dreieinigkeit Got¬
tes, von der Gottheit des Erlösers, von der in der Bibel beschriebenen Entstehung
der Welt, von den guten und bösen Engeln und überhaupt von der Unläug-
barkeit der heiligen Schrift mehr mit der Ueberzeugung eines Wissenden als
mit dem Vertrauen eines Glaubenden? Eifern sie nicht bei aller Gelegenheit
wider jene elenden Verfälscher, welche zwar die Offenbarung nicht ganz auf¬
heben, wol aber nach ihrem neumodischen, stolzen und leeren Gehirn umgießen
wollen? Werden nicht eben darum diese Engel unseres Ordens von profanen
Witzköpfen als Enthusiasten ausgeschrieen? Ein Schimpfname, den sie so
gern mit den Apostel» und Blutzeugen Christi theilen, ein Name, den sinn¬
lose Spötter nicht verstehen, den sie ihren gottlosen Lehrern wie kleine Kinder
nachlallen. Das Wesen des Ordens ist so alt wie die Schöpfung selbst, seine
heutige Form und Verfassung ganz nach dem Modelle des Christenthumes
eingerichtet."
Nachdem der Stern Kaiser Josephs untergegangen war. brachen auch fü>'
die Freimaurer in Oestreich böse Zeiten an. Die Regierungen und Geist¬
lichen bezeichneten sie als Miturheber der französischen Revolution und jedes
Ausbruches menschlichen Freiheitsgefühls. Anstatt in ihrer sinnlosen Wirth¬
schaft die Hauptquellen des Uebels zu suchen, hoben sie die Logen auf und
verfolgten ihre Glieder. Erst im Jahre 1848 entstand wieder eine „zu"'
Orient" in Wien, deren Versammlungen jedoch bald vom Militärconimcmdo
gehindert wurden.
In Tirol ist die Erinnerung an die Freimaurer wenigstens in so weit ge¬
blieben, daß man diese Bezeichnung solchen als Schimpfnamen zutheilt, welche
am Freitag Fleisch essen und die Aufsatze unserer ultramontanen Journale nicht
classisch finden. Vor kurzem starb der Bischof von Trient. Man vertheilte seine
Leibwäsche unter die Armen, Ein alter Manu, der schon lange gichtbrüchig war,
Zog ein ihm geschenktes Hemd an und wurde plötzlich vollkommen gesund. Sie
Zweifeln? Sie lächeln? O Freimaurer, nach dem der Teufel schon die Krallen
streckt! Sie sprechen gegen das neue Landesstatut, welches Bürger und Bauern
zu voller Abhängigkeit vom Klerus und Adel verurtheilt. Hüten Sie sich!
Der Adel Tirols zeichnet sich jetzt weder durch Vermögen noch durch Intelli¬
genz aus. und daß er unter die Freimaurer gehen sollte wie seine Ahnen,
besorgt Niemand. Tischte doch erst jüngst ein Cavalier von der Etsch, welcher
schon öfters bei wichtigen Zeitereignissen wie ein Hanswurst hinter der Scheibe
zu allgemeinem Gelächter emporsprang, den staunenden Lesern des „Vater¬
landes" die Nachricht auf, die Unzufriedenheit von Bauern und Bürgern in
Tirol gehe von den Freimaurern aus. ihre Loge habe das Zeichen dazu ge¬
geben. Diese Loge ist jetzt allerdings auch in Tirol sehr groß: sie umfaßt
Die Bewegung.für die Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustandes ist
selbst nach dem denkwürdigen Kammerbeschlusse vom 8, Dec, v, I, um einen nicht
unbedeutenden Schritt weiter gerückt. Es giebt überall einzelne schwache Naturen,
dert- allgemeinen Strom der öffentlichen Meinung, wenn'sie ihn auch nicht auf¬
zuhalten vermögen, doch verunreinigen. An solchen hatte es auch auf dem letzten
Landtage nicht ganz gefehlt. Es war der Mangel einer allgemeinen Erklärung des Vol¬
kes in Betreff seines Rechts, der inne Personen zum Deputirtcnsitz hatte durchschlüpfen
offen. Künftig wird es anders fein. Eine allgemeine und öffentliche Verbrüderung
hat stattgefunden, eine großartige Kundgebung, gegen welche alle Schwachen künftig
unter ihren Mitbürgern als verrufen erscheinen müssen; unterschiedslos ist durch
dieses Ereigniß alles in eine fest zusammenhaltende Masse verschmolzen, an welcher
jeder fernere Versuch der Regierung zur Durchführung der Neuerungen zerschellen wird.
Am 5. Januar 1861 waren es 30 Jahre, seit der Vater des jetzigen Kurfürsten
d'e Verfassungsurkunde mit dem im Eingange, derselben ausgesprochenen Wunsche
^zog, „daß dieselbe als festes Denkmal der Eintracht zwischen Fürst und Unter-
thauen noch in späten Jahrhunderten bestehen und dem Vaterlande eine lange
segensreiche Zukunft verbürgen möge/' Dieser Tag wurde zu jener offenen und all¬
gemeinen Erklärung gewählt. Die Feier fand in allen größeren Städte» des Landes
statt, man sprach sich überall in freiester Weise über die im großen und engeren
Vaterlande herrschenden Zustände aus, es hob sich der Einzelne an der Ueberzeugung,
daß unzählige Mitbürger denken wie er selbst, und man ermunterte sich sür den
bevorstehenden Rest des Vcrfassungskampfes.
Am großartigsten war die Feier zu Kassel. Ein großer städtischer Saal konnte
nicht alle fassen, welche theilnehmen wollten, und so kam es, daß blos 40» Per¬
sonen anwesend waren. Das Gastmahl sollte zugleich zu Ehren der Vertreter der
Stadt auf dem letzten Landtage, der Herrn Oberbürgermeister Hartwig und Vicc-
bürgermcistcr Nebelthau sein, ja die Einladung zu dem Feste ging blos hierauf; die
Begeisterung für das Festhalten an der Verfassung selbst trat aber so sehr in den
Vordergrund, daß der Ehrengäste nur kurz gedacht wurde. Ein angesehener Bürger,
Fabrikant Richard, war der erste, welcher die Rednertribüne bestieg; er wies in
warmer Ansprache auf die hohe Bedeutung dieses Festes für die Gegenwart hin und
schloß mit einem mit dem stürmischsten Beifall aufgenommenen Hoch auf die Ver¬
fassung vom 5. Januar 1831. Sodann erhob sich die ganze Versammlung und
sang stehend in feierlicher Weise und nach der Melodie „Heil Friedrich Wilhelm
dir" ein von Friedrich Oetkcr verfaßtes Lied. Der vielen leider schon verstorbenen
Männer, welche die Verfassung mit hatten erstreiten helfen und dann lange Zeit
tapfer vertheidigt hatten, gedachte in längerer Rede Pfarrer Sallmann. Gleichen
Beifalls erfreuten sich die Reden der beiden Deputirten. Nebelthau sprach die feste
Zuversicht aus, daß bald in allen deutschen Gauen die ungesetzlichen Neuerungen
der letzten zehn Rcactionsjahrc entfernt würden. Die folgenden, zahlreichen Redner
gehörten fast sämmtlich dem Bürgerstande an; auswärts möchte von denselben nur
der Name des Küfermeisters Herbold bekannt sein, welcher 1830 an der Spitze der
Bürger-Deputation stand, welche von Wilhelm dem Zweiten die Zusicherung der
Verfassung erhielt. Man sah, wie mächtig sich diese einfachen Männer getrieben
fühlten, dem lange Jahre verhaltenen Unmuthe Worte zu geben. Gar manches
Ehrenmannes, der in dem Verfassungskampfe alles geopfert, ward gedacht, am leb¬
haftesten und längsten war aber der Zuruf beim Trinksprüche auf den leider abwe¬
senden I)r. Friedrich Oetkcr. Gegen das Ende stimmte die Versammlung ein
zweites von Oetkcr verfaßtes Lied an. Nächst Kassel war die großartigste Feier des
Tages in Hanau. Auch hier nahmen etwa 400 Personen Theil. Zahlreiche Gäste
waren dazu aus Frankfurt, Darmstadt, Wiesbaden und Bockenheim erschienen.
Anfang wurde von Herrn Böhm ein Festgedicht über den Verfassungskampf vorge¬
tragen. Sodann folgten viele Tischreden und Trinksprüche, in welchen sich die größte
Begeisterung und die männlichste Entschiedenheit für die Sache des Rechts und für
die deutsche nationale Angelegenheit aussprach. In humoristischer Weise besprach
der Dichter Heinrich König die Entführung der Verfassung. Der Abgeordnete Ziegler,
derselbe, welcher kürzlich in der Kammer den Jncompetenzantrag gestellt hatte, erin¬
nerte an Sylvester Jordan, einen der Haupturheber der Verfassung; man feierte die
38 verfassungstreuen Abgeordneten, die auswärtigen Gäste, das kurhessische Volt,
das deutsche Vaterland. Lang aus Wiesbaden sprach von der Verschmelzung de'
Parteien, Metz aus Darmstadt von den Mitteln und Zielen der nationalen Bewe¬
gung und gedachte des unermüdlichen wackeren Vorkämpfers in Kurhessen, des Herrn
Fr. Oetkerv Die verschiedensten Bilder der Vergangenheit und der Gegenwart rief
man sich ins Gedächtniß, so die Wirksamkeit Hassenpflugs und Graf Nechbergs in
Kurhessen, die Thätigkeit des Nationalvereins in unserer Frage, die Sieger von
Eckernförde, die Thätigkeit der freisinnigen deutschen Presse, die in der Verbannung
Lebenden, die deutschen Turner, die Schleswig-Holsteiner und die 109 Offenbacher,
deren Beitritt zum Nationalvcrein der Anfang zur Bewegung in Hessen-Darmstadt
wurde. Eine Rede Zicglcrs rief auch die Bedeutung des deutschen Bürgerthums in
der nationalen Bewegung ins Gedächtniß und damit die oben angegebene wichtige
Bedeutung des Festes.
Nicht minder erhebend war die Vcrfassungsfeicr in Marburg. Die Stimmung
war eine begeisterte und nationale. Der Vicekanzler der Universität, Professor Lobati
wurde gefeiert, da er, obwohl Mitglied der ersten Kammer, an der Verfassung festhält.
Man gedachte des Nationalvcreins, des Herzogs von Coburg und Friedrich Octkers.
Man feierte besonders die Abgeordneten aus dem letzten Landtage, Rudolph, Schneider,
Lauer und Euler. Es waren hier 150 Festgcnosscn aus Marburg, und den um¬
liegenden Ortschaften Marbach, Nicdcrwalgern und Oberrosphc.
In Fulda war ein Festmahl im Ballhause veranstaltet. Es betheiligten sich
demselben vorzugsweise die Wähler, die Mitglieder der Gemeindebehörden, An¬
wälte und Aerzte. Der Abgeordnete Rübsam, dessen Vertretung dankbar anerkannt
wurde, hielt die Rede auf den Geburtstag der Verfassung. Man gedachte sodann
M einem besondern Vortrage der Presse, welcher mau soviel zu verdanken habe, und
insbesondere der Thätigkeit Fr. Octkers.
,Bei dem Festmahle, welches in Hersfeld stattfand, wurde der auf das Kleinod
des Volkes, die Verfassung, aufgebrachte Trinkspruch mit unbeschreiblicher Innigkeit
aufgenommen. Den 38 verfassungstreuen Abgeordneten, insbesondere dem Vertreter
Stadt, Herrn Süntel, ward besondere Ehre zu Theil.
Zu Weisungen führte beim Festmahle der Abgeordnete scholl in warmer, tief
"greifender Rede den von der Verfassung von 1831 zwanzig Jahre lang ausgeübten
segensreichen Einfluß lebhaft vor Augen und sprach den Wunsch aus, es möge Gott
co Allmächtigen gefallen, daß bald der Tag erscheine, wo dieselbe wieder
SUr vollen Geltung komme und wie ehedem ein Führer sei für Fürst und Volt, im
">et wie im Unglück, gleich einem hellleuchtenden Sterne in dunkler Nacht. Hierauf
Wurde in feierlicher Stille des Gebers der Verfassung gedacht, mit stürmischem Beifalle
"ber aller Verfassungsgetreuen, besonders Vetters.
Noch in mancher andern Stadt fand die gleiche Kundgebung statt, hörte man
"selben Namen feiern. In Eschwege war das Bildniß Kurfürst Wilhelms des Zweiten
"ut Jmmortcllcnkrünzeu geschmückt. In Rauschenberg wurde bei dem Festmahle be-
l^übers des Abgeordneten der Stadt, Bronn, gedacht, welcher in längerem Vortrage
^s alle wohlthätigen Gesetze hinwies, die durch die Verfassung entstanden sind. Ein
urgcr sy^es über die Eintracht des deutschen Volkes im hessischen Verfassungs-
^"r. In, Kirchhain nahmen an der Feier über 70 Personen Theil. Mit
^ter und Einmüthigkeit feierte man den Tag in Amöneburg. Man suchte den
" acht abzuwehren, als sei man hier nicht verfassungstreu gesinnt, da der frühere
Abgeordnete sich so benommen hatte. Eine große Betheiligung am Verfassungsfeste
fand in Karlshafcn statt. In Wabern nahmen 6» Bürger Theil. Zu Allendorf
feierte man an dem Tage besonders den verfassungstreuen Abgeordneten Wachsmuth
zu Sooden. In Frankenberg brachte der Abgeordnete Loder das Hoch auf die Ver¬
fassung aus. Zu Wetter sprach man in erhebender Weise aus, daß man sich einig
fühle in dem Gedanken, daß Recht doch Recht bleibe. Auch in den Städten Gelnhausen,
Bockenheim, Schwcinsberg und Rinteln, sowie, in den Dörfern Wolfsanger, Jhrings-
Hausen, Weimar, Wilhelmshausen, Rothcnditmold, Kirchditmold, Wehlheiden, Nieder-
zwehrcn, Bcttenhausen, Waldau, Crumbach, Ochshausen, Nichte, Vollmershausen,
Sondershausen, Ober- und Untcrkausungen wurde der Tag festlich begangen.
Wo in so entschiedener Weise die Vcrsassungsncucrungen im ganzen Lande ver¬
urtheilt sind, so deutlich und laut das fernere Festhalten am Rechtsboden proclamirt ist,
könnte sichs nur die vollkommenste Blindheit einfallen lassen, die Worte des Lcmdtags-
commissars von Dehn-Nothfclser in der Kammersitzung vom 8. December v. I. zu
wiederholen, daß die „Verfassung" von 1860 im Volke tief Wurzeln geschlagen habe.
Preußen ist im Begriff, mit Deutschland die Sache Schleswig-Holsteins aufzu¬
nehmen, es sucht eine Lösung herbeizuführen, welche deutscher Ehre würdig ist. Offen'
bar wird die preußische Marine bei dieser Lösung eine Rolle zu spielen haben. Des¬
halb soll hier von der preußischen Marine gesprochen werden, was sie werden kann
und was sie werden muß, um ihren Zweck zu erfüllen.
Die Anfänge einer Preußischen Marine haben mit Uebelständen zu kämpfen, die
Jeder, der nicht selbst Seemann ist, unterschätzen wird. Der erste ist der völlige
Mangel an einem brauchbaren Kriegshafen. Wenn die Gefion von Danzig aus in
See geht, können erst außerhalb des Hafens und der Rhede die Geschütze ausgeladen
werden, sie müssen wieder abgeladen werden, bevor das Schiff in den Hasen gelangt-
Die ungenügende Tiefe des Fahrwassers in den preußischen Häfen schützt vor dew
Eindringen fremder schwerer Schiffe, aber derselbe Uebelstand verhindert die eignen
Kriegsschiffe mit der Schnelligkeit in den Hafen zu kommen, welche in Kriegszeiten
nothwendig werden kann. Der andere Uebelstand, oft beklagt und zuweilen ungerecht
hervorgehoben, ist der Maugel an Sicherheit gewesen, welcher die ersten Schritte be>M
Bau der Fahrzeuge, Besetzung der Stellen :c. bezeichnete. Aber dieser Uebelstand ist.
wie jeder unbefangene Beurtheiler zugeben muß, nicht vorzugsweise Schuld der preu¬
ßischen Admiralität, denn gerade in den Jahren, in welchen Preußen die Anlage
seiner Manne begann, war die gesammte Schiffsbaukunst in eine revolutionäre Be¬
wegung gekommen, ein neues System löste das andere ab, ohne Aufhören wurden
neue Erfindungen von den großen Seemächten eingeführt. Das erschwerte die Wahl
des Zweckmäßiger und verhinderte bei den neuen Unternehmungen sofort das Richtige
zu treffen. Dazu kam, was allgemein bekannt ist, daß die Marine lange Zeit von
oben her wenig unterstützt wurde, ja daß eine einflußreiche Partei ihr offen entgegen¬
arbeitete; ich selbst habe von hochstehenden preußischen Militärs gehört, daß sie es
thöricht fanden, Geld für Bildung einer Marine auszugeben, „wobei doch nie etwas
Vernünftiges herauskommen könne."
Das ist aber seit zwei Jahren doch anders. Der Anfang, das Schwerste, ist
gethan, ja es ist unter den obwaltenden ungünstigen Verhältnissen in der That mehr
bewirkt, als das Publicum weiß und glaubt. Besonders in dem letzten Jahre ist
eine geräuschlose, aber sehr ehrenwerthe Thätigkeit entwickelt worden. Ich glaube,
daß es im deutschen Interesse liegt, grade jetzt darüber jede Discretion zu beobachten.
Dem Prinzenadmiral Adalbert gebührt nicht nur die Ehre der Gründung, und daß
er in den schwersten Zeiten unverdrossen und mit Festigkeit das wenige ihm Bewil¬
ligte nützlich zu verwenden suchte, er hat auch das größere Verdienst, daß er in der
That einen praktischen Scemannsblick besitzt und richtig einsieht, was noch geschehn
muß. Diese Vorzüge empfinden die preußischen Seeleute sehr lebendig, der Prinz ist
bei Offizieren und Matrosen geliebt und respectirt. Es war in den Jahren 48 und
^9 für jeden Deutschen eine quälende Empfindung, daß eine Macht wie Dänemark
durch ein paar Schiffe die preußischen Häfen, so wie die deutschen an der Nordsee
biokircn, den gesammten Seehandel verhindern und wesentlich zum Abschluß jenes
Waffenstillstandes von Malmöe, beitragen konnte. Die Wiederkehr wenigstens dieser
Erscheinung haben wir bereits jetzt nicht zu fürchten. Zwar ist die preußische See¬
macht noch lange nicht so stark, daß sie es mit der dünischen in offenem Kampf auf-
«ebenen könnte — dafür hat Dänemark seit Jahrhunderten seine Marine mit ruhm¬
voller Vergangenheit, sie ist stets ein Liebling dieses Staats gewesen — aber mit
drei bis vier Schiffen kann Dänemark im Fall eines Krieges nicht mehr die deutschen
Häfen blokiren, es gehört jetzt schon eine nicht unbedeutende Macht dazu. Und da¬
mit Mein ist viel gewonnen, denn die Blokadcschiffc gehen doch von der Hauptstärke
der Flotte ab.
Nun gibt es aber ein Mittel, die preußische Marine in kurzer Zeit der dänischen
ebenbürtig, ja nach gewisser Richtung überlegen zu machen. Dieses Mittel ist der
Bau von Dampfkanoncnbootcn, Preußen hat für den Augenblick keine Häfen für
tiefgehende Schiffe, ebensowenig Rheden, wo solche Schiffe vor Wind und Wetter
geschützt oder durch Fvrtificationcn gegen feindliche Ueberfälle gesichert werden können.
Die Dampfkanoncnbootc dagegen sind für ein Fahrwasser wie die Ostsee wie gemacht;
geringem Tiefgänge haben sie den ungeheuren Vortheil, überall einzudringen. Die
Mehrzahl der großen dänischen Schiffe ist nach der alten Construction schwerfällig
^baut. nicht mit Schrauben versehen, und grade die dänischen Küsten und Inseln sind
"r Segelschiffe, insbesondere für große tiefgehende gefährlich, die meisten Hasen und
Massagen zwischen den Inseln sind nur mit gewissen Winden zu gewinnen und zu
Passiren. Die englische Flotte hat das in den Jabren 1800 bis 1808. die dänische
"och bei Eckernförde zu großem Schaden erfahren. Im letzten russischen Kriege ist
fast Alles, N»s im zweiten Jcihrc in der Ostsee sowie im schwarzen Meere geschah,
zum größten Theil durch Dampfkanoncnboote ausgeführt worden. 'Im Schleswig-hol-
steinischen Kriege hätten vier gut gebaute und mit schwerem Geschütz armirte Dampf-
kanonenboote weit mehr ausgerichtet, als unsere elf Nudcrkauonenbootc, Das zwölfte
Kricgsfahrzcug der Schleswig-holsteinischen Marine war allerdings ein Dampfkanoncn-
bvot, indeß zu klein, und, was sehr zu entschuldigen ist als Erstlingsversuch, mangel¬
haft construirt. Es war aber dies überhaupt eins der ersten Fahrzeuge dieser Art.
Die englischen Kanonenboote, welche im russischen Kriege so viel Aussehn machten,
waren nach derselben Construction gebaut, aber größer, schneller, mit neuen vortheil¬
haften Einrichtungen.
Ein Kanonenboot ohne Maschine kann nur gegen Segelschiffe und bei ruhiger
See etwas ausrichten, und Windstille ist bekanntlich grade dann höchst selten vor¬
handen, wenn man sie brauchen könnte. Deshalb sind solche Fahrzeuge eigentlich
nur zur Vertheidigung der Küstcnreviere und Flußeingänge mit Erfolg zu gebrauchen.
Preußen besitzt 42 Rudcrkanoncnboote; diese sind nach meiner Ueberzeugung für den
Küstcndienst hinreichend, da Preußen keine Küstcnplütze hat, wo große Schiffe als
Angreifer activ besonders gefährlich werden können. Will der Feind preußische Häfen
von der See aus angreifen, so kann dies nur durch kleinere Fahrzeuge ausgeführt
werden, und dies steht nicht zu befürchten, weil ein solcher Angriff durch Landungs¬
truppen unterstützt werden muß.
Allerdings kostet einDampfkanoncnbvvt bedeutend mehr, als cinNudcrkanonenboot;
aber diese Mehrkosten werden an Gage und Verpflegung der Mannschaft wieder gut
gemacht, denn die Dampfkanonenboote bedürfen nur die halbe Besatzung der Ruderboote.
So haben die Dampfkanonenboote den zweiten Vortheil, daß sie sich leicht be¬
mannen lassen. Ein guter praktischer Führer (abgesehen von den bei der Maschine
Angestellten) und drei bis vier tüchtige Unteroffiziere sind in kurzer Zeit im Stande,
die Bemannung,. wenn diese nur theilweise aus secgewvhntcn kräftigen Leuten be¬
steht, so weit zu bringen, daß man ihr Alles zumuthen kann.
Da es für eine Flotte von Dampfknnonenbootcn an Offizieren fehlen wird,
schlage ich zu Führern für diese Fahrzeuge junge intelligente Kanffahrtcicapitänc vor,
an denen die deutsche Handelsmarine wahrlich keinen Mangel hat. Diese sind mit
Leichtigkeit in Kurzem so weit zu bringen, daß sie ein derartiges Commgndo über¬
nehmen können. Denn immer wird beim Seemann die Praxis Hauptsache bleiben,
sie nur stählt den Charakter und gibt den Reichthum an Erfahrungen, welche durch keine
Akademie und kein Bildungsinstilut ersetzt werden können. Lange noch wird in Deutsch¬
land die Kauffahrtcimarinc die beste Schule des Seemanns sein ; denn der Kauffcchrcr de>t
Jahr aus, Jahr ein Gelegenheit, das Secmannslcben in allen Lagen zu studiren.
Ein junger Mann, der in dieser Schule seine Zeit gehörig benutzt hat, kann spät"'
Alles werden. , Sind doch die ersten Seehelden größtentheils aus der Handelsmarine
hervorgegangen. Woher kömmt es, daß in den kleinen Mariner die auscomman-
dirtcn Schiffer so häufig selbst in den heimathlichen Gewässern, die sie doch gara"
kennen sollten, Unglück haben, sich festfahren, carampvlircn, ja total verloren gehen>
In der dänischen, schwedischen, holländischen Marine bemühen sich die Offiziere jetzt
häufig auf eine Zeit Führer von Kauffahrteifahrern zu werden, weil sie im Dienst
nicht genügende Gelegenheit haben, auscommandirt zu werden.
Die Unteroffiziere wären ebenfalls aus der Handelsflotte zu entnehmen. An
tüchtigen Matrosen aber wird Preußen in den Herzogthümern und an der Nordsee
für die oben angedeutete Vermehrung der Flotte genügendes Material finden,
vorausgesetzt, daß es sich entschließt, gut zu bezahlen. Denn ein für den Kriegs¬
dienst gewordener Matrose muß schon deshalb eine höhere Heuer erhalten, als die
gewöhnliche Heuer der Kauffahrteischiffe ist, weil er bedeutend mehr an Kleidungs¬
stücke» verbraucht. Der Kauffahrteimcum kann sich tragen wie er will, und seine
Kleider bis auf den letzten Lappen verbrauchen, im Kriegsdienst wird weit größere
Sauberkeit und Sorge für die äußere Haltung verlangt. Bei starkem Matroscn-
bedarf freilicli steigen die Schwierigkeiten. Es wär selbst den Engländern beim Be¬
ginn des orientalischen Krieges unmöglich, die ausgerüsteten Schiffe genügend zu
bemannen, und es ist bekannt, daß sogar der Admiral Napier sagte, mit solcher
Mannschaft könne er nichts machen.
Wie Dänemark es anfangen will, bei Ausbruch des Krieges seine verstärkte
Flotte zu bemannen, bleibt Jedem ein Räthsel, der die dortigen Verhältnisse kennt.
Auf Matrosen aus den Herzogtümern darf keine große Rechnung gemacht werden;
der dänische Seemann aber hat einen Widerwillen gegen den königlichen Marincdicnst,
wie er mir bei keiner andern Nation vorgekommen ist. Die untern Chargen der
dänischen Marine hatten bis in die neueste Zeit noch immer an unwürdiger Be¬
handlung zu leiden und waren ganz und gar von der Laune ihres Vorgesetzten ab¬
hängig; auch ist Verpflegung und Gage schlecht. So bietet jeder Seemann alles
Mögliche auf, vom Flottendienst frei zu werden, oder einen Stellvertreter zu nehmen.
Dazu kommt, daß eine nach anderer Dichtung vortreffliche Einrichtung, der soge-
genannte feste Stock, eine bevorzugte Classe von Flvttcnbedicnstcten schafft, welche
das Privilegium, sich über Andere lustig zu machen, im Uebermaß ausbeutet. Sie
vorzüglich verleiden den Ausgchobcnen der, Herzogthümer, welche in der Regel nicht
dänisch verstehen, den Dienst gründlich. Die Offiziere aber sind wenig geneigt, gegen
solchen Uebermuth zu helfen. Etwas besser ist es seit dem letzten deutsch-dänischen
Kriege geworden. Damals machten die Dänen zu ihrem Schaben die Erfahrung,
^'c verhaßt die dänische Marine besonders den Deutschen war. Sie erhielt damals
Kst nur solche deutsche Seeleute, welche in dänischen Häfen von Schleswig-holsteinischen
Schiffen gefoppt, weggeholt wurden.' Es war sehr schwer, die dänischen ausgerü¬
steten Schiffe zu bemannen. Auch der Verlust des Christian und der Gcfion bei
Eckernförde wurde wahrscheinlich durch die schlechte Mannschaft veranlaßt; nicht der
^'etc Theil der Besatzung bestand aus Seeleuten, die Mehrzahl war Volk von der
^opcnhagencr Straße weggenommen.
Außer den Offizieren, an denen Dänemark keinen Mangel hat, gehört zu der
Flotte ein festes Corps — fester Stock — von circa 1800 Mann, nämlich 'circa
^0 Mann Artillerie (Seeleute), ein Matroscncorps. circa 200 Mann, ein Werfte-
^°rps, circa 350 Mann. Handwcrkercorps 1000 Mann. Davon kann, wenn sämmt-
Beurlaubte eingezogen werden, allerdings nur die Hälfte an Bord genommen -
'""'den, da die Hälfte auf den Wersten und dem Holm nicht entbehrt werden kann,
^'se fest Angestellten geben aber einen vortrefflichen Stamm für Unteroffiziere.
^'>M Ausbruch des Krieges bedarf Dänemark wenigstens 6000 Mann für die Schiffe,
'e kleinste Zahl der auszurüstenden gerechnet. Dies sind 2 Linienschiffe. 3 Fregat-
ten, 2 Corvetten, 40 Kanonenboote, 3 Dampsfregatten, 2 Dampscorvetten und
6 Räderdampfer,*) Auch Dänemark betreibt jetzt eifrig den Bau von Dampskanonen-
bootcn, 3 eiserne, das Stück zu 135 (?) Ncichsbankthaler, hat ein Kopenhagener Haus
übernommen, eine größere Zahl sott dem Vernehmen nach in England bestellt werden,
Ueberhaupt herrscht jetzt in der dänischen Manne eine Thätigkeit, welche nicht unter¬
schätzt werden darf. Es ist auch im Werk, in Kopenhagen eine Hochschule zu er¬
richten, in welcher junge Kauffahrtcileute für den Marmedienst ausgebildet werden
sollen. Von den Aushebungen der Matrosen haben bereite die Zeitungen berichtet.
Es liegt jetzt noch in der Hand Preußens, seine Marine in defensiver Kraft der
dänischen überlegen zu machen; es ist möglich, bei starker Anspannung unserer Kräfte
bis zum nächsten Frühjahre 40 Dampfkanonenboote zu erbauen und jedes mit drei
Stück gezognen Vierundzwanzigpfündern auszurüsten. Mit dieser Flotte vermag man
die Dänen vollständig in Schach zu halten, nicht nur die deutschen Küsten zu
sichern, sondern auch eine Landung vor Kopenhagen zu bewerkstelligen,
Der Zweck der in obigem Titel genannten Expedition war hauptsächlich, zu
untersuchen, ob sich durch den Colorado eine Wasserverbindung zwischen dem Mor¬
monenland in den Rocky Mountaine und dem Golf von Californien herstellen lasse-
Dabei wurden mehre noch wenig bekannte Gebiete durchwandert und durchforscht-
Der Verfasser schildert im ersten Band seine aus einem kleinen Dampfer untcrnow'
neue Fahrt den Colorado aufwärts, dann im zweiten die Landreise von der Stelle,
wo der Fluß schiffbar zu sein aufhört, durch die Gebiete verschiedner Jndianer-
stämme, z. B. der Moquis und Ravahves, an den Rio Grande und dann über
die Prairiewildniß östlich vom Gebirge nach dem obern Missouri. Seine Mittheil¬
ungen sind, wie die eingestreuten, im Novcllcnton erzählten Geschichtchen von, TraP°
paru und Hinterwäldern zeigen, auch auf Unterhaltung angelegt. Doch ist sein Tale»t
in dieser Rücksicht schwach, und es begegnet ihm überhaupt häufiger als angcnchw
ist, daß er das Unwesentliche mit dem Wesentlichen verwechselt. Werthvoller Mb
die recht gut ausgeführten Abbildungen.
Von dem im Verlag von M, Schauenburg in Lahr erscheinenden Werke: „Ni-
chardson, Barth, Overweg und Vogel in Centralafrika. — Erzählung
ihrer Reisen von Dr. E. Schauenburg" ist jetzt mit der achten Lieferung der
Schluß erschienen. Wir wiederholen unsre frühere Empfehlung dieser sehr geschickt
zusammengestellten, ebenso lehrreichen als anziehend geschriebenen Auswahl des In¬
teressantesten aus den Mittheilungen der genannten Reisenden.
Jerusalem, seine Lage, seine heiligen Stätten und seine Bewohner
»ach eigner Anschauung dargestellt von Dr. Heinrich Thiele. Halle, Verlag von
R. Mühlmann. 1861. Der Verfasser ist ein Geistlicher und beschreibt seine Rufe mit
der gebräuchlichen Rührung und Salbung. Neues haben wir in dem Buche nicht
gefunden, und die archäologische Kritik ist sehr schwach, die Charakteristik mancher
der Notabilitäten Jerusalems (z. B. Monsignor Valergas) entschieden falsch. Was
über den Islam gesagt wird, ist großentheils oberflächliche Wiederholung der Urtheile
einer bcschrünktenGcschichtsforschung.
Reise in den Orient Europas und einen Theil Westasien«. Von
C. W. Nutzer. Erster Band. Elberfeld, Bädckersche Buch- und Kunsthandlung
1860. Der Verfasser, geheimer Obermedicinalrath und Professor in Bonn, hat sich
namentlich die Untersuchung des Bodens, des Klimas und der Gesundheitsverhältnisse
der.von ihm besuchten Länder angelegen sein lassen, und nur beiläufig sind seinen
Berichten Beiträge zur Geschickte, Völkerkunde und Politik derselben eingeflochten.
In Verfolgung jenes Hauptzwecks ist das Buch eine entschiedene Bereicherung unsers
Wissens vom Orient, und auch die nebenhergehenden Bemerkungen enthalten viel
Gutes und Neues. Der erste Band bespricht die Beobachtungen des Reisenden in
Ungarn, von denen namentlich die klimatologischen werthvoll sind, die Donaufürsten-
thümer mit ihren wichtigsten Städten, Bulgarien, die Dobrudscha und das Donau-
dclta. Die beiden letzten Kapitel enthalten eine Geschichte und Charakteristik der an
der untern Donau vorherrschenden Krankheiten und Vorschläge zur Vermeidung der«
selben auf Reisen und Märschen. Nach Erscheinen des zweiten Bandes, der den
Schluß des Werkes bilden soll, werden wir ausführlicher aus dasselbe zurückkommen
Und das Eine oder das Andere daraus, mittheilen.
Die Naturanschauung und Naturphilosophie der Araber im zehn¬
en Jahrhundert. Aus den Schriften der lautern Brüder übersetzt von Dr.
Fr. Dieterici. Berlin, Verlag der Nicolaischen Sortimcntsbuchhandlung, 1861.
Ein sehr werthvoller Beitrag zur Geschichte der Philosophie wie der Wissenschaft
überhaupt. Die Philosophen, aus deren Schriften diese Mittheilungen genommen
^ut, erstanden in einer Zeit, melchc eine tiefe und breite Lücke in der Kulturgeschichte
^r Menschheit zeigt. Nachdem sich die Reste der alten Bildung zu den Syrern ge¬
züchtet, sehen wir sie unter den Arabern wieder lebendig werden, welche die Be-
^»hrer derselben für die damals noch ungeborne neue Zeit wurden. Die ganze
Anschauung dieser arabischen Weisen beruht, so weit sie sich auf die Natur richtet,
"uf Aristoteles, und dieses Ergebniß der Forschung ist um so wichtiger, als man
^hr wahrscheinlich in den Abhandlungen der lauter» Brüder die Ansichten des grie-
^'sehen Philosophen von der Mineralogie und der Botanik, die uns in der Reihe
°" Schriften desselben fehlen, vor sich hat.
Die Episteln dcsHoratius Flaccus. Lateinisch und deutsch mit Erläu¬
terungen von F, S, Feld danses, Leipzig und Heidelberg. C, F. Wintcrschc
Verlagshandlung. 1860. Die Uebersetzung soll leicht verständlich sein und da«!
Original in möglichst ungezwungner Weise so treu als möglich wiedergeben, und
so hat der Versasser seinen Dichter in Prosa übertragen. Wir halten das Opfer
des Verses in diesem Falle stir gerechtfertigt, da hier das Urtheil des Cervantes,
daß „Uebersetzungen der Rückseite gewirkter Tapeten gleichen" zutrifft. Die Einleitungen
und Anmerkungen zu den einzelnen Episteln enthalten alles, was die ältere und
neuere Forschung über den Gegenstand Bedeutendes zu Tage gefördert hat, obwol
da» Werk nicht eigentlich für Philologen, sondern für weitere Kreise bestimmt ist.
Der Pflanzen Staat oder Entwurf einer Entwicklungsgeschichte des Pflanzen¬
reichs. Eine allgemeine Botanik für Laien und Naturforscher von Karl Müller
von Halle. Leipzig. A. Förstnersche Buchhandlung. 1860.
Die Absicht des Verfassers geht nicht sowol darauf, eine erschöpfende Darstellung
der heutigen botanischen Wissenschaft zu geben, als darauf, dem Bedürfniß der Zeit
nach „Ideen zu einer empirischen Weltanschauung" zu entsprechen, die Verkettung
der Thatsachen der Wissenschaft mit allgemeinen Ideen zu fördern. Er bespricht
im ersten Theil, den er „die Gründung des Pflanzenstaates" nennt, die planetarische
Entwickelungsgeschichte der vegetabilischen Welt, den Ursprung der Pflanzen, das Ge¬
setz, nach dem sich dieselben bilden, die Stufenfolge ihrer Entfaltungen in den verschiedenen
Erdzeitaltern u. s. w. Weitere Abschnitte besprechen die Bildung einer zusammen¬
hängenden Pflanzendecke, die Heimat der verschiedenen Pflanzen und ihre Wanderungen,
die ursprünglichen und die späteren Schöpfungsheerdc, die untergegangenen Pflanzen-
formen und die Landschaften der verschiedenen Perioden, die wir als antediluvianischc
bezeichnen. Ein zweiter Theil behandelt dann die Gliederung des heutigen Pflanzcn-
staates in Urpflanzen, Algen, Flechten, Pilze, Leber- und Laubmoose, Farrenkräuter
u. s. w. Ein dritter endlich führt uns das Leben des Pflanzenreichs im Wechsel
des Jahres-, Monats- und Taglcbcns in großentheils sehr anmuthigen Bildern vor.
Die eingedruckten 206 Holzschnitte sind vortrefflich ausgeführt, die beigehefteten Ton¬
bilder! eine ideale Landschaft der Steinkohlenperiode, eine submarine Landschaft aus
der Nordsee und eine Winterlandschaft zur Versinnlichung der Schneefiguren aus
den Fichten, erhöhen den Werth des Buches wesentlich.
'
Notiz: Von Archenholz' siebenjähriger Krieg ist im Verlag der Haudc-
und Spenerschen Buchhandlung in Berlin eine neue Ausgabe in Lieferungen heraus¬
gekommen, die wir als wohlfeil und hübsch ausgestattet empfehlen.
Dichtungen von H. Heine. 2 Bde. — Berlin. Herbstmährchen in 2?
Capiteln. Von H. Heine. - Amsterdam, Brüger. — Das letzte Gedicht, sagt der
Herausgeber, Fr. Steinmann in Münster, in der Vorrede, „ist aus Heines
Brouillons zusammengestellt, geändert und ergänzt von anderer Hand." Er fordert
die Kritik auf, das Unechte vom Echten zu sondern. — Von den andern Gedichte"
behauptet er gleichfalls, es seien Bronillons, welche der verstorbene Dichter an stiw^
Freunde verschenkt habe. —"Aus äußern Gründe» hat der Bruder Heines in W""
der sich im Besitz des Nachlasses befindet, gegen die Echtheit dieser Papiere protestirt',
"us innern Gründen treten wir diesem Urtheil bei. — Sollte wirklich -— was wir
>naht glauben — eine oder die andere Zeile von Heine herrühren, so ist es nicht
der Mühe werth, sie aufzusuclien; wie leicht Heines Manier — d, h, die Art, wie '
er sich räuspert und wie er spukt — nachzuahmen ist, weiß Jeder, der einmal in
seinen Pnmanerjahrcn wcltschmerzliche Gedichte mit possenhaftem Schluß gemacht hat.
— Das Ganze ist wol nur ein schlechter Witz, darauf berechnet, Jnvectivcn gegen
Lebende unter der Firma eines Verstorbenen ans Licht zu bringen. — In einem
Hamburger Blatt lesen wir, baß Heine in seinem Testament dem kürzlich verstorbenen
5>r. Christiani in Lüneburg die Herausgabe seiner gesammelten Werke übertragen
hat. —
Moritz Heu brich: Tiberius Gracchus / geschichtliches Trauerspiel. — Prinz
Lieschen, Posse. — (Dresden, Kuntze). Wir haben diese beiden Dramen des talent¬
vollen Dichters schon bei Gelegenheit ihrer Aufführung in Leipzig ausführlich be¬
sprochen. Das erste zeigt eine nicht unbedeutende Einsicht in .das, was im Drama
wesentlich ist. —
Franz Frl>. von Andlaw: Die Frauen in der Geschichte. Ein historischer
Versuch. — 2 Bde. Mainz, Kupferberg. --- Der Verfasser hat diese Notizen zunächst
sur sich selbst zusammengestellt, und dann auf den Rath einzelner Freundinnen Haupt-
Schlich fiir Frauen veröffentlicht. — Es sind kurze Biographien berühmter Frauen,
Fürstinnen, Künstlerinnen u. s. w., ansprechend dargestellt, vom gemäßigt katholischen
Standpunkt. —
K. F. Beckers Weltgeschichte. Achte, neu bearbeitete und bis auf die Ge-
Knnvart fortgeführte Ausgabe. Herausgegeben von Professor Adolf Schmidt. —
^rum, Duncker und Humboldt. — Das Werk hat bereits eine ausgedehnte Ge¬
schichte. — Als Becker 180ti starb, hatte er es bis zum neunten Band fortgeführt
Und die vier ersten Bände bereits in zweiter Ausgabe überarbeitet. Woll manu
fügte den zehnten Band hinzu, die Geschichte des l8. Jahrhunderts bis zur franzö¬
sischen Revolution, und leitete die zweite, dritte und vierte Ausgabe. Die drei
^'lgcuden Ausgaben redigirte Professor Löbell in Bonn, unterstützt von seinem
»"»ut v. Raumer. Eine selbständige Fortsetzung Band 12—1» (die Zeit von
französischen Revolution, bis 1837), lieferte schon von der 4. Ausgabe an Con-
s'stvrialrath Menzel, der auch den frühern 10. Band in 2 Bände (10. und 11.)
Durcharbeitete. Für die 8.'Ausgabe übernahm Professor Duncker in Halle-die
^ordenung das Mittelalter und des siebzehnten Jahrhunderts. Die Periode von
^4^-1848 wurde von Eduard Amt in einem 15. Bd. hinzugefügt. —- Die
^°ne Ausgabe ist auf 18 Bde. berechnet; das Alterthum (Bd. 1—4) von Professor
^."se. Hertzberg; das Mittelalter (Bd. !> —8) von Professor Nase manu in
^lie; die neuere Geschichte (Bd. 9—13) von Professor Ad. Schmidt in Jena,
i"a>ich die vorhergehenden Bünde überwacht; die neueste Geschichte seit 1789
^, wird von Ed. Amt selbständig bearbeitet. —Bis jetzt sind erschienen
1- und der l4. Band, um dem Publieum von den verschiedenen Redactionen
eine Probe zu geben. — Dies find die äußern Verhältnisse; sehen wir uns nun
die innern Wandlungen an. Wir beschränken uns auf die beiden Bände, die uns
vorliegen. — Die alte Geschichte hat seit dem halben Jahrhundert, welches nach dem
ersten Erscheinen dieses Werks verflossen ist, einen ganz außerordentlichen Aufschwung
genommen. Durch nähere Kenntniß der Localität, durch Ausgrabung zahlreicher
Monumente haben die todten Namen und Zahlen unseres früheren Wissens wenig¬
stens his zu einer gewissen Grenze Farbe und Leben gewonnen. Die vergleichende
Sprachwissenschaft hat uns von der Verwandtschaft der Völker und ihren Wand¬
lungen eine Ahnung gegeben. Die erweiterte Naturkunde hat uns von vielen Vor-
urtheilen befreit, und selbst die Philosophie der Geschichte, obgleich sie auch zu
manchen Irrungen Veranlassung gegeben, hat unsern Blick für die Individualität
der Völker und der Culturperiodcn geschärft. Becker hatte diesen Theil der Geschichte
ganz eigentlich für Kinder geschrieben, er hatte in sehr anmuthiger Naivetät
Sagen, Mährchen und wirkliche Begebenheiten durch einander gemischt; von einer
Benutzung kritischer Forschungen war bei ihm keine Rede. Der neue Herausgeber
dagegen hat versucht sich auf die Höhe der Wissenschaft zu stellen, wobei ihm Dun-
ckers Geschichte des Alterthums ein sehr zweckmäßiges Hilfsmittel gewesen ist. Ueber-
haupt hat Duukers Werk noch immer nicht soviel Anerkennung gefunden als es
verdient. Wenn man erwägt, wie sehr die Einzelforschungcn sich verzettelt haben,
so wird man das Talent und die Umsicht Dunckers nicht hoch genng schätzen können,
aus diesem Wust ein anschauliches Gemälde für das gebildete Publicum zusammen»
gestellt zu haben. — Der jüngere Bearbeiter hat sich sein Werk dadurch erschwert,
daß er neben seinen gelehrten undHzum^Theil philosophischen Ercurscn auch die ursprünglich
naive Darstellung Beckers beibehalten hat. Freilich war es nicht ganz zu umgehn,
wenn man den ursprünglichen Charakter des Werks nicht ganz und gar aufgeben
wollte, und wenn die verschiedenen Elemente nicht ganz miteinander versöhnt si»d,
so ist doch mit vielem Geschick von einem zum andern der Uebergang gefunden-
Für die große Masse des Publicums ist das Buch eine sehr nützliche Lectüre, und
der Werth desselben wird dadurch nicht beeinträchtigt, daß es zugleich unterhaltend
ist. — Eine andere Schwierigkeit hatte der Herausgeber der neueren Geschichte z»
überwinden. Menzels Auffassung war im hohen Grade conservativ und gehörte einer
politischen Richtung an, deren weitere Verbreitung im Volt man nicht wünschen
konnte. Hier war es nöthig von der älteren Bearbeitung ganz abzusehn, und
ist denn der 14. Band über die französische Revolution eine völlig selbständige Ar¬
beit, die der Richtung des gemäßigten Liberalismus angehört. Mitunter hätten w>r
die Darstellung etwas knapper und lebendiger gewünscht, sie ist aber verständig u»d
sachgemäß. — Indem wir dem Werk, das schon so viel Gutes gestiftet hat, el»c
Fortdauer bis zur Säcularfeier wünschen, behalten wir uns vor auf die weiteren
Lieferungen gelegentlich zurückzukommen. —
Der Verfasser sagt: Wenn Venetien dem neuitalienischen Reiche einverleibt
wird, so werden die Franzosen in Venedig eine mächtige Flotte stationiren und
ihre Arsenale für dieselbe anlegen; sie werden sich (man merke, die Franzosen)
Dalmatien und Jllyrien einverleiben und militärisch gegen den Orient ope-
riren!
Wir überlassen es dem Politiker, den Satz des Verfassers zu widerlegen,
daß Italien der ewige Verbündete und dienstbare Vasall Frankreichs sein wird.
Bis jetzt ist es aber doch eine unerhörte Voraussetzung, daß eine Macht aus
dem Gebiet einer andern, wenn auch noch so kleinen, noch so unterwürfigen,
oder strategisch noch wichtigern, ihre dauernden Kriegsdepots und Werkstätten
anlegt. Hat jemals Rußland in Kiel oder im Piräus, England in Lissabon,
Oestreich in Ancona oder Catania Arsenale gegründet, ja nur den Anflug-eines
solchen Gedankens gehabt?
Die maritime Bedeutung Venedigs spielt überhaupt eine hervorragende
Rolle in dem Buche. Von Venedig aus soll unter Umständen die französisch-
italienische Flotte den östlichen Theil des Mittelmeers beherrschen und England
daraus verdrängen. England soll dadurch genöthigt werden, seine Seemacht
5« theilen und sich zu schwächen. Daß der Verfasser hierbei die Bedeutung
Korfus. namentlich in seiner nahen Verbindung mit Malta, nicht würdigt, ist
Sache der Ansicht. Entschieden fehlerhaft aber ist. daß er vergißt, zu bemer¬
kn, wie auch Frankreich seine Seemacht theilen muß, wenn es einen bedeu¬
tenden Theil in den Sack des adriatischen Meeres steckt.
Dabei rechnet die Schrift mit ungeheuren Zahlen. Die nächsten Jahre
Gingen uns Flotten von 60 Schraubenlinienschiffen für Frankreich, Von 30
sür Italien, von 30 für Spanien, von 10 für Oestreich, und England wird
deren alsdann 120 halten müssen. Woher diese Schiffe kommen, woher
ihre Bemannung, woher das Geld, und wozu sie endlich da sind, wenn nicht
um den gründlichen Bankerot aller jener Staaten herbeizuführen, oder zu be¬
schleunigen, darüber vernehmen wir wenig.
Die Kriege des letzten Jahrzehnts zu Land und zu Wasser sollten aber
doch lehren, daß die marktschreierisch anschwellenden Papierheere und Papier-
flotten einer bedeutenden Ermäßigung bedürfen, wo es den Ernst des Krieges
gilt. Wer an der Hand der Erfahrung und mit Würdigung der wirtlichen
Verhältnisse die Möglichkeiten erwägt, wird die zur kriegerischen Operation
verwendbaren Heere eines gesunden Staates auf allerhöchstens 1 Procent und
die Flotten nnr so hoch annehme» dürfen, daß die Hälfte der Mannschaft
der Handelsflotte dazu ausreicht. Was darüber, ist vom Uebel im Frieden,
weil es das Mark des Landes frißt, und unerschwinglich im Kriege, wo der
Ueberschuß höchstens zur Füllung der Lücken dient.
Die Bedeutung Venedigs und Triests für den orientalischen Handel sollte
Niemand in Abrede stellen. Ob aber je ein Welthandel in jenen Gegenden
sich wieder entwickeln kann, auch nach der Durchstechung der Landenge von
Suez, scheint uns nundestens sehr fraglich. Jedenfalls aber dünkt uns ein
freies Venedig für Deutschlands Handelsinteressen Wünschenswerther, als das
unter stetem Belagerungszustände befindliche. Wir fragen, was der Zustand
der deutschen Rheinlande sein würde, wenn Holland und Belgien östreichische Sn-
trapien wären?
Das Hauptargument des Verfassers indeß für die Wichtigkeit der strate¬
gischen Position ist die«: daß die zu vertheidigende Linie nur 7 oder 3'/-
Meilen lang, daß sie eine doppelte, und daß sie durch die Kunst, d. h-
die vier Festungen, noch erheblich verstärkt sei. Wir wollen die Stärke
der Festungen an sich nicht bestreiten und es einem Blicke auf die Karte über¬
lassen, zu zeigen, daß die Etsch dem Mincio etwa parallel fließt; wir wollen
hinzufügen, daß der Mincio auf der 3^2 Meilen langen Strecke leicht, die Etsch
fast überall schwer zu Passiren ist. Dagegen müssen wir sehr bestimmt in Ab¬
rede stellen, daß die Vcrtheidigungslinie überall nur 3'/, oder 7 Meilen, d. h-
die Länge von Peschiera bis zu den Sümpfen von Mantua, resp, zum Po,
betrage.
Wir müssen ferner ausdrücklich bemerken, daß es darauf ankommt, den
Werth der strategischen Position Venetiens für einen allgemeinen Krieg zu er¬
wägen: so thut auch der Versasser, so seine Meinungsgenossen in der Presse
überhaupt. Denn gegen Italien allein, das gibt jeder zu, bedarf Oestreich
keiner so gewaltigen Vertheidigungsmittel; gegen Frankrejch und Italien aber
ist Oestreich entweder in seinen Erbländer durch die deutsche Neutralitätsgrenze
höchst bequem und sicher gedeckt und die Bedeutung Venedigs zur Schützung
Wiens ist null, da letzteres gar nicht bedroht ist; oder aber die deutsche Grenze
wird vom Feinde nicht respectirt. Der letzte Fall ist der in Betracht kom¬
mende.
Hier ist nun die zu vertheidigende Linie (die Neutralität der Schweiz,
also den günstigen Fall angenommen) nicht 3'/,, nicht 7, sondern von der
Pomündung bis zum Stilfser Joch ziemlich genau 42 deutsche Meilen lang.
Wir gestehen, daß einige Meilen dieser Grcnzentwicklung durch die Natur voll¬
kommen gesichert sind — etwa so wie die Strecke zwischen Bingen und Cob-
lenz gegen einen feindlichen Rheinübergang und wie noch viel längere Stre¬
cken der Alpenvertheidigungslinie Oestreichs,
Der Uebergang über den unteren Po ist allerdings an sich nicht so leicht,
als der über den Mincio — aber auch nicht schwerer, als der über den un¬
tern Rhein oder die untere Eibe und Weichsel — welche Uebergänge keines¬
wegs zu den größten Kunststücken der Taktik und Strategie gezählt werden.
Der Uebergang auf der Bergstrecke vom Bormio bis zum Gardasee da¬
gegen bietet mehrere gute Straßen, das Stilfser Joch, den Tonale und die
Straße, welche am Jdreo See in die Giudicaria. auf Trient und Roveredo
fuhrt. Jedenfalls mußte der Verfasser nach seiner Behauptung, daß der Weg
vom Jsonzo bis Wien, der mehrmals über die Alpen führt, gar nicht zu
vertheidigen ist, zugeben, daß das Eindringen in Tirol von jener Seite her
keine unüberwindlichen Schwierigkeiten hat. Wir halten es nun freilich noch
Mit mancherlei Bedenklichkeiten verknüpft, falls Oestreich sich mannhaft wider¬
setzt: wir halten es aber zugleich im ABC der Kriegskunst begründet, daß ein
feindlicher Feldherr eher über den Po und diese Alpenpässe vordringen, als mit
dem Kopfe gegen die Festungen rennen wird.
Es ist wol nicht nöthig, zu bemerken, daß bei jedem Defensiv-, geschweige
Festungskrieg der Feind als übermächtig, durch vorhergehenden Sieg oder
Z"si, vorausgesetzt wird und daß die von Westen kommende Heeresmacht also
einigermaßen frei sich bewegen kann. Der Werth der Festungen liegt darin,
daß eine geringe Macht einer großen die Wage hallen kann. Hat Oestreich
'n dem Viereck 200000 Mann und der Feind 200000 davor; so ist die Stärke
der Festungen und Positionen nur eine untergeordnete Frage: dann sucht
wan sich im offenen Felde auf. und Schutzlinien zweiten und dritten Grades
bieten dieselben Vortheile, wie der ganze Apparat des Viereckes.
Man hat sich daran gewöhnt, Tirol und den Kirchenstaat als neutrales
Gebiet zu denken, so daß man bat auf keinen feindlichen Hauptstoß rechnet.
In der italienischen Festrmg Bologna oder Bresccllo wird in Zukunft ein
Vrlickentrain stehen, und die Gefahr eines Einbruches des Feindes von Süden
h^'. im Rücken der Festungen, wie die eines directen feindlichen Marsches auf
^olM oder Trient zu gewärtigen sein. Jener Angriff würde größere Massen
erfordern; der Einfall in das südliche Tirol von der Lombardei aus dagegen
wäre mit kleineren Corps auszuführen, während die Hauptmasse des Feindes
vor der Minciolinic sich aufstellen und die östreichische Macht innerhalb des
Vierecks binden könnte.
Seitdem Lombardei und Kirchenstaat piemontesisches Gebiet sind, laufen
die Verbindungslinien des Vierecks mit dem Schwerpunkt Oestreichs durch Tirol
und übev Vicenza, der feindlichen Grenze ziemlich nahe und parallel. Sie sind
in weit höherem Grade als je zuvor exponirt. Der Gegner kann schon im
Voraus Mittel anhäufen und vorbereiten, zu ihnen zu gelangen. Die nördliche,
tiroler Communication ist leichter, die andere über Vicenza anf Udine schwerer zu
benutzen, aber weil sie die Hauptcommunication ist. mit entscheidenden Erfolge.
Wie hätte sich z, B. der Krieg von 1859 gestaltet, wenn bei seinem Fort-
gange der Prinz Napoleon, statt oberhalb Mantun, den Po bei Ferrara über¬
schreiten und Garibaldi u. a. Parteigänger ans Trient herabsteigen gekonnt?
Die Minciolinic ist nicht blos zu tourniren, sie ist sogar verhältnißmäßig
leicht zu tourniren. Denn die Werke sind zu sehr gehäuft. erfordern also zu
viel Besatzung und lassen zu wenig Feldtruppen für die Vertheidigung anderer
Stellen übng. Angenommen, es stehen 200,000 Mann in der Lombardei,
und 160,000 in Venetien und Südtirol — wir setzen absichtlich nur eine ge¬
ringe Differenz — so wird der Feind mit 100,000 M. vor dem Mincio stehen
bleiben und sich feldmäßig verschanzen; dann sind auch etwa 80,000 in den
4 Festungen und in Venedig gefesselt, während 100.000 M. des Feindes auf
dem rechten oder linken Flügel eine Umgehung ausführen und, wo immer sie
die Oestreichs treffen, sie in der Minderzahl finden. Denn wollten die Oestreicher
die Festungen noch mehr entblößen, so würde der Feind in das Viereck eindringe»
und Peschiera und Mantua mit unzureichenden Besatzungen abschneiden und
einschließen.
Das östreichische Heer aber mühte links und rechts Corps gleichzeitig de-
tachiren, während der Gegner, durch die Aufstellung seines Corps vor dem
Mincio maskirt. beliebig an den Po oder in die Alpen eine compacte Mal>e
werfen kann.
Ein an Zahl noch stärkerer Feind würde noch freier und übermächtiger
auf die Communicationen fallen können.
Den Einwand. daß das Viereck seine Bedeutung darin habe, einer öst¬
reichischen schwächeren Armee Schutz zu geben, bis sie sich durch Zuzüge ver¬
stärkt habe und zur Aufnahme der Offensive fähig sei, können wir allerdings
bis zu einem gewissen Grade gelten lassen. Aber- wir müssen wiederholt ver¬
neinen, daß es dazu des furchtbaren Festungsapparats bedarf, und betonen, daß
die Minciolinie für Offensivbewegungen (wie auch die Schrift angibt) eine
ungeeignete Basis bietet. Vor Allem aber behaupten wir,, daß bei der Leicht>g°
seit der Flankirung ein unternehmender Feind die Zeit, wo Zuzüge aus dem
Innern des Kaiserstaats eintreffen, nicht abwarten, sondern ohne Zögern seine
Ueberlegenheit benutzen wird.
Die Position bietet auf alle Fälle einem nur einigermaßen fähigen Geg¬
ner genug Schwächen, um die gepriesene Dreimeilenlinie illusorisch zu machen.
Man wird uns erwidern, daß man auch Fcrrcira gegenüber eine Festung
anlegen oder Botzen, Trient u. s. w. befestigen werde. Freilich, man kann
das ganze Land befestigen. Mit zu vielen Festungen aber ist auch nicht ge¬
dient — sie zersplittern die Kräfte und fordern zu einem kühnen Durchbrüche
auf, weil nirgend eine compacte Macht, die der Feind zu fürchten hat. ver¬
eint bleibt.
Endlich haben wir noch ein Wort zu sagen gegen die Meinung, daß
Oestreich ohne Venedig wehrlos sei. Wir wollen zunächst Act nehmen, daß
der Verfasser, bald nachdem er den Weg nach Wien als offen erklärt hat.
das Kriegführen in den Alpen für eine heitlige Sache ansieht. Wir sind in
der That der Ansicht, daß die Linie Triest, Vliland. Botzen. Finstermünz, im
Vergleich mit vielen, ja den meisten Vertheidigungslinien anderer Staaten eine
sel'r günstige ist. und daß sie Vorzüge bietet, welche die Minciolinie nicht hat.
Sie ist einmal kaum länger als die venetianische Vcrtheidigungslinie. indem
sie 42. jene 45—50 Meilen Ausdehnung hat; dann ist sie zu einer Aufstellung
^eignet, von der aus kräftige Offensivbewegungen nach Süd und West möglich
sind. Fürer ist sie den Hilfsquellen des Landes näher und nicht in den Conr-
municationen. auf deuen Zuzüge und Zufuhren sich bewegen, bedroht. End-
kann ein auf ihr stehendes Heer sich rascher mit einer Donauarmee zur
Operation nach Baiern hin vereinigen. Die östreichische Kriegsgeschichte be¬
frist, daß der Kaiserstaat mehrmals unterlag, weil die nach Italien zu weit
vorgeschobenen und verzettelten Kräfte nicht rechtzeitig die Donau erreichen
konnten. Was die Offensivstärke dieser zweiten oder snbalpinischen Linie (wenn
sie so nennen dürfen, obgleich sie großentheils schon hinter einer Alpen-
^etc. aber doch vor dem Hauptstocke liegt) betrifft, so sei zunächst wiederholt,
daß die Minciolinie leine große Offensivkraft hat.
Es ist aber — und dies sei l'csonders hier betont — eine große Schwäche
einer Defensivstellung. wenn sie nicht auch kräftige Ossensivstöße und günstige
Diversionen erleichtert. Diese Schwäche der Minciolinic beruht darauf, daß
ihr derartige Gegenbewegungen nur in> einer Richtung, senkrecht an dem
Mincio uach West, zu bewerkstelligen sind. Das Beispiel des Jahres 1848
beweist hiergegen nichts, da Radetzt'i großentheils wenig geübte und schlecht
führte Truppen gegen sich hatte: gegen solche ist jede Stellung gut.
Die zweite L,nic dagegen bietet Debouches am Zsonzo. bei Tarvis. Feltre
durch Tirol, sowol gegen Verona als über die obgennnnten Pässe in die
Lombardei. Ein franco-italisches Heer in der letzteren kann mit Gemüthlich¬
keit einem schwächeren östreichischen Heer im Viereck sich gegenüber ausstellen;
in Venetien ist es, selbst wenn es die Ueberzahl sür sich hat, von Flanken¬
angriffen und Diversionen im Rücken bedroht, in unsichrer Lage.
Der Verfasser meint, daß mit dem Verlust der Minciolinic der Weg nach
Wien offen stehe. Allerdings — wenn das Viereck mit seinen Vorrüthen ge¬
nommen, wenn Oestreich seine Hauptanstrengungen zur Erhaltung Mantnas
und Veronas daran gesetzt, wenn seine Heere sich vergebens dabei verblutet
haben — dann wird Oestreich voraussichtlich keine hinreichenden Mittel mehr
haben, sich weiter energisch zu vertheidigen, wenn auch noch ein zweites Viereck
aus dem Wege nach Wien läge. Deshalb aber ist es ein Capitalfehler, die
Hauptdefensivstcllung so weit vorgeschoben zu haben.
Hat sich aber Oestreich in einem solchen Kampfe nicht erschöpft, so bietet
ihm nicht nur die erwähnte Linie eine treffliche Defensivstellung; sondern selbst
nach ihrer Forcinmg durch den Feind sind auf dem Wege nach Wien noch
zweimal die Alpen und zwei Flußlinicn, Dran und Mur zu Passiren. Auf diesen
Punkten ist der Widerstand unter günstigen Aspectcn aufzunehmen. Wien ist
gegen Italien durch die Natur stärker vertheidigt, auch ohne Etsch und Mincio
als etwa Berlin gegen Frankreich.
Nur wenn Oestreich nicht will, kann dieser Schutz seinen Werth verlieren.
Wir wollen noch die Bedeutung erörtern, welche eine einigermaßen zahl¬
reiche feindliche Flotte am Ende des adriatischen Meeres auf die Defensiv-
stellung Oestreichs üben muß.
Eine Landung in Venetien ist nach der Beschaffenheit der Ufer allerdings
schwierig, aber keineswegs unmöglich. Die Anwesenheit einer solchen Flotte
bindet bedeutende östreichische Kräfte um der Küste, vor Allem in der Stadt
Venedig; sie ist namentlich immer bereit, den Uebergang des Feindes über
den unteren Po zu unterstützen oder durch Streifereien vereinzelter Corps die
Arriöres der Mincioarmee zu beunruhigen.
Außerdem bedroht die Anwesenheit einer feindlichen Flotte mit Landungs¬
truppen das ganze östreichische Littorale und nöthigt Oestreich überall Küste»'
wachen und hier und da stärkere Corps zu detachiren. Es scheint sott^
fraglich, ob der lange dalmatinische Küstenstrich überall, mit Ausnahme einigt
fester Punkte, dagegen zu halten ist. Um Trieft und Fiume müßte aber jeden¬
falls ein bedeutender Truppenkörper zur Abwehr einer Landung bereit >e>n,
welcher der Operationsarmee am Mincio abginge.
Gelänge nun aber dem Feinde eine Landung, sei es, bei Venedig, sei ^
bei Trieft oder Finne, in größerem Maßstabe; setzte ersieh fest, und verstärkte
er sich von seiner nächsten Basis Ancona aus in raschen Folgen, so wäre det
Mincioarmee sehr wesentlich in ihrer Rückzugsiinie bedroht und vicllci)
ohne Entscheidungskampf zum Rückzug und zum Aufgeben der Festungen mit
ihrem Kriegsmaterial gezwungen.
Ware dagegen die östreichische Armee auf der zweiten Linie aufgestellt,
und Venedig Feindesland, so würde die Sache wesentlich günstiger stehen. Oest¬
reich wäre hier von vorn herein angewiesen, seine Kräfte so zu disponiren.
daß sie unmittelbar od-r rasch die Küstenvertheidigung vom Jsonzv bis Fiume
übernehmen könnten. Wollte der Feind seine Hauptanstrengung auf eine
Landung richten, so würde auch Oestreich seine Hauptmacht dahin werfen
können, ohne in die Gefahr zu kommen, den Rücken preiszugeben oder weit¬
vorliegende kostbare Stapelpläke für den Krieg zu verlieren.
Nach dem Vorstehenden glauben wir sagen zu können, daß eine franco-
italische Armee und Flotte Oestreich aus der Mincioposition einfach hinaus-
manövriren können. Bei der zweiten Linie ist ihnen dies unmöglich. Sie
werden es noch weniger können, wenn ein oder der andere Punkt derselben
nur mäßig dauernd befestigt wird.
Es ist vielleicht nicht überflüssig zu wiederholen, daß diese subalpinische
Linie ihren Werth theilweise oder ganz verliert, wenn Oestreich um die Miucio-
Unie schon einen verlustvollen Entscheidungskampf gekümpft hat. Alsdann
werden geschwächte und demoralrsirte Truppen in sie als Rückzugsposition ein¬
rücken, welche voraussichtlich an sich zu wenig zahlreich zur Vertheidigung sind
""d denen Oestreich altes Nöthige zuzuführen nicht mehr die Mittel hat.
Diese Bemerkungen mögen genügen, auf die Schwäche des Raisonne-
wents hinzuweisen, daß Deutschland und Oestreich die Minciolinie unter allen Um¬
stünden um ihrer militärischen Stärke und Unentbehrlichkeit willen halten müssen..
Die politische Lage mag gute oder schlechte Gründe zu der Meinung
bieten. Venetien müsse östreichisch sein und bleiben — militärische Gründe
tuot es nicht, welche Deutschlands Sicherheit im Süden unbedingt von diesem
Achse abhängig machen. Einem schwachen Feinde gegenüber ist das Viereck
überflüssig, einem überlegenen gegenüber unzulänglich.
a.in der Verkennung dieses Umstandes. liegt für Oestreich die Gefahr,
bei einem späteren Kampfe der Fehler begangen wird, um die Erhaltung
Minciolinie, in ungünstiger Ferne von seinem Mittelpunkt. Alles aufs
^p"l zu setzen und die großen strategischen Vortheile aller näherliegenden
Linien zu vernachlässigen oder zu verlieren: d. h. den Weg nach Wien zu
bffnen. >
Unter den Gegenständen, welche grade jetzt die
öffentliche Theilnahme ganz Englands in Anspruch nehmen, stehen zwei allen
andern so sehr voran, daß wir nicht zu viel sagen werden, wenn wir behaup-
ten. es gibt keinen einzigen Bewohner des mächtigen Jnselreiches, dessen gespann¬
teste Aufmerksamkeit sich nicht auf sie richtete. Vom Premier bis zum letzten
Schreiber, vom höchsten Lord bis zum Tagelöhner, vom Börsenkönig bis zum
Straßenkehrer ist Alles erfüllt von zwei neuen Erscheinungen im Gebiete des
staatlichen Lebens: von dem ersten, ganz aus Eisen erbauten großen Kriegs¬
schiffe, dem Warrior, der glücklich vom Stapel gelaufen, und von den Frei-
wUligencorps. Fast täglich füllen die Times lange Seiten mit Betrachtungen
und Mittheilungen über diese beiden Erscheinungen. Kein Wunder, wenn es
so ist, da ihre unermeßliche Wichtigkeit schon der oberflächlichsten Betrach¬
tung sich aufdrängt. Die eisernen Schiffe bedeuten, daß England auch ferner die
erste Seemacht der Welt sein wird. Die Freiwilligencorps bedeuten seine
Sicherheit gegen eine Invasion. Wir wissen, welches Aufsehn es in England
machte, als das erste eisengcpcmzerte Schiff, la Gloire den Hafen von Toulon
verließ und über seine Brauchbarkeit, die bezweifelt worden war, günstige
Berichte einliefen. Man hatte behauptet, die Platten des Panzers würden
den ungeheuer verbesserten Geschützen doch nicht widerstehen, das Holz hinter
dem Eisen würde bald faulen. Daran zweifelte Niemand, daß ganz eiserne
Schiffe den Zweck, dem man nachging, selbst gegen die furchtbare neue Artillerie
geschützte Fahrzeuge zu haben, noch besser erfüllen würden. Aber wer sollte
es wagen, große Kriegsschiffe mit Dampf und Schraube — denn das muß'
ten sie sein — ganz aus Eisen zu bauen? Selbst die Regierung Englands
versuchte es nicht, aber eine Gesellschaft, die Themseschiffbaugesellschaft
es gewagt, und das große Problem ist gelöst. Der Warrior schwimmt bereit
in seinem Elemente, wie es scheint, nach einem veränderten Prinzipe für Trag'
kraft und Schnelligkeit glücklich vollendet. Er faßt 1500 Tonnen mehr als
das größte Schiff der Welt mit Ausnahme des Great Eastern, und er wird
seine untere Reihe Schießlöcher etwa 3 Fuß höher über dem Wasser habe"
als die Gloire und sie zugleich weithin an Schnelligkeit überholen. Es han-
delt sich hier also nur noch um etwas, worin England allen anderen Staate»
noch auf lange hin überlegen sein wird, um Geld, um Arbeitskraft un
Eisen. Es wird jetzt nur darauf ankommen, wer am schnellsten eine Eiscnslot^
herstellen kann, und wer ist zweifelhaft darüber, ob ein eisernes Schiff neur
kostet als ein hölzernes? wer in Zweifel, daß England an Geldkraft selbst
Frankreich überbietet?
Wie dem aber auch sei, und wie beruhigend für England auch in dieser
Beziehung die Aussichten in die Zukunft sein mögen, so ist damit die durch
Dampf und Schraube so sehr gesteigerte Leichtigkeit, schnell eine bedeutende
Macht an irgend eine nahe Küste zu werfen nicht beseitigt und also bei der
unbestrittenen Überlegenheit der regulären großen Armeen des Festlandes die
Gefahr einer Invasion keineswegs abgewendet. Es ist dies vielmehr erst
dann der Fall, wenn auch eine englische Landmacht da ist, welche hof¬
fen läßt, den Feind, der eine Landung gewagt, sein Unternehmen büßen zu
lassen. Dazu war bei der bisherigen Organisation der englischen Streit-
rrnfle kaum eine Hoffnung vorhanden. Dem Mangel aber und der mög¬
lichen Gefahr durch eine festländischen Muster nachgebildete Einrichtung
zu begegnen, hätte englischen Freiheitsbegriffen in höhern und niedern Regio¬
nen, bei Torys eben so gut wie bei Whigs und Radikalen, so sehr wider¬
sprochen, daß etwas der Art der Regierung auch zur Zeit der größten Besorgniß
Mehl in den Sinn gekommen zu sein scheint. Aber das ist der Sieg einer
Verfassung wie die englische, daß sie in dem ganzen.Volke eine tüchtige Ge¬
sinnung verbreitet, eine Liebe zum Vaterlande und seinen Einrichtungen wach¬
sen läßt, welche aus freier Entschließung und in freien Opfern zur Zeit einer
drohenden Gefahr leicht und unerwartet die Mittel finden läßt ihr zu begeg¬
nen. So ist es schon einmal un Anfange des Jahrhunderts, ,n der Zeit des
"sten Napoleon, durch ein vortrefflich geordnetes MUrzsystem geschehen. So sehen
Um es jetzt wieder in der FreiwiUigenbewegung, die seit Kurzem eine Macht
von nahe an 200,000 Mann solcher Kräfte geschaffen, von denen Männer
wie Lord Clyde und Lord Scarlet, also höchste Autoritäten des Faches, ge¬
eilt, daß sie Freiwilligencorps gesehn, welche mit noch etwas mehr Uebung
»NviM Mirko «.ämiradle! tiooxij/ mit denen unter kenntnißreicher Führung
»"e monta M 011 -lämirM?.« Und von solchen Truppen würde das ein¬
ige Lancashire ein ganzes Armeecorps stellen! Es gibt Herrn vom Fach,
^lebe hiezu etwas ungläubig und vornehm lächeln werden; aber, ihre Ansicht
und ihr Ansehn in Ehren, wird es doch gestattet sein, zu glauben, daß sie.
Auch Art der Männer vom Fach das eine Element, das wir das freiwillige
nennen möchten, und welches überall im Kriege, so weit es die Trupps' selbst
""geht, den Erfolg gibt, stets geneigt sind zu gering anzuschlagen, während sich doch
^>ehe nachweisen' ließe, daß die Eigenschaft, welche eine Truppe erst zur Truppe
wacht, die Disciplin, eben ihrer Hauptsache nach jenes freiwillige Element zur
Unterlage hat. Es wäre wol überall unmöglich, den unbedingten Gehorsam.
Worindoch am Ende die Disciplin zur Erscheinung kommt, in irgend einer
Truppe aufrecht zu erhalten, wenn nicht selbst bei Söldlingsheeren in ihrer
Ueberzeugung die Pflicht des Gehorsams obenan stünde, weil ohne ihn die
Truppe eine gefährliche Bande, aber keine gute Armee wäre. Dies aber wollen
sie alle sei», das ist ihre Ehre, tue Ehre des Standes, eine Anschauung,
welche ja sogar in den vernachkässigtsten moralischen Regionen Thaten erzeugt,
die man auf anderm Boden erwachsen Heroismus nennen würde. Ruht also
die Disciplin überall wesentlich auf einem Grunde der Freiwilligkeit, also auf
einem moralischen, so dürsen wir mol mit Recht annehmen, daß, wo diese
Freiwilligkeit der Grund des Bestehens überhaupt ist, die Disciplin auch die
festeste Unterlaae findet. Wir werden, wenn wir das zugeben, auch aufhören
uns zu wundern, daß grade ans Freiwilligen in verhältnißmäßig kurzer Zeit
die beste Truppe zu bilden ist, mil der man „bewunderungswürdig fortkom¬
men würde", wie sich General Scarlet ausdrückt, und darauf, auf oas Fort-
und Vorwärtskommen ist doch allein zu rechnen.
Wir erwähnen dies hier nicht, um englische Zustände zu betrachten, son¬
dern um einer unmittelbaren Nutzanwendung willen für uns. Wie in der
Geschichte vor uns so in den Zuständen neben uns sollen wir uns vor allen
Dingen spiegeln und. sehen was davon etwa für uns zu lernen und zu brau¬
chen. Dessen aber möchte hier mancherlei sein, und daß es höchste Interessen
sind, die hier in Betracht kommen, bedarf wol nur des Hinweises auf die
Gegenstände der Besprechung. Bei' uns so wie dort handelt es sich um er¬
höhte Macht, erhöhte Sicherheit des Ganzen nach Außen, erhöhte Freiheit
nach Innen.
Was wir zunächst aus der Angelegenheit des Warrior und der Gloire
entnehmen, ist. daß mol die letzte Stunde der hölzernen Kriegsschiffe geschlagen
hat. Es wrrd statt der „vooäöir walls" sich künftig um „iron palis" handeln-
Für uns aber ergibt sich daraus als nächste Anforderung die. unsere ganze
Marinethätigkcit unverweilt auf diese neue Bahn zu werfen, sofort Leute vom
Fach nach England zu schicken, um mit Herrn Jones und der Themseschiffbange¬
sellschaft auf so und so viel Schiffe von diesen oder jenen Dimensionen ab¬
zuschließen. Der Bortheil des sichern Materials, das Lvsgebundensein von
der so beschränkenden Anforderung alten guten Kerneichenholzes ist für das
schnelle Vorgehn in neuen Eonstructioue» nicht hoch genug anzuschlagen-
Man läuft nicht wie früher Gefahr, von grünem Holz Schiffe für den WurM
zu bauen, und ist eine künftige Flotte auch für u»s nur noch mehr eine Geld'
als eine Zeitfrage, so stehen wir Plötzlich zu den kleinen Seestaaten un ent¬
schiedensten Vortheile, weil wir leicht das Dreifache aus unsere Marine ver¬
wenden tonnen.
Freilich wenn dazu große Summen nöthig sind, so müssen sie entweder
duich neue Steuern aufgebracht oder an andern Stellen des Staatshaushalts
gespart werden, und da wir uns das erste nicht getrauen in Vorschlag zu
dringen, so bleibt nur der andere Weg offen. Auf den aber weist uns eben
die englische Freiwilligenbewcgung hin. Es soll an der Landarmee gespart
werden, was dem Seewesen zugelegt werden soll, und es soll der Regierung
dies dadurch möglich werden, daß irgend eine freiwillige Bewegung im Lande
es ihr möglich macht, von ihren Forderungen für die Landarmee nachzulaffrn.
Die Armee also schwächen oder sie schlechter bezahlen? Weder das Eine noch
das Andere. Wer wollte unsere Armee nicht möglichst stark haben, wer dem
Einzelnen, besonders in den untern Graden, nicht gern was zulegen? Viel¬
mehr soll jenes Ersparen der Regierung dadurch möglich werden, daß von
der Mühe und Arbeit, von den Kosten zur Bildung großer Streitkräfte ein
Theil nach dem Muster der englischen Bewegung der Negierung und dem
Heere in 8p6vis abgenommen und von einer freiwilligen Bewegung des Lan¬
des übernommen werde. Ohne erst genau zu prüfen, ob wir dazu nach dem eng¬
lischen Muster greisen könnten, wollen wir eine solche Zumuthung gleich von vorn
herein mit der Behauptung abweisen, daß jede gute Einrichtung aus teri^ eigen¬
thümlichen Verhältnissen eines jeden Landes herauswachsen muß. und daß also,
wo diese sehr verschieden sind, es auch jene sein muß, um eine wirklich gute sein
zu können. Somit könnte man nur um das Allgemeine jener englischen Einrich-
wng anknüpfen, an den Sinn für alles Ocffnitliche. an die Bereitwilligkeit, in dem.
Was das allgemeine Wohl erheischt, der Regierung nicht nur entgegen zu kommen,
sondern es gleich selbst zu thun, in dem Ansprüche des Selbstregierens auch
gleich die Anforderung des Selbstleistens anzuerkennen. Ein Theil von dem.
was jetzt bei uns der Staat allein leistet sür die Herstellung seiner Wehrkraft,
soll von uns selbst geleistet werden. Eine Bedingung dazu, daß dies möglich
sei. findet sich »u», Dank sei es unsern freien Zuständen, die sich täglich mehr
ausbilden und befestigen, bei uns so gut wie in England. — Die Negierung
fürchtet nicht auf jede Weise die Waffen ihrem freien Volke in die Hand zu
geben. Der König will sein Volk in Waffen sehen.
Wie aber kann nun das Volk seinem Könige dabei z» Hülse kommen?
Zunächst bei der Erziehung; soll es ein Volk in Waffen geben, so muß das
Volt auch danach erzogen werden. Nicht erst in der Rekrutenschule soll diese
Erziehung anfangen, sondern viel hinder. in und mit der Volksschule und in
Zeit zwischen dieser und der Einstellung in das Heer. Daher die Com-
pagnieschule für alle Schulknaben, die sie dann spielend zur Erholung und
wie Vergnügen lernen. Zugleich aber sitzen alle Eindrücke der Kindheit fester
°is irgend welche des spätern Alters. Man frage die Kadetten. d,e Schüler
Militärwaisenanstalten, der Unteroffiziersschule. ob ihnen der beste Theil
ihrer Geschicklichkeit in der Compagnieschule nicht von ihrer Knabenerziehung
b°r geblieben. Also alle Schulen in Stadt und Land haben Mittwoch und
Sonnabend Nachmittag Exercirschule nach Art der Schwcizereinrichtung. Die
Lehrer dazu sind bald gesunden, mau nimmt später dazu am beste» die älteren
Knaben wie in den Kadettencorps. Gesundheit des Leibes und der Seele
würde bei solcher Einrichtung wesentlich gewinnen.
Nach der Kenntniß der Compagnieschulc ist das Wichtigste, was der In»
fanterist zu lernen hat, der Gebrauch seiner Waffe, vor Allem das Schießen.
Aber auch das kann der Rekrut mitbringen, wenn er im 18., 1». und 20.
Jahre in Schießschulen dazu Anleitung erhält. Wir glauben mit Recht fra¬
gen zu dürfen, ob es selbst den strengsten Anforderungen nöthig erscheinen
würde, so vorgebildete Rekruten bei der Infanterie noch länger als zwei
Sommer und einen Winter bei der Fahne zu halten. Das sogenannte zum
Soldaten machen im dritten Dienstjahre halten wir selbst von denen, welche
immer damit hervortreten, nicht für recht ernsthaft gemeint. In Preußen
hat die allgemeine Dienstpflicht uns allen so viel Kenntniß grade hierüber
gegeben, daß Jeder weiß, wo das eigentlich gefunden wird, was hier ver¬
nünftigerweise gemeint sein kann. Wir wissen, daß es vielmehr ein Produkt
der Gesinnung und des reifern Alters!, des Jünglings, der ein Mann
geworden, als das Ergebniß einer Art bis zur Langweiligkeit fortge¬
setzter Dressur ist. welche sogar, sobald sie Unlust erzeugt, dem Nerv aller
militärischen Kraft, der Disciplin eher nachtheilig als förderlich wird. Die
Freiwilligkeit des Gehorsams ist überall und zu allen Zeiten der sicherste Grund
aller Disciplin gewesen. Jeder Soldat begreift augenblicklich die absolute
Nothwendigkeit des strengsten Gehorsams für die Ehre seiner Truppe, und
wie nun erst der Gebildete und der, dem es von Kindheit an so vorgetragen
worden.
Wir haben hier also einen sehr bestimmten Punkt, wo die Freiwilligkeit
bei uns dem Bedürfnisse des Staats auf das wirksamste entgegen kommen
könnte: man sorge für militärische Uebungen der Schulen und für Schießein-
richtungcn der jungen Leute vor ihrem Eintreten. Das kann der Einzelne
allerdings nicht ausrichten, hier heißt es Association, das große Wort, womit
England so Ungeheures erreicht hat, und wofür der Sinn uns in Deutschland
mit den freieren Perfnssnngen eben erst aufgeht. Es ist nichts für die Ent¬
wicklung der wahren Freiheit zu hoffen, wenn wir nicht wie die Engländer
lernen aus uns selbst heraus uns zu fördern, nicht immer Alles und Jedes von der
Regierung zu> erwarten und zu fordern. Marsche sich solche Verhandlungen an,
wie die, welche nach der Times vom 31. Dec. in Preston in Lancashire statt¬
gefunden haben, um die Mittel ausfindig zu machen, der gegenwärtigen groß'
eigen Freiwilligenbewegung, auf welche ganz England mit Recht stolz ist. ouch
für die Zeiten geringerer Besorgniß Dauer zu verschaffen; da ist zu lernen, wie
dergleichen anzufangen ist. Da tritt auf die Einladung des Lordlieutenants
der Grafschaft eine Auswahl von Männern ersten Ranges, Lord Scarlct.
Lord Stlinley, Lord Egerton, die Lordmajors von Manchester, Liverpool,
Preston zusammen. Lord Derby, das Haupt der Torypartei, von der Gicht
zurückgehalten, erscheint in einem langen Schreiben, seine lebhafteste Theilnahme
zu bekunden und seiue Rathschläge mitzutheilen. Sofort wird ein Statut
angenommen, großr Beitrüge gezeichnet, die Sache in gesicherten Gang, ge¬
bracht, und kaum ist die Rede davon, die Regierung um Unterstützung an-
zugehn oder sie sonst in Anspruch zu nehmen. Was könnte nun verhindern,
daß auch bei uns in jedem Kreise, in jeder größeren Stadt angesehene Männer
zusammenträten einen Verein zu stiften zur bessern militärischen Vorbildung der
Jugend. Es giebt so viele bei uns, die sehr gut wissen, worauf es hiebei
ankommt, so viele, welche zu patriotischen Zwecken gern ihre Hand öffnen,
— was hier selbst Frauen thun könnten und thun würden — daß nicht zu zwei¬
feln ist, es würde in kurzer Zeit viel zu Stande kommen. Wer Menschen
kennt, der weiß, was auf solchem Wege, wo alle edeln Neigungen und alle
gute Einsicht in freiwillige Bewegung gesetzt werden können, zu erreichen ist.
Die Regierung würde, wie wir glauben, eine solche Thätigkeit auf jede
Weise fördern.
Aber das Alles ist erst das Eine, worauf der Vorgang in England unsere
Gedanken leitete. Wir lesen jetzt täglich in den Blättern, daß sich größere
und kleinere von diesen Volnnteercorps aller Waffen zu größern und kleineren
Uebungen in Bewegung setzen, sich vereinen, zusammen marschiren. kleine Ma¬
növer ausführen, lagern und so sich ausbilden, alles unter eigen gewählten
Führern, und Leute, welche es beurtheilen können, sind erstaunt und entzückt
über die Leistungen, Wer aber wollte sagen, daß. wenn die Regierung sich
der Sache bemächtigen wollte, wenn etwa ein Zwang einträte, wenn man
Anspruch darauf machte, die höheren Offiziere überall ernennen zu wollen, dre
Sache nicht augenblicklich zerfiele und das Land einer Kraft beraubt würde,
"uf welche es jetzt offenbar mit größtem Vertrauen hinsieht. Und Nun, anch
diese Erscheinung auf unsere Verhältnisse angewendet, befürchte ich keinen
Widerspruch, wenn ich behaupte, daß wir Preußen in unserer Landwehrcin-
Uchtung ein unermeßliches und vortreffliches Material haben, auf ähnlichen,
Gebiete Ungeheures zu leisten, aber freilich nur uuter der Boraussetzung, daß
Man dem Selbsthandeln. der Freiwilligkeit vollen Spielraum ließe. Halbe
F»ihnn ist ein ganzer Zwang und leistet nichts. Also: man gebe der Land¬
wehr die Autonomie. welche man ihr bei ihrer ersten Einrichtung 1813 gab.
wieder, lasse die Kreisstände ihre Offiziere, die Compugnien ihre Unteroffiziere
Wählen, die Offiziere ihren Bataillonscommandeur, und das Institut würde
^ ganze moralische Sprungkraft jener ersten Jahre wieder erhalten und
"Ur noch mehr leisten, da ihm jetzt ein wundervolles Material an ausgehn-
beler Mannschaft bereit stünde Und nun überlasse man auch die ganze
Uebungsart dein Lande. Die Commandeure mögen sich darüber mit den
Kreisständen einigen. Uebungen in größern Körpern als Bataislcme und Es¬
cadrons sind nicht nöthig, dazu ist die Armee da, und zwar jetzt nach ihrer
glücklich beendigten neuen Formation in einer Stärke, daß die Landwehr aller¬
dings nur für eine Kricgsvcrstärkung angesehn zu werden braucht. Wenn wir
sehen, daß mit den bisherigen Versuchen, die Landwehr wie einen Theil des
stehenden Heeres brauchbar zu erhalten, mit dem Bestreben, sie immer mehr
und mehr wie jenes einzurichten, Alles von oben her zu besorgen, bei dem
völligen Mangel an Mitteln dazu auf keine Weise mehr fortzukommen ist;
wenn wir sehen, daß man es schon mit den alten Mitteln dahin gebracht hatte,
nur eine Truppe zu haben, von der man nicht recht wußte, welcher Werth ihr
zu geben, und wenn wir uns dann erinnern, was unsere Landwehr mit einem
völlig ausgebildeten Freiwilligen- und Wahlsystem gewesen: so scheint es ans
alle Weise geboten, daraus zurückzukommen. Wir haben viele einsichtige
Männer und Patrioten gekannt, welche im ganzen Verlnnfe der Jahre, in denen
man durch stete Aenderungen der Landwehr rhrc ursprüngliche Einrichtung
immer mehr und mehr nahm, laute Klagen führten, daß es so geschah, und
welche stets behaupteten, man mache dadurch eine Art Zwitter ans ihr, und sie
werde sich bei Gelegenheit auch nur als solcher erweisen.
Es braucht wol nicht erst gesagt zu werden, daß nach diesen Gedanken
alle Unkosten den Kreisen, den Bezirken, wie man es nennen will, zur Last
fallen winden. Dem Staate bliebe das Iuspeetionsrecht und das Recht die
Bewaffnung zu liefern und zu bestimmen. Wu so wie wir von der ungeheuern
Wirksamkeit eines freiwilligen Systems in einem freien Lande durchdrungen ist.
war die lebendige Vaterlandsliebe, welche mit geringer Ausnahme unser Preu¬
ßen beseelt, so genan kennt, wie wir uns dessen rühmen, der wird auch eben
so wenig wie wir daran zweifeln, daß die Resultate solcher Einrichtung selbst
die kühnsten Erwartungen bald übertreffen würden. Dann aber würde zuletzt
auch den Aengstlichsten und Besorgtesten möglich erscheinen, an den Ausgaben
für das Landheer mehr noch zu sparen als nöthig wäre, um in kurzer Zuk
eiserne Wälle zu Wasser aufzurichten, an denen jeder Uebermuth, der es unter-
'nähme, uus in unserer Ehre und bei unserer weiteren Entwicklung zu stören,
zerschellen würde.
Das Leben in Rom. Neapel, Florenz und andern großen Städten Italiens ist
uns mehr als hinreichend geschildert worden. Ueber den Charakter der Städte und
Städtchen dagegen, die seitwärts von der großen Straße liegen, weiche der
Tourist zieht, erfährt man in der Regel nichts Genaues, und da es jetzt für
Manchen von Werth sein mag. sich auel, von diesen Kleinstädter eine deutliche
Vorstellung machen zu tonnen, so soll im Nachstellenden der Versuch unternommen
werden, sie aus der Erinnerung zu zeichnen. Der Verfasser hat mehre Jahre
als Soldat des päpstlichen Heeres in solchen Orten in Garnison gelegen, an¬
dere auf Märschen gesehen, und so kann er wol behaupten, daß seine Erfah¬
rung eine gründliche war.
Versetzen wir uns auf eine Landstraße, die nach einer der kleinen Städte
in Umbrien, den Marken oder einem andern Theile des Kirchenstaates führt.
Dieselbe windet sich zwischen schlecht cultivirten. aber dennoch reichlich tragenden
Weizen- und Maisfeldern und Rebengärten hin. Gelegentlich begegnen wir
Gruppen von Olivenbäumen, bisweilen Pflanzungen von Maulbeerbäumen.
Ein eigentlicher Wald ist nirgends zu sehen. Wo die Berge nicht mit Wein-
stöcken oder andern Culturgewächsen bepflanzt sind, tragen sie fast nur niedres
Gestrüpp von Stacheleichen, Pinien. Erdbeerbäumen und ähnlichen Gattungen
südlicher Vegetation. Eben so wenig trifft man Wiesen gleich den deutschen
a». Auf der Straße sehen wir viele Fuhrwerke, seltener Fußgänger und fast
eben so selten Reiter. In seiner eleganten Carozza fährt ein Comte oder Mar-
chese auf sein Landgut, um einmal seine Pächter zu besuchen, deren mancher von
diesen Herren mehre Hunderte Hai. Da und dort kommt uns ein wohlhaben¬
der Bürger in seinem zweirädngen Birrocino entgegen, der von einem mun¬
teren Pferdchen gezogen wird. Bisweilen auch ein Vetturino mit seinem alt¬
modischen schmalspnngen Reisekasten und seinen dürren, traurig abgequälten
Gäulen; häufig ein Bauer mit einem plumpen Karren, dessen Zugthiere, präch-
t'ne großgehörnte Ochsen, an Eisenringen gelenkt werden, die ihnen durch die
N^enlöcher gezogen sind.
Endlich erscheint vor uns die Stadt. Sie ist in der Regel mit alten
Mauern und einem trocknen Graben umgeben, Resten der Zeit, wo man sich
Legen die Einfülle eines herrsch- und raubsüchtigen Adels und den Parteihaß
der Nachbarorte vorzusehen hatte. Dre Mauer mit ihren kleinen Bastionen
und ihren langen Courtincn. die bethürmten Stadtthore sind allenthalben schad¬
haft, und aus den Ritzen sprossen Gras und Schlingpflanzen hervor, die den un
Graben weidenden Ziegen zum Futter dienen.
Im Thorgewölbe tritt uns der Herr Finanziere entgegen und fragt, ob
wir etwas steuerbares bei uns haben. Kommen wir im Birrocino, so revi-
dirt er das Korbgeflecht mit seinem Spieß. Haben wir eine Reisetasche oder
Botanisirtrommel, so läßt er sich deren Inlmlt zeigen. Doch ist er in der
Regel eine gute Seele, die mit sich reden läßt und die Eigenschaft hat. daß
sie. wenn nur ihr ein Silberstückchen in die Hand drücke», für alles Steuer¬
bare im Koffer oder Ranzen blind wird. In Ermangelung von Geld
kann man ihn auch mit einem kleinen Tribut an Waare abfinden, besonders
wenn dieselbe eßbar ist. Der Zoll der'Büuerinncn besteht gar nur darin, daß
sie sich von dem Finanzwachter geduldig einige-kleine Zudringlichkeiten gefallen
lasse». Vom Thore aus führt eine große, oft zu beiden Seiten mit Arkaden
geschmückte Straße in krummer Linie bis auf den Marktplatz, und von dort
nach dem entgegengesetzten Thor; dies ist der sogenannte Corso, oder
die Strada maggsore, wie die Hauptstraße in den meisten Stadien heißt.
Hier findet man die vornehmsten Gasthäuser, die ersten Kaffees, die
schönsten Läden, die modernsten Häuser und mit Ausnahme der für die
Siesta bestimmten Stunden ein starkes Menschengewühl. Das hereinströ¬
mende frisch aussehende Bauernvolk in seiner hübschen bunten Tracht gibt des
Morgens dem Corso ein pittoreskes Aussehen, während gegen Abend die
Kutschen der Reichen hier paradiren und die schöne Welt beim Lampen- oder
Mondschein promcnnt. Wir drängen uns durch das Volk nach der Piazz«
grande, dem Hauptplatz, von wo aus uns ein verworrenes Getöse entgegen¬
bringt. Derselbe bietet einen imposanten Anblick. Er ist gewöhnlich sehr
groß und sast immer in der Mitte durch einen mächtigen steinernen Spring-
brunnen geziert, welcher uuter dem Dreizack seines Neptun und aus den Nüstern
seiner Rosse und Delphine schon vielen Geschlechtern des Ortes den silberhellen
Strahl gespendet hat. Nicht weit davon befindet sich auf einer Säule das Standbild
der Schutzpatronin des Ortes, welche fast immer die Madonna ist. Die den
Platz umgebenden. mit Arcaden geschmückten Häuser sind meist öffentliche. Die
eine Seite nimmt der Municipalitätspalast oder die sogenannte Commune el»,
mit dreißig und mehr Fenstern Front, deren grüne Jalousien eine angenehme
Unterbrechung im düstern unabgeputzten Mauerwerk bilden. Hier residirt der
Hochwohlweise Rath, und neben ihm die Sicherheitsorgane: rechts ist das Gen¬
darmeriegebäude, links die Hauptwache. Visavis bildet eine große Kirche
die andere Front des Platzes; sie ist von Stein und verschwenderisch "Ut
Marmor geschmückt, doch läßt ihr Baustyl kalt; sie ist nicht gothisch, nicht by¬
zantinisch, nicht maurisch, nicht griechisch gebaut, sondern hat von allen diesi'N
Manieren etwas an sich. Die beiden Ncbenseiten des Platzes werden von dem
Postgebüude und dem Steueramte, sowie von einigen Kaffees, Apotheken, Gro߬
handlungen und Gasthäusern eingenommen. Auf einer Seite des Platzes
stehen die Bäuerinnen in langer Reihe; es ist der Blumen-, Obst-, Grünzeug-
und Geflügelmarkt. Die buntfarbige Tracht kleidet diese Leute sehr gut. Sie
wollen alle die beste Waare haben; eine jede schreit laut aus. was sie feil hat,
wobei die dem Italiener eigene gellende Stimme den Wohlklang der Sprache
bedeutend, beeinträchtigt. Vor ihnen drängen sich die Städter und Städterin¬
nen im glockenförmigen kurzen Reifrock ü, la Pepita und handeln und feilschen
mit geläufigster Zunge und Geberde. Daneben werden Männerstimmen laut:
Eiru^r ruft Südfrüchte aus, ein Anderer schreit: „Cigari! Cigari!" ein
Dritter will seine Limonade los werde», ein Vierter Backwerk und so sort bis
zum Lumpensammler, daß Einen, die Ohren wehe thun möchten. Auch die
Fleischbänke, welche an der nächsten Marktscite in einer Reihe stehen, bemühen
sich, mit vernehmlichem Rufe anzukündigen, daß sie heute besseres Fleisch und
billigere Preise als gewöhnlich haben. Dazwischen bemerkt man Verkäufer
von ganzen, am Spieß gebratenen, mit aromatischen Kräutern gefüllten
Schweinen, Gruppen von Gasserten mischen sich unter die Käufer. Hier
gehen einige Geistliche, schwarz von oben bis unten, mit seidenen Strümpfen
und Schnallenschuhen, den altfränkischen Dreimaster auf dem Haupte, dort
einige Signori in bewunderungswürdigem Negligöe.
Plötzlich trifft unsre Nase ein ungewöhnlich widerlicher Geruch. Wir
gehen dem garstigen Duft nach und kommen durch ein enges, überaus schmu¬
tziges Gäßchen in die Pescheria. d. h. den Fischmarkt. Hier begegnen wir
nner namenlosen Auswahl der verschiedenartigsten Meerthiere, Fischen aller
Gattungen, Seekrebsen, Seespinnen. Krabben. Austern und andern Schalen¬
thieren, daß sich allerdings das Auge daran nicht satt sehen würde, wenn
sie die Nase nicht über die Gebühr beleidigten. Der Odeur ist in der
That kaum zu ertrage». Die Fische, welche an sich schon nicht beson¬
ders appetitlich riechen, gehen bei dem dortigen Klima schnell in Faul-
">ß über, und hundert Sorten strömen hundert Gerüche ans. Schnell
kehren wir auf den Markt zurück und kommen grade zu rechter Zeit, um einen
echten italienischen Quacksalber oder Zahnkünstler (Dentista. wie er sich nennt)
seine Künste produciren zu sehen. — Er steht auf seinem kleinen Neisewägel-
chen und declamirt gegen die ihn umgebende Menge mit so gewaltigen Ge¬
berden und Grimassen, daß man glauben möchte, er spiele den Othello. Vor
>hin sind Medicamente der verschiedensten Art, namentlich aber auch Päckchen
Fleckseife aufgelegt, welche zu fabriciren und zu verlaufen der eigentliche Zweck
seines Daseins ist. Er beobachtet stets das gleiche Verfahren. Seine Rede,
beginnt mit Aufzählung von einem Dutzend Empfehlungen,von großen Herren
s" England. Frankreich und Italien, obgleich der Wackere niemals weiter ge¬
kommen sein wird, als in die Lombnrdie. Was weiter folgt, geht zunächst
"uf Unterhaltung des Publikums und ist bald pathetisch und würdevoll, bald
komisch gehalten. Dann trägt er eine Abhandlung über die Natur der Zähne,
Zahnausreißeu und Medicamente zur Heilung verschiedener Zahnkrcmkheitcn
vor. und zum Schluß wird er generös, indem er als Probe für sein Wissen
und Geschick einem armen Bauer, dessen er sich wohl oder übel bemächtigt
hat, einen noch guten Zahn „schmerzlos und gratis" herauszieht. Mit
diesem Lockvogel sängt unser Doctor Eisenbart andere in Menge, und auch
die Seife findet ihre Abnehmer.
Wir treten nun in eins der benachbarten Kaffeehäuser, und zwar in das
„Caffö del Commercio". Fast in jeder Stadt im Römischen existirt eins dieses
Namens. Das Kaffeehaus ist für den Italiener bekanntlich, was für uns
Deutsche die Bierstube. Hier bringt e.r den größten Theil seiner freien
Stunden zu, hier werden die politischen Ereignisse besprochen, hier gibt man
sich Rendezvous mit seinen Freunden, macht man Geschäfte ab. Jedes Kaffee
hat sein bestimmtes Publikum und dieses wiederum seine bestimmte politische
Färbung, namentlich in so bewegten Zeiten wie die gegenwärtigen sind. So
kommt es oft vor, daß sich zwei Kaffees wie zwei feindliche Lager gegenüber¬
stehen. Natürlich werden hier auch die jüngsten Stadtereignifse besprochen
und es entwickelt sich so uuter Männern dieselbe Klatscherei wie in Deutsch¬
land bei gleichem Tränke unter zungenfertigen Damen; nur macht es der
Italiener stiller lind geheimnißvoller. In jeder Stadt gibt es eine Legion
solcher Lokale, welche, von der mehr oder weniger eleganten Ausstattung oder
der mehr oder weniger guten Qualität des Getränkes abgesehen, einander fast
ganz gleich sind. Das Caffö del Commercio, in welches wir eingetreten sind,
ist ein Kaffee mittlerer Classe; mit Ausnahme des Morgens trifft man hie
nur Bürger bessern Standes, weshalb man aber acht glauben darf, daß
jeder gut gekleidet ist. In Italien existiren zwei deutsche Borurtheile nicht!
erstens „macht dort nicht das Kleid den Mann", und häusig sieht man einen
nach neuester französischer Mode ausstaffirter Stutzer mit einem struppigen in
Fetzen gehüllten Burschen traulich spazieren gehen, zweitens existirt dort kein
solcher Kastengeist, wie in unsern biedern Gauen. Mit der Freiheit war es
bis jetzt nicht weit her, Gleichheit dagegen war immer reichlich vorhanden.
Im Uebrigen muß das Kaffee auch unsere Konditoreien und Lesecabmets er¬
setzen. — Wir treten ein und finden einen großen viereckigen Saal mit
Divans an den Wänden, und vor ihnen stehen etwa ein Dutzend kleine
Tischchen mit Marmorplatte. Die Wände sind mit Tapeten, goldenen
Zierathen, Spiegeln und Armleuchtern versehen. Auf der entgegengesetzten
Seite ist das Büffet, hinter welchem der Caffetiere seinen Platz hat. Hinter
dem Büffet führen Thüren in die verräucherte Küche, aus welcher uns der
Duft eines mittelmäßigen Mokka entgegenkommt. Einige Camerieri mit
Weißen Schürzen rennen rastlos hin und her, fragen die Eintretenden nach
ihren Wünschen, serviren mit ungeheurem Geklirr und Geklapper, tragen das
Geschirr wieder fort und begleiten Alles nut einem Schwall von Redensarten
und einen Geschrei, welches stets aus der Küche beantwortet wird und im
Verein mit dem Geklapper der Tassen und Kaffecbreter ein verworrenes, ohren¬
betäubendes Geräusch verursacht. Wenn wir unsere Zeche berichtigen, so
schreit der Kellner dem Caffetiere ein ganzes Subtractionsexempel entgegen,
sodaß alle Anwesenden genau wissen können, was man verzehrt, mit welcher
Münze man bezahlt hat und wie viel man herausbekommen muß — eine
uns Nordländern sehr unbequeme Manier. Wir finden den Morgenmokka
nicht besonders, was daher kommt, daß früh kein frischer Kaffee gebraut,
sondern der von gestern übrig gebliebene nur aufgekocht und. mit Milch ge¬
nossen für hinlänglich gut erachtet wird. Wer keinen Kaffee mag. kann Cho-
colade. verschiedene Liqueure. Packwerk aller Art. des Abends Thee und im Som¬
mer hier und da auch Bier bekommen. Sehen wir uns nun ein wenig unsere
Nachbarschaft an. In jener Ecke sitzt eine Anzahl Menschen, größtentheils
noch ungewaschen um einen runden Tisch. Einer unter ihnen hat ein Zeitungs-
blatt in der Hand, und da er zufällig der Einzige ist. welcher lesen kann,
so trägt er mit gedämpfter Stimme die neuesten politischen Nachrichten vor.
Die übrigen sitzen mit offenem Wunde und lauschen mäuschenstill, nur hin
und wieder entfahren ihnen Worte der Verwunderung, des Beifalles oder
Mißfallens. Bisweilen knüpft man über eine Sache ein allgemeines leises Ge¬
spräch an. macht Betrachtungen oder spricht Meinungen aus. Am nächsten
T'sah sitzen zwei Männer in Mänteln und spitzigen Hüten mit breiter Krämpe.
Ihre Mäntel sind aus mehr Farben und Flecken zusammengesetzt als eine
Landkarte Deutschlands. ihre Gesichter sind eingefallen, und es drückt sich aus
ihnen deutlich die Spur des Lasters aus. Sie spielen um ihren Kaffee eine
Partie Briscolo und suchen sich.gegenseitig zu betrügen; stoßen allerlei Flüche
">>s und machen überhaupt im Locale den größten Lärm. Ein zottiger Hund
^egt neben dem einen von ihnen und fängt mit einem andern eine Beißerei
welche, den allgemeinen Rumor vermehrend, unter allen Divans und
Zwischen unsern Beinen ausgefochten wnd. Die Kellner trennen endlich die
wüthenden Bestien, und wir können unser Augenmerk auf einen andern Tisch
Nester. Hier sitzt ein Gensdarm; natürlich ganz allein, denn zu diesem Or¬
gan der Sicherheit, welcher nothwendigerweise ein Spion sein muß. setzt man
s'es nur im höchsten Nothfalle, und selbst den Tisch neben ihm läßt man leer.
Politisirende Gruppe spricht, nachdem er gekommen, leiser oder beginnt ein
^ichgültiges Gespräch, und verliert sich sobald als möglich aus dem Local.
Kommen wir zu Mittag oder zu Abend wieder, so finden wir das Kaffee¬
haus von vielen derselben Gäste besucht. Der Müßiggänger kehrt hier des
Tages wol fünf bis sechs Mal ein. womit übrigens nicht gesagt ist. daß er
jedes Mal etwas genieße. Abends ist das Haus am vollsten, zur Zeit der
Siesta am leersten. Vor dem Eingange befinden sich ebenfalls Tischchen und
Stühle, wo die Besucher, unter einer bunten Marquise gegen die Sonnen¬
strahlen geschützt, ihren Mokka schlürfend, den Platz oder den Corso beobachtend,
mehre beschauliche Stunden zubringen. . Zu allen Tageszeiten sprechen hier
Bettler vor und iincvmmodiren uns auf Schritt und Tritt mit ihren An¬
liegen. Jungen kommen und bitten, wenn wir ihnen kein Geld geben wollen,
ihnen wenigstens das Stückchen Cigarre zu überlassen, das wir im Munde
halten. Werfen wir es zufällig in die Stube oder aus die Straße hinaus,
so stürzen sich im Augenblick mehrere darauf los. Der Glückliche, welcher den
Preis erringt, benutzt seine Trophäe entweder zum Selbstgebrauch, oder er
sammelt solche Cigarrenstümpfe und verkauft sie an Tabakhändler, welche sie
trocknen, schneiden und als billigsten Tabak verkaufen. Der Nordländer, welcher
nach Italien kommt, muß sich von einer Masse von Borurtheilen frei machen,
wenn er dort mit leiblichem Behagen leben will. Im Kaffee hat er sich vor
Allem daran zu gewöhnen, Unreinlichkeit als ein nothwendiges Zubehör
anzusehen. schmutzige Servietten, zerbrochene Tassen, verbogene Löffel, zoll¬
hoch auf dem unausgekehrtcn Fußboden liegender Staub und Koth, die uuab-
gewischteu Spiegel und bestaubten Sofas, endlich die zum Theil ungewaschene >
Gesellschaft dürfen seinen Appetit nicht schmälern; er muß denken, daß Alles
in der Natur aus so und so vielen Elementen besteht, daß also der Begriff
„Schmutz" eigentlich nur ein Vorurtheil ist.
Wir wenden uns nun, da es Sonntag ist, und wir gute Christen sind,
in ti'e Kirche.
Das Innere derselben ist überall prunkvoll, aber selten geschmackvoll.
Die Kreuzesform ist die üblichste. Das Presbiterium sowie die Seitencapellen
sind kuppelartig gewölbt, und das Licht fällt durch buntes Glas von oben
herein. Säulen korinthischen, jonischen, dorischen und toskanischen Stiles
von verschiedenfarbigem Marmor tragen das Hauptschiff, welches mit dem¬
selben Steine parquet- oder mosaikartig gepflastert ist. Durch farbige Tücher,
meist roth und gold, ist die Kirche an den Wänden tapetenartig verziert.
Die Ausstattung der Altäre ist kostbar. Bilder, die oft von guten Meistern
sind, verherrlichen dieselben. Bänke befinden sich gewöhnlich nur in den
Nevcnccipellen und den Seitenschiffen. Im Hauptschiff verrichtet die fromme
Menge stehend oder knieend ihre Andacht. Fresken an den Decken sowie
Bildhaucrwerk, Marmor- und Alabasterzierrathen fehlen nirgends. Dagegen
trifft man höchst selten eine Kanzel. Predigt einmal ein Priester oder Mönch,
geht er an das Gitter des Presbitcriums und spricht von einem Stuhle aus;
doch steht letzterer in der Regel nur pro form« da, und der Redner zieht es
vor, zu seiner Gemeinde stehend zu sprechen. Orgeln sind ebenfalls selten.
Gewöhnlich ist der Chor über dem Haupteingange gegenüber dem Hochaltar
angebracht; befindet sich dort wirklich eine Orgel, so ist diese meistens sehr
klein, alt und verstimmt. Gibt es im Orte auch einen Organisten, so wird
das Hochamt durch Musik verherrlicht; aber statt unserer herrlichen deutschen
Kirchenmusik, hört man dann die Orgel fast nur bellinische oder verdische Opern¬
arien. Walzer. Rutscher und Pvlkamelodieu spielen. Auch eine Militärmusik
Hörteich in einem Hochamte hinter dem Altar Stücke aus „i lomwräi", „ilei'v-
vawre«, „I«. Norma", n. vortragen, und grade diese weltliche Begleitung
des Gottesdienstes zieht die Italiener am wirksamsten zum Besuche an. Nur
an hohen Festtagen hört man ein Orchester nebst guten Sängern Messen italienischer
Komponisten aufführen. Der Klingelbeutel ,se fast ganz unbekannt, und eben¬
sowenig kommen Sammlungen an den Kirchthüren vor.
Wir gehen nun nach Sättigung des geistigen Menschen dnrch einige Ne¬
benstraßen nach der Osteria, um dort den leiblichen zu Mittag speisen zu lassen.
Unterwegs haben wir ebenfalls Stoff zu mancherlei Betrachtungen. Dieser
weniger fashionable Stadttheil ist im Vergleich zum Corso sehr todt und öde.
Die Straßen sind mit Gras bewachsen, welches zwischen den Pflastersteinen
empmsprießt. Die Häuser haben keinen so sauberen Abputz wie dort, und vor
ihnen liegen Haufen Schmutz, Kehricht und Excremente aller Art. Einzelne
Weiber sitzen strickend oder mit anderen Arbeiten beschäftigt vor ihren Häusern,
während ihre halbnackten Kinder im Schmutze herumkriechen, sich rauhen oder
um Kupfermünzen spielen, die sie emporwerfen und rathen lassen, auf welche
Seite sie fallen werden. Die Seiten der Nebengassen werden oft auch durch
Gartenmauern gebildet oder durch die Mauern eines Klosterhofcs, über welchen
einige Feigen oder Cyprcssenoäume, sich nach Außen beugend, hin und wieder
Nnigou Schalten gewähren. Bisweilen kommen wir um ein größeres Ge¬
bäude, das an den riesigen Quadersteinen, ans welchen es erbaut ist, und dem
schönen Portal, durch welches man in dem weiten Hofraum eine Marmor-
statue oder andere Bildwerke erblickt, sofort als der Palazzo eines Adelöge-
schlechtes erkannt wird. Das Wappen über dem Portal ist zu schlecht erhalten,
daß sich der Name des Besitzers ersehen ließe, und so gehen wir hinein
Und fragen den Custode. der in dem einzigen noch wohl erhaltenen Zimmer
Parterre wohnt. — Dieser führt uns für ein Trinkgeld in dem ruinenhaften
Stammschloß des Conte ti X. herum, an dem heute beinahe keine Scheibe mehr
Mrz. keine Thür mehr verschließbar ist. Der letzte Sproß der Familie lebt
'u Venedig oder Rom, und der Custode. welcher schon dem seligen Vater desselben
Keble-ut hatte, wohnt dort, um den Palast zu verwalten. Er sendet dem
Conte die Revenüen seiner Campagnen, so wie die des Palastes, welchen er auf
bestmögliche Weise zu vermiethen sucht. Das ist aber nicht recht gelungen;
denn die für Menschen unwohnliche Beletage und der zweite Stock dienen als
Getreideboden und die Gebäude im Hofe als Ställe für Esel und Maulthiere.
Wir betrachten nun den Palast ein wenig näher. Durch das Portal hindurch
kommen wir in eine gewölbte, auf Säulen ruhende Borhalle, welche vom Hofe
durch ein eisernes Gitter getrennt ist. Rechts und links führt eine Treppe, die
sammt ihrem Geländer von Marmor ist, hinauf in den Lorsaal. Die Decke
»des Treppenhauses ist mit Fresken, die Wände sind mit Statuen in Nischen
geschmückt, welche meist mythologische Figuren, Genien, Engel, bisweilen auch
italienische Celebritäten vorstellen. Von diesem Vorsaale aus kann man auf einen
geräumigen Balkon gelangen, welcher unmittelbar über dem Portale angebracht
ist. Rechts und links an den Vorsaal stoßen große Empfangzimmer, die einst den
Glanzpunkt des Palazzo bildeten. Heut sind die Goldverzierungen in ihnen
verblichen, die werthvolle» seidenen Tapeten haben Löcher, Schmutzflecke und
Nisse, die Thüren schließen nicht mehr, die Fenster sind seit Jahrzehnten nicht
gewaschen, und Spinnwebe» hängen von der Decke in solcher Anzahl herunter,
daß man die Frescogcmälde des Plafonds nicht mehr erkennen kann. Der
Kamin ist theilweise zusammengestürzt und die zerbrochenen Sculpturwerkc
seines Simses so mit Staub bedeckt, daß man nicht weiß, ob sie von Marmor
oder von Gyps sind. — Auf dem steinerne» Fußboden liege» Vorräthe von
Weizen und Mais aufgeschichtet. Dasselbe ist bei den andern Zimmern der
Fall, welche in riesiger Anzahl an diese Säle anstoßen. Der zweite Stock ist
ähnlich beschaffen wie der erste — überall Staub. Moder und Verfall. Im Hose lie¬
gen Trümmer von Säulen und Statuen, welche Schlingpflanzen mit ihrem Ge¬
webe überwucher». Aus den Ritze» des parquetartigen Pflasters sproßt Gras
hervor. Auch der Garten ist zur Einöde geworden, und nur die Orangerie und einige
Blumentöpfe cri»»ern a» das, was er gewesen. Der Springbrunnen ist versiegt,
seine Figuren i» einen dickem Mantel von Unkraut und Gestrüpp gehüllt, sein
Bassin verschüttet und ebenfalls verwachsen, die Gartenmauer und die Säule» der
ehemalige» Pavillons theils eingestürzt, theils ruincaartig mit wildem Wei».
Eybe» überwuchert. Vo» Blumen keine Spur, außer denen, welche auf jedem
Felde wild wachse». Wir wisse» kein treffenderes Sinnbild der Verkommenheit
des heutigen italienischen Adels, als solch einen Palast. Nachdem wir noch einige
fünfzig Schritt durch die stille Gasse zurückgelegt habe», treten wir in die
Osteria. Statt Aushängeschild dient hier eine über der Thür aufgehängte Flasche,
die mit Wein gefüllt ist. und unter der ein kleiner Zettel mit einer einfachen
Nummer den Preis des letzteren anzeigt; oder el» ausgestcckcer grüner Laubast>
Indeß bedarf es dessen kaum, da uns der Dust in Oel gebackner Fische und
ähnlicher Speisen, der aus der Thür des Locals strömt, schon Wegweiser
genug ist. Wir treten in eine niedrige, rauchige, fast ganz dunkle Höhle, in
rvelckcr wir uns erst »ach einigen Minuten Aufenthalt gehörig zu orientiren
im Stande sind. Im Hintergründe steht der Kochherd, an welchem vier
oder fünf männliche Personen beschäftigt sind verschiedene Fleischarten ans
dem Rost oder am Spieße zu braten. Ein Kellner (Cameriere). mit einer
Schürze, deren Farbe einst weiß war. tritt uns entgegen und fragt nach unserem
Befehl, indem er uns zugleich mit einem riesigen Wortschwall belehrt, was
wir haben können. Man bringt uns Teller, Messer und Gabeln, an welchen
noch Spuren anderer Speisen zu finden sind. Beklagen wir uns beim Kellner
über diese Unsauberkeit, so wird er die Eßwerkzeuge vor unseren klugen brevi
manu mit jener gräulichen Schürze abwischen, welche uns schon beim Eintritt
in die Garküche Abscheu einflößte. Wir thun darum klüger, hinaus zu gehen
und an dem Brunnen Teller und Besteck eigenhändig zu waschen. Wem dabei
der Appetit nicht vergangen ist. der wird die Gerichte schmackhaft finden, so
einfach sie auch im Allgemeinen zubereitet werden. Der Wein, den wir trinken, ist
ebenfalls genießbar, und so finden wir, daß diese Speiseanstnlt übler aussieht,
als sie ist.
Im Hintergründe sehen wir zwei zerlumpte Bursche die Morra spielen.
Sie fahren taktmäßig mit den Händen einander entgegen wie englische Kampf¬
hähne und schreien dabei einander mit gellender Stimme Zahlen zu.
Eine andere Gruppe genießt ausschließlich Wein, und hört dabei dem
Gesänge Eines unter ihnen zu, welcher sich mit einer Tenorarie aus einer der
lctztgehörten Opern abmüht. Bei jeder Kraftanstrengung erntet er Bravos,
was einen Zweiten eifersüchtig macht und ihn veranlaßt, die Gesellschaft eben¬
falls mit einem Gesangvortrag zu regaliren. Wer von den Gästen ißt, hält
sich sehr mäßig: ein kleiner Fisch, ein Hühncrflügel, viel Brot und ein Glas
Wein mit Wasser gemischt stellt ihn'vollkommen zufrieden.
Am Ende des Raumes klappern Teller und Gläser, die hier gewaschen
werden. Die nicht abgeputzten Wände sind mit Fliegen bedeckt, die uns fort¬
während umstimmen und wie Vogelschwärme von dem Tischtuch emporschwirren,
^on der Decke hängen die Spinnweben wie zerfetzte graue Fahnen bis fast auf
unsere Scheitel herab, und der Fußboden ist mit Knochen, Fleischabfällcn,
Schmutz. Kartoffel- und Fruchtschaleu :c. bedeckt. Im Hose spielt man die
^ Italien sehr beliebte Boccia, ein Kugclspiel, bei dem es hübsche Gruppen
giebt. Der Speisesaal eines Albergo (Gasthauses) ist allerdings, mit einer
^steria verglichen, ein Paradies, steht aber wenigstens in den kleinen und Mit-
^'lstädten noch weit hinter unseren Gasthäusern zweiten und dritten Ranges
zurück. — -
Freundlichere Bilder als diese Osterien und gar die Cantincn (Weinschenken
räuberhöhlenühnlichcn Gewölben), zeigen die Volkslustbarkeiten in unsrer
Stadt. Unter diesen nimmt das Theater die vornehmste Stelle ein. Dasselbe
^ hier weit mehr Bedürfniß und weit beliebter und geachteter, als bei uns
^ der Provinz. Kleine Städte von acht- bis zehntausend Einwohnern haben
hier im Römischen Schauspielhäuser, welche sich sowol an Größe wie an
äußerm Schmuck mit den stattlichsten der deutschen Stadttheater messen können.
Von Rentabilität ist natürlich keine Rede; denn das Theater ist hier nickt
Unternehmen einer Gesellschaft oder eines Einzelnen, sondern wird aus den
städtischen Einnahmen verwaltet*), und jeder nicht ganz arme Ort findet eine
Ehre darin, ein schönes Haus zu besitzen. Mit Ausnahme der Bühnenan¬
stalten in den Hauptstädten Italiens kennt man keine stehenden Schauspiel-,
Opern- und Ballgesellschaften. Alle ander» Orte engagiren sich je nach dem
Bedürfniß des Jahres .el» oder zwei Mal eine dramatiscke oder eine Opern-
gesellschnft zusammen. Eine Theatersaison hat 24 — 30 Vorstellungen. Das
Repertoir ist immer sehr arm: eine Schauspielsaison bringt höchstens 5 — 6 Dra¬
men, eine Opernsaison in der Regel 3 Opern, von denen jede 8 — 10 Mai
hintereinander gegeben wird. Das Publikum zeigt sich stets sehr dankbar.
Vom Drama versteht man in der Regel nicht viel, und so ist von Kritik nicht
die Rede. Lustspiele sind besonders beliebt, doch folgt auch im ernsten Drama
jedem Monolog und jeder Scene lautschallendes Bravo. Bunte Scenerie und
Decoration werden einfacher Ausstattung vorgezogen. In Betreff der Oper
haben sie mehr Urtheil und Geschmack, d. h. für die italienische Oper; denn
eine deutsche kommt hier sehr selten, und dann gewöhnlich verunstaltet zur
Aufführung. Das Publikum verlangt, wenn es zufrieden sein soll, eine gute
Primadonna, einen tüchtigen Tenor, die in Italien häufiger sind als bei uns.
und einen guten Baßbusfo. ' Das Uebrige ist gleichgültig. Jede Arie wird
applaudirt, daß das Haus in heulen Grundfesten erzittert. Am Ende jedes
Acres werden die Haupthelden herausgerufen, am Ende der Vorstellung überschüttet
man sie mit Blumen, Gedichten und oft mit werthvollen Geschenken. Das gerin¬
gere Personal, die Sänger zweiter und dritter Rollen haben dabei in der Regel
die unglückliche Stellung, daß sie, gleichviel ob brav oder schlecht,'»olens volens
dem Publikum zum Spott und Hohn, zum Auszischen und Auspfeifen dienen
müssen. Selten sind die Kostüme und Decorationen der Zeit, in der die Oper
oder das Drama spielt, angepaßt, sehr selten ist in der Oper von Spiel die Rede:
wer eine Arie zu singen hat, tritt, um besser gehört zu werden, vorn an die
Lampen. Der Souffleur sitzt ohne Häuschen frei und offen da. Das Orche¬
ster ist dagegen meist recht gut besetzt, und die jungen Löwen der Stadt be¬
mühen sich während der Saison, durch ein Sonett, welches an allen Ecke»
der Straßen angeschlagen wird, die Primadonna zu verherrlichen. Boshafte
Kritik der Manier der Sänger ist geradezu unerhört.'
Nächst dem Theater nimmt in den kleinen Städten des Kirchenstaats du
Tombola den ersten Rang unter den Volksvergnügungen ein. Diese ist f^
die Stadt ein lucrntives Hazardspiel. In der Regel am Kirchweihtage oder
sonst einer passenden Zeit wird eine von der Municipalität ausgesetzte Summe
vermittelst der Tombola in zwei Gewinnen (Cinauina und Auindicinn) aus¬
gespielt. Aus den benachbarten Ortschaften und den Campagnen kommen
unzählige Gaste zu diesem Volksfeste, um Theil zu nehmen, und losen sich
ihre Billets bei den auf offen-r Straße sitzenden Untercollecteurs, wobei sie
nach Träumen oder abergläubischen Berechnungen die fünfzehn Nummern an¬
geben, mit welchen sie ihr Glück zu machen hoffen. Die Einnahme, welche
die Stadt hiervon hat, übersteigt die ausgesetzte Summe oft zehnfach. Nach¬
dem in», ein großer Theil des Bauernvolks die Madonna zum.Beistande
ungerufen hat, wogt die Menge ungeduldig auf und ab, indem sie den
Augenblick des Beginns kaum erwarten kann. Endlich giebt ein Trompe¬
tenstoß vom Municipalitätögebäude her das Zeichen zur Ziehung. Ans dem
Balkon des Hanfes steht eine Urne, in welcher die neunzig Nummern sich
befinden. Es erscheinen die Herren vom Rath, und einer von ihnen ver¬
kündigt nach abermaligem Trompetentufch die Gesetze und Bedingungen der
Tombola; gleichzeitig wird auch ein kleines Kind, als Amor oder Engel
gekleidet, bei der Urne 'sichtbar. In den Händchen desselben ruht das Glück
jedes Einzelnen, denn diese,werden die Nummern aus der Urne ziehen, und
to richten zahlreiche Anwesende ans der Ferne einige freundliche Worte an
dasselbe. Die Menge füllt nicht nur den Platz, sondern auch alle anstoßen¬
den Straßen und Seitengäßebe». Da nur Wenige die auf dem Balkon ge¬
zogenen Nuunnern erblicken tonnen, so sind Ausrufer auf erhabenen Posten
angestellt, welche die unter Trompetengeschmetter gezogenen Zahlen mit lauter
Stimme wiederholen.
Die ersten sechs bis sieben Nummern sind gezogen. Eine jede derselben
wurde mit ängstlicher Spannung erwartet, die Menge war mäuschenstill, bis
sie ausgerufen, von den Ausrufern wiederholt und von jedem Spielenden
uut Geräusch nachgesprochen und. im .Falle sie zu den von ihm gewählten
gehörten, mit Bleistift auf dem Billet angestrichen wurde. Da erschallt plötz¬
lich der Schreckensruf-. Cinauina! und zwar aus mehrern Gegenden zugleich.
sind also einige Anwesende so glücklich, unter den sieben Nummern fünf
"uf ihrem Billet zu haben. Sie sind die ersten Gewinner. Aber sie haben
d'e größte Mühe sich durchzudrängen, denn Jeder will sich an ihnen dafür
Zacher, daß ein Theil seiner Hoffnungen 'geschwunden ist. Man versperrt
ihnen den Platz, knufft sie, ruft ihnen Flüche und Schimpfreden zu, und die
Gendarmerie muß einige Mann detachiren, um ihnen die Passage zu bahnen.
Auf der Tribüne angekommen, nimmt man ihnen ihre Billets ab, um sie
revidiren. und dabei ergiebt sich nicht selten, daß nur einer oder zwei von
>l)nen wirklich Gewinner sind, während die andern entweder sich verhört
haben oder nicht lesen können. Wehe diesen! Kaum wieder unten ange¬
kommen, werden sie mit einer ohrenzerreißenden Katzenmusik empfangen und
auf das Grausamste verspottet. Nachdem das Pfeifen und Zischen einige
Minuten gedauert, wird die Nuhe wieder hergestellt, und das Ausrufen der
Nummern geht den gewöhnlichen Gang ruhig fort, bis einige fünfzig Zahlen
heraus sind. Jetzt wird das Pul'unum ängstlicher und stürnuscher. Viele
haben dreizehn oder vierzehn ihrer Ziffern schon bezeichnet, die fünfzehnte will
durchaus uicht koniinen; jeder neue ,Ausruf zerstört ihre Hoffnungen; sie wer¬
den vor Ungeduld bald blas;, bald roth, könne» nicht mehr ruhig auf einem
Fleck stehen und fangen an, gegen Himmel und Erde zu fluchen, Da endlich
ertönt ans irgend einem Winkel des Platzes das vernichtende Wort „Tombola!"
Man hebt sich auf die Zehen, Jeder will den Glücklichen sehen. Dieselben
Scenen, wie bei der Cinquina. wiederholen sich in größerem Maßstabe. Der
Rufer hat in der That gewonnen und wird den Uebrige» von der Tribüne
aus vorgestellt und von der neidischen Menge wieder mit einer Katzenmusik
bedacht, die nur dann glimpflich ausfällt, wenn der Betreffende durch en> misera¬
bles Aussehen und zerlumpte Kleidung den Zorn entwaffnet. Ist er ein Sig-
nore, ein Priester, ein Reicher, so geht es ihm übel. Nachdem sich der A^
ger ausgetobt, begibt sich die um ihre Hoffnungen betrogene Volksmasse
allmälig weg. Die Einen gehen in die Kirche, wo sie ihrem Groll in Schimpf-
reden gegen die Madonna Luft machen, andere suchen sich Trost in den Car-
dium oder Zerstreuung beim Pferderennen, welches häufig diesem Schauspiel
folgt. Die italienischen Wettrennen sind von den in England, Frankreich
und Deutschland üblichen ganz und gar verschieden, nicht ein Wettreiten, sondern
ein bloßes Wettlaufen der Pferde. Die Rennbahn wird nur von dem Spa¬
lier geschlossen, welches die Volksmenge — meist außerhalb der Stadt auf dem
breiten Fahrwege um die Mauer — bildet. Die Pferde hierzu sind von einer
kleinen Race und oft außerordentlich dürr; der Besitzer, dessen Pferd zuerst die
Tour zurückgelegt hat, gewinnt eine Kleinigkeit, bisweilen auch der des
zweiten. Die kleinen Klepper werden um den Punkt geführt, von wo sie
ablaufen sollen; ihre Bekleidung besteht aus einem Hinterzeuge, an welchem
scharfe Stacheln mit Widerhaken herabhängen; wenn das Thier sich bewegt,
schlägt dieser Apparat wie eine Geißel in das Fell desselben ein und die¬
ses beginnt zu laufen, indem es so dem schmerzenden Instrument entlaufen zu
können meint. Sie werden so lange von Dienern festgehalten, bis ein Böllerschuß
ihnen das Signal zum Aufbruch gibt. Die Rosse fahren vor dem Knall zu¬
sammen und thun, losgelassen, einen ersten gewaltigen Sprung, aus welche'»
sie. von den ihnen unbekannten Stacheln geprickelt, in eine rasende Carriere
-verfalle». Das Publikum macht dnrch Rufen und Beifallklatschen die Gäule
noch scheuer und wüthender, und diese rennen, bis sie vor Ermattung >»ehe
weiter können — ein nichts weniger als nobles Vergnügen, das stark nach
Thicrguälerei schmeckt, über das wir uns aber nicht wundern dürfen, da jeder
gemeine Italiener ein geborner Thierquäler ist.
Der italienische Kleinstädter hat wenig von den Eigenschaften des deutschen.
Er liebt gleich diesem den Klatsch und hat denselben engen Gesichtskreis, was
sich theils aus der Abgeschlossenheit der einzelnen Bezirke und Orte gegen
einander erklärt, die oft weniger von einander wissen, als wir von den fern¬
sten Gegenden und Städten, andrerseits aber darauf zurückzuführen ist. daß
die Bildung hier selbst in den mittlern Ständen noch sehr im Argen liegt.
Dies gilt unter anderen vorzüglich von der Geographie, und der Verfasser wurde
in dieser Beziehung nicht selten durch die wunderlichsten Behauptungen über^
tischt. Einmal fragte ihn ein Postbeamter, ob nicht Preußen ein Kanton
der Schweiz sei. Ein andermal meinte ein gutgekleideter Signore, die „neue"
Kunst der Daguerreotypic sei eine Erfindung der Italiener, und als ihm dieß
widerlegt wurde, wollte er es nicht glauben. Es wären ja auch die Eisen¬
bahnen und die Telegraphen in Italien zuerst aufgekommen. Dagegen haben
"lie Italiener, wenigstens im Römischen, eine gute Haltung, und ein an-
»>uthiges Geberdenspiel, wobei sie allerdings durch guten Körperbau und aus¬
drucksvolle Züge unterstützt werden. Doch dürste ihr mehr oder minder
vornehmes Wesen noch mehr auf Rechnung ihrer classischen Abstammung so¬
wie des Umstandes zu bringen sein, daß der Standesunterschied hier nicht so
schroff wie im Norden hervortritt. Wer ungezwungen spricht und sich ohne
^ngst anzustoßen bewegt, wird in der Regel anch schön sprechen und durch
>um Benehmen den Eindruck eines Gentleman machen.
Wenn man dem Italiener Geiz und Geldgier vorwirft, so mag das von
den Orten an der großen Heerstraße gelten, wo der Fremdenzug ihn verdor¬
ben» hat. Muß man auch seitwärts von dieser in den Gastdäusern um die
^lebe feilschen, bevor man sichs bequem macht, so ist der Grund davon we-
n>ger Habsucht, als der Trieb, zu handeln, zu überlisten und über die Unde.
kcinntschaft des Gastes mit den Verhältnissen oder seine geringe Lebensklugheit
überhaupt zu triumphiren. Was uns als übertriebne Sparsamkeit erscheint,
'se »se nur Bedürfnißlosigkeit.
Das Talent des Jtalieners im Auffassen und Begreifen ist ungemein
l^oh. Außerordentlich leicht findet er sich in einen Auftrag, sehr rasch macht
^ sich zu eigen, was man ihm selbst über das Bereich seiner Kenntnisse aus-
wiandersetzt, mit vielem Geschick fertigt der Handwerker ohne complicirte Werk-
^ugc. was bei uns mit Hilfe von Maschinen geschaffen wird. Aber die
Schulen sind allenthalben schlecht, und auf den Gewerbetreibenden lastet der
schwerste Steuerdruck. So hörte der Verfasser einst in einer kleinen römischen
^>labt einen armen Ciabattino mit Thränen in den Augen und lautem Wei-
man den Vorübergehenden klagen, daß er soeben sein ganzes erspartes Geld
in Betrag von zwölf Paoli (eir.ca zwei Thaler) als Monatssteuer blos für das
Recht hatte hergeben müssen, in einem Winkel der Straße alte Schuhe zu
flicken. Wer eine größere Werkstatt aufzuschlagen und Gesellen zu halten ver¬
mag, kann, namentlich wenn er sich mit Anfertigung von Kleidungsstücken
und Frauenputz befaßt, bessere Geschäfte machen, da der wohlhabende Italiener
sich gern gut anzieht und die Frauenwelt viel auf neue Moden hält. Fabriken
aber finden sich im Kirchenstaat fast nirgends, man müßte denn die Seiden¬
spinnereien dahin zahlen, die einige Sommermonate hindurch das weibliche
Geschlecht in Nahrung setzen.
^ Sicherlich verbirgt sich hinter der Oberfläche von UnsanbcMt und Lieder¬
lichkeit, Trägheit und Unwissenheit, der wir in diesen kleinen Orten der rö¬
mischen Provinz begegnen, ein guter Kern, der nur der Politur bedarf, um
zu glänzen. Aber es wird Mühe kosten, die Bevölkerung ans d.em Sumpf
zu ziehen, in den sie durch unglückliche Verhältnisse versunken ist, und ob die
Zeit dazu schon gekommen, lassen wir dahin gestellt. Erhebt es sich einmal
wirklich zu neuem Leben, das Volk Italiens, so wird es so schön sein, wie sein
Himmel unt> die Farben seiner Bar,ge und vielleicht von Neuem eine Mis¬
Indem wir fortfahren, den schweizer Bildersnal zu durchwandern, den
Mörikofer uns eröffnet, stoßen wir zunächst auf Hnller. Mörikofer schil¬
dert ihn hauptsächlich vom bürgerlichen Standpunkt und zeigt, daß er in der
Verwaltung des Staatsamts ebenso tüchtig war wie als Gelehrter und Dichter.
Was dieser Mann anfaßte, führte er gründlich dnrch.
Es wäre zweckmäßig, wieder einmal eine ausführliche Biographie zu ver¬
suchen ; nur müßte der Biograph zugleich ein tüchtiger Physiolog sein. Zim-
mermann's Biographie von 1 755 saßt zwar hauptsächlich die gelehrte Seite
seiner Thätigkeit ins Auge, aber sie war schon für die damalige Zeit unge¬
nügend. Eine Stelle dieser Biographie verdient angeführt zu werden, um zu
zeigen, wie sehr die Zeiten sich geändert haben. — „Worin soll denn unsere
Nation ihre Ehre zeigen? fragt Zimmermann. Unsere Siege sind vergeben;
deo Ruhm eines Bernouilli, eines Euler wird bleiben, wenn man nicht
mehr weis;, daß Schweizer gestritten haben." — Eine solche Aeußerung, die
in heuer Zeit keineswegs vereinzelt dasteht, lehrt uns, ein wie großes Verdienst
sich Johannes Müller nicht blos um die Schweiz, sondern um unsre ganze
historische Auffassung erworben hat.
Was Mörikofer über die andern Seiten Hallers sagt, genügt nicht; am
meisten h.at uns in Erstannen gesetzt, was er S. «3 über Hallers Tagebuch
bemerkt; er kann dasselbe unmöglich vor Augen gehabt haben, denn das Meiste
ist unrichtig. Doch können wir diesen Punkt übcrgehlt, da wir vor kurzer Zeit
den Lesern der Grenzboten einen Auszug aus diesem Tagebuch gegeben haben.
Wenn das Christenthum keine bessern Empfehlungen hätte, als diese uuglück-
leligen Grübeleien., in denen 'ein stolzer Geist mit seiner Hypochondrie coquettirt
-~ der Ausdruck ist .nicht zu start! — so würde es traurig damit beschaffen sein.
Was Halters Bedeutung als Dichter betrifft, so möchten wir ihn fast
höher stellen als Mörikoser. Haller wird in der Geschichte der deutschen Dicht¬
kunst eine sehr hervorragende Stelle einnehmen. Die Periode seines poetischen
Wirkens war kurz: sein erstes Gedicht von Bedeutung: „die Alpen" ist von
1729 und mit 1736 ist sein Schaffen so gut wie abgeschlossen. Es war die¬
selbe Periode, in welcher Gottsched mit großem Erfolg die Grundsätze der
Wolf'schen Denkart auf das Gebiet der Redekunst und der Poesie anwandte^
indem er die letztere, wie^wir im vorigen Hest gezeigt, als eme Untergattung
der ersteren betrachtete. ,
Die zweite schlesische Schule hatte sich bemüht, die Sprache der Poesie
über die Prosa zu erhöhn; da es ihr aber an wahrem Inhalt des Herzens
Und an ernster Bildung fehlte, war sie über diesem Bemühn >u Schwulst und
M sinnlose Phrasen verfallen. Um diesen Fehler zu vermeiden und in dein
Bestreben, eine correcte hochdeutsche Sprache nach der Art des akademischen
Französisch herzustellen, verlangte Gottsched, daß die Gesetze der Prosa auch
tur die Poesie gelten sollten. Er verfuhr darin ganz im Sinn seines Lehrers
Wolf, der die Empfindungen und sinnlichen Anschauungen für „unklare Be>
Misse" hielt, und an die Kunst wie an die Wissenschaft die Forderung stellte,
du'in unklaren Gedanken in klare und deutliche zu übersetzen.
Haller dagegen blieb der alten Ueberzeugung treu, daß die Poesie und
ucuncntlich die poetische Sprache etwas Höheres sein müsse als die Prosa,
^er er wählte ein anderes Mittel als die Schlesien statt die Phantasie von
dem Gesetz des Gedankens zu entbinden, suchte er den Gedanken so zusammen¬
zudrängen, daß er den Leser zu einer Selbstthätigkeit nöthigte, im gewissen
Sinn wie ein Räthsel, dassen Auflösung überrascht, aber doch als nothwendig
^'kannt wird. Der Unterschied seiner poetischen Sprache von seiner prosaischen
bchkht hauptsächlich in der Auslassung der Mittelglieder. Uebrigens aber soll
der Poet nicht nur eben so richtig denken wie der Prosaiker, sondern er sollte noch
strenger und ernster von seinen Gedanken Rechenschaft geben. Ein ähnliches
Gesetz beobachtet er bei seinen Bildern und Schilderungen; er gab nicht eine
vollständige Beschreibung, sondern er stellte die Elemente des Bildes sinnig
zusammen und überlief; der Einbildungskraft des Lesers sie zu verbinde».
Diese Methode hat die poetische Sprache sehr gefördert; el» weiterer
Fortschritt blieb Klopstock und in noch höherem Grade Goethe vorbehalten,
nämlich die Elemente der Anschauung so in Stimmung aufzulösen, daß da¬
raus unmittelbar ein ideales Bild hervorgeht, etwa wie eine im Mondlicht
zersliesicnde Landschaft >
Als Beispiel eine Stelle aus den Alpen:
Hier haben wir nur die Elemente der Anschauung, die man im ersten
Augenblick nicht versteht, weil die Mittelglieder fehlen. Wenn man aber er¬
fährt, daß oben am Berg die Wolken liegen, während der Staubbach durch
seinen starken Fall einen Nebel erregt, und daß der Wandrer dies durchs
Fenster betrachtet, so findet man durch jene epigrammatische Zusammenstellung
die Anschauung lebendiger geworden.
Die englischen Dichter hatten ihn angeregt. „Die philosophischen Dich¬
ter, schreibt er 1748, deren Größe ich bewunderte,"verdrängte» bald bei mir
das aufgeblähte Wesen Lohensteins, der auf Metaphern wie auf leichten
Blasen schwimmt," Bon ihnen nahm er „die Liebe zum Denken und den
Borzug der schweren Dichtkunst" an. „Nach meinen, Begriff muß man die
Aufmerksamkeit des Lesers niemals abnehmen lassen. Dies geschieht unfehlbar
aus eine mechanische Weise, sobald man ihm einige leere Zeilen vorlegt, wo-
bei er nichts zu denken findet. Ein Dichter muß Bilder, lebhafte Figuren,
kurze Sprüche, starke Züge und unerwartete Anmerkungen aufeinander häufen,
oder gewärtig sein, daß man ihn weglegt." —
In den Alpen ist-zweierlei zu unterscheiden, das dcscriptive Moment und
das sittliche. Was die Beschreibung betrifft, so vermißt man etwas, was man
bei dem Dichter der „Ewigkeit", der Millionen auf Millionen Jahre von ihr
abzieht um sie dann ungeschmälert zu finden, wol erwarten möchte, nämlich
das Element des Kolossalen und Gigautischen. Bon diesem ist in dem Ge¬
dicht sast gar nicht die Rede. Haller beobachtet die Natur der Alpen als Bo¬
taniker, er zerlegt sie in ihre kleinen Erscheinungen; in i.eder ist er tüchtig,
sinnig und bedeutend. Einen eigentlich poetischen Eindruck macht das Gedicht
keineswegs, namentlich da die Sprache mitunter durch sehr starke Härten entstellt
wird; aber es ist eine Lectüre, die sich noch heute lohnt, und aus der det
nächstfolgenden Dichter, auch Klopstock und Goethe, sehr viel gelernt habe».
Bei weitem wichtiger ist c,as sittliche Moment. Es ist noch nicht genug
darauf ausmelksam gemacht, daß Haller, dessen poetische Sprache nicht tue
entfernteste Spur von SeMimentalltät zeigt, in Bezug auf die Stoffe der Va¬
ter der deutschen Empfindsamkeit genannt werden kann, und daß er darin der
Lorgänger Rousseaus ist. den er vom christlichen Standpunkt so ernsthaft
bekämpfte. Das Pathos des ganzen Gedichts ist nämlich d>c Sehnsucht des
städtischen Patriciers, der in seinen Umgebungen nur Selbstsucht und Heu¬
chelei erblickt, nach freier unbefangener Natur. Dies Ideal der Natur sucht
er theils in der wirklichen Natur >in Gegensai) zur Menschenwelt (d,e Welt,
sagt Schiller, ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt Mit seiner
Qual!) — theils >n dem einfachen und beschränkten Leben der Alpenbewohner.
Dieses Leben, wie er es schildert, ist freilich ein Ideal, und die modernen
Dorfgeschichten haben ganz mit Recht nachgewiesen, daß Leidenschaft und Un¬
friede in der Hütte ebenso wohnen wie im Palast; aber es ist doch nur >o
el» Ideal wie das Deutschland des Tacitus oder der Frau von Staöl. Alle
dre, Schriftsteller schildern ihren Gegenstand im bewußten Contrast gegen
die Atmosphäre, die sie selber athmen, und durch diesen Contrast wird ihre
Anschauung gefärbt, aber eine wirklich sehr stark sinnliche Anschauung liegt
zu Grunde. Haller zeigt einen viel tiefern Blick als Geßner, da er seine
Sehnsucht auf ein wirkliches Bild heftet, während sich dieser in ein Fcenland
verliert, das er Arkadien tauft. Es ist überhaupt sehr interessant, bei den
Anfängen unserer schönen Literatur zu verfolgen, wie nahe die damaligen
Dichter dem Genre kamen, das wir heut das realistische nennen, wie aber
stets das Vorbild der vermeintlichen Antike dazwischen trat. So gibt z. B.
Aoß in seiner Schrift gegen Stolberg so außerordentlich schone Darstellungen
der gesellschaftlichen Naturzustände im Land Hadeln. daß wir heute gern ver¬
schiedene Luisen dafür hingeben würden, die Oden noch gar nicht mit gerechnet,
wenn er diese Vnder weiter ansgeführt hätte. Goethe hat in Hermann
und Dorothee mit dem Blick des Genius sogleich das Richtige getroffen, oö-
Slcich er jenen Naturzuständen viel ferner stand, in denen Voß wirtlich lebte
Und die er wol zu würdigen verstand, die er aber in der Poesie einem kindi¬
schen Unschuldsideal opferte.
Haller w.ar Berner Patricier und kannte auch als Gelehrter die hiel-
t>ehe Corruption sehr gut, die u, den höheren Ständen herrschte; wenn er
'br in den Alpen ein Ideal entgegenstellt, so charakterisier er sie in den drei
Mvßeu Satiren mit leidenschaftlichem Haß. Etwas Rhetorik ist freilich dabei
und namentlich in den „verdorbenen Sitten" geht das Bedürfniß der Dccla-
wativn nicht selten mit dem ruhigen Urtheil durch; aber grade in dieser teilten
Satire ist derselbe Grundton wie in den Alpen nicht zu verkennen. Sucht
" hier das Ideal patriarchalischer Zustände als Reisender, so findet er es dort
in der Geschichte. Die bedeutendste von jenen Satiren ist die „über die Falsch¬
heit menschlicher Tugenden," und man muß darauf achten, .daß sie sich haupt¬
sächlich gegen den Pietismus und Phnrisäismns wendet. Die Verachtung ge-,
gen die Missionäre, die bei den Heiden den Märtyrertod leide» und dasür bei
den Christen als Heilige angebetet werden, ist in den stärksten Worten ausge¬
druckt. („Ist denn der ein Held, der am verdienten Strick noch prahlt am
Galgenfeld?)" Nun kann man freilich sagen, daß dies zunächst den Katholiken
gilt, weil das protestantische Missionswesen noch nicht im Gange war; aber
die Sache bleibt dieselbe, und um keinen Zweifel zu lassen, wird zuletzt die
Lehre Epikurs verherrlicht:
Nicht jenes Wahngespcnft, das Zeno sich erdichtet,
Das nur auf Dornen geht, zum Elend sich verpflichtet,
Die Welt zu», Kerker macht, mit Müh sich Qual ert'lese,
Und unerträglicher als altes Uebel ist.
Später hat er freilich hinzugesetzt, Epikur sei ein PlagiariuS gewesen u. s. w.,
das ändert aber wieder an der Sache nichts: im Jahre 1730, als er jenes
Gedicht schrieb, stand er, der spätere Pietist, auf demselben Boden des Natu¬
ralismus und Deismus, auf den seine nachmaligen Gegner Voltaire und
Rousseau sich stellten. Ein Zug, der noch weiter in diesem Gedicht an
Roussinu erinnert, ist die Verherrlichung der Indianer; am freudigsten aber
würde Rousseau die folgenden Zeilen unterschreiben:
Von dir, selbstständig's Gut, unendlich's Gnadenmeer
Kommt dieser gute Zug wie alles Gute her.
Das Herz folgt unbewußt der Wirkung deiner Liebe,
Es meinet frei zu sein und folget deinem Triebe.
D. h. mit andern Worten: das Herz, wo es sich selbst folgt, ist gut; der
Pietismus dagegen lehrte: das Herz, wo es sich selbst folgt, ist böse. Dies
ist der große Gegensatz, der das achtzehnte'Jahrhundert bewegt; in Frankreich
bis zur großen Revolution, in Deutschland, bis ihm Kant eine höhere Lo¬
sung gibt.
Was deu Umschwung bei Hall er herbeiführte — er soll ums Jahr 17>^
stattgefunden haben — ist nicht vollständig bekannt, nach seiner eigenen An'
gäbe die Lectüre eines religiösen Buchs. Die beiden folgenden großen Ge¬
dichte „über den Ursprung des Uebels" 1734 und über „die Ewigkeit" N3<>
sind schon in der neuen Stimmung geschrieben; indeß drücken sie nicht eine
fertige Denkart, sondern nur das Ringen eines Geistes aus. der mit sich s^bst
in Unfrieden ist und die Lösung wohl hofft aber nicht findet. Die alte
Stimmung der Satiren dauert fort, nur wird die Invective diesmal von den
Verner Patriciern auf das ganze Menschengeschlecht ausgedehnt. Von jenem
christlichen Pharisäertum, welches alle „unwiedergeborne" Tugend läugnet.
ist hier noch keine Rede.
Dann folgt freilich eine Theodicee. die mehr der christlichen Ueberlieferung
entspricht, die aber in der Mitte ihres Laufs inne hält, offenbar weil sie sich
. nicht weiter zu rathen weiß.
Es ist noch über die beiden lyrischen Gedichte zu reden. „Doris" möch¬
ten wir gegen Mörikofer in Schutz nehmen. Es wurde in jener Zeit von jungen
Mädchen ohne Arg gesungen, es behandelt die sinnlichen Empfindungen mit mög¬
lichster Discretion und enthält nicht blos trotz seiner'Weitschweifigkeit wirklich sehr
schöne Stellen, sondern wird auch im Ganzen durch einen frischen lebendigen
Zug getragen. Haller selbst freilich sagt bei der spätern Ausgabe seiner Ge¬
dichte: „bei diesem Gedicht habe ich fast nicht mit mir einig werden können,
was mir zu thun zukäme. Es ist ein Spiel meiner Jugend. Was uns im zwan¬
zigsten Jahre lebhaft und erlaubt vorkommt, das erscheint uns im sechzigsten
thöricht und unanständig. Sollten wir uns nicht vielmehr der Eitelkeit unserer
Jugend als des unschuldigen Zeitvertreibs unserer Kindheit schämen? Aber da
einmal dies Gedicht in so Vieler Händen ist, da ich es aus denselben zu
reißen unvermögend bin, so muß ich dieses Angedenken einer herrschenden und
endlich in einem gewissen Verstand unschuldigen Leidenschaft nur aufrecht lassen.
Die Jahrzahl selbst w>rd das Uebrige erklären." — Das Gedicht ist nämlich
ein Jahr vor seiner Verheirathung gemacht, und Haller empfand sehr richtig,
daß, wer mit Marianne verheirathet ist, nicht solche Gedichte an Doris richten
darf. Aber er empfand sehr unrichtig, wenn er glaubt, daß uns im sechzigsten
-Mhr als unanständig erscheinen muß, was uns im zwanzigsten als anständig
erschien; unanständigrist es freilich, wenn der sechzigjährige fühlen will, wie er
"is Zwanzigjähriger gefühlt hat, aber eben so unanständig, wenn er dem
Zwanzigjährigen verargen will, so zu fühlen, wie er selber gefühlt hat. Uebrigens
hört man doch ans jenem pietistischen Stoßseufzer eine gewisse, wenn auch ver¬
haltene Vorliebe für die alte Empfindung heraus.
Was die „Trcmerodc an Marianne betrifft, so hat Mörikofer Unrecht,
wenn er den Anfang als das Schlechteste betrachtet. Der Anfang ist vielmehr
das Beste an diesem Gedicht, das sich zuletzt wieder in Weitschweifigkeiten ver-
klare. Schiller hat den Anfang auch nicht getadelt, sondern ihn nur als
charakteristisch für die sentimentale Poesie in, Gegensatz zur naiven dargestellt. Bei
größerer Belesenheit in den Alten würde er manche Parallelstelle gefunden haben.
Noch eine beiläufige Bemerkung. In der erwähnten Abhandlung über
naive und sentimentale Poesie, die sehr viel richtige Winke enthält, die man
aber um Alles in der Welt nicht als einen Abschluß betrachten darf, theilt
Schiller die sentimentale Poesie in Elegie, Satire und Idylle ein. Wir
sind überzeugt, daß ihn zu dieser Eintheilung, die sonst eigentlich durch gar
nichts gerechtfertigt wird, die Lecture Hallers bestimmt hat: hier die Satire,
dort das Alpenidyll, dort die Elegie an Marianne.
Ueber Haller als Kunstrichter hat Mörikofcr wenig gesagt, wir wollen
Einiges hinzufügen, da Haller seil 1747 in den Göttinger gelehrten Anzeigen
einen nicht unerheblichen Einfluß ausgeübt hat. Schon das Programm ist tref¬
fend und sehr umsichtig: er fordert eine scharfe und strenge Kritik, weil man
sonst gar nichtß nützt. Gleich im folgenden Jahr, unmittelbar nach dem Er¬
scheinen der drei ersten Gesänge des Messias, gibt er eine kurze Kritik —
soviel uns bekannt, die erste. „Uns ist diese neue Art von deutschen Versen
gar nicht anstößig, obwohl andere sein mögen, denen die vielen Dactylen
hüpfend und die Spondeen holpricht vorkommen. Wir lassen uns dadurch
gar nicht hindern eine ungemeine nachdrückliche, poetische und erhabene Kraft
in den Ausdrücken zu finden, die wir in unserer Sprache noch selten fo mil-
tonisch bemerkt haben." In der Vorrede zur Allsgabe seiner Gedichte von
1768 sagt er, rüden er seine eigene Methode rechtfertigt: „aber die Dichter,
die nach uns auf den deutschen Parnaß traten, gingen in dem neuen Schwunge
ihres Vortrags unendlich weiter. Sie entsetzten den Nenn von seiner so lange
-ungestörten Herrschaft und führten dabei das römische und griechische Sylbcn-
maß ein. Da aber die Trochäen und Dactylen im Deutschen fast unmöglich
den Wohlklang der Alten erlangen können, da der Spondeus im deutschen
Verse fast unerträglich ist, da die vielen E und die gehäuften Consonanten
die I, O, A und U der Alten und die fließende Abwechselung mit Selbst¬
lauter u nicht ersetzen können, so wurde der Urheber der deutschen Hexameter
genöthigt, dieser sich allzusehr der reimlosen Rede nähernden Art zu dich¬
ten durch andere Mittel den über die Prosa sich erhebenden Anstand der
Poesie zu geben. Man führte neue, zusammengesetzte emphatische Wörtcrein; man
gab selbst der Sprache eine neue Wortfügung, die mit den alten Sprachen näher
übereinkommt. Glückliche Dichter wagten sich an die neue Art zu dichten und
gaben ihr, wie alle großen Beispiele thun, einen Vorzug und den Beifall
des größten Theils der deutschen Nation." Er läßt das gelten, behauptet
aber für sich das Recht der alten Formen. — 1771 schreibt er in der Göttinger
gelehrten Zeitung: „freilich sehn wir lieber Klopstocks Werke sich vcrvielsälN-
gen, als die weiche Herzen der Jugend noch mehr erweichenden Werke der
sogenannten Anakrevntcn. Freilich verehren wir Klopstocks Liebe zur Tugend
und zu Gott. Ist schon unser Geschmack an die neuen Wendungen noch nicht
gewohnt, womit er die Sprache bereichert hat; finden wir noch immer, hin
und wieder sei man gegen Gott vertraulicher als es seine unendliche Größe
zulassen sollte, so hindern uns diese eingeschränkten Gefühle nicht, das Große
in Klopstocks Geist zu empfinden; so wenig wir uns an die neuen Sylben-
Maße gewöhnen, so wenig wir die Harmonie in vielen derselben fühlen: so
leben wir nicht aus dieses uns fremde Aeußerliche, das durch schwache Nach¬
ahmer so oft mißbraucht worden ist; wir sehen auf das Herz, auf die edlen
Gesinnungen und auf die athmenden Ausdrücke des Dichters."
Für Ossi an erklärt er sich 1765 mit größerer Wärme als ihm sonst ge¬
wöhnlich.« Er zweifelt nicht an seiner Echtheit.
Nicht ohne Interesse wird es sein, die Urtheile über Shakespeare zu¬
sammen zu stellen. Zimmermann sagt 1755 im Leben Hallers: „der Mensch
bringt zwar die Fähigkeit zur Dichtkunst mit auf die Welt, aber der Geschmack
bestimmt deu Werth eines Gedichts. Ein hinimlisches Feuer leuchtet aus
Shakcspears Werken hervor; die englische Nation stellt ihn meistentheils über
alle Sterblichen hinauf. Allein der Mangel des wahren Geschmacks und der
Regeln des Trauerspiels verstellt seine Schönheiten und macht sie einem Stroh-
feuer ähnlich, das eine große Flamme ausgibt und uns wol erleuchtet, aber
keine Wärme zurückläßt." — Haller sagt in den Gelehrten Anzeigen 1764:
'-Freilich ist Shakespeare ein Gemisch von Gold und Koch, aber das Gold
bleibt rein, wenn es schon nicht in allen seinen Gedichten herrscht." 1765 :
"Ein großer Theil seiner Schauspiele sind voll Concetti und unnatürlicher Aus¬
drücke, zwischen denen allerdings zuweilen etwas unverbesserlich Schönes her¬
vorschimmert." — Dann folgt 1766 das erste bedeutende Wort über Shakespeare
von Gerstcnberg. 1768 das unsterbliche von Lessin g. —1771 sagt Haller:
»Shakespeare hat unnachahmlich schöne Stellen, aber aus Mangel an Geschmack
in'le er in die niedrigsten. Es ist freilich wahr, der Geschmack seiner Zeit hing
Hanswurststreichen. Gelehrt war er nicht. Wir tonnen auch das Lob
N'ehe zugeben, daß er die Leidenschaften vortrefflich geschildert habe, wenigstens
nicht die Liebe." —!! —
In einem Brief an Gemmingen zieht Haller eine interessante Parallele
Zwischen sich und Hagedorn. — Beide haben mehr Geschmack als Kräfte.
Beiden war die Reise nach England sehr wichtig, denn die Bekanntschaft mit der
englischen Literatur lehrte sie die Bedeutung der Worte und stellte ihnen die
Ausgabe, mit den wenigsten Worten viel zu sagen. Beide hielten sich von
den antiken Maßen fern; auch der neue Schwung der Sprache tam ihnen oft
verworren und gezwungen vor. Aber Hagedorn lebte in der Gesellschaft
und trank gern Wein, Haller konnt? den Wein nicht vertragen und fühlte sich
am wohlsten in der Einsamkeit. Hagedorn war ein sorgloser Müßiggänger;
Haller lebte in strengsten Studien und war zur Schwermuth geneigt; er ar¬
beitete schwer, und dabei legte ihm die Sprache, die er erst lernen mühte,
große Schwierigkeiten in den Weg. — In der That fließe» seine französischen
Briefe viel leichter als seine deutschen Schriften.
Ueber seine Poesie schwankte seine Stimmung; sein Nuhm war ihm wol lieb,
aber die Beschäftigung mit weniger ernsten Gegenständen kam ihm doch fri¬
vol vor. I,g, ?o6sik, schreibt er 26. Mai 1737 an den Landvogt Simmer,
est si äWeilo Hu'on N6 x6ut ^ r<w8sü' 8g.ri8 edi'6 gcmi«, et qus1 äomirmg'u
xour im gvviv que as se reckuire s. t'airv ävs vors. — Das ist wieder
die Stimmung der Wolfschen Periode. Und dabei ist er doch fehr empfind¬
lich, wenn Andere so denken. Im trvimtÄM irn88i trivolv <^U6 1a. xoWiö,
schreibt er im August desselben Jahres, äevrait-it in'«blÄiüer? De u.6 1« l3.n-
it point? I^'Iromm6 68t a886i? col'rowM xour til'6l' vauit6 Ä'un Iradit, Ä'uns
reveriZirc:«, Ä'no edeval, 6t Lüi8-jo M6i11i6ni-M6 168 antr68? I>6L 1»nan^68,
irioir eder ami, ire valsnt rien pour von8. (juanck iriömo non8 N6 168 el/o^-
on8 M8 kineörL8, an moins nous ero^on8 riou« «inen^no MLiitv c^ni odli^
1e8 autre8 a 86 Ä0iM6r 1a xeinö ä6 keinäre 6n moti-6 kaveur.
Der wichtigste Fortschritt, den wir der Literatur von 1680—1750 ver¬
danken, war die Erhebung des Deutschen zur Schriftsprache. Haller, um so ver¬
dienstlicher, da er mit seinem Dialekt zu kämpfen hatte, war darin der wür¬
dige Mitarbeiter von Thomasius, Wolf, Gottsched u. s. w. Mehr und mehr
aber überwog bei ihm der Gelehrte, und 1778 fand er sich zu folgender H-erzcns-
ergießung veranlaßt: „Es ist offenbar ein Unglück, daß nicht alle Gelehrte, wenig¬
stens über die gründlichen Wissenschaften, lateinisch schreiben. Die Gewohnheit
der heutigen Nationen, daß jede in ihrer eigenen Sprache schreiben will, wird
zum unerträglichen Joch für die Gelehrten, die jetzt sechs bis acht Sprachen
verstehen müssen. Ob wir heutzutage wohl nicht wie ein Cicero schreiben, so ist
dennoch die lateinische Sprache unendlich schöner, reicher und wohlklingender,
als alle heutigen Sprachen; und wo Kürze und Nachdruck sein soll, wie auf
den Münzen und Steinschriften, müssen anch die Franzosen, die bestündige
Ausfälle gegen den Gebrauch der lateinischen Sprache thun, auf sie zu¬
rückkommen." — Aus solchen Stellen sieht man, wie nothwendig es war, ^
daß die Deutschen lernten, neben den „gründlichen Wissenschaften" auch an¬
dere Dinge zu treiben; ohne durch die Poesie ihre Sprache wiederzufinden,
wären die Deutschen ewig Parias geblieben. — Auch Kant wurde in den
siebziger Jahren von seinem Freunde Ruhnken sehr streng getadelt, daß er
sich des deutschen Idioms bediente, da er doch, wenn er Latein schriebe, der
ganzen Welt nützen könne.
Haller's Artikel in den Göttinger Anzeigen beschäftigen sich hauptsächlich
»ut den französischen Freigeistern^ — 1747 bringt er gegen Voltaire das
Argument vor. die christlichen Wunder seien durck, Augenzeugen bestätigte die
heidnischen nicht, 1748 vertheidigt er den „strengen, eifrigen Gott, der die
Sünden der Vater heimsucht" n, s. w,, gegen den bequemen von Dien des Deis¬
mus, — 1750 findet der Briefwechsel mit Lamettrie statt, der die Unver¬
schämtheit hatte, eins seiner fuchsten atheistischen Machwerke Haller zu widmen,
seinem angeblichen Lehrer und Zechbrüder. Es ist der Mühe werth, bei Znn-
mermann nachzulesen, wie damals die Sache aufgefaßt wurde. — Abgesehn
von den persönlichen Erörterungen gab Haller in der „Prüfung der Seele, die
an Allem zweifelt." 1750 eine — freilich, sehr politische — Widerlegung des
Atheismus: er wies nämlich die praktischen Folgen 5es Unglaubens nach.
Aus dem Atheismus folge die allgemeine Auflösung der Gesellschaft, die Herr-
schaft des Lasters, der Krieg Aller gegen Alle; ans der Liebe Gottes gehn
alle Tugenden hervor. Der sei noch kein rechter Atheist, der etwas Anderes
l'the als sich selbst. Auch bei dem Freigeist entspringe das wenige Gute.
was er noch habe, aus deu Resten des Christenthums. — Früher hatte Hal¬
le» wie Wolf und die Mehrzahl der damaligen Philosophen, in manchen heid¬
nischen Ländern, namentlich in China, eine vortreffliche Moralität gefunden:
jetzt zeigt er. daß Alles Lug und Trug sei. — Die Leugner eines rächen¬
den Gottes (also auch die Deisten) und eines ewigen Lebens schränken unsere
Glückseligkeit auf die kurze Dauer unsrer wenigen Jahre, und auf den Genuß
der Wollust, der Ehre, kurz auf'angenehme Empfindungen ein. — „Sollten
nichl". schließt er, „die Gelehrten, denen ein vorzügliches Maß der Erkennt¬
niß zu Theil geworden, sie ihrem Geber heiligen? und statt unnützer kleiner
Untersuchungen (Physiologie u. s. w.) das einzig Nothwendige, das Kreuz
Christi, mit Rührung. Wehmut!) und Nachdruck predigen? Und sollte nicht
e>n jeder Christ in seinem eigenen Busen den Keim des Uebels auszurotten
sich bestreben, und bei sich selbst anfangen, dem Unglauben die überzengen-
'den Beispiele eines wahren Christen entgegenzustellen? gegen welche die Götzen
des Heidenthums und die Prahlereien der Weltweisheit wie die Schatten der
Reiche beim Anbruch der Morgenröthe verschwinden." —
Indem er 1750 Buffon wegen seiner Erdichtungen ziemlich schroff zu¬
rückweist, vertheidigt er doch den „Nutzen der Hypothesen." Freilich habe
Cartesius durch sein leichtfertiges Construiren die Forschung zur Indolenz ver¬
führt, und die Verbesserung der Vergrößerungsgläser und anderer Mittel der
Beobachtung habe der Wissenschaft mehr genutzt als alle aprioristische Grübelei.
Wollte man aber die Hypothese — den natürlichen Ausdruck der menschlichen
Neugier — ganz aufgeben, so würde die Menschheit erstarren. Die Hypo¬
thesen sind nicht die Wahrheit, aber sie führen zur Wahrheit, wenn auch
auf Irrwegen, wie z. B. die Alchymie. — Ein System erinnere an den Ehr¬
geiz bei Alexander dem Großen: es werfe eine unzählige Menge Fragen auf,
errege die Polemik u. s. w. — Die kleine Schrift verdient, noch heute be¬
herzigt zu werden.
Gegen Voltaire (1751—1757) nimmt er namentlich Luther in Schutz;
die abenteuerlichen Ideen des Präsidenten der berliner Akademie, Mauper-
tuis (z. B. das Recht der Wissenschaft, an Verbrechern Experimente in anima,
piu zu machen) widerlegt er mit sittlichem Ernst; Rousseaus Ideen sur
l'im^alles xarmi Jos liommes, bespricht er mit Antheil (1756), wenn auch mit
Spott: ein allzu Heller Verstand könne zur völligen Verrückung führen; dagegen
tritt er ihm (1759) in seinen Augriffen gegen die Unsittlichkeit des Theaters
völlig bei, und belegt sie mit Beispielen aus Molivre: die eomväiö tar-
in0Mirts erscheint ihm noch als die unschädlichste Gattung der Dramen. Gegen
Hnm e vertheidigt er (1765) die Art, wie die Franzosen die Leidenschaften an
dem Theater darstellen, da sie auch im Leben an Zurückhaltung gewöhnt sind
ihre Galanterie dagegen verwirft er ganz. — Helvetius bespricht er (1759)
mit Abscheu, auch gegen Voltaire wird er immer härter. „Witz. Ironie, flüch¬
tige Gelehrsamkeit, herzhafte Bejahung ohne Beweis und ein brennender Haß
gegen die Offenbarung: dünn verschleiert mit einiger Achtung für die Tugend
und dem allgemeinen Glauben an Gott. Ueberall sprühen Funken von dem
verzehrenden Feuer dieses Skeptikers." —
1 772 schrieb Haller die „Briefe eines Vaters an seine geliebte Tochter
über die wichtigsten Wahrheiten der Offenbarung." die ursprünglich bestimmt
waren, den Schluß seines Romans Usong zu bilden: allein er scheute sich,
Gedanken über ewige Dinge mit einer Geschichte zu verbinden, „worin von
Liebe und Kriegen und andern Geschäften des gemeinen Lebens die Rede ist." —
— „Die neuen Weisen, heißt es darin, haben ihren Hochmuth so weit
getrieben, daß sie das Verderben des menschlichen Herzens leugnen,
oder nur auf wenige, auf die größten Missethäter, auf ihre Feinde ein¬
schränken." — Die Verderbtheit der menschlichen Natur bedingt die Er¬
lösung. — „Der erste Anblick dieses Geheimnisses ist von einer Höhe,
worüber der Verstand erstaunt, worüber unsre Weisheit schwindet und die
Kräfte der Vernunft einsinken. Der Ewige, das unbegreifliche Wesen zeichnet
sich eine der kleinsten Erden aus; er beherzigt das Heil einiger Würmer, die
auf dieser Erde ihre Nahrung finden, er theilt sich so, wie der Einzige sieh
theilen kann, er vereinigt sich innigst mit einem dieser Sterblichen, er legtet
die Gedanken, die Thaten, die Lehren desselben durch die Stufen des Lebens
eines Irdischen bis in einen elenden und' schmachvollen Tod." — Das ist wohl
nicht recht orthodox. Den Beweis für die Wahrheit der Offenbarung findet Haller
in, den Weissagungen des Alten Testaments und deren Erfüllung namentlich
durch die Auferstehung. — Die Hauptsache ist aber: „man muß die Beweise
der Religion selbst einsehn, selbst fühlen, selbst mit allen Kräften des Ver¬
standes und des Herzens bejahen, wenn sie unsern Leiden widerstehn sollen,"
„Wie wir unendlich viele Drnge nicht wissen, so kennen wir auch nicht genau
die metaphysische Weise, wie die göttliche Gnade uns erleuchtet, wie sie auf
uns wirkt. Niemand aber wird ernstlich sich Gott ergeben haben, der die
Wirkung der Gnade nicht ebenso entscheidend empfunden habe, wie er die
Triebe der Lunde gefühlt hat. Das Feuer, womit die Gnade unsere Triebe zur
Besserung beseelt, die Flammenschrift, womit sie die Erkenntniß unserer Un¬
Würdigkeit in das Herz gräbt, das brennende Verlangen nach dem Gefühl der
göttlichen Begnadigung, sind Empfindungen, deren-der Mensch bei allem sitt¬
samen Genuß seiner Vernunft vollkommen fähig ist."
Denn sie sind da, und wo sie nicht da sind, hat man doch das Bedürfniß nach
etwas Aehnlichem. — Haller war von dem allgemeinen Glaube» an die
Güte der menschlichen Natur, wo sie sich selbst treu ist, ausgegangen; verbun¬
den mit dem besondern Gefühl der Korruption seiner Umgebungen und der
Schwäche seines eignen Herzens. Er suchte zuerst, wie später Rousseau, das Ideal
in der Naturwelt; seine Isolirtheit nöthigte ihn, das Ideal in der Gnade d. h.
im Unbestimmten zu hoffen. Er fand es nicht, er blieb bis an den Tod im
Unfrieden, — Die obigen Stellen sind aus einer Zeit, wo bereits die Giau-
bensphjlosophen sich regen: Lavater, bald auch Jacobi. Ueber ihre Be¬
ziehung zum Kirchenglauben haben wir schon Mehreres gesagt; wir behalten
Briefwechsel und Gespräche Alexanders v. Humboldt mit einem jun¬
gen Freunde aus den Jahren 1847—1856 (Berlin, Franz Dunker) — „In unserm
schreibenden, lesenden Deutschland," sagte Humboldt den 30. Juli 1856 zu seinem
»jungen Freund, „hat ein Mensch wie ich das Unglück, als eine Art Wunder und
Kuriosität betrachtet zu werden. Alle drängen sich an ihn heran, als ob er der
"nzige Vertreter der Wissenschaft wäre. Hiezu kommt dann noch meine Stelle am
Hofe, so daß ich nicht blos Briefe von wissenschaftlichen Menschen erhalte, sondern
von Leuten aller Art' angehenden Poeten, Putzmacherinnen, Vorsteherinnen wohlthätiger
Anstalten, die mir Arbeiten zum Verkauf bei der königlichen Familie antragen, oder
um Geldgeschenke und Unterstützung bitten, und unzählige Dinge dieser Art. Auch meine
wissenschaftliche Korrespondenz ist immer noch im Zunehmen begriffen. Deutschland,
Italien, England, Fräuleins, Amerika stürzen sich aus mich mit einem wahren Bombarde¬
ment von Briefen, ich empfange gegenwärtig sedes Jahr durchschnittlich 3000 Briefe
und beantworte etwa 2000. Meine Ausgaben an Postgclo belaufen sich auf
l>00—K00 Thaler. —"
Daß der Herausgeber die vorliegenden Briefe, in denen sich Humboldts große
Herzensgüte ausspricht, werth und heilig hält, ist sehr begreiflich; aber man denke
jährlich 2V00 Briefe! Wenn das Alles gedruckt werden sollte, dürste es zuletzt doch
zu viel werden. —
Christliche Selbstgespräche von Michael Baumgarten. (Rostock, Leo¬
pold.) — Der Verfasser sucht seinen gemäßigten religiösen Standpunkt sowol gegen
deu Pharisäismus des strengen Kirchenthums als gegen den Atomismus der Secten
festzuhalten. Seine Betrachtungen sind sinnig und kommen aus dem Herzen; gegen
die Gegner ist er milde; in der Form könnte er etwas bestimmter und gedrängter
sein. Seine Persönliche Stellung wird mit Recht dazu beitragen, dem Buch Leser
zu verschaffen. —
Der Staatsminister v. Raumer und seine Verwaltung des Ministeriums des
geistlichen Unterrichts und der Medicinalangclegcnheiten in Preußen. Berlin, Hertz,) '
Die Schrift ist augenscheinlich von einem Vertrauten des verstorbenen Ministers, aber
sie gibt wenig neue Aufschlüsse und beschränkt sich fast ausschließlich auf eine Ver¬
herrlichung seiner Thaten und Bestrebungen vom Standpunkt der Kreuzzeitung.
„Zukunftsmusik." Brief an einen französischen Freund als Vorwort zu
eiuer Prosaübcrsetzung seiner Opcrndichtnngcn von Richard Wagner. —'(Leipzig.
I. I. Weber.) — R. Wagner sucht die Mißverständnisse seiner frühern Schriften
„Oper und Drama" und „das Kunstwerk der Zukunft" zu beseitigen; er schildert
sie als Ausflüsse einer durch verschiedene Vorfälle gereizten und an der Wirklichkeit
der Bühne verzweifelnden Stimmung: seine eigentliche Aufgabe sei nicht die Theorie, so>^
dem die Praxis der Kunst. Im Ganzen aber bekennt er sich noch zu den alten
Grundsätzen. — Diese Grundsätze sind seinerzeit in diesen Blättern ausführlich
gewürdigt worden. —
Einige große Wochen europäischer Politik -sind vergangen. Die Thron¬
besteigung König Wilhelms von Preußen, die Thronreden in den großen Ver¬
fassungsstaaten Europas, die Verhandlungen der zweiten preußischen Kam¬
mer über die Adresse. Ueberall das Bestreben, die scharfgespannten Gegen¬
sätze zu versöhnen, den Frieden zu erhalten, die Kräfte, welche den friedlichen-
Verkehr vermitteln, zuversichtlicher zu machen. «
Uns, den Deutschen und Preußen, waren die letzten Verhandlungen des
Abgeordnetenhauses zu Berlin von so großer Wichtigkeit, daß darüber fast
das Interesse an der feierlichen Rede der beiden mächtigsten Herrscher Euro¬
pas zurücktrat. Schon jetzt, wo diese Verhandlungen erst beendigt sind, darf
Man die Ueberzeugung nussprechen, daß sie einen segensvollen Einfluß auf die
Regierung und die Stimmung des Volkes ausüben werden. Furchtsame
Loyalität wird beklagen, daß einzelne heitlige Punkte so offen zur Sprache
gebracht wurden, entschlossene Oppositionslust wird bedauern, daß den Ministern
von den Kammern nicht entschiedener entgegengetreten sei, im Ganzen wird
jeder besonnene Mann mit Freude, ja mit einigem Stolz dem Verlauf der
Debatten gefolgt sein, und er wird, so hoffen wir, als das beste Resultat
der Verhandlungen die Befestigung des gegenwärtigen Ministeriums durch die
Majorität erkannt haben.
Der Kampf, welcher in Preußen seit dem Tage von Coblenz und den
berliner Polizeiaffairen zwischen der öffentlichen Meinung und dem Ministerium
schwebt, und die Verhandlungen zwischen den Führern der zweiten Kammer
und denselben Ministern, welche in schweren Zeiten ihre Parteigenossen und
Führer waren, sie werden im Auslande, wie gespannt man ihnen durch
ganz Europa folgte, schwerlich nach voller Bedeutuug gewürdigt werden.
Auch der Deutsche wird sie, in irgend einer Zukunft, mit dem herzlichen
Lächeln betrachten, mit welchem etwa ein großer Künstler des sechzehnten
Jahrhunderts aus die treuherzigen und ungelenken Altarbilder aus der Zeit
seiner Väter zurücksah. So viel Redlichkeit, warmer Patriotismus, guter Wille
und daneben welch schwierige, wunderliche Verhältnisse einer Uebergangsperiode.
und wieder neben der reichsten Manneskraft wie viele jugendliche Unbehilf-
lichkeit. sowol im Ministerium, als in der Majorität der Kammern. Größten-
theils nicht durch Schuld der Personen, sondern der allgemeinen Verhältnisse
des Staats. Aber über allem Mangelhaften und Unbefriedigenden gerade in
dem gegenwärtigen Zustand zugleich die Garantie für eine große und macht¬
volle Entwicklung: Tüchtigkeit, Ehrlichkeit, Freimuth.
Es ist in diesen Blättern nicht selten dargestellt worden, wie das Leben
des Staates, an welchem unsere Liebe und alle unsere Hoffnung hängt, unter
den beiden letzten Regierungen verkümmert war. Nur für die Fremden soll das
hier wiederholt werden. Ucbergroß war die Erschöpfung, welche in Preußen auf'
die Freiheitskriegs folgte, und verhüngnißooll wurde es für die Zukunft eines
mäßig großen ausgesogenen Staates, daß die gesammte männliche Jugend für
die Existenz des Vaterlandes drei Jahre ans den Schlachtfeldern geblutet
hatte. Die freie Lebenskraft der Nation war gefährlich vermindert, viele der
geistigen Führer waren im Felde geblieben, Viele, welche den Beruf hatten,
es zu werden, fanden nach dem Frieden in dem erschöpften und furchtbar ver¬
armten Lande ihre eigne bürgerliche Existenz gefährdet, sie blieben in der Sub¬
ordination des Heeres, in dem Mechanismus des Beamtenthums hängen.
Noch war Handel und Industrie im Verhältniß zur Gegenwart wenig ent¬
wickelt, verhältnißmäßig selten der behagliche Wohlstand des Einzelnen,
noch war der Beamtenstand die einzige Laufbahn, in welcher der gebildete
Mann, der ohne Vermögen emporrang, sein Interesse am Staat bethätigen konnte.
So fehlte der Regierung, was ihr selbst Kraft und Energie zu geben vermag,
eine verständige, ununterbrochene Controle ihrer Handlungen, eilte tüchtige
öffentliche Meinung. Sie wurde nach außen gegen das Lebensinteresse Preußens
eine, wenn auch nicht immer willige-, Dienerin des geistlosen Bestrebens,
zu conserviren, welches unter dem Namen des Metternich'schen Systems
bekannt ist. Wie wohlthätig das sparsame, nüchterne, geregelte West»
Friedrich Wilhelm des Dritten für die Entwicklung innerer Hilfsquellen war.
nach außen hat er nicht verstanden, dem Selbstgefühl seines Volkes den ener¬
gischen Ausdruck zu geben, welcher die Theilnahme des Einzelnen an den
Geschicken des Vaterlandes steigert und das Verständniß der höchsten Inter¬
essen des Staates in weiten Kreisen populär macht.
In welcher Weise die Persönlichkeit seines Nachfolgers gewirkt hat, wird
jetzt noch so allgemein und lebendig empfunden, daß es genügt, an Einzelnes
zu erinnern. Das Bedürfniß neuer Lebensformen für den Staat entwickelte
sich aus dem Volke im Kampfe gegen die Intentionen des Monarchen. Auf
die Revolution folgte eine engherzige, gewissenlose Reaction. Die Herze»
wurden schwer verbittert, in die gesammte Gesetzgebung kam ein Schwanken,
fast der gesammte Bau des Staates erschien wie ein Interim. Furchtbar er-
schüttelt durch die Unarten der Revolution zog der König selbst in tendenziöser
Begünstigung des Junkerthums neue gefährliche Unarten der Reaction groß.
Ein tragisches Geschick war es, daß in diesen Kämpfen sein eignes Leben ver¬
düstert wurde und erlöschte.
So begann die neue Zeit für Preußen. Sie fand den Staat in einer
Desorganisation, die viel größer war, zum großen Theil noch ist, als selbst
die Mehrzahl der Preußen empfindet. Es war allerdings keine Verwüstung,
wie sie Alter und Lebensunfähigkeit hervorbringt, im Gegentheil das Neben-
-einanderstehen unfertiger neuer Bildungen und unhaltbarer alter Traditionen.
Ueberall Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und Forderungen nach Neuem oder
dem beseitigten Alten. Die Un selb Mündigkeit und Erfolglosigkeit aller Operationen
des auswärtigen Amtes hatte die Staatsmänner und Diplomaten Preußens in
unerhörter Weise ruinirt. Die alten Kräfte waren gestorben und entfernt,
eine neue Schule war durchaus nicht vorhanden; nirgend dachte man kleiner
und geringer von den hohen Aufgaben Preußens, als da, wo die Ueber¬
zeugungen am sichersten, das Urtheil am größten sein mußte. Auch
das Heer war in vierzig Friedensjahren eingerostet. Seit der Zeit des großen
Kurfürsten und Friedrich's II. umschloß die Armee das Terrain. in welchem die
Prinzen des Hauses Hohenzollern herauswuchsen, der Armee gehörte ihre
Thätigkeit, der Militärdienst erschien als ihr natürlicher Beruf. Früher, als
"> einem andern Staate, war in Preußen Brauch, daß fast alle Prinzen im
Dienst zu Generalen, heraufkommen mußten; aber selbst die lebhafte Theilnahme
des königlichen Hauses vermochte nicht alle Uebelstände so langer Friedenszeit
beseitigen, ja sie zog einige neue groß.
Der Stolz des alten preußischen Beamtenstandes war, vermindert,
seine Integrität war in dem letzten Jahrzehnt gefährlich verringert worden.
Als König Wilhelm die Regentschaft übernahm, fand er einen Staat.
Welcher zwar einige von den Formen einer constitutionellen Monarchie besaß,
"ber immer noch weit davon entfernt war, ein Verfassungsstaat zu sein.
Nicht deshalb, weil die Willkür des alten Beamtenthums factisch noch im
schreienden Gegensatze stand zu mehrern gesetzlichen Bestimmungen der Ver-
sussungsurkunde. auch nicht weil diese Verfassung selbst noch unfertig war,
den Ministern die Verantwortlichkeit fehlte, das Herrenhaus ein Conglomerat
unfähiger und unberechtigter Kräfte war, sondern noch mehr aus anderen Grün¬
den, den maßgebenden noch für die gegenwärtige Physiognomie Preußens.
Noch waren die Grenzen der persönlichen Regierung des Monarchen nicht fest¬
gesteckt. Grenzen, welche freilich nicht durch ein Gesetz zu reguliren sind, nur durch
die Praxis eines längern und kräftigen Verfassungslebens. Der König erkannte in
seinem Staat allerdings eifrige Parteigegensätze. Sehr erfreulich war der Fort¬
schritt, den die politische Bildung des Volkes in den letzten zwölf Jahren gemacht
hatte, aber noch schien die öffentliche Meinung keine so imponirende Gewalt, daß
sie mit Sicherheit eine Negierung gegen die Angriffe der Gegner gehalten hätte.
Die Presse war eben erst durch acht Jahre in tendenziöser Weise beschränkt,
oft gemißhandelt worden, sie that grade jetzt wieder ihre ersten freien Athemzüge.
Endlich die Führer der Parteien waren nicht in jedem Sinne zur Uebernahme
eines hohen Staatsamtes geeignet; nur wenigen von ihnen war die Politik Le¬
bensberuf, dem Parteileben fehlte jede Schule und viel von der Erfahrung und
Routine, welche sowol im innern als im auswärtigen Amt den Ministern nöthig
sind. Die Führer waren mannhafte Landgentlemen oder höhere Beamte, die
zum Theil aus dem Staatsdienst geschieden waren, mehrere von ungewöhnlicher
Begabung, durch elf Jahre stürmischer und aufreibender Kammerverhandlungen an
das parlamentarische Leben gewöhnt. Sie hatten viele Selbstverleugnung und
einen heldenhaften Patriotismus bewährt, hatten vielleicht persönliche Opfer ge¬
bracht, um die Wintermonate hindurch in der Residenz zu leben, aber sie waren
durchaus nicht fertig und bereit, aus ihrer Mitte die gesammte große und noch
überkünstliche Negicrungsmaschine zu dirigiren. Unter solchen Umständen that
der damalige Regent, was seiner ehrlichen und biedern Art als das relativ
Beste erschien, er wählte in sein Ministerium solche Männer, deren persönliche
Ehrenhaftigkeit und Intelligenz er in frühern schweren Zeiten kennen gelenk
hatte, das heißt Männer, welche ihm persönlich ergeben waren und mehr
oder weniger einem gemäßigten Liberalismus anhingen. Daß zwei Minister
des frühern Regiments beibehalten wurden, der eine als praktische Kapacität,
der andere, wie es den Anschein hatte, nur vorläufig, daß ferner ein Fürst
'des Hauses Hohenzollern, dessen erlauchtes Haupt in einem verantwortliche"
Ministerium nicht wol zu denken war, mit dem Präsidium des neuen Mini¬
steriums betraut wurde, das Alles wurde vom Volke recht wol verstanden, so
wie es gemeint war. Es war die Absicht, durch ein solches Ministerium
braver Männer, reiner Namen das Vertrauen zwischen Regierung und Volk
wiederherzustellen, größere Redlichkeit, würdigere Haltung in die Verwaltung
einzuführen. Haß und Mißtrauen zwischen den einzelnen Parteien allmälig zu
vermindern. Ueberall sollte gebessert werden, dabei aber die Gegenpartei,
welche einen großen Theil der einflußreichsten Beamtenstellen, den größten Theil
des Heeres, fast den gesammten Landadel umfaßte, möglichst geschont werde»,
schon deshalb, weil man der Ansicht war, Dienste und guten Willen dieser
beträchtlichen Zahl nicht entbehren zu können.
Neben dem vielen Guten, das unter solchen Verhältnissen gethan werden
konnte, ergab die Wahl und Zusammensetzung des neuen Ministeriums sofort
auch Uebelstände, welche noch jetzt dauern und besonders charakteristisch für
den gegenwärtigen Standpunkt der Staatsentwickelung sind.
Die Minister waren zu ihren Aemtern nicht emporgetragen durch die Kraft der
Volkswünsche, welche mehre von ihnen als Leiter der Majorität in den Kammern
dargestellt hatten, sondern als persönlich Getreue und als persönlich wackere Män¬
ner. Als erste Pflicht erschien ihnen, die Person des Fürsten, auf dnn jetzt die Zu¬
kunft Preußens beruhte, nach allen Seiten festzustellen, ihn selbst und das neue
System mit den zahlreichen Persönlichkeiten, welche dem alten gedient hatten,
zu befreunden, und doch zu gleicher Zeit ihrem Herrn eine edle Popularität zu
erwerben. Es war eine große Aufgabe für loyale Herzen, aber diese Aufgabe
war nicht ganz ohne Gefahr für sie selbst. Denn nicht die unwiderstehliche
Kraft einer einflußreichen Partei, sondern der freie Entschluß, die patriotische
Einsicht und die zufällige Huld des Regenten hatte sie zu seinen Dienern gemacht.
In der traditionellen Umgebung des Hofes, in den höchsten Kreisen des
Staates standen sie. die liberalen Männer, fast allein gegen eine ungeheure
Mehrzahl, welche, in den entgegengesetzten Anschauungen erzogen, voll Abnei¬
gung und Erbitterung auf die neue Ricktung sah. Der Fürst, der ihnen
in dieser feindlichen Umgebung sein Vertrauen bewahrte, an dem sie selbst
mit warmer Verehrung hingen, mußte geschont werden; was ihn ver¬
letzen und irren konnte, sorgfältig von ihm fern zu halten, erschien als das
Nothwendigste. So gewöhnten sie sich, großem Werth auf die Stimmungen
und Anschavungen ihres Fürsten zu legen, als auf die Forderungen der öffent¬
lichen Meinung und ihrer Parteigenossen.
Nie war ein Bruch mit der Vergangenheit größer und heilbringender
gewesen, als der von 1858. Der ganze Enthusiasmus, mit welchem das
Volk dem neuen Regenten cntgegenjauchzte, beruhte auf der Ueberzeugung,
daß dieser Bruch mit der letzten Zeit, welche so arm an Intelligenz, Redlich¬
keit und Ehre war, gründlich, unwiderruflich, eclatant sei. Aber man wollte
den Schein annehmen, als ob man an die Vergangenheit ohne starken Ein¬
schnitt anknüpfen könne. Pietät gegen den kranken König, der Mangel an
fnschen Kräften in der Diplomatie und höhern Verwaltung, sowie die
Scheu vor der geschlossenen Opposition des Hofes und der Laudjunkerpartei
erhielten bei dieser Taktik. Es wurde bald klar, daß die Minister auch
dadurch in schiefe Stellung zu ihren eignen Parteigenossen kommen mußten.
Die bittre Abneigung, mit welcher die Majorität der Preußen auf die nächste
Vergangenheit zurücksah, wurde geschärft durch die demüthigende Empfindung,
daß man viele ungesetzliche Uebergriffe, viele schwächliche Tyrannei geduldig
^tragen hatte. Das Volk verdammte mit den Jahren der Reaction die eigne
dumpfe Schwäche. Das Rechtsgefühl. welches oft und widerwärtig verletzt
Worden war, begann gegen verhaßte Persönlichkeiten, die im Amte geblieben
waren, aufzubäumen, vielleicht nicht in jedem Falle den Grad der individuellen
Verschuldung genau abwägend, aber doch im Ganzen mit der höchsten Berechti¬
gung, leidenschaftlich erregt und stürmisch fordernd. Die Minister hatten bei
der wichtigsten Frage der neuen Regierung, der Militärorganisation, die ge¬
wöhnliche Klugheit versäumt, sich zu rechter Zeit mit ihren Parteigenossen in
Verbindung zu setzen und in vertraulicher Berathung mit diesen die öffentliche
Meinung mit den Intentionen des Monarchen zu vereinigen, bevor die Ge¬
setzentwürfe zur Vorlage festgestellt waren. Sie begingen jetzt einen andern
Fehler, sie verkannten, daß die Entlassung einzelner mißliebiger Beamten nicht
von dem Parteicifer allein, sondern von der öffentlichen Moral gefordert wurde,
und daß es Perioden im Leben eines Volkes giebt, wo ein weiser Staats¬
mann nur durch das bereitwilligste Eingehen aus solche Forderungen den
Fürsten, das Ministerium, das Volk selbst vor unabsehbaren Kämpfen und
Leiden bewahren kann.
So begann der Kampf um die Adreßdebatte. Aber er hatte von vorn
herein eine Schranke wieder in den eigenthümlichen Verhältnissen Preußens.
Die Minister hatten ihr Amt zum großen Theile ohne den rastlos thätigen
Ehrgeiz übernommen, welcher wol in andern Ländern den Staatsmann nach
der Höhe treibt und in seinem Amte festhält. Die Mehrzahl von ihnen trug
ihr Amt mit warmem Pflichtgefühl, aber sie empfanden auf ihren Ministcr-
stühlen noch oft, am lebhaftesten vor den Kammern, daß es voll von Mühen
und aufreibender Arbeit war. Sie hingen nicht daran und waren jeden Tag
bereit, zu resigniren, sobald ihnen die Last zu groß wurde. Und ganz ähnlich
empfanden die Führer der parlamentarischen Majorität. Auch Herr v. Vincke
würde unter den gegebenen Verhältnissen keine Freude empfunden
haben, eine Ministerstelle zu übernehmen. ja er und seine Partei würden in
Verlegenheit gewesen sein, die höchsten Staatsstellen aus ihrer Mitte zu be¬
setzen, selbst wenn denkbar gewesen wäre, daß die Majestät der Krone bei einer
Abdication der gegenwärtigen Minister sofort bereit gewesen wäre, ein Mi¬
nisterium aus der Kammermajorität zu bilden. Man durfte als sicher annehmen,
daß das nicht der Fall war. Ein solches Verhältniß wird bei Nationen, deren
politische Parteien durch hundertjährigen Kampf organisirt sind und eine Menge
Ehrgeiz und Geschäftsroutine in sich entwickelt haben, sehr ausfallend erschei¬
nen, es ist ganz natürlich bei einem Volke, das immer noch von mäßigem
Wohlstand, immer noch unter Vormundschaft der alten Bureaukratie ausge¬
wachsen, erst seit zwölf Jahren mit den Anfängen einer Verfassung versehen
ist. Deshalb aber war der Gegensatz zwischen den Ministern und der live-^
raten Kammerpartei von der Art, daß beide Theile im letzten Grunde d>e
Verpflichtung hatten, zu schonen und Concessionen zu machen. Dies ist rü
einer Weise geschehen, welche wir für so erfreulich halten, wie wenig Momente
in der kurzen parlamentarischen Geschichte Preußens.
Die Minister waren der zweiten Kammer, d. h. der gebildeten Majorität
ihres Volkes gegenüber in einigem Unrecht. Sie hatten in der italienischen
Frage, in der Frage über Beamtenentlassung, in ihrer Arbeit für größere Con-
centration der deutschen Kraft, dem Stolz und den Ueberzeugungen eines großen
Theiles der Preußen, einer starken Mehrheit der liberalen Partei, nicht völlig
Genüge gethan. Es war im Innern des Landes bereits viel Groll, eine
große Entmuthigung zu erkennen, die Meinung des Auslandes. — wir meinen
hier nicht zumeist England — bezweifelte bereits die Fähigkeit der Preußen,
in der Gegenwart eine würdige Rolle zu spielen. Die Adreßdebatte hat diese
Stimmung wie mit einem Schlage umgewandelt. Die Redlichkeit und
Loyalität der Minister wird jetzt nach Gebühr gewürdigt; die Tüchtigkeit
und Energie der parlamentarischen Majorität hat überall mit Respect er¬
füllt. Und, o Wunder! sogar die Times ist zum Lobredner Preußens gewor¬
den und tritt sür unser Recht in Schleswig-Holstein auf. Die liberale Opposition
gegen die Minister hat in zweien der Hauptpunkte, in der Bcamtenfrage und
der italienischen Frage, dem Ministerium gegenüber ihre Ueberzeugungen
mit Energie geltend gemacht; sie hat sich begnügt, in der deutschen
Frage warirlen Ueberzeugungen. einen gemäßigten Ausdruck zu geben,
weil eine zweite Niederlage des Herrn v. Schleinitz das Ministerium zu
einem bedenklichen Entschluß zu treiben drohte. Und wir meinen, die
Kammermajorität hatte Recht, nicht weiter zu gehen, denn durch die Kämpfe
einer Woche war Alles erreicht, was im Augenblick zu erreichen war.
Einige unentschlossene und halbe Maßregeln des Ministeriums waren vor
Europa und der Empfindung der Preußen wieder gut gemacht worden, das
Ministerium war trotz der kleinen Wunden, welche es in der Debatte erhalten
hatte, in der öffentlichen Achtung höher gestellt, es war so viel Freimuth,
Ehrlichkeit, Gewissenhaftigkeit und politisches Urtheil zu Tage gekommen,
daß das Verfassungsleben Preußens selbst durch die Debatte neue Befestigungen
"halten hat.
Wie peinlich den Ministern diese Tage gewesen sein mögen, sie vor allen
wogen damit zufrieden sein? sie sind durch die Angriffe, die sie erfahren haben,
wie durch die Antworten, die sie selbst gegeben, von manchem Mißverständnis?
und Zweifel gereinigt worden, der sich auch an ihre reinen Namen gehängt
hatte. Von Herzen wünschen wir, daß kein Stachel in ihrer Seele zurück¬
bleiben möge. Niemand verlangt von ihnen, daß sie Sclaven der öffentlichen
Meinung sein sollen, aber sie hatten sicher zu wenig auf die starke und
hvchbcrcchtigte Empfindung des Volkes geachtet, welche in den Stimmungen
der Intelligenten und in ihrer Presse laut wurde, deren einzelne Aeußerungen
wol immer durch kluge Argumente widerlegt werden können, die alle zusam-
we» aber den Beginn einer starken Strömung ausdrücken, welche ein Staats-
Wann mit Achtung zu beobachten alle Ursache hat.
Der größte Dank aber gebührt der liberalen Opposition. Man hat ihrem
Führer Vincke den Vorwurf gemacht, daß er zu großen Mangel an Schonung
und Discretion an den Tag gelegt und rücksichtslos alte Freunde und Kampf¬
genossen mit seinen Streichen getroffen habe. Nie ist. im Ganzen betrachtet,
ein Vorwurf weniger gerecht gewesen. Gerade die rücksichtslose Offenheit, das
Aussprechen des Details, was Millionen in der Seele lag und von Millionen
als ein schwerer Vorwurf gegen die Regierung Preußens geltend gemacht
wurde, gerade das hat der Negierung mehr wohl gethan, als irgend welche
diplomatische Schonung. — Die Blitze seiner Rede, welche nach allen Richtun¬
gen hin und her fuhren, sie haben für den Augenblick die Luft gereinigt.
Ob er Herrn v. Zedlitz zu viel gethan oder nicht, das wissen wir nicht. Wenn die
schwebende Untersuchung beendet und in ihrem Detail der Oeffentlichkeit zugänglich
gemacht worden ist, wird die öffentliche Stimmung dem Nachfolger Hinkcldeys
bereitwillig jede Genugthuung geben, zu welcher er berechtigt ist.' Daß aber
mehre empfindliche Uebelstände unserer höheren Verwaltung gerade so scharf
und rücksichtslos ausgesprochen worden sind, das hat den kleinlichen Haß und
ein gewisses boshaftes Mißtrauen, welches bereits von unten auf gegen das
höhere Beamtenthum Preußens zu arbeiten drohte, glänzend niedergeschlagen.
Zahllose, welche die persönlichen Angriffe dieser Reden gelesen und gehört,
sind deshalb stärkere Männer geworden, weil sie das Vertrauen gewonnen,
daß ein heimliches Vertuschen unleidlicher Verhältnisse in Preußen nicht mehr
möglich ist. und daß es eine Stelle giebt, wo ein unabhängiger Mann das
Stärkste sagen darf, wo bei den höchsten Dienern des Staats das Gefühl
der Verantwortlichkeit sich gebieterisch geltend macht. Und wenn Allen Dank
gebührt, welche in der Adreßdebatte wirksam eine Ueberzeugung vertreten haben,
der größte gebührt doch dem unermüdlichen tapfern Abgeordneten für Hagen.
Wer das noch bezweifeln kann, der werfe einen Blick auf die Presse des Auslandes.
Welcher Unterschied gegen die Beurtheilung Preußens vor wenigen Wochen!
Und die Kammer hat wahrlich nicht um den Beifall der Fremden gebuhlt-
Auch Herrn von Vincke wird an der goldenen Denkmünze, welche ihm Fremde
schlagen, wenig gelegen sein. Und wer dann noch zweifelt, der betrachte die
erhöhte Stimmung in Preußen selbst, das gestärkte Vertrauen, die warme freu¬
dige Theilnahme, mit welcher die Deutschen außerhalb Preußen den Verhand¬
lungen folgten. ,
Aber der beste Grund zur Freude liegt nicht in dem augenblicklichen Er¬
folge. Er liegt darin, daß das Haus der Abgeordneten, welches berufen ist-
die politische Intelligenz des preußischen Volkes darzustellen, bei wichtiger Ver¬
anlassung dargethan hat, wohin bereits der Schwevpunki der öffentlichen An¬
gelegenheiten sich zu neigen beginnt. Er ruht nicht mehr allein in dem
Beherrscher des Staats, wie geliebt, maßvoll, weise derselbe immer sei, nich
mehr vorzugsweise in den Ministern, wie patriotisch und vslichtvoll diese auch
in ihren Aemtern stehen, sondern er liegt schon zum großen Theil in der
Intelligenz und dem Gewissen des Volkes und seiner Vertreter. Und dieser
erste Fortschritt ist Preußens Bürgschaft für größere. Vieles ist dort noch zu
thun, mancher herbe Streit wird noch durchgefochten werden, ehe der Staat
aus den alten Formen herauswächst und die Lebenskraft sich auszudehnen
und anzuziehen gewinnt, die Kraft, auf welcher die Zukunft Deutschlands
beruht; aber wir alle, die wir um dem jungen Staat der Hohenzollern hängen,
wir vertrauen fest, diese Zeit wird it>in und uns kommen. Und die Bürgschaft
dafür sehen wir darin, daß dreizehn Jahr nach den Debatten des vereinigten
Landtags Verhandlungen möglich waren, wie die Adreßdebattcn im Hause
Die Jagd ist nicht mehr, was sie war. Leider nicht mehr, was sie in
der alten guten Zeit war! seufzt das Echo aus den Schlössern, wo die nobel»
Passionen zu Hause sind. Gott sei's gedankt, nicht mehr, was sie in der
alten bösen Zeit war, meinen die Bauern, die sich von ihren Großvätern er¬
zählen ließen, was die Waidmannslust ihrer Landesväter für sie zu bedeuten
hatte.
Die naiven alten Zeiten sind vorbei, wo Landgraf Philipp von Hessen
^ „zum Erbarmen" fand, daß „grobe filzige Bauern sich weigerten, seine
Kühe (die Hirsche) in ihr Feld gehen zu lassen, da er doch ihre Kühe in
seinen Wald lasse." Vergangen sind die ebenso gerechten als verständigen
alten Zeiten, wo durch Verordnungen dem Landmann untersagt war,
seine Aecker durch Zäune gegen Wildfraß zu schützen, andere Verord¬
nungen ihn zur Verstümmelung und Lähmung seiner Hunde nöthigten, wieder
andere ihn zu jeder Jagd als Treiber preßten. Mit Betrübmß lesen unsre
Junker von den prächtigen alten Zeiten, wo der Herr Großvater mit Sere-
"issimo zur Parforcejagd ritten und kein Recht so unartig war, ihnen den
Weg durch die Kornfelder und die Kohlgarten des Bauernvolks zu sperren;
schweren Herzens von den anmuthigen muntern Zeiten, wo die selige Frau
Großmutter, damals noch gnädiges Fräulein, fürstlicher Durchlaucht beim
Fuchsprellen Gesellschaft leistete»; von den glücklichen Zeiten, wo ein Hirsch-
gerechter Waidmann mehr in Ehren gehalten wurde als ein, tüchtiger Professor,
wo ein guter Jägerhof mehr galt als gut geordnete Finanzen. Wehmüthig
blickt der Freund mittelalterlicher Zustände auf die wildpretgcsegneten Zeiten
zurück, wo einer jener sächsischen Nirmode, die nebenbei auch Fürsten hießen,
wo der erste Johann Georg sich am Schluß seiner vierundvierzigjährigen Re¬
gierung rühmen konnte, die ungeheure Zahl von 15,290 Hirschen erlegt zu
haben, wo sein Nachfolger im Jagen und Regieren deren in vierundzwanzig
Jahren sogar 13,636 Stück fällte," wo die Hunde beider fürstlicher Herren zu¬
sammen binnen nicht viel mehr als sechzig Jahren über 50.000 Wildschweine
für den Jagdspieß stellten. Während ein Hirsch von 4 Centnern jetzt eine
Seltenheit ist, kamen solche von 6, ja 9 Centren in dem Jägerparadies, das
einst in Sachsen, Hessen und Würtemberg blühte, häusig vor, und während
in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts allein in Sachsen durch¬
schnittlich jedes Jahr neun Hirsche von 16 und zwei bis drei von 18 Enden
geschossen wurden, vergehen jetzt in ganz Deutschland Jahrzehnte, bis ein
Thier von solcher Endenzahl erlegt wird, und es ist begreiflich, wenn 183s
Herzog Heinrich von Würtemberg ein derartiges durch ihn herbeigeführtes Er-
eigniß mit den Worten anzeigte: „wofür ich der schönen Diana Hände und
Füße küsse."
Mit der Jagd im großen Styl ists leider zu Ende, wie es mit der gan¬
zen Welt zu Ende ist, in welcher die Staaten als Rittergüter der Fürsten an¬
gesehen wurden, in welcher Hirsche und Sauen nach der Meinung adeliger
Herren „starben," Bauern nur „krcpircn" konnten, und in welcher ganz kurz
vor ihrem Untergang noch die für ihre ganze letzte Periode charakteristische
Klage vorkommen konnte: „Euer Königlichen Majestät Allerhöchste Sauen
haben meine allerunterthänigster Kartoffeln gefressen."*)
Schon Friedrich der Große hatte sich im „Antimachiavell" entschieden
gegen die Jagd ausgesprochen, Joseph der Zweite befohlen, die Wildschweine
auf Parks zu beschränken und sie außerhalb derselben wie Naubthiere zu be¬
handeln, der eine und der andere einsichtigere Fürst in den übrige» deutsche''
Ländern ähnliche Milderungen der alten Praxis eingeführt. Aber noch lange,
in manchen Gegenden bis weit in unser Jahrhundert hinein, am längste» >n
Würtemberg und Sachsen, währte es, bis die Jagd in der alten Weise ni>6
Unfug erkannt, das Menschenrecht mit dem Fürstenrecht ausgeglichen und das
zu diesem Behuf erforderliche Opfer gebracht wurde. Noch vor fünfzig Jah>er
wiederholte sich in wenig gemildertem Grad ein vielen Orten das Elend, wo¬
rüber eine Hessen-lasset sehe Verordnung von 1V65 in ergreifender Weise
geklagt hatte.
Es ergingen gelegentlich Befehle zur Abtreibung und Wegschiesmng des
Wildes, aber kurz daraus berichtete man, wie es in jener Verordnung heißt"),
daß dasselbe „dennoch ganz zahm und ohne Scheu im Felde und bis an die
Stadtthore herumzugehen, sein Lager in den besten Fruchtfeldern zu nehmen,
die Kälber auch allerdings hineinzusetzen Pflege, welche sich dann als im Feld
geheckt und erzogen, sogar darin gewohnet, daß sie auch den Wald nicht kennen,
sondern vielmehr scheuen und weder durch der Feldhüter Absetzen, Wehren,
Schrecken, Trommelschläger und anderes Getöne, Geruf oder Geschrei, noch
auf andere Weise daraus und in den Wald zu bringen wären. Wozu sich
dann das Wildpret aus den hohen Gemälden, bevorab im Frühling, häufig
herbeiziehet, deu Samen bis zum ersten schossen zwei oder drei Mal abäset,
"ach der Hand sich in die Wiesen begiebet, dieselben gleichfalls rein auffrißt,
und wenn das Heu gemacht und die Frucht einen süßen Kern zu setzen und
ZU reifen beginnet, alsdann wiederkommet, den Nest vollends abäset und ver¬
kitt, sodaß nichts als das Geströh, Trespen und Spitzen von Aehren dem
Ackersmann anstatt der zu hoffenden reichen Ernte übrig bleibet und ... die
Fütterung für seine Pferde, Nind- und Schafvieh also entzogen wird, daß dan°
nenhero und wegen dessen Mangel das Vieh verhungert und demnach die von
Frucht, Vieh, Wolle und Leder dabevor sonst gehabte gute Nahrung verschwin¬
det und des Ackermanns angewandte Kosten, saure Mühe und Arbeit alle um-
>onst und vergebens, deswegen auch viele seit dem Frieden wohl ausgestellte
Felder in großer Anzahl von Neuem wiederum zu wüstem Recht liegen bleiben
und anders nichts als Wüsteneien von ganzen Dorfschaften erfolgen werden."
Wir halten uns mit keinem Vergleich der Nachtheile und der Vortheile
der alten Jagd auf, sondern gönnen dem Bauer, in sein Gott sei Dank
Anstimmend, einfach die Freude, daß er nicht mehr seine Kühe verhungern zu
^sser braucht, damit die der Fürsten und Edelleute fett werden. Die Jagd
>se heutzutage fast allenthalben so weit beschränkt, als es die Regeln einer er¬
leuchteten Volkswirthschaft und die Interessen der zur Mitherrschaft gelangten
"der heranreifenden mittlern und untern Stände gebieten. Sie hat in ihrer
gegenwärtigen bescheidenen Weise nur noch entfernte Aehnlichkeit mit dem
Unfug von ehedem, und mit ihr hat sich auch der Jäger sehr wesentlich ver¬
wandelt.
Der heutige Forstmann ist vorwiegend Waldwirthschafter, sein Revier nicht
l" sehr Stall, wo Wild gemästet wird, als Feld und Garten, wo Holz wächst.
Er ist zahm und gesetzt geworden und besitzt in der Regel, da er eine Schule
zu besuchen und ein Examen zu ndsolviren hat, mehr oder weniger Bildung.
Zwar spricht er, gleich dem Bergmann, dem Studenten und dem Handwerks¬
burschen noch die Sprache seines Standes, aber die alten Waidspruche wissen
nur noch wenige auswendig, und von dem feierlichen Ceremonie!, mit welchem
seine Vorgänger ihr ganzes Thun und Treiben umgaben, ist nur da ein Rest
geblieben, wo es künstlich erhalten wurde. Der Jagdkalender gilt fort, so¬
weit er an die Natur anknüpft. Die Jagerkünste haben wenig Raum, wo
die Forstcultur alle Kräfte für ihre Kunst und Wissenschaft in Anspruch nimmt,
und die Büchsenmacher Gewehre bauen, die keines Zaubers bedürfen, um sicher
zu schießen. Der Aberglaube, das Märchen und die Sage der waidmännischen
Welt haben sich in den tiefen Wald und das ferne Gebirge geflüchtet, wo sie
einst entsprangen. Nur die Jägcrlüge soll hier und dort auch im Flachlande
noch häusig angetroffen werden. Seiten wird noch der Ton des Hifthorns ge¬
hört, aber wenn damit ein gutes Theil Poesie aus der Welt gegangen ist, so
können wir uns trösten: es war eine Poesie, die für drei Viertel des Volkes
ein Fluch war, und die auch denen, die sie allein genossen, wie alles Ueber¬
maß nicht zum Segen gereichte.
Im Nachstehenden versuchen wir ein Stück dieser versunkenen Welt
wieder aufleben zu lassen, indem wir den Förster schildern, wie er vor hun¬
dert Jahren und in abgelegenen Waldeinsamkeiten noch in weit späterer Zeit
in Haus und Forst, in Wort und That und namentlich bei großen Hirsch¬
jagden, den Haupt- und Staatsactionen seines Wirkungskreises, sein Hand¬
werk betrieb.*)
Wir sind auf einer Waldblöße, und vor uns liegt das Jägerhaus, be¬
schattet von alten Bäumen. Den First des moosbewachsenen Strohdachs
schmücken Hirschgeweihe, an den Giebel sind mit ausgebreiteten Flügeln Uhus
und andere Raubvögel genagelt. Hinter dem Hause zieht sich ein kleiner
Garten mit etlichen Gemüsebeeten und Obstbäumen hin, wol auch ein Stück
Feld, das dem Förster von einem Vetter oder Geatter im nächsten Dorfe
bestellt wird. Schon von fern begrüßt uns Gebell von Rüden, in das sich
Gekläff von Dächseln und Gewinsel von jungen Hunden mischt, die von dem
Meister oder dem Burschen mit Peitsche und Stachelhalsband in die Geheim¬
nisse des Jägereinmaleins eingeführt werden. In den Hof getreten, sehen wir
in einem Winkel einen Fuchs an der Kette, der uns mit schlauem Blinzeln
fragt, ob wir etwa der gute Einfältige sind, der ihm Gelegenheit zum Ent¬
wischen geben soll.
Wir gehen, ohne uns viel zu besinnen, über die Hausflur, wo an den Wän¬
den Scheiben, Netze und allerlei Fallen hängen, in die Stube. Der Jäger ist
ein rauher Gesell, aber er wird uns freundlich aufnehmen, namentlich wenn
wir für das edle Waidwerk Sinn haben und in seiner Sprache mit ihm reden
können. Das Zimmer ist sehr einfach möblirt: ein Tisch, ein paar Stühle,
eine Lade und ein mächtiger Kachelofen. Im Uebrigen weiß man nicht, ob
es mehr Naturaliencabinet oder Apotheke oder Rüstkammer ist. Auf Simsen
stehen mit gläsernen Augen ausgestopfte Vögel. Iltisse, Marder, vielleicht auch
die eine oder die andere Haseiunißgeburt, Auf den Fensterbrctern finden wir
Büschel von Kräutern und Wurzeln, Töpfe, Flaschen und Gläser mit seltsam
ausschauenden Gemengen und Abkochungen zur Bethörung des Wildes, zu
allerlei Gewehrzauber. In der einen Ecke säugt eine Dachshündin ihre schma¬
tzenden und quiekenden Neugebornen, in der andern lehnt ein blanker Sanspieß.
Bücher gibts nicht, denn ein gewehr- und hirschgerechter Jäger hat seine Kunst
im Kopfe. Dagegen blitzen die Wände von Schrotflinten und Büchsen, Wnid-
mcsscrn und Hirschfängern. Bon Bildern, wie sie die heutigen Herren Förster
in ihren hübschen Stuben haben, ist ebensowenig zu finden; höchstens hat
unser guter Freund einen heiligen Hubertus mit seinem Hirsch oder eine Ge-
nvfevn mit ihrer Rehkuh oder eine große bunte Saujagd, wie man sie auf
dem Jahrmarkt kauft, an die Kammerthür geklebt.
Wir nehmen an, daß wir den Förster in einer Zeit trafen, wo ihn der
Wald nicht sehr in Anspruch nimmt. Er brant in diesen stillen Wochen seine
Kunstwässer, die ihm Hasen und Füchse zulaufen lassen, schmilzt Pfeifen und
Sprenkel, richtet Lockspeisen und Fallen zu, flickt die Jagdnetze und widmet sich
der Erziehung des Nachwuchses seiner Hunde, und dabei ist immer Muße, uns
von seiner Lebensweise, seinen Freuden und Leiden, seinem Wissen und seinem
Glauben zu erzählen. Auch manches schöne Abenteuer werden wir von ihm
Mähren, und wenn dabei ein paar mächtige Lügen mit unterlaufen sollten, so
dürfen wir ihm das nicht übelnehmen; denn es gehört zum Handwerk.
Er lebt hier sehr einsam, schon der schlechten Wege halber. Gelegentlich
spricht ein Bursch vor, ihm seine Dienste nnzubieteu, bisweilen hört er die
Flinte eines Wilddiebes knallen. Jährlich ein paar Mal wird er auf das
benachbarte Jagdschloß befohlen, um im grünen Galarock und mit neuen hirsch¬
ledernen Hosen angethan Se. Fürstliche Durchlaucht oder den gestrengen Herrn
^wfcn zu einer Sauhatz, einer Htrschfeltung oder einer Auerhahnbalz zu be¬
gleiten. Um die Weihnachtszeit geschieht es wol auch, daß sich der weniger
willkommene Besuch des wildeu Jägers einstellt, bei dem ein verständiger
Mann, wenn er nicht gerade fort muß, zu Hause bleibt. Sobald der erste
Schnee fällt, im December oder Januar, beginnt die Wolfsjagd, bei der ihm
die Bauern der Nachbarschaft und die Jäger der anstoßende» Reviere helfen,
Im Februar wird Junker Rcineckeu vors Quartier gerückt. Im Juni hebt
die Hirschfeiste an, die bis zum August dauert, von wo an nur gepirscht wird,
und das letzte Viertel des Jahres füllt die Sauhatz ans. Dazwischen gibt es
Hasenhetzen, Benzen und allerlei Werk der Vogelstellern. Auch ist fleißig nach
den Salzlecken zu sehen und zu sorgen, daß das Wild im Revier bleibe, sowie
daß es sich an bestimmte Orte gewöhne, und wir erfahren jetzt, was es mit
den Flaschen und Töpfen auf dem Fensterbret für eine Bewandtniß hat, von
denen einige unsere Geruchswerkzeuge fast so übel berühren, als die cingethran-
ten Aufschlagsticfcln unseres Freundes, die an einem Faden aufgehangen in
der Ofenhölle trocknen.
Der Förster kann, wie die Mehrzahl seiner Standesgenossen. „mehr als
Brot essen," und sein kecker Gesell draußen bei den Hunden, von dem niemand
recht weiß, von wo er hergelaufen, soll sich bei trunkuem Muth in der Schenke
vermessen haben, noch mehr zu können. Der Meister will ihn darüber mit
guter Manier wegschicken, sobald sichs thun läßt; denn er mag keine Gottlosig¬
keit im Hause haben. Hat doch der sündhafte Bursch — nun, er wird es uns
erzählen, wenn wir allein sind.
Im Folgenden theilen wir einiges von dem mit, worauf sich unser Förster,
sich zum Nutzen, Andern zu Schaden und Schabernack versteht. Als Menschen
des neunzehnten Jahrhunderts glauben wir an die wenigsten dieser Künste
noch. Wem sie nur zweifelhaft erscheinen, mag sich gelegentlich damit versuchen.
Um vor wilden Schweinen sicher zu sein, hängt sich unser Jägersmann
Krebsscheeren an den Hals; um sich vor Wölfen und Bären sicher zu stellen,
reibt er sich den Leib mit Lömenschmalz ein. wobei wir uns nur fragen, von
wo er sich dieses echt verschafft haben mag. In der Schachtel da auf dem
Sims ist das Mittel, mit dem man das Wildpret in die Gange gewöhnt, in
die man es haben will: Bresenkraut wohl gedörrt, Holluuderlaub vor Pfingsten
gebrochen. Kramweidenstauden und Salz zu gleichen Theilen, alles zu Pulver
gestoßen. streut man dieses bei Sonnenuntergang auf eine bestimmte Stelle,
so zieht sich alles Wild der Nachbarschaft dahin und besucht später täglich
diesen Ort.
Noch wunderbarere Wirkung haben die braunen Kugeln in der Glasbüchse
daneben. Sie sind aus Kümmel gemacht, der durch ein aus Bilsenkrautsamen,
Mohnkörnern und der Wurzel Succesquieum gepreßtes Oel verbunden ist-
Wirft man sie in ein Feuer, so zieht dessen Rauch alle Thiere aus dem Holze
nach der Flamme hin. Nur der Bär findet den Geruch nicht lockend.'
Weniger reinlich und anmuthig ist das am Fenster zum Destillirer auf
gestellte Mittel, mit dem der Förster seinen Feinden das Wild aus ihren Ne-
vieren verscheucht. Er hat eine läufische Hündin geschlachtet — besser wäre
eine Wölfin gewesen — ihr beide Augen, das Gehirn und das Mark genom¬
men, das Wasser aus der Blase dazu geschüttet und klein gestoßncn Teufels-
drcck darunter gerührt. Nachdem es etliche Tage an der Sonne geweicht ist,
wird er es seinem Gegner an den Zaun seines Thiergartens streichen, und der
Mann kann sicher sein, daß sich alles Wildpret von dort wegziehen wird, so¬
bald es die Witterung davon bekommt.
Unser Förster weiß ferner die wundersamsten Künste, wie man Hirsche
sich vor die Flinte lockt, daß sie zu mehr als einem Schuß stehen, daß sie
sogar ihre Vettern und Oheime mitbringen; wie man Wölfe in ganzen Ru¬
deln herbeiködert und einschläfert, so daß sie sich mit Knüppeln todtschlagen
lassen; wie man sie vergiftet; wie man sie von Ställen und Gehöften fern
hält, und er hat mit letztgenanntem Kapitel seiner Wissenschaft, so kurz es ist
- man vergräbt nur einen Wolfsschwanz unter der Schwelle — seine Ein¬
nahmen mit manchem blanken Gulden oder Laubthaler verbessert, Zahlreich
und zum Theil ergötzlich sind die Recepte, mit denen er die Schlauheit des
Fuchses in Thorheit verwandelt, ihn sich nachzutraben nöthigt, ihn ins Netz
zu springen zwingt; wie er die gestimmte Hasenschast einer Flur zur Lands¬
gemeinde versammelt; wie er desgleichen mit wilden Gänsen und Enten thut.
„Nimm Elchenmisteln." sagt unter anderm eine seiner Regeln, „und das Krau
Merdion oder Silicum, hänge es sammt einem Flügel von einer Schwalbe
an einen Baum, so werden sich alle Vögel, die innerhalb einer Meile sind,
dahin versammeln."
Daß er alle Feinheiten des Unterrichts der Hunde inne hat, versteht sich
von selbst. Das beste junge Hündlein ist das, welches zuletzt von einem
Wurfe sehen lernt, und das die Mutter zuerst in den Mund nimmt und in
ein anderes Nest trägt. Um junge Hunde an sich zu gewöhnen, bindet er
sich ein Stück Brot unter die Achsel, läßt es wohl durchschwitzen und gibt
es dann dem Thier zu fressen. Ebenfalls gut ist, ihm dann und wann in
den Mund zu speien. Auch nicht zu verachten ist der Rath, ihm ein Katzen-
herz zum Fraß zu reichen. Vor dem Tollwcrden bewahrt er seinen Wald-
u>ann, indem er ihm Frauenmilch zu saufen giebt. Hat ein Hund, der toll
scheint. Jemand gebissen, so weiß der Jäger sofort Rath, wie man erfährt,
ob die Wunde wirklich giftig ist. Er nimmt einen Bissen Brot, taucht ihn
'n die Wunde und giebt es einer Henne zu fressen. Verzehrt sie es und stirbt,
so ist der Biß schädlich, und dann darf man ihn wenigstens vierzig Tage
^et>t zuseiten lassen. Ein treffliches Recept, Hunde, die gebissen worden, vor
dem Wüthendwerden zu schützen, besteht darin, daß man auf ein Zettelchen
°>e Worte „Hraiu> quiram ektraw eakratremquv oakratrosyuv" schreibt und
das Papier dem Thiere in einem El eingiebt.
In erster Reihe der Obliegenheiten eines Jägers steht die Pflege seiner
Gewehre, zu der bei unserm Freunde ein gutes Theil von dem gehört, was
wir in das Gebiet des Zaubers verweisen. Er ist indeß ein frommer Christ
und befaßt sich nur mit der weißen Magie. Die schwarze und ihren schlie߬
lichen Lohn, die Hölle, überläßt er seinem Burschen, der zu seiner Zeit schon
inne werden wird, wohin el» Pakt mit dem Gottseibeiuns führt.
Um Schrot oder Hagel auf vierzig Schritt eng zusammenzuschießen, stößt
der gewehrgercchte Jäger auf das eingeschüttete Pulver Rehhaare, dann wie¬
der etliche Körnchen Pulver, dann nochmals Haare. Um zu machen, daß die
Kugeln gewaltig durch Alles hindurchschlagen, gießt er sie aus drei Theilen
Wismuth und zwei Theilen Blei, löscht sie in Weingeist ab und stößt, wenn
er sie brauchen will, unter und über sie ein wenig Wachs. Kugeln in Knob¬
lauchssaft oder Jungsrauenwachs vom ersten Honig gelöscht, und solche von
Kupfer, Zinn. Antimon und Arsenik thun ähnliche gute Dienste.
Hat der Förster in diesen Recepten Schüsse, die ihm die Spitzkugel unsrer
Tage ersetzen, so besitzt er andere, die als Aequivalent für die ebenfalls noch
nicht erfundenen Revolver und Zündnadelgewehre gelten mögen. Wenigstens
versteht er es, aus einer Flinte fünfzehn bis zwanzig Schüsse hinter einander
zu thun. Er ladet das Rohr mit Pulver und einer Kugel, schüttet dann
wieder Pulver darauf, setzt davor einen Filz mit einem Loch und eine Kugel
mit einem Loch, dann Büchsenpulver fein zerstoßen und mit Baumöl ange¬
feuchtet und so fort, bis der Lauf voll ist, worauf das Ganze mit einer Lunte
von vorn angesteckt wird.
Andere Kunststücke eignen sich vorzüglich, wenn es gilt, einem Wild¬
schützen einen Denkzettel zu geben, ohne ihn zu verwunden. Ladet man Biel¬
asche statt der Kugel, so schießt mau ihn, daß er blau wird und eine ganze
Stunde nichts von sich weiß. Stößt man einen naßgemachten Zundstrick von
einer halben Elle Länge auf das Pulver, so wird er getroffen, daß er sich
überschlägt, schadet ihm aber sonst nichts.
Will der Jäger sich eine Büchse zubereiten, mit der er alles Federwild
durch den Hals treffen kann, so verschafft er sich vom Scharfrichter einen
Nagel, mit dein der Kopf eines armen Sünders auf das Rad genagelt wor¬
den ist. und läßt sich davon beim Büchsenschmicd auf sein Gewehr ein Bisir
und ein Korn machen, und zwar muß dies im Zeichen, wo der Schütze regiert,
und in der Stunde des Mars geschehen. Ein solches Rohr darf aber nicht
nach der Scheibe oder nach einem Hasen oder überhaupt anders als zur Jagd
auf gefiederte Thiere gebraucht werden, da es in diesen Fällen verdorben wird-
"en-
Vielartig sind die Anweisungen, sogenanntes „stilles Pulver zu mach
Man nimmt unter andern einen lebendigen Maulwurf, calcinirt ihn in einem
verschlossenen Topfe, mischt etwas Borax hinzu, thut davon ein Loth unter
vier Loth Schießpulver, das zuvor mit Branntwein angefeuchtet und wieder
getrocknet worden ist, schüttet noch ein wenig zerstoßenes Hnndsbein hinzu und
gewinnt damit ein Pulver, das ohne Knall wie eine Windbüchse wirkt. Oder
man mischt Büchsenpulver mit Schwcfelstaub, Wurmmehl und dem Blut eines
junge» Böcklcins, was dieselbe Wirkung hat.
Die Miniebüchse trägt an tausend Schritt, die verbesserte Enfieldbüchse
noch weiter. Unsern alte» Waidmann würde das nicht Wunder nehmen. Er
hat von einem vorüberreisenden Jägerburschen ein Recept zu einer Komposi¬
tion gehört, welche die Kugel noch viel weiter treibt. „Nimm Salpeter,
destillire ihn zu Wasser und den Schwefel zu Oel. das Salmiak auch zu
Wasser. Nimm Oleum Benedictum nach dem Gewicht. Dieses zusammen
vermischt mit sechs Theilen Salpeterwasser, zwei Theilen Schwefel, drei Thei¬
len Ammoniak und zwei Theilen Oleum Benedictum. Lade die Flinte mit
Loth, gieße den zehnten Theil des Wassers hinein und zünde es behende an,
so geht der Schuß auf dreitausend Schritt."
Um sicher zu schießen, gießt unser Freund seine Kugeln, wenn die Sonne
in den Schützen getreten ist. was im November zu geschehen pflegt, oder auch,
wenn der Mond den Schützen berührt, d. h. wenn im Kalender der Schütze
drei Tage auf einander steht. Hierzu gehören folgende merkwürdige Hand¬
griffe-, man sticht oder schneidet an solchen Tagen Mittags in der zwölften
Stunde solche Kalenderzeichen heraus und thut beim Kugelgießen allemal eins
davon in das Modell, dann wird man mit solchen Kugeln niemals fehlen.
Andre bedienen sich andrer Vorschriften. Der Nachbar im nächsten Revier
wirft klein geraspelte Spähne von einer Eiche, in die der Blitz geschlagen, in
die Form, mit der er seine Kugeln fertigt. Ein zweiter College mischt unter
sein Schießpulver die Asche von einem Strick, mit dem ein Dieb gehenkt
worden. Ein dritter nimmt Herz und Lunge von einem Wiedehopf, der nie
auf den Erdboden gekommen, und bindet sie sich auf den linken Arm. Wieder
andere mischen beim Gießen das Herz einer Fledermaus unter das Blei.
Noch andere suchen sich vor Georgi eine Natter. hauen ihr den Kopf ab,
stecken in die Augen und in den Mund eine Erbse und graben den Kopf
unter einer Brücke ein. über die man reitet und führt. Nach sieben Wochen
und drei Tagen gehen sie hin, nehmen die unterdeß gewachsenen Erbsen,
stoßen sie zu Mehl und vermischen das mit ihrem Pulver.
Unfehlbar treffend werden alle Geschosse, wenn man Folgendes beob¬
achtet. Man verschafft sich einen schwarzen Haushahn, der aber keine einzige
weiße Feder haben darf, schlachtet ihn mit einem neuen Messer, nimmt das
H^z heraus und legt es in ein Loch in einer Mauer. Nach neun Tagen.
>n derselben Stunde, in der man es hinein gethan, geht man wieder hin
und findet einen Ring, den man an einen Finger der linken Hand steckt.
Der Jäger hat Neider und Feinde. Er hat bei der letzten hohen Jagd
vorzüglich geschossen, nud der Nachbar gönnt ihm das nicht. Er hat einen
Bauer im Holze gepfändet oder ihm seinen Hund weggeblasen, weil er ih»
ohne den vorschriftsmäßigen Knüppel am Halse im Felde traf, und der Bauer
hat gedroht, ihm das gedenken zu wollen. Der Förster hat einem nichts'
nutzigen Burschen den Dienst gekündigt, und der Schlingel sinnt darauf, wie
er dem Meister einen Possen spielen kann. So hat dieser sich sorgsam zu
hüten, daß ihm nicht Verdrießliches geschehe. Es kommt z. B. vor, daß böse
Leute es so einzurichten wissen, daß ihm sein Gewehr nicht losgeht, was sie
einfach dadurch bewirken, daß sie Messer und Gabel aus der Scheide ziehen
und die letztere an den Ort des Messers verkehrt einstecken. Es geschieht
ferner bisweilen, daß sie ihm auf seiner Schießstätte heimlich eine Sperrkette
überzwerch vor der Scheibe eingraben, wo er dann niemals die Scheibe zu
treffen im Stande ist. Das Gewöhnlichste aber in solchen Fällen ist, daß
ihm der Nebenbuhler oder Gegner „einen Waidmann zu setzen" sucht. „Wenn
einer ein Nohr ausputzt," erzählt unser Förster, „und ist etwa einer,dabei,
der einem mißgönnt, daß man ein gewisser Schütze sei, so wissen ihrer viele
durch dieses Mittel einem alle Schüsse zu verderben. Sie geben nämlich nur
Achtung, daß sie etwas von den Lumpen bekommen, mit welchen das Rohr
ausgeputzt wordeu ist, bohren hernach ein Loch gegen Morgen in einen Eichen¬
baum, thun die Lumpen hinein und schlagen das Loch mit einem Keil oder
Pflock von Hagedorn gemacht wieder zu, so ist derjenige, von dessen Nohr sie
die Lumpen bekommen, mit Schießen verderbt. Denn wenn er hernach auf
ein Wild anschlägt, fängt er über alle Maßen an zu zittern, auch hält das
Wild ihm keinen Stand, hat auch vor der Scheibe oder sonst niemals keinen
gewissen Schuß, es wäre denn, daß die Lumpen wieder aus dem Baume
genommen würden, und dies nennt man einen Waidmann setzen."
Wer sich davor hüten will, muß, so oft er ein Rohr auswischt, die Lap¬
pen nehmen und sie entweder in fließendes Wasser oder in ein Feuer oder
auch in ein heimlich Gemach werfen. Gut gegen alle Verzauberung der Ge¬
wehre sind auch folgende Mittel: Man zieht, wenn man das Haus verläßt,
den Ladestock heraus, stößt ihn dreimal auf die Erde und dann in den Laus,
steckt ihn wieder an seinen Ort und stampft schließlich dreimal mit der Mün¬
dung des Rohrs auf den Boden. Oder man versieht sich mit Moos, das
auf dem Schädel eines armen Sünders gewachsen ist, und ladet davon jedes
Mal ein Wenig zwischen Pulver und Blei. Oder man füttert den Stein im
Hahn mit Kreuzwurzel ein. Oder man nimmt von dem Lager einer Sau,
die Junge hat, neun Strohhalme und schiebt davon neun Glieder in den
Schaft zwischen die beiden Hefte. Um aller Schelmerei zu entgehen, zieht der
vorsichtige Waidmann, wenw er aus die Jagd oder zum Scheibenschießen geht'
das Rohr einfach zwischen den Beinen durch. Im Uebrigen hütet er sich, Leute,
deren er nicht sicher ist, in den Lciuf sehen oder greifen zu lassen.
Begegnet es dem Jäger bei aller Sorgfalt, daß ihm ein Schabernack
geschieht, und daß er mit seinem Gewehr entweder gar nicht trifft oder die
angeschossenen Thiere nicht sterben, waidmännisch enden, können, so sucht er
sich alsbald einen Sperling, reißt ihm den Kopf ab, schraubt denselben an
den Krätzer des Ladcstocks und fährt damit etliche Male durch das Rohr.
Dann thut er dasselbe mit einer weißen Zwiebel, woraus er mit dieser einen
Lappen bestreicht und mit letzterem den Lauf nochmals auswischt. Schließlich
wird der Sperlingskopf und die Zwiebel in den Schornstein gehangen, wo
es sich mit der Flinte bald ändern und zugleich der gute Freund erscheinen
muß, der es ihr angethan hat. So hält es unser Förster in solchen Fällen.
Andere nehmen statt des Sperlingskopfs das Herz eines Wiedehopfs oder
Hähers zum Ausputzen des Rohrs. Noch besser und approbirter ist. eine
Blindschleiche in den Lauf zu thun, dieselbe mit einem Pfropf darauf vierund¬
zwanzig Stunden stehen und das Thier darin sterben zu lassen, dann zu
laden, die Schlange daraus zu stoßen und fortzuschießen. Das Gewehr be¬
kommt auf diese Weise, was in der Jägersprache der heiße Brand heißt.
Wo ein Thier von ihm auch nur leicht verletzt wird, läuft es doch nicht lange;
denn wo die Kugel hintrifft, ist's sofort Händebreit um den Schuß herum ent¬
zündet und verbrannt, und das Wild krankt und endet fast im Augenblick
davon.
Ein Jäger, der gute Lehre genossen, weiß aber nicht blos sein durch böse
Menschen behextes Gewehr zu curiren, sondern auch die Uebelthäter dafür
nach Verdienst zu strafen. Doch wird er dabei vorsichtig verfahren; denn
wollte ein Schütze, welcher glaubt, daß ihm ein Waidmnnn gesetzt worden,
sich ohne Weiteres an der Person, die er im Verdacht hat, rächen, so könnte
es leicht geschehen, daß er selbst Beschwerung davon hätte. Der Gegen¬
zauber trifft stets den, der die Schuld an dem Verderbniß des Gewehres hat.
Er muß also untersuchen, ob er nicht vielleicht selbst eine Unachtsamkeit begangen
hat. In letzterem Fall ist an der Büchse nichts weiter zu thun, als daß man den
Lauf sauber auswischt und ihn ohne Schwanzschraube mit der Mündung gegen
den Strom in ein fließendes Wasser legt, ihn dort einen Tag und eine
Nacht liegen läßt, ihn, nachdem er wieder in den Schaft gethan, mit dem
Schweiß von einem Sperling ausputzt und die Büchse dann etliche Wochen
nicht 'gebraucht.
Hat sich dagegen der Jäger versichert, daß der Schaden von einem An¬
dern herrührt (was man beiläufig daran merkt, daß sich nach dem Schießen
im Rohr und aus der Pfanne kleine blutrothe Körnchen sehen lassen), so kann
er, wie unser Förster meint, ohne die geringste Sünde zu begehen, einem
solchen gottlosen Menschen seine Bosheit auf folgende Art heimzahlen. Er
wischt das Innere des Laufs mit Werg rein aus, streut ein von römischem
oder cyprischen Vitriol und Gummi Tragant bereitetes sympathetisches Pulver
hinein, nimmt die Schwanzschraube heraus und stellt das Rohr auf den
Küchenhcerd. wo er ein Feuer von Haaren, Schwcinekoth und Ochsenklanen
anmacht. Hat der übelriechende Rauch desselben das sympathetische Pulver
im Rohr berührt, so empfindet der Zauberer sogleich durch die Antipathie
Schmerzen in den Augen und Gestank in der Nase, und er mag wollen oder
nicht, er muß über Hals über.Kopf herbeilausen und bei dem Beschädigtem
beichten und Hülfe suchen. Soll er Reißen im Leibe haben, so schüttet man
in den nassen Lauf etwas von dem sympathetischen Pulver, gießt recht scharfen
rothen Weinessig darauf, stopft die Flinte zu und setzt sie in einen Winkel,
worauf der Uebelthäter ebenfalls bald herbeieile, um sich von seinen Schmer¬
zen zu befreien. Will man ihn, als hinreichend gezüchtigt, aus dem Zauber
entlassen, so braucht man nur das Rohr in fließendes Wasser zu werfen, und
sofort empfindet er Linderung.
Das Zubehör zu dem sympathetischen Pulver wird im Juni, wenn die
Sonne im Löwen wirkt, bei heißem Sonnenschein destillirt, in einem steiner¬
nen Mörser klar gestoßen, nachdem die einzelnen Ingredienzien für sich vier
Wochen getrocknet sind, gemischt und dann in einer Holzschachtel an einem
temperirten Orte, der nicht zu trocken 'und nicht zu feucht, nicht zu wann
und nicht zu kalt ist, zum Gebrauch aufbewahrt.
Alles das gehört zur weißen Magie, deren man sich bedienen darf, ohne
sich der Sünde befürchten zu müssen. Schon für zweifelhaft gilt unserm
Förster, wenn einer, um sicher tödtende Kugeln zu erhalten, Stückchen vom
Donnerkeil in die Form wirft und das Blei darauf gießt; denn der Donner
soll in der Heidenzeit ein Gott gewesen sein. Ganz unchristlich ist dann be¬
reits die Gewohnheit mancher Schützen, beim Losdrücken einen gewissen Fluch
zu brauchen, der freilich helfen soll, aber so gottlos klingt, daß ihn unser
Freund nicht einmal nachsagen mag. Vollkommen zur schwarzen Zauber¬
kunst endlich gehört Alles, was mit den sogenannten Freikugeln zusammen¬
hängt. Der Bursch des Försters scheint deren zu haben, und da er sie nur
durch einen Pakt mit dem Teufel oder sonst auf frevelhafte Weise erlangt
haben kann, soll er, sobald sichs erweist, daß er nicht blos geprahlthat. Knall
und Fall aus dem Hause.
Freikugeln verschafft man sich auf verschiedene Art. Die gewöhnlichste
ist indeß, daß man in heiligen, Nächten, vom Donnerstag auf den Charftei-
tag oder in den Zwölften aus einen Kreuzweg geht und den Teufel um Farn¬
samen bittet, von dem man sodann beim Gießen in jede Kugel ein Körnchen
fallen läßt. Man schießt mit solchen Zauberkugcln, wenn man will, um die
Ecke, im Kreise, was man sieht und was man nicht sieht, überhaupt Alles,
wonach das Herz begehrt. Aber die arme Seele ist zu bestimmter Zeit dem
Teufel verfallen.
Andere wieder erwerben sich die Gabe^, Alles, wonach ihnen der Sinn
steht, zu treffen, auf noch gotteslästerlichere Manier. Sie schießen unter
Zaubersprüchen nach der Sonne, nach Heiligenbildstöckcn und Crucifixen im
Walde, nach Hostien, die sie beim Abendmahl entwendet, ja nach unserm
Herrgott im Himmel. Beispiele solcher Freischützen erzählt sich das Volt in
Menge, und da unser Förster als Bursch viel gewandert ist, so weiß er deren
aus aller Herren Ländern zu berichten.
So war da vor nicht langer Zeit in der Nachbarschaft von Hildesheim
ein alter Förster, der Alles schoß, was er aufs Korn nahm. Nun hatte er
einen Burschen, der gleichfalls nie fehlende Schüsse wünschte und so eines Tags
den Alten bat, ihm seine Kunst zu lehren. Darauf erklärte sich jener bereit
dazu und sagte ihm zugleich, wenn er das nächste Mal zum Abendmahl gehe,
solle er die Oblate nicht hinunterschlucke», sondern unbemerkt aus dem Munde
nehmen und mit heimbringen. Der Bursche that, wie ihm geheißen, und als
er aus der Kirche nach Hause kam. ist er mit dem Förster in den Wald ge¬
gangen, wo dieser die Hostie an einen Baum genagelt und dem Gesellen
geheißen hat, danach zu schießen. Der nimmt die Büchse, aber wie er an¬
legt, sieht er unsern Herrn Christus am Baume stehen, so daß ihn ein Zittern
ankommt und er beinah das Gewehr fallen läßt. Er will durchaus nicht los¬
drücken. Der Alte aber heißt ihn einen Hasenfuß und einfältigen Tropf, und
so legt er wieder an und schießt los. Da ist die Oblate mitten durchbohrt
und ganz blutig gewesen, der Bursche aber hat von der Zeit an kein Ziel
gefehlt.
Ganz dieselbe Geschichte kam bei Zellerfeld im hannöverschen Harz vor.
Der Bursch wurde später hier Förster, und dn hat er zu öftern Malen seine
Geschicklichkeit Spaßes halber sehen lassen. Wenn er an Winterabenden Gesell-
schaft hatte, so fragte er seine Gäste, was sie essen wollten, Hasen- oder Reh-
brnten oder einen Auerhahn. Dann nahm er seine Flinte, schoß blindlings
zum Fenster hinaus und hieß sie in den Garten, auf den Hof oder auf die
Nasse gehen, da werde das Wild liegen. Und wenn sie dahin gegangen sind,
haben sich jedes Mal gefunden. Zuletzt aber hat ihm der Teufel das Genick
gebrochen, und um den Hals hat er einen.Streifen gehabt wie ein blaues
Halsband.
Wenig besser erging es dem Freijäger auf dem Dörrhof bei Nauenberg
'w Badenschen. Er hatte sich seine Kunst dadurch verschafft, daß er auf ein
Tuch knieend drei frevelhafte Schüsse, einen gegen die Sonne, einen gegen den
Mond und einen gegen Gott im Himmel geschossen, worauf drei Blutstropfen
herabgefallen waren. Nachdem er gestorben, spukte er im Wende als grüner
Jäger mit Gewehr, Ranzen und Hund sogar am lichten Tage, bis ihn der
Schinder in einen Sack beschwor, der in eine Bergschlucht festgebannt wurde.
. Wie in allen Wissenschaften und Künsten, so finden sich auch in der hölli¬
schen Waidmaunskuust. wie unser alter Förster sagt, solche die stärker und
solche die schwächer sind. Da wohnte zum Beispiel bei Bieblis in Hessen ein
alter Wildfrevler, den die Forstbedientcn trotz aller Mühe, die sie sich gaben,
durchaus nicht zu sangen vermochten. Das ging aber nicht mit rechten Dinge»
zu. Eines Abend waren ihm vier Jäger so nahe gekommen, daß sie sicher
zu sein glaubten, ihn diesmal zu fassen. Da verwandelte er sich wenige
Schritte vor ihnen plötzlich in einen Schneißenblvck. Die Verfolger meinten,
er sei dennoch entkommen, und indem sie an dem Block stehend sich beriethen,
welche Richtung er wol genommen haben möge, klopfte einer von ihnen sogar
seine Pfeife an dem Schneißenblvck aus. Dieser Jäger ging am nächsten Tage
allein durch den Wald, da begegnete ihm der Wilddieb, grüßte und sprach
dann: „das war aber doch nicht hübsch von dir, daß du gestern deine Pfeife
an meiner Nase ausgeklopft hast; sie thut mir heute noch weh davon." Zu¬
gleich erinnerte er denselben an die Reden, die er bei jener Gelegenheit an
dem Block mit den andern geführt hatte. Als jener das hörte, lief er so
schnell ihn seine Beine tragen konnten, davon; denn er merkte jetzt, daß er
es mit einem Hexenmeister zu thun hatte.
So war da serner im Münsterland ein Edelmann, der große Forsten be¬
saß, aber keinen Förster behalten konnte. Sobald ein solcher bei ihm an¬
getreten war und zum ersten Mal in den Wald ging, wurde er, man wußte
nicht von wem, erschossen, und zwar befand sich die Wunde stets in der Stirn.
Nachdem auf diese Art drei oder vier Förster umgekommen waren, wollte es
Niemand mehr mit der Stelle wagen, und so blieb der Wald ohne Aufsicht,
bis sich endlich ein wandernder Jäger meldete, der ganz so aussah, als fürchte
er weder Gott noch den Teufel. Der Edelmann sagte ihm ehrlich, daß es
hier nicht geheuer sei. Der Waidmann aber meinte, er wolle es^nrauf wa¬
gen, er mache sich nichts aus dem unsichtbaren Schützen, hätte auch Jüg^
stücklein gelernt und für deu, der ihm ans Leben wolle, auch eine gewisse
Kugel im Rohr und werde darum getrost den Dienst übernehmen. Das ge¬
schah denn nun, und am andern Tage versammelte der Edelmann »rehrc
Jagdgcsellen, um deu neuen Förster bei seinem ersten Gange in den Wa>d
zu begleiten. Und wie es früher geschehen, so kam es jetzt auch. Sie waren
kaum in den Wald getreten, so knallte in der Ferne ein Schuß. Aber «n
selben Augenblick warf der Jäger seinen Hut in die Höhe, und siehe da, w>e
er niederfiel, bemerkte man, daß er von einer Kugel genau an der Ste
durchbohrt war, wo er auf der Stirn aufgesessen hatte. „Jetzt bin ich an der
Reihe," sagte der Jäger, legte seine Büchse an den Backen, rief: „dem Gruß
einen Gegengruß!" und schoß. Die andern'wunderten sich darüber, aber bald
wurden sie inne. was jener gemeint hatte. Sie folgen dem Jäger durch den
Wald, bis sie an eine Mühle kamen, aus der Klagegeschrei erschallte. Als
die Waldgesellen hineingingen, fanden sie darin den Müller erschossen: eine
Kugel hatte ihm die Stirn durchbohrt. Er war der Zauberer gewesen, der
jeden neuen Förster aus der Ferne mit Freikugeln getroffen, um im Walde
Mein über den Wildstand schalten zu können. Dem Edelmann graute vor
dem Jäger, namentlich als er auch andere Künste entwickelte, das Wild für
den Schuß festbannte, die Rebhühner zwang, in seine Tasche zu fliegen, und
so nahm der Herr den ersten schicklichen Borwand, ihn aus seinen Diensten
zu entlassen.
Ein nicht minder starker Zauberer war der Forstgehilfe, der zu Aufang
dieses Jahrhunderts beim Forstner Frühholz zu Lichtenberg im bcnerischen Lech-
niin diente. Der trug an dein einen Fuß einen Pantoffel, wie wenn er ein
Uebel daran hätte, aber trotzdem konnte es ihm niemand im Laufen gleich
ilium. Ais Schützen aber kam ihm noch weniger jemand gleich. Beim Schwab-
vcmern in Lichtenberg war allezeit ein großer Düngerhaufen, wo immer nnter
den Hennen eine Menge Spatzen saßen. Darüber machte er mit dem Bauern
wie Wette, er wollte ihm die Spatzen mit einem Schuß wegblasen, ohne eins
von den Hühnern zu verletzen. Und er gewann. Er schoß statt auf deu Dung-
haufen rückwärts zum Hofe hinaus, und todt lagen da alle Spatzen, von den
Hennen aber nicht eine. Ging er zu Holz, so machte er, daß alles Wild zu
'hin hingelaufen kam, wo er es dann wie ein Fleischer eine Hammelheerde
aufsuchte, welches das feisteste war; das nahm er und schoß es nieder.
Wenn ihn daher die Hirsche und Rehe nur von Weitem merkten, so liefen ihnen
schon die Thränen aus den Augen. Mit den Wilddieben war er kurz an¬
gebunden: hatte einer etwas geschossen, so ging der Bursch sogleich an den
Drt, wo es versteckt war, und wenn es auch noch so geheim war, er fand
^ jedesmal. -
Vorzüglich gut verstand der Jägerbursch sich aufs Festmachen. Als ein¬
mal Fastnacht war, kam er zum Tnnz nach Scheuring ins Wirthshaus. Weil
e>' aber so wild aussah, wollte keines der Mädel mit ihm tanzen, und die
^über machten sogar Anstalt ihn aus dem Hause zu werfen. Da zeigte er
'buen aber, was er konnte und bannte alle Ledigen bis auf Aschermittwochen
sah in der Zechstube. Erst beim Gebetläuten hat der Zauber aufgehört. Ein
Öderes Kunststück war dieses: Eine von den Mägden des Neubauern in
'^cheuring hatte ihm ein Schimpfwort angehangen. Da kam er des Nachts
^U' ihr Kammerfenster, rief sie beim Namen und sagte: „Komm, geh mit!"
stand sie gleich auf und lies im Hemde, wie sie gewesen, neben ihm her
in den Wald wol eine Stunde weit. Wie er sie endlich bei ihrem vollen
Namen genannt und gesagt: „Was willst du hier; geh nach Hause," war's
ihr, als erwachte.sie aus einem böse» Traum, und als sie sich umsah, merkte
sie zu ihrem Schrecken, daß sie sich bei einer eingegangenen Schindhütte be¬
fand, wo es schon am heilen Tage nicht geheuer war. Seinen eignen Herr»,
den Forstner, bannte er einmal nach einem heftigen Streit drei Tage und drei
Nächte ins Westerholz auf einen Stock, daß jedermann meinte, er sei von
einem Wildfrevler erschossen worden. Dies hat ihm aber den Dienst gekostet,
und hat ihn darauf niemand wieder zu Gesicht bekommen.
ehrten Blattes über das östreichische Heer erlaube ich mir, Ihnen folgende
Erinnerungen gleichsam als kleine Ergänzung zu, schicken. Nur die Aufdeckung
von Mißbräuchen kann ja helfen.
- — Nach der Schlacht von Magenta beschloß ich, bei der östreichische»
Armee für die Dauer des Feldzuges als Freiwilliger einzuspringen, und wandte
mich deshalb an die Gesandschaft zu.....um über die Bedingungen
Näheres zu erfahren. Der Secretär drückte mich fast in die Arme, als ich
ihn, meinen Entschluß kund that, aber er erklärte, daß von Wien ein so con-
fuses Rescript über die Zulassung der Freiwilligen gekommen sei, daß sie auf
der Gesandtschaft nicht daraus hätten klug werden können und er mir Sicheres
nicht mitzutheilen vermöge. Nur in Innsbruck beim Landescommando von
Tirol würde ich Genaues darüber erfahren können. Ich reiste nach Inns¬
bruck. Warten und mich von Hause mit allen möglichen, langwierigen Zeug¬
nissen versehen, wollte ich nach den verlorenen Schlachten nicht länger, zumal
der Herr auf der Gesandtschaft meinte, mein Paß :c. würden für meinen Zweck
genügen. — In Innsbruck wurde ick auf der Commandantschaft mit über¬
raschender Artigkeit empfange». Artigeres, zuvorkommenderes Benehmen ">s
bei den Militärbehörden und Officieren — dies will ich hier gleich bemerken
— habe ich niemals gefunden. Es ging meiner Ansicht nach fast zu weit,
indem meinet-, des einfachen Volontärs wegen, Ordonnanzen ze. zuweilen war-
ten mußten. Aber man wußte in Innsbruck nichts Genaueres über die Vo»
lontärstcllung als in ... . Das Landescommando sei in Botzen; wenn ich
mich an das wendete .... Ich reiste nach Botzen. In Botzen drückte mich
der alte freundliche Hauptmann F.........vor Freuden an die Brust.
Es war der Tag von Solferino. Benedcks Depesche, daß er dje Piemontesen
zurückgeworfen, war in dem Augenblicke angekommen . . . Aber er konnte
nur nichts Näheres sagen . . der Erzherzog war abwesend. — Wenn ich mich
an das Obcrcommando in Verona wendete, dann .... Mir war es recht.
Wenn nichts anders, so war ich doch Zuschauer des großen Dramas. Uebri-
gens fürchtete Niemand, daß ich Schwierigkeiten haben würde. F. visirte mich
aus die Festnngscommandantschaft von Verona. In der nächsten Nacht unter
Verwundeten und Maroden langte ich in Verona an. Ich verfügte mich auf
die Festungscommandantschaft. Ein dichter Haufe von Leuten mit Bittschriften
stand davor. Ich wollte in den Thorweg gehen — Wachen hielten mir die
Bajonette vor. Ich sagte: ich müsse hinein. „Nix deutsch" war die Antwort.
Ich ließ den Sergeanten rufen, rief umstehende Gensdarmen — Niemand
verstand deutsch oder französisch. Italienisch oder Gott weiß welche slavische
Mundart sprach ich nicht. Endlich kam ein Offizier, ein Deutscher. Ich sprach
Mit ihm; er nahm mich unter den Arm. und so gelangte ich hinein. Ich
müsse vor Urban selbst, donc ich. Unter vierzig, fünfzig Ordonnanzen, Offizieren,
Bittstellern :c. stand ich da, mich wundernd und fast ergrimmt, daß ich dem Mann
die Zeit nehmen sollte, der die Armirung — Verona wurde, wie mir Offiziere
sagten, erst in den Tagen kriegsmäßig armirt — und Verprovicmtirung dieses
ungeheuren Bollwerkes der östreichischen Armee auf dem Halse hatte. Ich
wartete wol eine Stunde. Dann kam es mir zu dumm vor. Es mußten
Meiner Ansicht nach besondere Commissionen bestehen, bei welchen ein Volon¬
tär anfragen oder sich stellen könnte, ohne den Festungscommandanten zu be¬
lästigen. Ich verließ das Palais, fragte Offiziere, suchte, wurde hierhin und
dorthin gewiesen — nirgends recht. Auf meine Fragen kam von den Offi¬
zieren stets die Gegenfrage: Haben Sie keine Protection? Sind Sie mit kei¬
nem Obersten eines Negunents bekannt? — Meine Antwort war: nein. Schlie߬
lich wendete ich mich an den Obersten K . . ., bekannt und viel genannt in
^in Feldzug, der mit mir in demselben Hotel wohnte. Ich fand in ihm
einen noch jungen, geistreich schauenden, sehr artigen Mann. Er rieth mir
Mit seiner Empfehlung zum Grafen sah . . . . zu gehen, dem^ Oberbefehls¬
haber der einen Armee. Ich verfügte mich dahin. Sechs, sieben oder acht
Mal mußte ich gehen. Da traf ich endlich den Chef des Generalstabes Oberst
sehen......., wegen seiner Rauhheit, wie ich hernach hörte, bekannt.
Aber er gefiel mir in seiner Kürze. Was wollen Sie? — Das und das!
"-Ist gut. Haben Sie keine Protection? — Nein. — Kennen Sie keinen Obersten?
— Nein. Was hab' ich zu thun? — Es muß hier eine Commission sein.
Wo ist die? — er fragte die Adjutanten. Keiner wußte es. Nun wurde
in die Bureaus gerufen. Durch vier, fünf Säle vielleicht hörte ich die
Frage. Endlich kam die Antwort. Sie sollte — factisch — in diesem
Stadttheil sein — links eine der nächsten Straßen, dann links oder rechts;
sicher dort in der Nähe. — Uebrigens empfahl mir der Oberst nach Barona
zu fahren und mit dem Oberst eines dort liegenden Reiterregimentes zu sprechen.
Denn ich wollte zur Reiterei.'
Die Commission suchte ich. wer weiß wie lange! Aberich fand sie nicht. —
Ich fuhr nach Barona. Wol nimmer wird man etwas Malerischeres sehen
können. Dort bivouakirte von der Porto. Se. Giorgio an in den Gärten und
Feldern die Reiterei. Auf dem Wege dahin traf ich den einzigen verzagten,
ja feigen Schwächling, der nur in Verona vorgekommen — ein verzogenes
reiches Muttersöhnchen, das vor dem Feldzug der Uniform wegen Soldat
geworden. Er war Fähndrich. Ich wolle Soldat werden? freiwillig eintreten?
O Gott, was er darum gäbe, wenn er mit mir tauschen könne! Nein, er hielte
es nicht länger ans. Er wolle morgen wieder zurück ins Lazarett). Man
schicke ihn als gesund zum Regiment, aber morgen liebe er sich wieder krank
melden. In Wien im Frieden Soldat sein — ja! Aber hier, seit Wochen
nicht unter Dach und Fach in Regen und Sonnengluth ... So ging das
Gejammer fort. Ich ließ ihn reden. Da hatte ich den Typus leider so man¬
chen Herrchens. Seit den Tagen, wo Cäsar vor Ariovift lagerte, wie früher
— immer dieselbe Geschichte! — In Barona brachte ich dem Oberst mein Anlie¬
gen vor. — Können sie reiten? — war die erste Frage. — Ja! — Das
wurde einmal gefragt, aber zweimal sodann, um sich recht zu vergewissern,
ob ich „Zulage" habe! Als ich hierüber — lächelnd, denn diese Doppelfrage,
ein paar Tage nach der Schlacht bei Solferino gethan, war mir doch ein wenig
komisch — Auskunft gegeben hatte, war die Sache so weit in Ordnung.
vierzehn Tagen könne ich Offizier sein — sagte der Oberst — was mir in >c>-
weit nicht unlieb zu hören war, als die Bolontärstellung trotz des Ranges im
östreichischen Hclvce vielleicht nicht so angenehm als die Freiwilligcnstellung als
gewöhnlicher Gemeiner in Preußen sein mag. — In meinem Hotel sollte ich
dann das Nähere erfahren. Daß ich keine Protection habe, hatte ich gleich
zu Anfang gesagt.
Ich wartete mehrere Tage. Keine Nachricht kam. Da kam der Waffen¬
stillstand, und ich reiste ab . . . Dies ist der äußere Nahmen. Dazu nun einige
Beobachtungen.
Das Offiziercorps — denn nur von diesem kann ich sprechen — hat an
in jenen' trüben Tagen einen sehr guten Eindruck gemacht. Die Größe de>
Schlacht von Solferino und ihres Verlustes ersah ich erst aus der Allgemeinen
Zeitung. Aus dem ungebrochenen Geist der Offiziere und auch all der Sol¬
daten, mit denen ich als Deutscher verkehren konnte, aus der festen, resignirten,
aber in Soldatenehre glühenden Stimmung konnte ich kein Gefühl der In-
feriorität dem französischen Heer gegenüber abnehmen . . . Das Material
der Armee war ausgezeichnet, aber man sieht, was ich, der draußen ste¬
hende Civilist, schon für Einblicke in die mangelhafte Organisation thun
konnte. Nirgends fand ich — bis aus die Proclamationen Urbaus an die
Veroneser — eine scharfe, klare Instruction. In den Tagen, wo Hundert¬
tausende von der Thätigkeit der leitenden Männer abhingen, wurde ich von
Jedem gleich an sie gewiesen; eine meiner dort gemachten Bekanntschaften,
Mi Aspirant, fragte den Festuugscommandanten, der die Festung arnürte, wo
ein anderer General wohnte, nachdem er acht Tage lang diesen, soeben vom
Commnndo abgetretenen General gesucht!! Trotz Solferino hörte ich von Hoch
und Niedrig immer als erste Frage: Protection? Bei der Reiterei einmal die
Frage: können Sie reiten? Zweimal: haben Sie Zulage? Ich traf Ordon¬
nanzen, die mich, da sie mich als Deutschen erkannten, beinahe flehentlich
baten, ich möchte ihnen die Wohnung des oder des Generals sage»; ich traf
deren, die seit zwei Tagen suchten!! — Ein Bureau an jedem Thor für Nach¬
weis wäre doch damals in Verona nothwendig und wie leicht zu errichten
gewesen. — Daß ich mir unter den Truppen, namentlich in den ersten Tagen,
wo fast nur nichtdeutsche Regimenter in Verona lagen, fremder als fremd
vorkam — davon will ich schweigen. Aber ich bekam das'Gefühl des Grim¬
mes gegen die östreichische Regierung, die durch ihr Absperren von Deutsch¬
land und deutschem Geiste, von Fortschritt und Entwicklung, durch ihr stum¬
pfes Bestehen auf dem Althergebrachten und dem Versinsterungsprincip es
Möglich gemacht hat, daß diese seit Jahrhunderten ihrem Scepter unterwor¬
fenen, theilweis halb civilisirten Stämme dem deutschen Geiste nicht mehr
unterworfen worden sind. Diese Grenzer:c., das waren Truppen, denen man
^ ansah, daß sie sich mit gieriger Freude auf die Schwaben, die Deutschen
werfen und Scenen des dreißigjährigen Krieges erneuern könnten. Licht ist seit¬
dem nicht in sie gefallen. — — Aus der Allgemeinen Zeitung bekam man
'u Verona die Kunde über Verona. Doch d^is ist nicht anders. Aber eins
war doch zu tadeln. Es wurde geglaubt, daß der Kaiser — die Augsburger
berichtete die Absicht — von der Armee zu einer Zusammenkunft mit dem
Pnnzregenten von Preußen abgereist sei. Der Kaiser war Oberbefehlshaber.
sah und hörte nichts von ihm, obwol ich fast jeden Tag an seinem
Palais vorüber kam. Erst am Tage vor dem Waffenstillstand erfuhr ich zu
Meiner Verwunderung zufällig, daß er doch in Verona sei. Ich hörte ein
sortrollendes Hurrah in der Ferne und erfuhr von zurückkommenden Sol¬
daten, daß der Kaiser zum Bade vorübcrgeritten sei. (Das Hurrah that mir
wohl. Der Kaiser hatte sich laut Allem, was ich hörte, persönlich bei Sol-
fcrino muthig bewiesen. Schon dieses gereichte zur freudigen Anerkennung
bei dem Heer. Aber wie gesagt, Niemand von den Offizieren, mit denen
ich gesprochen, geschweige von den Truppen, hatte den Ausenthalt, die An¬
wesenheit ihres commandirenden Kriegsherrn gewußt. Wo bleibt der Enthu¬
siasmus, namentlich im Unglück für ihn? — Wie von den Truppen über
die Führung geklagt wurde, wie die Offiziere ihre Leute, bis aus die
Grenzer, über ihr Benehmen in dem Feldzuge rühmten, will ich nicht wieder¬
holen. Nur wenige kurze Worte: Die Lust vergeht Einem — sagte der
Eine. — Man schlachtet uns ab; compagnicweise werden wir vorgeführt.
Trupp um Trupp müssen wir uns zu Tod rauhen. Von Ablösen, von In¬
einandergreifen ist keine Rede! — Dann kam wie immer die bange, sorgende
Frage, ob Preußen nicht losschlüge? — Nur bei der Nennung Benedcks.
der Kaiserjäger, der Husaren und der eben ankommenden Wiener Freiwilligen,
erglänzte über die Gesichter ein Strahl kriegerischer Freude.
Es mag dies genug sein, ein Streiflicht auf die Armee in jenen Tagen
zu werfen. Achtung den tapfern Männern! Was aber die Leitung, das In¬
einandergreifen der großen Hecresmaschine betrifft, so bekam ich das peinliche
Gefühl, daß Alles anders als in Ordnung sei. Der Geist, der von oben her
Alles durchweht, fehlte, die mächtig fortreißende, die Maschine in Thätigkeit
haltende. Alles durchdringende Feuerkraft eines großen, bewußten, festen Willens.
— Man muß wissen, was man will! Leider scheint Oestreich seit Solferino
Wie gegenwärtig von nichtdeutschen Ländern vorzüglich zwei unsere Blicke
auf sich ziehen, Italien und die »ordamcrikanische Union, so sind es in diesen
wieder vorzüglich zwei Punkte, die besonderes Interesse für uns haben: hier
Gaeta, wo die italienische Bewegung vorläufig den letzten, dort Fort Sumptcr,
der Schlüssel zum Hasen von Charleston, wo die amerikanische vermuthlich
den ersten Kampf kämpfen wird. In beiden wehren sich Conservative geg">
politische Neuerungen, in Gaeta der konservative Separatismus gegen tue
Unitarier, in Fort, Sumpter ein konservativer Unitarier gegen die Bestrebungen
revolutionärer Separatisten. Beide waren bisher von großer, politischer Wich¬
tigkeit. Gaeta so lange, als Piemont Oestreich mit Krieg bedrohte, Fort
Sumpter so lange, als Südcaroliim mit seiner Losreißung von der Union
allein stand. Diese wie jene Bedeutung ist jetzt sehr vermindert. Indeß sind
beide Punkte in militärischer Hinsicht noch von Interesse, und wenn ihr Fall
auch nur noch eine Frage der Zeit ist, so wird eine kurze Schilderung derselben
doch willkommen sein.
Gaeta liegt aus einer nicht 7ern von der römischen Grenze aus dem Ge-
birgsstock bei Jtri und Fondi sich abzweigenden hügeligen und allmählig
schmaler werdenden Landzunge, die von Nordwest nach Südost in die
See vorgeschoben ist und, nachdem sie sich in ihrer Mitte verflacht hat, sich
^egen ihr Ende hin plötzlich wieder zu einem von zwei schroffen Felsmassen
gebildeten Vorgebirge erhebt. Die am weitesten in's Meer hinaustretende
dieser Massen trägt die Stadt, die andere, mächtiger und von jener durch eine
tiefe Senkung getrennt, die Hauptwerke der Festung. Es sind dunkelbraune,
vielzerklüftete, grottcnreiche Kalkfelsen, deren Fuß nur durch ein schmales Ge¬
stade vom Wasser getrennt ist, und die einst eine Insel gewesen sein mögen,
bis sie durch Sandanschwemmung mit dem Festlande verbunden wurden. Jen¬
seits des Isthmus von ungefähr 650 Schritt Breite, den diese Anschwemmung
gebildet hat, erheben sich zunächst die Höhen von Lombone und Giaccio. etwa
eine halbe Stunde vom Glacis der Festung, hierauf ein Berg von etwa lau-
tend Fuß Höhe, der Monte Christo, dann der Monte Colonna, fast anderthalb
Stunden vom Glacis. Vom Ende der Landzunge im Nordwesten gehen nach
der römischen Grenze hin Hügelzüge, die verschiedene Vorsprünge und Buchten
bilden, bis in die Nähe von Terracina, wo sie mit einer weiten Ebene endi¬
gen. Nach der andern Seite biegt das Ufer am Ende der Landzunge nördlich
Zur Bucht von Gaeta ein. Die letztere wird zunächst von Ausläufern des
Lombone eingefaßt, von denen einer das in den Berichten über die Bela¬
gerung oft genannte, gegen 2000 Schritt vom Thore Gaetas gelegene Kapu¬
zinerkloster trägt. Dann folgt, etwa eine halbe Stunde Wegs vom Glacis
^'r Festung, ein einzelner Hügel, der nach der heiligen Agathe benannt ist.
und zwischen welchem und dem Monte Christo sich ein Höhenkcunm hinzieht,
auf dem das Dörfchen Tucci liegt. Weiter hinab an der sich nun nach Nord¬
isten wendenden Küste öffnet sich hinter dem Agathenberge ein Thal, jenseits
dessen sich der an 1200 Fuß hohe Monte Corea erhebt. Unter den Ausläufern
genannten Berge und Hügelkämme, deren scharfe Kanten und kahle Hänge
ganz den südlichen Gebirgscharakter zeigen, läuft um die blaue Bucht ein grüner
Gürtel von Gärten mit weißen Landhäusern, grauen Wartthürmen und den
langgestreckten Dörfern und Städtchen Borgo ti Gaeta. Albano. Arzano,
Martino und Mola ti Gaeta hin. welches letztere etwa anderthalb Stunden
von der Festung entfernt ist.
Wir kehren nun auf die Landzunge zurück, um die Werke Gaetas in Be¬
tracht zu nehmen. Jene hat zu ihrem Kern'die größere der erwähnten beiden
Felsmassen, den sogenannten Monte Orlando. Von diesem zweigt sich nach der
See hin jener niedrigere Ausläufer, der die Stadt trägt, und nach dem sandigen
Isthmus, also nach der Landseite und den Bergen Lombone und Monte Christo
jenseits des Isthmus, ein noch niedrigerer Rücken ab, welcher mit den Haupt¬
werken der Festung bedeckt ist. Der flache fandige Isthmus, über den hinweg
jetzt die Belagerten mit den auf dem Kapuzinerberg stehenden Piemontesen
Kugeln wechseln, ist ungefähr 600 Schritt, der dahinter sich erhebende mit
den Hauptwerken Gaetas versehene Ausläufer des Monte Orlando gegen 1000
Schritt breit. Weiter südöstlich ist die Halbinsel noch schmaler, und die Spitze
derselben hat nur eine Breite von SO bis 60 Schritt.
Jene schmale Vertheidigungsfront dem Isthmus und de.n Lombone-Vergen
gegenüber ist es, welche der Festung ihre außerordentliche Stärke verleiht.
Den Angreifern blicken hier folgende Werke mit ihren Feuerschlünden entgegen:
Zunächst ein Wall mit Graben, bedecktem Weg und Glacis und dahinter etwas
höher eine Linie von Kasematten. Der tiefer liegende Wall, dessen Graben
in den Felsen gehauen ist, und vor dem nur ein einziges kleines Außenwerk
liegt, beginnt auf der Seeseite mit einem auf einem Vorsprung stehenden Fort,
welches das Glacis des Walles mit seinem Feuer bestreicht und zugleich einen
Angriff mit Schiffen abzuwehren bestimmt ist. Dann folgt rechts unter schroffem
Abfall im Zickzack der Wall und Graben bis zur Golfseite der Landzunge,
wo er mit einem halben Bastion endigt, welches in seiner Face das Lcmdthvr
hat, und mit seinem rechten Flügel die Werke am Golf beginnt. Die Kase¬
matten-Linie, die sich hinter dem Wall und etwa hundert Fuß über demselben
über die ganze Breite der Landzunge hinzieht, besteht aus einer Brustwehr
mit mehren darüber hinaustretenden Bastionen, die, von der Meerseite nach
der Golfseite hin, die Namen Transsilvania, Posto dei Quattro Venti, Se.
Andrea und Camino führen und zwischen denen unter der Brustwehr Defensiv-
kasematten liegen, die zum großen Theil in den Felsen gehauen sein sollen.
Hinter der kasemattirtcn Linie befindet sich dann noch ein System von Thürmen.
So entwickelt der Platz nach dem Isthmus und den jenseitigen Höhen ein vier¬
faches Etagenfeuer, zunächst unten vom Wall, dann aus den Schießscharten
der Kasematten, dann aus den barbstte feuernder Geschützen der Brust¬
wehr über den Kasematten, endlich von den Thürmen dahinter — ein Feuer,
,das um so furchtbarer sein muß. als der sandige Isthmus beträchtlich schmaler
ist. als diese Vertheidigungslinie. Am Golf endigt das Kasemattensystem über
dem halben Bastion und seinem Thore mit der Citadelle, die aus einem tenait-
lirten (im Zickzack oder scheerenförmig gezogenen) Walle und verschiedenen käse-
mattirten Gebäuden besteht, und an die sich rechts über dem Golf das Bastion
Daun anschließt.
Ueber dem Hügelkamm, den die genannten Werke vertheidigen, erhebt
sich der Monte Orlando, der aus seinem Gipfel die Ruine eines alten Römer¬
baus hat, den das Volk Tone d'Orlando (Rolandsthurm) nennt. Nicht weit
davon steht eine Redoute mit einem emaillirter Walle, die ziemlich unschädlicl,
sein wird, und, etwas weiter abwärts nach der See hin, das Hauptpulver¬
magazin der Festung. Dann folgt, immer noch auf dem Monte Orlando,
aber aus der dem zweiten Berge der Landzunge zugekehrten Abdachung desselben
ein zweites System von Thürmen, welche durch ihr Feuer zunächst Landungs¬
versuche hindern, sodann aber auch den Monte Orlando vertheidigen können,
wenn jener zweite, äußerste Theil der Festung genommen wäre.
Gehen wir vom Torre d'Orlando gerade südöstlich, so gelangen wir zuerst
in eine Terrainsenkung und daun wieder aufwärts steigend nach dem Castell,
einem vierseitigen, an den Ecken von Thürmen flankirtcn. große tasemattirte
Kasernen enthaltenden Bau. Am Fuß des Castellhügels krümmt sich d>e
Spitze der Landzunge nach rechts, so daß ihr äußerstes Ende, auf weichem sich
ein Leuchtthurm erhebt, nur einen starken Büchsenschuß vom Fuß jenes Hügels
liegt. Aus der Seeseite ist die Landzunge allenthalben steil und unzugänglich,
auf der Golfseite aber liegt unter den 'erwähnten beiden Bergen schon vom
Leuchtthurm an ein mehr oder minder breites Vorland. Dieses tragt den
größern Theil der Stadt und ist durch eine Enceinte geschützt, welche mehrere
Batterien und Bastionen vertheidigen. Am Leuchtthurm befindet sich die Bat¬
terie Santa Maria, dann folgt an jener Krümmung der Halbinsel das Bastion
Bico, >dünn treffen wir die Batterie Posto della Foglia und das Bastion Bi-
ieras. zär Deckung des hier befindlichen kleinen Hafens bestimmt, dann weiter
nach Nordwesten das Bastion Annunziata, endlich etwa 200 Schritt von der
schon erwähnten Bastion Daun, der letzten an der Golflinie, das Bastion L an
Antonio. *
Wir sehen sofort, daß die Stärke Gaetas vorzüglich auf der Landseite zu
suchen ist. Allerdings sind die jetzt von den piemontesischen Batterien bedeckten
Höhenzüge im Nordwesten des Isthmus der Einschließung der Festung günstig.
Aber der Umstand. daß der Belagerer bei weiterem Vorschreiten ein schmales,
nach der Festung zu sich heulendes, fast allenthalben felsiges Terrain zu pas-
siren genöthigt ist, bildet eine sehr wesentliche Erschwerung seiner Arbeiten,
Und über den flachen sandigen Isthmus zu gelangen, wird ihm nur dann ge¬
lingen, wenn der größte Theil der Geschütze jener vierfachen ^ertheidigungs-
^ant an den Borhöhen des Monte Orlando zerstört ist oder die Festung,
die jetzt isle Munition zu sparen scheint, sich verschossen hat.
Daß auch die Seeseite stärker ist, als man annahm, hat der vergebliche
Angriff der Flotte Persanos gezeigt.
Die Stadt Gaeta, auf die wir jetzt einen Blick werfen, liegt auf dem
kleineren der beiden Berge und zwar auf dessen nördlicher Seite, sowie unten
auf dem schmalen Streifen, der sich auf der Golfscite unter jenem, dem Castell-
bcrge und dem Monte Orlando hinzieht. Jener obere Theil ist überaus un¬
freundlich, eine wahre Troglodytcnstadt, die an afrikanische Barbarcskcnstädte
sowie namentlich auch an Jaffa im heiligen Lande erinnert, nur daß Alles
hier noch höhlenartiger, düstrer und wilder ist. Man steigt, bald auf dem
rohen Fels, bald auf Stufen durch enge, von hohen Mauern überragte Gassen
hinan, die so schmal sind, daß wir einem uns Entgegenkommenden kaum aus¬
weichen können, und in denen fast den ganzen Tag nur ein mattes Zwielicht
herrscht. Hier und da sind dieselben mit Bogen überwölbt, ja bisweilen sind
ganze lange Strecken überbaut, und wir gehen durch sie wie durch eine Höhle.
An manchen Stellen haben sie nur auf der einen Seite Häuser, auf der an¬
dern starrt uns der nackte Fels entgegen. Die Lust in ihnen ist feucht und
kalt wie in einem Keller, und nur in die obersten Fenster der Häuser fällt
das Licht der Sonne.
Die Unterstadt ist etwas freundlicher. Sie besteht an den meisten Stellen
nur aus einer Gasse, die sich hier und da zu einem Platz erweitert, oft aber
auch nur eine Häuserzeile hat und gegen den Fuß des Monte Orlando hin
blos noch einzelne Gruppen von Gebäuden zeigt. Daß es hier wie dort an
Schmutzhaufen und üblen Gerüchen nicht fehlt, versteht sich, da wir in einer
süditalienischen Stadt sind, von selbst. Ansehnliche Gebäude gibt es nur wenige,
solche von architektonischer Schönheit, gar keine in Gaeta. Zu den größeren
gehört der königliche Palast, ein ziemlich bescheidenes zweistöckiges Haus mit
einer Marinortrcppe, in welchem 1S49 Pius der Neunte nach seiner Flucht
aus Rom wohnte, während hart daneben in einem noch einfacheren Hause,
das an einem freien Platz liegt, König Ferdinand Quartier genommen hatte.
Der Palast hat, im schmalsten Theil der Unterstadt gelegen, sich gegenüber
keine Häuser, sondern nur eine Batterie. Vom obern Stock überschaut man
den Golf; eine kleine mit Bäumen bepflanzte Terrasse aus der Berglehne da¬
hinter bietet Gelegenheit, sich Bewegung zu machen. Andere Gebäude bes¬
serer Klasse sind: Der neue königliche Palast, der ebenfalls Terrassen anlagen
hinter sich hat, die Wohnung des Couunandanten hinter dem Bastion Am»»'-
alata, und der Palast des Bischofs. Indeß sind auch diese Bauwerke sowol
an Größe als an architektonischem Schmuck unbedeutend und nichts weniger
als das. was wir in Deutschland einen Palast nennen. Anmuth und Behag¬
lichkeit sind in Gaeta Nebensache. Man zieht hierher blos, um sicher zu se"^
Auch von Kirchen findet sich hier nichts von Bedeutung. Die Kathedrale
von Sau Erasmo stammt aus dem zwölften Jahrhundert, ist aber in der
Zeit des Jesuitensthls umgebaut worden. In ihr wird die Flagge gezeigt,
die Juan d'Austria in der Schlacht bei Lepanto auf seinem Admiralschiffe
führte.
Belagerungen hat die Festung mehrmals erlebt. 1702 wurde sie von
den Oestreichern unt.er Daun drei Monate lang beschossen und dann mit
Sturm genommen. 1734 wurde sie von einem aus Franzosen, Spaniern
und Sardiniern bestehenden Heere von Anfang April bis zum 6. August be¬
lagert, an welchem letztern Tage die Garnison auf ehrenvolle Bedingungen
capitulirte. 1806 hielt Gaeta eine Belagerung durch die Franzosen unter
Massen» aus, tue vom Februar bis Mitte Juli dauerte und erst dann mit
der Uebergabe endigte, als der damalige Commandant, Prinz Ludwig von
Hessen-Philippsthal verwundet worden war und in Folge dessen sich auf einem
englischen Schiffe nach Sicilien hatte bringen lassen. Endlich widerstand die
Festung auch 1815 und später 1321 einige Zelt den Oestreichern.
Ist Gaeta somit jedenfalls e»r vortrefflicher Zufluchtsort, der über¬
dies; durch Ferdinand den Zweiten wesemlich stärker geworden ist, als er bei
jenen Belagerungen war, so ist es seiner seewärtigen Lage halber weder stra¬
tegisch noch taktisch als Manövrirplatz, als Ausgangspunkt für Offensivbe¬
wegungen zu brauchen und somit für den große» Krieg nur von untergeordneter
Bedeutung. Seine gegenwärtige Wichtigkeit liegt lediglich darin, daß Franz
der Zweite hinter seinen Wällen noch auf neapolitanischen Boden weilt, noch
nicht aus seinem Königreich entfernt, noch nicht zum Prätendenten geworden
ist. Wird er zur Capitulation genöthigt, so wird man ihn vermuthlich auf
einem Dampfer so rasch wie möglich aus Italien bringen, und er wird dann nur
noch soviel Anspruch auf die Königswürde haben, als andere ins Ausland
vertriebene Fürsten vor ihm: die Stuarts nach ihrer Flucht an den Hos
Ludwigs des Bierzehnten, Karl der Zehnte und Ludwig Philipp, Heinrich der
fünfte >n Froschdorf, Dom Miguel von Braganza, die Herren vom spa¬
nischen Zweige der Familie Bourbon, die sich in Triest königliche Ehren
erweisen ließen u. s. w. u. s. w.
Eine ähnliche Bedeutung wie Gaetn hat Fort Sumpter bei Charleston
Zu dem wir uns jetzt wenden. So lange Franz sich in Gaeta hält, solange
ist die Einverleibung Neapels in das Königreich Italien noch nicht vollendet.
So lange die Unionstruppen Fort Sumpter besetzt halten, ist die Lostrennung
Südcarolinqs noch nicht vollendet.
Die Bucht von Charleston ist von Südosten nach Nordwesten in das
Land hineingesprengt. Die Stadt liegt am nordwestlichen Ende derselben
auf einer niedrigen Erdzunge, welche vom Cooper- und Ashley-River, von
jenem im Osten, von diesem im Westen bespült wird. Die Umgebungen der
' Bucht und die in derselben liegenden Inseln erheben sich sämmtlich nur wenig
über den Wasserspiegel. Die Stadt selbst ist nicht befestigt. Mehre der In¬
seln dagegen tragen Forts und Schanzwerkc, die Eigenthum der Vereinigten
Staaten sind. Eine englische Meile östlich von der Stadt, am Ausfluß des
Cooper-River, liegt am südlichen Rande van Shutes Folly Island das Fort
Pinkney, ein kleines Kastell, welches nur mit zwölf Zwanzigpfündern armirt
ist, und bis jetzt keine andere Garnison als die beiden Wächter auf dem Leucht¬
thurm hatte. Einen starken Büchsenschuß östlich von hier finden wir Hog
Island, welches ohne Befestigungen ist. Etwa drei englische Meilen südöstlich
von der Stadt und am Ausfluß des Ashley-River streckt sich James Island
hin, auf dessen östlichem Gestade das kleine Fort Johnson mit sechzehn Ge¬
schützen die Einfahrt in die Bai bewacht. Demselben Zweck dienen die Forts
Sumpter und Moultrie, jenes auf einer künstlichen Insel genau östlich von
Fort Johnson/ dieses ans dem eine englische Meile nordöstlich von hier sich
erhebenden Sullivans Island erbaut. Der Kanal zwischen den Forts Sump¬
ter und Moultrie ist die Haupteinfahrt (Ug.ii>' (Artmuol), der zwischen Fort
Sumpter und Fort Johnson, Moffit genannt, sowie der zwischen Sullivans
Island und dem Festland, Swash geheißen, ist nur mit flachgehendcn Schiffen
und während der Ebbe gar nicht zu befahren. Fort Sumpter ist also der
Schlüssel zum Hafen von Charleston und zu dessen Zollrevenuen. Es beherrscht
mit seinen Kanonen vollständig alle Kanäle, welche von der offnen See nach
der Stadt führen, und die ganze Bucht bis an die Mündung der genannten
beiden Flüsse. Fort Moultrie ist von geringerer Wichtigkeit. Auch sind seine
Werke an sich zwar stark, aber in vernachlässigten Zustande, und so entschloß
sich der hier commandirende Offizier, Major Anderson, als die Revolutionäre
Südcarolinas in den letzten Tagen des vorigen Jahres Anstalt trafen, sich
der Hafenforts von Charleston zu bemächtigen, dasselbe als unhaltbar zu
räumen und sich nach dein leichter zu vertheidigenden Fort Sumpter zurückzu¬
ziehen. In der Christnacht zu einem Abendessen nach der Stadt geladen,
stellte er sich betrunken und ließ sich nach dem Fort Monltrie zurückbringen'
wo er sofort der Garnison Befehl gab, alle Kanonen des Werkes zu ver¬
nageln, die Lafetten zu zerstören und was das Fort an kleinem Gewehr, Mu¬
nition. Proviant und sonstigem beweglichen Eigenthum der Vereinigten Staa¬
ten enthielt, auf zwei Schooner zu bringen, die an der Insel hielten, und mit
denselben nach dem damals unbesetzten Fort Sumpter zu fahren. Das Unter¬
nehmen gelang, trotz der hellen Nacht, da die Leute auf dem Dampfer, der
von General Climas, dem Führer der südcarolinischen Truppen, Anderson zu
beobachten angewiesen war, sich auf Grund von dessen vermeintlicher Trun¬
kenheit sicher vor Ueberlistung geglaubt und sich ans Land begeben hatten,
um auch ihrerseits in einer Schenke Weihnachten zu feiern. Mehrmals fuhren
die Schiffe Andersons zwischen Fort Mouline und Fort Sumpter hin und
her, ohne bemerkt zu werden, und am Morgen sah man in Charleston zu
seiner großen Bestürzung, das; die Fahne der Vereinigten Staaten von jenem
Werk verschwunden und in diesem aufgehißt war. Sofort besetzte man jetzt
die Forts Moultrie und Johnson und richtete auch auf der kleinen Insel
Morris Island, südlich von Fort Sumpter, eine Batterie her, welche einen
Angriff ans das letztere Bollwerk unterstützen sollte.
Ueber die Starke von Fort Sumpter, dessen Besetzung durch Anderson im
ganzen Norden als Großthat gefeiert wurde, und so weit es sich nur um
Südcarolina handelt, wirklich bedeutend auf die Entwicklung der Dinge wirken
>"uß, sind die Meinungen verschieden. Major Anderson hat officiell die An¬
zeige gemacht, daß. er vollständig vorbereitet, reichlich mit dem Erforderlichen
versehen und durchaus im Stande sei, dasselbe gegen jeden Angriff zu ver¬
theidigen, und nach Berichten von republikanischer Seite wäre das Fort in
der That kaum einzunehmen. Dasselbe liegt mitten in dem Kanal, der hier
anderthalb englische Meilen breit ist, auf einer aus versenkten Granitblöcken
gebildeten Insel. Seine Gestalt ist ein Fünfeck. Die Mauern, sechzig Fuß
hoch und zehn Fuß dick, erheben sich unmittelbar aus dem Wasserspiegel.
Das Ganze ist von Ziegeln erbaut, die bekanntlich ein haltbareres Material
für den Festungsbau sind, als Quadern. Das Fort hat drei Gcschützrcihen,
d>e, vollständig armirt, fünfundsiebzig Geschütze haben, und von denen die
"berste, aus Mörsern und Vierundzwanzigpfündern bestehend, unbedeckt auf
dem Dach ausgestellt ist und, auf Drehscheiben placirt, nach allen Richtungen
feuern kann. Die beiden untern Etagen sind casemattirt, und ihre Feuer-
schlünde, in der obern sogenannte Columbiaden, in der untern zweiundvierzig-
pfündige Paixhans, schleudern ihre Geschosse aus Schießscharten. Jene Co¬
lumbiaden sind Bombenkanonen, welche Hohlkugeln von acht und zehn Zoll
Durchmesser schießen und eine Tragweite von 22,000 Fuß haben, so daß mit
ihnen der größere Theil Charlestons, dessen Südspitze nur 17,000 Fuß vom
Fort entfernt ist, zerstört werden könnte. Von dieser Möglichkeit wird man
allerdings nicht leicht Gebrauch machen, da eine Republik wie die amerika¬
nische sich mit dem Bombardement rebellischer Städte länger besinnen wird,
uls das europäische Königthum in Sicilien. Wol aber könnte man mit jenen
furchtbaren Geschützen die jetzt von den Insurgenten Südcarolinas besetzten
Horts Johnson, Pintney und Moultrie zerstören. Fort Sumpter hat ferner
reichliche Vorräthe an Hodl- und Vollkugeln. 700 Faß Pulver, Lebensmittel
für sechs Monate und vier große Cisternen, die hinreichend Wasser für eine
^armsm, von 250 Mann liefern. Die jetzt unter Major Anderson stehenden
Truppen betragen 79 Mann, worunter 9 Officiere und 12 Musiker sind,
^'ud zu denen noch 80 bis 100 Arbeiter kommen, welche bis jetzt am Bau
beschäftigt waren, und von denen man die Mehrzahl zu freiwilligen Kano¬
nieren auszubilden hoffte.
Dies würden die Mittel zu Angriff und Vertheidigung sein, wenn das
Fort vollständig armirt Ware, was indeß am Tage der Besetzung durch An-
dersons Leute nicht der Fall war und wol auch jetzt noch nicht bewirkt ist.
Am 26. December waren erst dreizehn von den Paixhans der untersten Reihe
auf die Lafetten gebracht und aufgestellt, und dazu gehörten die neun Stück,
welche auf der Fort Moultrie zugekehrten Seite des Forts stehen. Man
rechnete, daß die schwache Garnison bei aller Anstrengung der Kräfte täglich
nickt mehr als zwei, weitere Geschütze montiren und an die betreffende Stelle
bringen könne. Von den Columbiaden hatte man noch keine aufgestellt, von
den en dg-rdstw feuernder leichteren Kanonen erst vier, und zwar diejenigen,
welche gegen die Batterie der Insurgenten auf Morris Island gerichtet sind.
Gesetzt aber auch, die Garnison wäre im Stande gewesen, sämmtliche Feuer-
schlünde des Forts zum Gebrauch bereit zu machen, so würde sie, selbst an¬
genommen, jene hundert Arbeiter wären zur Unterstützung der Kanoniere einge¬
übt, Officiere und Musiker wirkten als Artilleristen mit und Niemand käme durch
Krankheit oder Verwundung in Abgang, kaum ausreichen, die Geschütze sämmt¬
lich wirksam zu bedienen. Endlich ist man zwar mit Munition und Lebens¬
mitteln wohl versehen, leidet aber Mangel an Feuerungsmaterial.
Viel wird darauf ankommen, ob die Insurgenten sich zu raschem Handeln
entschließen. Daß sie den Kampf nicht scheuen, zeigt ihr Verfahren gegen den
„Star of the West", der Anderson Verstärkungen zuführen sollte, von ihnen
aber durch Kanonenschüsse zurückgetrieben wurde. Wagen sie schnell ein Bom¬
bardement und dann einen Sturm, so geräth das Fort jedenfalls in große Ge¬
fahr. Hauptangriffspunkte, von.wo man demselben beikommen kann, sind >as
Fort Johnson und die Insel Morris Island. Jenes sowol als diese sind nur
eine englische Meile von Fort Sumpter entfernt und liegen seiner südlichen
Seite gegenüber, welche die schwächste ist. Hier befindet sich der Landungs¬
platz, sowie das Hauptthor der Festung. Diese aber können bei dem gegenwär¬
tigen Zustande derselben nicht mit einem Flankenfeuer von innen her be¬
stricken werden. Eine Angriffscolonne würde, wenn sie einmal gelandet wäre,
b'el dem Versuch, durch die Thorwölbung und die Schießscharten einzudringen,
nur durch Musketcnfeuer und über die Brustwehr geworfene Handgranaten be¬
lästigt werden können.'
Daß Fort Sumpter, wenn Major Anderson es nicht freiwillig räumt, seh>
bald angegriffen werden wird, bezweifelt in Charleston Niemand. Man weip,
daß die auf Morris Island errichteten Batterien und die nach Fort Johnson
gesandten Geschütze die Bestimmung haben, den südlichen Wall des Fort<'
niederzuschmettern. Durch die Bresche wird man eine Sturmcolonne führen,
drei oder, vier Mal so stark als die gesammte Garnison, und der Erfolg sann
nicht zweifelhaft sein. Die Geschütze Andersvns sind sehr schweren Kalibers,
aber die Jnsurgenten besitzen dergleichen Zerstörungsmittel ebenfalls. Sie
haben sich in den letzten Monaten mit Bombenkanonen versehen, wie man
sie bisher in den Vereinigten Staaten nicht kannte, und ein Theil derselben
war Anfangs Januar bereits in Position gebracht. Sicher wird Anderson
sich mit seiner kleinen Schaar tapfer wehren, aber wenn es nicht gelingt, ihm
bald Verstärkungen zuzuführen oder mit einigen Kriegsschiffen jene Angriffs¬
werke der Insurgenten zu rasiren. so dürfte er den Widerstand nicht sehr lange
fortsetzen tonnen. .Zu gleicher Zeit von Süden und Nordosten beschossen, von
Morris Island. Fort Johnson und Fort Moultrie mit Kugeln überschüttet,
kann das Fort sich schwerlich auf die Dauer halten, und wenn Präsident
Buchanan sich unterdeß nicht zu größerer Energie ermannt hat, so wird auch
hier vielleicht schon jetzt statt des sternbesäeten Banners die Sonderbundsflagge
mit der Palme und dem einen Stern wehen.
Geschichte deutscher Nationalität. Von or. W. Wachsmuth. Brarm-
schweig. C. A. Schwetschke und Sohn, 1860. Ein aus gründlichen Quellenstudien
beruhendes, sehr übersichtlich geordnetes und im Vergleich mit dem hohen Alter des
Verfassers mit ungewöhnlicher Geistesfrische geschriebenes Buch, an dem wir nur das
Eine auszustellen haben, daß es gewisse Mißstände, namentlich politische, zu sehr
wie dem Sammthcmdschuh anfaßt. Anschreiben wir den Titel, so zeigt es die Wur¬
zeln und das Wachsthum dessen, was man die Volksseele genannt hat, zunächst im
großen Ganzen des Stammes, dann in den Schattirungen der einzelnen Aeste und
Zweige. Es fällt damit theils in das Gebiet der Geschichte, theils in das der
Ethnographie. Ziel des Verfassers ist (S. S2) „darzuthun wie die dein Heimaths-
land innewohnende Productionskraft und der homogene Sinn und Trieb der ihm
verwachsenen Bevölkerung unter Einfluß und durch Aneignung des Fremden die
angestammten Naturgüter mehrt und durch Impfung veredelt, und welche Sonder-
gestalt das Fremde nach seiner Einbürgerung in 'Deutschland annimmt." Der Weg,
den er dazu einschlägt, führt ihn zunächst in die Urzeit der Germanen. Er ver¬
sucht die uranfänglichen Naturbedingungen des Volksthums aufzufinden, zeigt dann
die Verhältnisse auf, in welche die Germanen mit ihrer Einwanderung in Europa
eintraten, die germanische Stammphysiognomic, das Heimwesen und die gesellschaft¬
liche Ordnung, das geistig-sittliche Element des germanischen Lebens und die be¬
sondere Ausprägung desselben in den verschiedenen Zweigen des Stammes, und geht
hierauf nach Betrachtung der Völkerwanderung und ihrer Ergebnisse zu der zweiten
Periode der Entwicklung einer deutschen Nationalität, zum Frankenreich, über. Nach¬
dem die Gestalt, in welcher der Volksgeist sich in dieser Zeit bekundet, die Sprache,
das Materielle des Volkslebens in Gewerbe, Speise, Trank, Wohnung u, s. w,', das
Recht, der Glaube, Kirche, Poesie und Kunst mit kurzen charakteristischen Strichen
gezeichnet sind, sührt uns ein weiterer Abschnitt in die Epoche ein, wo Deutschland
sich ' von dem Frankenreich gelöst hat und ein eignes selbständiges Leben sührt.
.Eine Unterabtheilung schildert die politischen Verhältnisse unter den sächsischen, sa-
lischen und hohenstaufischen Kaisern und während des Interregnums, eine zweite den
mittelalterlichen Deutschen in seiner Art zu denken, zu empfinden, zu streiten und
zu schaffe». Wir sehen ihn in seinem Aeußern, betrachten Gebiet und Bau
seiner Sprache, seine sittliche Grundstimmung und seine Anlagen. — Das ergötzliche
Kapitel des Volkshumors wird aufgeschlagen und die Jngend des Bruder Lustig,
des Spottvogels und Schwankdrehcrs in ergötzlicher Weise vorgetragen. Wir
hören die Kraftworte schallen, deren sich die Väter zu Fluch und Schwur bedienten.
Wir treten in ihr Haus und an ihr Gewerbe heran, belehren uns über ihre Rechts¬
satzungen, ihr Waffcnthum, ihren Glauben und Aberglauben und gehen dann an
dem vorüber, was sie in Poesie und Kunst 'und als Gelehrte geleistet, fortwährend
zugleich uns unterrichtend, wie und warum sich das Eine und das Andere gerade
so entwickelte. Es ist ein Gang durch ein nach Zeit und Ort wohlgeordnetes und
soweit möglich vollständiges germanisches Museum, bei dem uns ein kundiger mit
anmuthiger Rede und scharfem Auge für das Charakteristische begabter Führer be¬
gleitet. Mit dem dritten Buch betreten wir den letzten Flügel des Gebäudes, wo
wir dieselben Gegenstände in der Gestalt antreffen, die sie in der neuern Zeit, seit
dem Absterben des mittelalterlichen Geistes, und in der Gegenwart annehmen, und
zugleich dem begegnen, was in dieser letzten Periode zu der Entwicklung der Nation
Neues hinzutrat.
Der zweite Theil wendet sich zur Charakteristik und Lebensgeschichte der einzelnen
Aeste und Nebcnästc des deutschen Stammes und zwar zunächst der niederdeutschen.
Ein erstes Buch betrachtet die Friesen und die Sachsen im Allgemeinen, erstere von
der Urzeit an bis aus die Gegenwart, letztere bis zum Zerfall des Herzogthums
Sachsen. Ein zweites beschäftigt sich mit den Nebenzweigen des großen sächsischen
Stammes: den Engern und Ostfälcn des chaukischcn Küstenlandes, den Westfalen
und den südwestlichen Engern, den Ostfaleu des altsächsischen Mittcllandcs, den säch¬
sischen, nordthüringischcn und fucvischcn Stämmen, welche im Magdeburgischen,
Halberstädtischen, Mansfeldischen und Anhaltischen sich niedergelassen, ferner mit den
Altmärkern, endlich mit den Bewohnern der nordalbingischen Lande bis hinauf zu
den Grenzdistrictcn, wo Deutsche sich mit Dänen mischen. Das dritte Buch führt
uns dann zu den östlichen Absenkern des Baumes, zu den niederrheinischen Franken,
zu den Niederländern und den Hessen. Wir folgen dem Mecklenburger, dem Bran¬
denburger, dem Pommern, dem Deutschen in Ost- und Westpreußen, in Livland
und Kurland durch die verschiedenen Stadien seiner Entwicklung zu dem, was er
heute ist, und betrachten dann in gleicher Weise die zwischen Rhein, Maas nuk'
Scheide angesiedelten Deutschen. Jede dieser Zeichnungen beginnt mit einem kurzen
Abriß der ältesten Geschichte des betreffenden Landstriches und endigt mit einer
Charakteristik dessen, als was der Stamm sich jetzt darstellt, und einem Uebcrblici
über das Kontingent, das er für die deutsche Kunst,. Wissenschaft und Poesie ge¬
stellt hat. So ist das Ganze ein kunstvoll geordneter Organismus, der uns nicht
blos den großen Baum des deutschen Volksthums von der Wurzel bis hinauf zu
den Früchten in den einzelnen Zweigen, sondern zugleich das Leben und Weben der
Dryade darin, das Aufsteigen der Säfte, das Wurzelschlagcn, das Emporstrebe»
des Stammes, die Bedingungen, nach denen sich feine Aeste ausbreiten und seine
Blatter sich ansetzen und das Reifen der Blüthe zur Frucht zeigt. Indem wir n»s
vorbehalten, durch einen Ausschnitt aus dem ersten Bande ein Beispiel für die Art
und Weise zu geben, wie das Einzelne behandelt ist, empfehlen wir das Werk, als
ein nicht blos für Gelehrte, sondern zugleich für den größer» Kreis der Gebildeten
geeignetes, allen Freunden deutscher Art und Sitte angelegentlich.
Bulwers dramatische Werke. Leipzig in der Tauchnitzer Ausgabe. (Lvl-
leotion ot britisli ^utliors, Band 131—32) — In der Romanlitcratur des l9.
Jahrhunderts müssen die übrigen Völker Europas den Engländern entschieden den
Preis zugestehn! es gibt keine Richtung derselben, die in England nicht den aus¬
gezeichnetsten Vertreter fände, und trotz der ungeheuern Production scheint sich die
Ichöpfcrische Kraft in dieser Beziehung noch nicht geschwächt zu haben. Fast alle
drei Jahre oder noch häufiger erscheint ein Roman, der durch den Continent geht,
und dem nicht blos das gewöhnliche Lcsepublicum, sondern auch der wahre Kunst¬
freund tiefere Blicke in die Natur des menschlichen Herzens verdankt. Mit dem
Theater ist es nicht so. Wir wollen nicht sagen, daß die einzelnen Talente in
England schwächer wären als in Deutschland oder Frankreich. Aber die Richtung
ihrer Kunst ist gänzlich undramatisch. Es ist überhaupt ein Problem, das wol
einmal gründlicher überlegt werden könnte, woher es kommt, daß die am wenig¬
sten dramatische Nation den größten dramatischen Dichter hervorgebracht hat,
während bei den Franzosen, der am meisten dramatischen Nation Europas, sich
^in einziger Dramendichter bis zu r ersten Reihe der Weltliteratur erhoben hat. Von den
Trnnzosen konnte man sagen, daß sie durchweg geborene Schauspieler sind , ihr Ge>
sprach, sa die gewöhnlichsten Handlungen ihres Lebens sind aus Wirkung berech¬
net; diese Wirkung wird stets erreicht und mit innerem Behagen empfunden. Die
"uttelmäßigsten französischen Theaterdichter wissen, was zum Drama gehört; sie ex-
poniren deutlich, führen die Handlungrasch und entschieden vorwärts, und der Kern
des Ganzen, mag er nun faul oder gesund sein, wird jedem offenbar. Bei den eng¬
lischen Dramatikern dagegen wird sehr viel gemalt und charakterisirt, an Reflexionen
und Empfindungen ist kein Mangel, aber die Handlung schleicht trüge vorwärts,
sie wird alle Augenblicke retardirt, ohne daß man weiß warum, und was die sittliche
Idee betrifft, so muß der Dichter in der Regel sich erst die Mühe geben, sie dem
Publicum einzuschärfen, da sie sich aus der einfachen Action nicht herausstellt. Auch
selbst die Sprache, die im Romane so natürlich fließt, hat im dramatischen Jambus
in der Regel etwa» Steifes und Unbeholfnes, was nicht wcirig dazu beigetragen
haben mag den Verfall der Bühne zu beschleunigen, über den alle Augenzeugen
einstimmig sind, — Bulwer gehört auch im Roman nicht zu den Schriftstellern,
die wir mit besonderer Vorliebe lesen; wir finden bei ihm durchweg mehr Bildung
als Talent, mehr Reflexion als Anschauung: aber werthlos ist nichts von Allem,
was er schreibt, denn es ist ein seiner Kopf, der ernsthaft gedacht und viel erlebt
hat. Wahrend bei W. Scott die Dramen gegen die Romane einen ganz unglaub¬
lichen Contrast bilden, ist bei Bulwer der Unterschied nicht so groß: die Charakter
ristik ist in beiden gemacht, die Action in beiden ohne Fluß, die Sprache in beiden
künstlich erhöht; aber in beiden begegnet man auch bedeutenden Gedanken. — Als
die Aufgabe seiner sämmtlichen Dramen kann man die Rettung verkannter Charak¬
tere und Gesinnungen bezeichnen. In dem einen wird Richelieu nicht blos als
ein großer Staatsmann, sondern auch als ein edler gefühlvoller Mensch, in dem an¬
dern (not so dack g,s shea, or man^ siäss ok g, olraraoter) der liederliche Lord
Wilmot als ein liebenswürdiger und im Ganzen tugendhafter Edelmann dargestellt.
Daß in einem dritten die Herzogin von La Valliöre in der reinsten Glorie der
Frömmigkeit strahlt, und von dieser Glorie einen Schein auch aus das Haus Lud¬
wigs des Vierzehnten wirft, dürfte als weniger paradox gelten. In allen diesen
Stücken hat Bulwerdie Geschichte mit den Blicken eines Staatsmanns durchmustert,
und aus seiner Reflexion heraus die Charaktere gestaltet, die ihm nicht natürlich auf¬
gegangen sind. Was dagegen die Verknüpfung der Intrigue betrifft, so schweben
ihm durchweg französische Vorbilder vor: wie diese geht er auf Ucberraschunge-n aus,
ohne auf die innerliche Motivirung zu achten. Aber bei den Franzosen ergibt diese
Methode keinen Widerspruch. Denn da sie überhaupt so wenig als irgend möglich
charakterisiren, so setzen ihre'Charaktere ihren Plänen auch keinen Widerstand ent¬
gegen. Bei Bulwer dagegen arbeitet der Maschinist nicht selten in ganz anderer
Tendenz als der Charakteristiker. — Die beiden schwächsten Stücke der Sammlung
sind Nonsz? und I'no I^et^ ok I^vns. Das erste erinnert stark an Balzacs Mcr-
cadct, dem es aber an Feinheit der Dctailmalerci unendlich nachsteht, und das zweite
sieht grade so aus wie die Uebersetzung einer leichten französischen Farce ins Sen¬
timentale. — Wunderbar ist bei Bulwer die Arbeitskraft: diese unendliche Menge
poetischer Werke, von denen ein jedes ein gutes Stück Arbeit enthält und dann noch
eine bedeutende parlamentarische Laufbahn, eine ausgedehnte Geselligkeit, ja eine Zeit¬
lang sogar eine Stellung im Ministerium. —
Die schweizerische Eidgenossenschaft besaß von 1815 bis 1847 eine Tag¬
satzung, welche mit dem deutschen Bundestage viele Aehnlichkeit hatte. In
manchen Beziehungen aber waren die beiden Einrichtungen verschieden. Die
schweizerische war uralt, Jedermann erkannte sie wieder, als sie nach der kur¬
zen helvetischen Republik und der napoleonischen Mediationsverfassung, welche
weit besser war. ihr ehrwürdiges Antlitz wieder zeigte. Die deutsche Bundes¬
verfassung war etwas Neues; sie war nicht das alte Reich, um so mehr be¬
rechtigte, sie zu den schönsten'Erwartungen. Die schweizerische Einrichtung be¬
ruhte ferner nicht auf so großartigen Fictionen wie die deutsche in Bezug auf
die Gleichberechtigung, aller Mitglieder des Bundes. Die Schweiz ist keine
Großmacht, unter ihren „Ständen" (Cantonen) sind keine Großmächte, kein
..Stand" hat außerschmeizerische Besitzungen, mit denen er als europäischer
Staat außerhalb der Eidgenossenschaft stünde; die Schweiz ist ferner neutral
und so lauge sie ihre-Ncutralttät nicht gefährdet glaubte, lag ihr mehr an
der Ungebundenheit ihrer Glieder als an der Zusammenfassung aller Kräfte
in Einer Hand. Dem Partikularismus, „Cautönligeist" genannt, entsprach
die Verfassung von 1815 vortrefflich. Deutschland hatte zwar als solches längst
aufgehört, eine Großmacht zu sein, aber durch den Bundestag sollte es wieder
une Großmacht werden. , Diese Aufgabe 'konnte der Bund jedoch nicht lösen,
weil er zwei Großmächte unter seinen Gliedern zählte, die keine dritte neben
sich haben wollten; die Institution'konnte daher, wie die schweizerische, nur
dem Particularismus dienen. Als die Schweiz merkte, daß sie ungeachtet ihrer
Neutralität angefochten werden könne, sorgte sie für eine bessere Bundesver¬
fassung; Deutschland, obgleich zum Oeftern bedroht, hat dies bis jetzt zwar
einmal versucht, aber nicht zu Stande gebracht.
In einzelnen Zügen bieten, sich noch bemerkenswerthe Vergleichungs¬
punkte zwischen der alten schweizerischen Tagsatzung und dem deutschen Bundes-
inge. Während Deutschland nur Ein Frankfurt hat. besaß die Schweiz deren
Drei. Alle zwei Jahre wechselte die Tagsatzung ihren Sip zwischen den
Städten Bern, Zürich und Luzern; schwere Lastwagen schleppten das eidge¬
nössische Archiv mit Acten und Allem von einer Stadt zur andern. Die Re¬
gierung des Cuntons, an welchem die Tngsatznng sich aufhielt, war „Vorort",
das heißt, geschüftsführende Regierung, eine Executive für die Beschlüsse der
Tagsatzung. Von den Attributen einer Centralgewalt hatte der Vorort die Vertre¬
tung der Eidgenossenschaft nach außen und die Verfügung über die Streit-
krüfte zum eidgenössischen Dienst; der Soldat fühlte sich mit dem nationalen
Abzeichen, der rothen Armbinde mit dem weißen Kreuze, als schweizerischer
Krieger. Dies ist mehr als der deutsche Bundestag hat. dem eine geschäfts¬
führende Regierung fehlt. Eigene Finanzen hatte das Bundesorgan in der
Schweiz' so wenig wie in Deutschland, beide waren auf Beiträge der Mit¬
glieder augewiesen. Die Cantone waren in .Klassen eingetheilt, so daß die
reicheren mehr zahlten als die ärmere»; neben der Bevölkerung bildete der
Wohlstand eine» Factor für die Anlage der Beiträge, so daß z. B. Basel
und Ge»f 5 bis 6 mal so viel im Verhältniß zur Bevölkerung auszubringen
hatten als Uri oder Unterwalden. Bern fiel unter zwei Klassen: unter eine
höhere für den deutschen Landestheil, und eine niedere für den ärmeren fran¬
zösischen. Die deutsche Bundesmatrikel scheert- Alle über Einen Kamm, die
reichen Hanseaten und Frankfurter wie die armen Gebirgsbewohner in den
böhmischen Wäldern. Die Bundesverfassung von 1848 hat der Schweiz ge¬
geben, was dem Bundesvertrag vom 7. August 181^5 fehlte. Bis wir in
Deutschland so weit kommen, wäre es vielleicht zuträglich, den Bundestag
eben so wie die ehemalige Tngsatznng in periodische Bewegung zu setzen, eine»
Turnus zwischen Wien, Berlin und München einzuführen und die betreffende
Regierung als Vorort walten zu lassen. Der Umzug könnte, um die Arbeiten
nicht zu stören, in den Ferien geschehen und diese könnten auf zehn bis elf
Monate im Jahre verlängert werden. Aus der Permanenz der Bundesver-
sammlung ist Deutschland noch kein Heil erwachsen; die Tagsatzung war or¬
dentlicher Weise nur wenige Wochen im Jahre versammelt und fand' daher
keine Muße, in die inneren Angelegenheiten der „Stände" maßregelnd ein¬
zugreifen. Ihr äußeres Erscheinen imponirte, obgleich die Gesandten andern
europäischen Frack keine Sterne und Kreuze trugen; dafür folgte einem Jeden
der „Standesweibel", ein Bote, dessen Mantel in den Farben des Cantons
gestreift war. Wie in Frankfurt, so stimmten in Bern, Zürich oder Luzern
die Gesandten nach Jnstructionen; aber es fanden hier förmliche öffentliche
Verhandlungen' statt. Nöthig waren diese gerade nicht, denn die Gegenstände,
welche auf die Tagesordnung kamen — die Tractanden — waren vorher be¬
kannt, ebenso die Jnstructionen. die jeder Canton seinem Gesandten ertheilt
hatte; die Beschlüsse zu finden, bevor die Sitzungen begonnen hatten, war ein
einfaches Rechenexempel, und die Debatten selbst hatten nur einen dramatische"
Effect, immerhin Etwas für das Volk, was Frankfurt nicht bietet. Dazu kam
noch ein sprachliches Interesse. Jeder Gesandte sprach in seiner heimatlichen
Zunge, man hörte nicht nur verschiedene oberdeutsche Mundarten, sondern auch
französisch und italienisch- Ein äußerst gewandter Dolmetscher gab nach An¬
hörung eines deutschen Bortrags den Sinn desselben sofort französisch wieder, wo¬
mit sich in der Regel auch der italienische Tessiner zufrieden gab, und um¬
gekehrt die französische Rede in deutscher Sprache. Man könnte, wenn man
wollte, in Frankfurt ähnliche Sprachstudien treiben, wenn die Gesandten von
Dänemark und Niederland in der Bundesversammlung eben so sprechen woll¬
ten, wie ihre Bundesländer regiert werden, nämlich holländisch und dünisch.
Die Abstimmungen der Tagsatzung zeigten außerdem noch das arithmetische
Cunosum, daß zwei halbe Stimmen nur in den seltensten Füllen eine ganze
ausmachten. Jeder Halbcanton. Baselstadt und Baselland. Appenzell-Immer-
'hoben und Appenzell-Außerrhoden. hatte eine halbe Stimme; aber nur die beiden
zusammen gehörigen Cantonshülften bildeten eine ganze Stimme. Da sich
die betreffenden Cnutone gerade darum getrennt hatten, weil sie nicht einig waren,
so sielen ihre halben Stimmen regelmäßig in entgegengesetzter Richtung. Ba¬
selstadt stimmte mit Jnnerrhoden conservativ, Baselland mit Außerrhoden libe-
wl, und dann waren die beiden halben Stimmen keine ganze. Dieser Um¬
stand gewann eine historische Bedeutung, als im Jahre 1830 in den größern
Cantonen die Patrizier ihre Macht verloren, die Bauern auf den curulischen
Stühlen Platz nahmen und neben der Preßfreiheit. dem Straßenbau, dem
Volksschulwesen und anderen nützlichen Dingen auch eine bessere Bundesver-
iassung verlangten. Der Antrag kam an die Tagsatzung und es wurde zu¬
nächst über die Vorfrage verhandelt, ob die Tagsatzung selbst die Reform in
die Hand nehmen oder ob eine besondere constituircnde Versammlung damit
betraut, und im bejahenden Falle, wie dieselbe zusammengesetzt werden solle.
Die Mehrheit für einen Beschluß erforderte zwölf Stimmen, aber so viele wa-
"n für keinen Antrag zu erlangen; so kam Jahr sür Jahr die Reformfrage
Wieder aus die Tractanden und schleppte sich sechzehn Jahre lang unerledigt
bin. Zuletzt hatten sich eilf und zwei halbe Stimmen für einen Antrag ver¬
einigt, aber es waren leider nicht zwölf Stimmen, denn die zwei halben waren
Appenzell-Außerrhoden und Baselland. Da kam 1847 der Sonderbundskrieg.
die kleinen Kantone wurden von den großen besiegt und durften beklagen, daß
'dre leichtsinnigen Väter vor Jahrhunderten die anderen in ihren Bund aufge¬
nommen hatten. Nun drang das Bedürfniß stärkerer Einigung durch, zumal die
Gefahr fremder Einmischung nahegerückt war. Die Tagsatzung selbst, besser
'nstruirt. brachte in Monatsfrist (vom 15. Mai bis 27. Juni 1848) den Ent¬
wurf der neuen Bundesverfassung zu Stande, welcher vom Volke und von den
Regierungen unverändert angenommen wurde. In kurzer Frist gewann die
Schweiz durch die neuen Institutionen die Post-, Münz- und Zolleinheit; da¬
bei behielten die Cantone eine genügende Selbstständiglnt, sie brauchten den
Einheitsstaat nicht^und erreichten, was Noth that, mit Beibehaltung der föde¬
rativem Form.
Hatte die alte Tagsatzung zu wenig geleistet, so war sie doch niemals
mißbraucht worden, um liberale Regungen in den Cantonen zu unterdrücken.
Die patrizischen Regierungen hatten den Muth gehabt, dies selbst zu thun,
ohne ihren Bundestag in Anspruch zu nehmen. Die periodische Presse z. B.
erfreute sich einer so tugendhaften Censur, wie sie nur je durch Carlsbnder und
andere Beschlüsse in Deutschland zur Blüthe gebracht war. In einer Berner
Zeitung las man die interessantesten Berichte über Amerika, Australien und
China, aber nie ein Wort der Kritik über die Verwaltung des eigenen Staa¬
tes. Die Censoren übten eine musterhafte Zucht. Da geschah es, daß eine
Landsgemeinde,, die Versammlung des souverainen Volkes in Appenzell, durch
deren Wahl sämmtliche^Aemter, folglich auch das Censoramt, besetzt wurden,
zu der Ansicht gelangte, sie sehe nicht ein, welchen Nutzen diese Function dem
Gemeinwesen bringe, und weshalb dafür eine, wenn auch noch so kleine Be-.
soldung dem gemeinen Teckel aufgebürdet werden sollte. Kurz, die Landsge-
meinde beschloß, "keinen Censor mehr zu wählen und sonnt war die Presse
frei. , Alsbald gewann die kleine Appenzeller Zeitung eine nie geahnte Wich¬
tigkeit für die Schweiz. Die bedeutendsten Schriftsteller und Staatsmänner
der liberalen Partei wurden ihre Mitarbeiter und weckten die öffentliche Mei¬
nung für die Frage der Bundesreform und für größere Theilnahme des Vol¬
kes an der Gesetzgebung und Verwaltung der Einzelstaaten. Die Cantonsregie-
rungen wehrten sich durch Verbote, aber sie beförderten dadurch nur die Ver¬
breitung des Blattes. Das Organ des Bundes mischte sich nicht in diese
Angelegenheit, die Tagsatzung wagte keinen Eingriff in die Souverainetät
des Cantons Appenzell. Dies geschah in den zwanziger Jahren. Im Jahre
1832 vernichtete der Bundestag in Frankfurt das Preßgesctz, welches die Re¬
gierung mit beiden Kammern in Baden vereinbart und verkündet hatte! —'
Im Jahre 1830 wurde die Zahl der constitutionellen Staaten in Deutsch¬
land um einige vermehrt. Hätte eine oder die andere Regierung damals bei
dem Bundestage den Antrag gestellt, seine Verfassung zu verbessern, und die¬
sen Antrag von Zeit zu Zeit wiederholt, so würde derselbe bis zum Jahre
1848 in den Ausschüssen geschlummert haben.
Wir hätten keine öffentlichen Kammerverhandlungen über Instructionen
an die Bundestagsgesandter, keine öffentlichen Verhandlungen in Frankfurt
über die Bundesreform erlebt; die Zahl der Stimmen für den Antrag hätte
sich nicht allmälig vermehrt, und es hätte also der Bundestag im Jahre 1868.
als das Metternichsche System am Boden lag, nicht, wie die Tagsatzung'
etwas zu Stande geknackt; er konnte auch in diesem Falle nichts Anderes
thun, als was er gethan hat, seine eigene Unfähigkeit erklären. Ein östrei¬
chisches Mitglied des deutschen Parlaments weissagte im Juni 1848, als die
Einlicitshoffnungen am höchsten standen, allerdings mir in vertraulichem Ge¬
spräche: „Es wird nichts Anderes kommen als wieder der alte Bundestag;
warum? — Oestreich kann nichts Anderes brauchen," — Der Mann, ein hö¬
herer Offizier, hatte richtig gesehen; aber nun ist es so weit gekommen, daß
der Bundestag und Oestreich einander selber nicht mehr brauchen können.
Wenn im Jahre 1848 die patriotische Hingebung der Tagsatzung, welche
einen Berfassnngsentwurf annahm, der sie selbst aus der Welt schaffte, in Frank¬
furt bei dem Bundestage keine Nachahmung fand, so wurde doch auch hier
ein Entwurf ausgearbeitet. Das Parlament kam mit dieser Arbeit zwar nicht
in einem, aber doch ungefähr in nenn Monaten ins Reine. Während aber in
der Schweiz Regierungen und Volk ihrerseits einen Beweis von Nationalge¬
fühl und politischer Einsicht gaben, indem sie den Entwurf durch einmüthige
Zustimmung zur Verfassung erhoben, sträubten sich in Deutschland die Großen,
und ihr Sträuben erlöste die Kleinen. Gestehen wir es nur, nicht allein an
den Höfen und in den Ministerien, nein, auch unter den Bürgern und Bauern
offenbarte sich ein Uebermaß von Particularismus und ein kläglicher Mangel
an Nntionalsinn. Jedes Ländchen beinahe machte sich eine Verfassung, meist
auf breitester demokratischer Grundlage, und wären die Fürsten nicht geblieben,
wir Hütten nicht achtunddreißig Staaten, sondern mindestens ein halbes Tau¬
send Republikchen, vielleicht unter dem „schwachen Dache" eines Directoriums
Zu einem ephemeren Dasein gelangen sehen. Es ist seither besser geworden
Mit der Einsicht in das. was dem Vaterlande noth thut. Die Einheitsfrage
'se auf die einfache Formel zurückgeführt: was ist nöthig, damit Deutschland
sich-der äußeren Feinde erwehren und seine inneren Hilfsquellen gehörig för¬
dern und benutzen kann? Nicht viel länger ist die Antwort: Deutschland bedarf
einer einheitlichen Leitung für sein Heer, seine auswärtige Politik, und seine
nationalen Angelegenheiten; die Befugnisse und die Mittel zu diesen Zwecken
müssen der Centralgewalt und der Nativnalvertretung eingeräumt und zur Ver¬
fügung gestellt werden.
Wenn die Voraussetzungen für die Möglichkeit einer bundesstaatlichen
Regierung mit Nativnalvertretung gegeben sind, ein öffentlicher Geist, welcher
den particularistischen Widerstand in den einzelnen Gliedern bricht, ein öffent¬
licher Wille, der in den Regierungen und Landesvertretungen durchschlägt: dann
sind die betreffenden Bestimmungen in der Bundesverfassung nicht schwer zu
formuliren. Ohne jene Voraussetzungen dagegen helfen die bestredigirtcn Bun-
dcsgrundgesctze so viel wie gar nichts. In der deutschen wie in der schweizerischen
Bundesacte von 1815 und 1816 lagen alle Keime, welche in ihrer Entwickelung
aus dem völkerrechtlichen Verhältnisse in ein staatsrechtliches hätten führen
können; allein die Neigung und der Wille dafür waren unter den Gliedern
nicht vorhanden. In der eidgenössischen Kleinwelt hat die im Sonderbunds¬
kriege bloßgelegte Gefahr innerer Zerwürfnisse und äußerer Einmischung die
Einigung gestärkt, und die Erfahrungen der Jahre 1.859 und 1860 haben den
neuen Bund in den Gemüthern noch mehr befestigt. In Deutschland hätte
die versuchte Einführung einer von den meisten Fürsten angenommenen Ver¬
fassung beinahe zum Bürgerkriege geführt, und die neueren Gefahren haben
zu einer Art von Sonderbund eher als zu einer stärkern Einigung Anlaß
gegeben. Inzwischen darf man, aller Schwierigkeiten ungeachtet, den Muth
nicht sinken lassen, da durch ihre Ueberwindung die Existenz einer großen Nation
bedingt ist, und da es nicht schwer fällt durch Vergleichung nachzuweisen, wie
überall, wo es sich um eine Konföderation handelt, die nämlichen wesentlichen
Erfordernisse sich gleichsam von selbst herausstellen. Wenn wir uns dabei auf
eine Vergleichung der schweizerischen Verfassung von 1848 mit dem Entwürfe
einer deutschen Reichsverfassung von 1849 beschränken, so ist zu bemerken, daß
die Ausdehnung auf die Verfassung der amerikanischen Union, welche gegen¬
wärtig auf eine schwere Probe gestellt wird, und anderseits auf den Erfurter
Entwurf, das Ergebniß nicht verändern würde.
Die Vertretung der Gesammtheit wie der einzelnen Glieder nach außen
steht nach beiden Verfassungen selbstverständlich der Centralgewalt zu. Sie
allein hat das Recht über Krieg und Frieden, besorgt die auswärtigen An¬
gelegenheiten, schließt Verträge und ernennt die Gesandten und Consuln. Den
einzelnen Staaten ist jedoch die Befugniß zu Verträgen nicht ganz entzogen.
Nach der Reichsverfassung von 1849 steht ihnen frei, unter einander Verträge
überhaupt, mit nichtdeutschen Regierungen aber nur über Gegenstände des
Privatrechts, des nachbarlichen Verkehrs und der Polizei abzuschließen. Sind
solche Verträge nicht rein privatrechtlichen Inhalts, so müssen sie der Reichsgewalt'
zur Kenntnißnahme und, sofern das Neichsinteresse dabei betheiligt ist, M
Bestätigung vorgelegt werden. Das Vertragsrecht der Cantone ist enger be¬
grenzt. Bündnisse und Verträge politischen Inhalts unter einander sind ihnen
untersagt; Vereinbarungen über Gegenstände der Gesetzgebung, des Gerichts¬
wesens und der Verwaltung sind der Bundesbehörde zur Einsicht vorzulegen,
welche die Vollziehung zu hindern befugt ist, wenn der Inhalt den Bund oder
die Rechte anderer Cantone beeinträchtigt. Verträge mit dem Auslande dürfen
die Cantone über Gegenstände der Staatswirthschaft, des nachbarlichen Ver¬
kehrs und der Polizei abschließen, und sie können darüber mit den untergeord¬
neten Behörden und Beamten eines auswärtigen Staates in unmittelbaren Verkehr
treten; weiterhin haben sie sich der Vermittelung des Bundesrathes zu bedienen.
In Beziehung auf die Streitkräfte unterscheidet der Entwurf von 1849
zwischen der Landmacht und der Seemacht. Letztere ist ausschließlich Sache des
Reichs. Die Landmacht dagegen wird von den einzelnen Staaten ausgebil¬
det und unterhalten (so weit die Kosten den Friedensstand nicht übersteigen);
es bleibt ihnen die Verfügung über ihre Truppen, so weit dieselben nicht für
den Dienst des, Reiches in Anspruch genommen werden. So weit gehen die
Bestimmungen kaum über die bestehenden der Bundesacte hinaus. Viel
weiter aber gehen nothwendig die in den Entwurf aufgenommenen Grund¬
züge einer deutschen Kriegsverfassung gegen die betreffenden, als unzulänglich
allgemein anerkannten Bestimmungen der Bundeskriegsverfassung. Der Reichs¬
gewalt und Gesetzgebung bleiben vorbehalten: eine allgemeine Wehrverfassnng,
die Gesetzgebung und Organisation des Heerwesens, so wie die Aufsicht über
die Durchführung derselben; die Ernennung der Befehlshaber für die gemisch¬
ten Armeecorps, und für den Krieg die Ernennung der commandirenden Gene¬
rale der selbständigen Corps, so wie des Personals der Hauptquartiere.
Endlich kann die Reichsgewalt Festungen und Küstenvertheidigungswerke an¬
legen, auch vorhandene Festungen für Reichsfestungen erklären. — Die schwei¬
zerische Verfassung gibt der Bundesgewalt nicht allein alle die gedachten Be¬
fugnisse — eine Seemacht kommt hier auch in der Verfassung nicht vor —
sondern sie bestimmt außerdem, daß alle Truppenabtheilungen im eidgenössi¬
schen Dienste ausschließlich die eidgenössische Fahne führen; daß außer dem
Auszuge vou drei Procent und der Reserve von ein und ein halb Procent der
Bevölkerung, in Zeiten der Gefahr auch die übrigen Streitkräfte (die Land¬
weh») der Cantone dem Bunde zur Verfügung stehen. Endlich übernimmt
der Bund den Unterricht der Genietruppen, der Artillerie und der Kavallerie,
die Bildung der Jnstrnctoren für die übrigen Waffengattungen, den höhern
Militäruntcrricht für alle Waffengattungen, die Lieferung eines Theiles des
Kriegsmaterials, und überwacht den Militärunterricht der Infanterie und
Scharfschützen, so wie die Anschaffung, den Bau und Unterhalt des Knegs-
zeugs. welches die Cantone zum Bundeshcere zu liefern haben.
Zur Bestreitung der Ausgaben für die Zwecke der Gesammtheit überweist
der Entwurf von der Reichsgewalt zunächst einen Antheil an den Ein¬
künften aus den Zöllen und den gemeinsamen Productions- und Verbrauch¬
steuern (Branntwein. Tabak. Rübenzucker u. s. w.). Die Größe dieses Antheils
wird nach Bedarf durch das ordentliche Budget bestimmt; der Rest des Be¬
lags der genannten Einkünfte wird unter die einzelnen Staaten vertheilt.
Zur Ergänzung ihres Bedarfs hat die Reichsgewalt ferner das Recht-. Ma-
tnkularbeiträge umzulegen; in außerordentlichen Fällen endlich ist sie befugt.
Reichssteucrn aufzulegen, so wie Anleihen zu machen und sonstige Schulden
on contrahiren (z. B. durch Ausgeben von Schatzscheinen). — Dem eidgenös¬
sischen Bunde werden nach der Verfassung zur Verfügung gestellt: die Erträge
der Grcnzzöllc, der PostVerwaltung und der Pulververwaltung; ferner die Zin¬
sen der eidgenössischen Kriegssonds, zuletzt subsidiarisch Beitrage der Cantone,
welche jedoch nur in Folge von Beschlüssen der Bundesversammlung erhoben
werden dürfen. Die Schweiz hat hiernach für eigene, von dem guten Willen
der Einzelregierungen unabhängige Einkünfte der Vundcsgewnlt reichlich ge¬
sorgt, und es ist die vorsichtige Bestimmung getroffen, daß jederzeit wenigstens
der Betrag des doppelten Geldcontingents für Bestreitung von Militärkosten
bei eidgenössischen Aufgeboten baar in der Bundeskasse liegen muß. Der
Bundeskasse zu Frankfurt ist eine, ähnliche Last nicht aufgebürdet, obgleich dies
im Falle eines Aufgebotes kleiner Contingente zur Vollstreckung der Executw»
in Schleswig-Holstein nicht schaden könnte. In Betreff der Geldmatrikel hat
me schweizerische Verfassung den alten Grundsatz, dessen oben schon erwähnt
ist, beibehalten, daß nämlich nicht die Bevölkerung allein, sondern theils diese,
theils die Vermögens- und Erweibsverhnltuisse der Cantone zur Grundlage
dienen. Um den Veränderungen, welche die Zeit bringt, gerecht zu werden,
ist die Geldskala alle zwanzig Jahre einer Revision zu unterwerfen. Im
deutsche» Zollverein ist das Beispiel gegeben, wie Städte und Länder, Frank¬
furt und Hannover, einen weit größern Antheil an den Zollgefällen, als nach
der Volkszahl ihnen zufallen würde, verlangt und zugestanden erhalten haben,
weil sie reicher sind als andere, und daher mehr zollpflichtige Gegenstände ver¬
brauchen. Es wird daher nicht schwer fallen' den Maßstab, nach welchem die
Bezüge bemessen werden, auch bei den Leistungen in Anwendung zu bringen-
Wenn endlich die schweizerische Verfassung nicht von Anleihen und von andern
Schulden als von Mitteln zur Bestreitung der Ausgaben spricht, so kommt
dies ohne Zweifel daher, weil derartige Operationen dort nicht für den or¬
dentlichen Haushalt in Aussicht genommen werden, wie dies auch anderwärts
nicht, und nur in solchen Staaten geschieht, wo die' Staatsrechnung regelmäßig
mit einem Deficit abschließt, z. B. >n . . China. Es folgt jedoch daraus
keineswegs, daß die Eidgenossenschaft nicht auch Schulden machen dürfe, wenn
die Noth es erfordert. Wenn auch nicht unter den ordentlichen Einnahmen,
so ist doch unter den Befugnissen der Bundesversammlung das Recht. Anleihen
zu machen, ausdrücklich angeführt, und bekanntlich ist davon auch schon bei
dein Neuenburger Handel Gebrauch gemacht worden. Dagegen hat der Bund
nicht iias Recht, Steuern (directe) auszuschreiben, und es könnte darauf auch
in einem deutschen Bundesstaate verzichtet werden, falls der Centralgewalt die
sämmtlichen Zollgefälle und der Ertrag solcher Productious- und Verbrauch'
Stender, über deren gemeinschaftliche Erhebung und Vertheilung jetzt schon Ver¬
träge unter einzelnen Zollvereinsregierungen bestehen, für Zwecke der Gesammt-
heit überlassen würden.
Die Vertretung nach außen, die Verfügung über die Streitkräfte, d'e
dazu erforderlichen Mittel, das sind die Dinge, auf welche es hauptsächlich
ankommt, wenn die Centralgewalt im Stande sein soll, die Rechte und In¬
teressen der Gesammtheit zu wahren und ihr Gebiet gegen feindliche Angriffe
zu schützen. Auf diese Punkte beschränkt sich unsere Vergleichung der betref¬
fenden Bestimmungen in der schweizerischen Verfassung und dem Entwürfe
einer Reichsverfassung von 1849, und es sei nur noch bemerkt, daß von den
gemeinsamen innern Angelegenheiten, worüber die Gesetzgebung und Ober¬
aufsicht mit mehr oder weniger Beschränkung dem Bunde vorbehalten ist,
Zölle, Handel und Schifffahrt. Post, Telegraphen. Münze, Maß und Gewicht,
sowie ein Reichs- oder Bundesgericht die wesentlichsten sind. — Bei Abfassung
der deutschen Bundesacte wurde auch keineswegs verkannt, was nöthig sei,
um „nach außen eine in politischer Einheit verbundene Gesammtmacht" zu bil¬
den. Es wurde der Bundesversammlung als ihr erstes Geschäft aufgegeben,
»die Grundgesetze des Bundes abzufassen und dessen organische Einrichtung
in Rücksicht auf seine auswärtigen, militärischen und inneren Verhältnisse fest¬
zustellen. Wie jedoch die hohe Versammlung ihre Mühe und Zeit mit Ma߬
regeln gegen Kammern, Professoren, Studenten und Handwerksburschen ver¬
schwendete, wie wenig sie für ihre große, nationale Aufgabe geleistet, dies
mag sie selbst uns sagen in einigen Stellen aus dem Bundestagsprotokoll
vom 8. März 1848:
„Schon die Grundverfassung des Bundes war eine mangelhafte und un¬
genügende. Manche Gegenstände waren darin aufgenommen, die füglich den
einzelnen Bunde.sgliedern hätten überlassen bleiben können, während andere
und wichtigere, die zur Entwicklung und Erstarkung des Bundes unentbehrlich
waren, von dessen Competenz ausgeschlossen, oder doch nur als Versprechen
oder Wunsch bezeichnet wurden. Die Erfüllung solcher Versprechen und Wünsche
wurde aber von der Einhelligkeit der Stimmen abhängig und dadurch die
Erreichung eines befriedigenden Resultates von vornherein unmöglich gemacht.
Aus diesem Wege konnten die zu einem wahren und kräftigen Bunde unent-
bshrlichen Institutionen nicht ausgebildet, noch weniger zur Anwendung
gebracht werden. Der Souverünetät der einzelnen Bundesstaaten wurde da¬
durch eine Ausdehnung gegeben, welche die Wirksamkeit des Bundes in stets
engere Grenzen einzwängen mußte. Hieraus entsprang die Abhängigkeit der
Bundestagsgesandter von speciellen Jnstructionen und die Unmöglichkeit der
Entwicklung irgend einer selbständigen Thätigkeit dieser hohen Versammlung.
Die Protokolle hoher Bundesversammlung waren nichts mehr als ein Repo-
sitorium von Vortrügen und einzelnen Abstimmungen ohne inneres Leben und
Zusammenhang, ohne Austausch der Ideen und Ansichten, ohne ein sich da¬
raus mit Folgerichtigkeit ergebendes Resultat. Dazu kam eine mangelhafte
Geschäftsordnung, deren Vervollständigung nicht einmal versucht und noch
weniger erzielt wurde. Allein auch diese Geschäftsordnung konnte bei der
Stellung, die den Bundestagsgesandter von ihren Regierungen gegeben war,
nicht einmal eingehalten werden . . . Kein Wunder, daß nach allem Obigen
das Ansehen der Bundesversammlung von Tag zu Tag mehr sank, und sich
zuletzt in sein Gegentheil verwandelte u. s. w." —
Aus diesen Betrachtungen gelangte der Ausschuß des Bundestags zu der
Erkenntniß: „daß die Verfassung des deutschen Bundes, wenn Deutschland
einig, stark und friedlich bleiben soll, einer Revision auf breiter nationaler
Grundlage bedarf." und die Versammlung beschloß in Uebereinstimmung mit
dem Ausschnhantrage, den Ausschuß zu beauftragen, gutachtlichen Vortrag
über die Art und Weise, wie diese Revision zur Ausführung zu bringen sei,
unverzüglich zu erstatten.
Bis dahin befand sich der Bundestag im Einklange mit seiner helvetischen
Schwester, der Tagsatzung; allein von nun an trennen sich die Wege: Die
Tagsatzung brachte eine zeitgemäße Revision der Bundesverfassung auf natio¬
naler Grundlage zu Stande, der Bundestag aber nicht. Der Entwurf der
Tagsatzung wurde von den Regierungen und der Bevölkerung der Cnntone
angenommen; der Entwurf, welchen in Ermangelung des Bundestags das
Parlament zu Tage förderte, erfreute sich nicht der Zustimmung der ma߬
gebenden Regierungen. Die Tagsatzung trat mit Ehren uach redlich voll¬
brachtem Werke vom Schauplätze ab, und aus ihrer Asche ging eine Central-
gewalt, der Bundesrath, und eine Nationnlvertrctung, der Nationalrath und
der Ständerath, hervor. Der Bundestag erschien wieder, ganz in alter Weise,
obgleich noch im December 1850 die östreichische Einladung zu den dresdener
Conferenzen eine Revision der Bundesverfassung als ein Bedürfniß anerkannte,
welches in Deutschland gefühlt worden sei. „lange ehe noch die Begebenheiten
der letzten drei Jahre dessen Erfüllung zur Sache unaufschieblicher Nothwendig¬
keit gemacht hatten." Man muß. fuhr Fürst Schwarzenberg fort, schnell an
das Ziel der Revision gelangen, „will man nicht die Bande, die gesetzlich und
naturgemäß die deutschen Staaten aneinander knüpfen, immer mehr sich lockern,
will man nicht die deutschen Verhältnisse einer völligen Auflösung entgegen-
gehen, und den Bund in der europäischen Staatensamilie gänzlicher Macht¬
losigkeit zur traurigen Beute werden sehen."
Wenn ungeachtet der allseitig erkannten Bedürsnißftage und des in deutlichen
Worten ausgesprochenen guten Willens zur Abhilfe, dennoch ein Jahrzehnt
ohne irgend eine entsprechende Handlung verstrichen ist. so ist dies vielleicht
dem Umstände zuzuschreiben, daß die Schwierigkeiten einer befriedigenden Eini¬
gung bei gewissenhafter Achtung jeder abweichenden Ansicht in Deutschland größer
sind als anderwärts, daß die Noth der zwingenden Ereignisse noch nicht nabe
genug an uns herangetreten ist, daß folgeweise der gute Wille noch nicht in seiner
vollen Reinheit und Stärke hat zur Erscheinung kommen können. Was noch
fehlt, wird ohne Zweifel und in nicht ferner Zukunft herankommen, und es
gilt, vorbereitet zu sein, damit der günstige Augenblick, die deutschen Glieder
zu einem starken Ganzen zu vereinigen, nicht abermals versäumt werde. Zur
Vorbereitung gehört die gewissenhafte Arbeit aller Organe der öffentlichen
Meinung und des öffentlichen Willens, um den nothwendigen Inhalt einer
zeitgemäßen nationalen Bundesverfassung festzustellen und dem Volksbewußt¬
sein einzuprägen; gleichzeitig aber das thätige Bestreben, in die Regierungen
und die Volksvertretungen solche Elemente einzuführen, welche eine Gewähr
dafür bieten, daß im rechten Augenblicke dem nothwendigen Inhalte die ent¬
Kritische Gänge. Neue Folge. Von Dr. Friede. Theod. Bischer, Professor der
Aesthetik und deutschen Literatur in Zürich. Erstes und zweites Heft.
Stuttgart. I. G. Cotta'scher Verlag. 1861.
Daß Fr. Bischer sich entschlossen hat, seinen kritischen Gängen eine neue
Folge zu geben, darin kommt er nur dem Wunsche der Vielen entgegen, denen
die vor siebzehn Jahren erschienenen zwei ersten Bändchen lieb geworden sind.
Er hat diesen leichten Truppen in der Zwischenzeit den Phalanx seiner Aesthc-
tck nachrücken lassen, und dadurch bewiesen, daß die gesunden Blicke und
witzigen Einfälle der frühern Schrift mehr als nur dies, daß sie die wohl-
vegründeten Ergebnisse eines zusammenhängenden ästhetischen Systems waren.
Das aber eben, was außer umfassenden Wissen und philosophischem Denken
°er Aesthetiker noch besitzen muß, um in seinem Berufe Ausgezeichnetes zu leisten:
die Schärfe und Helle des Blicks, die Wärme des Gefühls, den hohen Flug
der Phantasie wie den behenden Sprung des Witzes, das zu bethätigen gab
die Form kleinerer, leicht hingeworfener Aufsätze mehr Gelegenheit, als der
gemessene, stoffschwere Paragraphengang der systematischen Darstellung, und
insofern kann man wol fragen, ob Bischer durch seine Aesthetik oder durch
seine kritischen Gänge mehr gewirkt habe? Dem Umfang nach gewiß durch
die letzteren.
Freilich diese unvergeßlichen Späße, diese Saturnalien des Witzes und
Scherzes, wie sie die Revision der Faustliteratur, die Beleuchtung des Over-
bcckschcn Triumphs der Religion in den frühern Lieferungen brachten, dürfen
wir in der neuen Folge nicht wieder suchen. Ach, wenn wir in die reifen
Mannesjahre treten, lassen wir ja nicht blos zurück was kindisch war, sondern
auch „jene rothen Backen", in denen es uns bei aller jugendlichen Dumpfheit
so wohl gewesen ist. Doch sei's um die spritzenden Funken: darum kann das
Feuer nur desto Heller lodern, desto heißer glühen. Und so finden wir es in
dieser neuen Folge der Vischerschen Schrift. Während wir das Wissen des
Verfassers bereichert, seinen Gesichtskreis erweitert und seinen Standpunkt er-
höht sehen, zeigt sich sein Auge noch ebenso scharf, sein Herz so warm wie
früher; er springt weniger, aber geht desto sicherer.
Das erste Heft brachte uns eine Ueberraschung: den Aesthetiker mit poli¬
tischen Zeitfragen beschäftigt. Zwischen den Gemäldegalerien besucht er dies'
mal Schlachtfelder; neben dem Verhältniß deutscher und italienischer Kunst ist
von dem Rechte Deutschlands auf italienischen Länderbesitz die Rede; statt
wie ehedem um der einseitigen Verständigkeit seiner Bildung willen, wird
Preußen jetzt wegen seines thatlosen Zuwartens im letzten französisch-östreichi¬
schen Krieg getadelt. Wer hiebei mit dem Politiker auch nicht einverstanden
war. mußte doch dem Patrioten die Hand drücken; wer von Bischer übrigens
lieber Aesthetik als Politik vorgetragen hört, mußte doch zugestehen, daß er hier
beide Fäden mit Geschmack und Wirkung durcheinandcrzuschlingen ge-
wußt habe.
In dem zweiten Hefte, das eben vor uns liegt, hat sich Bischer wieder
in die Grenzen seines Fachs zurückgezogen. Er gibt uns zwei Aufsätze über
Shakespeare, deren erster schon vor siebzehn Jahren in einer Zeitschrift ab¬
gedruckt war. An den Ausstellungen, die der Verfasser in der Vorrede an
seiner älteren Arbeit macht, sehen wir, wie weit unterdessen er selbst und das
Verständniß Shakespeares überhaupt fortgeschritten ist. Das Bedeutendste, was
seit jener Zeit dafür geschehen, ist das Werk von Gervinus, dem auch Bischer
den Borzug des Gediegenen und Körniger, der unversehrten Gesundheit des
Urtheils, der gründlichen Zutagesörderung des tiefen sittlichen Gehalts der
Shakespeareschen Dichtungen nicht streitig macht: gleichwol urtheilt er gewiß
mit Recht, daß eine umfassende Arbeit über Shakespeare als Künstler uns noch
immer fehle. Auch damit kann man nur einverstanden sein, daß Bischer, du
aller Bewunderung des englischen Dichters, diesen doch nicht als etwas Ab¬
solutes nimmt, von dem jeder Tadel auf den Unverstand des Tadelnden z»'
rückfalle, in dessen Werken, wie in einer Offenbarungsurkunde, gernoe hinter
dem, woran wir uns stoßen, unfehlbar die tiefsten Geheimnisse der Kunst ver¬
borgen sein müßten. Er findet Shakespeare bei all seiner Größe behaftet mit
den Flecken seiner subjectiv ebenso rohen und geschmacklosen, als objectiv tüch¬
tigen und poetischen Zeit, und stellt unsre vaterländischen Dichter, Goethe und
Schiller, schon deswegen zu jenem nicht in das einseitig negative Verhältniß,
nur kleiner und schwächer zu sein, weil sie eme ini Sinne der Humanität fort¬
geschrittene Bildung, wenn auch nicht so mächtig und vollständig wie Shake¬
speare die seiner Zeit, poetisch in sich verarbeitet haben.
Die zweite neu hinzugekommene Abhandlung des Heftes beschäftigt sich
mit der Idee und Komposition des Hamlet, welcher der Verfasser mittelst einer
Prüfung der bisher darüber aufgestellte» Ansichten, von Goethe's Auslassungen
im Wilhelm Meister an, auf die Spur zu kommen sucht. In der Voraus¬
setzung, daß der Leser den gehaltvollen Aufsatz selbst zur Hand nehmen werde,
enthalten wir uns eines näheren Berichts, und bemerken nur, daß durch seine
Art. den gesuchten Begriff Schritt sür Schritt immer enger einzukreisen, ihn
erst ungefähr und blos formell, dann allmälig immer genauer auch seinem In«
halte nach zu bestimmen, durch die Anschaulichkeit seiner Sprache, das Ein¬
schneidende und Behältliche seiner Ausdrücke, seinen Reichthum an Beispielen,
uns der Verfasser eine hohe Vorstellung von seiner Gabe des lehrhaften aka¬
demischen Vortrags gibt. Und mit dieser Gabe, die der erste» deutsche» Hoch¬
schule zum Schmuck und Gewinn gereichen würde, sitzt Fr. Bischer gleichwol
noch immer in der Schweiz.
Sprachen wir oben unsere Freude darüber aus, daß Bischer sich entschlossen
hat, seine kritischen Gänge fortzusetzen, so sollte es uns fast noch mehr freuen,
wenn es an dem wäre, wovon wir haben reden hören, daß er in nicht allzu¬
langer Zeit sich veranlaßt sehen dürfte, eine neue Auflage seiner Aesthetik vor¬
zubereiten. Dabei bürgen uns dann seine eigenen Worte in der Vorrede
Zum letzten Theil der Aesthetik dafür, daß er das vor 15 Jahren begonnene
Werk nicht in der Form belassen würde, die für die Zeit seines Anfangs wol-
berechnet, für die, in der es geschlossen wurde, schon nicht mehr die rechte
war, und sür die jetzige es noch weniger sei» konnte. Gewiß würde Bischer
w der neuen Bearbeitung sein Werk des schweren philosophischen Panzers
entkleiden, ihm eine leichtere und schnellere Bewegung möglich machen/er würde
uus in zwei, höchstens drei mäßigen Bänden eine Aesthetik geben, die jedem
Gebildeten zugänglich wäre. Ein solches Buch, das Niemand so wie eben
Buche schreiben könnte, würde die tiefe und nachhaltige Wirksamkeit der erste»
Ausgabe der Aesthetik mit der raschen und weitgreifenden der kritischen Gänge
vereinigen, und dadurch seinem 'Verfasser den Borlheil verschaffe», seine Ge¬
danken selbst und unter eignem Name» in Kreise zu bringen, denen sie bisher
nur durch undankbare, den Urheber verleugnende oder gar schmähende Col¬
port
Die Jagd ist vor Allein ein Spie! des Ehrgeizes, aber zugleich bis zu
einem gewissen Grade ein Glücksspiel. Der Jäger hat das Bedürfniß, für
einen nie fehlenden Schützen zu gelten, aber so geschickt er auch mit dem
Gewehr umzugehen weiß, es wird ihm doch bisweilen begegnen, daß er mit
leerer oder kärglich gefüllter Tasche heimkommt. Selbst wenn er ein scharfes
Auge, eine feste Hand und lange Praxis noch mit der einen und der andern
geheimen Kunst verbindet, wird er nicht immer sicher sein zu treffen. Jeder
Sterbliche hat seine glücklichen oder unglücklichen Tage: der Gelehrte, wo ihm
die Gedanken fließen oder stocken, er weiß nicht weshalb, der Redner, wo er
gut oder schlecht spricht, der Zecher, wo er viel oder wenig vertragen kann,
der Schütz, wo er Alles oder nichts schießt. Es kann dem letzteren ferner,
als er zu Holze ging, unversehens ein Hase über den Weg gelaufen oder eine
alte Frau begegnet sein. Böse Nachbarn können ihm das Wild aus dem
Revier verscheucht, mißgünstige College» ihm, wie wir sahen, das Rohr ver-
hext haben. Manches andre Geheimnißvolle, was im Walde wohnt, kann
ihm gram sein und ihm Mißgeschick auf den Weg senden. Die Ehre muß
aber gewahrt bleiben, und wenn der Zauber versagt, nimmt er zur Noth¬
lüge seine Zuflucht.
Das ist die eine Quelle, aus der die Jägerlügen geflossen sind: der
gewehrgerechte Jäger darf nicht unglücklich und er kann nicht glücklich genug
sein. Die andre liegt auf dem Gebiet des Volkshumors, dem unsre zahl¬
reichen Lügenmärchen und Lügeulieder entsprossen sind, in dem Bereich, too
der Freiherr'von Münchhausen und der Doctor Eisenbart ihre Thaten ver¬
richteten, in der verkehrten Welt, wo der Ambos und der Mühlstein zusam¬
men über den Rhein schwammen und wo der Blinde mit dem Lahmen und
dem Stummen den Hasen jagte, jener ihn entdeckte, dieser dem Lahmen davon
sagte, und der letztere ihn sing. Der Jäger übertreibt und erfindet gern, die
Satire des Volks, dahinter gekommen, macht die Uebertreibung zur Carricatur,
und der verspottete Stand findet sich darein; er begreift, daß Aufschneide"
zum Handwerk des Waidmanns gehört, wie Schwatzen zu dem des Barbiers,
Stehlen zu dem des Müllers und Schneiders, er kommt dahin, sich lust'S
selbst zu ironisiren. Die bescheidene Jägerlüge, die jede größere Jagd M
Aushülfe für schlimme Fälle begleitet, macht Anspruch auf Wahrheit. D>e
Jägerlüge in großem Styl sigurirt nur als Schaugericht bei waidmännische"
Gelagen/ Ein paar Beispiele von den besten mögen zeigen. weß Geistes
Kinder diese Sprößlinge von Nord und Witz sind.
War einmal einer im Walde, um Wildpret zu schießen. Da begegnete
ihm ein großes Schwein, das. vor Alter blind geworden, sich von einem
Frischling in der Weise führen ließ, daß es dessen Schwänzchen im Maule
hielt. Der Jäger besann sich nicht lange, was zu thun, schoß den Frischling
nieder, schnitt ihm den Schwanz am Hintern ab und führte daran das Alte
ruhig fort, über fünf Meilen weit zum Verkauf auf den Markt, worauf er
zurückkehrte, um sich auch das Junge zu holen.
Derselbe Lügenschmied stieß ein andermal auf einen starken Euer, mit
Zähnen, die wol eine halbe Elle aus dem Rachen hervorstanden. Erschrocken
flüchtete er sich und kroch vor dem Grimm des Thieres in einen hohlen Elch«
dann. Als das Schwein ihn darin entdeckte, hieb es mit den Hauern so
gewaltig in die Rinde, daß es sich selbst darin vernietete und nun von dem
Jäger, nachdem er herausgestiegen, erlegt wurde.
In Tirol gab es einen Schützen, der so viel Glück hatte, daß er einmal
sogar schon traf, ehe er abgeschossen hatte. Er hieß von seinem sichern
Schießen in der ganzen Nachbarschaft der Trcffkönig oder der Trcffnazi. Da
thut sich einmal ein Auerhahn. die in Tirol besonders schwer zu schießen sind,
vor ihm auf und fällt aus den höchsten Gipfel eines Zirbelbanms ein. Der
Schütz geht etwas näher hin. nimmt die Flinte und schlägt an. In dem
Augenblick aber guckt der Hahn aus den Zweigen heraus und ruft: „Seid
Ihr nicht der Treffuazi?" — „Ja wol." sagt der. „der bin ich. Was soll's?"
„Na." erwiderte darauf der Hahn, „dann ist es schon gut. Ihr braucht
nicht zu schießen; ich komme schon von selber hinunter." Man könnte sich
uun freilich fragen, in welcher Sprache der Hahn das zu dem Nazi gesagt.
Das ^ann aber nur dem Nichtjäger einfallen. Der Jäger weiß, daß er Jä¬
gerlatein gesprochen hat.
Wolbekannt sind die Thaten und Abenteuer Münchhausens, wie er, als
eben der Stein aus dem Hahn gesprungen, sein Gewehr dadurch zum Los-
Aehen brachte, daß er sich durch einen derben Schlag Funken aus dem Auge
"Uf die Pfanne schlug; wie er mit einem zugespitzten Ladestock eine ganze
'^ete Rebhühner von sieben Stück auf einen Schuß erlegte; wie er mit einem
w sein Gewehr geladenen Bretnagel den schwarzen Fuchs mit der Lunte
(Schweif) an einen Baum nagelte und ihn dann mit kräftigen Karbatschen-
hiebcn aus seinem Pelz herauspeitschte; wie er dem Wolf seinen Arm in den
Aufgesperrten Rachen stieß, ihn beim Eingeweide packte und ihn durch einen
^haften Zug wie einen Handschuh umwendete. In Aller Gedächtniß ist
sein denkwürdiger Entenfang und die Art, wie er sich von den an die Leine
^reihten Thieren durch die Luft nach Hause führen ließ. sein jagdeifriges
Windspiel, das so oft und so lange mit ihm den Hasen nachlief, daß es sich
endlich die Beine bis dicht unteren Leibe abgelaufen hatte und in seinen
letzten Jahren nur noch als Dachssucher zu brauchen war, sein berühmtes
Abenteuer endlich mit dem Hirsch, dem er in Ermangelung von Kugeln eine
Ladung Kirschkerne zwischen die Geweihe geschossen, und dem er etliche Jahre
später mit einem zehn Fuß hohen Kirschbaum mit reifen Früchten auf dem
Kopf wieder begegnete.
Daß auch die Gegenwart noch geschickte und glückliche Jäger hat, mögen
die nachstehenden beiden Geschichten zeigen, die noch keine zehn Jahre alt
sind. Wir lassen sie denen, die sie erlebt, selbst erzählen. ,
Mag eins sagen, was es will, Glück haben ist^die Hauptsache bei der
Jagd. Da können Sie vierzehn Tage laufen und kriegen keinen Schwanz zu
sehen, und ein andermal, wo Sie keine zwei Schuß Hagel bei sich haben, so
laufen Ihnen die Hasen nur so über die Stiefel weg und die Hühner fliegen
Ihnen den Hut vom Kopf herunter, und wo ein Stück Wild ist. da ist Alles
auf einem Klumpen. Wie ist es da mir gegangen, diesen Herbst. Geh' ich
hinaus und laufe den ganzen Tag herum und sehe auch nicht die blasse
Gestalt von einem Hasen. Gegen Abend suche ich noch so 'ne Dickung ab,
da steht Ihnen wahrhaftig ein Hirsch von sechs Enden dicht vor meinen
Füßen auf. Ich brenne ihm die beiden Schrotschüsse aufs Blatt, er laust
noch an hundert Schritt auf die Haide hinaus, dann bricht er zusammen.
Da hör' ich auf einmal einen Hasen gottesjämmcrlich quälen. Sackerlot.
denk' ich, den hat gewiß der Fuchs beim Löffel! Hatte aber nichts mehr in
der Flinte und auch nichts mehr im Jagdsack. Na. sag' ich zu mir, laß ihn
laufen, du hast ja 'nen Hirsch. Das Quäker hört aber gar nicht auf, und
wie ich nun an den Hirsch komme — was meinen Sie — liegt Ihnen
hol' mich der Teufel! — der Hase breit gedrückt wie ein Knopf unter dem
Hirsch und will eben verenden. War der Hirsch nämlich beim Umfallen auf
'nen Hasenheger zu liegen gekommen und hatte' so dein armen Lampe die
Knochen zerdrückt. Wie ich das sehe, schrei' ich: Gott im Himmel, wie ist
das möglich! und schlage vor Verwunderung die Hände über'in Kopf zusammen.
Und was meinen Sie — wie ich das thue, schmeiß' ich Ihnen — wahrhaftig-
so was lebt nicht! — noch 'ne große Waldschnepfe todt — wissen Sie, eine
von den großen Eulenköpfe»! —
Sucht' ich da letzten Montag die Grädinger Höhe nach Hasen ab,i
dort in den Sandgruben und unter den Kranewitstauden gern liegen. ^ '
hatte ungefähr 'ne Viertelstunde gesucht und etwa ein Dutzend Hasen, jo^
halb Dutzend Hühner und etliche Goldamseln geschossen, als ein Flug Stock¬
enten an mir vorüber strich und in den Fluß einfiel, der hier am Berge einen
Haken macht. Ich ließ mein geschossnes Wild liegen und schlich mich
die Weiden hinunter, werde aber von den Enten verwindet und habe von
Glück zu sagen, daß ich eine herunter kriege, da sie schon in der Ferne von
wenigstens vierhundert Gängen aufgestanden waren. Die Ente war nur ge¬
flügelt und hatte sich im Gcröhrig unter einer hohlen Weide so gut versteckt,
daß ich ihr nicht beikommen konnte. So blieb mir nichts übrig, als meine
Hasen, .Hühner und Amseln in die Waidtasche zu packen und nach Hause zu
laufen, um meinen Feldmann zu holen, den ich nicht mitgenommen hatte,
weil er am Tage vorher einen von mir angeschweißten Spießbock durch fünf
Reviere gejagt und über acht Meilen weit apportirt hatte, wobei er zweimal
über die Donau schwimmen mußte. andre Flüsse und Bäche gar nicht zu
rechnen. Mich dauerte es, den müden Hund plagen zu müssen, aber kaum
hab' ich ihm zu verstehen gegeben, daß es einer Stockente gilt, als das Vieh,
hast du nicht gesehen, mit einem Satz über das Haus springt und um drei
Minuten früher an dem Flusse ankommt, als der Wind, der sich gerade er¬
hoben hatte, als er von meinem Hofe wegrannte. Ich war noch ein gutes
Stück von der Weide entfernt, wo die Ente sich verkrochen, da höre ich diese
jämmerlich schreien. Ich denke gleich, daß es ein Fuchs ist. und es ist richtig
so. Wie ich näher komme, sehe ich die Ente so flink, als sie mit dem lah¬
men Flügel kann, aus dem Geröhrig nach dem offnen Wasser hinaus trachten
und hinter ihr her den Meister Reinecke fahren. der sie beim Sturz saßt.
Rascher als ein Blitz ist mein Feldmann im Flusse und schnapp! hat er den
Fuchs an der Ruthe. Nun denken Sie sich, was jetzt geschieht! Schießt
Ihnen ein Hecht von so ein drei Ellen Länge aus einem Tümpel herauf und
packt wieder meinen Hund an der Fahne, und kaum hab' ich mich von meiner
Verwunderung darüber erholt, so stößt ein Fischgeier herab auf den Hecht
und verfängt sich mit seinen Klauen in dessen Rücken. Die Ente rudert aus
allen Kräften und zieht den Fuchs hinter sich her, dieser den Feldmann und
der Feldmann den Hecht mit dem Geier — der sonderbarste Postzug. den ich'
Mein Lebtag gesehen!
Ich lege schon meine Flinte an den Backen, um den Hecht zu schießen,
da Ente. Fuchs und Geier meinem Hunde gewiß sind, da fällt mir ein: wie
wär's, wenn wir die ganze verbissene Gesellschaft lebendig singen. Es geht
nichts über die Geistesgegenwart bei der Jagd. und ein alter Waidmann,
wie ich. muß sich in allen Lagen zu helfen wissen. Es war mir bekannt,
daß weiter oberhalb eine große Fischreuße eingelegt war. Ich laufe, so rasch
Mich meine Beine tragen, hin, ziehe sie aus dem Grunde, gebe ihr eine solche
^ge, daß die Einkehle gerade auf der Wasserfläche zu ruhen kommt, und
Mache sie mit meiner Leine an einem Pfahl fest. Dann schnell zu meinem
^°stsug und vor der Ente hergestiegen und Malzköruer gestreut, die ich zum
Kirrmachcn bei mir hatte, immer auf die Reuße hin. Die Ente, die über
ihrer Lieblingsäsung die hinter ihr rudernden Feinde vergaß, nahm mit Be¬
gierde die Körner an und schwamm ihnen nach bis zur Einkehle, wo ich das
Malz am dichtesten gestreut hatte. Hier stutzte sie, aber ich thue einen derben
Schrei, und husch fährt sie in die Reuße und die ganze liebwerthe Gesellschaft
hinter ihr drein.
Nun denken Sie sich die Komödie, die jetzt drinnen los ging. Der Fuchs
würgte die Ente, mein Fcldmcmn den Fuchs. Der Geier hackte dem Hecht
nach den Augen. Dieser ließ vom Hunde ab, wälzte sich auf die Seite, und
der Geier war platt gedrückt wie ein Kupferdreier. Nun genethen Feldmann
und der Fisch um einander, und mir war eine Weile Angst um den Hund;
denn der Hecht bäumte sich in die Höhe und zeigte in dem angelweit auf¬
gerissenen Rachen zwei Reihen Zähne, von denen der kleinste gut seine drei¬
viertel Ellen Länge maß.
Donner! denk' ich, jetzt ist's die höchste Zeit, und reiße meine Flinte an
den Backen, da — was meinen Sie — so ein Hund ist doch ein unvernünftig
gescheidtes Vieh! — drückt sich der Feldmann wie ein? Katze, und springt
Ihnen — hopsa! — dem Hecht durch die Kehle in den Leib. Dem Fisch¬
dieb verging davon das Beißen, er ließ die Kinnlade fallen und schnitt die
erbärmlichsten Gesichter. Aber auch Feldmann lag in dem Bauche des Hechts
nicht auf Rosen, und mir war bange, daß er mir darinnen ersticken könnte.
Ich merkte aber bald, daß der Pfiffikus wußte, wo der rechte Weg war. Zum
Nachen war er hineingesprungen, am Hinterpförtchen kam er wieder heraus.
Hatte sich durch den ganzen Hecht hindurchgefressen, als ob der Fisch von
Butter wäre. —
Wie der Handwerksbursch, der beim Meister Arbeit oder Zehrung an¬
spricht, dies in der alten Zeit mit Sprüchen zu thun hatte, durch die er
bewies, daß er ausgelernt und in dem Brauch der Zunft wohl bewandert, so
auch der Jägerbursch; denn auch die Jägerei, ja sie ganz vorzüglich, liebt
ein sinniges (Zeremoniell und complicirte Satzungen. Ein großer Theil ihres
Wissens war in mehr oder minder geschickte Reime gebracht, die ein hirlch"
gerechter Waidmann von seinem Lehrherrn mit auf den Weg bekam, wenn
er auf die Wanderschaft ging, und die ihm, wenn er sich bei einem andern
Meister zum Dienst meldete, abgefragt wurden. Das „Jägerbrevier" theilt
von diesen Waidsprüchen nach Döbel, Flemming und Andern eine betracht'
liebe Anzahl mit, aus der wir im Nachstehenden einige besonders charakteri¬
stische auslesen.
Der Meister fragt: Ho! ho! ho! lieber Waidmann mein, sage mir. was
für drei Stücken sein, welche ein geschickter Waidmann haben soll und
haben kann?
Antwort des Burschen: Ho! ho! ho! mein lieber Waidmann, das will
'^'
ich Dir Wohl sagen an. Gute Wissenschaft. Gewehr und Hund der Waid¬
mann braucht zu seinem Grund, wenn er was Tüchtiges will verrichten und
sich nicht lassen gar vernichten; drum wird das gar wohl treffen ein, nichts
Nützlichers denn dieses sein für einen braven Waidmann, damit er denn be¬
stehen kann.
Frage: Mein lieber Waidmann sage mir fein, welches meinem Fürsten
oder Herrn das unnützeste Hofgesind möchte sein?
Antwort: Ein bespängtcr (mit Spangen gezierter, eitler) Jäger verdrossen,
ein krähender (d. h. zu hitziger) Leithund ungenossen (nüchtern, noch kein Blut
geschmeckt habend) und ein zeltender (wechselnder) Wind, das ist das un¬
nützeste Hofgesind.
Fr.: Sag an, Waidmann fein, was mag des Jägers Lohn sein?
Antw.: Der Hals und die Haut gedünkt mich gar fein, mag wohl des
Jägers Lohn sein, das Eisbein und Insekt gleichfalls Alles allein soll des
Jägers Belohttung sein.'
Fr.: Sag mir das hübsch und fein: welches mag das stolzeste, das
höchste und das edelste Thier sein?
Antw.: Das will ich Dir sagen: Der edle Hirsch ist das stolzeste, das
Eichhorn das höchste, und der Haas wird das edelste Thier genannt, wird an
seinem Fahren erkannt.
Fr.: Jo! ho! ho! mein lieber Waidmann, wo hat der edle Hirsch seinen
ersten Sprung gethan?
Antw.: Jo! ho! ho! mein lieber Waidmann, das will ich Dir wohl
se>gen an. Aus Mutterleib ins grüne Gras, das dem edlen Hirsch sein erster
Sprung was.
Fr.: Ho! ho! ho! mein lieber Waidmann, sage mir frei, welches sind
ho! ho! woll gut! — des edlen Hirsches Dreien drei?
Antw.: Jo! ho! ho! ho! mein lieber Waidmann, das will ich Dir sagen
an. Die Fährte drei Finger breit, der Schritt drei Schuh weit und drei
Finger zurücke bleib, die thu' ich Dir nennen, woran ein braver Waidmann
einen jagdbaren Hirsch allzeit ansprechen (spüren, erkennen) kann.
Fr.: Ho! ho! ho! mein lieber Waidmann, sage mir an. was für sieben
Zeichen der edle Hirsch in einer Fährte thun kann?
Antw.: Jo! ho! ho! mein lieber Waidmann, das will ich Dir bald
^"gen an: der Zwang (der tiefe Tritt ins Erdreich), die Ballen (die Form
des Eindrucks der Laufte). Burgstall (eine runde Erhöhung in der Fährte)
und Fädelein (ein feiner Strich in der Spur), der Schluß (die Art, wie der
Hirsch mit der Hinterschale in die Spur der Vorderschale tritt), der Pürzel
kein Hügel im Boden, wo Schal» und Ballen zusammenstoße»), der Einschlag
(das in - der Fährte liegende abgezweigte Gras) auch mit drei, sind sieben
Zeichen wohl benennt, woran man — ho! ho! woll gut! — den edlen
Hirsch erkennt.
So geht das Examen weiter, stets in Reimen. Der Meister fragt, woran
die Spur des Hirsches von der Fährte des Wildschweins zu unterscheiden,
absonderlich bei hartem Boden. Der Gesell antwortet: der edle Hirsch zeigt
in der. Fährte Ballen, die Sau nit, so hat die Sau^auch einen viel kürzern
Schritt, die Führt der Sau ist platt und vorn grad eingeschoben, des edlen
Hirsches aber gezwungen und erhoben. Ob sie an stumpfen Schalen lHnfen)
oftmals einander gleichen, so thut/die Sau doch nicht des edlen Hirsches
Zeichen. Der Meister will wissen, wie der Bursch die Spur des Wolfes von
der des Hundes unterscheidet, und derselbe erwidert: des Wolfes Fährt' ist
vorn gezwungen, länglich und schmal, des Hundes aber breiter, die Klauen
auseinander überall; so schnürt der Wolf gerade und fein, beim Hunde aber
wird's selten sein u. s. w.
Andre Fragen sind scherzhafte, bisweilen recht artige, mitunter auch ziem¬
lich schmutzige Räthsel. Wir geben von den artigen ein paar Beispiele:
Frage: Waidmann, lieber Waidmann hübsch und fein, was geht
hochwacht (stolz aufgerichtet) vor dem edlen Hirsch, von den Feldern gen
Holze ein?
Antwort: Das kann ich Dir wol sagen: Der helle Morgenstern, der
Schatten und der Athem sein geht vor dem edlen Hirsch gen Holze ein.
Fr.: Sag' mir an, lieber Waidmann: was macht den Wald weiß, was
macht den Wolf greif, was macht den See breit, woher kommt alle Klugheit?
Antw.: Das will ich Dir wol sagen schon: Der Schnee macht den Wald
weiß, das Alter macht den Wolf greif, das Wasser macht den See breit, von
schönen Jungfräulein kommt alle Klugheit.
Fr.: Waidemann, lieber Waidemann, sag' mir um: Was ist weißer denn
der Schnee, was ist grüner denn der Klee, schwärzer denn der Rab und klüger
denn der Jägersknab?
Antw.: Das kann ich Dir wol sagen: Der Tag ist weißer als der
Schnee, die Saat grüner als der Klee, die Nacht schwärzer als der Rab.
schöne Mädchen klüger als der Jägersknab.
Fr.: Waidemann, lieber Waidemann, sag' mir an, wovor muß sich hüten
der ute Waidemann?
Antw.: Lieber Waidemann, das kann ich Dir wol sagen an: Viel Worte
und Schwätzen tut den Waidemann sehr verleen.
Was für den Handwerker ein Convent. ein großes Jnnungsfest. ein öffent¬
licher Aufzug mit Fechtern und Masken und dem Tabernakel der Lade, was
für den Studenten ein Fuchs- oder Abschiedscommcrs war, das war für den
Jäger eine hohe Jagd mit ihrem Prunk. Wie dort genau vorgeschriebene
Sprüche und Bräuche, über die der Altgeselle wachte, hier ein peinlich strenger
Comment, Streifen und Ehren in der Hand regierte, so war auch die hohe
Jagd mit allerlei wundersamen (Zeremoniell, das zum Theil dem höchsten Alter¬
thum entstammte, arabeskcnhast verschnörkelt. Der Jäger hatte den Hirsch
wie einen Menschen anzureden. Der Gesell hatte einen andern Jagdschrei als
der Meister. Es war genau vorgeschrieben, wie mit den Hunden zu sprechen,
in welcher Weise Sie Gefährten zu wecken, welche Signale auf dem Hifthorn
bei dem oder jenem Vorgang zu blasen. Es gab nach der Jagd beim Gelage
bestimmte commentmäßige Unterhaltung mit Fragen und Antworten, comment¬
mäßige Strafen und Belohnungen für Herren, Knechte und Hunde, welche
letzteren ganz ebenso ihr besonderes Recht hatten, wie die menschlichen Jagd¬
genoss?».
Vergegenwärtigen wir uns eine solche Galajagd. Fürstliche Durchlaucht
ist auf dem Jagdpalais eingetroffen und zwar schon um Abend' vor dem
großen Tage. Die Bauern, die zu Treiberdiensten aufgeboten sind, die Jä¬
gersleute in der Runde sind benachrichtigt, sich zu festgesetzter Stunde am
Stelldichein finden zu lassen. Gewisse Theile des Forstes hat man mit Gar¬
nen umzogen, damit das Wild nicht entfliehen kann. Ans einer Waldblöße
ist ein Pavillon oder Zelt als Schießstand für Damen eingerichtet, und hier
stehen und sitzen außerhalb der Netzwand auf Wagen aus der Residenz herbei-
gckommene Zuschauer in buntem Gemisch. Marketender halten Erfrischungen
feil. Lange Züge von Hunden, ein Gewimmel von Beinen und Schwänzen,
grüne Jagdbediente mit allerlei Geräth gehen in der Ferne zwischen den
Bäumen vorbei. Sie verschwinden wieder in den Büschen. Allenthalben
herrscht erwartungsvolle Stille.
Da läßt sich in der Richtung des Jagdschlosses ein lauter Ruf hören.
Das Drama beginnt: Die Jäger wecken mit dem vorgeschriebenen Waidschrei
die Herrschaften auf. Sie rufen:
Auf! auf! Edle Waidleut, Herren. Ritter, Reuter und Knecht, auch alle
guten Gesellen, so mit mir heut' aufs Jagen wöllen! Auf! auf! Edle Damen
""d Jungfrauen, laßt uns heut'das brave Jagen beschämn^ mit Fleiß, Ver¬
gnügen und ohne alles Grauen. Auf! aus! Kellermeister und Koch, füllet die
Rasch' und richtet doch das Frühstück gut und fein balde, damit wir zieh'»
nun Walde, damit wir uns können ergötzen, ehe wir das Jagen fortsetzen.
Darauf erschallt aus den Fenstern des Jngdpalais die Antwort herab:
Waidmanns Heil! Waidmanns Heil! Waidmanns Heil!
Nachdem dann das Frühstück eingenommen ist und die Herrschaften sich
Pferde gesetzt haben, fragt einer: Ho! ho! mein lieber Waidmann, wo
sollen.wir heut hinan? Die Antwort erfolgt wieder in Reimen, etwa: Hin,
zum Stadtberg auf A und Nummer sechs, an jener Buchen, da wollen
wir den edlen Hirsch suchen, alldort bei jener Linden, da wollen wir ihn fin¬
den, an dem Stechplan und bei den Birken, da wollen wir, so Gott will, den
edlen Hirsch zerwirken.
Nun setzt sich der Zur; in Bewegung, thutt sich, die Leithunde voran, in
verschiedene Trupps zur Vorsuche, verschwindet im Walde, wird wieder sicht¬
bar und taucht wieder in das grüne Dickicht zurück. Hundegebell und Peit¬
schenknall lassen sich bald nah bald fern vernehmen. Die Jäger geben sich
mit dem Hifthorn Signale, rufen einander zu, was sie gefunden, fragen und
antworten, immer in bestimmten Formen und stets in Reimen. Hetzen die Hunde
und stellen das Zeug. Hirsche treten vorsichtig aus dem Gehölz, schrecken zu¬
sammen und jagen mit zurückgelegten Geweihen, von der Meute verfolgt, in
ungeheuren Sätzen über den Plan, andere hinter ihnen her, bisweils» auch
ein Hase, mitunter ein Fuchs, der seinen Pelz zu retten sucht. Schüsse fallen.
Da und dort kniet ein Jäger über einem vererdenden Wild, um ihm den
Nickfang zu geben. Immer hastiger und wilder tummelt sich die Jagdlust,
aber die gereimte Jagdetiquctte hält Alles zu einem geordneten Ganzen, zu
einem vollkommnen Schauspiel zusammen.
Wir geben auch von diesen Monologen und Dialogen einige Proben.
Wenn der Jäger den Leithund faßt und mit ihm ausziehen will, so sagt
er zu ihm: Hin, hin, frisch und ritterlich! Der helle Tag scheint über dich.
Ho! ho! ho! ho! Trauter Gesell, hin, hin! — Wenn er mit ihm auf die
Fährte eines Hirsches kommt, leitet er ihn mit folgender Rede zum Suchen
an: Fornahin (vorwärts), sornahin, fornahin, liebes Gesellchen, fornahin,
fornahin, fornahin, trauter Hund, fornahin! Fornahin, fornahin, daß dir
wohl geschehe und mir nimmer leid werde! Fornahin, fornahin, traut guter
Gesellmann, hinwieder laß uns sehen. — Wenn die Führte des Hirsches dann
immer frischer wird, so daß man annehmen muß, er könne nicht fern mehr
stehen, redet der Jäger den Hund wieder an: Es wird schier Zeit, hin, hin.
Gesell, es wird schier Zeit. Du hast recht, trauter Hund, du hast recht. Da
kommt der edle Hirsch einher. Da hat er angerührt, Gesell, her, da hat er
angerührt. — Sicht man darauf den Hirsch die Flucht ergreifen, so schreien
die Jägerbuben: Jun, jun, Jung, Hetze d' Hund her, Hetze fürder, die Jungen
zu den Alten und laß Gott walten. Hetze fürder, schenk Schirm und Schall,
und Hetze her die guten Hunde heut' all'. Ines, Hetze alle her. Ines, h^'
dem nach. Dann stößt der Jäger ins Horn und läuft hieraus mit der Meute
dem Wilde nach, wobei er. der bis jetzt schon die menschliche Sprache nach
Möglichkeit durch bloße Schallworte dem Verständniß seiner Rüden angepaßt-
mit allerlei Naturlauten — dolz. dolz, dolz. do, ho, ho, da. ho. ho, da
u. s. w. — das Gekläff der Hunde nachahmt, bis er wieder in menschliche
Rede zurückfällt.
Die Signale werden theils durch das Hifthorn, theils durch bestimmte
Schreie gegeben, und zwar gibt es für die Hirschjagd einen bestimmten Ton:
man darf hier nicht das „Grob ins Horn" sondern nur das „Hagelgcschrei"
brauchen.
Zum Rapportiren sind folgende Formen angegeben :
Frage: Ho! ho! mein lieber Waidmann gut. sage mir frisch und mit
fröhlichem Muth, was hast Du auf Deinem Zuge vernommen, wie viel der
edlen Hirsch zu Holz sind kommen?
Antwort: Jo! ho! mein lieber Waidmann — woll gut! — ich sage Dir
frisch und mit fröhlichem Muth, r gute Hirsch kommen dort oben bei der
Birken; so Gott will, wollen wir sie bald zerwirken. Drei kommen an jener
Ecken, sie thun zusammen hierin stecken.
Frage: Mein lieber Waidmann, sage mir an, was hast Du mit Deinem
Hund wechselnd vernommen (wechselnd — hin- und hergehend), wo die Hirsch
von meinem Zug- sind hingekommen?
Antwort: Jo! ho! mein lieber Waidmann, es gingen meinem Hund zehn
Hirsche bei der vierten (Schneiße) wechselnd an, drei sind heraus und sieben
drüben, diese sind in unserm Jagen geblieben.
Fr.: Jo! ho! mein lieber Waidmann, wieviel hat der edle" Hirsch — ho!
ho! — woll gut! — heut Niedergange gethan?
Antw.: Jo! ho! mein lieber Waidmann, sechs oder sieben, damit hat
der edle Hirsch —cho! ho! woll gut! — seine Zeit vertrieben.
Fr.: Jo! ho! ho! >mein lieber Waidmann, was ist Dir auf der Borsuch
gangen an?
Antw.: Ho! ho! ho! mein lieber Waidmann, ein edler Hirsch von (so
und so viel) Enden, that sich vor meinem Hund zu Holze wenden, er steckt
über Thal dort an den Wänden (des Berges).
Sind die Beobachtungen der Borsuche bestätigt und soll das Zeug ge¬
stellt werden, so ruft der Führer der Jäger, die gerade zugegen: Auf, auf
"ur Waidmannsheil! Jagdzeugmeister und Knecht, richtet das Zeug hinter
"or her auf meinem Zuge recht, unserm Fürsten zur hohen Freude und dem
edlen Hirsch zu Leide. — Wechselt der Hirsch, so bläst der ihn verfolgende
^a'ger einen „langen Hist" und ruft: da wechselt der Hirsch, hoch da, hoch
d"! der Hirsch wechselt! — Ist er erlegt, so stößt der. welcher ihn geschossen.
dermal ins Horn, und die Andern schreien: Der Hirsch hat's, ist erlegt, ist
erlegt!
Nachdem Alles abgejagt ist. werden die Hirsche auf den Sammelpunkt'
»bracht, wo sich allmälig alle Theilnehmer am Feste mit Einschluß der Hunde,
nu einem Mahl einsinken. Der Herr leitet dieses mit dem Waidspruch ein:
auf. hurtig mit dem Essen und Braten, der Waidleute ihrem matten
Magen zu rathen! Hin, hin. Keller, mit den Flaschen, daß sie Lunge und
Leber waschen. Dann wird den Hunden „ihr Recht gegeben." Nachdem
man den gefällten Hirschen die Geweihe ciuSgcschlagen und dieselben dem
Herrn feierlich vorgetragen und gezeigt, werden sie in gleich ceremoniöser Weise
den Leithunden hingebracht und diesen das, was von Haut und Fleisch am
Gehörnhängcn geblieben, zum Fressen oder, um mit jügcrlichem Respect von
den vierbeinigen Waidgesellen zu reden, „zu genießen" gegeben. Ist der Ober¬
jägermeister v^n Adel, so hat in dessen Namen der älteste Jügerbursch das
Geweih, welches die meisten Enden hat, zuerst vorzutragen. Dann folgen
die andern: der Oberjäger, der Hvfjnger, die Besuchknechtc u. s. w. jeder mit
einer gereimten Dank- und Lobrede an den betreffenden Hund.
Der erste spricht: Söllmcinn, Söllmann, mein lieber Sollmann! Dieß
ist der edle Hirsch, so dir heut gangen an, da er zog her mit seiner prächti¬
gen Kron und gespaltenen Schal' (Huf); dem hast du. mein Gcscllmann, recht
gethan. Habe Dank überall, habe Dank, mein Söllmann^ Du hast Recht.t
Der zweite: Gesellmann. Gesell, Gesellnurnn, den Hirsch fielst du heu
recht tapfer an, da er zog her vom Feld und über die Straßen. Drum muß
er mir und dir das Iügerrecht hier lassen. Ho! ho! Gcscllmann, lieb' dich
recht und dank'. Ist das nicht ein guter Anfang?
Der dritte: Gesellmann, trauter Gcscllmann frisch, da kam daher der edle
Hirsch. Er zog über Berg und Thal, du hattest den rechten Anfall, daß wir
ihn dann bestätigt (aufgespürt und festgehalten) haben, unsern Herren wohl
damit zu laben, zum Vergnügen und zur Lust, zu ergötzen seine Brust. Drui»
trauter Gesellmann, habe Dank, recht, recht, liebe dich, hast Recht.'
Der vierte: Söllmann, trauter Söllmann. mein trauter Hund, du bist
daran Schuld, daß der edle Hirsch verwundt. Du zeigtest ihn an mit deiner
feinen Nasen, da er zog hin gen Holz und über die Straßen. Der hat den
Herrn und uns erquicket, da wir ihn in seiner Pracht erblicket. So können
wir Waidleute fröhlich sein, dabei trinken Rhein- und Ncckarwein. Das ha^e
Dank, mein treuer Söllmann, recht, recht, habe Dank und Recht.
In diesem Tone geht es weiter. So viel Leithunde, so viel Dankrede».
Die Rüden hören mit erhabnen Köpfen zu, wackeln dabei zum Zeichen des
Verständnisses mit den Schwänze», knurren und kläffen ein Weniges als Gegen¬
rede, die wir uns aus dem Hündischen mit: Schon gut — gern geschehe»,
lieber Waidmann — ho! ho! nichts zu bedanken dran — ho! hol'woll gut-
— aber nur her mit dem Fleisch und Blut! in die Jägersprache übersetzen.
Zum Schluß der Ceremonie läßt sich der Herr einen Pokal, der gewöhn¬
lich die Gestalt eines Hundes, eines Hirsches oder Wildschweins hat, vom
Kellermeister mit Wein füllen und trinkt mit demselben dem Oberjägermelstcr
auf aller rechtschaffnen Waidleute Gesundheit zu. Der Oberjägermeister be-
dankt sich und trinkt das Wohl des ihm im Range zunächst Folgenden, und
so geht der Becher bis zum letzten Besuchsknecht und Pirschjungen fort. Bei
jeder Gesundheit blasen die Hist-, Jagd- und Flügelhörner einen Tusch, und
zum Finale läßt die Gesellschaft dem Echo des Waldes ein fröhliches Waid¬
geschrei zuschallen.
Bisweilen schloß die Jagd noch mit einer andern Ceremonie des Jäger¬
rituals; wir meinen den vermuthlich sehr alten Gebrauch des Waidmesser-
scblagens. Halte sich im Verlauf des Schauspiels ein Unerfahrner einen Ver¬
stoß gegen die Etiquette oder das Wörterbuch der Jägerei zu Schulden kom¬
men lassen, etwa einem Hirsch Augen statt der Lichter eingesetzt, ihn fressen
statt äsen lassen, ihn so und so viel Schritte statt Gänge von sich gesehen
und dergleichen mehr, so war er dafür zu bestrafen. Man führte ihn vor,
klagte ihn mit ähnlichen Wendungen, wie sie das hochwohllöbliche Biergericht
des Studentencommcnts gebraucht, an und legte ihn, nachdem er verurtheilt
worden,' ans den größten von den gefällten Hirschen, der zu diesem Zweck vor
die Herrschaft gebracht wurde. Darauf hob die versammelte Jägerei in langer
Reihe stehend zu blasen an. ihr Führer zog sein Waidmesser und gab dem
Verbrecher damit drei Schläge, wobei er im Tone des Waldschreis zum ersten
ausholend sagte: Das ist für die gnädigste Herrschaft. Beim zweiten rief er:
Und das ist für Ritter. Reuter und Knecht. Beim dritten hieß es: Und das
ist das edle Jägerrecht. Daun folgte ein lautes : Hoch da! Hoch da! und
darauf ein allgemeines Juchhe, wornach die Versammlung ausbrach und sich
Mit ihrer Beute nach Hause begab.
Die Ordre an den Grasen Perporcher, sich nach Gaeta zu begeben,
wurde so bald nach der Annahme des Amendement Vincke bekannt, daß man
leicht versucht fühlen konnte, zwischen beiden ein Causalverhältniß anzu¬
nehmen. Wenn König Franz nicht durch seine Kapitulation dem edlen Grasen
die weitere Reise erspart hätte, so würde Europa glauben, daß die preußische
Regierung ihrem Landtag eine Lection habe geben und ihn daran erinnern
wollen, daß die auswärtige Politik eine Prärogative der Krone ist.
Dieser Ausdruck gehört auch zu den Stichwörtern, mit denen man sehr
viel gesagt zu haben glaubt, ohne daß etwas Wesentliches dahinter wäre.
Daß das Recht Krieg zu erklären, Frieden zu schließen, die diplomatischen
Verhandlungen zu leiten, einzig und allein dem Souverain des Staats, also
in einer Monarchie dem König zusteht, das versteht sich schon darum von
selbst, weil er allein dieses Recht ausübe» kann., Daß er aber bei der Aus¬
übung dieses Rechts äußerst sorgfältig die Sympathien seines Volkes beachten
muß, wenn er nicht für sich und seinen Staat großen Nachtheil herbeiführen
will, das ist eine Wahrheit, die man nicht erst im Handbuch des constitutio-
nellen Staatsrechts suchen darf: alle despotischen Fürsten, wenn sie nur zu¬
gleich national waren, haben sie stillschweigend gelten lassen, weil die Gesinnung
des Volks ein entscheidender Factor für den Erfolg ist.
Ob dieses Recht der Mitwirkung des Volks in Ausübung kommt, das
hängt von sehr verschiedenen Umständen ab. Wenn die Nothwendigkeit zur
Entscheidung treibt, wird die Gesinnung sich von selbst finden; wenn dagegen
das Volk in seiner Regierung eine gewisse Unsicherheit wahrnimmt, so wird
es sich nicht blos berechtigt, sondern verpflichtet fühlen, sich seinerseits eine
Ueberzeugung zu bilden und derselben den gesetzlichen Ausdruck zu verschaffen.
Die gesetzlichen Vertreter des Landes sind bei uns die Kammern, und der einzige
gesetzliche Ausdruck, welchen diese in Bezug auf die auswärtigen Angelegenheiten
ihrer Ueberzeugung geben können, ist eine unmittelbare Ansprache an den König-
Der König soll damit nicht in eine bestimmte Politik gedrängt werden, sondern
man meldet ihm amtlich die Gesinnung des Landes, in der festen Ueberzeugung,
daß er dieselbe als ein hochwichtiges Moment bei seinen Entschließungen in Rech¬
nung bringen wird.
Daß der preußischen Negierung gegenüber diese Bemühung nicht über¬
flüssig ist, davon müssen jeden, der früher noch daran zweifelte, die vom Kai¬
ser Napoleon seinen Kammern vorgelegten Documente überführen. Es zeigt
sich bei der Leitung unserer auswärtigen Geschäfte 1) ein gewisses Schwanken
der Sympathie und Antipathie, das eine entscheidende Parteinahme erschwert;
2) im Gegensatz dazu das dunkle Gefühl von der Nothwendigkeit irgend einer
großen Action; 3) der Einfluß einer sehr thätigen und entschlossenen Partei,
dies dunkle Gefühl im legitimistischen Interesse auszubeuten; endlich 4) stärker
als alles dieses die Empfindung einem einzigen Mann gegenüber, auf den
Alles, was in Europa geschieht, bezogen wird. — Wir wollen das im Ein¬
zelnen verfolgen.
Das Verhältniß der preußischen Negierung zu keiner einzigen europäischen
Macht ist klar festgestellt. Selbst die entschiedene Abneigung gegen Sardinien >se
durch ein gelindes Wohlwollen zersetzt. Die sehr entschiedene Sympathie für
Oestreichs Volk und Herrschergeschlecht wird durch das nur zu gerechtfertigte
Mißtrauen eingeschränkt, daß Oestreich, einmal aus seiner Verlegenheit. Preu¬
ßen wieder in der alt gewohnten Weise schaden möchte. Die aufrichtige
Theilnahme für die nationale Bewegung Deutschlands wird durch die Be¬
sorgnis, geschwächt, daß irgendwo eine gefährliche Umsturzpnrtei verborgen sei.
Zu England einerseits, zu Rußland andererseits bekennt man eine herzliche
Freundschaft, und würde diese Freundschaft gern in ein Bündniß verwandeln;
nur ist man darüber betroffen, daß die einen wie die andern sich kühl dazu
verhalten, daß weder die Engländer noch die Russen sich an einem conserva-
tiven Kreuzzug betheiligen wollen. Wir sagen conservativ. nicht legiti¬
mist isch: denn die preußische Regierung ist aufrichtig bemüht, die Sache
der Ordnung und die Sache des Fortschritts zu versöhnen. Nur wird es
ihr schwer, den Punkt festzustellen, in welchem sie das eine aufgibt, um das
andere zu erhalten; und dieser Punkt ist doch bei dem sonst ganz ehrenwerthen
Bestreben die Hauptsache. Denn die beiden Forderungen," daß alles beim
Alten bleiben und daß alles verbessert werden soll, schließen, absolut gestellt,
einander aus.
Das Resultat dieser vielseitigen Erwägungen (wir sprechen heute cms-
Ichlicßlich von der auswärtigen Politik) würde nun wol zunächst sein, daß
nichts geschieht. Dies war die Politik des Ministeriums Manntcuffcl. Aber das
gegenwärtige Ministerium hat im Gegentheil das tiefe und ernste Bedürfniß
etwas zu thun; es will Preußen in der öffentlichen Meinung und in seinem
eigenen Selbstgefühl heben. Es wünscht die Action in einer vollkommen
gerechten Sache zu finden, in einer Sache, der es sich unbedingt hingeben
kaun. Es wünscht die italienische Frage zu vertagen, weil es weder an der
Wiederherstellung der alten faulen Zustände noch an deren Beseitigung ar¬
beiten möchte; es wünscht die deutsche Frage zu vertragen, weil es weder
gegen die verbündeten Souveräne Gewalt ausüben, noch ihren dem Interesse
Preußens widersprechenden Bestrebungen Vorschub leisten möchte. Es ist da¬
von überzeugt, daß die Besserung der deutschen Zustände nur aus einer Er¬
höhung des Nationalgefühls, nur durch eine gemeinschaftliche Action gegen
°as Ausland sich ergeben wird, in der Preußen seine Pflicht erfüllt und, wie
>ich von selbst versteht, die erste Rolle spielt. Gegen wen nun aber? Gegen
Italien möchte es nicht, gegen Rußland hat es keine Veranlassung, also bleibt
"ur Frankreich übrig. Aber Frankreich hat sich bis jetzt nicht offensiv ver¬
halten, also muß man auch hier abwarten. Schließlich hat man die schief-
^'g-holsteinische Frage aufgenommen. — Schließlich: — schwerlich schon
>n der Zeit, wo man von den paar Schiffen, die wir haben, einige nach Ja¬
pan schickte. -
An sich ist der Gedanke, die deutsche Einheit nicht durch innern Streit,
sondern durch gemeinsame Erhebung gegen das Ausland zu erwerben, ein
sehr glücklicher. Und unter allen Angelegenheiten, in der sich diese Einheit
entfalten könnte, ist keine eines subjectiven Erfolgs so gewiß als die Schles-
wig-holsteinische: wie sehr auch sonst die Meinungen und Sympathien aus
einandergehn, in dieser Sache schlägt jedes deutsche Herz mit gleicher Stärke,
Könnten wir darauf rechnen, vier oder sechs Wochen nach der Kriegserklärung
oder allenfalls auch ein Vierteljahr danach, Kopenhagen zu bomvardircn, die
Dänen zum Frieden zu zwingen und ihnen die beiden Herzogthümer zu neh¬
men, so wären wir damit ohne weitere Umstände eine Nation, und das an¬
dere würde sich von selbst finde».
Wie das aber geschehen soll — wenn nicht etwa unsere Truppen mit
dem Gewehr im Munde nach Seeland schwimmen — ist uns völlig unklar.
Denn wohlgemerkt, es handelt sich hier um einen schnellen Erfolg; um einen
Erfolg, der den Großmächten eine vollendete Thatsache entgegenstellt. Der
Plan, die Dänen auszuhungern durch Besetzung der ganzen cimbrischen Halbinsel,
läßt sich nicht durchführen. Wir reden nicht von dem Schaden, den die Dänen uns
zufügen können, wir können es jedenfalls länger aushalten; aber leider haben
wir in dieser Sache alle Großmächte gegen uns, eine Intervention von
Frankreich, vielleicht auch von Rußland wäre unvermeidlich, und die nächste
sichere Folge wäre die, daß wir unsere Truppen aus der Halbinsel wieder
zurückziehen müßten.
War es ernstlich Preußens Absicht die Schleswig-holsteinische Sache jetzt
zum Austrag zu bringen, so mußte es sich vorher 1) eine Flotte verschaffen, die
der dänischen gewachsen war. Da aber kein Staat über sein Vermögen hinaus
kann, so mußte diese Ausgabe durch eine anderweitige Ersparnis; gutgemacht
werden. Wie man in Militärsachen sparen kann, darüber hat ein kundiger
Militär in diesen Blättern sein Gutachten gegeben. Statt dessen' ist man
daran, das Militärbudget in ungeheurem Maaßstabe zu erhöhen. 2) hätte man
ein Bündniß mit England schließen müssen, um eine maritnne Intervention Frank¬
reichs zu verhindern. Die Engländer sind Kaufleute, sie verschenken nichts; was
man von ihnen haben will, muß man ihnen abkaufen. Es ist für die Engländer
bequemer, daß Kiel in dänischen Händen als in deutschen ist. Sollen sie es
zulassen oder gar befördern, daß es in deutsche Hände übergeht, so müssen sie
wissen, wofür? Ehe wir nicht einen Kaufpreis gesunden haben, den wir ihnen
bieten können, ist aus ihre Hilfe nicht zu rechnen, und die Voraussetzung, daß
ihre Hilfe uns nicht fehlen wird, sobald wir einmal engagirt sind, ist mehr
als kühn.
Wenn also im gegenwärtigen Augenblick die gange legitimistische Parte«
eine bei ihr bisher unerhörte Theilnahme sür die Sache der Herzogthümer
zeigt, so ist der einfache Grund der. daß sie Preußen mit Frankreich engagiren
und dadurch die Restauration der vertriebenen italienischen Fürsten bewirken
will. Wie rücksichtslos diese Partei mit den preußischen Interessen spielt, hat
sich gerade in den letzten Tagen sehr deutlich gezeigt; man kann nicht einmal
sagen, daß sie ihre eigenen Interessen verständig wahrnimmt; wie der spanische
Stier auf den rothen Lappen springt, den man ihm vorhält, und den wirklichen
Feind entkommen läßt, so bäumt sich diese Partei beim Stichwort der Revolution.
Und sie ist in Preußen noch immer — zwar nicht mehr maaßgebend — aber
sehr stark, und ehe man sich mit ihr ins Reine gesetzt, ehe man die innern
Verhältnisse consolidirt hat. wird auch von einer erfolgreichen Action nach
außen nicht die Rede sein können.
Ihr Einfluß würde bereits weit geringer sein, wenn sie nicht in
einen, eigenthümlichen Gefühl der jetzigen Machthaber ihren Verbündeten
fände. Wir sind weit entfernt, die eigentlich ministerielle Partei mit der
Reaction verwechseln zu wollen; in den meisten wichtigen Fragen steht sie uns
viel näher als dieser. Aber in einem für den Augenblick sehr wichtigen
Punkt kommen sich beide nahe: in dem Gefühl für den Kaiser Napoleon.
Dies Gefühl ist ganz seltsamer Art. Es ist nicht reiner Haß. nicht reines
Mißtrauen, nicht Furcht; es ist aus allen diesen zusammengesetzt, aber dazu
kommt noch eine große Theilnahme und selbst eine gewisse Bewunderung; es
ist ein ritterliches Gefühl, man möchte Islas gern mit ihm einmal messen.
Ihn gewähren zu lassen, wird zuletzt unheimlich, denn er ist nicht zu berech¬
nen; er fesselt den Blick, den man gar nicht von ihm abwenden kann, so
daß man außer ihm nichts sieht. Da man den gefürchteten Krieg unaufhörlich
kommen sieht, so möchte man, wie im Schwindel, hineinspringen. — Wir
finden das Gefühl sehr erklärlich, können aber keineswegs die Handlungs¬
weise billigen, die aris ihm hervorgegangen ist:
Nachdem die erste Verwirrung über den Frieden von Villafranca beseitigt
war. verbreitete sich das Gerücht, von russischer Seite sei Preußen der Antrag
gemacht Morden, gegen Abtretung der Rheinprovinz an Frankreich ganz Deutsch¬
land bis an die Mainlinie zu nehmen. Wie viel an diesem Gerückt
ifi. wissen wir nicht: sollte ein Fühler der Art vorgekommen sein, so
versteht sich von selbst, daß man ihn mit Geringschätzung bei Seite ge¬
wiesen hat. Aber in den mitteldeutschen Kreisen wurde der Argwohn genährt.
Preußen könne doch wol verlockt werden; das, Frankreich die Rheingrenze haben
wollte, galt als unzweifelhaftes Dogma. — Der Kaiser Napoleon forderte den
Prinz Regenten zu einer persönlichen Zusammenkunft aus, um ihn vom Gegen¬
teil zu versichern; der Prinz, um auch den Schatten jedes Verdachts zu ent¬
fernen, ging auf diese Zusammenkunft nur in der Gesellschaft seiner deutschen
Bundesgenossen ein. Napoleon ertheilte jedem deutschen Fürsten persönlich die
Zusicherung. er habe kein Gelüst nach dem Rhein. Bei dieser Gelegenheit
stellte sich heraus, daß die mitteldeutschen Staaten ihr altes Mißtrauen gegen
die preußische Politik keineswegs aufgegeben hatten. Um dies Mißtrauen zu
heben, folgte Teplitz, Coblenz, Warschau; und wenn diese Schritte an sich noch
zweifelhaft sein konnten, so predigte die gouvernementale Presse laut die Noth¬
wendigkeit einer Coalition gegen Frankreich. Daß der Coalitionsversuch in
Coblenz mißglückte , wurde schon damals bekannt; wie grenzenlos er in War¬
schau gescheitert ist, wissen wir jetzt. Rußland, dem der Alliirte an der Seine
wol zuweilen zu unabhängig erschien, machte ihn darauf aufmerksam, wie
dringend die Deutschen die Wiederherstellung der heiligen Allianz wünschten,
aber Nußland werde sich darauf nicht einlassen. Rusland übermittelte die
Bedenken der deutschen Mächte an Frankreich, Frankreich schickte seine Antwort
wieder an Rußland, Preußen wiederum u. s. w. So standen also Preußen und
Oestreich als Partei gegen Frankreich, und Rußland übernahm die Rolle des
höheren Vermittlers.
Es wurde kein Augenblick versäumt, dem preußischen Volke einzuschärfen,
daß vielleicht bald eine furchtbare Gefahr ausbrechen könne; das Volk müsse
sich zu jedem Opfer bereit halten. Diese Gefahr konnte nichts anders sein
als Frankreich.
Es wurde nicht selten daran erinnert, daß man den Zweck der italienischen
Bewegung, abgesehen von den unmoralischen Mitteln, nicht unbedingt mißbillige;
wol aber müsse man die Vergrößerungen Frankreichs und am meisten die
enge Verbindung Frankreichs mit Piemont mißbilligen.
Nicht ganz so lautete es in den Depeschen. Die Erwerbung Savoyens
und Nizza's wurde außer Frage gestellt, und schließlich baten alle drei Mächte,
Rußland. Preußen und Oestreich, den Kaiser Napoleon, seine Flotte in Gaeta
zu lassen, um die italienische Bewegung zu moderiren. Drei Wochen darauf
erließ Napoleon den Befehl. Gaeta seinem Schicksal zu überlassen.
Die lang erwartete Broschüre Lagusronnis're's über Rom schließt mit den
Worten: jmxaWiblk comirw 1a eoirsoicziroö et 1s äroit ä'un grauet peuxls
wird der Kaiser Napoleon das und das thun. — Unwillkürlich steigt uns die
Nöthe in das Gesicht; aber wer. fragen wir. wer ist Schuld daran, daß der
Kaiser der Franzosen eine solche Rolle spielen darf?
Es war sehr zweckmäßig, daß der preußische Landtag in dieser grenzen¬
losen Confusion. wo keiner mehr zu wissen schien was er eigentlich wollte,
mit seiner Ausfassung hervortrat. Er hat 1) gesagt, daß er ein großes Gewicht
auf die freundschaftlichen Beziehungen zu Frankreich lege, 2) daß jeder Fuß
breit deutschen Landes von Preußen vertheidigt werden müsse, 3) daß die
staatliche Vereinigung Italiens dem deutschen Interesse nicht zuwider se'-
Er hat die blinde Furcht vor Frankreich, die zuletzt eine reine Gespensterfurcht
war, verscheuchen wollen. In der That, wenn die Franzosen einen Raubkrieg
unternehmen wollten, Veranlassung hätte ihnen das letzte Jahr genug geboten.
Aber der Kaiser Napoleon wird sich wol hüten, sich in ein Unternehmen ein¬
zulassen, bei dem er mehr als alle seine Gegner, bei dem er Krone und Leben
muss Spiel setzt. Der Krieg ist nicht sein Metier, wie daS seines großen
Oheims, und besser als dieser weiß er zu berechnen, in welchem Verhältniß der
zu hoffende Gewinn zum Einsatz steht. — Einem Angriffskrieg Frankreichs
können wir, auch ohne Oestreich, auch ohne England mit Ruhe entgegensehen.
Sollten sich irgendwo Rheinbundgelüste regen, so wird die einfache Betrach¬
tung, daß in diesem Fall ein Friede auf Kosten der Abgefallenen geschlossen
werden könnte, diese Gelüste beseitigen — solange nicht die Leidenschaften
die Vernunft verfinstern.
Und dies ist der Punkt, in dem wir die Politik des Ministeriums be.
steifen, als es sich gegen das Amendement Slaven ha gen aussprnch.. Es
fürchtet die schwache Stelle seiner Bundesgenossen unsanft zu berühren. Diese
schwache Stelle ist die Besorgniß vor den Anncxionsplänen Preußens. In
jeder Reform der deutschen Verfassung im Sinn eines engern Bundesstaats
sehen sie den ersten Schritt zu einer Einverleibung. Die preußische Re¬
gierung fühlt sich verpflichtet, nach dieser Seite hin die zarteste Rücksicht zu
beobachten. — Sei es. wenn sie nur in den Thatsachen nicht vom rechten
Wege abkommt!
Seit dem verunglückten Unionsversuch haben sich die deutschen Verhältnisse
wesentlich verändert. — Nach der Eroberung Ungarns erschien Oestreich in seinen
e>gelten Augen als ein aufstrebender Staat, der seine Macht auch als sein Recht
behaupten durste, Olmütz zeigte Preußen in seiner SchwäHe, und diese Schwäche
wurde von Jahr zu Jahr augenscheinlicher. — Den Gipfel erreichte Oestreichs
Übergewicht un ersten Jahr des russischen Krieges; es schien sogar, als wolle
^ sich zu einer großen Politik aufraffen. — Die erste Täuschung erlebte es,
"is seine bisherigen Bundesgenossen, die Mittelstaaten. Preußen in seinem
Widerstreben gegen die Action unterstützten. Es war nicht in ihrem Interesse,
d"ß Oestreich große Politik trieb; sie wollten nur das Oestreich der heiligen
Allianz, das conservative. das legitimistische. — Und nun zeigte sich, daß
Oestreich auch seine eigenen Kräfte überschätzt; es verlor den Muth, und an-
s!"et sich an die Spitze der europäischen Bewegung zu stellen, suchte es in
Reinlicher zaghafter Weise sie auszubeuten. Die Folge war. daß es sich
schmählich zurückgewiesen sah. — Von dieser Stunde datirt sein allmäli-
ger Fall.
Der Fall ist in riesenhaften Dimensionen fortgeschritten. Napoleon hat
>e Verhältnisse nicht gemacht, mit seinem starken Sinn für Realität hat er
>U aber gesehen und ausgebeutet. — Die Hegemonie über Italien ist un-
miete» dringlich verloren, sein Besitzstand von dieser Seite gefährdet, Oestreich
ist in der unglücklichen Lage, eine Armee halten zu müssen, die seine letzten
Kräfte aussaugt, und diese nicht gebrauchen zu können.
Gleichzeitig hat sich die Hohlheit seiner innern Einbeitsversuchc gezeigt.
Das Schwarzenbergsche Oestreich war eine Illusion. — Wie Frankreich 1787,
wird Oestreich durch den bevorstehenden Banquerott gezwungen, die Notabel»
zu berufe«. Die Notabeln verlangen eine Verfassung. Oestreich betritt den >
Weg, den ihm die Geschichte als den einzig richtigen anwies: es läßt das
System der letzten zehn Jahre fallen, es restituirt die Verfassung Ungarns,
verspricht den andern Ländern eine ähnliche, dem Gesammtstaat eine aus die
Specialverfassungen basirte. — Die nächste Folge ist wilde Aufregung in
Ungarn, radicale Zertrümmerung der bestehenden Zustände; in den andern
Provinzen allgemeine Unzufriedenheit über die Bevorzugung Ungarns; und,
schlimmer als das Alles! nirgend Geld, nirgend eine Aussicht auf Abhilfe
der dringendsten Noth.
Gleichviel, der Weg der Regierung war doch der richtige, oder vielmehr
der einzig mögliche. Die Zustände waren so verworren, daß, wenn der weiseste
und kühnste aller Sterblichen das Werk der Restauration hätte unternehmen wollen,
die nächste Folge doch nnr eine verstärkte Verwirrung hätte sein müssen. —
Ueber diesen Uebergangszustand kommt man nicht hinweg, die Sünden der Ver¬
gangenheit wollen gebüßt sein. Wir glauben und hoffen, daß es Oestreich ge¬
lingen wird, sich wiederzufinden — wohlgemerkt, als Föderativstaat, nicht
als Einheitstaat; der letztere ist unmöglich. — Wir hoffen es nicht blos für
Oestreich, sondern auch für uns; denn auch für uns, wie wir jetzt stehen, ist
der Fortbestand der östreichischen Monarchie ein dringendes Bedürfniß.
Aber wir können ihm nicht weiter zu Hilfe kommen, als daß wir sein
Bundesgebiet decken. Das zu thun sind wir verpflichtet, auch ohne weitere
Zugeständnisse von Seiten Oestreichs. Wir haben die Pflicht. Deutschland un¬
geschmälert der Zukunft zu bewahren. — Weiter hinaus können wir nicht gehen,
ohne durch zu enge Berührung mit einem durch und durch kranken Körper
unser eigenes Leben zu gefährden.
Wir zweifeln nicht, daß auch die preußische Regierung das erkennt. Arier
Verhältniß zu Oestreich ist unter allen europäischen Fragen die Hauptsache
nach ihm müssen sich die Parteien scheiden. Es handelt sich nicht darum, ob
liberal, reactionär, demokratisch, parlamentarisch, kaiserlich u. s. w.; das Alles
kann erst entschieden werden, sobald die Einsicht allgemein verbreitet ist. daß eine
engere Vereinigung (abgesehen von dem völkerrechtlichen Verhältniß, das un¬
angetastet bleiben soll) Deutschlands die östreichischen Provinzen für jetzt nicht
umfassen kann — für jetzt! denn für kommende Jahrhunderte haben wlk
nicht zu sorgen. — Jeder Gedanke einer Möglichkeit, Oestreich dennoch für
einen engern Bund zu gewinnen, ist ein Rückschritt für unsere politische
Entwickelung, gleichviel, welche Fahne er aufsteckt, die demokratische oder die
feudale. — Oestreich muß seinen Proceß mit sich selbst ausmachen, ehe wir
uns über eine weitere Einigung mit ihm verständigen können.
Der Fortschritt unserer Bildung muß sich hauptsächlich innerhalb des
Volks selbst vollziehen. Es wäre bequemer, wenn die preußische Regierung,
die es zunächst angeht, sich an die Spitze stellte; aber man kann von einer
Regierung nur Redlichkeit, nicht Heroismus verlangen. Verlangen, was nicht
da ist,- führt zu nichts. — Nur eins dürfen wir fordern: sie soll die öffentliche
Meinung nicht selbst verwirren. Geräth sie dennoch auf einen Irrweg, so
muß die öffentliche Meinung sie zurückhalten.
Das Amendement Stavenhagen ist für jetzt zurückgenommen; damit ist
aber nicht gesagt, daß die Kammer an der Nichtigkeit desselben zweifelt. Sie
hat sich in der vorigen Session darüber ausgesprochen, sie wird noch in dieser
Session Gelegenheit.nehmen, in anderer Form darauf zurückzukommen. —
Denn wenn auch die Stelle, welche Preußen in der Union einnehmen soll,
nur aus den materiellen Mitteln des Staats ihr Recht herleitet, so ist es doch
billig zu verlangen, daß die Vertreter des preußischen Landes, die nicht die
Vorurtheile zu überwinden haben, wie ihre deutschen Brüder, in der Erkennt¬
niß dessen, was noth thut, der übrigen nationalen Partei vorangehen und in,
dem ruhigen, aber steten Fortschritt die Führung übernehmen. >
'
Das (Kebiet der deutschen Sprache als der bedeutsamsten Naturmitgift in
den Aeußerungen des Seelenlebens ist gleich dem der ganzen Nationalität
weder auf die politischen Grenzen Deutschlands beschränkt, noch innerhalb die¬
ser ohne Bezirke fremder Zunge. Ansiedlungen von Deutschen im Ausland
haben unserer Sprache ein sporadisches Gebiet, zum Theil in weiter Ferne
vom Mutterlande, zugebracht. Von diesem, der deutschen Colonialwelt, ist
in einem, spätern Abschnitt zu reden. Hier kommt es an auf eine Beschrei¬
bung der Sprachgrenze längs dem Saum des . alten deutschen Königslands
und innerhalb desselben; eben das gilt von der Statistik der Dialekte und
Mundarten.
Beginnen wir von Nordwesten! Hier hat unsere Sprache die Ablösung
der niederländischen Töchter zu eigenem sprachlichen Sonderbau nicht als to¬
tale Entfremdung oder Entartung zu beklagen. Zur Annäherung haben min¬
destens die Vläminger Schritte gethan, die. wenn auch aus politischen Grün¬
den von geringem Erfolg, doch von Verwandtschaftsgefühl zeugen. In dem
allezeit doppelzüngig gewesenen Lothringen nimmt das Deutsche raschen Schritts
ab; doch selbst in Metz redet noch ein Viertheil der Einwohnerschaft deutsch
und zwei Drittheile ein deutsches Idiom, das Mois Nkssiu. Diedenhofen
ist trotz seines französischen Namens Thionville noch meistens deutsch, auch in
Toul und Nancy ist unsere Sprache nicht gänzlich ausgegangen. Im Elsaß
hängt das Landvolk mit Zähigkeit an ihr; bei den Städtern aber und der
Beamtenwelt sind französische Einwirkungen, politischer und geschäftlicher Natur,
von .merklichem Erfolg gewesen; das Deutsche, dort unlieblichen Kiangs, steht
dem glatten Französischen gegenüber sehr im Nachtheil. Dennoch hat das
Elsaß Bekenner unserer Sprache in einer nicht geringen Anzahl wackerer Män¬
ner höhern Standes. Diesen zwar ist es nicht sowol um das angestammte
Nationalgut allein, als um das hochgebildete Kleinod unserer Nationalliteratur
zu thun. Vermöge seiner Naturkraft aber hat das Deutsche noch sechs Sieben¬
tel der Landbevölkerung für sich. In der Schweiz reicht es westwärts über
Basel und Solothurn hinaus, dann bis an die Seen von Viel. Murren und
Neuenburg; darauf nach Freiburg, das durch die Saame in eine deutsche
und eine französische Hälfte getheilt wird. Von dem französischen Waadtlande
abgewandt, behauptet das Deutsche die Nordseite und den Kamm der berncr
Alpen und des Se. Gotthard. Südlich davon das obere Wallis und einen
nach dem Monte Rosa spitz auslaufenden Winkel, wo acht Gemeinden,
Jssime ze., zusammen etwa 7000 Köpfe, die deutsche Sprache bewahrt haben.
Die deutschen Schweizer, ovschon in der Regel des Französischen mächtig,
halten auf ihre Sprache selbst im Gebrauch von Ortsnamen, als Virus,
Peterlingen, Neuenburg. Fortschritte macht diese in Graubündten über das
Churwälsche oder Ladinische, das merklich zusammenschrumpft. Nicht so
Tirol, wo sie mit dem Italienischen zusammentrifft. Kraft der Rührigkeit,
Gewandtheit und Schlauheit der Italiener und der Propagandalust des Klerus
dieser Nation ist der Vortheil bei ihr; ihre Sprache schreitet im raschen
Gange über ihre frühere Grenze vor; der Südsaum von Deutschtirol, ramene-
lich im Etschthal, wird mehr und mehr verwälscht. Zwar hat mitten unter
Italienern bei den sedes oommuni des Vicentinischen. etwa 30,000 (50,000?)
Köpfen, und einigen Tausenden der Bewohner der trsäioi commun um
Verona, sich das Deutsche als Volkssprache erhalten, doch ist es sehr verun¬
staltet und nicht außer Gefahr, vom Italienischen gänzlich überflutet zu wer¬
den. Oestlich von Tirol setzt das Deutsche sich an der Drau fort nach Kärn-
then. wo es ansehnliches Gebiet. Klagenfurt, Vliland und Windisch-Feistritz!c.
gewonnen hat. In Pvntafel (Ponteba) trifft es mit dem Italienischen und
Slavischen zusammen. Eine Merkwürdige Sprachinsel hat es in dem slavischen
Krain, dem Ländchen Gottschee mit 34 deutsch redenden Orten, deren Be¬
völkerung von fränkischen Ansiedlern aus dem vierzehnten Jahrhundert stammt.
Von Steiermark und Oestreich aus verzweigt es sich nach dem westlichen
Ungarn in die Gegend um den Neusiedler See. .Dem Slnvismus längs der
gesammten Ostgrenze überlegen und in stetigem Fortschreiten, nach einem
ungefähren Ueberschlag alle fünfzig Jahre über eine Meile slavischer Zunge
hinaus, hat es erst in neuerer Zeit durch slavische Sprachinsurrection Hemmungen
erfahren; doch haben die Sprachgrenzen sich dadurch wenig verschoben. Diese
sind nicht gradlinig oder im Zusammenhange fortlaufend; Vorsprünge und
Enclaven gibt es zu beiden Seiten. In wenig geschlossenen Massen hat das
Deutsche sich ausgebreitet über einen Theil Mährens, wo Brunn, Olmütz und
Znaim großentheils sich dazu bekennen und das Kuhländl nebst den Schön-
hengstern eine interessante sprachliche Sporade darstellt, ferner über den Böh-
werwald, die nördlichen Landschaften Böhmens und mehrere größere Städte,
als Prag, Budweis, Pilsen, Bunzlau, Lcitmeritz — zusammen dritthalb Sie¬
bentel Deutsche gegen fünftehalb Siebentel Slaven, dann über das Riesen¬
gebirge und Niederschlesien, wo die Oder eine Strecke weit die Sprachscheide
bildet, im östreichischen Schlesien Jägemdorf deutsch, Troppau slavisch ist
endlich über das westliche Posensche, das deutsche Ansiedler schon im zwölften
und dreizehnten Jahrhundert, darauf seit dem siebzehnten Jahrhundert empfing,
bis zu zwei Fünfteln der Bevölkerung, und einen ansehnlichen Theil West¬
preußens an der Weichselmündung und um Thorn und Bromberg. Dante
bildet sich die Brücke nach dem einst zum Reich gerechneten, räumlich aber
davon entlegenen vormaligen Ordenslande Preußen, wo der winzige Ueberrest
dn fremdzungigen Eingeborenen in Preußisch Lithauen nur noch schwachen
Widerstand leistet, und nach den ebenfalls mit dem deutschen Reiche einst
verbunden gewesenen russischen Ostseeprovinzen, wo das Deutsche sich nicht
so lebenskräftig bewiesen hat. Innerhalb des Bereichs deutscher Zunge
den alten Reichsgrenzen sind die Wenden der Lausitz und die pommer-
schen Cassuben als vereinzelte Glieder der slavischen Völkerfamilie zurück¬
geblieben.^.."
Auf die Umschau nach den Grenzen unseres Sprachgebiets längs dem
Saum des vormaligen Reichs deutscher Nation mag eine flüchtige Muste¬
rung der Hauptäste des deutschen Sprachstamms und ihres gegenwärtigen
Verhältnisses zu einander in der Ordnung sein. Neben den reichgefüllten
Speichern germanischer Sprachforschung und Gelehrsamkeit anspruchslose
Spreu! Die alten Naturgrenzen der volksmündlichen Dialekte und Mund¬
arten haben physiologische Stetigkeit, deren Abwandlungen in neuerer Zeit
theils für sehr gering zu achten sind, theils sich historisch nicht nachweisen
lassen. Das Ueberhandnehmen des Schrifthvchdeutschen ist ein wesentliches
Moment dabei; doch das besagt nicht Dialekt gegen Dialekt.
Das niederdeutsche hat nach der Absonderung des Vlämischen und
Holländischen auf deutschem Boden noch eine, alte und ehrwürdige Schwe¬
ster in dem Friesischen, dessen Sippe, nach starken Verlusten auf ge¬
ringen Raum, längs der deutschen Nordseeküste beschränkt, sich dennoch des
gänzlichen Uebergangs in das benachbarte Plattdeutsche erwehrt. Eine Stief¬
schwester hat das sächsische Plattdeutsche in dem Niederrheimschen, dem das
Vlämische und Holländische Manches zugemischt haben. Im südlichen West¬
falen ist das Rothhaargebirge Grenze des Plattdeutschen. In Hessen reicht es
bis'an den Habichtswald; an das plattdeutsche Diemelland stößt das hoch¬
deutsche Flußgebiet der Fulda. Ostwärts von da geht die Scheide durch das
Eichsseld. wo Hciligenstadt hochdeutsch, Duderstadt plattdeutsch, um Duderstadt
aber nach der Bergscheidc ein Theil plattdeutsch wat, der andere hochdeutsch
was spricht. Darauf durch den Harz, wo die Bergleute (ob fränkischen
Stamms?) und einige Orte, Ellrich. Hasselfclde, hochdeutsch, alles Uebrige
plattdeutsch redet. Von den südlichen Abhängen des Harzes, Aschersleben rc,
setzt die Sprachscheide über Quedlinburg, Calbe, Zerbst. Wittenberg, ISter¬
il ock. Luckau. Lübben, Guben, Krossen und Züllichau sich fort bis Meseritz und
in das Großherzogthum Pose». An der Ostseekiiste hat das Plattdeutsche i»>
Munde des Volks ausschließlich Geltung in Holstein, Mecklenburg. Pommern.
Westpreußen und bei der Mehrzahl der Ostpreußen. Der ihm eigene dünne
Zischlaut in sy, se, si, hin, su, so. sprechen, stehen, ßlagen, ßmieren, ßnüi'en.
ßwer mahnt an gleiche Laute im Englischen und scandinavischen. Mund¬
artliche Eigenheiten sind u. a. das westfälische Schinken, wo das es getrennt
von s gesprochen wird, und daß für mich, dich und mir, dir. die binnen¬
ländischen Plattdeutschen meat und deck, die knstenländischen mi und ti
sprechen.
Von den oben bezeichneten drei Hauptgebieten des Oberdeutschen,
dem Oberrheinischen, das in die Schweiz hineinreicht, dem Schwäbische"
(Schmeller's Westlech). dem Bayerschen (Schmeller's Ostlech). wovon dn^
Oestreichische die Fortsetzung und das Oberpfälzische und Böhmisch-Deutsche
einen Uebergang zum Mittelhochdeutschen bilden, zeichnet sich das Schwäbische
aus durch Breite und Fülle des Zischlauts. Kaschper. Pohscht. Worscht, das
Schweizerische durch diesen Kehllaut des Eh, in den auch wol das K sich
auflöst.
Als Nebenzweig des Oberdeutschen mit vielfachen Uebergängen in das
niederdeutsche bild'et das Mittelhochdeutsche einen Sprachgürtel, der vom Nieder¬
rhein bis über die Oder reicht. Seine Mundarten sind zahlreich. Die nieder-
rheinische, schwankend zwischen Nieder- und Hochdeutsch, herrscht von Aachen
und Cöln rheinaufwärts bis gen Coblenz. Etwas davon verschieden ist die
mittelrheinische und von dieser abweichend die mainrheinische in den
Landstrichen, wo Mosel, Lahn, Main und Neckar in den Rhein ausmün¬
den. Der Uebergang des chen oder che in el — Mädchen. Mädche. Matt
^- gehört zu den Merkzeichen der Grenze gegen das rein Oberdeutsche, diese
aber ist ohne scharfen Durchschnitt. An die mainrheinische Mundart grenzt
ostwärts die mainfränkische (hennebcrgischc) am obern Main, an der Reg-
uitz. Eger, Nab und an der Rhön; ihr benachbart ist die westerwäldische
an der Eder und Fulda, die nordwärts bis Cassel reicht. Weiter ostwärts
folgen die thüringische an der Saale und Unstrut, die über Anhalt, Halle ze.
in die Niederlausitz und die Marken auslaufende brandenburgische. südlich
von dieser die meißnische und oberlausitzische zwischen Saale und Miltel-
oder. Verfolgt man die Varietäten dieser Mundarten vom Rhein bis zur
Oder, so sind die Vocallaute fast durchweg unrein, insbesondere das A und
An, I. El und En, — ödes statt auch, ich globe, heeßt, Leite —. bei den
Mitlautern zeigt sich in ostwärts zunehmendem Maß das Unvermögen, harte
und weiche Laute — B und P. D und^T, G und K, B und W — genau
Zu unterscheiden. Wie die Zmige. hat auch das Ohr der Bewohner des mittel-
östlichcn Deutschlands dafür kein scharfes Kriterium. Man lasse z. B. eocligo
Kvtiev oder Packbube, bübischer Pöbel. Bekleidung und Begleitung sprechen!
Ebenso geht von der niedern Saale bis zur Oder das G gern in I über —
^'r jute Jott; umgekehrt wird in Meißen wol ein K daraus — ksehn —.
ja selbst I wird wol zum K verhärtet — zu Khanne (Johanni).
In mehr als einer nieder- und mittelhochdeutschen Mundart hat das R
^ne eigenthümliche Rückwirkung auf den vorhergehenden Vocal; daher das
hamburgische Ä in Karl, das magdeburgische A und U in Herzkirsche, das
weißnische E statt I in Berne (Pirna),E statt Ü und I in Thürmer der
Kreuzkirche. Das geht über Deutschland hinaus; der Engländer spricht Sir
Ször, der gemeine Mann ssrMimt. als Szärdschcnt. Das rollende R wird
wiener in den Ebenen als im Gebirge gehört, und zwar dort am wenigsten
den Städten. Dagegen ist ein mattes R längs der Ostseeküste an die
Stelle des D oder T getreten, so im mecklenburgischen Nehr statt Rede. Beir
statt Beide, lahr statt legt :c., wiederum bleibt es ganz weg in Döah statt
Döhr, Hoa statt Haar. Das Ch in nicht läßt der Oberdeutsche gern w.v,;
er sagt net oder nit. Ueberhaupt sind Elisionen bei ihm gewöhnlich. Die
bestimmte Articulation, mit welcher der niederdeutsche das Hochdeutsche spricht,
klingt ihm fremdartig. Bei einer Reise ward ich zwischen Nürnberg und Re¬
gensburg in einer Schenke wegen Meiner Sprechweise gefragt, ob ich ein
Franzos sei? Außer'dem Laut der einzelnen Buchstaben geben,sich* mundart¬
liche Eigenheiten auch in der Betonung zu erkennen. So in dem niedersäch¬
sischen Tischler. Sattler. Kürschner. Pastor (im Kinderspiel beim Abzählen:
Edelmann, Bettelmann, Docter, Pastor). Directer.
> Hier fragt sich's endlich noch, wo das Schrifthochdeutsche im Lautsystem
sich am besten bewährt habe, wo es am bestimmtesten und deutlichsten arti-
culirt. am wohltönendsten und frei von provinzieller Färbung gesprochen werde?
Die Antwort lautet, wie bei der Frage nach deutscher Nationalität überhaupt,
daß es nicht an eine einzelne Landschaft gebunden sei, vielmehr über allen
schwebe. In den Herzlandschaften des alten Reichs oder in der Heimat von
Luthers Bibelübersetzung wird man seine beste Gestaltung in mündlicher Rede
keineswegs zu suchen haben; am nächsten kommt sie der Klassicität vielmehr
da, wo dem Hochdeutschen das Plattdeutsche in seiner vollen Giltigkeit zur
Seite steht und der Gegensatz den Satz- befestigt; also in Norddeutschland.
Alle Ehre nun in der That dem hannoverschen und holsteinischen Hochdeutsch '-
dennoch ist selbst von der seinen Aussprache von Celle und Kiel gar Manches
abzustreifen. Die vollendete Classicität ergibt sich erst aus der Negation
jeglichen Provinciellen Accents bei genau gegliederter Articulation. Diese,
Größe ist aber am durchgängigsten auf der Bühne zu finden; Reichs- und
Landtage, Kanzel, Katheder, Schule und Gericht stehen darin weit hinter jener
zurück/
Fällt nun von unseren aphoristischen Glossen über mundartliche Besonder¬
heiten ein Seitenblick auf das Dialektische. Mundartliche und speciell Vocale
in dem eigenthümlichen Gebrauch gewisser Wörter, Wortformen', Beugungen,
Redensarten und überhaupt auf das außerhalb des physiologischen Glieder¬
baues liegende symbolische der Sprache, so wird ihm ein so umfängliches
und massenhaft gefülltes Gebiet begegnen, daß bei einem bloßen Streifzug^
in dieses die Beschauung nur ein wirres Bild davontragen würde. D>e
Idiotismen im Gebrauch einzelner, in die hochdeutsche Schriftsprache nicht auf¬
genommener, Wörter allein bilden einen Riesenwald, dessen Stämme bis M'
Stunde noch nicht zahlbar geworden sind. Den historischen Abwandlungen
aber in dieser Wildniß vollständig gerecht zu werden, gehört zu den unauf¬
löslichen Problemen. Etwas ergiebig ist die Forschung nach dem Entstehungs¬
gründe einzelner Ausdrücke, der sich in localen Erlebnissen. Moden u. tgi-
nachweisen läßt. Eine nicht unwichtige Rolle in den Provinzialismen haben
die Versicherungswörter, als das niedersächsische doch nach einer verneinenden
Frage (gleich dem französischen si) und das ja wol! das schweizerische jo fri-
lich! und o nein! ferner die Flickwörter, als das oberdeutsche halt, sehr alter
Abstammung, gelt, das in geltcns, geins übergeht, das mittelrheinische H6!
desgleichen die Begrüßungsformeln, als Gott Willkomm! in Oberdeutschland,
Grüß Gott! in Franken. Aus dem Bereich der Grammatik gehören zu den
auffälligen Besonderheiten die Geschlechtsbestimmung von Hauptwörtern, als
der Schnepf, der Schneck, der Spitz (von Bergen) ze. im Oberdeutschen, der
Tuch, das Zettel!c im Niederdeutschen, die niederdeutsche Femininendung in
Ohlsche, Nabersche. Vadderschc, das brandenburgische mir und das nieder¬
sächsische mich statt des richtigen Casus, die oberdeutschen Participformen gc-
wunschen, verbrünnen u. f. w.. der Mangel des Imperfectums in der Erzäh¬
lung des Schwaben und Schweizers ze. Doch weg mit der Laienhand von
dem gegenwärtig stolzen Bau sprachlicher Meisterzunft.
In welchem Maß nun Dialekte und Mundarten kraft ihrer Naturwüchsig¬
keit mit unverwüstlicher Lebenskraft sich neben der unter vernunftmäßiger Mit-
Wirkung ausgebildeten und hochdeutschen Schriftsprache zu behaupten vermögen,
läßt sich im Familienleben und bürgerlichen Gesellschaftsverkehr durch alle
deutschen Landschaften erkennen. Am meisten in den nördlichen, wo reines
Plattdeutsch, und in den südlichen, wo reines Oberdeutsch mit Herz und Sinn
'hrer Bekenner verwachsen sind. Dort wird der Gebrauch des Schrifthoch¬
deutschen nicht leicht über die Sprache der Kirche und Schule und des Beamten-
und Herrenstands hinaus gutgeheißen; hier wird ihm selbst in solHer Sphäre
das Aufkommen verwehrt. Ein züricher Bauer, der seinen Sohn taufen ließ,
pwtestirte gegen den Namen Heinrich, den der Prediger gebrauchte; er solle
Huri sygen. „mer sind jez i der Scholz und rede schwizerdütsch. In Bern
wollte man vor nicht langer Zeit dem deutschen Vogt nicht erlauben, rein
hochdeutsch zu verhandeln, er solle bcrnerisch-deutsch reden. So anmaßlich ist
das Plattdeutsche dem Schrifthochdeutschen gegenüber nicht; doch gern wird
'hin manches hergebrachte Recht im öffentlichen Leben. ^. B. dem Hamburger
Bürgereid, vergönnt und die Ausrufer lassen nicht davon; auch wird es dem
Pfarrer, Gerichts- oder Gutsherrn hoch angerechnet, wenn er zu traulicher
Rede in's Plattdeutsche hinabsteigt, dem Schulmeister aber, der Hochdeutsch
außer seiner Schule zu radebrechen versucht, dies als übelanstehende Vornehm¬
tuerei ausgelegt. Vor Jahren gab es einen hannoverschen Corporal, der
"icht leiden wollte, daß seine Husaren mit einander Plattdeutsch sprächen, was
nicht verstand, denn sie könnten ja sich über ihn aufhalten, und um so
°>Niger sprachen sie dies, sobald sie ohne ihn beisammen waren. In Mittel¬
deutschland hat die locale Mundart ihre Stärke vorzugsweise in Frankfurt;
wie gern läßt der Frankfurter sich in dem Bnrgercnpitünsdcutsch vernehmen!
Für Schnadahüpfl u, tgi. ist das Mundartliche eine so unerläßliche Natur¬
mitgift wie das Athemholen zum Leben.
Ludwig K. Schmcirdas Reise um die Erde in den Jahren 1853—.1857.
Zweiter Band. Braunschweig, G. Westermann 1861. Schildert die Insel Mauri¬
tius, die Kapkolonie mit Rückblicken auf deren Geschichte sowie auf das Wirken der
mährischen Brüder, dann sehr ausführlich und nach den verschiedensten Beziehungen
Australien und Neuseeland, hinauf die Südsee, dann Chili, über dessen sociale und
politische Zustände mancherlei Neues mitgetheilt wird, dann verschiedene Städte
Perus, endlich Panama und den Verkehr aus dem Isthmus — Alles mit Sach¬
kenntniß und auf Grund guter.Beobachtung.
Von dem in G. Wcstcrmanns Verlag zu Braunschweig heraufkommenden
Sammelwerke: „Unsere Tage" liegt uns das 17. bis 19. Heft vor. Die
interessantesten Aufsätze darin sind: Hannover, Land, Leute, Lebensweise und Lebens-
verhältnisse besonders in Beziehung ans die ländliche Bevölkerung — Frieders
Goßmann "(etwas überschwänglicher als billig) ->- Zur deutschen Einheitsbewegung
Die deutschen Eisenbahnen (von M. M. v. Weber, einem der besten Kenner des
Gegenstandes) — Der deutsche Zollverein — Das heutige Buchdruckerciwcscn — Die
Klingcnfabriken in Solingen und die Biographien von Röscher, Sir Henry Georg
Ward und Fürst Barjatinsky.
Aus der Natur. Neue Folge 1. und 2. Band. Leipzig, Verlag von Am-
brostus Adel. 1860. Der Zweck 'des Unternehmens ist die neuesten Entdeckungen
aus dem Gebiet der Naturwissenschaften und deren Anwendung auf die Jnduflne
in populärer Weise darzustellen. Die neue Folge erscheint, um das Wichtiger«-'
rascher bringen zu können, in wöchentlichen Lieferungen und gibt zü größeren Ab¬
handlungen auch kurzgefaßte Mittheilungen. Der I.Band bespricht unter Andern«:
da« Eisen, das organische Leben aus andern Himmelskörpern, die Furcht vor den
Arscnikfarbcn, die (Fsneratio spontÄnea,, die gezogenen Kanonen, die Nähmaschinen,
der 2. das Wirkungsgebict der Heilgymnastik,, den Tabak, die Irrlichter, das elek¬
trische Licht, die Entstehung der Telcgraphic, die Mittel der Beleuchtung. D"
3. Band, von dem uns die erste Ur. vorliegt, enthält ein recht anmuthiges KaV>^
„Studien an einer g-frorncn Fensterscheibe." Die Auswahl der Gegenstände ü
ebenso zu loben, als die Form der Darstellung. Die beigegebenen Holzschnitte sin
sorgfältig ausgeführt.
Die Aufschlüsse über den Fortgang der Ereignisse in Italien, welche uns
das neueste englische Blaubuch, die der französischen Legislative vorgelegten
Actenstücke und zu einem winzigen Theile auch die preußische Adreßdebatte
gebracht, sind wichtig genug, um den Versuch zu rechtfertigen. dieselben übersicht¬
lich zusammenzufassen und uns das Resultat klar zu machen, das sich aus ihnen
ergibt. Wir benutzen hierbei auch einige Nachrichten, welche zwei augenschein¬
lich officiösc Artikel der Revue des deux Mondes „Italien seit Villafranca" geben.
Die ganze jetzige Entwicklung der Dinge in Italien datirt von dem Frie¬
den von Villafranca, obwol derselbe äußerlich ganz zurückgetreten ist. Die
souveraine von Frankreich und Oestreich käme» in jener persönlichen Begeg¬
nung vornehmlich über zwei Punkte überein. Der eine war klar und einfach.
Franz Josef trat die Lombardei ab; der andre in seinen Folgen weit wichti¬
gere war aus Rücksicht für Oestreich nicht bestimmt ausgesprochen, aber doch
bestimmt verstanden: es war der Grundsatz der Nichtintervention. Nur um
seine persönliche Ehrenpflicht zu decken, machte der Kaiser Franz Josef den Vor¬
behalt wegen der Rückkehr der Herzoge; als er aber im November 185» die
Absicht blicken ließ, dem Uebergreifen Sardiniens entgegenzutreten; erklärte
Napoleon dem Fürsten Metternich, daß Frankreich die Überschreitung des Po
durch die Oestreicher als Kriegserklärung betrachten mürbe. er beschränkte seine
Action zu Gunsten der vertriebenen Fürsten auf diplomatische Sendungen und
^msttllungen. Die Besiegung Oestreichs war die nothwendige Vorbedingung
nncr nationalen Neconstruction Italiens, aber der Grundsatz der Nichtinter¬
vention. der seine entschiedenste Unterstützung von England empfing, hat her¬
nach die Einheit rascher gefordert, als es irgend jemand voraussetzte. Am
wenigsten glaubte vielleicht Napoleon an diesen Gang der Ereignisse, aber grade
die UnVollständigkeit des Friedens, die Ueberzeugung, daß der Zustand, den
^ schuf, unmöglich dauern könne, vor Allem die drohende Stellung Oestreichs
'u Venetien trieb die Italiener dazu, die Zeit wahrzunehmen, wo es noch
'""glich war. ihren, Vaterlande eine bessere Verfassung zu geben. Was die
überwiegende Mehrzahl der Nation bewegte, war nicht sowol das Streben
nach staatlicher Einheit, als der Drang, sich dem Drucke zu entziehen, den die
Fremdherrschaft auf die ganze Halbinsel übte. Hätte Oestreich im Feldzug
von 1859 seine gestimmten Besitzungen in Italien verloren, so wäre die Kon¬
föderation, welche Napoleon beabsichtigte, wenn auch nicht gesichert, doch nicht
unmöglich gewesen. Dieselbe ward aber im Keim dadurch erstickt, daß Oest¬
reich für Venetien Mitglied derselben sein sollte. Ein solcher Bund wäre die
Legalisirung des fremden Einflusses gewesen, die Gegenwart der Oestreicher in
der Lagunenstadt war der zwingende Grund für die Italiener, über alle Be¬
denken hinwegzugehen und einen Staat zu bilden, stark genug, um dem wiener
Cabinet nöthigenfalls die Spitze bieten zu können. Wie weit die Absicht
Napoleons aufrichtig oder, doch in sich klar war, die vertriebenen Fürsten
wieder einzusetzen, ist zweifelhaft; die Einheit Italiens wollte er gewiß nicht,
sondern womöglich einen italienischen Rheinbund; aber gegenüber den Ereig¬
nissen in Toscana und den Legationen mußte er die Unmöglichkeit einsehen,
den vorigen Zustand der Dinge herzustellen, und noch ehe die langwierigen
Verhandlungen in Zürich ihren unfruchtbaren Abschluß gefunden, hatte er sich
für eine Wendung in seiner Politik entschieden. Die Schrift über den Papst
und den Congreß vereitelte letztere; nachdem sein neuer auswärtiger Minister
vergeblich versucht, den Grafen Cavour zu einem Mittelweg zu bewegen, er¬
klärte sich derselbe in einer Depesche an den Marquis de Moustier zu Wie»
3t. Januar 1860 unvermögend, den Vertrag von Zürich auszuführen, und die
Thronrede vom 1. März sagte schon mit einem unbedeutenden Vorbehalt, „daß
der Kaiser dem König von Sardinien gerathen habe die Wünsche der Provinzen,
die sich ihm darboten, günstig aufzunehmen." Aber der Preis für diese stillschwei-
gente Anerkennung war die Vergrößerung Frankreichs. Die Abrede von
Plombiöres mittelbar cingestehend, sagt Napoleon in seinem eigenthümliche"
Brief vom 29. Juli an Persigny „Ich hatte auf Nizza und Savoyen ver¬
zichtet, die außerordentliche Vergrößerung Piemonts allein ließ mich aus den
Wunsch zurückkommen, diese beiden wesentlich französischen Provinzen mit Frank¬
reich vereinigt zu sehen." Wir wollen hier nicht wiedererzählen, wie Eng-
land sich durch einen Handelsvertrag abfinden ließ und die übrigen Großmächte
unzufrieden, aber unthätig zusahen, sondern die Fragen näher ins Auge solse",
auf die sich die wichtigsten mitgetheilten Actenstücke beziehen, die neapolitanische
die römische und die yenetianischc; zuerst die neapolitanische, welche durch den
Fall Gaetas wenigstens für jetzt einen Abschluß gefunden hat.
Das Königreich beider Sicilien schien äußerlich von dem Kampfe unbe¬
rührt geblieben zu sein, der 1859 in den Ebenen der Lombardei tobte. abe>
innerlich war dasselbe ebenso unterhöhlt wie die Herzogtümer und die znipst'
lichen Staaten. König Ferdinand der Zweite hatte den Mahnungen der West¬
mächte und der Abberufung ihrer Gesandten einen hochmüthigen Trotz ent-
gegengesetzt, aber die absolutistische Partei Europas, welche sich über diese
Festigkeit freute, sah nicht oder wollte nicht sehen, welchen Aufwand von
Gewaltmaßregeln im Innern es bedürfte, damit der König nach außen diese
Stellung behaupten konnte. Er selbst tauschte sich nicht über die Gefahren der¬
selben, aber er glaubte, daß jede Nachgiebigkeit dazu führen werde, der Re¬
volution neue Kräfte zu verleihen, das Metternichsche „nach mir die Sünd-
fluth" ward auch bei diesem treuen Anhänger der östreichischen Politik wahr.
Als er im Mai 1859 starb, standen auf den Listen der Polizei über 180,000
Personen als gefährlich (irttc-vilibili) verzeichnet. Franz der Zweite hätte bei
seiner Thronbesteigung leicht einlenken können, ihn band keine Vergangenheit,
mit der er zu brechen genöthigt gewesen wäre, die Gesandten der Westmächtc
kamen von selbst zurück, er war als wohlwollend bekannt, man erwartete eine
Amnestie und Verbesserung der Verwaltung, die Hoffnungen seines Volkes
wachten noch einmal auf — sie wurden vollkommen getäuscht. In strenger Ab¬
hängigkeit vom Klerus erzogen, mit Argwohn durch seinen Vater von allen
Acgicrungsgeschäften ferngehalten, scheute der König ängstlich vor jeder ein¬
reisenden Veränderung zurück, er hatte eine fast abergläubische Furcht, an dem
zu rühren, was von seinem Vater stammte, der überkommene Hof desselben
bestärkte ihn darin, und sein Beichtvater predigte ihm strengen Gehorsam gegen
seine Stiefmutter, die verwittwete Königin, welche die Seele des alten Sy¬
stems blieb. So schloß er sich feindlich von jeder Berührung der Ideen ab.
für welche Italien damals den Kampf begonnen. Dem russischen Gesandten,
der ihm bei seiner Thronbesteigung die Glückwünsche des Kaisers Alexander
überbrachte, sagte er: „Was mich betrifft, so weiß ich nicht, was italienische
Unabhängigkeit heißen soll, ich kenne nur eine Unabhängigkeit, die neapoli¬
tanische." Besonders zeigte er ein lebhaftes Mißtrauen gegen Sardinien,
dessen Hand er in jeder Regung zu erkennen glaubte; wenn die Polizei irgend
une neue verdächtige Person festgenommen, so wollte er, daß sein Minister
"»e starke Note an den sardinischen Geschäftsträger richte. Diese Disposition
er>g sehr wesentlich zu seiner spätern Jsolirung bei; was auch die weitern
Plane des Grasen Cavour sein mochten, sicher ist es. daß er bei dem Regie¬
rungsantritt Franz des Zweiten nicht daran dachte, demselben feindlich ent¬
gegenzutreten. Die Revue des deux Mondes theilt die Instruction mit.
welche er am 29. Mai dem Grafen von Salmour gab. der sich zur Beglück¬
wünschung des Königs nach Neapel begab, sie enthält die dringendste Auf¬
forderung zu einer Allianz mit Sardinien. Dieselbe ward entschieden zurück¬
gewiesen. »Das Unglück ließ den König einen Mann zu seinem ersten Minister
wählen, der alle Hoffnungen, welche die liberale Partei auf ihn setzte, voll-
ständig täuschte. Filangieri schlug wol hier und da vor. die Willkürlichkeiten
Polizei abzustellen, beruhigte sich aber vollkommen, wenn nichts geschah.
'
Einmal zeigte er einigen Diplomaten den Entwurf einer Verfassung, hatte
aber nicht den Muth, denselben dem König vorzulegen und bat einen Adju¬
tanten des Kaisers Napoleon, Noguet, ihn Sr. Majestät zu Präsentiren, als
ob es ein Vorschlag der französischen Regierung sei. Die letzten Monate des
Jahres 1859 vergingen in unfruchtbarem Schwanken darüber, ob man den
pariser Congreß beschicken solle; im Innern geschah nichts zur Besserung, im
Gegentheil nach den veröffentlichten Depeschen des französischen Gesandten
Baron Bremer wurden die Verfolgungen nur heftiger betrieben. Ein Cir-
cnlar des Polizeiministcrs Ajofsa an die Intendanten befiehlt: „ohne die ge¬
ringste Zögerung gefangen zu nehmen quiccmque otkrirait ach Äsments -So
cuIrigMitu et möML av simples Londons," und erwartet deu Beweis durch
die That, daß die Adressaten von der Wichtigkeit dieses Befehls durchdrungen
seien. Später befiehlt er in einem geheimen Circular, alle die festzusetzen,
welche Sympathien für die Bewegung zeigen, eventuell sogar die, welche da¬
rüber sprechen oder Nachrichten davon verlangen.
Es läßt sich begreifen,' daß bei einem solchen Zustande die Expedition
Garibaldis nur der Funke war, der in ein Pulverfaß flog. Eine geistreiche
und wie es scheint wohlunterrichtete Feder des neuesten Heftes der preußischen
Jahrbücher führt den Zug des kühnen Mannes auf die Anregung Napoleons
zurück, der dadurch dem Grafen Cavour Verlegenheiten bereiten wollte. Wir
wollen dies dahin gestellt sein lassen, jedenfalls hat Garjbaldi sich nicht an
diesen Mandatar gebunden, und seine unerwartet raschen Fortschritte konnten
dem Ccibinct der Tuilerien nicht willkommen sein.- Herr v. Persigny ward
beauftragt, England eine gemeinsame Intervention vorzuschlagen, um den
Dictator Siciliens zu verhindern, seine Operationen auf das Festland auszu¬
dehnen. Aber Lord John Russell will nicht darauf eingehen, obwol er da¬
mals noch erklärt, „daß es gewiß viel vortheilhafter für Italien sei, zwei
Gruppen von verbündeten Staaten zu bilden, als nach einer vielleicht un¬
möglichen Einheit zu streben, die jedenfalls sofort zu einem neuen Kriege mit
Oestreich führen müsse." Beide Mächte riethen daher in Neapel zu weitern Nefor"
men und zum Abschluß eiuer Allianz mit Piemont. Die Noth machte den Hos
nachgiebig, eine liberale Verfassung ward gewährt, die Herren Monna und
Winspeare gingen.nach Turin ab. Aber es war dem Grafen Cavour nicht
zu verdenken, wenn er etwas mißtrauisch auf diese Anervietuugen sah und
erwiderte, daß man eine weitere Consolidirung der Zustände in Neapel ab'
warte» müsse. Inzwischen setzte Garibaldi über die Meerenge und rückte un
Eilmarsch auf Neapel, wo er eine provisorische Negierung bildete. ^Hier saw-
weiten sich nun um ihn, dessen Patriotismus und Tapferkeit niemand bezwei¬
felt, dessen geringe politische Einsicht aber die Depeschen Elliots auss n""
zeigen, die extremen Männer der Revolution, Mazzini an der Spitze, die U»-
ordnung wuchs zusehends und drohte in vollständige Anarchie überzugehen.
Dn machte Cav'our seinen kühnen Griff, für den ihn zwar die Note des Herrn
o. Schleinitz strafte, der aber die italienische Sache rettete/, die sardinische
Armee stellte durch die Eroberung der- Marken die Verbindung her. welche für
ein wirksames Eingreifen in Neapel nothwendig war. Garibaldi zeigte hier
aufs Neue seine Uneigennützigst: er. der dem König Victor Emanuel ein
Königreich erobert, legte die Dictatur in dessen Hände nieder, ohne irgend
eine Belohnung anzunehmen; er, der mehrere Monate unumschränkter Gebieter
von Neapel und Sicilien war, mußte sich, wie Elliot berichtet, einige Pfund
leihen, um uach Caprcra reisen zu können. Die letzte Episode, des neapoli¬
tanische» Dramas ist der Kampf um Gneta. Es wird uns die Depesche Thou-
venels an den Admiral de Tincui mitgetheilt, wonach das französische Ge¬
schwader nnr die Person des Königs sckützcu sollte. England drängte unab¬
lässig auf die Abberufung, welche Napoleon auf die Fürsprache der Gesandten
von Rußland, Oestreich und Preußen noch verschob. Der Grund, weshalb
Preußen sich an diesem Schritte betheiligte, ist uns nach der Erklärung des
Herrn v. Schleinitz ebenso unklar geblieben, wie die Motive, welche nach seiner
Ansicht das Abenteuer der Loreley rechtfertigen sollten. Nachdem die Flotte
abgesegelt, war der Fall der Festung unvermeidlich. Man kann lebhafte Sym¬
pathien für den unglücklichen König habe», welcher in der äußersten Noth den
Muth zu tapfrer Vertheidigung fand, begeistert sein für die heldenmüthige
deutsche Fürstin, welche an seiner Seite ausharrte; aber solche Gefühle können
nicht verhindern, daß sich das geschichtliche Gericht vollzieht, welches die Sün¬
den der Väter auch an unschuldigen Söhnen heimsucht, an Ludwig dem Sech¬
zehnten wie an Franz dem Zweiten.
Wenden wir jetzt den Blick nach Rom, wo der nächste Act des großen
Dramas spielen wird. Der kaiserliche Brief vom 31. Januar 1859 hatte dem
Papst nach vielen Ergebenheitsversicherungen gerathen, die aufständischen Pro¬
vinzen zu opfern, die dem römischen Stuhl seit,51 Jahren so viele Verlegen¬
heiten bereitet, wogegen der Congreß ihm gewiß seine übrigen Besitzungen
garantiren würde. Pius der Neunte antwortete am 8. Januar mit der in der
Encyclica vom 1v. d. M. öffentlich wiederholten entschiedensten Weigerung, irgend
etwas von den geheiligten Rechten aufzugeben, die nicht etwa einer Dynastie, son¬
dern allen Katholiken angehören. „Feierliche Eide verbieten Uns auf die Sou¬
veränität über jene Provinzen zu verzichten, und der Sieg der Empörung in
denselben würde nnr zu neuen Verschwörungen in unsern andern Provinzen
führen." — In weniger emphatischer Form, aber eben so bestimmt finden wir
die römische Politik in einer Depesche des französischen Botschafters Herzog v.
^rammont vom 3. März über eine Unterhaltung mit dem Cardinal Antonelli
gezeichnet. Lctzircr weist jedes Vicaruu des Königs Victor Emanuel zurück: es
würde nur ein gemilderter Verlust sein, der einem vollständigen in den Augen
der päpstlichen Regierung gleichsteht. Was in den Marken vorgeht, ist ein
Raub, gestützt auf die Revolution; der Papst kann sein Recht einer so unge¬
rechten Sache gegenüber nicht aufgeben, geschweige denn solche Regierungen
anerkennen, welche sich in ihrem revolutionären Werke sogar auf die pro¬
testantische Propaganda stützen! Alle Unterhandlungen können erst anfangen,
wenn die aufständischen Provinzen sich einfach unterworfen haben; bis da¬
hin wird der Papst sich, was Reformen betrifft, auf Versprechungen be¬
schränken, er wird nichts, gar nichts thun. Der Staatssecretär weist die
Anspielung Grammonts auf den Vertrag von Tolentino zurück; damals habe
der Papst selbst am Kriege Theil genommen und sich dessen Folgen unterwer¬
fen müssen, er habe die Legationen abgetreten, wie Oestreich jetzt die Lom¬
bardei verloren. Der Botschafter antwortet, daraus scheine zu folgen, daß,
wenn der König von Sardinien dem Papst den Krieg erklärt, das Gewissen
Sr. Heiligkeit frei gewesen sein würde, die Provinz abzutreten, worauf An-
tonelli erwidert, ein solcher Krieg hätte legitim sein müssen. — Der Raum
verstattet nicht die ganze Unterhaltung hier wiederzugeben, die höchst merk¬
würdig ist; unwillkürlich erinnert die Rolle, die der Cardinal dabei einnimmt,
an das Wort eines andern französischen Botschafters in Rom, dessen Katholicis¬
mus nicht verdächtig sein wird. Chateaubriands über den Cardinal Bernetti:
„Dieser Mann der Geschäfte und Vergnügungen verlangt von andern einen
Fanatismus, den er selbst nicht hat." — Während die römische Curie die
Mächte des Himmels anruft, ist sie doch vor Allem auf irdische Mittel bedacht,
um sich aufs Aeußerste zu vertheidigen; die Sammlungen in der katholische»
Welt werden mit größter Lebhaftigkeit betrieben, die besten Kräfte gesucht, um
die päpstliche Armee zu reorganisiren und die verhaßte, aber bis dahin unent¬
behrliche französische Besatzung unnöthig zu machen. Der Kaiser, der die letztere
schon länger als eine Verlegenheit fühlte, ging gerne auf Verhandlungen über
den Abzug seiner Truppen aus Rom ein. Am 23. März richtet Thouvenel ein
Telegramm an seinen Gesandten in Neapel, daß der Papst Rom mit seinen
eignen Truppen besetzen will, wenn der König Franz Garnison in Ancona
und den Marken zu halten verspricht; der König lehnt ab, weil er seine Streitkräfte
nicht theilen dürfe. Es folgen nun die Verhandlungen mit Lamonciöre, die
mit dessen Ernennung zum Befehlshaber der päpstlichen Truppen enden, aber
der Kaiser Napoleon gibt erst die Erlaubniß hierzu, als die erste Ernennung,
die vor seiner Genehmigung vollzogen ist, cassirt wi,rd. Um den General
schaaren sich die französischen Legitimisten, namentlich aus der Bretagne und
Lyonnais, der Empfang derselben beim heiligen Vater wird zu dynastischen
Demonstrationen ausgebeutet, einem dieser Kreuzritter, dem die Sache zu weit
geht, wird die heftige Antwort: „man ist Unterthan des Papstes, bevor man
Unterthan seines Souveräns ist; wenn Sie diese Ansicht nicht theilen, was
wollen Sie hier?" Die französische Regierung aber beschäftigt sich noch im
Mai eifrig mit dem Plane des Abzugs und sendet ihrem Gesandten die Dis¬
position, um denselben allmählig zu bewerkstelligen; erst als der Angriff der
Freiwilligen von Mast das römische Gebiet aufs Neue bedroht, erhält General
Goyon den Befehl, seine Abreise aufs Unbestimmte hinauszuschieben. Auch die
Versuche, die katholischen Staaten zweiten Ranges zur Gestellung einer päpst¬
lichen Garde und regelmäßiger Subsidien zu veranlassen, bleiben ohne prak¬
tischen Erfolg, ja sogar eine Subsidie dieser Staaten will der Papst nur in
Form einer Vergütung für die früheren kanonischen Abgaben bei Erledigung
von Bischofssitzen annehmen. Der Status quo verlängerte sich bis zum Ein¬
fall Sardiniens im September. Ueber dieses Ereignis) und das Mißverständ¬
niß des französischen Telegramms durch den päpstlichen Kriegsminister beobachten
die mitgetheilten Documente ein beredtes Schweigen. Wir glauben, daß der
Angriff Napoleon keineswegs unerwartet kam, es wird sogar versichert,, daß
er in Chamböry den Operationsplan Cialdinis verbessert habe; anscheinend
aber zeigte er eine große Entrüstung, berief seinen Gesandten aus Turin ab
und vermehrte die Besatzung in Rom. Dies Letztere verursachte dein eifrigen
Lord John Russell eine große Aufregung, die sich in einer Depesche an Lord
Cooley vom 22. September") Luft macht, unsrer Ansicht nach ziemlich unnütz.
Die Vermehrung war wol äußerlich eine Demonstration für den Papst, aber
Ichützte denselben nicht mehr, denn Sardinien wird Rom nicht angreifen, so
lange nur ein französischer Soldat drin weilt. Die Besetzung des sogenannten
Erbtheils Se. Petri hinderte aber andrerseits den vollständigen Verlust der
Marken und Andricus keinen Augenblick. So stehen die Sachen, als die Nach¬
richt von Gaetas Fall eintrifft und wir gleichzeitig hören, daß in Paris die
Einleitung zu dem folgenden Act des großen Drama durch eine neue kaiserliche
Flugschrift betrieben wird, welche in milder Form ein Ultimatum an den Papst
enthalten soll. Es ist von Seiten Napoleons die Geschichte der sibullinischen
Vücher, aber Pius der Neunte wird nicht das letzte kaufen und mit dem non
antwortend ins Exil gehen. Daß die Flucht dieses Papstes einen
ganz andern Charakter tragen würde, als die vieler seiner Borgänger, ja als
die babylonische Gefangenschaft in Avignon, darüber wird sich niemand täuschen,
^r mit vorurtheilsfreien Auge die Strömungen der heutigen Geschichte be¬
obachtet. Als Plus der Siebente von Napoleon dem Ersten gefangen genommen
und von Savona nach Fontcnncblcau geschleppt wurde, war nicht die päpstliche
'^urbe als solche Gegenstand des Angriffs, e^r war ein Sinnbild des Rechtes,
das der brutalen Gewalt geopfert wurde, daher umgab ihn die Sympathie aller
derer, die unter gleichem Drucke litten. Wenn aber Pius der Neunte heute
Rom verläßt, so ist es, weil Italien die weltliche Gewalt des Papstthums für
unverträglich mit seiner nationalen und einheitlichen Organisation hält.
Die englischen Depeschen, die das Blaubuch über die venetianische Frage
bringt, zeigen, daß der oberste Grundsatz Lord John Russells-ist. den Frieden
um jeden Preis zu erhalten. So lange er noch glaubt Sardinien vom An¬
griff auf Venetien zurückhalten zu können, erklärt er in den stärksten Ausdrücken,
daß dies ein ganz unverantwortlicher Act sein würde, als aber Graf Cavour im
italienischen Parlamente sagt, daß Venetien zwar jetzt nicht anzugreifen sei,
aber früher oder später zu Italien gehören müsse, als Garibaldi seinen Ent¬
schluß kund gibt, im künftigen Frühjahr gegen Oestreich vorzugehen, da hält
Lord John plötzlich den Verkauf der Provinz sür unvermeidlich und bittet das
Berliner Cabinet ihn zu befürworten. Wir finden hierin das Wort Mazzinis
bewahrheitet, daß Englands Politik ist, sich jeder Veränderung im europäischen
Staatensystem zu widersetzen und sie hernach als vollendete Thatsache armer^
kennen, wenn sie seine eicMn Interessen nicht direct verletzt. Weit wichtiger
find die französischen Actenstücke, welche diese Frage bei Gelegenheit der War-
schnner Zusammenkunft behandeln. Der Kaiser von Rußland, um seineu
östreichischen Gästen sofort zu zeigen, daß keine Frankreich feindlichen Absichten
von ihm begünstigt werden würden, legt ein französisches Memorandum vor,
das folgende 4 Punkte enthält: 1) Frankreich läßt Piemont ohne Unterstützung
im Fall eines Angriffs ans Venetien, unter der Bedingung, daß Deutschland
sich streng zurückhält2) der Stand der Dinge in Italien, der zum Kriege
Veranlassung gab. kann nicht wiederhergestellt, die Abtretung der Lombardei
kann nicht in Frage gestellt werden. Italien wird dem Züricher. Vertrag g>''
maß als Staaten-Föderation (peat liidm^til) eingerichtet; 3) die Gebiets-
Abgrcnzungen in Italien und die Einsetzung der Regierungen werden aus einem
Eongreß geregelt; 4) auch wenn Piemont seine Erwerbungen außer den in
Villafranca und Zürich festgestellten verliert, wird die Einverleibung von Nizz"
und Savoyen in Frankreich vom Congreß unberührt gelassen.
Ueber dieses Thema werden dann von den^verschiedenen Cabinetten verseht
dene Depeschen gewechselt, die kein sonderliches Ergebniß bieten, man müßte denn
als solches nehmen, daß Herr v. Schlcinitz. der im vorigen Frühjahr England
aufforderte, gemeinsam gegen die Abtretung von Nizza und Savoyen zu pu'
testiren. am 3. October desselben Jahres versichert, es werde keiner Macht einfallen,
bei einem künstigen Congreß Frankreich den Besitz dieser Provinzen streitig 5»
machen. Die Frage über Vciietien ist vertagt, bis die römische zu einer KNI>6
geführt ist; was aber Deutschlands Stellung zu ihr betrifft, so meinen wir,
daß. wie man auch über den Vincteschcn Antrug denken möge, eines sicher ist-
das Votum des Abgeordnetenhauses wird verhindern, daß Preußen und der deutsche
Bund sich für östreichische Interessen schlage, welche, wie in diesen Blättern
Politisch wie strategisch oft ausgeführt ist, keine deutschen Interessen sind.
Gläubige Seelen Pflegen, um die Schuld von sich abzuwälzen, den Teu¬
fel als Vater der Sünde zu bezeichnen. In ähnlicher Weise beschönigte man
in der »letzten Zeit hier und da die traurigen Verhältnisse Oestreichs mit der
Phrase der ererbten Uebelstände. Nun ist allerdings das System, nach wel¬
chem man bisher wirthschaftete, uralt und hat nur unter Kaiser Joseph eine
leider zu kurze Unterbrechung erlitten; es jedoch zur vollsten Blüthe getrieben
zu haben, ist jedenfalls unbestrittenes Verdienst der gegenwärtigen Regierung,
und so mögen deren Vertreter sichs anch gefallen lassen, die bittern Früchte zu
Pflücken, welche ihnen der stumme Widerwille oder der laute Haß der Völker
reifte. Die Reaction, wie sie in den letzten zwölf Jahren die deutschen
Provinzen im Allgemeinen verfinsterte, zu schildern, ist unnöthig. Dagegen
dürfte eS nicht ganz unwillkommen sein, wenn mit scharfen und wahren
Zügen dargestellt wird, wie selbst das allergetreuste Tirol, weiches noch Jmmer-
mmm mit einem Hunde verglich, der sogar einen schlechten Herrn anwedelt,
zum lebhaften Ausdruck der Entrüstung getrieben wurde.
Was die ererbten Uebelstünde in Bezug auf Tirol betrifft, so hatte dieses
M'me Linid bereits vor 18^48 daran sehr zu leiden. Nachdem der höchstselige
Kaiser Franz wieder in den Besitz desselben gelangt war, bestätigte er eiligst
alle Einrichtungen der bairischen Regierung, welche das Volk zum Aufstand
getrieben hatten, als seinem Absolutismus förderlich und behielt sie trotz aller
Klagen darüber bei. Es blieb die Conscription, die Stempelsteuer, obwol sie
die Stände der östreichischen Regierung bereits zweimal um schweres Geld
abgekauft hatten, die Grundsteuer wurde erhöht, die Accise neu eingeführt
und zur Unterhaltung der Bauern alljährlich das Marionettenspiel des Land¬
tages mit dem obligaten „Ja" in Scene gesetzt. Es genügt, diese Dinge,
die weltbekannt sind, nur «anzudeuten; das Resultat davon war. daß man
seinen^ eigenen Ruhm beklagte und es bereute, gegen die Baiern je den Stutzen
erhoben zu haben. Da brach das Jahr 1848 an. Man kannte in Wien die
Stellung Tirols Italien gegenüber zu gut aus der Erfahrung der letzten Kriege,
um nicht Alles aufzubieten, seine Schützen zur Theilnahme am Krieg zu be¬
wegen. Es war aber wenig Lust zu spüren; man fragte sich, für was
und wen man kämpfen solle? Die Regierung schickte einen Erzherzog mit
schönen Versprechungen, aber nur Wenige hatten die Vergangenheit so weit
vergessen, daß sie ihm glauben konnten. Man wendete sich an den Klerus,
der das Haus Lothringen stets als den Hort des exclusiver Katholicismus be¬
trachtend nun Alles aufbot, die Compagnien zu bilden. Es gelang so
ziemlich, zumeist, weil man hoffte, die Herren in Wien würden endlich einen
Theil ihrer Versprechen erfüllen. Kaum war aber die Gefahr vorüber, so wurde
der Besen in den Winkel geworfen. Die Erfolge in Italien und Ungarn
steigerten das Selbstvertrauen zur Verblendung. Bajonnette und Maßregeln im
Stile des zweiten December sollten das Fundament des neuen Oestreich
werden, dem servile Seelen zu Wien und anderwärts, z. B. in Augsburg,
das Ostcrlicd sangen. Es ist nach jener Richtung gewiß bezeichnend», wenn
einem Innsbrucker Blättchen eine ernste Rüge zu Theil wurde, weil es Einiges
gegen den Cäsar an der Seine gesagt; in dieser, daß man östreichische Lite¬
raturgeschichten und biographische Lexika zu schreiben begann, wo Ungarn,
Deutsche, Italiener und Slaven wie Kraut und Rüben durcheinander lagen.
Auch Tirol sollte im Centralisationsmörser eingestampft werden. Die erste
Errungenschaft war die Erhöhung der alten und die Einführung neuer Steu¬
ern. Am schwersten drückten die Besitzvcründerungsgebühren, da Grund und
Boden hier sehr mit Schulden belastet ist. aus welche bei der Berechnung
der Procente keine Rücksicht genommen wurde. Zu dem ist der Preis der
Grundstücke in Tirol, als einem übervölkerten Lande, bereits weit über seinen
wahren Werth gestiegen, sie unterliegen daher der Speculation und einem
bestündigen Wechsel des Besitzes. So zahlte eine kleine Gemeinde in kurzer
Zeit bis 60,000 Fi. Gebühren. Diese Steuer zehrt nicht von den Früchten
des Baumes, sondern füllte ihn selbst, und ihrem Fortbestand wird man es
zu danken haben, wenn an Stelle der kleinen Bauern ein bäuerliches Proleta¬
riat tritt, namentlich im Oberinnthale, wo durch lange Sitte eine maßlose Z"'
splitterung des Bodens stattgreift, und im Etschlande, dessen Bauern durch die
Traubenkrankheit in die Gaut gerathen, während die wülschcn Bauern die Höfe
kaufen und nachdem sie den Boden bis zur Erschöpfung ausgesogen, ihn ärmliche»
Coloncn in Kleinpacht geben. Man sehe sich diese Gestalten bei Neumarkt,
Auer. Salurn, und Burgstall an und vergleiche sie mit den prächtigen denk'
sehen Bauern, von denen vielleicht in fünfzig Jahren nichts mehr als die
deutschen Namen der Höfe übrig sind. Diese waren die Vorhut Deutschlands
an der Marke Italiens und was hat die Regierung Oestreichs, das man an
gewisser Stelle so laut und oft als Schirm und Schild Deutschlands preist,
gethan, hier das so wichtige deutsche Element zu kräftigen? Hat sie den Ueber¬
griffen des wälschen Klerus und der mit ihm verbundenen Schule einen Damm
entgegengesetzt? War sie darauf bedacht, in ihrer amtlichen Praxis bei den
Gerichten italienischen Gelüsten eine Schranke zu ziehen? Nichts von alledem
ist geschehen, und wenn Tirol noch nicht bis an den Brenner romanisirt ist,
so hat sich die östreichische Regierung von allen Betheiligten am wenigsten
das Verdienst davon zuzuschreiben. Hätten wir eine deutsche Centralgewalt,
so würden wir von ihr verlangen, daß sie ein Halt gebiete, damit sich
nicht zur Schande an der Eider die Schmach an der Etsch geselle.
Einen zweiten Grund des Mißvergnügens gab die Ergänzung des Landes¬
jägerregiments. Von Jahr zu Jahr wurde das Contingent gesteigert, während
zugleich der Anspruch auf die Grenzvertheidigung durch die Schützen fortbestand,
und statt daß das Regiment, wie es ursprünglich festgestellt war, in Tirol zur
Verwendung kam, zersplitterte man es bataillonsweise durch die ganze Mo¬
narchie. Unter den tiroler Bauern, so tapfer sie Haus und Hof gegen jeden
Angriff vertheidigen, herrscht eine entschiedene Abneigung gegen den Gamaschen¬
dienst, und wenn einen jungen Mann das Loos zum Militär trifft, trauert die ganze
Familie mit ihm. Besaß diese Geld genug, um sich einen Ersatzmann zu
kaufen, so wurde oft der letzte Kreuzer aufgewendet. Als Ersatzmänner boten
sich meist arme Jünglinge, welche die erhaltene Summe hinterlegten und
uach vollbrachter Dienstzeit sich damit einen häuslichen Heerd gründeten. Die
Regierung wußte auch hier für sich eine Finanzquelle anzubohren. Sie nahm
das Geschäft in ihre Hand, und stellte gegen Erlag einer gewissen Summe
selbst den Ersatzmann. Dadurch wurden die Reichen frei, und die Armen
hatten vom Dienst in der Regel keinen Vortheil. Wir lassen es dahin ge¬
stellt, ob das Geschäft so unredlich betrieben wurde, wie das Volk behauptet,
und bemerken nur als gewiß, daß dadurch viele hunderttausend Gulden aus
dem Lande gingen. Große Klagen verursachte ferner die Verwendung des
Approvisionirungsfonds.- Dieser war von den Ständen Tirols zur Verprovian-
tirung des Landes angelegt worden und erhielt seinen Zufluß durch einen
Zuschlag zum Zoll, welcher für die aus Baiern eingeführten Cerealien zu er¬
legen war. Die Verwendung dieses Fonds hing von der Zustimmung der
Stände ab. Nachdem die Bach'sche Nivellirung diese mir nichts, dir nichts
weggeschwemmt hatte, wurde der Zuschlag doch forterhoben und in der will¬
kürlichsten Weise verwendet, mögen auch die Zwecke an und für sich gut ge¬
wesen sein. So wurde zu Innsbruck die Anlegung einer neuen Straße aus
dem Approvisionirungsfond decretirt. — Was soll man endlich zu jener Ver¬
ordnung sagen, der zufolge Vormünder die Gelder ihrer Pupillen in östrei¬
chischen Staatspapieren anlegen müssen? Durch das Sinken derselben sind
dem Lande Millionen verloren gegangen und werden vielleicht in nicht langer
Zeit Hunderte von Familien mit dem Bettelstab auf die Straße gesetzt. Sollen
wir auch noch das sogenannte freiwillige Nationalanlehen erwähnen, wo der
Statthalter Bissingen an alle vermöglichen Leute eigenhändige Briefe ergehen
ließ, um sie zum Beitrag aufzufordern, wo ein mächtiger Finanzpascha seinen
untergebenen Beamten bis herab zum, Kcmzlcidiener einfach bestimmte, mit
wie viel von ihrer Monatsgage sie dem Staate beizuspringen hätten, wo
Bezirksrichter den Gemeindevorstehern die Summe angaben, welche die Ge¬
meinde zahlen solle, und dieses thun mußten, wollten sie nicht wegen Lässig¬
keit im Dienste eine Rüge erhalten. Und doch hatte man die Stirn, die so
erzwungenen Summen in servilen Blättern des In- und Auslandes als Be¬
weise für die Opferwilligkeit und Begeisterung der Völker Oestreichs auszu¬
posaunen! Auch des Agios müssen wir als eines bösen Geschwüres gedenken
und seine Wirkungen in finanzieller, sittlicher und politischer Beziehung kurz
andeuten. Wer die Landkarte betrachtet, sieht, daß Tirol nur durch einen
schmalen Hals mit den Provinzen zusammenhängt, wo Banknoten einen Cours
haben. Kärnthen und Salzburg erzeugen nur jene Produkte, welche Tirol
ebenfalls ausführt, aber nichts von dem, was es einführen muß, weil es der
karge Boden versagt. Der lange Grenzzug von Salzburg bis Kärnthen bringt
uns mit Baiern, der ^Schweiz, der Lombardei und Benctien, in welchem letz¬
tem zwar jetzt die Banknoten, jedoch nur zum Courswcrthc gelten, in Berüh¬
rung. Aus diesen Gebieten beziehen wir unsern Bedarf an Korn und zwar
nur gegen Erlag von klingender Münze. Es leuchtet daher jedermann selbst
ein, daß die Preise der unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse nicht nur von den
Märkten des Auslandes, sondern auch von dem Agio als Zusatz zum Einkaufs¬
betrage und Zolle, welcher ebenfalls an die k. ?. Grenzämter in Silber zu er¬
legen ist, abhängen. In Tirol wird davon nicht blos der Beamte und der
Bürger, sondern auch der Bauer in den meisten Gegenden betroffen, weil
dieser von seinen Feldern nicht so viel abnimmt, als er für das Hauswesen
bedarf. Für das Ctschland war in früherer Zeit eine Ausgleichung durch den
Verkauf der Weine in die Lombardei möglich; das hat jedoch seit der Trauben¬
krankheit fast ganz aufgehört. Jetzt kommt das Agio nur den Fleimsern, welche
Holz, den Unterinnthalern, welche Korn und Schmalz, und den Pusterthalern,
die Schlachtvieh verkaufen, zu Gute, weil ihnen bei Bezahlung von Steuern
und Capitalien die Banknoten als voll genommen werden. Höchst drollig ist
es, wenn bei dieser Lage der Dinge Wohldiener die Verhältnisse des Landes
als glänzend und den Reichthum desselben als im Zunehmen begriffen sah>^
dern. Den übelsten Einfluß übt das unberechenbare Wechseln des Agio auf
die Geschäfte der Kaufleute, welche ihre Waaren vom Auslande beziehen.
Um sich nur einigermaßen zu decken, müssen sie den Handel wie ein Hazan'd-
spiel betreiben, bei dem der Gewinn nicht von der Berechnung, sondern vom
Zufalle abhängt. Zugleich bleiben die Waaren, welche nicht einem unmittel¬
baren Bedürfnisse dienen, liegen, weil niemand mehr kaufen will. Wie demo-
ralisirend die Banknoten auf die untern Volksklassen, welche vom täglichen
Erwerbe leben, wirken, ist schon mehrfach und von verschiedenen Seiten er-
läutert worden. Früher suchte ein braver 'und fleißiger Arbeiter von seinem
Wochenlohn einen Silbergulden zurückzulegen für spätere Tage, vielleicht auch
in der stillen Hoffnung, einst sein eigener Herr zu werden. Jetzt will jeder
seinen Papierfleck, der ja morgen schon den halben Werth eingebüßt haben
kann, wieder los werden, und Wirthshäuser, wo er dieses auf die ange¬
nehmste Art thun kann, stehen immer offen. Schadet diese elende Geldwirth¬
schaft der Regierung überhaupt schon durch ihr bloßes Vorhandensein, indem
sie jeden stündlich durch die nächst beste Banknote, die er in die Hand nimmt,
daran erinnert, daß Vieles anders sein könnte, so trägt sie anch indirect zur
Herabwürdigung der Regierungsorgane bei. Die Beamten können nicht, wie
der Gewerbsmann seine Preise, ihre Besoldung erhöhen, Nebenverdienst bietet
sich ihnen selten oder gar nicht, und dennoch verlangt man von ihnen ein
standesgemäßes Auftreten. Ein Gehalt von tausend Gulden galt in früherer
Zeit als anständige Versorgung. Für viele wackere Staatsdiener war es das
letzte Ziel ihres Strebens. Was gelten nun tausend Gulden auf ihren wahren
Werth in Silber reducirt? Kaum 440 Thlr., und davon soll eine Familie,
deren Haupt bereits einer mittleren Diätcnklasse angehört, sich für ein ganzes
Jahr Kost, Kleidung und Wohnung schaffen. Wahrhaft kläglich ist die Noth
der niedrigen Beamten, welche sich weniger verdienen als der nächste beste
Schneidergeselle und daher Jahr aus Jahr ein zu Kartoffeln und Wassersuppe
verurtheilt sind. So ist der ganze Stand dem Schuster, dem Mehlhändler,
dem Bäcker verschuldet und sinkt bei zunehmender Armuth, die nicht von allen
mit Würde getragen wird, mehr und mehr in der öffentlichen Achtung. Der
Bauer, der Bürger begreift nicht, wozu denn „diese Horde Federviehes" nütz¬
lich sei. weil er sich noch nicht zur sublimen Höhe Bach'Saker Staatsmechanik
emporgeschwungen, und verwünscht alle diese „faulen Fresser", die er aus sei¬
nem Beutel füttern soll, ohne Rücksicht aus das unverschuldete Elend derselben.
Als ob es an diesen Uebeln noch nicht genug wäre, erbittert man die Leute
auch noch durch die finanzielle Manipulation, mit welcher man manche Steuern,
wie die Accise. die Weinsteuer einhebt. Um ordentlich zu controlliren. daß kein
Pfennig verloren geht, gibt man einen Gulden für die Controlle aus und
wird daneben noch um zehn Gulden betrogen. Im Etschland wurde vorher
viel Branntwein erzeugt; das amtliche Verfahren, welches das Brennen begleitet,
ist aber so lästig, daß manche Oekonomen die Weinträbern lieber gleich den
Schweinen geben, statt sie auf Branntwein zu verwenden. Viel Branntwein
gewann man früher aus den Beeren des Waldes, man läßt anch diese jetzt lieber
verfaulen, als daß man sich der Schnüffelei der „Finanzier" unterzöge. Ehe
der Tabaksverkauf Staatsmonopol wurde, wurde in Tirol viel Tabak gebaut,
namentlich eine Varietät für den Hausgebrauch, welche feinen Nasen zwar
unerträglich und daher nicht verkäuflich war, aber doch das harte Klima ver¬
trug. Hätte das Aerar den Anbau erlaubt, so würde es gewiß wenig Scha¬
den erlitten haben, um so weniger als die Bauern jetzt ihren Bedarf vom
Auslande einschmuggelten. Sie kamen bei jedem Anlaß auf diesen Gegenstand
zurück und verlangten auch 1848 das Recht des freien Anbaues, welches ihnen .
Erzherzog Johann auf dem Markte zu Imst zugestand. Leider zog es die
Regierung, als die Gefahr vorüber war, sogleich wieder zurück und hinterließ
dadurch in allen Gemüthern einen scharfen Stachel. Neuerdings wurde der
Anbau wieder gestattet, jedoch unter solchen Klauseln, daß sich niemand damit
befassen mag und der Verdruß nur gesteigert wurde.
Das siud Alles Dinge, welche sich auf den Geldbeutel, bei dem über¬
haupt die Gemüthlichkeit aufhört, beziehen. Fragen wir nun nach dem Rechts¬
zustand des Landes. Zuerst wurde ihm, als hätte es sich wie andere Pro¬
vinzen in offenem Aufruhr befunden, sein urkundlich und vertragsmäßig ver¬
briefter Landtag, in so weit Metternich seine Befugnisse nicht bereits eskamotirt
hatte, genommen. Bürger und Bauern, welche im natürlichen Verlauf der Zeiten
das Uebergewicht über die privilegirten Stände des Klerus und Adels errun¬
gen, hatten auf dem Landtage von 1848 die ihnen gebührende größere An¬
zahl Stimmen erhalten. Waren auch die alten Stände für alle Verständigen
längst ein Gegenstand des Spottes geworden, so sehnte man sich doch nach
einem Organe, um die Wünsche einer hartgeprüftcn und dennoch treu ergebe-,
nen Bevölkerung vor die Stufen des Thrones zu bringen. Herr von Bach
hielt es jedoch für bequemer, in lautloser Stille zu regieren; um über die Be¬
dürfnisse der Provinzen ins Klare zu kommen, genügten ja die offiziellen Be¬
richte aus den Kanzleien. Als die Siege Napoleons des Dritten Oestreich
von Grünne und Bach befreit hatten, wollte man den Provinzen wieder
Statute geben. Die Statthaltern berief in Tirol Männer ihres Vertrauens
und nicht des Volkes, welche über die Sache berathen sollten. Was sie zu
Stande brachten, genügte wol den Ansprüchen von Klerus und Adel, was je'
doch Herr Geheimrath Goluchowski. diese verunglückte zweite Auflage von
Bach, als Landesstatut veröffentlichte, rief nur einen Schrei des Unwillens
durch ganz Tirol hervor, einen so lauten Schrei, daß man ihn nach einer be¬
liebten Phrase hoher Herren nicht mehr als das Geschwätz einiger Idealisten
und Kaffeehauspvlitiker erklären konnte.
Und wie stand es während dieser Epoche mit der persönlichen Sicherheit?
Bisher hallten die Gerichtsdiener. meist ortskundige, geachtete Männer, aus-
gereicht, die Ordnung aufrecht zu erhalten, und sie wurden dabei gern von
der Bevölkerung unterstützt. Da schuf man das Corps der Gensdarmen, diese
blinde Vorsehung einer verblendeten Negierung. Mit glänzenden Pickelhauben,
geflochtenen Fangschnüren und weißen Handschuhen geschmückt, patroullirten sie
Paar um Paar zu bestimmten Stunden auf der Straße, belästigten harmlose
Reisende, so daß diese nicht hundert Schritte ohne Paß hinter dem Wagen
zurückbleiben konnten, wenn sie nicht arretirt werden wollten, wie dies so¬
gar einem Bezirksrichter auf dem Brenner widerfuhr, und sorgten auf den Dör¬
fern für den Nachwuchs der Jugend, während Diebe und Vagabunden ihnen
aus dem Weg gingen und die Seitenthäler aufsuchten. Wie einer ihrer Offi¬
ziere mit Selbstgefühl versicherte, war auch eigentlich die niedere Polizei für
sie nur Nebensache, ihre Aufgabe lag höher, sie sollten spioniren, ob niemand
etwas gegen die Negierung und die Dynastie äußere und dabei eine geheime
Controlle über die Beamten üben, welche ihrer Denunciation schutzlos preis¬
gegeben waren und sich daher vor jedem Wachtmeister bücken mußten. Selbst
Kellnerinnen forderten sie auf, ihnen über die Gespräche ihrer Gäste Mittheilung
zu machen. Man kann sich leicht denken, mit welchen Augen unsere fleißigen, viel'
geplagten Bauern diese Müßiggänger, für deren Verpflegung sie zu sorgen
hatten, betrachteten. Dazu kommt noch der schöne Paragraph 63 über Maje-
stätsbeleidigung, welchen mau überdies durch geheime Jnstructionen an die
Landesgerichtsräthe verschärft hatte, und dessen Handhabung ehrgeizige Be¬
amte benützten, um sich nach oben beliebt zu machen. Wie man verfuhr,
wöge ein Beispiel zeigen. Ein Herr trank in einem Wirthshause einen Schop¬
pen Wein. Da er kein Kleingeld hatte, sagte die Kellnerin: „Zahlen Sie ein
anderes Mal, hat ja der Kaiser auch Schulden!" Sie wurde denuncirt und
wegen Majestätsbeleidigung eingesperrt. Um den Verkehr noch unsicherer zu
wachen, wurde nebst den Gensdarmen ein Schwarm geheimer Denuncianten
aus «Um Ständen bezahlt, welche ihr Brot auch uicht umsonst essen wollte»
und alle geselligen Beziehungen vergifteten. Dem Briefgeheimnis; wollte nie¬
wand mehr vertrauen. Man versäumte lieber Wochen und Monate, um eine
sichere Gelegenheit zu erwarten, wenn man Mittheilungen irgend einer Art ma¬
chen wollte, von denen mau nicht wünschte, daß jemand anderes als der
Adressat sie sehe. Oh die politische Corruption wirklich so groß war, thut nichts
Zur Sache, genug, daß man dieselbe für so groß hielt. War die Freiheit des
wündtichcn. schriftlichen Wortes auf diese Weise unterbunden, so ha-ete man
die Presse vollständig gefesselt, so daß sie. gleichviel ob offiziell oder nicht.
Zur Lüge verurtheilt war. Nicht einmal schweigen durfte sie, wenn sie wollte;
Wem schrieb ihr vor, wie sie die Fragen des Tages aufzufassen habe. Aus-
wärtige Journale wurden confiscire und auf ihre Mitarbeiter im Inlande
geahndet. So wurde ein Advocat in Botzen wegen einiger mißliebiger
Artikel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung — selbst diese war nicht östrei¬
chisch genug! — amtlich befragt, und so schickte die Statthalterei zu Innsbruck
sogar einen Beamten in das Ausland, welcher sich bei gewissen Redactionen
erkundigen sollte, wer diesen oder jenen Aufsatz eingesendet habe.
Schließlich wurde man durch das Concordat überrascht. Als ob es nicht
genug wär«.-, daß die gegenwärtige Generation durch den Druck entmannt und
verdorben würde, sollte auch noch die Jugend in der Schule dem Klerus zu
völliger Knechtung ausgeliefert und die friedlichen Verhältnisse der Familie,
der einzige Hort, welcher manchem wackern Manne noch geblieben war, durch
die Herrschsucht bigotter Priester verwirrt werden. Nicht einmal im ultramon¬
tanen Tirol hatte man von diesem Staatsact einen Gewinn. Die Gebildeten
nahmen ihn mit verbissener Entrüstung auf, dem gemeinen Volke, welches längst
dazu dressirt war, das Joch der Geistlichkeit als heilig zu tragen, war er gleich-
giltig. Zunächst wurde nun der Lehrerstand der niedern und höhern Schulen
in eine noch tiefere Abhängigkeit von Pfarrer und Bischof gestoßen und was das
heißen wollte, mögen einige Beispiele zeigen. Zu Feldkirch predigte ein Jesuit
vor den Schülern des Obergymnasiums: „Humboldt habe den Herrgott nir¬
gends angetroffen, so wenig ihn die milchgebender Thiere antreffen, welche
auch Kräuter sammeln und recht gut botanisiren. Der Unterschied zwischen
ihm und einer Kuh bestehe zuletzt nur darin, daß diese den Menschen durch
ihre Milch nütze, jener sie durch seine Bücher verderbt." — An einem Ordens¬
gymnasium in Südtirol gab der Professor folgende Einleitung zu Göthes
Iphigenie: „Eigentlich weiß ich gar nicht, was die Leute Schönes daran fin¬
den; die ganze Geschichte läuft halt am Ende darauf hinaus, daß der Thoas
die Iphigenie gern gehabt hätte und sie wollte ihn nicht. Ist denn das etwas
so Schönes?" An einem dritten Gymnasium wurde den Schülern bedeutet:
„Göthe und Schiller sind eigentlich mittelmäßige Köpfe; denn der heilige Geist
hat sie nicht erleuchtet." Die Tendenz der klerikalen Partei ist leicht aus
den Worten des Kardinals Rauscher, welche er einem Staatsmann sagte, zu
entnehmen: „Die Sünde der Zeit ist, daß man zu viel lernt!" Welches wird
nun das Resultat einer Erziehung auf solcher Grundlage sei»? Ein freier männ¬
licher Sinn und ächte Religiosität gewiß nicht, sondern Kriecherei und Heuche¬
lei wie überall, wo sich Hierarchie und Polizei verbinden. Besonders ,geni
rühmt man sich der Universitäten und ihrer neuen Einrichtung durch zahlreiche
Berufungen. Nur Schade, daß die von den Berufenen, deren Name jeder An¬
stalt zur Zierde gereicht hätte, bereits wieder den Abschied nahmen. W"s
zmückblieb, sind großentheils Leute, welche ihre Lehrkanzel nur der Protection
verdanken. An der Hochschule zu Innsbruck haben nur Ficker und Hlasiwecz
einen Namen, die anderen müssen sich ihre Sporen erst noch verdienen. Ode>
genügt es, wenn Herr Zingerle ein paar Bände Tirolcrsagen drucken läßt? Wenn
ein Wildauer eine Schulaufgabe von Platons Phädros veranstaltet? Nebst diesen
Berufungen meist unbekannter Größen wurde die Tiroler Landesuniversität auch
noch durch eine theologische Fncultät bereichert, welche niemand verlangt hatte,
während der allgemeine Wunsch auf Vervollständigung der medicinischen Schule
lautete. Man übergab die Theologie den Jesuiten und ernannte für ihre Zuhörer
sogar einen eignen Professor der Philosophie, Wir wären begierig zu wissen,
wie sich diese Gelehrten zu den Resultaten neuester Forschung verhalten, ob
es für sie einen Strauß und einen Baur gibt, allein ihre Vortrage verhallen
vor den Schulbänken, wo man sie allein kennt. Half denn, so wird man viel¬
leicht fragen, diesen vielfältigen Uebelstünden nicht euer Statthalter, der Bruder
des Kaisers, ab? Er wurde bei seinem Einzuge in das Land mit aufrichtigem
Jubel begrüßt, bald jedoch zeigte es sich, daß er gegen den Centralisation^
Mechanismus Bachs nicht durchzuringen vermöge, und das Einzige von Be¬
lang war die Herabsetzung der Procentnalgcbühren, die er beim Kaiser aus¬
wirkte, weil der Druck zu hart und der Unwillen der Landbevölkerung zu groß
war. Die Hoffnungen erloschen, die Menschen, mit denen er umgeben war.
machten ihn nicht populär, obwol der Klerus, dem er manche schöne Spende
zukommen ließ, seinen frommen Sinn pries und die Armen, welche er unter¬
stützte, ihn dankbar segneten. Er zeigte sich zwar gegen jeden, der sich näherte,
leutselig und gütig, doch wäre sehr zu wünschen gewesen, wenn er wie Max
und Ferdinand, deren Andenken das Land in schönen Sagen feiert, mit dem
Volke verkehrt hätte, dessen rauhe, aber biedere Gesinnung gewiß mehr Beach¬
tung verdient, als die etiquettenmäßigen Phrasen der Hofschranzen. So geschah
es, daß der Erzherzog bei Berufung der Vertrauensmänner, die das Landes¬
statut zu entwerfen hatten, sehr übel berathen wurde. Graf Brandes, der
Bischof von Brixen und Doktor von Peer, welcher vergaß, daß er die Inter¬
nen der Bürger zu vertreten hatte, erzeugten ein pfäffisch-adeliches wcmstrum
Korrenäuin, welches dem Klerus und dem Adel gleiche Stimmen mit
den Bürgern und Bauern einräumte und dadurch ein sehr disharmonisches
Quartett zusammenstellte. Der Klerus sollte befriedigt sein dnrch das Con-
cordat. Der Adel ist in Tirol in Bezug aus Intelligenz und Besitz so ziemlich zur
Rolle des Marquis Carabas herabgesunken. Die ruhmvolle Geschichte des
Landes schufen Bauern und Bürger, auf deren Schultern ausschließlich die
schwerste Last der Leistungen um den Staat ruht. Von vielen Seiten wurde
"um der Statthalter als Miturheber dieses Landcsstatutcs betrachtet und ge¬
wann dadurch nicht an Popularität. Außer daß er einen Preis für die Be¬
arbeitung einer geschichtlichen Frage aussetzte und dein Ferdinandeum zu Inns¬
bruck einige Geschenke, darunter die werthvolle Büste des Papstes, widmete,
'se nichts bekannt, was er für Kunst und Wissenschaft im Lande gethan hätte.
Die Anekdoten, welche man in dieser Beziehung von seinen Hofleuten hört,
wollen wir nickt nacherzählen, Die Hand, welche das vorstehende Bild tiro¬
ler Zustände zeichnete, war nicht vom Hasse gegen Oestreich und seine Dynastie,
sondern von der Liebe zur Wahrheit geleitet. Der Leser jedoch wird es be¬
greiflich finden, wenn die Bevölkerung diese Wirthschaft bis an den Hals satt
hatte, wenn man im Unterinnthale den Wunsch eines Anschlusses an Baiern
horte, wenn im Binschgau ein Bauer dem Statthalter grade heraussagte:
„Wir möchten schweizerisch werden!"
So traf uns das Jahr 1859. Mit der Negierung sympathisierten Wenige,
die große Masse war gleichgiltig, die Verständigen fürchteten von einem Siege
in Italien den Untergang in den Sümpfen der Reaction und die Steigerung
des ohnehin schon sehr unbequemen Uebermuthes der Herrn Offiziere, welche
sogar Magistratsräthe auf der Straße ohrfeigte», ohne daß diesen eine erkleckliche
Genugthuung wurde. Im Allgemeinen erwartete man einen ruhmvollen Feld¬
zug. Die Armee war ja bisher das Schoßkind des Hauses gewesen, auf dessen
Förderung man Millionen verwendet und den öffentlichen Wohlstand er¬
schöpft hatte, sollte sie jetzt, wo es zum Ernst kam, versagen, nachdem sie auf
der schmolz zu Wie» so prächtig exerzirt hatte? Freilich wer schärfer hinsah,
wurde etwas bedenklich. Zwar der gemeine Soldat hat sich wie in allen
Kriegen Oestreichs trefflich geschlagen, aber die Führung! Die Carricntur, welche
die Soldaten mit Löwenköpfen, die Generale mit dem Haupte des Thieres,
welches einst widerrechtlich das Löwenfell anzog, darstellte, hat den Sachver¬
halt nur zu richtig bezeichnet. Hochmuth kommt vor dem Fall! Ich hörte zu
Bolzen öffentlich im Kaffeehaus einen Offizier ausrufen: „Diese elenden Fran¬
zosen! wir werden sie wie mit einem Schwämme wegwischen und in vierzehn
Tagen über die Alpen zurückjagen!" Wie die Grandseigneurs in den Krieg
gingen, zeigte ein Feldmarschalllieutenant am Gcirdasee, welcher sich von einem
Schützenossizier die betreffenden Blätter der Generalstabskarte borgte. Dazu
die Rohheit, mit der man den gemeinen Mann mißhandelte, und welche i»
Tirol solche Entrüstung erregte, daß die Bauern bald zu Thätlichkeiten gegen
die Herren vom Portepee geschritten wären.
Das arme Ländchen wurde von den Kriegsereignissen in Italien sehr
empfindlich berührt. Zuerst die endlosen Truppendurchmärsche, welche die Dör¬
fer an der Straße fast aufzehrten, dann die Schaaren Verwundeter, die i»
einer Weise vernachlässigt waren, welche in der neuesten Kriegsgeschichte nur in
Nußland eine Parallele hat, und das öffentliche Mitleid oft über die Kräfte der
Einzelnen in Anspruch nahmen. Haben sich die Männer Tirols häusig genug
Ruhm erfochten, so gehört die Ehre dieses Jahres den Frauen. Auch die Schütze»
wurden zur Vertheidigung der Grenze aufgeboten; in die Compagnien ließen
sich aber fast nur solche einreihen, welchen der hohe Sold einen angenehmen
Müßiggang versprach. Die Bauern äußerten-, man werde doch keinen Dank
haben, und dringe der Feind ein, so könne ihn wie in der guten alten Zeit
der Landsturm wieder hinauswerfen. Von all diesen Compagnien kam keine
einzige in das Feuer; jede andere Angabe, die von einer thatsächlichen Mit¬
wirkung bei Gefechten spricht, ist aus der Lust gegriffen. Man nahm jedoch
ein Resultat mit nach Hause: daß der altväterliche Stutzen für den neuen Krieg,
wo man mit Spitzkugeln schießt, nicht mehr ausreiche und eine ganz an¬
dere taktische Ausbildung nöthig sei, wenn man den Zuaven und Gari-
baldini mit Erfolg begegnen wolle. Leider ging auch das Vertrauen
in die militärische Führung völlig verloren. Sehr aufgebracht waren
die Bauern des Vinschgnu über den Grafen Huyn, welcher seine Auf¬
stellung in der Tiefe des Thales nehmen wollte, das nach der Ansicht
der Schützen nur durch die Besetzung des Joches zu vertheidigen ist.
Es kam hier zu ernsthaften Reibungen, welche die nothwendige, gegenseitige
Eintracht störten und erst später ausgeglichen wurden. Graf Huyn, früher
im Generalstabe Radetzkys, mag ein ganz vorzüglicher Stratege sein,
bei der Landesvertheidigung dürste er in Zukunft einen schweren Stand haben.
Mitten in diese Ereignisse siel der Friedensschluß von Villafranca, der nie¬
mand mit Freude erfüllte. Die Schützen kehrten heim, und um das Werk
zu krönen, wurde an jeden Adeligen, der mit ausgezogen war, ein eigenes
Belobungsdecrct erlasse», während die Bürgerlichen leer ausgingen, als ob
nur das blaue Blut vor dem Feind einen Werth hätte. Am meisten waren
darüber die Schützen der akademischen Compagnie, welche voll Begeisterung
für Deutschlands Ehre unter einer Fahne, die schwarz-roth-goldene Bänder
lchmückten, ins Feld gezogen waren, entrüstet. Als sie im nächsten Jahre den
Tag ihres Ausmarsches feiern wollten, wurde ihnen bedeutet, daß die schwarz-
wtl). goldenen Bänder von der Fahne zu entfernen seien. So war man im
Kleinen und im Großen bemüht, Mißstimmung hervorzurufen und klagte dann,
wenn man ihre Stimme vernahm, über Undank. Eine Aeußerung Steins
paßt völlig auf unsere Zustände: „Eine unruhige tyrannische mißtrauische Polizei
überwacht die öffentliche Meinung. Literatur, Briefwechsel und Lehrstühle.
Alles ist ihr unterworfen, das gesellige Zutrauen, alle Bande der Freund¬
schaft werden zerrissen und erschwert." Dazu die Herrschaft des Klerus durch
das Concordat, der Steuerdruck, die öffentliche Verarmung durch das Agio!
So überraschte uns der 20. October. mit welchem eine neue Periode beginnt,
wo der Bürger wieder ausathmen und hoffen darf, wo Schmerling das von
Bach und Goluchowski heruntergebrachte Erbe übernimmt. Wird es ihm
gelingen, diese verworrene Welt, welche man fast systematisch dem Untergange
kutgegenführte, wieder einzurenken? Versprechen und Programme reichen nicht
aus. wenn nicht thatsächlich ihre letzten Consequenzen gezogen werden. Doch
wurde schon seine Berufung als der erste aufrichtige Schritt zum Eonsti-
tutionalismus begrüßt, sein Rundschreiben zu Innsbruck, Hall und Botzen,
wo die Freude leider durch plumpes Zutappen eines Magistratsrathes gestört
wurde, durch freiwillige Beleuchtung und Fakelzügc gefeiert. Seit langer Zeit
war kein Fest so froh begangen, seit Langen, dem Kaiser kein so aufrichtiges
Hoch gebracht worden, wie diesesmal. Der Jubel war der Ausdruck der Zu¬
stimmung zu den Grundsätzen, welche Schmerling in dem Rundschreiben nieder¬
gelegt; man erwartet von seiner Ehrenhaftigkeit, daß er sich durch Camarilla
und Klerus kein Haarbreit davon abdrängen lasse. Sein Wiedereintritt in
das Amt bezeichnete für Tirol zugleich den Augenblick eines wieder erwachen¬
den politischen Lebens. Dieses gab sich zunächst bei der Bewegung, welche
die Neuwahlen des Gemeindeausschusses hervorriefen, kund. Es thut noth,
hier die Parteien, welche auf die Zukunft des Landes Einfluß zu gewinnen
trachten, kurz zu charakterisiren. Am mächtigsten, wenn auch nicht am zahl¬
reichsten, weil sich Viele nur des Vortheiles wegen zum Schein anhängten,
waren bisher die Ultramontanen. Ihre Tendenzen brauchen wir nicht näher
auseinander zu setzen: Der Staat und das Individuum sollen nur hierarchischen
Zwecken, die oft sehr weltlicher Natur sind, dienen; ständische Privilegien
und Ausschließung Andersgläubiger sind ihre Parole. In Südtirol ist ihr
rührigster Klopffechter ein gewisser Dipauli, welcher die Welt von Zeit zu
Zeit durch ergötzliche Broschüren belehrt. In Nordtirol reihte sie sich um den
aus Baiern importirten Baron Moi, einen Gesinnungsgenossen Abels. Sein
Organ ist das Innsbrucker Tageblatt, welches nach Form und Inhalt
dem Wiener „Volksfreunde" und „Vaterlande" an die Seite tritt. Jetzt
hat ihn seine Partei verlassen; er duftete ihr zu sehr von Parfüm des
Salons und war auch nicht ohne Bildung; an seine Stelle trat der Pfarrer
von Se. Nikolaus, der mit seinem Fanatismus wie mit einer Stange in
den Nebel führt, und dessen Reden den spezifischen Kirchengeruch ver¬
breiten, welcher unsere Klerikalen so entzückt. Die zweite Partei zählt
viele sehr ehrenwerthe Männer, die entweder in ihrem politischen Denken
das letzte Wort noch nicht gefunden haben, oder es nicht auszusprechen
wagen, weil es ihnen zu früh scheint. An diese schließt sich wie bei jeder
Partei, welche über einigen Einfluß verfügt, noch eine Menge Leute der ver¬
schiedensten Art, welche weder Fisch noch Fleisch sind, in neuester Zeit be¬
sonders aus dem Beamtenstande. Im Ganzen genommen steht sie den
Ultramontanen viel naher, als den Liberalen. Sie hält noch am ständischen
Principe fest und wäre zufrieden, wenn Bürger und Bauern auf dem Land¬
tage eine größere Stimmenzahl erhielten. Als ihr Organ kann die „Schützen'
zeitung" gelten, ein Blatt, welches seine günstige Aufnahme zunächst den
„Tirolischen Gedanken" von Johannes Schuler verdankt, der jedoch vor zwei
Jahren starb. Jetzt verhält sich dieses Blatt bei den wichtigsten Landes-
angelcgcnhciten stumm, um es mit keiner Partei zu verderben. Als Haupt
der Partei gilt Herr von Klebelsberg, ein achtungswürdiger Charakter; ihm
drängt Tobias Wildauer nach, welcher, nicht gewitzigt durch sein schlechtes
Debüt vor der Philologenversammlung, sich zu einer öffentlichen Rolle berufen
zu halten scheint. Die liberale Partei besitzt bis jetzt kein Organ. Da jede
ernste Opposition verboten war, wäre es unmöglich gewesen, ein solches zu
gründen. Erst der Eintritt Schmerlings machte ihr Lust. Man kann bei
den Männern, welche sich bisher zu ihr bekannten, volle Aufrichtigkeit der
Gesinnung voraussetzen. Jetzt wo das Eis gebrochen ist, zeigt sich, daß die
Zahl der Anhänger freisinniger Ideen, namentlich unter den gebildeten jüngeren
Bürgern, nichts weniger als klein ist. In Südtirol trägt der unermüdliche
Doctor Streiter ihr Panier, in Nordtirol zählt sie Namen von Männern,
deren geistiges Streben auch außerhalb der Marken des Landes nicht unbe¬
achtet blieb. Der liberalen Partei gehört hier wie in ganz Oestreich die
Zukunft, und will dieses überhaupt noch eine Zukunft haben, so ist es nur
möglich auf Grundlage liberaler Ideen. In Bezug auf die Angelegenheiten
der Provinz ist das Programm dieser Partei in einem Aufsatze des bekannten
Geschichtsforschers Albert Jäger ausgesprochen, der jede Vertretung nach Stän¬
den zurückweisend nur eine solche nach Interessen für angemessen erklärt.
Sie fordert Gleichberechtigung der Konfessionen und. Toleranz gegen Akatho-
liken, Freiheit der Presse und der Rede und Hebung der Schulen, sie will,
daß der Einfluß des Klerus sich auf das geistliche Gebiet beschränke. Mau
kann sie mit einem Worte als die constitutionelle bezeichnen. ' Vergebens
donnert die Geistlichkeit gegen sie: die Zeiten haben sich geändert. Sie hat
bei den Wahlen des Gemeindeausschusses zu Innsbruck trotz aller Bemühungen
der Ultramontanen einen entscheidenden Sieg davongetragen, indem sie von
36 Candidatey 21 durchsetzte. Dieser Sieg in der Landeshauptstadt ist von
Bedeutung für die ganze Provinz, er ist der Beginn eines Umschwunges der
Dinge, welchen in Tirol niemand erwartet hatte. Mag das Landvolk noch
vielfach zu der Priesterpartei halten, die Tage sind nicht fern, wo es nach¬
sagen wird.
Bei der Eröffnung des neuen Parlaments in Turin hat der preußische
Gesandte gewissermaßen die Ehren der Sitzung gehabt, und der Beifall, den
er davon getragen, wird der preußischen Negierung doch nicht ganz unbequem
sein. Wir stimmen in diesen Beifall auf das Lebhafteste ein. Das Verhalten
Preußens war in diesem Fall so, wie es der Freund des Vaterlandes mir
wünschen konnte. Nur einen Wunsch können wir nicht unterdrücken. Um ihre
Unparteilichkeit zu wahren, pflegt die preußische Regierung, wenn sie ein Zu-
geständniß nach links gemacht, auf ein entsprechendes nach rechts zu sinnen;
möchte sie sich doch diesmal dieser ängstlichen Allseitigfeit entschlagen! Graf
Perporcher geht nach Rom, wahrscheinlich um dem Souverain in xeu'lions,
bei welchem er beglaubigt ist und der gegenwärtig in Rom residirt, seine Hul¬
digungen darzubringen. An sich ist dagegen nichts einzuwenden; nur hat dieser
Souverain. wie wir hören, in den Abruzzen einige lebhafte Parteigänger, mit
denen er vielleicht zu correspondiren wünscht; Graf Perporcher hat die un¬
glückliche Neigung, diese Correspondenz zu vermitteln. Die Geschichte mit der
Loreley mag nun in Frieden ruhn: sie war sehr ernsthaft, als die preußische
Zeitung erklärte, Graf Perporcher habe vollkommen correct gehandelt; der Ernst
hat aber aufgehört, sobald der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, der
es doch besser wissen muß als die preußische Zeitung, das'Ganze als ein Miß'
Verständniß bezeichnet, an dem nur die schlechte Telegraphenleitung schuld sei-
Aber nun kein zweites Mißverständniß mehr! Das eine genügt vollkommen,
und diesmal könnte die Sache bedenklicher werden. Denn der Commandant
von Messina war doch etwas Anderes als die Fru-Diavolos der Abruzzen,
und Gaeta war noch immer ein bequemerer Ort der Correspondenz als Rom.
Also einige Aufmerksamkeit auf die Telegraphen, ihr Herrn in Berlin! wenn
wir bitten dürfen.
Noch einmal, wir freuen uns, daß die preußische Regierung begriffen hat,
die Eröffnung des italienischen Parlaments sei ein welthistorischer Act. Viel'
leicht wird die Nachwelt sagen, einer der wichtigsten in der Geschichte.
Wir verkennen die großen Schwierigkeiten nicht, die sich noch immer der
Vollendung des unternommenen Werks in den Weg stellen. Noch immer fehlt
das Centrum des neuen Baus, so lange Rom in den Händen der Gegner ist,
und wie es ihnen entzogen werden soll, ist noch nicht recht zu begreifen. Noch
immer lastet der Alp des französischen Schutzes auf Italien; noch immer muß
es fürchten, diesen Schuh zu theuer zu erkaufen. Es ist möglich, daß die bis¬
her bewiesene Einigfeit deS Volks sich löst, es ist möglich, daß Italien durch
einen auswärtigen Krieg unterworfen wird. Wie aber auch die Zukunft sich
gestalten möge, die Gegenwart steht fest. Der Gedanke eines einheitlichen Ita¬
liens ist fortan kein leeres Luftgebilde mehr, er hat Fleisch und Blut gewon¬
nen und ist uicht mehr zu tödten. Sollte wider alle Wahrscheinlichkeit auch
diesmal die Bewegung noch hart am Ziele scheitern, so hat sie fortan ein
festes Ziel und kann in ihrer Richtung nicht mehr irren.
Und daß es so gekommen ist, darüber sprechen wir eine herzliche Freude
aus. Es ist nicht unnöthig, daß die deutsche Presse und die öffentliche Mei¬
nung überhaupt sich über ihr Gefühl klar wird, das bis dusin durch ver¬
schiedenartige Reflexionen auseinander gezogen wurde.
Wir freuen uns einmal über die italienischen Erfolge ganz unbefangen,
objectiv, mit einem interesselosen Wohlgefallen, das nur dem Gegenstande
gilt. Für die bisherige Einrichtung der italienischen Staaten hatte wol Nie¬
mand ein warmes Mitgefühl; aber allgemein war das Vorurtheil, daß die
Italiener ihr Schicksal verdienten, daß sie ein besseres nicht tragen würden.
Dies Vorurtheil haben sie glänzend widerlegt; sie haben gezeigt, daß sie noch
immer wie in früherer Zeit unter die culturhistorischen Völker Europas
Zählen.
Sie haben gezeigt — was bei aufstrebenden Nationen nothwendig ist —
daß sie den Krieg verstehen. Solferino, Ancona und Gaeta waren vortreffliche
Probestücke. Die Verzögerung der Einnahme von Gaeta hatte manche be¬
denkliche Seite, aber es war auch von der größten Wichtigkeit, daß es den
Italienern nicht zu leicht gemacht wurde. Nicht der unbedeutendste Grund da¬
für, daß 1848 die Bewegung in Deutschland scheiterte, war der, daß ihr An¬
fang zu leicht aussah. Es mag sein, daß die militärische Aufgabe von Solferino,
Ancona und Gaeta nicht allzuschwierig war; geung, Armee und Flotte,
Führer und Soldaten haben ihre Aufgabe gelöst und vollkommen ihre Schul¬
digkeit gethan, Persano und Cialdini habe» z. B. einen sehr entschiedenen
Blick für das Wesentliche gezeigt, sie haben immer rasch erkannt, woraus es
ankam. Könnten wir das von allen unsern Generalen voraussetzen, wir
würden der Zukunft viel ruhiger ins Auge sehen.
Bemerkenswerth ist ferner die Mäßigung des Volks bei dieser großen
Revolution. Ein Bürgerkrieg ist immer ein arges Ding, und man bedeute
den Grimm, der sich namentlich seit einem Menschenalter aufgesammelt haben
wußte! Die Geschichte kennt wenig so unblutige Umwälzungen, und vielleicht
schönste Lorbeer, der Garibaldi schmückt ist, die Menschlichkeit, die er
^'gen'seine Feinde gezeigt hat. Und was für Feinde!
Das italienische Volk hat in seiner Masse eine Verbindung von Energie
lind Mäßigung gezeigt, wie vielleicht noch kein anderes Volk der Geschichte.
Allgemein war die Ueberzeugung, der Localgeist werde die Vaterlandsliebe
unterdrücken; Mailand, Florenz, Neapel, jedes werde den Anspruch darauf
macheu, der Mittelpunkt Italiens zu sein; die Republikaner würden sich aus
die Monarchisten werfen, eine Hand würde sich gegen die andere heben. Die
Thatsachen sprechen: der Reichstag ist versammelt und jede Partei wetteifert
uut der andern, ihre Sondcrgcfühle dem Gedanken der Einheit unterzuordnen.
Die Ereignisse waren wahrlich nicht der Art. daß das Blut unter dem Ge¬
frierpunkt stehen konnte; und daß inmitten einer solchen Aufregung ein conser-
vativcs Parlament zu Stande kam, ein Parlament, welches den besonnenen
und müßigen Worten des Königs zujauchzt, das ist ein unabweisbares Zeug'
riß für die Fähigkeit Italiens, einen Staat zu bilden. — Wir sind nicht
etwa so unpatriotisch, uns gegen die Italiener herab zu sehen: — aber wenn
wir an die Paulskirche zurückdenken, so finden wir keinen Grad übermüthig
zu sein! und ob für eine neue Paulskirche die Zeiten viel günstiger sein wür¬
den, das bleibt, wenn man sich das Publicum ansieht, noch heute zweifelhaft.
Jedes Volk ohne Ausnahme besteht aus einer Mischung von Guten und
Schlechte«, von Edlen und von Lumpen. Es ist möglich, ja wahrscheinlich
und sehr begreiflich, daß Italien, besonders Süditalien von Lumpen einen
größern Vorrat!) auszuweisen hat als irgend eine andere Natron. Aber den
Geist und die Kraft einer Nation berechnet man nicht so, daß man die ein¬
zelnen Individuell mißt und den mittleren Durchschnitt zieht, sondern man
erkennt den Geist der Nation aus ihren wirklichen Führern. Die typischen
Figuren Italiens sind heute Victor Emanuel, Garibaldi, Cavour und
Mazzini.
Ueber die Entschlossenheit, wilde Energie und rücksichtslose Thatkraft des
Königs ist es nicht nöthig, ein Wort zu verlieren. Die Zuavcn haben bei
Mngenta und Svlseriuo ein Urtheil gesprochen, das in seinem Ausdruck M'
lächerlich klingt, aber doch sehr zur Sache gehört. Alle Achtung vor dem Pa¬
triotismus der Italiener: aber ohne diesen „Zuavcn-Corporal" wäre aus der
Sache nichts geworden. Mit diesem kühnen Mull> des Soldaten verbindet
aber Victor Emanuel eine Eigenschaft, die sich sehr selten in dieser Mi-
schung findet: die Fähigkeit, seinen Willen seiner eigenen Einsicht und der
Einsicht Anderer unterzuordnen. Wir vermuthen bei ihm keine herzliche
Zuneigung zu dem gewiegten Diplomaten Cavour, kein erhebliches Interesse
für langweilige Kammerverhandlungen; und doch läßt er Cavour die Leitung,
und doch bindet er sich streng an die Gesetze der parlamentarischen Verfaljung-
Den einen Hauptpunkt vor Augen, läßt er sich durch leinen Nebengedanke»
irren. So werden in der Geschichte die großen Dinge ausgeführt.
Garibaldi hat gewiß sehr viel Phantastisches: wenn der König »ut
dem festen Blick eines Soldaten auf sein Ziel losgeht, so eilt ihm Garibaldi
mit dem dunklen Instinkt eines Nachtwandlers entgegen. Er hat keinen Sinn
für die Umstände; seine Ideen sind ihm die einzige Wirklichkeit. In der
Sicherheit dieses nachtwandlerischen Wesens mag er manche Irrthümer be¬
gangen, manchen verständigen Plan durchkreuzt haben. Und doch — wer
nicht begreift, durch welchen Zauber dieser Manu die Gemüther beherrscht,
wer nicht etwas von der Wirkung dieses Zaubers in sich selber fühlt — der
werfe seinen Plutarch und seinen Thucydides weg, denn Alles, was er in der
Schule von den Griechen und Römern gelernt, ist für ihn eitler Gedächt¬
nißkram gewesen!
Cavour besitzt diesen Reiz für romantische Gemüther keineswegs; er ist
der echte Italiener aus der alten Schule Machiavelli's. Man pflegt Talleyrand
einen großen Diplomaten zu nennen; und er war es für seine Person d. h.
er wußte sich das Ansehn zu verschaffen, der klügste Mann Europas zu sein,
der Mann, den man am theuersten bezahlen müsse. Was er sonst in der
Geschichte durchgesetzt, läßt sich ans eine Nagelspitze schreiben. Hier dagegen
sehen wir einen Diplomaten, der mit den kleinsten Mitteln von der Welt die
ungeheuersten Dinge durchsetzt und der ohne Hinterhalt die umfassenden Kräfte
seines Verstandes einer großen Sache widmet. Er ist nicht nur Diplomat,
er füllt alle Zweige der Regierung aus; er leitet nach der Reihe ,die aus<
waldigen Angelegenheiten, die innere Verwaltung, die Finanzen, den Handel,
den Ackerbau; er ist Alles in Allem. Und seine Seele kennt nur den einen
Gedanken, den er seit Jahren mit einer Energie und Ausdauer ohne Gleichen
verfolgt.
Jeder dieser drei Männer ist an sich ein Phänomen: daß sie sich aber in
einer Zeit und in eiuer Sache zusammenfinden und auf diese wunderbare
Art einander ergänzen, ist wahrhaft providentiell. Der Mißklang zwischen
Garibaldi und Cavour mag noch so 'groß sein, sie haben beide gezeigt, daß
ihr Patriotismus groß genug ist, persönliche Abneigung zu überwinden.
Alle drei sind echte Italiener: ja alle drei sind Type» des italienischen
Charakters, wie er sich in jedem Jahrhundert wiederfindet. In wil¬
deren Zeiten hätten sie sich vielleicht zu unschönen Erscheinungen gestaltet:
sie stehen aber alle drei unter dem Einfluß unserer Culturbildung, und sie
werden wahrlich der Nachwelt kein schlechtes Bild von derselben überlie¬
fern. — Ja auch Mazzini, den alten eingefleischter Verschwörer, möchten
wir in diese Reihe rechnen. Denn auch von ihm ist es keine Kleinig¬
keit, daß er jetzt keinen Unfug anrichtet; daß er es jetzt, wo die Träume
seines Lebens die Träume^ für die er zwanzig oder dreißig Jahre hin¬
durch bei Tag und Nacht gehungert hat. sich der Verwirklichung nähern, sich
völlig bei Seite schieben läßt. Wir halten seinen Republikanismus. wir halten
seine Idee, einen Staat von unten aus aufzubaue», für eine Chimäre; wir
glauben, daß er im Ganzen mehr Böses als Gutes gestiftet hat; wir stellen
uns, sehr wol die Möglichkeit vor, daß er einmal in einem Lustspiel als ko¬
mische Figur anstritt! — aber daß Männer mit dieser zähen Energie aus
Italien hervorgegangen sind, ist wiederum ein nicht unbedeutender Beleg für
die Fähigkeit Italiens, eine Rolle in der Geschichte zu spielen.
Aber wo bleibt die Moral? — Die deutsche Tugend hat in den letzte»
Jahren finster über diesen Machiavellismus den Kopf geschüttelt. — Erstens
ist es an sich schon sehr unmoralisch, fremden Leuten das Ihrige zu nehmen;
und dann, welche Mittel! Erst verspricht man, den Franzosen nichts zu
geben; dann gibt man ihnen Nizza und Savoyen! Wie der Wolf in
der Fabel zeigt man dem Papst an, daß er dnrch seine Söldner das
Wasser trübe, und ohne eine Antwort abzuwarten, fällt man über ihn
her! Man unterhandelt mit dem König von Neapel über ein Bündniß,
und unterstützt heimlich den Garibaldi! Ja zuletzt überzieht man das
Reich Neapel ohne Kriegserklärung mit einer Armee und treibt den unglück¬
lichen König zur Flucht!
In der That, das Alles ist nicht fein. — Die Tugcndprediger freilich
sollten ihr eignes Gepäck untersuchen. Daß am Ende des vorigen Jahrhun¬
derts deutsche Fürsten ihre Landeskinder nach Amerika verkauften, war wol
moralisch und „correct". sie gehörten ihnen'ja. Die Unterhandlungen der
einzelnen deutschen Höfe mit dem großen Napoleon sind vielleicht auch noch
unvergessen. Und seitdem hat in Deutschland Niemand sein Wort gebrochen.
Nur in Italien, dem Vnterlande Machiavells, wird gelogen. —
Also wo bleibt die Moral? — Wir wollen es sagen.
Denn allerdings haben wir noch ein ganz anderes Interesse für die
italienische Sache, als das uneigennützige, objective, ästhetische, das Wohl¬
gefallen an einem hübschen Schauspiel. — Wir nehmen an den Erfolgen der
Italiener Theil, weil durch sie ein neues Princip der politischen Moral ins
Leben geführt wird.
Unsere heutige Staatenbildung beruht auf dem Wiener Congreß. Der Wiener
Congreß war eine Fortsetzung des Friedens von Luneville. Nach welchem Princip
wurden auf diesem Congreß die Staaten gebildet? — Man berechnete, auf wie viel
Seelen jeder Souverän Ansprüche habe: Seelen d. h. Steuer und Rekruten
stellende Subjecte. Wo nun die Seelen herkamen, danach wurde nicht weiter
gefragt; noch viel weniger, ob die Seelen Lust hätten, diesem oder jenem
Staat anzugehören. Denn Seelen und Subjecte haben keinen Willen, >>-'
wenig wie die „Seelen" der russischen Magnaten. Wenn die russischen Mag¬
naten Pharao spielen, so bestimmen sie den Point zu fünfzig, sechzig „Seelen"
oder wie es kommt — jetzt scheint es freilich auch dort anders zu werden.
Dies war die Staatemoral des vorigen Jahrhunderts, die Stantsmoral,
die noch heute in ihren Wirkungen fortbesteht. Wir glauben an den Fort¬
schritt der Menschheit, wir glauben, daß die Nachwelt sich über diese Staats¬
moral entsetzen wird. Und daß wir diesen Glauben hegen, dafür ist die Wen¬
dung der Dinge in Italien nicht das unbedeutendste Motiv.
Das europäische Gleichgewicht bestand bis jetzt darin, daß kein Staat
dem andern gewachsen war, daß jeder Souverain die Versuchung fühlte, die
Zahl seiner „Seelen" zu vermehren; daß vier oder fünf militärisch organisirte
Mächte vorhanden waren, vor denen die andern sich fürchteten, und daß außer¬
dem alle souveraine an einen unbestimmten Geist der Revolution glaubten,
den sie nur durch Bajonnette und Censur bündigen könnten. Dies System
gipfelte in Deutschland und Italien.
Das Gleichgewicht, dem wir entgegengehen, ist ein anderes. Es werden
sich eine Reihe nationaler Staaten bilden, die sich einander gewachsen sind,,
und von denen keiner den andern zu fürchten hat. Staaten, die keinen Grund
haben, eine Vergrößerung zu wünschen, weil sie zugleich ein organisches Ganze,
eine Nation bilden; Staaten, die keinen Grund haben, einen Umsturz zu
fürchten, weil der König der Erste der Nation und von den Vertretern derselben
umringt sein wird. — Ob dies Ziel heute, morgen, oder in einem Jahrhun¬
dert erreicht werden wird: die italienische Bewegung hat den Anstoß dazu
liegeben.
Wir haben noch einen zweiten Grund, die italienischen Erfolge mit Genug¬
thuung anzusehen. Die ultramontane Partei weiß sehr wohl, was sie thut,
wenn sie Victor Emanuel verketzert. Denn in diesem Kampf wird zugleich die
i^riße Kirchenfrage zum Austrag kommen. Wird der Papst Landesbischof einer
bestimmten Nation, so ist es mit dem Ultramontanismus zu Ende — unwieder¬
bringlich! und wir Protestanten haben keinen Grund darüber zu trauern.
Aber Napoleon? Aber das Festungsviereck? Es ist uns ja gelehrt worden,
nach Gründen der Militärwissenschaft müssen die Italiener stets Bundesgenossen
der Franzosen sein. — Wir fragen nur: welche Interessen haben beide Völker
mit einander gemein? — Die Italiener werden überwiegend eine Seemacht
werden, der Tummelplatz ihrer politischen Thätigkeit ist das Mittelmeer. Aus
diesen, Tummelplatz sind die Franzosen ihre natürlichen Concurrenten. und wir
eben deshalb ihre natürlichen Verbündeten.
Aber „unsere deutschen Brüder" in Oestreich? — Unsere deutschen Brüder
sollten mit unserer Gemüthlichkeit nicht zu lange spielen. — Wir finden es
sehr natürlich, daß sie die Ungarn und andere barbarische Völkerschaften gegen
ihren Willen zwingen wollen, mit ihnen in einem östreichischen Parlament zu
sitzen. Wir finden es sehr natürlich, daß sie uns Deutsche im „Reich" zwingen
wollen, entweder gleichfalls mit ihnen in einem Parlament zu sitzen oder als
miLLr-i eontiibutZNZ plobs die Gesetze zu empfanden, die man in Wien macht.
Wir finden es sehr natürlich, daß sie mit den Italienern ein Gleiches vor¬
haben. — Daß sie aber alles drei , zugleich ins Werk setzen, daß sie das Reich,
daß sie Italien, daß sie Ungarn sich gleichmäßig unterwerfen wollen — lieber
sollten sie daran denken, ihre Schulden zu bezahlen. /
In Oestreich scheint eine neue Krisis bevorzustehen, Schon ist Ungarn
mit Truppen überschwemmt, die deutsche Gemüthlichkeit erwartet den Belage¬
rungszustand. Wir zweifeln nicht daran, daß die Regierung durch äußere Ge¬
walt Sieger bleiben würde, aber es wäre ein furchtbar gewagtes Spiel. Das
Diplom und was damit zusammenhängt, war der letzte Rettungsanker, nach
dem die öffentliche Meinung griff: reißt man dieses muthwillig entzwei, so
konnte die Katastrophe schneller hereinbrechen, als — uns selber lieb wäre.
Die Klöster gehören zu den merkwürdigsten Gestaltungen, in denen der
Geist und Charakter des Mittelalters sich ausgesprochen hat. Zwar reicht
ihr Ursprung, wie bekannt, noch in die letzte Zeit des Alterthums zurück und
ist nicht einmal in Enropa. sondern in den Wüsteneien Aegyptens zu suchen,
wo sich dnrch die Vereinigung mehrerer Einsiedler die ersten Anstalten dieser
Art bildeten, aber das eigenthümliche Gepräge und die Ausbildung durch
Regel und Ordnung hat das Klosterwesen erst seit seiner Verpflanzung in das
Abendland erhalten. Unverkennbar ist nach mehr als einer Richtung der
große Einfluß, den es auf die ganze Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft
im Mittelalter gehabt hat.
Das Christenthum war grade in einer Zeit zu den Germanen gekommen,
wo durch die Zerbröckelung des römischen Weltreichs und die Wanderung/"
der nordischen Völker die Grundlagen zerstört worden waren, auf welchen die
bisherigen Zustände beruhten. Jahrhunderte vergingen, ehe aus dem Chaos
Ordnmig und Form sich neu bildeten, Jahrhunderte voll frischen, üppig kei¬
menden Lebens, aber auch voll Verwirrung und Unsicherheit, voll ungefüger
Währungen und immer neu ausbrechender Kämpfe, wo Tapferkeit und per¬
sönlicher Muth als das höchste Verdienst des Mannes galten, und wo keiner
mehr Recht besaß, als er mit Gewalt zu schirmen verstand. Das Widerspiel
dieses Wvgens und Schwankens bilden die Klöster. Auch damals gab es
weiche, beschauliche Gemüther, unfähig sich eine Stelle zu erkämpfen oder zu
behaupten, voll Sehnsucht nach Sicherheit und Frieden, aber ihre Stimme
verhallte in dem lauten Treiben ungehört gleich dem Rufe des Schiffbrüchigen
im Aufruhr der Elemente. Wohin sie sich wendeten, begegnete ihnen der
Schrecken; hier war es die habgierige Faust eines wilden Nachbars, deren
Drohen ihnen Hab und Gut, Leib und Leben gefährdete, dort machte sie der
Gedanke an die einstige Vergeltung der Unthaten, deren Zeugen sie sein
mußten, schaudern, und je Heller in ihrem eigenen Innern das Licht des
neuen Glaubens - entbrannte, desto schwärzer gähnte ihnen die umgebende
Finsterniß entgegen, je brünstiger ihre Sehnsucht nach Frieden rang, desto
höher stieg ihr Abscheu vor der Unbußfertigkeit der Welt. Solche Stimmungen
Waren der Boden, in dem der Glaube Wurzel faßte, daß die völlige Abkehr
von dieser Verlornen Welt, die Entsagung alles Irdischen, das einzige Mittel
zur Gewinnung der ewigen Seligkeit sei.
**Kaum hatte daher der h. Benedict diesem Hange der Zeit durch Er¬
richtung des Klosters auf dem Monte Cassino und die Ausstellung einer be¬
sonderen Regel für das klösterliche Leben eine bestimmte Richtung gegeben,
so folgte man allerwärts dem gegebenen Beispiele, durch das ganze Abend¬
land erhoben sich Klöster als Zufluchtsstätten für die. welche den ersehnten
Frieden in der Welt nicht fanden, als Heiligthümer, in deren geweihten
Kreis der Lärm des Lebens nur vou fern und in gedämpften Tönen zu
dringen vermochte. Der ganze Gedanke entsprang so sehr dem eigentlichen
Geiste der Zeit, daß er, obendrein von der Geistlichkeit fleißig genährt, schnell
ZU einem herrschenden wurde. Die Zahl der Klosterbewohner stieg von Jahr
ZU Jahr, Personen aus den höchsten wie aus den untersten Schichten der
bürgerlichen Gesellschaft. Männer wie Frauen, Jünglinge wie Greise empfan¬
den die süßeste Befriedigung in dem demüthigen Stande des Mönches oder
der Nonne, und mehr als ein rauher Krregsmann, der sonst die Klostermauern
nur mit spöttischem Lächeln betrachtet hatte, klopfte miegt selbst Einlaß be¬
gehrend an die Pforte. Wenn das alte Schlachtschwert anfing seinem Arm
SU schwer zu werden und der ergraute Bart an das schwindende Leben mahnte,
da tauchten wol oft Bilder vor seiner Seele auf, ungerufen und doch nicht
wegzubannen: die Dörfer, die er in Aschenhaufen verwandelt, Eide, die er
geschworen und gebrochen, Kirchen, die er beraubt, und Weiber, die er gemi߬
handelt, sie alle traten vor den Spiegel seines Gewissens und riefen nach
Vergeltung. Da legte er in frommer Zerknirschung den Harnisch ab und zog
die Kutte an, und vertauschte das Schwert mit dem Scapulier, gewiß, dach
einen gottseliger Beschluß die im übrigen Leben verdienten Höllenstrafen der
Ewigkeit abkaufen zu können. Ja der abenteuerliche Kriegsgefährte Kaiser
Heinrichs des Vierten, -Graf Wiprecht von Groitzsch. half nebst seinen Rittern
eigenhändig bei dem Bau des von ihm gestifteten Klosters Pegau. in welchem
er seine Tage beschließen und, angethan mit dem Büßerhemd, die Auferstehung
erwarten sollte. Könige und Fürsten überboten sich im Eifer, immer neue
Kloster zu stiften, und so stieg ihre Zahl zu einer unglaublichen Menge. Zu
der Zeit Markgraf Heinrichs des Erlauchten von Meißen gab es in den wet-
tinischcn Ländern 90 Klöster für Mönche und 60 für Nonnen und zu Anfang
des 15. Jahrhunderts zählte man im ganzen Abendlande, was uns fast un¬
glaublich klingt, 15,107 vollständig organisirte Mönchskloster, wobei also die
für Nonnen bestimmten noch nicht eingerechnet sind.
Geben schon diese Zahlen uns eine Vorstellung von der Bedeutung, welche
die Klöster im Mittelalter hatten, so steigert sich dieselbe noch wesentlich,
wenn wir des unermeßlichen Reichthums denken, der sich in ihren Händen
anhäufte. Denn wenn auch jeder Klosterbewohner bei seinem Eintritt das'
Gelübde persönlicher Armuth ablegen mußte, so war es doch dem Kloster als
solchem unverwehrt, Besitz ohne alle Einschränkung zu erwerben. Der Stifter
eines Klosters übernahm die natürliche Verpflichtung, auch für den Unterhalt
der darin Gott dienenden Brüder und Schwestern zu sorgen, und dies um so
lieber, da ja jedes Geschenk an die Kirche sich in jenem Leben reichlich ver¬
zinste und eine Stufe auf der Leiter zur ewigen Seligkeit war. Bald gingen
ganze Dörfer und Felder, bald einzelne Grundstücke, Hufen. Wälder, Wiesen,
Mühlen, oder Hörige und Vasallen in den Besitz der Klöster über. Das Kloster
Reinhardsbrunn in Thüringen, ein wohlhabendes, aber noch keines der reichsten,
bezog aus seinen Gütern 1000 Malter Waizen und Gerste. Selten verrin¬
gerte sich dieses Besitzthum, in den bei weitem meisten Fällen schwoll es durch
die Freigebigkeit gläubiger Seelen mehr und mehr, zumal da Alles geschah,
um den Klöstern ihre Erwerbungen auf jede mögliche Weise zu erleichtern. So
wurde mehreren unter ihnen von den Kaisern sogar das Recht zugestanden,
Reichsgut von jeder freien Person ohne kaiserliche Einwilligung zu acquiriren.
Einzelne Stifter brachten nach und nach einen wahrhaft fürstlichen Grundbesitz
zusammen; das reichste in Deutschland war die Abtei Se. Mazimin bei Trier,
von deren Vermögen wir uns daraus eine Vorstellung machen können, daß
es durch Kaiser Heinrich den Zweiten genöthigt wurde, ihm 6656 Hufen, das
ist über 200000 preußische Morgen Landes abzutreten. Man konnte daher
im 15. Jahrhundert wol mit Recht sagen, daß der h. Benedict den dritten Theil
der Christenheit besitze. Zu diesem Besitz an liegenden Gründen kam aber
noch eine Unzahl von Einkünften der verschiedensten Art, von Privilegien und
Immunitäten, die wirklichen Einkünften gleich zu achten waren. Alles Schen¬
kungen frommer Christen zum eigenen oder geliebter dritter Personen Seelen¬
heil. Zinsen und Renten in baareur Geld, Zehnten von Feldfrüchten oder von
Heerden, der Zoll auf gewissen Straßen, der Ertrag von städtischen Badstuben
oder Fleischbänken, Markt-und Zollfreiheit für ihre eigenen Bedürfnisse, Alles
floß in buntesten Allerei den Klöstern zu. Das Nonnenkloster zu Freiberg halte
sogar das von der Erzwäsche in den leinenen Säcken zurückbleibende Erz mit
den Säcken selbst zu bekommen. Corvey, die reichste Abtei in Sachsen, war von
allen Diensten an das Reich befreit, und wo sie anderwärts geleistet wurden,
standen sie doch meistentheils außer Verhältniß zu der Höhe der Einkünfte. Die
Kirche that Alles, um diesen in der ganzen Zeit liegenden Hang zur Freigebig¬
keit zu nähren, besonders indem Päpste und Bischöfe allen Förderern und Wohl¬
thätern dieses oder jenes Klosters durch besondere Briefe Ablaß verhießen.
Aber gerade dieser ungeheure Reichthum wurde das Verderben der Klöster.
Zuvörderst reizte er die Habsucht der weltlichen Großen, bis sie die Scheu von
der Heiligkeit seiner Besitzer überwog, und viele Klöster mußten sich in ihrer
Wehrlosigkeit die schreiendsten Unbilden gefallen lassen. Wenn Papst Inno-
cenz der Vierte im Jahre 1245, in der Zeit also, wo immer ärgere Gesetzlo-
sigkeit im deutschen Reiche einzureihen begann, kraft seiner apostolischen Auto¬
rität verbietet, daß Niemand innerhalb der Umfriedigungen oder Wirthschafts¬
gebäude des Kloster's Marienthul in der Lausitz einen Raub oder Diebstahl zu
begehen, Feuer anzulegen, Blut zu vergießen, Menschenraub, Todtschlag oder
andere Gewaltthat zu übe» sich unterfangen solle, so nimmt sich das für uns,
die wir den Schutz gegen solchen Friedensbruch nicht als das Borrecht Ein¬
zelner anzusehen gewohnt sind, wunderlich genug aus, für jene Zeit beweist es
leder ebensowol, daß man den Klöstern einen besonderen Anspruch auf Scho-
nung zugestand, als auch, daß sie nicht immer stattfand. Ein Jahr später
klagt derselbe Papst: „Nicht ohne Schmerz des Herzens und die größte Betrüb¬
niß haben Wir in Erfahrung gebracht, daß an vielen Orten das geistliche An¬
sehen so gesunken ist, daß die Klöster, und besonders diejenige», welche dnrch
Privilegien des päpstlichen Stuhles mit großen Freiheiten bedacht sind, von
ihren Feinden Angriffe und Beraubungen zu erdulden haben, während kaum
jemand zu finden ist, der ihnen seinen Schutz angeoeihen ließe und um die
^nfchuld der Armen zu behüten sich als eine Mauer der Vertheidigung entge¬
genstelle." — Befehdungen von Klöstern waren nichts Seltenes. Im Jahr 1287
^theilte der Erzbischof von Mainz dem Kloster Sornzig eine besondere In-
dulgenz, weil es durch die Einbrüche von Räubern und andern Uebelthätern
u» die größte Dürftigkeit gerathen war; 3V Jahre später legte Markgraf Diez-
">a»n das Kloster Pegau in Asche.
Dahin hätte es aber freilich nicht kommen können, wenn nicht die Achtung
vor den Klöstern bereits tief gesunken wäre. In demselben Maße als ihr
irdischer Besitz sich mehrte, verflüchtigte sich der auf das Himmlische gerichtete
Sinn, in dem überreichliche» Einkommen lag eine unwiderstehliche Versuchung zum
Genuß. Die Armen, welche sich hinter Mauer und Gitter vor den Gefahren
der Versuchung zu retten gedachten, sie wußten nicht, daß sie den bedenklichsten
Feind ihrer Seligkeit selbst und im eigenen Herzen mit hinter Mauer und
Gitter hineingenommen hatten, und dieser säumte nicht sich für den Zwang
der Gefangenschaft zu entschädigen. Mönche und Nonnen führten hinter den
Klostermauern ein gemächliches Dasein, das sich von dem weltlichen nur durch
größere Sorglosigkeit unterschied. Ausgelassenheit und Ueppigkeit nisteten sich
unter ihnen ein, die alten Ordnungen fielen meist mit der Regel des h. Be-
nedict der Vergessenheit anheim und Zanksucht und Unthätigkeit traten an ihre
Stelle. So rächte sich die grobe und äußerliche Art, in welcher die Kirche
die an den Menschen gestellten sittlichen Forderungen auffaßte, und die innere
Unnatur der ganzen Einrichtung brach hervor. Die abgelegten Gelübde, weit
entfernt einen reinigenden und läuternden Einfluß zu üben, wurden nicht ein¬
mal bloß zur leeren Form, sondern zur bequemen Decke, unter der die frechste
Ausgelassenheit um so ungescheuter gedieh, je sichreren Schutz der Schein eines
gottgeweihten Lebens gewährte.
Höchst anschaulich ist in dieser Beziehung, was uns nieder im 3. Buche
seiner Geschichte von der Synode erzählt, welche der Erzbischof Adalbero von
Rheims im Jahre »72 hielt. Er brachte auf derselben den Verfall der Kloster-
zucht zur Sprache, und darauf hin wurde beschlossen, daß die Aebte von ver¬
schiedenen Klöstern zusammenkommen und über diesen Gegenstand berathen
sollten. Vor diesen läßt sich nun der Erzbischof unter Anderem folgenderma¬
ßen aus:
„Es gibt einige unseres Standes, sagt er, welche sich gern öffentlich das
Haupt mit einem goldgcschmückten Hute bedecken, welche ausländisches PelZ'
werk der von der Regel vorgeschriebenen Kopfbedeckung vorziehen und statt
der unscheinbaren Mönchskleidung kostbare Gewänder anlegen. Sie tragen
gern um hohen Preis gekaufte Röcke mit weiten Aermeln und großen Falten
und ziehen sie um den Leib so fest zusammen, daß die eingeschnürten Hüften
den Hinteren hervortreten lassen. Was aber soll ich von ihren abenteuer¬
lichen Schuhen sagen? Denn in dieser Hinsicht sind die Mönche so unver¬
nünftig, daß ihnen der Nutzen einer Fußbekleidung großenteils entgeht. Sie
lassen sich nämlich ihre Schuhe so eng machen, daß sie darin fest, wie in den
Stock geschlossen, am Gehen gehindert sind. Auch setzen sie denselben vor»
Schnäbel, a» beiden Seiten aber Ohren an, halten auch ihre Diener daz»
an, daß sie mit besonderer Kunst den Schuhen einen spiegelhellem Glanz vel''
leihen. Ihre ausländischen Pelze besetzen sie mit einem breiten Saume.
Sich leinener Betttücher zu bedienen ist keineswegs erlaubt, und dennoch ha¬
ben einige pflichtvergessene Mönche auch dieses zu ihrem unnützen Aufwand
hinzugethan, und da die Zahl derselben in den verschiedenen Klöstern sehr
gras; war, so haben sich auch die wenigen guten von den zahlreichen bösen
verleiten lassen. Was aber soll ich von ihren unanständigen Beinkleidern
sagen? Ihre Hosen haben eine Weite von sechs Fuß. Ein einziger ist nicht
zufrieden mit einem Stück Zeug, welches für zwei vollkommen hinreichen
könnte." — Wer würde wol in dieser Schilderung des Erzbischofs das Bild
eines Mönches wiedererkennen?
Der sittliche Verfall der Klöster konnte nicht verborgen bleiben. Zu¬
nächst erregte er bei denjenigen Mitgliedern der Klostcrgeistlichkeit selbst, welche
voll aufrichtiger Frömmigkeit an dem heiligen Gelübde festhielten, Anstoß
und Trauer. Aus ihrem Schoße ging daher um das Jahr 1000 ein Ver¬
such zur Reformation der Klöster hervor; das burgundische Kloster Clugny
gab den ersten Anstoß zu einer Bewegung, welche auch einen großen Theil
der deutschen Klöster ergriff, und deren Zweck eine Wiederaufrichtung der fast
vergessenen Ordensregel und Erneuerung des entsagenden klösterlichen Sinnes
war. ein Streben, das auch von Kaiser Heinrich dem Zweiten nachdrücklich
unterstützt wurde. Dieser nahm der altberühmten, aber auch verwilderten Abtei
Hersfeld einen Theil ihrer Güter, entzog ihr ihre Privilegien und berief einen
zuverlässigen Abt. den Godehard. dahin, um die strenge Mönchsregel wie¬
derherzustellen. Fünfzig Mönche, welche sich derselben nicht fügen wollten,
gingen von dannen, nur drei blieben. Aehnlich erg'ing es mit anderen
Klöstern.
Nachdem sich ungefähr hundert Jahre spater das Kloster Hirsau an die
Spitze siner ähnlichen Reformbewegung gestellt hatte, machte das Kloster
Bursfelde in Hessen in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts den
dritten und letzten Versuch zu einer radicalen Erneuerung des überall gesun¬
kenen klösterlichen Lebens. Ueber diesen besitzen wir ein merkwürdiges Zeug¬
niß in der Chronik eines Mönchs im Peterskloster zu Erfurt, Namens Ni¬
kolaus, aus Siegen gebürtig, eines Mannes von ebenso kindlich frommem
Sinn als beschränktem Urtheil, der seine Stimme mit rührendem Eifer für
die Wiedererweckung der klösterlichen Zucht erhebt. „Was," ruft er, „erhält
die klösterliche Ordnung in ihrer ursprünglichen Form? Die Sorgfalt der
Prälaten, die straffe Zucht, die Strenge der Strafen, das Wiedergutmachen
von Verschuldungen, der fleißige Besuch des Chores, die nützliche Beschäfti¬
gung der Brüder, die Zurechtweisung durch das Capitel und das Schweigen."
Die Wichtigkeit dieser letzten Forderung erläutert er daun um einer andern
Stelle sinnig auf folgende Weise: „Was hält den Wein im Faß? Darauf
antwortet der eine, die Dauben, ein' anderer, die Reisen, aber richtiger setzt
ein dritter hinzu, „nein, sondern die kleinen Fäden, mit denen die Reifen
zusammengebunden sind, die halten den Wein im Faß; so scheint das
Schweigen wol klein und wird von gar Vielen gering geachtet, und doch ist
es der Nerv des Klostcrlebens."
Man sieht, wie ganz äußerlich diese Mittel sind. Auch entbehrten diese
aus den Klöstern selbst hervorgegangenen Reformversuche jedes dauernden
Erfolges. Die Verspottung der Mönche und Nonnen, die frivole Freude über
die Aufdeckung ihres leichtfertigen, schamlosen Treibens kehrt in der profanen
Literatur ebenso regelmäßig wieder wie in der geistlichen die bittersten Klagen
über dies heillose Wesen; nichts vermochte die Lust um Scandal reichlicher
zu befriedigen als dieses Thema. Es-ist daher ganz irrig, die ersten An¬
griffe auf die Klöster von den Reformatoren herzuleiten, diese haben nur zu¬
erst den Grundirrthum des ganzen Instituts bestimmt ausgesprochen und seine
Beseitigung gefordert, während niam bisher sich immer vergeblich bemüht
hatte, dasselbe zu regeneriren. Noch viel irriger ist die Anklage, daß sie sich der
Anfeindung der Klöster als einer Waffe im Kampfe gegen die herrschende
Kirche bedient hätten; ganz im Gegentheil erklärt sich der reißend schnelle
Erfolg der Reformation zum großen Theil aus der alte Schichten der dama¬
ligen Welt gleichmäßig durchdringenden Entrüstung und Scham über die gänz¬
liche Versunkenheit der Klostergeistlichen sowol wie der Weltgeistlichen, aus
der allgemeinem Verachtung gegen einen Stand, der sich des besonderen Be¬
sitzes der göttlichen Gnade rühmte, während er durch sein Beispiel das sitt¬
liche Bewußtsein empörte. So war es in der That ein ernstes und wahres
Wort, welches die Hussiten in der den Reichsständen 1431 überreichten Apo¬
logie aussprachen: „Ob wir sie verjagen und ihre Klöster brechen, damit
stören wir nicht den Dienst Gottes, sondern die Besten jder Teufel. Etwa»
glaubten wir auch, sie wären heilig, und da wir sie recht erkannten und ver¬
merkten ihr Leben und ihre Werte, erkannten wir, daß sie sind heilige Gleis¬
ner und demüthige Schalle und Buben. Und wenn ihr sie erkennet, ihr wür¬
det sie frisch zerstören also wir." — Eine Bewegung analog derjenigen, welche
die Klöster ins Leben gerufen hatte, richtete sich jetzt gegen die Klöster: hatt.e
mau sich damals aus der Verwilderung der Welt in die Klöster geflüchtet, s"
rettete man sich jetzt aus der Verwilderung der Kirche in den protestantischen
Glauben.
Ein treues und deutliches Bild von den inneren Verhältnissen der Klöster
läßt sich nur durch Zusammenstellung vieler zerstreuter Details gewinne».
Zunächst darf man die Verhältnisse der heute noch vorhandenen nicht auf d>e
des Mittelalters übertragen wollen, sonst denkt man sie sich nur zu leicht von
allem Verkehr mit der Außenwelt abgesondert, ihre Bewohner vom Anblick
jedes profanen Menschengesichis abgeschlossen, mit nichts als mit Singen,
Bete», Messelesen u»d Kasteiung des Leibes beschäftigt. Nichts könnte irriger
sein. Die Klöster standen in der allermannigfaltigsten Berührung mit allen
übrigen Kreisen der menschlichen Gesellschaft, in welcher sie ein wesentliches
Glied bildeten und eine Menge von Pflichten erfüllten, die heutzutage auf an¬
dere Kreise übergegangen sind. Um dies, sowie die obigen allgemeinen An¬
deutungen zu veranschaulichen, knüpfen wir an die Geschichte eines einzelnen
Klosters, nämlich des auf dem Petersberge bei Halle, an, über dessen Schick¬
sale wir durch die Ehronik, welche ein Mönch desselben im Anfang des drei¬
zehnten Jahrhunderts aufgezeichnet hat. hinlänglich genau unterrichtet sind.
Den Bau dieses Klosters begann Graf Dedo von Wettin im Jahre 1124
auf „der lichten Höhe", wo zeither die Slaven ihrem weißen Gotte Opfer ge¬
schlachtet hatten. Man wählte in neubekehrten Gegenden für geistliche Stif¬
tungen gern solche Orte, welche schon dem heidnischen Cultus für heilig gegol¬
ten hatten, um den Götzendienst durch die Verehrung des wahren Gottes zu
ersetzen, man schob also den christlichen Gott den heidnischen Göttern förmlich
unter, ein Verfahren, das zwar unläugbar die Bekehrung erleichterte, aber
auch wesentlich dazu beitrug, daß der alte heidnische Aberglaube, durch das
neue Dogma nur leis übertüncht, im Christenthum fortwucherte. Da der Graf
noch vor Vollendung des Baues eine Pilgerfahrt in das gelobte Land unter¬
nahm, so übertrug er die Fortsetzung des heiligen Werkes seinem Bruder
Konrad, dem großen Markgrafen von Meißen, und angefeuert durch die Fröm¬
migkeit seiner Gemahlin Luitgard nahm dieser sich desselben mit solchem Eifer
um, daß gewöhnlich er und nicht Dedo als Gründer des Klosters genannt
wird. Im Jahre 1139 war es vollendet, neben der Kirche erhoben sich die
Zellen der Mönche nebst den übrigen nothwendigen Gebäuden. Papst Hono-
nus ertheilte ihm bereitwillig seine Bestätigung, und der Markgraf sorgte für
eine ansehnliche Ausstattung, indem er ihm Güter in 51 Dörfern, 120 Hufen
Wald und das Patronat über zwei Kirchen gab, und bei Konrad's Tode be¬
saß es schon 182 Acker Landes, die sich nachher durch viele Schenkungen noch
"«sehnlich erweiterten. Das neue Kloster wurde dem' Apostelfürsten Petrus ge¬
weiht, und dieser verfehlte auch nicht, sich für diese Aufmerksamkeit durch ver¬
miedene Wunder, die an dem Orte geschahen, erkenntlich zu zeigen.
Der Convent der Mönche, Augustinerordens, zählte ungefähr 30 Mit¬
glieder, eine Zahl, welche als die durchschnittliche in den größern Klöstern
angesehen werden kann. An ihrer Spitze stand der Probst, ein Mann von
nicht geringer Bedeutung schon deshalb, weil in seiner Hand die Verwaltung
des beträchtlichen Klostergutes lag. Zwar wgren unter den Vorstehern des
Petersberges keine von kriegerischen Neigungen, die in früheren Zeiten an
^eistljchcn nicht selten waren, wo mancher wehrhafte Abt um der Spitze seiner
Reisigen in eigener Person zu Felde zog. wie beispielsweise von dein Abt
Hugo von Se. Bertin erzählt wird, der im Jahre 879 in der Schlacht
bei Thum tapfer gegen die Normannen focht, dennoch öffnete sich, wenn er
sonst danach begehrte, seiner Thätigkeit ein weites Feld. Seine Wirksamkeit
reichte weit über das Kloster hinaus, er erschien neben den übrigen geistlichen
und weltlichen Herren auf den Landtagen der Provinz und befand sich oft im
Gefolge des Markgrafen. Selbst bei der Zusammenkunft, welche im Jahre
1222 Kaiser Friedrich der Zweite mit dem Papste Honorius zu Verona hatte,
war der Probst des Petersberges gegenwärtig, und von dem Probst Walther
beklagt es der Chronist ausdrücklich, daß er durch das Uebermaß von Ge¬
schäften, die er für sich und Andere zu besorgen hatte, zu sehr in Anspruch ge¬
nommen worden sei, um den innern Verhältnissen des Klosters die nöthige
Sorgfalt zuwenden zu tonnen. Waren ja doch die Geistlichen die Einzigen,
die mit der Feder umzugehen wußten, und daher bei allen Geschäften, die das
Mein und Dein betrafen, so unentbehrlich wie heut zu Tage Advocat und
Notar, und wie es daher, überhaupt wenige Urkunden gibt, die nicht auch
von Geistlichen als Zeugen unterschrieben sind, so legen die Namen der Pe-
tersberger Pröbste, die sich unter vielen derselben finden, Zeugniß dafür ab,
daß ihr Beistand'bei derartigen Verhandlungen häufig erfordert wurde.
Vor Allem standen sie natürlich in vielfachem Verkehr mit ihren Schuh¬
herren, den Fürsten aus dem wettinischen Hause. Der Markgraf Konrad hatte
verordnet, daß jedesmal der älteste von seinen Nachkommen die Vogtei über
das Kloster haben, die Mönche jedoch ihrem Vogte nicht anders als aus gu¬
tem Willen zu irgend einem weltlichen Dienste verpflichtet sein sollten. Er hatte
es ferner zur Begräbnißstätte für sich und seine Familie und deren Dienstleute
ausersehen und damit zwischen ihnen und dem Kloster nach der Anschauung
der Zeit ein enges Pietätsvcrhäitniß geknüpft. Denn schöpften jene eine Be¬
ruhigung aus der Gewißheit, daß sie dereinst auf den Ruf der Posaune zum
Weltgericht innerhalb des geweihten Klosterraumes sich aus dem Grabe erhe¬
ben würden, so zog dieses einen noch viel reelleren Gewinn daraus, indem
Keiner die Stätte, an der er und seine Geliebten ruhen sollten, mit dankbaren
Vermächtnissen zu bedenken vergaß. Markgraf Heinrich der Erlauchte gab dem
Kloster Zelle, weil seine erste Gemahlin Agnes darin begraben lag, eine jähr¬
liche Rente von 7 Mark Silber, sein Sohn Albrecht verschrieb demselben Klo¬
ster 150 Mark zur Belohnung der Dienstbeflissenheit, welche die Mönche bei
der Bestattung seines Vaters bewiesen hatten, und die verwittwete Markgräfin
beschenkte sie ebendeshalb mit den ihr gehörigen Gütern in zwei benachbarten
Dörfern. Kein Wunder, daß die Mönche einen großen Werth auf solchen
Vorzug legten. Umständlich erzählt daher der Chronist, wie die Markgräfin
Luitgard doch noch ihr Begräbnis; auf dem Petersberge gefunden, nachdem
sie aus einem Besuche bei ihrer Tochter, der Aebtissin des Nonnenklosters zu
Gerbstädt, während ihr Gemahl gerade auf einem Kreuzzug begriffen war,
das Zeitliche gesegnet hatte und vom Grafen von Mansfeld im dortigen Klo¬
ster beigesetzt worden war. Ueber solche Eigenmächtigkeit gerieth aber der
heimkehrende Wittwer in solchen Zorn, daß jener, um ihn zu besänftigen,
die Leiche den Gerbstädtcr Nonnen des Nachts heimlich entführte und sie, zur
großen Genugthuung der Petersberger Mönche, in ihr rechtmäßiges Begräbnis;
brachte.
Hier gedachte ja auch Konrad an ihrer Seite zu ruhen, aber noch ehe
der Tod ihn dahin rief, zog er sich, seines wildbewegten Lebens müde, in
sein geliebtes Kloster zurück. Es war ein denkwürdiger Tag in der Geschichte
des Petersberges, an welchem der gewaltige Fürst in Gegenwart des Mark¬
grafen Albrecht des Bären und einer großen Zahl geistlicher und weltlicher
Herren vor dem Altar des h. Petrus seine Länder unter seine fünf Sohne
vertheilte, alle dem Kloster gemachten Schenkungen nochmals feierlich von
ihnen bestätigen ließ, und dann aus der Hand seines Neffen, des Erzbischofs
Wichmann von Magdeburg, die Mönchskutte empfing, die er nicht lange tra¬
gen sollte: zwei Monate darauf wurde er in ihr ins Grab gelegt.
Von seinen Nachkommen bewahrte jedoch nur ein Theil dem Kloster die
gleiche Zuneigung. Ihr ältester Zweig — mit einem Seufzer berichtet es der,
Chronist — wählte sich sehr bald ein eigenes Erbbegräbnis;. Hedwig, Mark¬
graf Otto des Reichen Gemahlin, hatte keine Lust, ein Kloster zu bereichern,
über das nicht ihre Söhne ausschließlich die Bogtei haben sollten, und be¬
stimmte ihn, das Kloster Altzelle an der Mulde zu bauen. Eine andere Frau,
auch Hedwig geheißen, war schuld, daß auch der jüngere Zweig, die Grafen
von Breue, nicht auf dem Petersberge begraben liegen; nachdem sie Wittwe
geworden, gedachte sie ihr leichtfertiges Leben auf dem Petersberge ervanlich
ZU beschließen, ihr Ruf war aber so schlecht, daß man ihre Bitte abschlug,
und zum Trotz stiftete sie das Kloster Breue. Andere Wettiner wählten Do-
brilugk oder Zschillen zu ihrem Begräbniß, aber im Leben blieben sie noch
lange in vielfacher Berührung mit dem alten Familienkloster auf dem Peters¬
berge.
Gewiß gehörte der Pförtner des Klosters nicht zu den müßigen Leuten,
am wenigsten an solchen Tagen wie der, wo Markgraf Dietrich der Bedrängte
von Meißen seine Getreuen zu gemeinschaftlicher Be-rathung dahin beschicken
hatte. Es vertraten aber auch für gewöhnlich die Klöster damals in gewisser
Weise die Stelle unserer heutigen Hotels; denn diese sind erst in der letzten
Zuk des Mittelalters zugleich mit dem Aufblühen der Städte aufgekommen.
Die unentgeltliche Aufnahme, welche noch heutzutage die Flut der Schweizer-
reiscnden in den Hospizen der Alpenpässe findet, ist nichts als ein kleiner
Ueberrest einer im Mjttelnlter von den Klöstern allgemein geübten Sitte. Bie-
kam derselben war von ihren Stiftern ausdrücklich die Pflicht auferlegt, vor¬
überkommende Reisende ohne Entgeld zu beherbergen. Fürsten und Herren mit
ihrem Troß so gut wie der ärmste Fußwanderer suchten und fanden hier ihrem
Stande angemessen Nachtlager und Kost und einen Becher kühlen Kloster¬
weins. Einer der Mönche, der Hospitalarius. führte die Aufsicht über ihre
Bewirthung, ein besonderes Gebäude, das Hospiz oder Gasthaus, war zu
diesem Zwecke bestimmt, und auf dein Petersberge war es geräumig genug,
um zwei Jahre lang dem ganzen Convente Unterkommen zu gewähren, nach¬
dem im Jahre 1199 ein Theil des Klosters abgebrannt war. Ein besonderer
Theil der Einkünfte floß dem Hospiz zu und diente auf solche Weise, statt dem
Wohlleben der Mönche, einem höchst nützlichen Zwecke. Ja wenn wir vom
Kloster Zelle lesen, daß es binnen drei Jahren nicht weniger als 14000 Rei¬
sende zu Pferd und 20000 zu Fuß aufgenommen habe, also im Durchschnitt
täglich L0 Personen und 12 Pferde, so nimmt es uns nicht Wunder, wenn
es darüber verarmte und der Abt sein Unvermögen zur Fortsetzung solcher
Gastfreiheit erklärte.
Oder es erschienen Kranke und Prcßhafte, Pflege und Heilung bei den
frommen Vätern begehrend, und als ein Werk christlicher Barmherzigkeit wurde
sie gewährt. Denn so lange alle gelehrte Bildung oder was dafür galt, sich
im ausschließlichen Besitz der Geistlichen befand, wurde auch die Arzneikunst
in den Klöstern geübt. Dazu war ein eigenes Siechhaus bestimmt, welches
demnach keineswegs bloß den Mönchen selbst in Krankheitsfällen diente. Fand
es ja die Markgräfin Luitgard um sich zur Ader zu lassen für nöthig, dazu
auf deu Petersberg zu reisen, und wenn wir weiter lesen, daß Markgraf
Dietrich von Eilenburg. der auf dem Reichstag zu Mainz erkrankt war, sich
in das Siechhaus des nämlichen Klosters bringen ließ und darin starb, daß
im Jahre 1170 der Bischof Gerung von Meißen ebendaselbst sein Leben' be¬
endigte, so berechtigt uns das zu dem Schluß, daß eine weit größere Zahl
solcher, die es genesen wieder verließen, oder die nicht bedeutend genug waren,
um besonders genannt zu werden, hier Aufnahme und Heilung fanden.
Selbst Geldgeschäfte blieben den Klöstern nicht fremd, da man die ver¬
hältnißmäßige Sicherheit derselben benutzte, um ihnen Geldsummen zur Auf¬
bewahrung zu übergeben. Wir wissen dies aus zwei Fällen, welche von dem
Chronisten deshalb besonders erwähnt werden, weil in ihnen die Absicht nicht
erreicht wurde. Graf Ulrich von Wettin hatte für seine Hinterlassenen 200
Mark Silber auf den Petersberge niedergelegt, aber sobald der Bormund
seines Sohnes, Graf Dietrich von Sommerschenburg. Kunde davon erhalten
hatte, erschien er in Person in dein Kloster, um es nach dem Schatze zu durch¬
suchen; den hatte aber Probst Rudolf, im Voraus gewarnt, so gut verbor¬
gen, daß der Graf unverrichteter Sache abgezogen sein würde, hätten acht
etliche ungetreue Mönche ihm das Versteck verrathen. Beträchtlicher war die
Summe, welche Markgraf Otto der Reiche der Obhut des Klosters Zelle anvertraut
hatte, sie belief'sich auf 3000 Mark Silber. Sein Sohn, Albrecht der Stolze,
verlangte ihre Auslieferung; vergeblich betheuerten die Mönche, der Mark¬
graf habe sie zu kirchlichen Zwecken bestimmt, vergeblich suchten sie das
schöne Geld dadurch zu retten, daß sie es auf dem Altar der Mutter Gottes
niederlegten? der Markgraf war Freigeist genug, um es auch da wegzu¬
nehmen.
Trotz solcher vereinzelter Vorfalle blieben die Klöster im Allgemeinen doch
diejenigen Orte, wo in einer kriegerischen Zeit noch die meiste Ruhe, Sicher¬
heit und Friede herrschten. In sie flüchtete sich daher auch alle friedliche
Arbeit, und olle geistige Thätigkeit fand hier eine Stätte auf so lange, bis
die Städte.-hinreichend erstarkt waren, um diesen Beruf zu erfüllen. So ha¬
ben die Klöster nicht bloß dem Wiedererwachen der Wissenschaften vorgear¬
beitet, sondern auch, was während der ersten Jahrhunderte des Mittelalters
in Gewerben und Künsten geleistet wurde, ist zum größten Theil den Klöstern
zu verdanken. Vor Allem sind es die Musik und die Malerei, die recht eigent¬
lich aus ihnen hervorgegangen sind. Der Volksgesang des Mittelalters ist
uns fast gänzlich verschollen, alle übrige Musik war geistlich. Der tägliche
Gottesdienst mit seinen Hören, Messen und Responsorien führte von selbst zur
Ausbildung des Kirchengesanges, die Orgeln, welche denselben begleiteten,
wurden nicht allein von Mönchen gespielt, sondern waren auch von ihnen ge¬
baut. Auf dem Petersberge stiftete sich der Kellermeister Dietrich damit ein
ehrendes Gedächtniß, daß er für die durch den Brand zerstörte Orgel eine neue
baute. Auch dk Glocken mögen hier Erwähnung finden. Zchon der Mönch
v. Se. Gallen weiß von einem Mönche Namens Tanlo, zu erzählen, der zu
Karls des Großen Zeit eine sehr schöne Glocke gegossen habe. Auf die Malerei
kamen die Mönche zunächst durch das Abschreiben. Diese Beschäftigung, die
dem mönchischen Leben wol besser entsprach als jede andere, war vom h.
Nenedict ganz besonders empfohlen worden und wurde allerwärts fleißig ge¬
übt. Von dem oben erwähnten Bischof Godehcird rühmt sein Biograph aus
der Zeir. wo er nnr noch Mönch war, daß er der Kunst zu schreiben eine
n.anz besondere Sorgfalt zugewendet und so schon in seiner Ingend eine große
Menge theologischer und philosophischer Bücher zusammengebracht habe; unter
Andern, habe er anch eine Bibel von wunderbarer Schönheit gefertigt, die er
"icht nur geschrieben, sondern zu der er auch aus Demuth mit eigner Hand
das Pergament und alles Nöthige zugerichtet hatte. Den Mönchen liefen aber
die Buchstaben nicht wie unserm schreibselige» Geschlechte flüchtig aus der
Hand, sondern langsam und fein bedächtig zeichneten sie ihre Schnörkel in
sauberster Ordnung nebeneinander auf die steifen Pergamentblätter hin, so
daß schon dies mehr ein Malen als ein Schreiben zu heißen verdiente, Da¬
bei hoben sie die Anfangsbuchstaben der einzelnen Abschnitte gern durch aller¬
lei Verzierungen für das Auge hervor; das Einfachste war, sie durch bunte
Farben von der Übrigen schwarzen Schrift zu unterscheiden, oder man umgab
sie mit einem Kranze von Arabesken, die oft vielen Schwung und große»
Reichthum der Erfindung zeigen, oder endlich versah man sie mit ausgeführten
bildlichen Darstellungen, die ans den Inhalt des Folgenden Bezug hatten,
und unter diesen finden sich jene köstlichen Miniaturen, zum Theil wahre Kunst¬
kleinode, die durch die Schönheit ihrer Farben und bei aller Kindlichfeit der
Auffassung durch die Schärfe der Zeichnung und das charakteristische Gepräge
der Physiognomien noch heute verdiente Bewunderung erregen.
Sehen wir jedoch von diesen beiläufigen Verzierungen ab, so ist der
Werth der in den Klostcrbibliotheken gesammelten Bücher im Verhältniß zu
ihrer Anzahl im Ganzen doch sehr gering; denn wissenschaftlicher Geist, mochte
er nun ein ganzes Kloster oder einen einzelnen Mönch auszeichnen, gehörte
u> Deutschland immer nur zur Ausnahme. Meistens waren es biblische Bü¬
cher nebst Glossarien. Andachtsbücher, Kirchenväter, Hciligcnlegenden, Termone,
Schriften über Klosterwesen, außerdem über Dialektik und Medicin nebst et¬
lichen wenigen Chroniken, die von der Erschaffung der Welt anhebend die
Hauptdata der Weltgeschichte bis auf die Gründung des Klosters aneinander-
reihten und von da in die Spccialgcschichte des Klosters einmündeten, allein
einem schrecklichen Latein abgefaßt, auf welches die dürftige Bekanntschaft mit
Cicero, Livius und Justin oder mit Horaz und Virgil nur jden Einfluß g>-"
habt hat, daß es hie und da mit einer unpassenden antiken Redewendung oder
einem geschmacklosen Citat durchwebt ist. Und doch, von welchem unschäp-
baren Werthe sind uns diese Mönchschroniken für die Geschichte des Mittel¬
alters, wie höchst interessant ist es, darauf zu achten, auf welche Weise die
Zeitereignisse sich in dein Geiste ihrer Verfasser abspiegelten! Das Griechisch
war im Abendland so gut wie völlig unbekannt, machten sich ja die Mönch''
nicht einmal ein Gewissen daraus, den alten griechischen Text von dem
Pergament abzuwaschen, um es dann mit ihren Litaneien und Gebeten von
^ Neuem beschreiben zu können.
(Schluß in nächster Nummer).
Selten wird der Kritik das angenehme Geschäft, einen Dichter mit un-
getheilter Freude begrüßen zu können. Ost wird ein tüchtiges Talent durch
eine verkehrte Richtung verkümmert; nicht weniger oft müssen wir die gute
Absicht anerkennen, aber die Kraft reicht nicht aus. Fritz Reuter besitzt die
Eigenschaften, die einer gesunden Periode der Literatur anzugehören pflegen,
den glücklichen Jnstinct für zweckmäßige Stoffe und die Stimmung, die den¬
selben entspricht, er besitzt aber außerdem eine Dichterkraft von seltenem Umfang.
Er kann sich den besten Dichtern unserer Zeit vollkommen ebenbürtig an die
Seite stellen, und er wird, wenn diese Behauptung nicht verwegen klingen sollte,
ein schönes Blatt in unserer Literaturgeschichte ausfüllen.
Unsere Kenntniß von seinen Werken ist noch beschränkt, wir haben von
ihm nichts gelesen als die Otte Kamelien und Hanne Rute (beides in
der Hinstorfschen Verlagsbuchhandlung zu Wismar erschienen). Wir hören,
daß er schon viel geschrieben hat und unter den Freunden und Kennern der
Plattdeutschen Mundart einen geachteten Namen besitzt. Dieser Name würde
uns nicht unbedingt ein günstiges Vorurtheil erwecken; denn sobald eine Sprache
oder ein Dialekt neu in die Literatur eintritt, pflegt der Patriotismus geschäf¬
tig zu sein, jeden jugendlichen Versuch mit dem Nimbus einer classischen Dich¬
tung zu umgeben, damit man doch gleich anständig in die Reihe der Cultur¬
völker eintritt. So haben es nach der Reihe die Polen, die Russen, die Czechen,
die Ungarn u. s. w. gemacht, so scheint es jetzt auch bei den Niedersachsen der Fall
ZU sein. Manches, was uns vo» jener Seite als Leistung ersten Ranges gerühmt
wurde, ist uns äußerst mittelmäßig vorgekommen. Was aber Fritz Reuter be¬
trifft, so kommt >hin bei der Wahl seiner Stoffe die Mundart allerdings äußerst
zu Statten, er würde aber in jeder Sprache ein vorzüglicher Dichter sein.
Es sei uns gestattet, dieser plattdeutschen Bewegung gegenüber unsere
Stellung anzugeben.
Wer nicht ein Paradoxcnjüger ist, wird anerkennen, daß eine allgemeine
Schriftsprache für Deutschland nothwendig war. wenn wir uns je zu einer
wirklichen Nation erheben wollten. Daß der meißnische Dialekt den Vorzug
erhielt, lag weniger in seinem innern Werth als in der zwingenden Macht
der Verhältnisse. FreUich hat darüber die Sprache viel eingebüßt, auch noch
in neuer Zeit, seitdem durch Luthers unermeßliche Wirksamkeit die Richtung
für immer festgestellt war; denn es galt nicht blos das Volk, sondern auch
die Gelehrten für die deutsche Literatur zu gewinnen, und das konnte nur da¬
durch geschehen, daß man sich in vieler Rücksicht den Gewohnheiten der Gelehr¬
ten fügte und der Genauigkeit zu Liebe manche Anmuth und manchen Reiz
aufopferte. Es waren Pedanten, die unsere neue Sprache festgestellt haben,
Wolf und in zweiter Linie Gottsched. Das Vorbild der Lateiner und Fran¬
zosen auf einer Seite, auf der andern Seite die Kanzel und Kanzlei sind die
Quellen unseres Ausdrucks gewesen, und dieser Ursprung ist an unserer Wort¬
fügung und Satzbildung noch sehr merklich zu erkennen. Eine Reihe von
großen Dichtern und Denkern war nöthig, um der Sprache die Kraft und Fülle
zu geben, deren sie sich heute erfreut.
Die Dialekte wichen nicht ohne Widerstand; Hebel's Versuche erwarben
sich sogar bei den Hochdeutschen einen großen Beifall; einen noch bedeuten¬
deren Erfolg würde Voß errungen haben, wenn der Umfang seines Talents
größer und seine Richtung unbefangener gewesen wäre. Es war der unglück¬
lichste Einfall von der Welt, das Plattdeutsche im Gewand des Hexameters
in die Literatur einführen zu wollen. Hätte Voß in der Weise, wie er die
Otterndorfer Zustände in seinen „Stolbergschen Umtrieben^ schildert, uns das
allgemeine Leben seines Volks und mit der Gesinnung desselben auch seine
Sprache näher geführt, so würde er sür uns und für die Niedersachsen mehr
geleistet haben. In neuer Zeit hat.der Oldenburger Dr. Goldschmidt in
dieser Art dem Verständniß des niederdeutschen Wesens sehr genutzt, und wir
bedauern lebhast, daß er seit einigen Jahren aus der Literatur verschwunden
zmchein scheint.
Die Richtung aufs Realistische ist auch den Dialekten zu Statten gekommen.
Jeremias Gotthelf hat die Schweizer Redensarten mit voller Unbefangen¬
heit, Berthold Auerbach den Dialekt des Schwarzwaldes mit größerer Aus¬
wahl und in idealisirter Form angewandt. Beide haben für das allgemeine
deutsche Publikum geschrieben, sie haben daher das Hochdeutsche zu Grunde
gelegt und die fremden Ausdrücke so gut es gehen wollte erläutert.
Abgesehen von der Freude, welche ihre Landsleute daran baben mögen,
die heimischen Ausdrücke gedruckt zu sehen, freilich in einer Orthographie, die
ihnen selbst wol fremdartig vorkommen wird, hat auch für uns diese neue
Entdeckung einen großen Reiz. Denn die Dialekte sind weder durch die Kanzel
noch durch die Zeitungen, noch durch die höhere Metaphysik zersetzt worden, sie
sind indem Felde, das sie wirklich beherrschen, von ungeschwächter natur¬
wüchsiger Kraft; sie verstatten naive und humoristische Wendungen, die >rM
ihnen gar nicht nachahmen sonnen, sie haben sich noch nicht in der Schule
der Allgemeinen deutschen Bibliothek, der italienischen Sonette, der Klopstock-
scher Messiade, der Hegelschen Logik u. s. w. den gesunden Menschenverstand
verdorben, ihre Einfülle treffen daher den Nagel auf den Kopf So gebt z. B.
nichts über den glücklichen Treffer eines plattdeutschen Sprichworts. Dies ist
der Vorzug des Dialekts an und für sich; ein andrer ebenso großer wird durch
den Contrast gewonnen. Wenn in den Gegenden, wo das Plattdeutsche vor¬
herrscht, auch die Gebildeten sich im vertrauten Kreise der Mundart bedienen,
so ist doch die Sprache ihrer Bildung hochdeutsch: sie sind aus den Universi¬
täten gewesen, sie haben an Goethe, Schiller, Lessing ihr Denken und Empfin¬
den geschult, sie predigen hochdeutsch, sie machen ihre Eingaben an die Re¬
gierung hochdeutsch u. s. w. Ihre Seele'hat also gewissermaßen ein doppeltes
Leben, und wenn sie den Schah von Bildern, Empfindungen und Gedanken,
den sie ihrem hochdeutschen Leben verdanken, durchaus uicht preiszugeben
gemeint sind, so besitzen sie daneben in ihrer Mundart einen zweiten Schatz
des unmittelbaren sinnlichen Bewußtseins. Daß nun bald das Eine, bald das
Andere hervortritt und zwar Beides als etwas Positives, das eben macht den
natürlichen Humor dieser Sprache aus, den wir bei uns nur künstlich hervor¬
bringen. Die englischen Novellisten haben schon lange verstanden, diesen hu¬
moristischen Gegensatz der Volkssprache geltend zu machen. Um das aber zu
können, muß man nicht etwa aus dem Wörterbuch oder aus dem Umgang die
einzelnen Ausdrücke und Wendungen des Dialekts sich angeeignet haben, son¬
dern man muß im Stande sein, in demselben sclbststündig zu denken und em¬
pfinden. Wenn man hochdeutsche Gedanken mit Hilfe des Wörterbuchs in
den Dialekt überträgt, so hat man damit noch lange nicht im Dialekt gedacht
und empfunden.
Darin scheinen es die meisten dieser neuen Dichter zu versehen. Der
Dialekt halbem eigenes eng umschriebenes Leben, über das er nicht hinaus
kann, ohne gerade das einzubüßen, was seinen Vorzug ausmacht, die innere
Uebereinstimmung und sinnliche Unbefangenheit. So erscheinen uns z. B. bei
Claus Groth die Gedichte, in denen eine unmittelbar sinnliche Anschauung
oder ein inniges Gefühl waltet, vortrefflich, sobald er aber pathetisch oder
philosophisch wird, haben wir die Empfindung, daß es aus dem Hochdeutschen
übersetzt, mit andern Worten, daß es gemacht ist. Auch Fritz Reuter, ob¬
gleich er ein großes Gefühl für das Wirkliche hat, verfällt zuweilen in diesen
Fehler. So erzählt er einmal die Reise mehrer Wanderburschen, von denen
jeder sein Volks- oder Schelmenlied zum Besten gibt, bis endlich der letzte sie
straft, daß sie ihrer Mundart so wenig gedenken, und nun ein großartiges
Gedicht vorträgt, worin in zahlreichen Strophen die plattdeutsche Sprache mit
einer tausendjährigen Eiche verglichen wird u. s. w. Gegen das Gedicht ist'
nichts weiter einzuwenden, als daß jedes Wort in demselben gemacht ist, d. h.
der Verfasser hat sich seinen Gedanken hochdeutsch ausgearbeitet nach dem Vor¬
bilde von Schiller und Körner, und dann dieses Elaborat ins Plattdeutsche
übersetzt. Wir sind nie in Mecklenburg gewesen, wagen aber g. xriori die
Behauptung, daß ein Schmiedcgescll, der seinen Kollegen dieses Opus auf¬
tischen wollte, von ihnen für einen Narren angesehen werden würde, und mit
Recht. Denn die Kunst, sich in so weitläufigen Bildern auszudrücken, ist das
Resultat einer hundertjährigen Kulturgeschichte, welche die plattdeutiche Mund¬
art eben nicht durchgemacht hat.
Man glaube doch nicht ungestraft dit wirkliche Geschichte überspringen zu
können. Möglich ist freilich alles: warum soll man nicht auch den Faust ins
Plattdeutsche übersetzen?
Das Werdende, das ewig wirkt und lebt,
Umfaß' euch mit der Liebe holden Schranken,
Und was in schwankender Erscheinung schwebt
Befestiget mit dauernden Gedanken.
Für jedes dieser Worte wird sich gewiß auch ein plattdeutscher Ausdruck
finden lassen, und da durch Aneinanderstellung von Worten ein Satz gebildet
wird, so kann durch Uebersetzung aller dieser Worte ins Plattdeutsche gar wohl
ein Vers herauskommen, der einem Russen oder Italiener mit Hilfe des Lexi¬
kons sehr plausibel vorkommt: nur muß man einem Deutschen nicht zu-
muthen, eine solche Lüge gegen die Seele der Sprache hinzunehmen.
Denn das mögen die Niedersachsen doch nicht vergessen, daß sie vor allen
Dingen Deutsche siud! In der Hitze des Gefechts haben sie das wirklich mit¬
unter vergessen und sich grade so ausgedrückt, als wollten sie sich als eigne
Nation constituiren. Wäre es möglich, aus dem Plattdeutschen wirklich eine
Schriftsprache zu machen, die in Niedersachsen das Hochdeutsche verdrängte,
so wäre es das größte Unglück, was Deutschland widerfahren könnte, ja es
wäre der erste Schritt zu seinem völligen Ruin. Glücklicherweise ist es nicht
möglich, und das Plattdeutsche wird sich bescheiden müssen, die weniger an¬
spruchsvolle aber nützlichere Aufgabe zu übernehmen, für gewisse eng- .
beschränkte Kreise des Denkens und Empfindens, nämlich für den Kreis
des Hauses unsere wahre und allgemeine Schriftsprache zu ergänzen.
In der Ausübung hat Fritz Reuter den richtige» Jnstinct für diese Wahr¬
heit. Die beiden Werte, die wir von ihm gelesen haben, in Prosa und in
Versen, geben von dem Umfang seines Talents wenigstens eine ungefähre
Anschauung. Die kleine Erzählung, welche den Eingang zu den „Otte Kamelien"
bildet, hat zwar eine sehr gute Stimmung, aber keinen festen Bau; die Per¬
sonen sind weiter nichts als Träger dieser Stimmung. Dagegen ist in der
zweiten größern Erzählung: „ut de Franzosen dit" ein volles kräftiges
Leben, mit dem nur wenige deutsche Romane wetteifern können.
Unwillkührlich wird man an Jeremias Gotthelf erinnert. Es ist die¬
selbe wunderbare sinnliche Kraft, durch welche sich Alles, was erzählt wird, in
unmittelbarster Gegenwart der Phantasie aufdrängt; dieselbe Sicherheit in de
Charakteristik, so daß jeder einzelne Zug aus dem innersten Lebensmotiv des
Charakters hervorgeht. Man räsonnirt vielfach über den Contrast der Frei¬
heit und Nothwendigkeit, und in wiefern das eine vom andern eingeschränkt
werde. Niemand zeigt uns deutlicher, daß diese beiden Begriffe nur durch
die Abstraction geschieden werden, als der echte Dichter. Der echte Dichter
zeigt uns seine Figuren in vollständiger Freiheit, er macht nicht etwa Rechen¬
maschinen aus ihnen, die jeder beliebige. Leser ihm nachschnitzcln könnte, wenn
er nur über das Princip ihres Charakters im Reinen ist, sondern Alles, was
sie thun oder reden, überrascht uns, erregt unser Gelächter, unsere Theilnahme,
unsere Rührung, unsere Bewunderung, kurz ist uns etwas Neues. Zugleich
aber haben wir, wenn wir nun einmal das Neue erfahren haben, das ganz
bestimmte Gefühl der Nothwendigkeit: so und nicht anders mußte er handeln
und sich äußern! Die Kunst, dies beides mit einander zu verbinden, den
Leser zu überrasche» und ihn doch zugleich zu überzeugen, ist eben das Ge¬
heimniß des wahren Dichters, die unermeßliche Kluft, die ihn vom Dilettanten
unterscheidet. Der altmodische Dilettant gibt moralische Rechenmaschinen, bei
denen man schon nach der ersten Scene das Buch zumachen kann, da man
in der Hauptsache schon Alles weiß was kommen wird; der jungdeutsche
Dilettant gibt Mollusken ohne allen Knochenbau, die im Schlaf bald so
bald so handeln und reden, ohne daß man wüßte, aus welchem Grund oder
zu welchem Zweck.
Zu diesem Vorzug kommt aber noch ein dritter, den Fritz Reuter mit
Jeremias Gotthelf gemein hat. den wir nicht geringer anschlagen: der Vorzug
vollendeter Gesundheit. Es weht in dieser Erzählung eine Luft, bei der auch
dem Hypochonder wohl werden muß. Wir meinen damit nicht blos die komi¬
schen Scenen, obgleich sich auch darin in den Otte Kamelien eine Kraft zeigt,
Mit der nicht viele deutsche Dichter wetteifern können: sondern auch da. wo
er ruhig fort erzählt, folgen wir mit gespannter und heiterer Theilnahme.
Denn seine Personen sind nicht blos lebensfähig, sondern auch lebens¬
würdig; sie flößen uns nickt blos den Glauben an ihre Wirklichkeit ein. sondern
auch den Wunsch nach ihrer Wirklichkeit: unter solchen Leuten möchten wir
gern leben. Nicht etwa Tugendspiegel oder Engel; im Gegentheil, rechtliche
Erben von Adam und Eva. mitunter auch verschroben, leichtsinnig, abgeschmackt,
aber doch lauter herrliche Menschen. Das ist eben der Zauber des wahren
poetischen Spiegels, daß er die Figuren um so mehr verschönert, je treuer er
sie darstellt. Nicht blos Menschen wie der alte Herr Amtshauptmann Weber
oder Fickchen Voß, die man allerdings nicht blos im poetischen Spiegel
lieben würde, sondern alle miteinander sind Ideale: Mamsell Westphalen und
der preußische Windbeutel; Fritz Saalmann, der verschmitzte Gassenjunge, und
der würdige Rathsherr, der in Gedanken die Feldzugspläne gegen die Fran¬
zosen leitet. Bei diesem Roman kann man wirtlich sagen, daß es Einem leid
thut, wenn er zu Ende ist, daß man gern mit diesem närrischen Volk noch
eine Weile zu thun hätte; daß man aber, wenn man das Buch zuschlägt, die
Menschheit um einige Procent lieber hat. Und das ist gut in unserer Zeit,
wo man nicht selten die Aufregung, die auch ein begabter Dichter veranlaßt,
mit einem recht häßlichen Katzenjammer bezahlen muß.
Einen entschiedenen Vorzug hat'Fritz Reuter vor Jeremias Gotthelf: er
erzählt reinlicher. Der Schweizer Dichter macht uns zuweilen durch die ewigen
Episoden, durch die eingestreuten Predigten und durch die Weitschweifigkeit,
mit denen er seinen Nützlichkeitsideeu nachgeht, ungeduldig; in dieser Novelle
dagegen erlahmt das Interesse nie. Nur der Schluß ist dem Früheren nicht
ganz ebenbürtig: durch die Einmischung' eines neuen und etwas gewagten
Motivs, daß der dumme Müller glaubt, 'für einen Scheffel Getreide einen
Scheffel Mahlgeld nehmen zu können, wird die Ordnung etwas gestört.
Ein so völliges Ebenmaß wie in dieser Novelle herrscht in dem Gedicht
Hanne Unke allerdings nicht; dagegen hat es einzelne Schönheiten, die
noch ein ganz anderes Talent verrathen, als sich in den „Otte Kamelien" zeigt.
Es wird am zweckmäßigsten sein. Einiges mitzutheilen.
Hanne Unke ist ein Schmicdcgcsell aus dem mecklenburgischen Dorf
Gattin, der auf die Wanderschaft geht. Sein Vater erträgt den Abschied mit
männlicher Würde, die gute Mutter mit vielen Thränen; sie steckt ihm beim
Abschied noch einige Thaler und einige Butterbrodte (Bottings) in die Tasche
und in der Besorgniß, er werde seinen neuen Rock verlieren, bindet sie ihm
denselben mit ihrem Strumpfband fest. Bevor er scheidet, nimmt er noch
vom Herrn Pastor und vom Küster Abschied. Den letzteren, der als ge¬
bildeter Mann sich hochdeutsch zu reden bemüht und in diesem Bemühen
gern in die seltsamsten Formen verfällt, (z. B. die Endungen auf — iss) trifft
er grade bei den Bienen (Immen), und der wackere Pädagog benutzt dieses
Zusammentreffen zu einer moralischen Lehre.
Er bittet den Gesellen, wenn er auf seiner Wanderschaft nach Schlesien
kommen sollte, an eine alte Liebe des Küsters einen zärtlichen Brief mitzu¬
nehmen. Leider hat ihn seine Frau belauscht, sie kommt dazu, macht ihm
eine Scene und zerreißt den Brief. Der arme Küster gibt seinem jungen
Freund die Warnung:
'
Auch hatte er es eigentlich gar nicht so böse gemeint:
Ich hab hauptsächlich blos den Brief geschrieben,
' Mich in die Liebes-Schreibart einzuüben,
Sie kann daher für einen armen Schriftgelehrten eine gute Erwerbsquelle
werden.
Nachdem er seine Abschiedsbesuche vollendet, begibt sich der arme Rute
nun wirklich aus die Wanderschaft.
Das ist echte Poesie! und so sind alle gemüthlichen Scenen dieses Ge¬
dichts durchgeführt. — Nun aber verändert sich die Scene um den schlafenden
Hanne Unke. Auf dem Weidenast über seinem Kops sitzt Lotte, das Sperlings-
Weib, und brütet über sechs bunten Eiern.
Nach und nach wird die ganze Natur lebendig. Vögel von allen Gat¬
tungen treten auf, jede in der ihr eigenthümlichen Art und jedes Individuum
selbstständig; es sind auch Stutzer darunter, die sich bemühen hochdeutsch zu
reden wie der gute Küster; auch die Frösche kommen aus den Sümpfen her¬
vor. Mit einem wunderbaren Blick hat der Dichter diesen Geschöpfen ihre
kleinen Geheimnisse abgelauscht und gibt sie, obgleich phantastisch aufgeputzt,
mit großer Treue wieder. Theils leben diese Vögel für ihre eigenen Häus-
lichen Sorgen, theils bilden sie eine weitläufige Verschwörung, um Hanne Unke
mit der ihm bestimmten Braut zusammenzubringen und alle Hindernisse zu
beseitigen, mit Anlehnung an ti« altdeutsche Volksweise, welche den Vögeln
diese Eingriffe in die Rolle der Vorsehung gern verstattet. Der Dichter hat
aus der alten Sagenwelt ein ^sinnig-humoristisches Bild gemacht, das in seiner
bunten Mannichfaltigkeit doch eine harmonische Grundfürbung trägt.
Nur eins stört den Einklang: durch das Ganze zieht sich zugleich eine
tragische Geschichte, ein Criminalfall. zu dessen Entdeckung die Vögel gleich-
falls beitragen müssen. An sich entspricht auch das der alten Sage, aber da
hier die Vögel humoristisch behandelt sind, so verlieren sie ihre mythologische
Berechtigung, und man wird mitunter zweifelhaft, welche Stimmung vor¬
klingen soll. — Für diesen Uebelstand wird man aber reichlich entschädigt
durch die großen Schönheiten des Einzelnen, die alle den Dichter von Gottes
Gnaden verrathen. Je fühlbarer der Mangel an wirklich productiven Kräften
bei uns ist, desto mehr fühlen wir uns verpflichtet, da wo sie sich in einem so
hohen Maße zeigen, die öffentliche Aufmerksamkeit hinzulenken.
Seit unserm letzten Blick auf die Revolution in den Vereinigten Staaten
ist die Möglichkeit eines definitiven Zerfalls der Union der Wahrscheinlichkeit
bedeutend naher gerückt. Theils durch die Sympathien, theils durch die
Willensschwäche Präsident Buchanans gefördert, durch Leidenschaft über ihr
wahres Interesse verblendet, sind die Demokraten des Südens bereits so
weit gelangt, daß sie ti>e Bevölkerung von sieben Staaten vermochten, den
Austritt aus der Union zu beschließen, und da die Leidenschaft sich nicht be¬
rechnen läßt, ist schwer zu sagen, was sich zunächst daraus entwickeln wird.
In den Nordstaaten war man nach den letzten Berichten zwar geneigt, auf
ein Kompromiß einzugehen, die ausgetretenen Südstaaten aber wollen von
einer Umkehr auf dem beschrittenen Wege nichts wissen und fahren, während
der Norden in Washington über den Frieden deliberirt, mit Rüstungen fort.
Die Partei der Vermittelung zwischen den beiden Gruppen ist sehr thätig,
hat jedoch bis jetzt nur so viel erreicht, daß es noch zu keinem bewaffneten
Zusammenstoß gekommen ist. Verschiedene Vorschlüge sind ersonnen worden,
um den Süden und zugleich den Norden zufrieden zu stellen, aber weder der
Kongreß, in welchem jetzt die Republikaner die Mehrheit haben, noch die
Führer des im Entstehen begriffenen Sonderbundes haben dieselben bis jetzt
annehmbar befunden. Virginien bemüht sich nach beiden Seiten hin, die Ein¬
willigung in die Bedingungen zu erlangen, die der Union wieder Halt geben
sollen. Kentucky und Tennessee haben den Antrag auf Losreißung, ja selbst den
auf Berufung einer Convention zur Berathung über eine solche Maßregel rund
weg abgewiesen. Missouri und Arkansas schwanken noch. Maryland zeigt
sich entschieden unionsfreundlich. In Nordcarolina die Erklärung, austreten
Zu wollen, falls kein Vergleich zu Stande kommt. Zu Montgomery in
Alabama eine Convention der ausgetretnen Staaten, welche dieselben zu einer
südlichen Union constituirt, in Jefferson Davis einen Präsidenten wählt und
die Trennung vom alten Bunde feierlich für unwiderruflich und ewig erklärt.
Der bisherige Präsident, seit Anfang des Jahres etwas mehr Energie
entwickelnd, redet in seiner letzten Botschaft zur Sühne, erklärt aber zugleich, daß
°s seine Pflicht, das Bundcseigenthum zu schützen, und daß ein blutiger Zu¬
sammenstoß nicht zu vermeiden, falls dasselbe von den Separatisten im Süden
angegriffen werde. Der neue Präsident, wie es scheint, ein ähnlicher Charakter
Wie Jackson, wird jedenfalls weitergehen. Er läßt sein Organ in Svringsield
andeuten, daß er die Union mit allen Mitteln aufrecht erhalten werde. Der
vierte März wird zeigen, wie dies zu verstehen, die nächsten Wochen nach der
Inauguration werden darthun, wie weit ein von Lincoln etwa beabsichtigtes
energisches Einschreiten gegen den Sonderbund der Baumwollenstaoten von
den andern Sklavenstaaten gebilligt und vom freien Norden unterstützt wird.
Es ist möglich, daß man sich doch noch'in der elften Stunde vergleicht.
Aber größer ist die Wahrscheinlichkett, daß die äußersten Parteien das Feld
behalten und die Trennung definitiv ausgesprochen wird, welche einen südlichen
Sklavenhalterbund neben den Rumpf der bisherigen Union stellt, und denkbar
ist sogar, daß der Norden bei besserer Ueberlegung es bis auf Weiteres in
seinem Interesse findet, wenn die Scheidung sich vollzieht, und so derselben
kein Hinderniß bereitet. Im letzteren Fall ist kaum anzunehmen, daß die so¬
genannten Borderstaaten, d. h. diejenigen Sklavenstaaten, die unmittelbar an
die freien grenzen, sich der Gefahr aussetzen werden, die ihr Anschluß an den
projectirten Sonderbund im Gefolge habe» würde. Gewaltmnßregeln Lincolns
gegen letzteren könnten leicht einen und den andern jener Borderstaaten noch
zur Opposition gegen die Centralregierung treiben, wogegen, wenn man die
Baumwollenstaatcn aus der Union entließe und mit den übrigen Sklaven-
staaten ein Kompromiß einginge, nicht nur nichts Wesentliches verloren, son¬
dern in mancher Beziehung Bedeutendes gewonnen werden würde. Mit den
Feuerköpfen Südcarolinas und deren Genossen kann die republikanische Partei
keinen Vergleich eingehen, ohne ihre Grundsätze und damit ihre Existenz auf¬
zugeben. Mit den Borderstaaten kann sie aus Bedingungen unterhandeln, die
für sie weit günstiger sind. Jene verlangen Herrschaft über den Norden,
diese werden sich schließlich mit Duldung von Seiten des Nordens und billiger
Rücksichtnahme auf Verhältnisse begnügen, die sich im Handumdrehen nicht ändern
lassen. Gewährt man diese Duldung, so muß über kurz oder lang das Ge¬
gentheil von dem eintreten, was sich bei einem sofortigen bewaffneten Zwang
gegen den neuen Sonderbund ereignen könnte. Wie bei einem solchen leicht
die Leidenschaft einen der Borderstaaten in das Lager der Secessionisten führen
und dieses Beispiel andere mit fortreißen kann, so wird eine auf billige Be¬
dingungen basirte Ncconstituirung der Union, welche die Borderstaaten einschließt,
auf den südlichen Sonderbund in politischer und wirthschaftlicher Beziehung
einen solchen Druck ausüben, daß binnen wenigen Jahren nicht dagegen
auszukommen sein wird. Man wird dann einsehen, daß man einen Fehler
begangen, sich zu trennen, daß wie die nördlichen Sklavenstaaten auch die
südlichen unter jenem Kompromiß ihre Interessen verfolgen können, und man
wird zur Union zurückkehren unter Bedingungen, die das Ueberwiegen der
Sklavenhalter für immer ausschließen.
Ein solcher Gang der Ereigni.sse wäre, vorausgesetzt, daß gegen den süd-
lichen Sonderbund nicht Gewalt gebraucht würde, um so wahrscheinlicher, als
die Interessen der Staaten desselben keineswegs durchgängig gleiche sind, als
z. B. Südcarolina und Georgia frcihändlerisch, Louisiana seiner Zuckerplan¬
tagen halber schutzzöllnerisch gesinnt ist. als Südcarolina ans Grund seiner
bisherigen Stellung die Führerschaft in der neuen Conföderation beanspruchen
wird, während dieselbe bei Berücksichtigung der Größenverhältnisse dem Staat
Georgia zukommt, als ferner die Baumwollcnstaaten in sehr viele» ihrer Be¬
dürfnisse und zwar in den wesentlichsten, vom Norden abhängen, und als end¬
lich der neue Staatenbund, durch den Widerspruch des Nordens nicht mehr
gehindert, 'sehr bald Versuche zur Annexion anderer amerikanischer Länder,
Cubas u. a. machen und dadurch in Conflicte mit den großen europäischen
Mächten gerathen würde, denen er allein nicht entfernt gewachsen sein würde.
Mehr läßt sich gegenwärtig nicht sagen. Dagegen wird es von Interesse
sein, ein Bild von dem Stnatcncomplcx zu erhalten, den die Baumwollen-
rcpublikcn, deren Trennung bereits vollzogen ist, ausmachen. Indem wir im
Folgenden versuchen ein solches Bild aufzustellen, fügen wir zum Schluß einige
Notizen über die noch zweifelhaften Südstaaten hinzu, uns vorbehaltend,
später einen Vergleich zwischen dem Norden und dem Süden sollen zu
lassen.
Ein Blick auf die Karte zeigt nachstehende Gruppirung der Sonder¬
bundsstaaten: Zuerst im Nordosten das unregelmäßige Dreieck von Nord-
carolina, daneben im Westen das bedeutend größere fünfseitige Georgia, dann
Alabama, ein fast regelmäßiges längliches Viereck bildend, ferner, die beiden
letztgenannten im Süden begrenzend, die Halbinsel Florida, die einige Ähn¬
lichkeit mit der Gestalt Italiens hat, sodann im Westen von Alabama der
Staat Mississippi und südwestlich von diesem wieder Louisiana, endlich, im
fernsten Westen und reichlich so ausgedehnt, um vier mittelgroße Staaten da¬
raus zu bUden, das vielkantige Texas. Die Grenzen dieses Staatencom-
Plexes sind: im Nordosten und Norden Nordcarolina. Tennessee. Arkansas. das
Jndiancrterritorium und Nebraska. im Westen Neumexiko, im Südwesten die
mexikanische Republik, im Süden der mexikanische Golf und im Südosten end¬
lich das Atlantische Meer.
Ueber Südcarolina ist in einem frühern Hefte (vor, Jahrgang Ur. 52)
das Nothwendigste mitgetheilt worden, und wir beschränken uns daher hier
auf eine Schilderung Charlestons, seiner Haupthafenstadt, und Columbias,
seiner politischen Hauptstadt, die dort nur kurz erwähnt wurden. Man hat
Charleston mit Neuyork verglichen. Aber die Ähnlichkeit besteht nur darin,
daß beide Städte an einer Bai mit schmalem Eingang, beide auf einer Land-
Zunge zwischen langgestreckten Gewässern im Osten und Westen liegen, daß bei
beiden sich der ausländische Handel auf der Ostseite concentrirt, daß die Grund-
risse beider Städte sich in einigen Beziehungen gleichen und daß vor beiden
kleine befestigte Inseln liegen. Im Uebrigen ist der Contrast größer als die
Uebereinstimmung: die Umgebung von Neuyork ist hügelig, anmuthig und
unendlich verschieden, die von Charleston flach, interesselos und einförmig,
und der Cooper- und der Ashley-River sind mit dem Hudson und dem mäch¬
tigen East-River so wenig zu vergleichen, wie die Ausdehnung und Ein¬
wohnerzahl Charlestons mit der Riesenstadt auf der Manhattaninsel.
Charleston ist mie alle großen Städte Nordamerikas im Schachbretstyl
gebaut. Querstraßen über die flache Landzunge von Fluß zu Fluß laufend,
schneiden im rechten Winkel und in genauen Abständen von einander lang¬
gestreckte Hauptstraßen, die sich von Süden nach Norden hinaufziehen. Das
Ganze gewährt einen angenehmen, aber keineswegs großartigen Anblick. Bei
ihrer flachen Lage sieht die Stadt, von der Bucht aus betrachtet, wie ein Mensch
aus, der bis unter die Arme im Wasser steht, und sehr oft ereignet es sich,
daß Überschwemmungen, ganze Stadtheile unter Wasser setzend, den Schein
zur Wirklichkeit werden lassen. Das Innere unterscheidet sich sehr wesentlich
von den großen Städten des Nordens, indem die Architektur hier vor Allem
von dem Bestreben geleitet wird, den Unbequemlichkeiten des heißen Klimas
entgegenzuarbeiten. Die meisten Straßen sind weniger breit als in andern Orten.
Bedeutende Plätze fehlen ganz. Nur die Minderzahl der Häuser ist von Backsteinen
erbaut. Fast alle Privatwohnungen sind hölzerne, nicht sehr hohe Gebäude,
die meist blendend weiß angestrichen, mit luftigen, zierlichen Veranden und
grünen Sommerladcn versehen und mit üppig wuchernden Schlingpflanzen
bewachsen sind. So nimmt sich die Stadt mit Ausnahme der Geschäfts¬
straßen mehr wie ein großes Dorf oder wie eine jener anmuthigen Kleinstädte
im Innern von Pennsylvanien und den Neuenglcmdsstaatcn aus. Von grö¬
ßeren Gebäuden sind nur das Zollhaus, ein gewaltiger mit weißem Marmor
bekleideter Bau, erst im vorigen Jahr, und zwar mit einem Kostenaufwand
von fast zwei Millionen Dollars vollendet, die Cityhall und die Börse, die>
aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammen, und einige Hotels zu nen¬
nen, welche letztere an Eleganz und Comfort denen von Neuyork nicht nach¬
stehen.
Unter die gesunden Orte ist Chcirlcston nicht zu rechnen, indeß ist es, da
die Nähe des Meeres die Atmosphäre von den Fieberdünsten reinigt, welche
dem Boden weiter im Innern entsteigen, wenigstens gesünder gelegen, als
der größte Theil des unmittelbar daran grenzenden Landes. Die Eingebornen
werden nur selten Opfer der giftigen Fieber, denen der Fremde hier ausge¬
setzt ist. aber ihr Aeußeres macht den Eindruck, als wären sie alle vor Kurzem
sehr krank gewesen und befänden sich jetzt im Stadium langsamer Genesung-
Häufig begegnet man frühzeitig gealterten, selten nur wirklich alten Leuten.
Der Ton in der Gesellschaft ist, wenn nicht politische Gespräche ihn stören,
ein sehr angenehmer. Nicht leicht findet man in den vereinigten Staaten so
viel Gastfreundschaft und heitere Geselligkeit als hier. Weder so anspruchs¬
voll wie durchschnittlich die Einwohner von Boston, noch so steif, wie die von
Philadelphia, offen und zutraulich, stimmen sie mit ihrer Art und Weise den
Fremden sofort zur Behaglichkeit. Die Erklärung davon liegt wohl haupt¬
sächlich in dem Umstände, daß die Stadt von englischen Adeligen (1672) ge¬
gründet wurde, denen sich später französische Hugenotten zugesellten.
In commercieller Beziehung ist Charleston der bedeutendste Platz zwischen
Potomac und Mississippi. Nicht nur daß der ganze Exporthandel Südcarolinas
hier seinen Mittelpunkt hat, auch der von Nordcarolina wird indirect durch
diese Stadt vermittelt, und dasselbe gilt zum Theil auch von dem des west¬
lichen Nachbarstaats Georgia. Baumwolle, deren Südcarolina mehr erzeugt,
als irgend ein anderer atlantischer Staat, bildet natürlich den Hauptausfuhr¬
artikel. Weniger gut geeignet ist der Platz als Importhafen. Die Bevölke¬
rung der nächsten Umgebung ist im Vergleich mit der im Norden und Westen
der Union spärlich, und außerdem kann kaum die Hälfte der Einwohner in den
angrenzenden Bezirken als Konsumenten der Haupteinfuhr des Hafens angesehen
werden, da man die Schwarzen fast ohne Ausnahme mit Lebensmitteln, die
in den Nordweststaaten erzeugt werden, beköstigt und sie mit Osnaburg. einem
groben Baumwollenzeug, kleidet, das in den Südstaaten gefertigt wird, sodaß
nicht nur ausländische Fabrikanten, sondern auch die von Neuengland von aller
Concurrenz ausgeschlossen sind. Die dichtere Bevölkerung in den weiter westlich
gelegenen Baumwollenstaaten versorgt sich mit ihren Bedürfnissen vermittelst
ihrer eignen Häfen, z. B. Mohne und Neuorleans, und selbst in Nord- und
Südcarolina hat Charleston nicht das ausschließliche Lieferungsrecht, sondern
theilt es mit den nördlicher sich öffnenden Seehäfen.
Wenn der Platz trotzdem einen bedeutenden Handel treibt, so hat er doch
keineswegs das Aussehen einer wachsenden Stadt. Seit siebzig Jahren hat
sich seine Bevölkerung noch nicht einmal verdoppelt, während sie sich in andern
amerikanischen Städten vervierfacht, in einigen in nur halb so langer Zeit
verzehnfacht hat*). Bon 1810 bis 1320 stieg sie nur von 24,711 auf 24,780.
Zehn Jahre später besaß.Charleston etwas über 30.000 Einwohner. 1840 hatte
sich diese Zahl wieder auf 29,261 vermindert, 1850 betrug sie 42,985. jetzt ist
sie wieder auf 40,192 gefallen, was eine Abnahme um ö Procent ist, wäh¬
rend andere große Städte Nordamerikas in dieser Zeit durchschnittlich um 50,
sechs derselben sogar um 100, zwei um 200 Procent zugenommen haben.
1850 war Charleston seiner Bevölkerung nach die zehnte Stadt der Union,
jetzt ist sie die zwanzigste in der Reihe.
Wir begeben uns jetzt auf der Eisenbahn zunächst nach Columbia, der
Hauptstadt Südcarolinas, die etwas über hundert englische Meilen nordwest¬
lich von Charleston liegt. Die Eisenbahn hat auf den meisten Strecken nur
ein Gleis, und sie führt uns zunächst durch die öden Sumpfstrecken des Tide-
swamp. die von jeder Fluth mit Meerwasser bedeckt werden, dann durch etwas
höher gelegene Moräste, in denen Reis gebaut wird, dann in ein Hügelland,
welches großentheils dürr und sandig ist. aber zwischen den weitgedehnten
Harzfichtenwäidern, welche es bedecken, auch fruchtbare Adern zeigt, die, wo
sie unbebaut sind, entweder grobes Gras und prächtige Blumen aller Art, oder
Laubhölzer, Eichen, Hickorybäume und süßduftende Magnolien tragen. Colum¬
bia liegt, da in den amerikanischen Republiken die Wahl der Hauptstädte meist
durch keine andere Rücksicht als die. möglichst genau die geographische Mitte
des Landes zu treffen, geleitet wird, in einer vollkommen unfruchtbaren Gegend,
die dem Auge nichts als unabsehbare Fichtenwälder bietet, und ist ein unbe¬
deutendes Oertchen an einem unbedeutenden Fluß, dem'Congaree. Wie bei
der Mehrzahl der amerikanischen Städte neueren Ursprungs sind die Straßen
schnurgerade, sehr breit und meist mit Bäumen besetzt, unter denen die pracht¬
volle Pride of Jndia am häufigsten ist. Unter den öffentlichen Gebäuden, zu
denen die Universität von Südcarolina gehört, ist nichts, was der Beschreibung
werth wäre. Im Uebrigen ist es eine saubere kleine Stadt, die sich sofort
als Wohnort einer höhern Klasse der Gesellschaft charakterisirt. Außer dem
Gouverneur und andern Oberbeamten des Staates haben auch viele Pflanzer,
deren Besitzungen in der Nähe sind, hier ihren wesentlichen Aufenthalt.
Von hier führt eine Eisenbahn, fast ohne Unterbrechung durch finstere Nadel¬
wälder laufend, nach der Mitte des Staates Georgia, der von Südcarolina
durch den Savannahstrcnn getrennt wird, und zwar zunächst nach dem hart
an der Grenze gelegnen Augusta, dann nach Milledgeville, der Hauptstadt
Georgias. Der Savannah, den wir bei Augusta auf einer Brücke überschrei¬
ten, ist ein trüber, langsam fließender Strom, -dessen User hier mit dichtem Wald
bewachsen sind, und dessen Tiefe gerade hinreicht, um eine Verbindung zwischen
Augusta und Savannah. der Haupthandelsstadt des Staates, vermittelst flach
gehender Dampfboote zu ermöglichen. Augusta liegt auf einem Hügel über
dein Flusse und hat etwa 12,000 Einwohner, von denen, wie in sast allen
dieser südlichen Städte und Städtchen, reichlich die Hälfte aus Negern besteht.
Die mit dem Strome parallel laufenden Hauptstraßen haben eine ungeheure
Breite, der mit Ausnahme der Pennsylvania-Avenue zu Washington selbst in
Amerika nichts Aehnliches gleichkommt. Die öffentlichen Gebäude sind groß,
aber ein geschmackloses Gemisch der verschiedensten Style, die nüchterne back¬
steinerne Nützlichkeit, in die anspruchsvolle Portale, aus Griechenland inlportirt,
führen, und die man, damit sie imposanter aussehe, mit einer gewaltigen Kup¬
pel gekrönt hat. Dagegen sind die Privatwohnungen meist sauber, einige so¬
gar elegant, und die hübschen kleinen Landhäuser auf den sanft anschwellenden
Hügeln hinter der Stadt bilden einen wirklichen Schmuck der Gegend. Trotz
seiner Lage im Binnenland ist Augusta ein ziemlich lebhafter Handelsplatz, da
die Pflanzer der westlichen Grafschaften hier ihre verkäuflichen Producte zur
Versendung nach Savammh und Charleston aufspeichern und andrerseits hier
die Bedürfnisse einkaufen, die sie nicht selbst erzeugen.
Milledgeville, wohin wir ebenfalls auf der Eisenbahn und durch ebenfalls
meist mit Nadelholz bewachsenes Land gelangen, liegt am Oconeefluß fast ge¬
nau in der Mitte Georgias, hat 7500 Einwohner, ein Staatshaus, wo die
Legislatur sich versammelt, ein Arsenal und mehre Banken, und ist am ein¬
fachsten beschrieben, wenn man es ein weitläufiges, regelmäßig angelegtes Dorf
mit einigen Dutzend städtischer Gebäude nennt. Statt es weiter zu schildern,
überblicken wir von hier als dem in mehrfacher Hinsicht passendsten Punkte den
ganzen Staat Georgia. Derselbe trägt seinen Namen von König Georg dem
Zweiten, der 1732 das zwischen dem Savannah- und dem Alatamahafluß ge¬
legene Land an eine von James Oglethorpe geleitete Colonisationsgescllschaft
verlieh, damit dieselbe dort eine Niederlassung gründe, die theils als Abzugs¬
kanal für das englische Proletariat, theils als Vorposten gegen Spanier und
Franzosen dienen sollte. 1776 wurde die britische Colonie, die sich aus diesen
Ansängen entwickelt hatte, zum unabhängigen Freistaat erklärt. 1778 gab
dieser sich eine Verfassung, die mit geringen Abänderungen noch jetzt gilt. Ihr
zufolge hat die aus einem Senat und einem Abgeordnetenhaus bestehende
Generalversammlung die gesetzgebende, ein Gouverneur die vollziehende Gewalt.
Die Mitglieder der Legislatur werden alljährlich vom Volke gewählt, der
Gouverneur auf zwei Jahre. Die richterliche Gewalt wird von einem Obcr-
gerichtshof, dessen Mitglieder von der Generalversammlung auf drei Jahre
gewählt werden, und von Untergerichten, deren Stellen das Volk auf vier
Jahre besetzt, ausgeübt. Jeder 21 Jahre alte Bürger, sowie jeder Resident
(d. h. jeder sich zum Bürgerrecht gemeldet habende Fremde) der seit einem
Jahre Steuern zahlt und seit sechs Monaten in dem Wahlbezirk wohnt, wo
er stimmen will, ist zum Mitwählen berechtigt. Zum Buudescougreß sendet
der Staat Georgia acht Abgeordnete.
Der Flächeninhalt des Staates beträgt 53000 englische oder 2728 deutsche
Quadratmeilen, die Einwohnerzahl jetzt wahrscheinlich über eine Million, wenn
wir zu 888,726, dem Ergebniß der Zahlung von 1850, einen zehnjährigen
Zuwachs von 18 Procent rechnen, wie er sich in den Südstaaten durch die
letzten Censustabellen herausstellte. Negersklaven hatte der Staat vor zehn
Jahren 349,203, eine Zahl, die sich jetzt auf 400,000 gesteigert haben wird.
Theilweise schiffbare Flüsse sind der Coosa, Savannah, Oconce. Oakmulgee,
Alatamccha, der Se. Mary-, der Flint- und der Apalachicola-River, welcher letz¬
tere auf einer Strecke von etwa 150 englischen Meilen die Grenze gegen Ala¬
bama bildet. Im Süden an der Grenze von Florida streckt sich der große
Oketinokecsumpf hin.
Der Staat Georgia besteht aus dem Festlande und einer hart an der
Küste liegenden Reihe von Inseln, von denen Wassan, Ossabaw, Se. Cathe-
rine, Sapello, Se. Simons. Jekyl und Cumberland die größten sind, und
deren cultivirte Striche die ihrer besonderen Güte halber berühmte Sea-Jsland-
Baumwvlle liefern, während das rohe Land Tannen-, Eichen- und Nußbaum-
waldungcn trägt. Die mit vielen Buchten gezähnte Küste des Festlandes ist
in einer Breite von einer deutschen Meile salziges unbewohntes Wattenland,
an das sich weiter nach innen cultivirbarer und theilweise zu Reis-, Zncker-
und Baumwollenplantagen verwendeter röthlicher Morastboden schließt. Etwa
100 englische Meilen weiter hinauf wird das Land hügelig, der Boden schwarz
und zum Bau von Tabak, Weizen und Mais geeignet, doch gleichen einzelne
Theile an der Grenze von Südcarolina der Mitte des letzteren Staates, indem
sie ebenfalls mit großen Fichtenwäldern bedeckt sind. Der Nordwesten, noch
wenig angesiedelt, wird von den Blue Mountains durchzogen, die in ihren
schönen Thälern noch vielfach Gelegenheit zur Gründung von Ansiedlungen
bieten, und wo sich in und bei dem Städtchen Dalton in Warren-County auch
eine gut gedeihende Niederlassung von Süddeutschen findet. Am reichsten ist
der Boden und am gesündesten das Klima, wo das Gebirge in die Ebene der
Grafschaften Chattooga. Floyd, Caß. Cherokee, Forsyth, Hall und Franklin
ausläuft und eine gegen Norden und Westen geschützte schiefe Fläche bildet.
In den südlicheren Gegenden sind die Sommer erschlaffend heiß, und die Küsten¬
striche sowie die Flußthäler gehöre» zu den ungesundesten Theilen der ganzen
Union.
Im gebirgigen Westen wird etwas Eisen, Blei und Gold gefunden. Die
Viehzucht betreibt man so nachlässig, daß der größere Theil des Bedarfs an
gesalzenem Fleisch aus dem Norden eingeführt werden muß. Auch der Ge¬
treidebau liefert nicht genug Korn für den Verbrauch. Der Ausfuhrhandel
umfaßt nur Reis. Baumwolle, etwas Zucker und Tabak, sowie Holz und Pech,
und der Export hat einen jährlichen Durchschnittswerth von 7 bis 8 Millionen
Dollars, während der Import auf etwa 750.000 Dollars veranschlagt wird.
Die gewerblichen Etablissements beschränken sich aus einige Eisenwerke, Braune-
Weinbrennereien, Gerbereien und auf Fabriken, in denen grobe Wollen- und
Baumwollenstoffe zur Bekleidung der Sklaven gefertigt werden.
Die Banken des Staates besaßen 1855 ein Grundcapital von 15 Millio¬
nen Dollars. Ihre Noten circulirten zu anderthalb Procent unter dem Nenn¬
werts)?. Die Staatsschuld betrug 1858 2,632,722 Dollars. An Eisenbahnen
besitzt Georgia die von Savcmncch nach Macon führende 192 englische Mei¬
len lange Central-Railroad, die 101 Meilen lange Macon- und Western-, die
170 Meilen lange von Augusta nach Atlanta führende Georgia-, die 40 Meilen
lange Athens-Bahn, die 102 Meilen lange West- und Atlantic-Bahn und
einige kleinere, im Ganzen 975 Meilen, wogegen der beträchtlich kleinere Staat
Neuyork 2685 Meilen hat. Bon den beiden Kannten des Staates wird nur der
von Brunswick nach dem Alatainaha gebende noch befahren, der etwa zwölf
Meilen Länge hat.
Die größte Stadt Georgias ist Savanncch, welches gegen 16,000 Einwohner
hat und an der Mündung des Savannahflusscs in den Tibeesund liegt. Es
treibt lebhaften Handel, hat etwas Rhederei und besitzt einige hübsche öffent¬
liche Gebäude, zu denen die Börse, die Akademie, die eine Presbytericmerkirchc
und das Theater gehören. Ein anderer nicht unbedeutender Hafenplatz ist
Darien, am Ausfluß des Alatamaha gelegen und von etwa 6000 Menschen
bewohnt. Sonst sind nur noch das an beiden Ufern des bis hierher mit
Dampfschiffen befahrenen Oakmulgee sich hinziehende Macon, das, erst 1824
gegründet, im Jahre 1855 schon 5200 Einwohner hatte und so zu den blü¬
hendsten Orten des Südens gehört, Columbus, dessen 5000 Einwohner einige
Fabriken betreiben, und Athens, wo sich die Universität Georgias befindet, zu
erwähnen. Von den übrigen Städtchen des Staates besitzt keines viel mehr
als tausend Einwohner.
Wir werfen von Milledgeville. ehe wir unsere Fahrt auf Eisenbahnen
und Dampfschiffen nach Alabama und Mississippi fortsetzen, gleich noch einen
kurzen Blick ans den von andern als Geschäftsreisenden selten besuchten, wenig
^wohnten Nachbarstaat Georgias im Süden, das im Jahr 1819 von Spa¬
nien an die Union verkaufte Florida, welches seinen Namen vom Tage seiner
Entdeckung Pasqua Florida (Palmsonntag) hat. Der Flächeninhalt desselben
beträgt 59,268 englische oder 2788 deutsche Quadratmeilen, die Einwohner-
Zahl jetzt wahrscheinlich an 100,000 Seelen, worunter sich etwa 48,000 Neger¬
sklaven befinden, mögen. Im Westen wohnen noch viele Spanier, auch findet
sich hier noch ein schwacher Rest von Seminolen, mit denen noch im vori-
Sen Jahrzehnt Krieg geführt wurde. Die gesetzgebende Gewalt ruht in den
Händen eines Senats, der aus 19, und eines Abgeordnetenhauses, das aus
40 Mitgliedern besteht, die vollziehende übt ein Gouverneur aus. der drei
Jahre fungirt, währeud die Senatoren auf vier, die Abgeordneten nur auf
zwei Jahre gewählt werden. Jeder weiße 21 Jahre alte Bürger oder Resident
des Staates, welcher zwei Jahre in Florida und sechs Monate in der Grafschaft,
wo er wählen will, gewohnt hat, in die Miliz eingereiht oder gesetzlich von der¬
selben befreit ist. hat Stimmberechtigung. Zu dem Congreß in Washington sendet
Florida nur einen Repräsentanten. Schulden hatte der Staat bis auf das Jahr
1850 keine, 1858 betrug die fundirte Schuld 158.000 Dollars. Das Land ist
flach und erhebt sich mit seinen höchsten Punkten nur einige hundert Fuß über das
Meer. Auf der Ostseite der Halbinsel sind die Buchten, deren dieselbe sehr
viele hat, nur kleineren Fahrzeugen zugänglich, wogegen die der Westseite auch
für große Schiffe gute Häfen bilden. Die Hauptflüsse sind der Se. Mary,
der Se. John, dessen Bett sich oft seeartig erweitert, der Suwannee, Ocklockony,
Apalachicola, Choctawhatchce, Se. Joseph und Escambia. Landseen gibt es
namentlich in der Südhälfte des Staates eine große Anzahl. Hier erstrecken
sich vom Ufer des großen Okeechobeesces nach Süden hin die sogenannten
Everglndes, Sümpfe, die einen großen Theil des Jahres mit Wasser bedeckt
sind und aus denen sich zahlreiche kleine Eilande erheben. An der Südost¬
küste beginnen die der Schifffahrt überaus gefährlichen Keys, eine Reihe von
Klippcninseln, die sich in der Richtung nach Südwesten über 40 Meilen ins
Meer fortsetzt.
Das westlichste dieser Eilande, das etwa 60 englische Meilen von der
Südspitze Floridas entfernte Key West, ist von den Bereinigten Staaten in
eine der stärksten Festungen am Golf von Mexiko verwandelt worden. Die
Insel, die sich nur 20 Fuß über den Meeresspiegel erhebt, und aus Korallen
besteht, hat eine Länge von 4 und eine Breite von 1'/» Meilen. Da sie in
gewissem Sinn der Schlüssel zum Golf ist, so hat sie für die Union die höchste
Bedeutung, und so dürfte sie dem Sonderbund der Baumwollelistaaten selbst
dann nicht überlassen werden, wenn man sich des Friedens willen entschlösse,
die andern noch im Besitz der Vereinigten Staaten befindlichen Festungen,
Fort Platens und Fort Sumpter abzutreten. Die Hauptstärke von Key West
(der Name ist eine Corruption von Cajo Hucho) liegt in dem Fort Taylor,
welches den Hafen der Insel vertheidigt. Dasselbe ist ziemlich vollendet, da
nur die Kasernen für die Besatzung noch nicht fertig sind. Die Unterlage des
Forts, in welchem jetzt der Artilleriehauptmann Brennan befehligt, besteht aus
Granitblöcken, die Mauer, 40 Fuß hoch und 8 Fuß dick, aus Ziegeln, die
Form des Ganzen ist ein unregelmäßiges Viereck. Es hat drei Reihen G^
schütze, von denen zwei in Kasematten stehen, eine auf Drehscheiben hinter
der Brüstung des Daches aufgestellt ist. Diese Feuerschlünde sind vom schwer¬
sten Kaliber., Nach der Wasserseite blicken 120 acht- und zehnzöllige Colum-
biaden, nach der Landseite 45 Zweiuudvierzig- und Sechsunddreißigpfündcr
hinaus. Alles ist für eine Belagerung bereit und die Garnison reichlich nut
Munition, Lebensmitteln, Feuerung und Wasser versehen und erst kürzlich be¬
deutend verstärkt worden.
Der Boden Floridas wird in vier Klassen getheilt: die Lowhammocks.
welche häufigen Überschwemmungen ausgesetzt sind, entwässert sich aber zum
Zuckerbau eignen, die Highhammocks. die mit Eichen, Magnolien und
Lorbeerbäumen bewachsen sind und am besten zu Niederlassungen passen, die
Savannen an den Flüssen und die Pine-Barrens oder Fichtenwüsten, sandige
Hochflächen, die bisweilen von fruchtbaren Adern durchschnitten sind, in wel¬
chen sich die ärmern Pflanzer ansiedeln. Klima und Flora des Landes haben
schon tropischen Charakter. Man baut Reis, Mais. Zucker und vorzüglich
Baumwolle, ferner alle Arten von Südfrüchten. Indigo und Tamarinden,
endlich auch etwas Kakao und Tabak. Hauptnahrungszweig ist die Land-
Wirthschaft. Von Fabriken ist noch nicht die Rede. Der Handel hat in den letz¬
ten Jahren sich nicht unbedeutend gehoben. Die Ausfuhr betrug 1850 etwas
mehr als dritthalb Millionen, die Einfuhr circa 200,000 Dollars. Eisen¬
bahnen führen von Port Leon nach Tallahassee (26 englische Meilen) und
von der Hafenstadt Se. Joseph nach Jola.
Die Hauptstadt Floridas ist Tallahassee, ein Oertchen von ungefähr 3000
Einwohnern. Außerdem verdient das im Osten gelegene, von zwei Forts ver¬
theidigte Se. Augustin mit 4000 und das am Golf von Mexiko liegende Pen-
sncola mit 2800 Einwohnern genannt zu werden. Letzteres ist einer der wich¬
tigsten militärischen Punkte der Union, und zwar wegen seines Hafens, der
für den besten des ganzen Meerbusens vo» Mexiko gilt. Der Kongreß hat
hier ein Seearsenal und verschiedene Forts anlegen lassen, welche die Stadt
zu einer der Hauptfestungen der Vereinigten Staaten machen, und die wir im
Folgenden ausführlich schildern.
Pensacola ist der Hafen und die Hauptstadt von Escmnbia-County.
Es liegt auf dem Westufer der nach ihm genannten Bucht, 10 Meilen vom
Meer. 04 östlich von Mohne und 180 westlich von Tallahassee. Die Rhede
hat an der Barre 20 Fuß Wasser und Raum für die größte Flotte. Der
Stadt südlich gegenüber zieht sich in der Entfernung von einer Viertelmeüe
(englisch) von Osten nach Nordwesten die vollkommen flache Insel Santa
Rosa hin. aus welcher die Hauptbefestigung des Hafens, Fort Platens steht.
Dasselbe ist ein Bastion erster Klasse mit 45 Fuß hohen. 12 Fuß dicken Mau¬
ern aus Granitquadern, welche aus dem Staat Neuyork hierhergeschafft wur¬
den. Es hat zwei Reihen von Schießscharten in bombenfester Casemattirung
und oben eine dritte, die en barbette feuert. Die Geschütze bestreichen jeden
Punkt des Horizonts mit Flanken- und Enfilirfcner. 1828 begonnen und 1853
vollendet, kann das Fort eine Garnison von 1260 Mann fassen, und seine
Armirung besteht jetzt in 210 Geschützen, unter denen 63 eiserne Zweiund-
vierzigpfünder, 17 Zweiunddreißigpsünder, 49 Vierundzwanzigpfünder. 13
schwere achtzöllige Haubitzen, 1 dreizehnzölliger, 4 zehn- und 4 achtzöllige
Mörser sind, und mit welchen das Werk Stadt und Hafen vollständig be¬
herrscht. Auf der andern Seite der Einfahrt in die Bai von Pensacola liegt
auf einer schmalen von Norden nach Süden herabgcstreckten Landzunge das
Fort Mac Rae. Dann folgt, genau nördlich von Fort Platens auf dem fe¬
sten Lande das Fort San Carlos de Barancas. dann ein wenig mehr land¬
einwärts eine Redoute, endlich südöstlich von hier die große Schiffswerfte der
Vereinigten Staaten. Das Fort Mac Rae ist ein casemattirter Ziegelbau
mit drei Reihen Geschützen, von denen zwei bedeckt sind, eine en barbette feu¬
ert. Es ist für 650 Mann und 150 Feuerschlünde eingerichtet und hat neben
sich noch eine Wasserbatterie von 8 Geschützen, ist jedoch gegenwärtig nur un¬
vollständig armirt. Das Fort S. Carlos de Barancas hat 49 Kanonen und
ist für eine Besatzung von 250 Mann bestimmt.
Bon diesen Werken ist jetzt nur das stärkste, Fort Platens, noch in Be¬
sitz der Vereinigten Staaten, die übrigen wurden, da die zu ihrer Behauptung
vorhandene Truppenmacht zu schwach und theilweise unzuverlässig war, von
Lieutenant Steamer, der hier befehligt, geräumt und darauf von den Milizen
Floridas besetzt. Die Garnison von Fort Platens zählt jetzt nicht mehr als
90 Mann; indeß hat ihr der Präsident mit dem Brooklyn von Neuyork aus
Verstärkungen zugesandt.
Wir kehren jetzt nach Milledgeville, der Hauptstadt Georgias, zurück, um
von da im Postwagen über Macon und Columbus nach Montgomery im
Staat Alabama und von dort auf einem der Dampfer des vielgewundenen
Alabamaflusses nach Mohne hinab zu reisen. Montgomery ist seit 1848 die
Hauptstadt von Alabama, hat aber nicht mehr als 5000 Einwohner und
bietet nichts der Erwähnung Werthes. Der Staat, dem es angehört, wurde
1829 vom Mississippi-Territorium getrennt und als Staat in die Union aufge¬
nommen. Die Verfassung ist der von Georgia ähnlich. Die Senatoren. 33
an der Zahl, werden auf drei, die 100 Abgeordneten auf ein Jahr gewählt,
der Gouverneur auf zwei. Zum Kongresse sendet Alabama sieben Repräsen¬
tanten. Die fundirte Staatsschuld betrug im Jahre 1858 5.888,134 Dollars.
Die Einahmen beliefen sich damals auf ungefähr 600,000, die Ausgaben auf
650,000 Dollars. Der Flächeninhalt des Staats beträgt 50.722 englische
oder 2386 deutsche Quadratmeilen. Einwohner hatte er 1850 779.001, unter
denen sich 344,323 Negersklaven und 2700 freie Farbige befanden. Jetzt mag
die Gesammtzahl auf circa 900,000, die Zahl der Negersklaven auf 400.000
gestiegen sein. Von den beiden hier bestehenden Banken circuliren die Noten der
einen zu zwei, die der andern zu sechs Prozent unter dem Nennwert!,), Eisen¬
bahnen führten 1850 von Montgomery nach Westpoint (45 Meilen), von
Montgomery nach Pensacola (130 Meilen) und von Tuscumbia nach Dccaiur
(46 Meilen), wozu seitdem noch einige andere gekommen sind, sodaß der Staat
jetzt 304 Meilen Eisenbahn besitzt. Der Mnscleshocil-Kana!, bestimmt, die
Schifffahrt auf dem Tennesseefluß zu erleichtern, ist 36. der Huntsville-Kanal,
der von Huntsville an den Tennessee führt, 16 Meilen lang. Das Land ist reich
an Kohlen und Eisenerz. Es hat außer einigen Hammerwerken und Baum-
wollenmanufacturen keine gewerblichen Etablissements. Die Ausfuhr, die
fast nur über Mohne geht, wird auf durchschnittlich 14. die Einfuhr aus
eine Million veranschlagt. Verschiedene große Flüsse, wie der Tennessee, der
Alabama, der Tuscaloosa und der Tombigby erleichtern den Verkehr. Der
Norden des Landes wird von einem Zweig der APalachen durchzogen, die
sich hier bis zu 6500 Fuß erheben, ist mit großen Wäldern von Eichen, Pap¬
peln, Nußbüumen und Tannen bedeckt und hat nur in den Grafschaften am
Tennesseefluß größere Strecken fruchtbaren Bodens. Die Mitte des Staates
ist dagegen fast allenthalben sehr fruchtbar. Sie zeigt Hügelketten mit Laub¬
holz, worunter viele Lorbeer- und Tulpenbüume, bewachsen, wechselnd mit kleinen
Prairien, und man baut hier Mais, Tabak und Baumwolle im Ueberfluß.
Der Süden endlich, fettes, feuchtes Marschland, theilweise Sumpf, ist mit
Dickichten von Nohr, Cypressen und Cedern bedeckt und haucht von Juli bis
Oktober eine furchtbare Pestluft aus, eignet sich aber vorzüglich zum Zucker¬
und Reisbau. Im Allgemeinen wird man Alabama zu den fruchtbarsten
Strichen der Union zählen müssen, und die verschiedenen schiffbaren Ströme
des Landes erleichtern die Verwerthung der Erzeugnisse wesentlich.
Nachdem wir von Montgomery zwei Tage lang den Alabama abwärts
gefahren sind und dabei Gelegenheit gehabt haben, den allmciligen Ueber¬
gang des mittleren Hügellandes mit seinen Laubwäldern in das südliche Tief¬
land mit seinen Nohrsümpfen und seinen düstern Cypressendickichten zu beob¬
achten, gelangen wir nach Mohne, dem Haupthafenplatz des Staates. Dasselbe
ist am Ausfluß des Mohne-River in eine langgestreckte Bai auf sandigen mit
Nadelholz bewachsenen Hügeln gelegen und hat etwa 3V.000 Einwohner, von
denen mehr als die Hälfte Neger sind. Der unmittelbar an die Quais gren¬
zende Stadttheil liegt eben und ist ziemlich eng und unreinlich. Die dahinter
gelegnen Straßen und Häuservierecke dagegen sind sehr elegant und sauber,
die Straßen breit, mit Bäumen bepflanzt und vortrefflich gepflastert. Die
öffentlichen Gebäude, von denen wir nur die Bank, das Theater und den un¬
geheuren Speicher nennen, in welchem die aus dem Innern zur Verschiffung
anlangende Baumwolle lagert, sind aus Backsteinen, die meisten Privathäuser
^gegen aus Holz erbaut und in ihrer Architektur denen von Charleston
^'hr ähnlich. Zahlreiche Villen verschönern die Nachbarschaft. Auffallend
^se auf den ersten Blick, daß es hier noch eine Rvyalstreet gibt, was indeß
darin seine Erklärung findet, daß Alabama 1813 noch der spanischen Krone
gehörte.
Mohne ist nächst Neuorleans der wichtigste Hafen der Union am Golf
von Mexiko. Es verschifft jetzt schon mehr Baumwolle nach den Nordstaaten
und Europa als Charleston und Savanncch und wird vermuthlich in kurzer
Zeit beide Handelsplätze auch in andern Beziehungen überflügeln. Es führt
nicht nur die Baumwolle von ganz Süd- und Mittelalabama aus, sondern auch die
der südöstlichen Counties des benachbarten Mississippi, da dieses am Golf keinen
guten Hafen besitzt, während Mohne wie zum Stapelplatz für die Erzeugnisse
jener Landstriche geschaffen ist. Der Mobilefluß, an dessen Mündung es liegt,
ist eine Vereinigung der beiden Hauptströme des Staates: des Alabama und
des Tombigby, die sammt ihren Nebenflüssen, dem Coosa und dem Black
Warrior, bis 400 englische Meilen aufwärts schiffbar sind, sich vielfach winden
und an ihren Usern das fruchtbarste Land haben. Die Bai von Mohne ist
zwar in der unmittelbaren Nähe der Stadt seicht, aber man hilft sich, indem
man etwa eine deutsche Meile südlich Anker wirft und die Waaren mit Leichter¬
booten an oder von Bord bringt. Mohne wird von den Forts Morgan und
Hurst Castle, die auf einer flachen, die Bai vom offnen Meer trennenden Land¬
zunge liegen, sowie von einem Thurm an der Durchfahrt zwischen der Dau-
phine- und der Horninscl vertheidigt.
Von den übrigen Orten Alabamas heben wir nur noch Tuscaloosa her¬
vor, welches früher die Hauptstadt des Staates war und etwa 4500 Ein¬
wohner hat. Man sieht, der Süden ist eben nicht das Land der großen
Städte.
Schluß aus voriger Nummer.
Machen wir von der Mönchsliteratur einen Rückschluß auf die Schulen,
aus denen ihre Vertreter hervorgegangen waren, und die wiederum unter ih¬
rer Obhut standen, so werden wir keine sehr hohe Vorstellung von ihnen gewin¬
nen. Mit den meisten Klöstern und so auch mit dem Petersbcrger. waren
Schulen verbunden; zum Theil wurden in denselben die Novizen unterrichtet,
die später als Mönche in das Kloster selbst eintreten sollten, anderntheils w»r-
den sie aber auch von den Söhnen selbst reicher und hochgestellter Laien be¬
sucht, aber nur wenige unter ihnen können als Pflanzstätten wissenschaftlicher
Bildung gelten, ja wollten wir den Maßstab der Gegenwart anlegen, so wür¬
den die wenigsten den Vergleich auch nur mit unseren Elementarschulen aus¬
halten. Was diese Schulen eigentlich erstrebten und leisteten, das lehrt uns
die Stiftungsurkunde des Se. Afraklosters bei Meißen, in welcher es heißt:
„es solle daselbst auch eine Schule von zwölf weltlichen Knaben gehalten wer¬
den, damit der Gottesdienst mit Feierlichkeit begangen werden könne." —
Schon Karl der Große Hütte gern die Klöster zu größerer wissenschaftlicher
Bedeutung gebracht. „Es sei Ew. Frömmigkeit bekannt/' läßt er sich in einem
Rundschreiben'an die Bischöfe und Aebte seines Reiches von 787 aus, „wie wir
es für nützlich erachtet haben, daß die unserer Negierung anvertrauten Bischofs¬
sitze und Klöster außer einem der Ordensregel entsprechenden Lebenswandel
und der Uebung der heiligen Religion ihren Fleiß auch aus die Beschäftigung
mit den Wissenschaften und der Unterweisung Derjenigen richten, die vermöge
der Gabe Gottes lernen können, nach der Fähigkeit eines Jeden. Denn da
uns in den letzten Jahren von verschiedenen Klöstern öfters Schreiben zuka¬
men, in denen angezeigt wurde, wie die in denselben wohnenden Brüder mit
frommen und heiligen Gebeten für uns streiten, so haben wir aus den mei¬
sten Schreiben ihren guten Willen sowol als ihre ungebildeten Reden erkannt,
denn was die fromme Demuth innerlich treu eingab, das konnte äußerlich
wegen des vernachlässigten Unterrichts die ungebildete Sprache nicht ohne
Fehler ausdrücken. Darum kam die Befürchtung in uns auf, es möchte, wie
die Kunst des Schreibens eine geringe war, so auch die zum Verständniß der
heiligen Schriften nöthige Bildung sein. Daher ernähren wir Euch, nicht
allein Eure wissenschaftliche Bildung nicht zu vernachlässigen, sondern auch
das Ziel eures Lernens darauf zu richten, daß Ihr leichter und richtiger in
die Geheimnisse der göttlichen Schriften eindringen könnet." — Den Ruf
großer Gelehrsamkeit genossen frühzeitig die Klosterschulen zu Se. Gallen, wo
der berühmte Notker Lehrer war, und zu Fulda, aber wahrhaft wissenschaft¬
licher Geist ist in Deutschland erst mit der Gründung der Universitäten erwacht.
Wollen wir das Bild von der Lebensweise der Mönche vervollständigen,
so bleibt uns noch übrig, einige Worte über die Klosterkost hinzuzufügen.
Auch in Speise und Trank forderte die Regel strengste Einfachheit, aber ein
Mönch ißt und trinkt so gern etwas Gutes wie ein weltlicher Mensch, und je
strenger das Verbot, desto stärker reizt es die Begierde. Wenn wir in den
Lebensbeschreibungen ausgezeichneter Geistlicher immer hervorgehoben finden.
Mit wie kümmerlicher Nahrung sie sich begnügt, und wie sie nichts über ihre
heiligen Lippen gebracht haben als Wurzeln und Quellwasser, oder höchsten
dürres Schwarzbrod, so lassen grade diese Lobeserhebungen durchschimmern,
daß die große Mehrzahl die Gaben Gottes wol zu würdigen wußte. Hieß
es auch nicht zu viel fordern, wenn diejenigen, die zuerst dem Boden durch
sorgsamere Bestellung edlere Früchte abzugewinnen verstanden, sich nicht ein¬
mal selbst den Genuß davon gönnen sollten? An den sonnigen Geländen
der Klostergürten reiften bereits seine Obstsorten, als die profane Welt sich
noch an Haferbrei genügen ließ; die Klöster waren es, die in vielen Gegen¬
den Deutschlands den Weinbau einbürgerten. Der Rauhigkeit des Klimas
Trotz bietend betrieben sie ihn noch ziemlich weit jenseits der Linie, bis zu
welcher heutige» Tages trinkbarer Rebensaft gebaut wird, so daß der Gaumen
des damaligen Geschlechts gegen ein saures Gewächs wol minder empfind¬
lich gewesen sein muß als der unsrige. der schon gegen den Meißner und
Naumburger einige Vorurtheile hegt. Der Petersberg besaß drei von seinen
eignen Pröbsten angelegte Weinberge, die einen stattlichen Ertrag lieferten
denn eine Ernte von 50 bis 60 Fudern galt als eine geringe, und da das
gewöhnliche Getränk der Mönche nur Bier war, welches von den Knech¬
ten des Klosters selbst gebraut wurde, so löste der Probst aus dem Ver¬
kauf des überflüssigen Weins eine schöne Einnahme. Markgraf Dietrich von
Meißen kaufte ihnen denselben regelmäßig ab, und im Jahre 1219 erreichte
das Kloster von dem Fürsten Heinrich von Anhalt dafür, daß es ihm jährlich
zwei Fuder Wein verschrieb, die Immunität einer dem Kloster gehörigen
Kirche.
Aber auch ihre Landgüter überhaupt erhoben die Klöster zu Muster¬
wirthschaften für ihre Zeit, und je sorgfältiger der Anbau derselben war,
desto besseren Ertrag lieferten sie dann für das Refectorium! Dem Probst Ru¬
dolf vergaßen es die Pctersberger Mönche nie, daß sie seiner trefflichen Ver¬
waltung und den von ihnen angekauften schönen Weizenfeldern besseres Brod
und Bier verdankten, und dem Probst Walther rühmt der Chronist nach, daß
er auf dem einen Klostcrgute den Bestand des Großviehes auf 150 Stück
brachte, sodaß es manchen schönen Braten in die Klosterküche liefern konnte.
Freilich blieben Fleischspeisen nur auf gewisse Tage beschränkt, aber gerade
unser Kloster genoß in dieser Beziehung einer besonderen Vergünstigung.
Von einer Reise nach Rom brachte nämlich im Jahre 1201 der Probst eine
päpstliche Bulle mit, welche dem Kloster mit Rücksicht auf seine hohe Lage,
die die Beschaffung von Fischen an den Festtagen erschwerte, die Erlaubnil)
ertheilte, „da es doch zu viel verlangt sei sich nach dem Fleisch auch noch der
Fische zu enthalten", an gewissen Tagen Fleisch zu essen, „doch nicht zur
Sättigung, sondern nur soweit nothwendig", eine Clausel, die nicht immer
im strengsten Sinn genommen worden sein mag. Dafür begrüßte auch den
heimkehrenden Probst der ganze Convent mit freudestrahlenden Gesichtern.
Es zeugt auch nicht eben für große Einschränkung, daß der Laienbruder,
welcher die Aufsicht über ihre Küche führte, mehre Köche unter sich hatte,
noch können die Fasten sehr lästig gewesen sein, an denen der Kellermeister
den Brüdern bis auf zehn Gerichte verschaffte; auch wußten sich die Mönche
zu helfen, wenn ihnen der gewöhnliche Tisch nicht behagte: sie schossen dann
Geld zusammen und rcquirirten dafür aus der Umgegend die Bestandtheile
einer soliden Mahlzeit.
Dafür kamen aber auch mitunter schlimme Zeiten für die Mönche; im
Jahre 1218 lastete eine Theuerung so schwer auf der ganzen Umgegend, daß
sie, wie der Chronist mit Schaudern erzählt, einmal sogar aus Mangel an
Brod ungegessen zu Bett gehen mußten. Hatten sie früher gemurrt, wenn
ihnen einmal Roggenbrod vorgesetzt wurde, so mußten sie jetzt Gersten- und
Haferbrod essen lernen, und der ganze Unterhalt war so knapp, daß sie —
es ist schrecklich zu sagen — an Festtagen mehr als einmal weiter nichts als
in Bier aufgeweichtes Brod oder warme Hefe bekamen, ein Gericht, über
das. wenn es nicht Hefenklöse waren, es schwer sein möchte eine deutliche
Anschauung zu gewinnen.
Wenn sich die Mönche Ausschreitungen der oben erwähnten Art gestatteten,
so gehörte dies allerdings schon zu den Vorboten eines beginnenden Verfalls,
die sich bald in bedenklicher Weise mehrten. Nicht den kleinsten Theil der
Schuld daran trug der Mangel an ausgezeichneten Vorstehern. Das Recht,
diese zu wählen, stand zwar dem Convent der Mönche allein zu, aber wie so
oft unter ähnlichen Verhältnissen, gaben nicht hervorragende Befähigung und
Tüchtigkeit, sondern meist äußerliche Rücksichten dabei den Ausschlag, oder es
machte sich ein fremder Einfluß geltend, der selbst List und Betrug nicht ver¬
schmähte, um sein Ziel zu erreichen. Im Jahre 1151 hatten die Mönche
einen Canonicus Arnold zu ihrem Oberhaupte gewählt, gegen den Wunsch
des Markgrafen Kommt, der lieber einer gewissen Ekkehard zu dieser Würde
erhoben gesehen hätte. Der Erzbischof Wichmann wußte Rath. Als der neu¬
gewählte zu ihm nach Giebichenstein kam, um aus seiner Hand die Bestätigung
ZU erhalten, stellte er ihm vor, daß der Markgraf seine Wahl nicht gern sehe,
und rieth ihm, er möge zum Scheine seine Unzulänglichkeit zu dem Amte und
seine Bereitwilligkeit, es niederzulegen, erklären, das werde ihm des Mark¬
grafen Wohlwollen gewinnen und derselbe dann weiter keinen Einwand gegen
seine Bestätigung erheben. Ohne Arg folgte Arnold dem Rathe, sogleich aber
erklärten die beiden Fürsten ihre hohe Befriedigung über seinen Entschluß und
Ekkehard erhielt das Amt. Aber gerade unter diesem nahm der Verfall der
Zucht rasch überHand, zumal da er in den letzten fünf Jahren seines Lebens der
Hinfälligkeit seines Körpers zu Liebe eine Pnvatwohnung außerhalb des Klosters
bezog. Sein Nachfolger hieß Walter. Während dieser im Jahre 1199 in
Geschäften des Markgrafen vom Kloster abwesend war, fand, ein Theil der
Mönche eines Tages das gewöhnliche Getränk nicht nach ihrem Geschmack, sie
erbrachen mit Gewalt den Keller und zapften für sich und wer sonst davon haben
wollte, Wein zum Mittags- und Abendbrod. Während sie nun in der folgenden
Nacht ihren Rausch verschliefen, kam Feuer aus und legte einen großen Theil der
Klostergebäude in Asche. Der Probst wagte bei seiner Heimkehr nicht einmal
die Uebertreter des Gesetzes zu strafen theils wegen ihrer großen Anzahl, theils
aus Furcht vor der vornehmen Verwandtschaft desjenigen, der der Rädelsführer
gewesen war. „Dem Verlust der Gebäude folgte ein solcher Ruin der Sitten,
daß man mit Recht hätte sagen können, die Religion sei mit dem Kloster ver¬
brannt."
Eben jener Anstifter des Weinraubcs, er hieß Dietrich, sollte aber dem
Kloster noch viel Schlimmeres zufügen. Aus einer vornehmen Adelsfamilie
abstammend, — sein Bruder war Probst in Merseburg, seine Vettern gehörten
zu den Ministerialen der Umgegend, — war er von Jugend auf von den
Prälaten und Lehrern nachsichtiger behandelt worden, hatte einen gewisse»
Dünkel eingesogen und sing nun an sich gegen seine Vorgesetzten ungehorsam
zu zeigen und einen gefährlichen Ehrgeiz zu entwickeln. Um sich einen Anhang
zu verschaffen, schalt er auf die schlechte Verwaltung und ließ bei Gelegenheit
fallen, wie ganz anders es sein sollte, wenn er Probst wäre. Wurde einer
von den Mönchen wegen irgend eines Vergehens bestraft, so legte er recht
augenfällig seine Theilnahme für ihn an den Tag und wußte ihm verbotne
Speisen und Getränke zu verschaffen, kurz er spielte im Kloster den Dema¬
gogen; auch nicht ganz ohne Erfolg, denn nach Probst Rudolfs Tode im
Jahre 12ti8 sielen drei Stimmen auf ihn, zwar wenig, aber genug, um ihm
Anlaß zu einer heftigen Agitation gegen den von der Mehrzahl gewählten
Probst Johannes zu geben. Er gewann sogar den Erzbischof Albrecht von
Magdeburg und den Vogt des Klosters, damals Markgraf Konrad von Lands¬
berg für sich, aber Markgraf Dietrich von Meißen, um den sich die andere
Partei gewendet hatte, verwies ihn pcremtorisch zur Ruhe. Aber das Uebel
war einmal geschehen, der offene Zwiespalt im Kloster ausgebrochen. Zwar
kam es hier nicht so weit wie im Kloster Pegau, wo um dieselbe Zeit die
Mönche ihren Abt vergiften wollten, blos weil er sie nicht nach Belieben ver¬
botene Dinge treiben lassen wollte, doch ging Dietrich und sein Anhang auf
alle Weise darauf aus dem Probste das Leben zu erschweren, und andererseits
ließen es auch dessen Anhänger nicht an Leidenschaftlichkeit fehlen. Zuletzt
vermaß sich jener sogar eine Beschwerde über den Probst an den Markgrafen
Dietrich, den nunmehrigen Vogt, zu bringen. Die Untersuchung, die derselbe
hierauf in Person und in vollem Capitel anstellte, ergab freilich die Haltlo¬
sigkeit der erhobenen Anklagen, doch lehnte er es ab, gegen die Unruhestifter
wie der Probst verlangte, einzuschreiten, überließ es ihm vielmehr, selbst de>6
Weitere gegen seine Untergebenen zu thun. Sonach verfuhr auch der Probst,
verhängte die Excommunication über sie und verbot, ihnen ferner Lebensmittel
zu reichen, Trotzig verließen sie das Kloster, mußten sich aber doch zuletzt de¬
müthigen und Dietrich selbst barfuß und in schwarzer Büßerkutte Verzeihung
erbitten, bevor er wieder ins Kloster aufgenommen wurde; doch suchte man
ihn dadurch unschädlich zu machen, daß man ihm die Kirche zu Eilenburg
übertrug und ihn dadurch aus dem Kloster entfernte.
Diese Vorfälle hatten den Probst Johannes so angegriffen, daß er er¬
krankte und in Erwartung des Todes die letzte Oelung empfing. Sein Körper
bedeckte sich mit Beulen, seine Nase wurde schwarz und löste sich zuletzt ganz
und gar ab. Dietrich war aus die Nachricht von dem rettungslosen Danieder¬
liegen seines Gegners aus Eilenburg herbeigeeilt, um diesmal sich die Wahl
bei Zeiten zu sichern. Da hätte sast eine unerwartete Genesung des Probstes
seine Hoffnung abermals vereitelt; es gewann den Anschein, als würde der¬
selbe mit Verlust der Nase am Leben bleiben. Voll Unmuth über ihre Täu¬
schung singen nun seine Widersacher an, ihm das zum Vorwurf zu machen,
und erklärten, sie möchten keinen Probst ohne Nase haben. Da beugte zum
Glück nach drei Tagen der Tod des Probstes weiterem Streit vor.
Aber über die Wahl entbrannte er von Neuem. Diesmal stimmte die
Mehrzahl für Dietrich, eine andere widersetzte sich seiner Erhebung. Nun kam
der Bischof von Merseburg auf den Petersberg, um zwischen ihnen zu ver¬
mitteln, aber vergeblich. Ohne auf ihn zu hören, stürmten Dietrichs Anhänger
unter Mißachtung aller Ordnung und der dadurch bei solcher Gelegenheit ge¬
botenen feierlichen Procession in die Kirche, stellten, um nicht überfallen zu
werden, Wachen an die Thüren, verstärkten sich durch die Klosterschüler, deren
Magister zu ihnen gehörte, ein Laienbruder trat an das Pult, stimmte für den
neugewählten den Lobgesang an, und so wurde Dietrich vor dem Altare als
Probst präsentirt. Unter solchen Umständen hielt der Bischof seine Einmischung
für überflüssig, sowie er sich daher von dem ihm zu Ehren gegebenen Fest¬
mahl erhoben hatte, verließ er das Kloster. Des nunmehrigen Probstes erste
Maßregel aber war. daß er sich durch Entfernung des bisherigen Kellermeisters
und die Einsetzung eines ihm ergebenen, sich die sreie Disposition über Küche
und Keller und damit das wirksamste Mittel, um den Gehorsam des Con-
vents zu erzwingen, sicherte.
Aber Markgraf Dietrich hatte von diesen wüsten Vorgängen Kunde er¬
halten und forderte deshalb sowol den Probst als auch Abgeordnete der Gegen¬
partei nach Leipzig vor sich, um die Sache zu untersuchen. Doch auch hier
verstand es der erfindungsreiche Probst, den Sinn des Markgrafen theils durch
den Einfluß seiner mächtigen Verwandten, theils durch andere Mittel zu seinen
Gunsten umzustimmen. Der Markgraf schuldete nämlich dem Kloster noch 300
Mark für 40 Fuder Wein: Dietrich quittirte darüber, „daß er aber weder vor¬
her noch nachher sie bezahlt und daß der Probst sie niemals eingetrieben, ist
gewiß." Der Markgraf scheint die ganze Sache mehr von der humoristischen
Seite aufgefaßt zu haben. Wenigstens zeigte er bald darauf einem aus seiner
Umgebung scherzweise 60 Mark, „die habe er für die Probstei auf dem Peters¬
berge empfangen"; es kam selbst heraus, daß auch seine Gemahlin und seine
Nöthe Geschenke genommen hatten. Freilich Dietrichs Bruder, der Probst in
Merseburg, verstand als ein gelehrter und kluger Mann, der er war, alle
Vorwürfe kurz abzuweisen: „nicht die Probstei. nur die Gunst des Markgrafen
habe sein Bruder durch Geld erworben."
Was Wunder, daß bei so bewandten Umständen die Eintracht nicht in
das Kloster zurückkehren wollte. Auf die Gunst des Markgrafen pochend be¬
einträchtigte Dietrich seine Gegner wo er nur konnte, während er den Bei¬
stand seiner Anhänger durch die sträflichste Nachsicht gegen ihre Ausschweifungen
erkaufte, wodurch denn das Kloster bald in der ganzen Gegend in den übelsten
Ruf kam. Die Mönche saßen ganze Nächte hindurch beim Würfel- und Brett¬
spiel, Gäste kamen herauf, um dabei Gesellschaft zu leisten, und die Mönche
können auch nicht dürftig mit Geld versehen gewesen sein, da manche von
ihnen in einem Jahre 15, 20, ja 30 Mark verspielten. Dabei ging es mit
der Verwaltung rückwärts, der Mangel, der sogar eintrat, stimmte schlecht zu
Dietrichs frühern Versprechungen. Zuletzt artete die Zwietracht in förmliche
Thätlichkeiten aus, bei denen man sich der Steine und Knüttel bediente und
wobei die Gegner des Probstes die Verwirrung benutzten, um ein paar dem
Hospiz gehörige Pferde zu entführen. Als sie dann ins Kloster zurück wollten,
fanden sie das Thor verschlossen, sie wußten sich aber zu helfen: einer kletterte
über die Mauer, öffnete von innen und ließ die übrigen herein. ^ Nunmehr
wendeten sie sich mit einer förmlichen Beschwerdeschrift an den Markgrafen:
„der Probst habe ohne Einwilligung des Konvents Grundstücke des Klosters
verkauft, Wälder umgehauen und beim WeinverknufUnterschleif getrieben; sie
rechneten ihm nach, daß er binnen acht Jahren neben den regelmäßigen Ein¬
künften des Klosters durch den Verkauf des Weines und anderer Producte so¬
wie an geliehenen Geldern wenigstens 3650 Mark eingenommen habe und
trotzdem herrsche Mangel am Nöthigsten, so daß die Priester oft ohne Hosen
und Hemden am Altare administnren müßten."
Ehe noch die Entscheidung des fürstlichen Vogtes einlief, übte der Probst
eine neue Tücke. Er verhängte über die Theilnehmer an jenem Tumulte strenge
Strafen, und als jene sich rechtfertigen wollten, gebot er ihnen drohend Schwei¬
gen, mit der Frage, ob sie sich der Strafe ohne Weiteres unterwerfen wollten?
Auf ihre Weigerung zieht der Probst plötzlich eine hinter seinem Rücken ver¬
borgen gehaltene Stola hervor und ehe jene noch in ihrer Ueberraschung da-
ran denken zu appelliren, hat er schon die Excommunication über sie aus¬
gesprochen und den übrigen Brüdern alle und jede Gemeinschaft mit ihnen
-verboten.
Die Sache gelangte endlich bis vor die höchste Instanz, den Papst, und
dieser beauftragte drei Aebte aus der Nachbarschaft mit der Untersuchung des
ganzen Zerwürfnisses und ihren Bemühungen gelang es denn endlich, diesen
widerwärtigen Auftritten ein Ende zu machen.
Freilich ohne die Wurzel des Uebels auszurotten. Um das Vermögen
des Klosters stand es so schlecht, daß der Probst den Vorschlag machte, ein
Theil der Mönche solle nach andern Orten übersiedeln, stieß aber damit bei
den Mönchen auf entschiedenen Widerstand, welche vielmehr meinten, vor allen
Dingen möge ihr Oberhaupt den Luxus an seiner eigenen Tafel etwas ein¬
schränken. Dafür rächte dieser sich wieder auf empfindliche Weise an seinen
Untergebenen. Statt einen Tag um den andern ließ er ihnen nämlich nur
des Sonntags Fleisch geben und dieses in kärglichen Portionen — „das Ge¬
tränk aber wurde auf verschiedene Art versetzt, nämlich manchmal mit einer
Abkochung von Lorbcerbeeren, das war aber noch ein festtäglicher Genuß,
sonst mit Nesselwurzelu oder ähnlichen Pflanzen, besonders'aber mit einem
gewissen unbekannten Kraut, welches der Probst Myrthe nannte; aber wer
nur je Myrthe gesehen hatte, der versicherte, daß das keine sei; andere erklär¬
ten es für ein tödtliches Kraut, andere für weiter nichts als Fichtenwurzeln.
Dieser Trank roch aber so absonderlich, daß viele von den Mönchen lieber
Wasser tranken, denn Wein setzte es auch nicht. Der schlaue Maun wußte es
sogar so einzurichten, daß der Mangel am härtesten seine Widersacher traf,
und die Zwistigkeiten und Gehässigkeiten, welche von Neuem daraus entsprangen,
würden damals dem Kloster das nämliche Schicksal bereitet haben, dem aus
den gleichen Ursachen nicht wenige andere vorher und nachher erlagen, hätte
sich nicht ein päpstlicher Legat desselben angenommen, der um diese Zeit gerade
in der Mark Meißen verweilte. Durch die vielen Klagen über den Verfall
der Zucht auf dem Petersberg bewogen, ließ er durch den Bischof von Merse-
burg eine Untersuchung darüber anstellen. Erwies sich nun auch diese gegen
den Probst als mehr denn nachsichtig, so hatte sie doch, — und das ist das Letzte,
was uns die Chronik berichtet, — deu Erfolg, daß mau wieder die Regel
Mit größerem Eiser zu beobachten anfing und die Dinge eine bessere Gestalt
gewannen. Wie vormals gingen die Mönche wieder täglich in Gemeinschaft
Zu den canonischen Stunden in die Kirche und keiner fehlte, als wen seine
Pflicht entschuldigte, sie speisten wieder miteinander im Refectorium. hielten
sich innerhalb der Klostermauern, und sobald die Vespcrglocke lautete, legten
sie ihre Beschäftigungen bei Seite, versammelten sich im Convent, aßen dann
zu Abend und begaben sich zuletzt rechtzeitig in das Dormitorium.
Allein der alte Glanz des Stiftes war unwiederbringlich dahin. Die
wettinischen Fürsten hatten in Folge der vielen Theilungen, welche in diesem
Hause stattfanden, ihre Vorliebe anderen Klöstern zugewendet. Nur die alte»
Gebäude standen noch Jahrhunderte lang als Zeugen der-alten Herrlichkeit,
bis die Reformation auch diesem Kloster ein Ende machte. Die letzten Mönche,
die sich noch darin fanden, wurden pensionirt, das Vermögen säcularisirt und
daraus ein evangelischer Pfarrer dotirt. der fortan im Chor der Stiftskirche den
Gottesdienst abhielt. So blieb es bis zum Jahre 1565; da verwandelte der
Blitz die Kirche in eine Ruine, welche nur soweit nothdürftig wiederhergestellt
wurde, daß sie zum Gottesdienst benutzt werden konnte. Der verschwenderische
Kurfürst August der Starke veräußerte das ganze Amt Petersberg für" 40,000
Thlr. an Brandenburg, die Klostergebäude dienten zu Wirthschastszwecken, bis
man im Jahre 1726 einen Theil der Ruine abbrach, um am Fuße des Berges
daraus ein neues Oekonomiegebäude zu bauen, worauf das verlassene Kloster
zerfiel. Und dieser klägliche Zustand blieb, bis der vorige König von Preußen
dessen kunstliebenden Sinne so manches denkwürdige Gebäude des Mittelalters
seiue Rettung von gänzlicher Zerstörung verdankt, die Ueberreste der Kloster¬
kirche restauriren ließ' so daß sie wie ehedem in stattlicher Schönheit von der
Die Ereignisse der vergangenen Woche verdienen ernsthaftes Nachdenken.
In den letzten Jahren wurde unsere deutsche Politik von Einem Gedanke»
oder vielmehr von Einem dunklen Gefühl bestimmt, von dem Mißtrauen ge¬
gen den Kaiser Napoleon. Dieses Mißtrauen ist vollkommen gerechtfertigt,
und wir haben alle Ursache auf der Hut zu sein. Wenn wir aber nicht den
Kindern gleichen wollen, so müssen wir uns bemühen, unsern Gegner zu ver¬
steh n. und es scheint fast, als ob der größere Theil unserer Politiker zu klein
über ihn gedacht hat.
Der Kaiser Napoleon kam durch eine Koalition verschiedener Parteien,
unter denen die ultramontane eine große Rolle spielte, an die Spitze der Re¬
publik. Man hielt ihn für eine unbedeutende Persönlichkeit, die aber gerade
deshalb geeignet sei, daß sich alle Feinde der Demokratie um sie scharrten.
Nachdem ihm das Bündniß dieser Parteien Gelegenheit gegeben, das Militär
vollständig für sich zu gewinnen, nahm er dnrch einen Gewaltstreich den Thron.
Alle Parteien, oder, was in den Resten des constitutionellen Frankreich dasselbe
sagen wollte, alle Männer von Ansehen zogen sich von ihm zurück und bilde¬
ten eine Fronde, die ihm höchst gefährlich werden konnte, wenn es ihm nicht
gelang, das lebhafte und ehrgeizige Volk anderweitig zu beschäftigen. Er
hatte fast keine andern Werkzeuge als die Abenteurer, die mit ihm das Ha-
zcirdspiel unternommen, und das einzige Mittel sich zu behaupten, war rück¬
sichtsloser Despotismus.
Europa urtheilte ganz richtig, wenn es der Ueberzeugung war, die Be¬
hauptung der Gewalt sei sein höchster, sein einziger Zweck, und er werde
vor keinem Mittel zurückschrecken, das er für nothwendig hielt. Aber Europa
urtheilte sehr voreilig, wenn es meinte, er habe eine besondere Vorliebe für
diejenigen Mittel, deren er sich augenblicklich bediente, und er werde keine
andern finden können.
Sein erster Schritt war. sich in der Reihe der europäischen Mächte An-
sehn zu verschaffen. Durch den orientalischen Krieg erhob sich der Parvenu,
mit dem man kaum verkehren mochte, in wenig Jahren zum ersten Fürsten
Europas, und die Franzosen konnten stolz darauf sein, einem so angesehenen,
so gefürchteten Herrn zu dienen. Der Sturz der Julidynastie hatte seinen
Hauptgrund darin, daß der Bürgerkönig kein Ansehen in Europa besaß.
Europa urtheilte sehr richtig, als es in einem System, welches die Fort¬
dauer der Herrschaft aus den Kriegsruhm gründete, eine große Gefahr für
sich sah. Aber es war voreilig, anzunehmen, daß Napoleon damit seinen
letzten Trumpf ausgespielt haben sollte. Es war voreilig, in dem italienischen
Feldzug nichts weiter zu sehen, als ein neues circensischcs Spiel für die Fran¬
zosen; es war voreilig, das Princip der Nationalität für ein leeres Stichwort
anzunehmen; es war voreilig, die liberalen Verordnungen des letzten Jahres
zu verspotten. ,
Die französische Armee ist eine furchtbare Waffe für einen ehrgeizigen
Herrscher, und Napoleon hat alles Mögliche gethan, um sie noch furchtbarer
Zu machen: aber es gibt eine noch furchtbarere Waffe gegen das alternde
Europa, die Principien von 1789! Man beruhige sich doch nicht zu vorschnell
bei dem Glauben, daß diese mit dem Bonapartismus sich niemals vereinigen
könnten.
Wir fürchten nicht, mißverstanden zu werden. Wenn es darauf ankommt,
Zwischen seiner Herrschaft und irgend einem politischen Princip zu wählen, so
würde Napoleon keinen Augenblick Anstand nehmen. In den ersten Jahren
seiner Macht hätte die Discussion sein Reich getödtet, nur durch den Schrecken
konnte er es behaupten. Wie aber, wenn er sich jetzt stark genug fühlte, die
Discussion nicht mehr zu fürchten? Wie, wenn er kühn genug wäre, die Dis¬
kussion und mit ihr Frankreich zu beherrschen?
Obgleich die parlamentarische Freiheit erst ein paar Monate alt ist, sind
die Debatten des französischen Senats bedeutend lebhafter als die Debatten
in mancher altehrwürdigen Ständeversammlung — z. B. in der zu Dresden.
Es ist ein heißer Kampf, die Gegensätze sprechen sich ganz unumwunden aus,
und, was das Wunderbarste ist, ein kaiserlicher Prinz tritt an die Spitze der
Fortschrittspartei! Man hat sich im Kaiser Napoleon geirrt; wie wäre es,
wenn man sich auch in seinem Vetter geirrt hätte?
Nehmen wir die Rede des Prinzen an sich, und abstrahiren von dem,
der sie gehalten, so werden wir gewiß manche Ausdrücke frivol und unparla¬
mentarisch finden, wir werden aber doch eine bestimmte, zusammenhängende
und recht energische Anschauung darin erkennen; wir werden dieselben Ideen
wiederfinden, die vor noch nicht langer Zeit manches Herz höher schlagen
machten; Ideen, die einer Wirklichkeit entsprechen. — Aber, wird man sagen,
es ist ja nur ein Betrug! — Vielleicht; aber man kann auch durch die Wahr¬
heit betrügen! —Der Zweck der napoleoniden ist, Frankreich zu beherrschen;
vielleicht halten sie es jetzt aber für das beste Mittel zu diesem Zweck, offen
die Tricolore aufzustecken. — Vielleicht denken die napoleoniden größer als
die Republikaner in Glacehandschuhen, größer als die Herren Bastide und
Lamartine, die Frankreichs Untergang prophezeihten, wenn ein unabhängiges
Italien daneben entstände. Napoleon hat ein größeres Zutrauen in Frankreichs
Stärke, er hat bereits ein recht stattliches Italien geschaffen, und, wie die
Sachen jetzt stehen, zweifeln wir keinen Augenblick daran, daß er ihm auch die
Hauptstadt geben wird.
Denn der Krieg gegen den Papst und den Ultramontanismus ist erklärt,
so offen, wie je in der Weltgeschichte ein Krieg erklärt war. Einzelne stu¬
dentische Ausdrücke des Prinzen mögen die Minister mißbilligen, in der Haupt¬
sache haben sie dasselbe gesagt, und der Bischof von Poitiers — dessen Be¬
redsamkeit wir übrigens volle Gerechtigkeit widerfahren lassen — hat mit
seinem biblischen Vergleich den Nagel auf den Kopf getroffen. Louis Napo¬
leon hat den Ultramontanismus als Mittel benutzt, die Republik zu besiegen:
jetzt kann er von ihm nichts weiter erwarten, und die Versöhnung ist un¬
möglich geworden. Er bedarf aber eines geistigen Princips, um seine ma¬
terielle Macht zu beleben, und nur das Princip von 1789 ist dem Ultramon-
tanismus gewachsen.
Vielleicht wird noch in diesem Jahr Rom die Hauptstadt des neuen Ita¬
lien. Die öffentliche Meinung in England ist entschieden dafür; wie sehr Ru߬
land geneigt, ist, sich den Ansichten Napoleons unterzuordnen, zeigen die De-
peschen in der syrischen Angelegenheit, und die höchst erstaunlichen Vorfälle
in Warschau werden die Nothwendigkeit einer französischen Allianz der russi¬
schen Regierung noch deutlicher gemacht haben.
Aber Oestreich soll ja erklärt haben, es werde, sobald die Franzosen aus
Rom gehen, seine Truppen an deren Stelle schicken? Wer daran glaubt,
der mag auch annehmen, daß die Elberfelder Waisenkinder vom heiligen Geist
angeregt worden sind!
Das großartige, wunderbare Schauspiel der Umgestaltung Oestreichs' in
einen Verfassungsstaat bedarf einer eingehenden Beleuchtung. Wir, werden sie
im nächsten Heft geben. Hier nur soviel: nachdem Oestreich die Umgestaltung
einmal begonnen, kann es sich nicht eher frei bewegen, als bis es sie vollendet
hat. Wollte Oestreich in diesen Uebergangswehen einen europäischen Krieg
unternehmen, so ginge es seiner völligen Zertrümmerung entgegen. Und all-
mälig fängt man auch in Wien an. das zu begreifen, und würde noch viel
deutlicher sehen, wie die Sachen beschaffen sind, wenn man in Berlin die
Augen offen hätte. '
Dies ist der Punkt, auf den es uns eigentlich ankommt. Indem wir die Mög¬
lichkeit, daß Frankreich die Tricolore aufsteckt, geltend machen, fällt uns nicht ein,
daraus den Wunsch einer Allianz mit Frankreich herzuleiten. Die Principien von
1789 können in Frankreich stark genug sein, um ein unabhängiges Italien
neben sich zu dulden; sie werden aber nie so sehr das Interesse zurückdrängen,
um ein geeinigtes Deutschland wünschen zu lassen. Für unsere innere Wie¬
dergeburt können wir in Frankreich nie einen Freund, sondern müssen wir
stets einen gefährlichen Gegner erwarten, einen um so gefährlicheren Gegner,
je straffer es seine eigenen Kräfte concentrirt.
Aber warum siel das alte Europa vor dem revolutionären Frankreich?
Weil es nicht den Muth und nicht die Kraft hatte, dem lebendigen Princip
ein lebendiges Princip entgegen zu stellen, weil es sich schwächlich an das ab¬
gelebte System des canonisirten Egoismus anklammerte; jenes gemeinen
Egoismus, der den Namen Gottes mißbraucht und. wenn es zur Ent¬
scheidung kommt, in den kleinlichsten Interessen befangen eines großen Ent¬
schlusses unfähig ist. Deutschland oder Preußen kann nur dann dem in¬
neren Wachsthum Frankreichs ruhig entgegensehen, wenn es selbst die abge¬
lebten Formen abwirft und sich aus eigenen Kräften verjüngt. Der erste
Schritt, den Preußen thun muß. um nach außen hin zu wirken, um — mora¬
lische Eroberungen zu machen, ist die innere Wiedergeburt. Die Verbesserung
der innern Zustände ist nicht blos eine Frage der Freiheit und der Ordnung,
sondern geradezu eine Frage der Macht. So lange Preußen in den 'Tradi¬
tionen von Hinkeldey, Westphalen und Manteuffel unentschlossen fortschleicht,
bleibt es auch nach außen ein machtloser Staat. Die Wärme, mit der sich
Graf Schwerin des Herrenhauses rrnd ähnlicher Institutionen angenommen
hat, deutet nicht auf eine scharfe Erkenntniß dieser Lage hin; dagegen fin¬
den wir in den Reden der Abgeordneten von Vincke und von Carlowitz
das richtige Verständniß dessen, worauf es ankommt. Dies auszusprechen
halten wir für nöthig, weil in liberalen und wohlgesinnten Blättern, die sich
an gleichgültige AeuHerlichkeiten heften, die genannten Männer nicht so ge¬
würdigt werden, wie sie gewürdigt werden müssen.
Nach zuverlässigen officiellen Nachrichten besteht die dänische Flotte zur Zeit
aus folgenden Fahrzeugen-
3 Schraubensrcgatten, wovon 2 mit Maschinen v. 300 Pferdekraft und 42
Se. dreißigpfündigen Kanonen; das dritte (Jylland) hat eine Maschine von 400
Pferdekraft und 44 Kanonen; die beiden ersteren stehen, nach dem Urtheil von Sach¬
kundigen, in Hinsicht auf die Schnelligkeit, weiche als ein Hauptmoment der Tüch¬
tigkeit bei Kriegsdnmpfern angesehen wird, sehr zurück, und in Betr.acht kommt eigent¬
lich nur Jylland. Ferner aus 2 Schraubcncorvetten zu 12 und 16 Se. dreißigpfün-
digcn Kanonen und 260 Pferdekraft, 4 Nädcrdampfschiffen mit 2, resp. 1 Bombcn-
kanone. Diese Schiffe werden vom Marineminister selbst ausdrücklich als zum
Dienst untauglich erklärt. Endlich 3 Schraubcnkanonenboten 5. 2 Se. scchszigpfündigcn
Bomben- oder drcißigpfündigcn Kugclkauonen, eins hiervon ist gänzlich unbrauchbar.
Im Bau begriffen sind gegenwärtig 1 schwere Fregatte von 52 Kanonen und
1 Corvette von 16 Kanonen.
Das Linienschiff Skiöld mit 64 Se. drcißigpfündigcn Kanonen wird gegen¬
wärtig mit Hilfsschraubc von 300 Pferdekraft versehen, doch ist das Schiff 27 Jahre
alt und bedarf großer Reparaturen.
An Segelschiffen sind vorhanden!
3 Linienschiffe mit zusammen 240 Kanonen, 6 Fregatten mit 290 Kanonen,
7 Korvetten und Briggs mit 96 Kanonen. Von den Linienschiffen ist nur 1 von
72 Kanonen, von den Fregatten 1 von 44 Kanonen, von den Corvetten 3 und
von den Briggs kaum 1 als dicnfltüchtig zu betrachten. Uebrigens legt der Marine¬
minister aus die Segelschiffe selbst keinen Werth und bemerkt, daß dieselben keinen
Nutzen gewähren gegen einen Feind, der eine Seemacht besitzt, ja daß sie eher als
schädlich anzusehen seien, indem sie die Bewegungen der übrigen Schiffe hemmen,
und den Gebrauch derselben beschränken.
Außer 701 Mann vom vorigen Jahrgang sind zum Dienst ausgehoben,
800 VoUbefahrcne, 1300 Halbbefahrene. 2600 Scegcwohnte und 1300 Nichtsec-
gspHtzntz,„.,j, ,,'u„ ,„js„i^. -!-,it-ti7i>se!6 ib.,',^ //um6ttösl,s.»9. N'.'-in-Z?!, ,?>". «'hö'-et« ü
Zur gewöhnlichen Aushebung waren zum 1. Mai ausgeschrieben 890 Mann.
Es muß dabei bemerkt werden, daß die vorstehende außerordentliche Aushebung
allein im Königreich und Schleswig geschieht. Eine bestimmte Zahl der daselbst auf-
zuhebenden Mannschaft ist nicht zu ermitteln gewesen, würde auch den Behörden
selbst nicht wol möglich sein, da, namentlich in Schleswig sich viele dem Dienste
entziehen. Eine Aushebung von 6000 Matrosen würde für Dänemark selbst mit
Aufgebot aller Kräfte zur halben Unmöglichkeit gehören. Kcincnfalls besitzt dasselbe
hinlänglich Schiffe, um dieselben zu placiren.
Zur Kanone werden auf größeren Schiffen durchschnittlich 10 Mann gerechnet.
Angeblich beträgt die Mannschaft auf dem Holm 3000 Mann. Diese Zahl ist in¬
deß übertrieben.
Kaleidvscop. Von or. A. Münchcnberg. Königsberg, Theile's Buchhand¬
lung. 1861. Schilderungen von Dcrwischtänzen. pantomimische Dramen, lyrische
Gedichte, Gelcgenhcitscarmina. Gcdankenspähne, Epigramme, Abhandlungen über
Deklamation, dramatische Studien in Briefform. Die Derwische sind hübsck ge¬
schildert, die Gedichte wären besser ungedruckt geblieben.
Zur Erinnerung an J.W. Süvcrn vom Director Passow zu Thorn. (Der
Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gewidmet). — Süvern ist dem weiten Publi¬
kum durch seine geistvolle Kritik des Schillerschen Wallenstein bekannt. Das Leben
und Wirken dieses wohlwollenden und bedeutenden Mannes ist ansprechend dar¬
gestellt. —
Aus der Heimath. Ein naturwissenschaftliches Volksblatt. Herausgegeben von
C. A. Roßmäßler.—Wir freuen uns, daß diese sehr nützliche und wohlgcschriebnc
Zeitschrift durch den ersten Jahrgang ihre Lebensfähigkeit bewährt hat. —
Die politischen und socialen Zustände der Provinz Westphalen während der
Jahre 1348—1858. von Pfarrer Florschütz zu Iserlohn. — Elberfeld. Martini.—
Ein sehr schätzbares Material für die Details der Reaction, aus denen man die Be¬
deutung dieses Worts besser erkennt als aus allen noch so wohlgemeinten Decla-
mationen. ^
Ungarns gutes Recht. Politisches Material und summarische Geschichte
Ungarns vom neunten Jahrhundert bis auf die Gegenwart, mit Rücksicht auf die
neuesten östreichischen Zugeständnisse. Nach historischen Quellen und eignen Erleb¬
nissen von einem Magyaren. — Wir hegen große Sympathie für die ungarische
Sache, die in vielen Punkten mit der Sache der Freiheit überhaupt zusammen¬
hängt, möchten aber doch den Wunsch aussprechen, daß die Ungarn nicht die Tra-
montana verlieren mögen. Was neuerdings in den Comitaten geschehn, verräth
mehr Eiser als gesunden Menschenverstand. —
Kunst und Handwerk. Ein Roman vom Verfasser der „Abentheuer eine
Emporkömmlings." — 3 Bde. — Frankfurt a. M., Saucrländer. — Dieser No-,
man beruht aus sehr ernsten Studien, nicht blos auf dem Gebiet der Musik, auf
dem er sich hauptsächlich bewegt, sondern auch auf dem der Psychologie. Der Ver¬
fasser hat die Verführungen, welche die große Welt gerade dem begabten Künstler
und Virtuosen so nahe legt, wahrscheinlich an sich selbst kennen gelernt, und ihnen
ein warmes und redliches Gefühl entgegengebracht. Man darf den Roman nicht mit
den gewöhnlichen Künstlernovellen vergleichen, die in oberflächlicher Sentimentalität,
ohne Eingehen auf die tieferen Conflicte, ja ohne ein Verständniß derselben, mit den
Zuständen spielen: er ist sehr ernst empfunden und enthält Wahrheit. — Schade,
daß eine gewisse Steifheit des Ausdrucks und auch der Komposition den Zugang
erschwert. —
Unsere Zeit. Jahrbuch zum Conversationslcxicon. 4. Bd. Leipzig, Brock'
Haus. — Dieses vortreffliche Werk fährt sort, sich um die richtige und gesunde
Auffassung der gegenwärtigen Zustände verdient zu machen. — Bekanntlich dient es
auch in sofern zur Ergänzung des Conversationslcxicons, als es die Artikel dessel¬
ben, namentlich bei eintretenden Todesfällen, fortführt. — Bei weitem wichtiger sind
aber die größern Abhandlungen; einige derselben heben wir hervor. — Die Ostsee
rüste und ihre Vertheidigung gegen eine feindliche Invasion (ist jetzt gerade wieder
sehr zeitgemäß). — Die Jade. — Der Ackerbau im heutigen Europa. — Die neue¬
sten Geschichtswerke in Frankreich. Die römische Frage. — Livingstones Reisen im
südlichen Centralafrika. — Militärisch-geographische Darstellung Norditaliens. — Die
kurhessische Verfassungsangclcgcnhcit. — Die gezogenen Feuerwaffen. — Die socialen
Verhältnisse in Bosnien und der Herzegowina, (vom Frh. v. Rei nsberg-Dürings-
feld.) — Die Alpenwirthschaft. — Der Great Eastern. — (Leviathan). — Toskan«
in den Jahren 1849—60, — Die Civil-Ehe in ihrer historischen Entwicklung. — Die
Donaumündungcn. — Die Finanzvcrhältnisse Frankreichs. —- Mecklenburg in den
Jahren 1850—60. — Der Dampfpflug. — Ferner ausführliche Biographien und
Charakteristiken von Gladstone, Schamyl, Matthis, Garibaldi, W. Irving, Benedek,
Szcchenyi, Radetzki, Thiersch, Cardinal Antonelli, Arthur Schopenhauer, Macaulay,
Decamps u. A. — Wir wiederholen noch einmal den Wunsch eines ausführlichen
Registers: die kleinen Notizen von den größern Abhandlungen getrennt; ferner
eines allgemeinen Registers über alle 4 Bde.; die paar Bogen Zugabe werden sich
reichlich belohnen. —
Der östreichische Pandurcn-Oberst Franz von der Tranck. Historischer
Roman aus der Zeit Maria Theresias von A. von L. Celle. Schulze. — (Ein Seiten-
stück des historischen Romans) Friedrich von der Trennt; Erweiterung und Ergän¬
zung der historischen Romane von L. Mühlbach.) — Bis jetzt sind von den Ge¬
schichten dieses Abenthcurers 3 Lieferungen erschienen. —
Ueber die Wechselwirkung des Dichters und seines Zeitalters mit besonderer
Rücksicht auf Goethe und Schiller. Vortrag gehalten in einem wissimschaftlichen
Verein zu Münster, 22. März 1860, von Prof. Ferd. Dencks. (Münster, Regens-
berg). — Bezieht sich hauptsächlich auf die Verhältnisse der modernen Dichtung zum
christlichen Geist. —
Beleuchtung der dänischen Concessionen zum angeblichen Schutz der deutschen
Nationalität im Herzogthum Schleswig. — Braunschweig, Schwetschke und Sohn.
— Kurz, einfach und schlagend für alle die, welche noch von der Möglichkeit träu¬
men, mit dem Königreich Dänemark auf dem Wege der Unterhandlung vorwärts
zu kommen. — Für uns Deutsche ist es nicht mehr nöthig; möchten nur alle Sach¬
verständigen ihr Streben auf die Aufklärung der englischen Presse richten! —
Hallberger's Salon. Ausgewählte Originalcompositionen für das Pianoforte.
(Stuttgart, Hallberger). — Die neuesten Hefte enthalten: ig, eouxs (elicmson K
boirs) von Ch. Dvliouq, marons turciuö von-Ega. Fröhlich, rsvorie nve-
turne von M. Bcrgson, Lied ohne Worte von Abenhcim, Romanes sens xa,-
rolsg von I. Dupralo, numdlö xriörö von Jul. Erlanger, nooturns elüg^ut
"vn Eug. Kellerer, zwei Lieder ohne Worte von Josephine Lang, Mazurka von
Eug, Kcllerer, Polonaise von Aug. Todt, Galopp von Raps. Billema und
Transscriptioncn nach Mendelssohn und Küken. — Gleichzeitig wird die in demselben
Verlag erscheinende musterhafte Ausgabe der musikalischen Classiker Beethoven, Mo-
Zart, Haydn, Clementi in ihren Klavierstücken rüstig fortgesetzt und nähert sich bereits
ihrer Vollendung. —
Nicolo Macchiavelli und das System der modernen Politik. Von Prof.
or. Theodor Mundt. — Dritte, neu bearbeitete Auflage. (Berlin, Janke). — Es
'se sehr Schade, daß der Verfasser die beiden Gegenstände seines Werks nicht von
nnandcr getrennt hat, denn jedes ist eine Aufgabe für sich, wenn man aber Mre-
chicivclli und den Macchiavellismus durcheinanderwirst, so ist man in Gefahr, die
Gesichtspunkte zu verwirren. Denn wenn auch viele Grundsätze des florentiner Poli¬
tikers sich auf unsere Zeit beziehen lassen — jedes Genie wird Dinge sagen, die
auf alle Zeit angewandt werden können — so waren die Vorcmssetzun gen des fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhunderts doch wesentlich denen des unsrigen entgegen¬
gesetzt. — Die Schrift liest sich übrigens sehr angenehm; wer sich aber über Mac-
chiavelli ernsthaft belehren will, den verweisen wir an Mohl's „Geschichte und
Monographie der Staatswissenschaften" (Erlangen. Ente) III. S. 522—591. -
Von diesem Buch ist es schwer, eine Charakteristik zu geben, da alles Mögliche darin
zu finden ist, ohne daß man wüßte, wie es hineingehört; aber es enthält Mono¬
graphien vom ersten Range, und zu den vorzüglichsten gehört die über Macchiavelli,
sowol wegen der Vollständigkeit der Studien als wegen der Besonnenheit des Ur¬
theils. Mohls Endresultat ist folgendes: „Hochbegabt wie wenige, durchaus selbst-
ständig im Denken und Wollen, begeistert für einen großen und edeln Zweck: ist er
doch höchst unvollkommen von sittlicher Seite durch gänzliche Ablösung des Verstan¬
des vom Gewissen, und tritt der Erreichung seiner Ziele selbst in den Weg durch
Verachtung des Menschen und des Menschlichen. Er ist eine Warnung für alle
Zeiten; ein betrübendes Beispiel einer vortrefflich angelegten, aber unvollkommen aus¬
gebildeten Natur; ein mächtiges, aber verstümmeltes Bruchstück eines großen Mannes.
Es beweist Mangel an sittlichem Sinn oder muthwilliges Spiel mit der Wahrheit,
wenn ihm blos Lob zu Theil wird; Unfähigkeit aber zur Beurtheilung einer ver¬
wickelten Aufgabe, einseitigen Haß, Mangel an geschichtlicher Kenntniß oder bewußte
Ungerechtigkeit, wenn ausschließender Tadel ausgesprochen wird . . . Macchia¬
velli hat gesündigt; aber noch mehr ist gegen ihn gesündigt worden." —
Milton. Studien zur Geschichte des englischen Geistes von Gustav Liebcrt.
Hamburg, Meißner. — Ein mit vielem Fleiß und Wärme für die Sache ausgear¬
beitetes, im Ganzen gut geschriebenes Buch (die Sprache könnte etwas einfacher sein),
das noch würde gewonnen haben, wenn der Verfasser sich der allgemeinen Urtheile
über welthistorische Dinge enthalten hätte, die nicht nöthig waren, und zu denen
ihm mitunter doch noch das Material fehlt. —'
Dios no pulso! (Gott wollte es nicht!) — Spanische Kriegs- und Fricdcns-
sccncn von Franz von Thurm. — 2 Bd., Leipzig, Brockhaus. — Halb novellistisch
halb historisch, schildert der Verfasser, mit einer Lebhaftigkeit der Farbe, die nicht
selten an Ferrein Caballero erinnert, die Unruhen der Karlisten in Spanien und
Portugal, und die Verzweigungen dieser Politik in das Familienleben. Die einzel¬
nen Bilder, z. B. ein Stiergefecht — was man freilich bald zur Genüge kennen
wird — sind vortrefflich ausgeführt. Seiner Gesinnung nach ist der Verfasser Kar¬
list, und sucht dieser politischen Partei einen romantischen Reiz zu verleihen, de"
wir ihr gern gönnen wollen, sobald sie sich nur vollständig aus der Wirklichkeit n>
das luftige Gebiet der Romantik verzieht. —
„Fritz Reuter ist am 7. Nov. 1810 in Stavenhagen (Mecklenburg-Schwe¬
rin) als ältester Sohn des dortigen Bürgermeisters und Stadtrichters geboren.
Sein Vater, von außergewöhnlicher, rastloser Thätigkeit, betrieb außerdem eine
nicht unbedeutende und intelligente Landwirthschaft, über welche er in popu¬
lären Schriften zu berichten pflegte. Er war ein strenger, überaus pflicht¬
getreuer Mann. Die Mutter war in Folge einer heftigen Krankheit gleich nach
der Geburt eines zweiten Sohnes, der bald starb, gelähmt und hat bis zu
ihrem Tode im Jahre 1825 den Gebrauch ihrer Glieder nicht wieder erhalten.
Desto reger war ihr Geist, und schon früh wußte sie den Sohn für die großen
Dichter deutscher Nation zu enthusiasmiren. Hierbei half auch der Pathe.
Amtshauptmann Weber, der mit Onkel Herse so ziemlich den einzigen Um¬
gang der Aeltern bildete. Es sind Zustünde des väterlichen Hauses, welche
Reuter in der Geschichte „Otte Kamelien" geschildert hat, er selbst hat sich als
strebsamen Knaben und kleinen Botenläufer hereingesetzt, in Wirklichkeit aber
war er in dem Jahre, in welchem die Erzählung verläuft, noch nicht drei
Jahre alt. Der Knabe suchte seine Gefährten im Kreise der Bürgersöhne,
er fand sie am liebsten bei den Söhnen des Pächters Nahmacher aus dem
hart an der Stadt gelegenen Altbauhofe. Nachdem in dem elterlichen Hause
noch zwei, wenig ältere, Vettern aufgenommen waren, wurde bis zum Jahre
1824 der Unterricht für die Knaben durch Hauslehrer beschafft. Von da ab
besuchte Reuter mit einem Vetter, der jetzt Pastor in Tessin ist, das Gymnasium
zu Friedland in Mecklenburg-Strelitz. das sich damals eines durch Turnen ge¬
hobenen rüstigen Jugendlebens erfreute. Geschichte. Geographie, Mathematik
und Zeichnen waren die Lehrgegenstünde, die dem Knaben am meisten zu-
sagten; nach drei Jahren erklärte er seinen Wunsch Maler zu werden. Dies
stimmte aber schlecht zu den Wünschen des Vaters, der einen Juristen aus
ihm ziehen wollte; er brachte ihn deshalb durch Versetzung nach dem damals
neu organisirten Gymnasium zu Parchim in andere Umgebungen; der Zeichnen¬
unterricht mußte aufhören. Hier blieb Reuter bis zum Abgange nach der
Universität Rostock (Michaelis 1831), wo er denn mich, allerdings mit innerm
Widerstreben, Institutionen und Rechtsgeschichte hörte. Nach Verlauf eines
halben Jahres ging er nach Jena und trat hier in die Burschenschaft ein,
und zwar in die Fraction Germania, die sich in Folge der Julirevolutio»
und des polnischen Aufstandes in ihrer Art mit Politik befaßte.
Deshalb wurde er im Herbst 1833 in Preußen verhaftet und zur Unter¬
suchung gezogen. Er war einer der Ersten, mit denen die große Demagogen-
hatz begann. Ein volles Jahr dauerte die Untersuchung auf der Hausvogtei
unter der Leitung des bekannten Criminaldirectors Damenhand. Trotz aller
Reclamationen der mecklenburgischen Regierung wurde er auf preußische
Festungen gesetzt, zum Tode verurtheilt, kraft vbenichterlicher Gewalt des
Königs mit 30jähriger Festungsstrafe begnadigt und bis zum Sommer 1838
auf verschiedenen preußischen Festungen delirirt. Dann wurde er auf specielle
persönliche Verwendung des Großherzogs von Mecklenburg, Paul Friedrich,
auf die vaterländische Festung Dönitz ausgeliefert, jedoch mit der bestimmten
Bedingung, daß die endliche Begnadigung nur von Preußen ausgehn sollte.
Dies geschah im Herbst 1840 bei der Amnestie, die nach dem Tode Friedrich
Wilhelm des Dritten'eintrat. Von der Rechtswissenschaft hatte er während
seiner Haft auf immer Abschied genommen; Zeichnen — vieles Porträtiren, —
Mathematik und deutsche Literatur halfen ihm die böse Zeit ertragen; in
den letzten Jahren außerdem das Studium der in die Landwirthschaft ein¬
schlagenden Wissenschaften, da er entschlossen war, nach der Freilassung Land¬
wirth zu werden. Dies that er auch, und er ist bis zum Jahre 1850 praktischer
Oekonom geblieben.
Der 1845 erfolgte Tod des Vaters und die dadurch klar gewordenen pe-
cuniären Verhältnisse zeigten ihm die Unmöglichkeit, jemals auf diesem Wege
eine selbständige Stellung zu erringen, und doch war solche Stellung sein
sehnlichster Wunsch, die Liebe zu seiner jetzigen Frau drängte ihn zu einer
Entscheidung über sein Leben. Er entschloß sich kurz; auf den Rath und
durch die Vermittlung lieber Freunde ward er, nachdem er Preuße geworden,
Privatlehrer in der kleinen vorpommerschen Stadt Treptow an der Tollensc.
Hier gab er im Jahre 1853 den ersten Band von „Läuschen und Nie-
mels" heraus, der seine Entstehung dem heitern, geselligen Verkehr im Hause
seines Freundes Peters zu Thalberg und der vielfachen Anregung eines an¬
dern Freundes, des Justizrath Schröder zu Treptow verdankt. Darauf
folgten „Polterabend-Gedichte", die von 1842 ab bei verschiedenen Ge¬
legenheiten entstanden waren. Dann „De Reis' na Belligen".
Im Jahre 1855^ übernahm er die Redaction eines Unterhaltungs¬
blattes sür Mecklenburg und Pommern; das Unternehmen fand Anklang, aber
fast gar keine Unterstützung und mußte 1856 bei der Nachlässigkeit des Verlegers
aufgegeben werden, der schließlich ohne Rechnungsablage nach Amerika ver¬
schwand. Ostern 1856 siedelte Reuter, angezogen von dem größern Verkehr
und der anmuthigen Gegend, nach dem benachbarten Neubrandenburg über.
Dort lebt er. jetzt nur mit literarischen Arbeiten beschäftigt. Hier entstanden
einige unbedeutende Lustspiele und Possen, die bei dem gänzliche» Mangel
aller Bühnenkenntniß, vielleicht auch mangelhafter dramatischer Befähigung
nur einen zweifelhaften Erfolg hatten. Wenn auch einige: die „drei Lang¬
hause" und „Blücher in Teterow" aus dem Wcillnerschen Theater in
Berlin zur wiederholten Aufführung kamen, so ist doch der Verfasser selbst
sehr schlecht mit ihnen zufrieden. 1857 erschien „kein Hüsung", 1858 der
zweite Band von „Läuschen und Niemels". ZI859 „Otte Kamelien".
1860 „Hanne Unke".
Seine dichterische Begabung verdankt Reuter, nach seiner eignen Auffassung,
den Anregungen, welche er in der Jugend von seiner Mutter empfing, aber auch
der siebenjährigen Festungshaft, die ihn, in Ermangelung unterhaltender Wirk¬
lichkeit zwang, alle möglichen Phantasiespiele heraufzubeschwören. Bei dieser Be¬
schäftigung wurde er lebhaft durch sein Malertalent unterstützt; denn wie er mit
der Kreide Portraits auf das Papier hinzuwerfen verstand, so gelang es ihm
auch im poetischen Schaffen nicht nebelhafte Gebilde, sondern scharfe Um¬
risse auf das Papier zu werfen. Was er als Knabe mit dem Stift, als
Festungsgefangener in träumender Seele malte, das zeichnet er heute mit Wor¬
ten, und seine Darstellungen von Zuständen und Charakteren treten an uns
heran, adh sähen wir sie leibhaftig vor uns. Bei Darstellung menschlicher
Charaktere unterstützt ihn eine große Menschenkenntnis die er gleichfalls vor¬
zugsweise auf der Festung erworben hat; er sagt selbst: „Im regen Verkehr
mit vielen Menschen mag man die Menschen besser erforschen, ist man aber
Jnhre lang auf einenUmgang angewiesen, so lernt man den Menschen besser
kennen." Die realistische Auffassung der norddeutschen, speciell mecklenburgi¬
schen, ländlichen Zustände, hat er, abgesehen von seiner norddeutschen Natur,
die überhaupt jener Auffassung zuneigt, vorzugsweise durch seine Erziehung
'n einer kleinen, Ackerbau treibenden Stadt, so wie durch seine Beschäftigung
als Landwirth erhalten. Beides umschrieb ihm aber auch als den Kreis seiner
Poetischen Thätigkeit das Stadt- und Landleben, wie es sich in Mecklenburg
und Vorpommern, und zwar besonders in den niedern Schichten der Bevölke¬
rung gestaltet hat.
Die niederdeutsche Sprache ist für solche Schilderungen nach vieler Hin¬
sicht besser geeignet, als die hochdeutsche Schriftsprache, welche ihnen wie ein
unbequemer Rock gesessen hätte. Reuter aber hatte n,och besondere Veran¬
lassung, als niederdeutscher Dichter aufzutreten. Seit seiner Kindheit hat er
plattdeutsch gesprochen. Im Elternhaus zu Stavenhngen. als Gymnasiast in
Friedland und Parchim, auch als Student in Jena, wo viele seiner Lands¬
leute Mitglieder der Germania waren; noch als Gefangener auf der Festung,
wo er beständig Landsleute zu Leidensgefährten hatte, zuletzt als Landwirth.
Er kennt und beherrscht die niederdeutsche Sprache durch und durch, allerdings
in der Dialektfarbe, welche das niederdeutsche in seiner Heimath, z. B. gegen¬
über Holstein, hat. Er hat die Sprache nicht nach der Grammatik studirt,
sondern einzig nach dem Leben, wie ja auch seine poetischen Schöpfungen aus
dem vollen Leben gegriffen sind.
Reuter ist kein gelehrter Mann, aber von reicher und umfassender Bil¬
dung. Sein wechselvolles Leben hat ihm Gelegenheit gegeben, Vieles zu be¬
obachten und sich ein selbständiges Urtheil zu formen. Dadurch wird auch
seine Unterhaltung in hohem Grade anziehend. Wie in seinen Schriften, zeigt
er auch im Verkehr mit Andern einen reichen Humor. Freilich in der ersten
Begegnung erweist wol auch er seine norddeutsche Natur durch zurückhaltende
Schweigsamkeit; für die aber, welche er einmal liebgewonnen, ist er ein treuer,
zuverlässiger Freund. In der Politik ist er den liberalen Ideen seiner Jüng¬
lingsjahre treu geblieben, und was er damals vergeblich träumte, erstrebt er
jetzt als Mitglied des Nationalvereins mit männlichem Ernst.
Die Eröffnung des ersten italienischen Parlaments lenkt aufs Neue den
Blick aller auf den Staatsmann, der mit kühnem Geist und fester Hand die
ganze Bewegung geleitet, welche die apenninische Halbinsel zu einer Großmacht
vereinigt, der nur noch ihre künftige Hauptstadt und das venetianische Außen¬
werk zu erobern übrig bleiben. Wenn man betrachtet, mit wie geringer Er-
schütterung ein so gewaltiges Ergebniß zu Wege gebracht ist, so wird man
der Ueberlegenheit einer Politik, die dazu führte, nicht die Bewunderung ver¬
sagen können, selbst wenn man die Mittel nicht ohne Rückhalt billigen kann,
welche dieselbe verwendete. Ein Blick auf die Persönlichkeit des Mannes, der
mit kurzen Unterbrechungen an der Spitze dieser Politik stand, wird daher
nicht ohne Interesse sein.
Graf Camillo Cavour. 1810 geboren, stammt aus einer alten piemon-
tesischen Familie, seine Mutter war eine Genferin und der Verkehr mit seinen
ausgezeichneten Verwandten und Freunden in Gens mag von bedeutendem
Einfluß auf seine Entwicklung gewesen sein. Er zeigte von Jugend auf eine
große Selbständigkeit und neigte sich wie Azeglio und Balbo den neuen Ideen
zu. Aber wenn Ersterer die Leiden Italiens unter der Fremdherrschaft in Ro¬
manen der Jugend,vorführte und Letzterer sich in politische Speculationen über
die Zukunft seines Vaterlandes verlor, so wandte sich der positive Geist Ca-
vours den exacten Wissenschaften zu, er bereitete sich durch das Studium der
Mathematik auf umfassendere Arbeiten über Finanzwirthschaft und National¬
ökonomie vor und ging, da in Piemont unter dem alten Staatswesen kein
Raum für eine praktische Thätigkeit in seinem Sinne war, ins Ausland,
um sich durch Reisen auszubilden. Er bereiste Großbritannien und schrieb
einen Artikel, der bei englischen Politikern Aufmerksamkeit err'egte, über den
gegenwärtigen Zustand Italiens und seine Zukunft; seine Charakteristik des
jungem Pitt ist vorzüglich. Mehre Jahre verbrachte er dann in Paris, wo
er, anscheinend gesellschaftlichen Zerstreuungen lebend, nichts desto weniger mit
festem Blick seine Interessen verfolgte. Er sah weiter als die damals ge¬
feierten Männer der Juliregierung, die ihrerseits wenig die Zukunft des jun¬
gen Jtalieners ahnten, er durchschaute die Hohlheit des damaligen französischen
Liberalismus, über dessen neutrale Furchtsamkeit er sich oft scharf aussprach,
und im Angesicht der drohenden Anzeichen der vierziger Jahre rief er einst:
»der Tag wird kommen, wo die öffentliche Meinung die parlamentarischen
Majoritätskrämer im Stiche lassen wird". Bei seiner Rückkehr nach Piemont
beschäftigte er sich mit der Verwaltung seiner bedeutenden Güter und half 1842
die ^Woeia^loue ^Msrig. begründen, welche, zur Beförderung des Ackerbaus
und Gewerbfleißes unternommen, nationale und liberale Tendenzen nährte.
Ende 1847, nachdem der König Karl Albert die ersten Reformen gewährt,
gründete er mit gleichgesinnten Freunden die Zeitung RiLorZimMw und ver¬
faßte bald darauf eine Adresse an den König um Gewährung einer Verfassung,
»das einzige Mittel, um die Größe des Thrones und die Stärke der Regie¬
rung mit den wahren Interessen des Landes zu versöhnen."
Als Karl Albert bald darauf das Statut gewährte, trat Cavour in die
Kammer als Abgeordneter ein; aber wie er vor Allen für die Verleihung einer
verfassungsmäßigen Freiheit gestritten, so bekämpfte er die Ausschreitungen
der demokratischen Partei auf das Entschiedenste. Als die stürmisch erregte
öffentliche Meinung, nach dem Aufstande von Mailand 1848, zum Kriege ge¬
gen Oestreich drängte, stimmte auch er dem bei und ließ sich bei der Nach¬
richt der Niederlage von Custozza sogar als Freiwilliger einschreiben. Aber als
die Gewalt der Umstände nach Novara gebieterisch den Frieden forderte,
scheute er die UnPopularität nicht, denselben auf das Entschiedenste zu ver¬
theidigen, er leistete hierbei namentlich in den finanziellen Debatten, welche
sich auf die Beschaffung der Kriegsentschädigung an Oestreich von 75 Millionen
bezogen, dem Ministerium so gute Dienste, daß bei eintretender Vacanz ihm
das Handelsministerium angeboten ward. Obwol ihm dessen Verwaltung im
Grunde nur einen beschränkten Einfluß zuwies, so wußte er doch gleich bei
seinem Eintritt der Thätigkeit der Regierung nach allen Richtungen hin einen
neuen Ausschwung zu geben und eine Reihe von Reformen anzuregen und
durchzuführen. Um den gesteigerten Anforderungen an die Steuerkraft des
Landes zu begegnen, begünstigte er die Industrie in jeder Weise, und legte den
Grund zu dem Eisenbahnnetze. Er brach mit den schutzzöllnerischen Grund¬
sätzen, die bisher geherrscht, und leitete die Reform des Tarifs durch eine Reihe
von Handelsverträgen mit den bedeutendsten Staaten ein, welche Sardinien
aus seiner Jsolirung heraustreten ließen und politische Allianzen vorbereiteten.
Bald erhielt er auch das Portefeuille der Finanzen und war nun, wenn
noch nicht das Haupt, doch die Seele des Cabinets. Es war in der That
keine kleine Aufgabe, die durch den Krieg so tief erschütterten Finanzen herzu¬
stellen und zwar auf einem Boden, der durch die Ereignisse vollständig unter¬
wühlt war. Die Linke griff das Cabinet mit Erbitterung an, die Rechte verharrte
ihm gegenüber in mißtrauischem Zögern, dabei bedrohte die steigende Reaction in
Europa die jungen Anfänge parlamentarischer Freiheit in Turin auf das Ernst¬
lichste. Cavour sah ein, daß, um sie zu schirmen, es durchaus nöthig für die Ne¬
gierung sei, sich auf eine compacte Partei zu stützen, und so vollzog er die Verbindung
mit dem linken Centrum, die unter dem Namen eourrudiv bekannt ist. Diele
Anlehnung an die vorgeschrittene liberale Fraction gab aber andrerseits dem
Ministerium die Kraft, ein Gesetz von der Kammer zu erhalten, welches die
Beleidigungen der Presse gegen fremde Souveräne den Geschwornen entzog
und den ordentlichen Gerichten zuwies, wodurch Cavour sich zuerst das Wohl¬
wollen Louis Napoleons erwarb. Ein Mißverständniß mit seinen College»
ließ ihn im Frühjahr 1852 zurücktreten, aber dies war nur ein reeulsr P»ur
mieux SÄUter, denn im Herbste desselben Jahres trat er als Ministerpräsident
an die Spitze eines neuen Ministeriums.
Erst jetzt war es ihm möglich, die Ausführung der weitgreifenden P>""k
zu unternehmen, mit denen er sich seit lange beschäftigt. Seine Sorge war
bisher vornehmlich gewesen, die repräsentative Regierung in Sardinien zu be¬
festigen und auszubilden, und die Hilfsquellen des Landes zu entwickeln, aber
seine politischen Ideen hielten nicht am Tessin inne, sie umfaßten ganz Italien,
mit allen Patrioten sah er das Hinderniß für eine freie Entwicklung seiner
Nation in der Fremdherrschaft und haßte Oestreich wie Hannibal Rom. Da
nach dem Kriege das Land. Ruhe brauchte, um sich zu erholen, so wußte Ca-
vour wenigstens für die materiellen Verhältnisse durch einen Handelsvertrag
ein leidliches Einvernehmen herzustellen, aber der unversöhnliche Gegensatz der
beiden Staaten mußte bald um so entschiedener wieder ausbrechen, als Victor
Emanuel jetzt offen die Tendenzen verfolgte, deren schüchterne Aeußerung bei
Karl Albert Metternich mit unerbittlicher Feindschaft bekämpft hatte. In Folge
des Aufstandes in Mailand vom 6. Februar 1853 verhängte Oestreich idem
Sequester über die Güter der nach Piemont ausgewanderten Lombarden, was
den Abbruch der diplomatischen Beziehungen der Cabinete von Wien und
Turin zur Folge hatte und den Grafen Cavour trieb, sich Frankreich zu nähern.
Mit seinem scharfen Blicke hatte er erkannt, daß gerade durch den Staatsstreich
Louis Napoleons, der von den absolutistischen Regierungen mit Jubel begrüßt
war, Europa in Bewegung kommen werde, da der Kaiser gezwungen sein
werde. Frankreich durch den Ruhm auswärtiger Politik für die Unterdrückung
der Freiheit im Innern zu entschädigen. Als er im Frühjahr 1852 sein Porte¬
feuille auf kurze Zeit niederlegte, ging er nach Paris und hatte hier zuerst mit
Napoleon Unterredungen über seine italienischen Pläne und die Rolle, die er
Frankreich dabei zudachte.
' Festere Gestalt gewannen die Gedanken einer solchen Verbindung durch
die Allianz mit den Westmünster gegen Rußland vom 26. Januar 1855. Der
Vertrag, den ein östreichischer Diplomat un eoux ac xistolet dir6 Z, bout por-
timt aux oroillos Ah 1'^utrielrs nannte, erregte das größte Erstaunen und fand
selbst in Sardinien so lebhaften Widerstand, daß er in der Deputirtenkammer
nur mit einer Majorität von 31 Stimmen durchging. Man fragte, wodurch
Rußland die Regierung beleidigt, daß sie zu seiner Bekämpfung dem Lande so
schwere Opfer auferlege. Aber der Vortheil, den Graf Cavour aus dieser
Offensivallianz mit den Westmünster zu ziehen beabsichtigte, war offenbar ein
«ndrer als zur Demüthigung Rußlands beizutragen. Er lag darin, daß das
Selbstgefühl des sardinischen Heeres gehoben werden sollte, indem es an der
Seite der französischen und englischen Truppen kämpfte, er lag in der intimen
Verbindung mit den Westmünster, welche die Vertreter des kleinen, kühnauf¬
strebenden Staates trotz allen Widerspruchs des Wiener Cabinets in den Rath
der Großmächte führte und ihnen damit Gelegenheit gab. in demselben dk
Sache Italiens zur Sprache zu bringen. Man spottete über dies Großmacht-
Spielen, aber Cavour ging nicht auf einen leeren Schein, sondern wußte, daß
er seine weitreichenden Pläne langer Hand vorbereiten müsse. Auf dem Pariser
Kongreß theilte er als erster Bevollmächtigter Sardiniens den Vertretern Eng¬
lands und Frankreichs am 27. März eine Denkschrift über die Zustände Mittel¬
italiens mit, worin er die Befestigung Pinccnzas und die fortdauernde Besetzung
der Legationen durch Oestreich als eine Verletzung der Wiener Verträge an¬
griff und administrative Trennung der Legationen, Säcularisirung und Reform
der Verwaltung im Kirchenstaate selbst empfahl. An dies Memorandum knüpfte
Graf Walewski die Beleuchtung der italienischen Frage in der berühmten
Sitzung des Congresses vom 8. April. Es kam bei dem Widerspruch Oest¬
reichs zwar zu keinem positiven Beschluß, aber Cavour durfte nach seiner Rück¬
kehr in der Kammer sagen, daß es wol ein Gewinn sei, wenn von den ersten
Staatsmännern Europas die Nothwendigkeit anerkannt sei, den Uebeln, die
auf Italien lasteten, wirksame Heilmittel entgegenzusetzen. Das Parlament
votirte ihm seinen Dank und sprach das Vertrauen aus, „daß die Regierung
des Königs in der nationalen Politik, die sie auf dem Kongresse zu Paris
entwickelt, mit Festigkeit beharren werde." Aus allen Theilen Italiens ström¬
ten Dankadressen und Ehrenbezeugungen dem Staatsmanne zu, der die natio¬
nale Sache mit offnem Visir vertheidigt.
Aber noch einen andern Gewinn hatte Cavour in Paris erreicht, er hatte den
früher mit Napoleon begonnenen Verkehr wieder angeknüpft und ausgebildet.
Die Kaiserin war damals im Wochenbette, der sardinische Premier speiste oft¬
mals mit dem Kaiser allein und entwickelte ihm auf langen Spaziergängen
im Garten des ElrMe seine Ideen über eine gemeinsame Befreiung Italiens,
seine eminenten Fähigkeiten gewannen die aufrichtige Bewunderung des un¬
umschränkten Gebieters von Frankreich, den der kluge Schüler Macchiavelli's
zum Sturmbock gegen die östreichische Herrschaft sich ausersehen. Diese Be¬
ziehungen wurden um so intimer, als die unkluge Politik des Wiener Cabinets
in den Fragen, welche sich an die orientalischen Angelegenheiten knüpften, na¬
mentlich in der der Donaufürstenthümer eine immer größer werdende Spannung
mit Frankreich hervorrief. Cavour wurde, da Sardinien als Theilnehmer am
Congresse hierin mit zu sprechen hatte, Napoleon ein nützlicher Bundesgenosse',
zugleich aber bot sich ihm darin die Gelegenheit Rußland, das mit Frankreich
zusammenging, zu dienen. Fürst Gortschakoff in seinem tiefen.Hasse gegen
Oestreich vol gerne die Hand zu einem freundlichen Einvernehmen mit einem
Staate, welcher der natürliche Gegner der Habsburgischen Monarchie war, und
Cavour, die ganze Wichtigkeit einer günstigen Neutralität des Petersburgs
Cabinets bei dem Kampfe mit Oestreich voraussehend, verstand sich im Som¬
mer 1858 sogar dazu, den sardinischen Hafen von Villafranca an die russische
Regierung abzutreten. Aber der Sommer brachte viel entscheidender seinen
Hauptplan zur Reife. Das Attentat Orsini's hatte auf Napoleon einen tiefen
Eindruck gemacht, er sah die Dolche der Verschwörer auf-sich geri-chtet,--Md' -eV
kannte die unversöhnliche Verwegenheit derselben nur zu-'gÄt,"dd'«r/Ho^Ge¬
nosse gewesen. Cavour benutzte diese Disposition, und aÄf>NKÄKs-<B«suche'-'/i«>
Plombiöres wußte er den Kaiser zu überreden, daß etwas Entscheidendes/MW
demselben für Italien geschehen müsse, um den gewaltsamen-ZustnndM W'
Ende zu machen. Die Heirath des Prinzen NapolwM>W»?»«»"WWs!fiW
Clotilde ward gleichzeitig mit dem Kriege gegen Oestteich-beschlossen.-"-Das
geheime Protokoll, das darüber ausgesetzt ward, ginK' MsilvölliAiWsMibmG
Oestreichs aus der Halbinsel, wogegen Sardinien--bei---det'!'Erwer-buntz dM
lombardisch-venetianischen Königreichs Savoyen und.<-Nizza---an Gvomkötich
treten sollte. Im größten Geheimniß ward Alles zu 'AuMhwngMvs«t"YM
sichten vorbereitet, geräuschlos ging der Cabinetschef Cavo«s.-Haw< ni-M^
zwischen Turin und Paris hin und her, in Compirgne-isuchwMÄpoleow V»M
Palmerston und Clarendon für seine Politik zu 'gdröinÄ'er^Midttdvw"GtSrß
Derbys vorzubereiten. So vorsichtig wurden -dilksej NorkehWWn'-HVtroffen,
daß d» östreichische Botschafter, Bnron Hübnert,6>twtz>lsMerttMuW'Ibchuhlten
geheimen Agenten nichts von alledem merkte und-am R-Mj-Hrstäge''von-'bete
bekannten Worten des Kaisers wie von einem -WiHe'->ruft''-MMtHickmel
getroffen ward. >Das Drama entwickelte sich>-nun>Mg ^rak ZMl)!j-Oestreich
setzte der herannahenden Gefahr unbeugsaMPN"Trd^-'Mtge^eÄ,)^aber--do^Als
zuletzt noch keine Gelegenheit zur Kriegserklärung.--EinnM-Uwa-rd-Nnpolevn
stutzig und schien den Bruch vermeiden zu--wvltew/!Gavour'-Me^ selbst''nach
Paris und drängte ihn vorwärts; mit dem' -östreichischen''Ultimtttum>^bMH>>Vir
Kampf aus. ^ ^min'^j^ni/'i!!.' 7115 6i'Z süliitt .P no
Der Friede von Villafranca, der Me-n seinen W^rM'ediihgeK ^M'^eM
Kaiser so direct widersprach, traf ihn >Wwtteiw'DottftörWKrA M^j««MV 'er
seine Entlassung, die Aufregung machte»ihn"AM ^«'eH" M»MkiA"tthMe
er sich auf seinem Gute Leri. Aber ein'^öd'Wtschi^
Spiel nicht leicht auf, und sobald sich-«nez^WMcht^'ChMel'ßeW^'tM 'K
wieder auf den Kampfplatz. Als eine solche erkannte kein scharfer Blick'so¬
gleich die neue Wendung, welche die' PoliMMpMjMMit--Broschür^
der Papst und der Congreß, nahm. Er sah -einj daß ^s nothwendig-sei^ Sa¬
voyen und Nizza zu opfern, obwol Venedigsuoch' Nlchp erMMj'MW>bed""AM
nexion Mittelitaliens definitiv zu wachen und -shah Frl<nkre>ichs-Ma^ ^zu^r'-
halten. Seine Absicht war, hierzu-noch-dieW!ttMWMdMMriett zu''Me«<'und
dann das Erworbene zu consolidiren.--'-Es war' 'va!si!r ge-gen 'seine'PIütte> daß
Garibaldi seinen kühnen Zug gegen-'SNlKiv 'MttMhm>,''Volch-'bUldeO W^ehr;
weil er glaubte, daß ein solcher' Angriff/z-seid-se Wenn Se^>mWM^Me"ne'api>!-
litauische Negierung schwächen -mWs^welch^det6 flÄWM^MMeth NS"Sst-
N'indischen Systems in Italien wen-.i->>AÄ'Albert>ver'GW^rat'M^iWn DieWeÄ,
nachdem er sein Werk in so überraschender Weise durchgeführt, in Neapel ein
Werkzeug in den Händen der Mazzinisten zu werden drohte, sah Cavours über¬
legener Scharfblick, daß die Anarchie in Süditalien das ganze Werk der Eini¬
gung gefährde, und mit entschlossenem Griffe machte er sich durch die Besetzung
des Kirchenstaats zum Meister der Situation, indem er den territorialen Zu¬
sammenhang herstellte und die Belageiung Gaetas, welche nie von Freiwilligen
unternommen werden konnte, den Genietruppen Cialdinis überwies. Wie er
aber hier kühn allen Protesten Trotz bot und auf die moralische Depesche
des Herrn v. Schlcinitz mit überlegener Feinheit antwortete: Preußen werde
ihm einst noch das Beispiel danken, das Sardinien gegeben, so kaltblütig
besonnen widersteht er, auch jetzt dem ungestümen Drängen aus Eroberung
Venetiens. Er weiß die Kräfte genau zu berechnen, er weiß, daß die europäische
Lage einem Angriffe jetzt ungünstig ist, und überläßt es der Verblendung in
der Hofburg, das Werk der innern Auflösung Oestreichs fortzusetzen.
Seine Aufgabe ist jetzt die römische Frage zu einem Resultat zu führe»
und Italien seine Hauptstadt zu geben, und die combinirte Feinheit eines
Cavour und Napoleon wird doch wol die Oberhand über die Pfiffigkeit des
Cardinal Antonelli behalten. Graf Cavour ist nicht das Idol des Volkes
wie Garibaldi, aber Italien anerkennt in ihm den überlegenen Führer, der
allein das möglich gemacht, was geschehen ist. Ihm selbst ist es nicht um
Popularität zu thun; obwol er zu rechter Zeit Revolutionär zu sein weiß, ist
er doch im Herzen ein stolzer Aristokrat. Er verfolgt seine Idee der Einheit und
Freiheit Italiens mit jener kalten Leidenschaft, welche die Mutter aller großen Tha¬
ten ist. Kühn bis zur Verwegenheit, weiß er doch seine Kräfte genau zu berechnen,
er benutzt die Gelegenheit und wendet sie für seine Zwecke an. er weiß aber auch
zu warten, wo es Noth ist. Von gedrungnem, athletischen Körperbau hat er jene
löwenmüßige Kraft, welche MacchiavelU seinen Fürsten wünschte. Seine unerme߬
liche Arbeitskraft gönnt sich kaum vier Stunden Schlummer; was er thut, thut
er ganz und hat doch Zeit für Alles, während der Schlacht von Magcnta unter¬
handelte er über gleichgiltige diplomatische Formalien mit der größten Ruhe.
Cavour ist nicht eigentlich ein Redner, sein Organ ist scharf und unangenehm;
der oratorische Schwung fehlt ihm, aber Niemand weiß eine Sache klarer
auseinanderzusetzen, Niemand ist fertiger zur Erwiederung, Niemand schärfer
und kaustischer im Witz als er, er gleicht in dieser Beziehung Thiers.
Zuerst macht er den Eindruck eines behäbigen Bourgeois, aber obwol er an
der Spitze des dritten Standes in Piemont steht, so merkt man, noch ehe
er geredet, an dem feinen ironischen Lächeln den überlegenen Weltmann, weichen
seine Unterhaltung stets zeigt. Ehrgeizig ist Cavour gewiß, aber wir glauben
weniger persönlich als für ti<Jdeen, welche er versieht. Wenigstens kann i-so
Niemand nachweisen, daß er aus persönlichen Motiven geschwankt; lange ehe
er ins öffentliche Leben eintrat, verfolgte er, wie wir gesehen, dieselben Ideen.
Auch ist der Ehrgeiz für so große Zwecke nicht zu tadeln, und wenngleich
man nicht alle Mittel rechtfertigen kann, die er dafür in Bewegung feste, so
wird er doch als einer der bedeutendsten Staatsmänner unsres Jahrhunderts
d
Der westliche Nachbarstaat Alabamas, Mississippi, gehört seit 1803
zur Union und erlangte 1817 die Rechte eines Staates derselben. Seine
Verfassung gleicht der von Alabama, sein Senat besteht aus 12 auf vier,
sein Repräsentantenhaus aus 92 auf zwei Jahre gewählten Mitgliedern. Die
Amtsdnuer des Gouverneurs beträgt vier Jahre. Zum Kongreß in Washing¬
ton sendet Mississippi fünf Abgeordnete. Der Flächeninhalt desselben beträgt
47.151 englische oder 2218 deutsche Quadratmeilen, die Zahl der Einwohner
betrug 1850 605,488, unter denen 308,167 Negersklaven und etwa 1000 freie
Farbige waren. Jetzt mag dieselbe auf 720,000 (worunter die größere Hälfte
Neger) gestiegen sein. Das Staatseigenthum hatte im Jahr 1854 einen
Werth von etwa 2^ das Privateigenthum einen Werth von ziemlich 229 Millionen.
Die Einnahme betrug 379,407, die Ausgabe 314,429 Dollars. Die Noten
der Banken un Staate circulirten zu V» bis 1-/» Procent unter dem
Nennwerthe.
Eisenbahnen hat Mississippi 220 Meilen. Dieselben verbinden die
Städte Jackson und Vicksburg, Jackson und Brandon, Natchez und Malcolm,
Francisville und Woodville, Brandon und Mohne, wozu noch die große den gan¬
zen Staat durchschneidende Schienenstraße kommt, die von Nashville in Tennessee
"ach Neuorleans hinabläuft. Kanüle besitzt Mississippi nicht. Hauptflüsse
si»d außer dem Mississippi, der die Westgrenze bildet, der Yazoo. der Big-
Black und der Pearlriver. Seiner Bodengestaltung nach zerfällt das Land
gleich den andern Baumwollcnstaaten in Marschen, welche den Süden, hüge¬
lige Striche, welche! die Mitte, und Gebirgsdistricte. welche den Norden ein¬
nehmen. °Dcis Niedersand hat abwechselnd sandigen, thonigen und sumpfigen
Bodsli. ldev von kleinen Prairien durchzogen und an der Nordgrenze mit dich¬
ten!-Nadelwäldern bedeckt ist. Man baut hier Baumwolle, etwas Zucker.
Indigo und allerlei Südfrüchte. Der wellige Boden in den mittlern Graf¬
schaften use' fast allenthalben äußerst ergiebig und vortrefflich zur Erzeugung
von Baumwolle. Getreide und Tabak geeignet. Endlich hat auch das Berg¬
land im Norden sehr viele fruchtbare Striche. Von dem cultivirbarcn Boden
des Staates waren 1850 etwas über 3V2 Millionen Acres bebaut, während
etwas mehr als 7 Millionen noch Urwald und Prairie waren. Die Rind¬
vieh- und Schweinezucht ist sehr bedeutend, und es gibt Pflanzer, welche
Rinderheerden von tausend Stück besitzen. Die Flüsse sind reich an Fi'
schen und Schildkröten, in den Bergen findet sich Eisen. Blei und Stein¬
kohle, doch ist für den Bergbau noch ebenso wenig gethan als für andere
Zweige der Industrie. Der Handel hat im Mississippistrom seinen großen
Verkehrsweg; Seeschiffe besitzt der Staat nicht, da der Strich desselben,
welcher vom Meere bespült wird, keine Häfen hat. ,Die Hauptabsntzlnärkte
für die Erzeugnisse Mississippis sind Neuorleans in Louisiana, Memphis in
Tennessee und Mohne in Alabama.
Die politische Hauptstadt von Mississippi ist Jackson, ein kleines hübsch
gebautes Städtchen von etwa 550« Einwohnern, welches am rechten Ufer des
Pearlflusses liegt. Weit bedeutender ist das am Mississippi sehr ungesund
gelegne Natchez, welches der Haupthandelsplatz des Staates ist und über
8000 Einwohner hat. Auch Vicksburg, 106 Meilen weiter stromaufwärts am
Mississippi, und Grand-Gulf, ebenfalls an diesem Strom gelegen, jenes mit
5000, dieses mit 1500 Einwohnern, treiben lebhaften Handel.
Der Staat Louisiana. bis zum Jahr 1702 französisches, dann bis 1800
spanisches, dann wieder französisches Besitzthum, wurde von Napoleon im
Jahr 1803 mit dem ganzen ungeheuren Louisiana-Territorium, das sich vom
Mississippi bis an den Stillen Ocean erstreckte, für 15 Millionen Dollars an
die nordamerikanische Union verkauft und 1812 als Staat in dieselbe auf¬
genommen. Der im Jahre 1845 revidirten Verfassung gemäß ruht die ge¬
setzgebende Gewalt in den Händen einer General-Assembly, die ans einem
Senat und einem Hause der Abgeordneten besteht. Die Senatoren werde»
auf 4. die Repräsentanten auf 2 Jahre gewählt. Die vollziehende Gewalt
übt der auf 4 Jahr damit betraute Gouverneur, die richterliche ein Ober¬
gericht nebst einer Anzahl von Untergerichten aus, die vom Gouverneur ernannt
und vom Senat bestätigt werden. Jeder Weiße, der zwei Jahre Bürger der
Vereinigten standen ist, zwei Jahre in Louisiana und ein Jahr in dem
District wohnt, wo er wählen will, ist stimmberechtigt. In den Kongreß
zu Washington sendet der Staat vier Abgeordnete. Die fundirte Schuld
desselben belief sich 1858 aus 4,380,591, die schwebende aus 6,322,55! Dollars.
Der Flächeninhalt des Staats Louisiana beträgt 41,346 Quadratmeilen,
auf denen im Jahr 1350 523,098 Menschen, darunter 249.947 Negersklaven
und 17,537 freie Farbige, wohnten. Gegenwärtig dürfte die Einwohnerzahl
etwas über 650,000 betragen. Die Bewohner Louisianas sind eine Misch-
lingsrace aus allen Nationen, Spaniern, Jrländern, Ungko-Amerikanern.
Deutschen und vorzüglich Franzosen. Unter den religiösen Bekenntnissen zählt das
römisch-katholische die meisten Anhänger, während in den übrigen Südstaaten
ebenso wie im Norden die Methodisten und nach diesen die Baptisten die
stärkste „Denomination" sind.
Hauptflüsse sind der Mississippi, der Washita. der Red- und der Pearl-
river, die La Fourche und der die Grenze gegen Texas bildende Sabine. Unter
den zahlreichen Seen des Staats nennen wir nur den nicht fern von Neu-
orleans sich ausbreitenden Lake Poutchartrain. Von der Seeküste an bis an
den Redriver ist das Land ein von schlammigen Flüssen, langgestreckten Buch¬
ten, Lagunen und Seen durchschnittenes, theilweise sumpfiges Marschgebiet.
Der weiter nördlich gelegene Theil des Staats hat einen festeren und trockneren
Boden. Am Mississippi und der Mehrzahl seiner Nebenflüsse zieht sich ein schmaler
dnmmartiger Uferrand hin, hinter welchem sich flaches, meist unter dem Niveau
der Ströme liegendes Land erstreckt, welches fast jedes Jahr überschwemmt wird
und dann sich in weite faulende Lachen und Moräste verwandelt. Die gro¬
ßen unbebauten Striche im Süden und die Sümpfe in den übrigen Bezirken
sind mit düstern Cedern, Weiden und Schilf bewachsen und von zahlreichen
Alligatoren. Schlangen und anderem gefährlichen oder häßlichen Gethier be¬
wohnt. Die trocknen uncultivirten Gegenden sind entweder Prairien oder mit
Eichen, Buchen, Sycomoren, Tulpenbäumen und Tannen bewachsen. In den
Marschen des Mississippi, des Vermillion, des Techc und der La Fourche trifft
man große Zuckerplantagen, in den sumpfigen Niederungen wird etwas Reis,
in den trocknen Gegenden Baumwolle gebaut, sowie etwas Tabak und mancher¬
lei Südfrüchte. Getreide erzeugt Louisiana nicht genug, um seinen Bedarf zu
decken /und die Viehzucht ist nur in einigen Grafschaften des Binnenlandes
bedeutend. Das Klima ist sehr veränderlich. Die Winter sind milde und
gesund, die Sommer drückend heiß. Von Mitte Juli bis Ende October brütet
die Sonne aus den Sümpfen im Süden, außer zahlreichen andern Krankheiten,
das gelbe Fieber aus. welches zwar auch in Mohne, Savannah und Char¬
leston und deren Nachbarschaft Verheerungen anrichtet, aber nirgends in den
Bereinigten Staaten so furchtbar auftritt, als in Neuorleans und.dessen Um¬
gebung. Eisen. Blei, Steinkohlen und etwas Silber sind gefunden worden,
wurden jedoch bis jetzt noch wenig ausgebeutet. Auch die gewerbliche Thätig¬
keit ist noch in der Kindheit. Dagegen blüht der Handel, der seinen Weg fast
ausschließlich über Neuorleans nimmt, auf das Kräftigste, und der Werth der
Ausfuhr wird auf durchschnittlich 36, der Werth der Einfuhr auf 10 Millionen
Dollars jährlich veranschlagt. Louisiana hat 8 Haupt- und einige zwanzig
Filialbankcn. deren Noten bisher zu V- bis 2 Procent unterm Nennwerthe
circulirten.
An Eisenbahnen befahl der Staat 108 Meilen. Dieselben führen von
Neuorleans nach dem Pascagoulasund, nach der Se. Johnsbai und nach La-
fayerte, von Frnncisville nach Woodville und von Neuorleans nach Amherst-
ville, wo diese Schicnenstraße sich an die große durch Mississippi und Nord¬
alabama laufende in Nashville endigende Bahn anschließt. Von Kanälen hat
der Staat den 9 Meilen langen Kanal, der Neuorleans mit dem See Pont-
chartrain verbindet, den 85 Meilen langen Baratariakanal und den 9 Meilen
langen Lake-Verretkanal.
Bon den Städten Louisianas sind außer Neuorleans nur Badolt Rouge,
die politische Hauptstadt, mit 500« und Natchitoches mit etwa 4000 Einwoh¬
nern zu nennen.
Neuorleans, nach seiner Gestalt die „Halbmondstadt", Crescent-City
genannt, liegt an einer Bai auf dem rechten Ufer des Mississippi ungefähr
hundert englische Meilen von dessen Mündung in den mexikanischen Golf.
Wenige Städte können imposanter aussehen, als diese, wenn man sich ihr auf
dem Flusse gegenüber befindet, wo man die ganze Länge ihrer, drei englische
Meilen sich hinziehenden Hnfeisensronte überschaut. Vor dem obern Ende wim¬
melt der Strom von Barken und Kielbooten, vor der Mitte ankern Hunderte
von großen und kleinen Seeschiffen dicht nebeneinander, noch weiter flußab¬
wärts folgen eine Menge jener ungeheuern phantastisch gebauten und bunt-.
bemalten Mammuthdampfer. welche den Verkehr auf den, Mississippi und seinen
Nebenflüssen bis hinauf nach Se. Louis, Cincinimtl und Pittsburg vermitteln.
Dampfboote kommen und gehen, gewaltige Fähren mit Menschen Kopf an
Kopf beladen, fahren hin und her, kleine Boote schießen pfeilschnell über den
Stromspiegel hin. Vor der Stadt streckt sich die Levee, ein hoher breiter
Quaderdamm hin, auf dem das regste Leben herrscht, und wo Massen von
Erzeugnissen des Mississippithales sich thürmen, Pyramiden von Baumwollcn-
ballcn, ganze Reihen von Zuckerhüten, Hügel von Reissäcken und zahllose Fässer
mit Schweinefleisch aus dem fernen Nordwesten. An der einen Stelle lagert
Mehl zum Export nach Südamerika, an der andern Kaffee, der von Brasilien
angelangt ist, wieder an einer andern das Fabrikat englischer, französischer
und deutscher Manufacturen. Kaufleute, Commis, Schiffscapitcine, Steuer¬
beamte, Matrose» und Lastträger eilen geschäftig hin und her, und Hunderte
von Karren rasseln herbei und hinweg, um die Waarenbcrge zu Hausen oder
abzutragen. Das unaufhörliche Hin- und Herwogen der emsigen Menge, das
Stinmiengewirr, in das sich der Gesang arbeitender Matrosen, das Läuten
der Dampfbootglocken, das schrille Pfeife» der Ventile und das Knarren der
Krahne mischt, vereinigt sich zu einem Schauspiel voll unbeschreiblichen Lebeus.
Findet sich Aehnliches in allen großen Hafenstädten, so gewährt das Innere
der Stadt ein Bild, wie man es anderwärts nicht antrifft. Was wir meinen
ist der große Unterschied zwischen den drei Quartieren, in welche sie zerfällt:
der Altstadt, welche die Mitte einnunmt. und den beiden-großen Gruppen
neuer Gebäude, die sich ober- und unterhalb angesetzt haben. Die Straßen
der Altstadt sind zwar gerade und nach einem regelmäßigen Plan angelegt,
aber eng und schmutzig, und ihre Häuser, fast alle getüncht und zwar meist
gelb oder weiß, verbinden in ihrer Bauart die Charakterzüge der französischen
und spanischen Architektur des vorigen Jahrhunderts. Die Namen der Straßen
sind fast ohne Ausnahme französisch, die Gesichter, denen man in ihnen be¬
gegnet, die Laute, die man hört, ebenfalls. Ganz anders in den beiden an¬
dern Stadttheilen, namentlich in dem, welcher vorzugsweise das amerikanische
Quartier genannt wird. Hier sind die Straßen breit, reinlich und gut gepflastert
und beleuchtet. Die Bauart der Hänser gehört dem modernsten Stil an. viele
sind ungetüncht, die Namen der Gassen und Plätze englisch, und selten hört
man hier französisch sprechen. Die Grenzlinie zwischen der englischen Stadt
und der französischen bildet die breite, mit Bäumen bepflanzte Kanalstrect. sie
scheidet nicht nur zwei Jahrhunderte im Baustil, sondern anch zwei Racen.
Die öffentlichen Gebäude von Neuorleans zeichnen sich weder durch Größe
noch durch Geschmack aus, wenigstens entsprechen sie der Bedeutung der Stube
nicht. Dagegen sind die Gasthäuser außerordentlich prachtvoll eingerichtet,
und das Se. Charles Hotel mit seinem korinthischen Portal und seiner hohen
Kuppel gehört zu dem elegantesten Häusern seiner Art. Als eine Eigenthüm¬
lichkeit der Halbmondsstadt mag noch erwähnt werden, daß sich in ihr alle
Keller über der Erde befinden. Tas unterste Geschoß der Häuser hat nämlich
keine Fenster und zu der Hausthür führen Stufen hinauf. Diese Einrichtung
ist von der Nothwendigkeit geboten; denn wollte man in den sumpfigen Boden
graben, so würde man Brunnen statt der Keller anlegen.
In der unmittelbaren Nähe der Stadt trifft man mehre sehr schöne Bitten,
umgeben von Gärten, in denen die Magnolie duftet und Orangenhaine ihre
goldne Frucht zeigen. Weiter landeinwärts aber dehnt sich der Sumpf düster
und eintönig bis zum See Pontchartrain aus. Bon hübschen Punkten zu Aus¬
flügen ist keine Rede. Mag man in der Nachbarschaft wandern, wohin man
will, allenthalben geht man auf schwammigem, schwankendem Morastboden,
selbst inmitten der dichten Gebüsche und Rohrdickichte, aus denen man übri¬
gens sofort auf höchst unceremoniöse Weise von Myriaden giftiger Mücken
verjagt wird.
Zu den großartigsten Bauten von Neuorleans gehört die Levee, jener Quader-
dann, wacher sich nicht blos vor der Fronte der Stadt, sondern noch gegen
100 Meilen unterhalb und 50 Meilen oberhalb derselben zu beiden Seiten
des Stromes hinzieht, und den Zweck hat, die Wassermasse in einem bestimm¬
ten Kanal festzuhalten, damit aber zugleich bewirkt, daß durch die Schlamm¬
theile, welche der Fluß mit sich sührt, und welche er bei Überschwemmungen
an seinen natürlichen Usern absetzte, das Flußbett sich allmälig erhöht. Schon
liegt in Folge dieses Processes ein bedeutender Theil der Stadtfläche unter
dem Niveau des Stromes während der Fluthzeit, und schon ist es schwierig,
die Stadt nach letzterem hin zu entwässern, und die Zeit wird kommen, wo dies
ganz unmöglich sein wird. Es liegt in dieser fortschreitenden Erhöhung des Flu߬
bettes aber noch eine andere und viel bedenklichere Gefahr für Neuorleans. Je
höher sich der Kanal hebt, desto schwächer wird die Strömung in ihm werden,
und desto mehr werden sich die Gewässer zur Fluthzeit weiter oben anhäufen.
Es wird eine förmliche Barre entstehen, die keinen genügend raschen Abfluß
der Gewässer gestattet, diese Gewässer werden sich oberhalb der Levee in sol¬
cher Masse sammeln, daß sie Macht genug haben, das User zu durchbrechen
und sich einen ganz neuen Kanal nach dem Golf zu suchen. Es ist daher nicht
unwahrscheinlich, daß der jetzige Lauf,des untern Mississippi einst durch einen
langen unregelmäßigen Hohlweg bezeichnet. Neuorleans von dem Flusse ver¬
lassen sein und letzterer sich einen kürzern Abfluß durch den Pontchartrainsee
bahnen wird.
Im Jahre 1810 hatte Neuorleans etwa 17.000, im Jahre 1840 über
102,000, im Jahre 1850 119,285 Einwohner; jetzt wird es ungefähr 140,000
haben. Diese Bevölkerung ist, wie schon angedeutet, sehr gemischt. Sie läßt
sich auf fünf deutlich geschiedene Grundstämme zurückführen: den französischen,
den angloamerikanischen, den spanischen, den deutscheu und den afrikanischen,
wo^u dann noch viele Mischlinge kommen. Der Hauptstamm der weißen Be¬
völkerung besteht indeß aus Angloamerikanern und französischen Kreolen, von
denen erstere nur angelsächsisches Blut, letztere eine kleine Beimischung von
angelsächsischem und spanischem in den Adern haben. Spanisch wird für ge¬
wöhnlich nur noch von Wenigen gesprochen. Deutsche mögen in der Stadt
gegen 20,000 angesiedelt sein. Die afrikanische Race macht nicht weniger als
fünfzig Procent der Gesammtbevölkerung aus, und nur ein Sechstheil davon
ist frei, sodaß ziemlich zwei Fünftheile der Einwohner von Neuorleans das
Joch der Sklaverei tragen. Indianer und Mischlinge von diesen und Schwar¬
zen , wie sie in Mexiko so häufig sind, finden sich hier nur wenige, dagegen
trifft man viele Mulatten, und die Abkömmlinge von diesen und Weißen, die
Tcrzeronen und Quadroncn, gehören zu den schönsten Menschen. Anmuthigere
Frauen als die zu dieser Klasse zählenden, findet man nirgends.
Die Einwohner von Neuorleans lassen sich serner in eine bleibende und
eine ab und zu wandernde Klasse theilen. Zu der ersteren rechnen wir die
Kreolen, die als Eingeborne und an das. Klima Gewöhnte die Stadt nur
selten verlassen, und die Sklaven, welche sie nicht verlassen dürfen. Die zweite
besteht hauptsachlich aus Angloamerikanern und wohlhabenden Deutschen, von
denen nur ein Theil hier geboren ist, während die Mehrzahl, wenn sie nicht
dem Fieber zum Opfer fallen will, bei Annäherung der ungesunden Monate
nach Norden auszuwandern genöthigt ist. Etwas über ein Fünftheil der Ge-
sammtbevölkerung verläßt in dieser Weise zu Anfang des Juli die Stadt, um
erst im October zurückzukehren. Früher hauste das gelbe Fieber hier fast jedes
Jahr auf das Furchtbarste, jetzt kehrt diese Geißel in Folge besserer Reinigung,
Lüftung und Entwässerung seltner wieder und trifft dann gewöhnlich nur Solche,
die entweder noch nicht accluuatisirt sind, oder sich in einem ausschweifenden
Leben gefallen. Einmal acclimatisirt. erfreut man sich bei regelmäßiger Hal¬
tung der besten Gesundheit, und die dort gebornen Angloamerikaner sind ein
Menschenschlag so groß und kräftig, wie man ihn selten in der Union findet.
Wenn katholische Länder und Städte in der Regel vergnügungssüchtiger
und zu geschlechtlichen Ausschweifungen geneigter sind, als protestantische, so
trifft das auch in Neuorleans zu, wo der Katholicismus stärker als ander¬
wärts in den Vereinigten Staaten vertreten ist. Die Kreolen gehören mit
wenigen Ausnahmen diesem Bekenntniß an, und die Strenge und Nüchtern¬
heit der zugewanderten Presbyterianer, Methodisten und Episkopalen englischer
Abkunft hat auf die Leichtfertigkeit und Genußsucht jener Klasse bisher nicht
nur keinen Einfluß gehabt, sondern ist durch deren Sitten theilweise selbst ver¬
dorben worden. Nirgends in der Union ist das Maitressenwesen so ausgebil¬
det, nirgends, selbst in Neuyork nicht, gedeihen die öffentlichen Häuser so üp¬
pig, und die sogenannten Quadroncnbälle sind in der ganzen amerikanischen
Welt berüchtigt.
Als Aus- und Einfnhrplatz für den größten Theil des Mississippithales
ist Neuorleans nächst Neuyork die wichtigste Handelsstadt der Union. Jener
ungeheure Landstrich ist einer der fruchtbarsten der Erde, und nirgends findet
man eine so große Fläche, die so in eine Form gegossen, so für ein einheit¬
liches Verkehrssystem von Natur schon organisirt wäre. Ist Neuorleans gegen¬
wärtig schon der Stapelplatz für eine Bevölkerung von mehr als elf Millionen,
so läßt sich, wenn man das rasche Wachsthum der nordwestlichen Staaten in
den letzten Jahren betrachtet, voraussagen, daß sich seine Bedeutung in dieser
Hinsicht bis zu Ende unseres Jahrhunderts wenigstens um das Fünffache ge¬
steigert haben wird. Allerdings wird künftig noch mehr wie jetzt ein sehr be¬
deutender Theil der überflüssigen Producte von Missouri, Illinois. Iowa.
Ohio, Tennessee und Kentucky seinen Weg nach den atlantischen Hafenplätzen
nehmen, aber selbst wenn Neuorleans nur als Stapelplatz für die Hälfte dieser
Producte diente, würde es in hundert Jahren, wo das Mississippithal sicher
von hundert Millionen bewohnt sein wird, noch immer jeden andern Hafen¬
platz der Welt verdunkeln. Wenn man den Mississippi von Neuorleans bis.
zu seinem Zusammenfluß mit dem Missouri und diesen wieder bis dahin ver¬
folgt, wo er schiffbar zu sein aufhört, so beträgt dies zusammen eine Linie
von dreitausend englischen Meilen. Wenn man in gleicher Weise den Mississippi
und Ohio aufwärts geht, so belüuft sich die Strecke ihrer Fahrbarkeit gegen
zweitausend Meilen. Der Redrivcr ist bis auf 1300 Meilen oberhalb seiner
Vereinigung mit dem Mississippi zu befahren. Die drei großen Nebenstrome
haben wieder ihre Zweigflüsse, von denen die meisten mehre hundert Meilen
weit schiffbar sind, und selbst diese letztern haben wiederum kleinere, ^wenigstens
auf kurze Strecken für den Dampfbootverkehr geeignete Seitengcwässer. Rech¬
nen wir dazu die künstlichen Wasserstraßen, welche den Verkehr in den Staaten
des Mississippithales erleichtern und welche bei dein großentheils ebenen Boden
leicht bedeutend vermehrt werden könnten, so wird es nicht übertrieben sein,
zu behaupten, daß Neuorleans am Ansgnng einer an 20,000 englische Meilen
betragenden Binnenschifffahrt liegt, und dabei sind nur die Flüsse mit berech¬
net, welche von den gewöhnlichen Mississippidampscrn befahren werden können.
Die politische Bedeutung eines Landstrichs wie Louisiana konnte dem
weiten Blick der amerikanischen Staatsmänner nicht entgehen. Vor der Ab¬
tretung desselben waren die Amerikaner auf ein Stück der östlichen Hälfte des
Mississippithales beschränkt. Die letzte Strecke seines Laufes legte der Fluß
durch das Gebiet einer fremden Macht zurück. Da sie indeß das fruchtbarere
Stromufer besaßen, das sich rasch mit Menschen füllte und sehr bald ans
commerzielle Bedürfnisse hindeutete, sahen sie voraus, daß die großen Gebiete,
die sich von den Allcghanis bis zum Mississippi erstreckten, ohne zu allen Zeiten
freien Zugang zum Ocean etwa in eine solche Lage gerathen würden, wie
Rußland, das mit seinen unermeßlichen Naturreichthümern gleichsam einge¬
pfercht ist, und dessen einzige Zugänge zu den Weltmärkten in den engen
Sünden der Türkei und Skandinaviens bestehen, deren Benutzung ihm jederzeit
gesperrt werden kann. Die Mündung des Mississippi einer fremden Macht
lassen, hieß deren Händen ein Vesitzthum lassen, welches im Frieden vom
höchsten Nutzen, im Kriege vom höchsten Nachtheil sein mußte. Die Union
konnte sich entweder des ganzen linken Ufers des Stromes bemächtigen, wo¬
durch die SÄiisffnhrt aus demselben ein Gemeingut derselben und der aus dem
rechten gelegenen französischen Kolonien geworden wäre, oder beide Ufer zu
erwerben trachten. Sie spielte das höhere Spiel und gewann. Die franzö¬
sische Flagge wurde gegen eine verhältnißmäßig nicht bedeutende Geldsumme
am ganzen Mississippi eingezogen.'
Diese Betrachtung mag ein Fingerzeig sein sür das, was dem südliche»
Sonderbund, der sich unten vor den Mississippi z» legen droht, bevorsteht,
sobald der Nordwesten sich seines Vortheils erinnert und seine Ansprüche ener¬
gisch geltend zu machen beschließt. Wenn man in Montgomery die Schifffahrt
ans den, Mississippi für frei erklärt hat. so ist das keine genügende Abfindung
für das, was man im Norden verliert, wenn sich ein nicht zur Union gehö¬
render Staat des untern Laufes der großen Verkehrsader bemächtigt. Zuge¬
ständnisse und Verträge werden nicht für die Ewigkeit gemuckt. Louisiana
muß über kurz oder lang entweder freiwillig zu einer engen Verbindung mit
den Staaten des Missisfippithales zurückkehren oder von ihnen erobert wer¬
den. Es gehört naturgemäß zu ihnen, und wie sich auch dereinst das Ver¬
hältniß des Ostens zum Westen gestalten möge, der Westen wird sich auf die
Dauer nicht spalten können. Seine Interessen sind bis weit in den Süden
hinab dieselben, seine Bestandtheile, in demselben großen Thäte gelegen, haben
fast durchaus dieselben Erzeugnisse und Bedürfnisse. Der Mississippi ist das
Hauptband, seine Nebenströme die kleineren Fesseln, welche die dort liegenden
Staate» aneiuanderketten, und so kann man kaum zweifeln, daß die Staaten
Wisconsin, Iowa, Illinois, Missouri, Indiana, Ohio, Kentucky, Tennessee.
Arkausas, Mississippi und Louisiana wenn nicht durch die bisherige Union,
so doch durch einen engen politischen Verband mit einander vereinigt bleiben
werden.
Texas gehörte bis 1835 zu der mexikanischen Provinz Tcunaulipas. con-
stituirte sich 1840 als selbstständiger Staat und wurde 1845 in die Union auf¬
genommen. Die Verfassung ist nur in unwesentlichen Dingen von denen der
übrigen Südweststaaten verschieden. Soldaten. Kriegsnmtrosen, Neger und
Indianer sind vom Wahl- und Stimmrecht ausgeschlossen. In den Congreß
sendet Texas 4 Abgeordnete. Der Flächenraum beträgt 274.356 englische oder
12,905 deutsche Quadratmeilen, die Einwohnerzahl wurde 1851 auf 230,000
Seelen angegeben, unter denen sich 63,000 Negersclaven und nur einige Hun¬
dert freie Farbige befanden. Der Abkunft nach ist die große Mehrzahl der
Texaner aus den südwestlichen Staaten der Union eingewandert und spricht
°"Mes. Im Westen wohnen gegen 32,000 Deutsche. Spanier gibt es nur
wenige mehr im Lande. Dagegen Hausen im Nordwesten noch wilde Indianer,
'deren Zahl man auf 7 bis 8000 berechnet.
In Betreff seiner Bodengestaltung zerfällt Texas gleich den bereits erwähn¬
ten Südstaaten in drei Theile: ein flaches Küstenland (levol rsAiou), ein welli¬
ges Hügelland (rollinA i'^ion) und ein von Ausläufern der Rocky Mountains
durchzogenes Gebirgsland (mouirtamous rkZion). Das erste, welches eine
wechselnde Breite von 30 bis 100 Meilen hat, ist in der Nähe des'Meeres
hurtig, einige Meilen landeinwärts sumpfig, wenigstens feucht und vor¬
züglich zum Reis- und Zuckerbau geeignet und hat ein im Sommer unerträglich
heißes, sehr ungesundes Klima. Hinter diesem Küstenstrich steigt im Osten
langsamer, im Westen rascher, ein welliges, in den Niederungen noch feuchtes
Prairieland an, in dem sich gelegentlich Waldinseln erheben, und welches endlich
zu einer Hügclgegend wird, die im Nordwesten allmälig zum eigentlichen Ge¬
birge oder vielmehr zu einer weiten Hochebene ansteigt. Der Boden in der
zweiten Region ist äußerst fruchtbar, und selbst in der dritten finden sich noch
viele ergiebige Striche. Die Sklavenarbeit lohnt nur an den Küstengegenden
und im Osten des Hügeldistricts, wo sich Plantagen wie in Louisiana finden,
und wo außer Getreide und Tabak auch viel Baumwolle erzeugt wird. An¬
gebaut waren im Jahre 1855 etwas über 700,000 Aercs. noch im rohen Zu¬
stande über 14 Millionen Mres. Die Staatsschuld betrug 1850 gegen 7 Millio¬
nen Dollars, 1858 war sie ausgeglichen. Obwol der Staat auf dein Papier
so gut eingerichtet ist, wie die übrigen Glieder der Union, obwol manches für
Schulen gethan wurde und Texas selbst zwei Universitäten hat, sind die Zu¬
stände doch in vielen Gegenden noch sehr primitiver Natur, und weit häufiger
als nöthig ist, bedient sich das Volk des Rechts der Selbsthilfe. Eisenbahnen
hat man nur in einer Länge von 32 Meilen, für Kanäle ist noch ebensowenig
gesorgt wie für die Regulirung der Flüsse, von denen mehre sehr langen
Laufes, wenige aber auf weite Strecken schiffbar sind. Hauptflüsse sind der Sa¬
bine, der Nedriver, der Neches, der Trinidad, der Brazos. der Colorado. 130
deutsche Meilen lang, aber wegen der in seinem Bette angestauter Baumstämme
(rades) für die Schifffahrt fast gar nicht zu benutzen, der ebenfalls nur wenige
Meilen fahrbare San Antonio und der Rio del Norte, welcher im Westen die
Grenze gegen Mexiko bildet.
Die Hauptstapelartikel von Texas sind Zucker, der vorzüglich an den un¬
tern Ufern der ostlichen Flüsse gewonnen wird, wo man auch kleine Reis¬
felder antrifft. Baumwolle und Mais, die in fast allen Theilen des Staates
gebaut werden, etwas Tabak, ferner Weizen und Gerste, die besonders am
obern Trinidad gut gedeihen. Wo Deutsche sich angesiedelt haben, wird auch
viel Obst und Gemüse gezogen, und selbst der Weinbau ist hier mit Erfolg
versucht worden.
Die Viehzucht, durch mildes Klima, bei dem die Heerden das ganze Jahr
durch im Freien bleiben können, und im Westen durch Prairien mit dem
nahrhaften Muskitgras begünstigt, ist einer der lohnendsten Zweige der te-
xanischen Landwirthschaft. Man zieht Rinder. Schweine und im Westen auch
Schafe und Pferde in Menge. Gewerbe und Handel sind noch nicht von Be¬
deutung, Fabriken unbekannt. Die Einfuhr wird durch die fast nur aus Ge¬
treide und Vieh bestehende Ausfuhr noch bei Weitem nicht gedeckt.
Dem Namen nach besitzt Texas eine große Anzahl von Städten, die zum
Theil sehr prächtige Titel führen. In Wirklichkeit aber sind nur wenige, die
auf die Bezeichnung einer Stadt einigermaßen Anspruch haben und die große
Mehrzahl besteht nur aus ein paar Dutzend Breterhüttcn, von denen eine
ein Kramladen, eine andere eine Schmiede, eine dritte eine Mahl- oder Bret-
mühle ist, während in einer vierten die Bedürfnisse des Orts an spirituösen
befriedigt werden, und eine fünfte das Gerichtshaus, eine sechste die Kirche
vorstellt. Die politische Hauptstadt von Texas ist Austin. am linken User
des Colorado gelegen, von etwa 800 Menschen bewohnt, und nicht zu ver¬
wechseln mit San Felipe de Austin am Brazos. der frühern Hauptstadt, jetzt
eine Gruppe ärmlicher Hütten mit etwa 1000 Einwohnern. Die größte Stadt
und der Haupthafenplatz der Republik ist Galveston, auf einer Insel in der
nach der Stadt benannten großen Bai erbaut. Während die flache sandige
Insel einen wenig anmuthigen Anblick gewährt, zeigen der Hasen der Stadt
und ihre mit zierlichen, weißangestrichnen Bretcrhäusern besetzten, mit Bäumen
bepflanzten Straßen ein sehr reges Treiben. Vor 15 Jahren noch war Gal¬
veston eine Gruppe elender Hütten, jetzt ist es eine Stadt von über 10,000
Einwohnern, die mit Neuorleans und mit den Ansiedelungen am Buffalo Bayou,
am Sabine und Trinidad, am Brazos und der La Vacca-Bai in regelmäßiger Ver¬
bindung steht, mehre Kirchen hat und verschiedene Etablissements für gesellige
Zwecke besitzt. Andere Städte von einiger Wichtigkeit sind Houston mit 3000 Ein¬
wohnern, früher, vor Einverleibung des Staates in die Union, eine Zufluchtsstätte
für alle Bummler und Gurgelabschneider des Südens und Westens, jetzt weniger
berüchtigt; Washington am Brazos mit 1200 Einwohnern und einer Akademie,
Nacogdoches, der größte Ort im Osten, mit 1500 Einwohnern und einer Univer¬
sität, und San Antonio de Bexar am linken Ufer des Rio San Antonio, eine
alte spanische Stadt mit 3500- Einwohnern in fruchtbarer, früher gut ange¬
bauter, aber während des Kriegs mit Mexiko sehr verwilderter Gegend. End¬
lich sind noch die beiden, fast nur von Deutschen bewohnten Städtchen Neu¬
braunfels und Friedrichsbnrg zu erwähnen, von welchen jenes, am Zusammen¬
fluß des Comalkreek mit dem Guadalupe an einem mit Cedern bewachsenen
Hügel gelegen, gegen 3000, dieses, an einem Ueberhand des Pedernales in
einem Posteichenwald erbaut, 1500 Einwohner hat.
Nehmen wir an, daß Texas jetzt gegen 300,000 Einwohner habe, so
würde nach dem Vorhergehenden der neue siebenköpfige Baumwollenstaaten-
Bund noch nicht ganz 4-/- Millionen Menschen umfassen, von denen überdies
mehr als 1»/^ Millionen als Sklaven oder freie Farbige nur halb mitzählen,
wenn wir die in den Bewohnern jener Staaten repräsentirte politische Macht
mit der Macht der bis jetzt in der Union verbliebenen Staaten vergleichen,
die zusammen mindestens 26 Millionen Bewohner und unter diesen höchstens
eben so viele Sklaven und freie Farbige haben als jene.
Nicht sehr viel günstiger würde sich das Verhältniß der beiden Staaten-
gruppen stellen, wenn Norlzcarvlina und Arkansas der hier stark vertretenen
Neigung zum Anschluß an die südliche Union nachgaben.
Nordcarolina, staatlich in ähnlicher Weise eingerichtet wie Südcaro-
lina, hat einen Flächeninhalt van 45,500 englischen, oder 2 140 deutschen
Quadratmeilen und jetzt vermuthlich circa 950,000 Einwohner, unter denen
sich 300,000 Negersklaven und etwa 25,000 freie Farbige befinden mögen
Die Bodenverhältnisse sind im Wesentlichen dieselben wie in den südlicher ge¬
legenen Sklavenrepubliken. Haupterwerbszweig ist die Landwirthschaft,' die
Baumwolle, Tabak und etwas Reis, sowie im Norden Mais, Weizen und
anderes Getreide erzeugt. Im Westen wird Gold gefunden. Der Ausfuhr¬
handel ist nicht bedeutend und beschränkt sich auf etwas Baumwolle, etwas
Reis und Theer. Die Zeugfabriken, deren im Staate fünf bestehen, fertigen
fast ausschließlich grobe Stoffe zur Bekleidung der Plnntagenneger. Die No¬
ten der im Staate ^existirenden Banken circuliren zu zwei Procent unter dem
Nennwerthe. Die fundirte Staatsschuld betrug 1858 über sieben Millionen
Dollars. Die Hauptstadt des Staates ist Naleigh mit etwa 5000 Einwohnern.
Nicht viel größer ist Wilmington, der Haupthafenplatz Nordcarolmas. Bon den üb¬
rigen Orten des Landes ist keiner von mehr als 4000 Menschen bewohnt,
die große Mehrzahl hat nur ein paar Hundert Einwohner.
Noch weniger fällt Arkansas ins Gewicht, welches mit seinen 52.198
englischen (2455 deutschen) Quadratmeilen, auf denen 1850 nur 198,796 freie
Weiße mit etwa 45,000 Negersklaven lebten, vielmehr ein großes Jagdgebiet,
mit weiten Wäldern und Prairien als ein cultivirtes Land ist, nur etwas
Baumwolle ausführt, in Bezug auf Gewerbe ganz darniederliegt und über¬
dies 1858 eine Staatsschuld von fast 3 Millionen Dollars hatte. Seine
Hauptstadt, Little Rock, mag jetzt.5000 Einwohner haben, alle andern Orte
sind bloße Blockhüttendörfchen.
Ein ganz anderer Gewinn für die Sonderbunds-Staatsmänner, ein gro¬
ßer Verlust für die Union würde der Austritt Virginiens sein, dem vermuth¬
lich Tennessee und vielleicht selbst Maryland und Kentucky folgen würden.
Birginien hatte schon 1850 fast IV- Millionen Einwohner, darunter fast eine
halbe Million Negersklaven, es hat in Richmond, der Hauptstadt, und Nor¬
folk zwei Städte von mehr als 20,000 und außerdem eine ziemlich große An¬
zahl von Städten über 10,000 Einwohner, es besitzt fast tausend englische
Meilen Eisenbahnen, einen ungeheuren Reichthum der besten Steinkohlen und
sehr große Strecken des fruchtbarsten Getreidebodens, der nur in einigen
Grafschaften durch lange fortgesetzten Tabaksbau erschöpft worden ist. Es
hat der transatlantischen Republik Washington und Jefferson und eine Menge
anderer bedeutender Staatsmänner geliefert und ist, wenn nicht der rührigste
der Sklavenstaaten — denn das ist seit langem schon Südcarolina gewesen
— sicher der angesehenste. Es wird sich aber sehr zu besinnen haben, ob
die Gefahr eines Anschlusses an den Sonderbund nicht größer ist, als der
Nutzen. Wenn es als Neger züchtender Staat und als Besitzer von einer
sehr großen Anzahl Sklaven allerdings eine Interesse daran hat, daß die.
Sklaverei erhalten, wenigstens nicht im Sinne der fanatischen Abolitionisten,
sondern allmälig und stufenweise ihrer Aushebung entgegengeführt wird, so
hat es andrerseits durch Ossawattomi Browns Unternehmen in Harpers Ferry
einen Vorschmack von dem bekommen, was ihm bevorstünde, falls es mit dem
Norden brechen wollte. Die Gefahr war damals nicht groß, der Schrecken
aber, den der Einfall von einem Dutzend Abolitionisten im ganzen Lande
hervorrief, war ungeheuer. Ein Angriff in stärkeren Massen würde, wenn er
auch nur auf den zwanzigste» Theil der virginischen Neger zu rechnen hätte, die
Streitkräfte des Staates vollkommen lahm legen. Dasselbe aber gilt von Ken-
tucky und noch mehr von, dem auf drei Seiten von freien Staaten begrenzten
Missouri, in welchem überdies die republikanische Partei eine nicht unbedeu¬
tende Zahl von Anhängern hat, und welches bei etwa 700,000 Einwohnern
nur ungefähr 90,000 Negersklaven besitzt. Das Ncgerentführcu auf der „unter¬
irdischen Eisenbahn" und das Aufwiegeln der Sklaven durch Emissäre der
Abolitionisten würde in Betreff dieser Staaten dann in einem Maßstab betrie¬
ben werden, der den Besitz von Menschenfleisch wenigstens in den Grenz-Conn-
ties fast werthlos machen würde.
Dazu kommti daß sich in diesen nördlichen Sklavenstaaten bereits Mami-
facturcn gebildet haben, welche, wenn auch noch nicht mit denen von Neuyork,
Pennsylvanien und Neuengland zu vergleichen, doch eine Partei erzeugt haben,
die in dem, was den Süden außer der Sklaverei vom Norden trennt, in der
Frage: ob Schutzzoll oder Freihandel, entschieden für die Wünsche und Be¬
strebungen des Nordens eintritt, und die, wenn Virginien, Kentucky und
Missouri wirklich noch dem Sonderbund der Vaumwollenrepubliken beitreten
sollten, ein sehr wesentliches Element der Zwietracht bilden würde. Wir be¬
merken hierzu nur, daß das in Fabriken angelegte Capital in Virginien im
Jnhre 1850 schon 13, in Missouri schon 4'/--Million Dollars betrug.
Wir haben versucht, die Interessen aufzuzählen, die in einem großen Theile
der Südstaaten der Leidenschaft, welche die Zerreißung der Union erstrebt, Halt
gebieten sollten, und gesehen, daß die Borderstaatcn es mindestens sehr bedenk¬
lich finden müssen, den Bund mit der Union zu lösen. Begreiflich ist, wenn sie
für ihr Verbleiben trotzdem gute Bedingungen zu gewinnen suchen. Unbegreiflich
aber wäre, wenn die republikanische Partei sich herbeiließe, ihnen mehr zu
bewilligen, als sie mit Recht verlangen können: Berücksichtigung der Unmög¬
lichkeit, die Sklaverei sofort aufzuheben und Duldung derselben in ihren bis¬
herigen Grenzen.
Wir betrachten nun zum Schluß in der Kürze den Einfluß, welchen eine
Trennung der Union auf Europa ausüben würde. Wenn ein gewisses säch¬
sisches Blatt ganz offen der Rebellion der Baumwolleupflanzer das Wort redet
und es nicht für unanständig hält die Sklaverei im Kraftstil amerikanischer
Demokraten zu vertheidigen, so finden wir das nur consequent. Begeistert es
sich doch sonst für alle particnlaristischen und ritterschaftlichen Thorheiten, ge¬
fällt es sich doch auch anderwärts in der Rolle eines Sachwalters des Rechts
gegen d>e Gerechtigkeit, und scheint es doch überhaupt der Ansicht zu hul¬
digen, daß tapfer geschimpft gründlich bewiesen ist. Man zuckt darüber die
Achseln, erinnert sich des Sprichworts, daß jedes Thierchen sein Manierchen
haben muß, und freut sich des Eifers, der den Kern des Pudels täglich mehr
decouvrirt. Wenn sich aber zu jener Liebhaberei, sich in die Speichen des Rades
der Geschichte zu hängen und der aufgehenden Sonne zankend Stillstand zu ge¬
bieten, das stille Vergnügen gesellt, durch den Sturz der großen Republik jen¬
seits des Meeres einen Alp vom Herzen los zu werden, so muß das billig
Wunder nehmen. Die Weisen dieser Partei hassen England von Grund der
Seele, aber sie wissen nicht, daß ein Zerfall der Bereinigten Staaten Eng¬
lands Macht außerordentlich steigern und zwar um so mehr steigern muß,
als der Zerfall ein gründlicher wird. Sollte sich der südliche Sonderbund be¬
festigen, so unterliegt es kaum einen Zweifel, daß daraus über kurz oder lang
eine enge commerzielle und politische Allianz zwischen ihm und England her¬
vorgehen würde. Einmal vom Norden befreit, würden die Südstaaten ihren
Zolltarif bald auf deu niedrigstem Stand herabsetzen, um die Ausfuhr ihres
Hauptartikels möglichst zu fördern. Der südliche Markt würde dann mehr
als je vorher mit englischen Fabrikaten versehen werden, wodurch wiederum
der Export roher Baumwolle nach England wesentlich steigen müßte. Daher
wird es für jene Staaten geboten sein. England beim Guten zu erhalten,
denn wenn sie auch immer darauf rechnen können, in den Nordstaaten Märkte
für ihre Baumwolle zu finden, so dürfen sie auf England für die Dauer
nicht so bestimmt zählen, da dieses im Stande ist, sich allmälig andere Be¬
zugsquellen zu eröffnen.
Amerika ist die einzige Macht der Welt,-welche England ernstlich und
von Jahr zu Jahr mehr zu fürchten hat, vor Allem in industrieller, dann
aber, wie schon ein Blick auf Kanada und Westindien, dann auf Ostnsien,
lehrt, auch in politischer Hinsicht.
Buche die Verbindung der Staaten Nordamerikas nur noch hundert
Jahrs erhalten, was allerdings kaum denkbar, so würde die Centralgewalt
in Washington den Willen von 150 Millionen Menschen vertreten, welche
das reichste Land der Erde und die Küsten von zwei Weltmeeren bewohnen
und nicht blos auf die Verhältnisse von Handel und Gewerbe, sondern auch
auf die Politik in der ganzen bewohnten Welt einen Einfluß ausüben würde,
gegen welchen die jetzige, immerhin getheilte Hegemonie Englands keinen Ver¬
gleich aushält. England würde dann mit dieser Weltmacht theilen und end.
lich mehr und mehr zurücktreten müssen. Es hätte seine Mission erfüllt, aber
es behielte, wenn es sein Scepter niederlegte, den Trost, daß dieses Scepter
in die Hand einer Macht überginge, die von ihm gepflanzt, mit ihm von
gleichem Stamme und sür die politische Entwicklung der Welt vou gleicher
Bedeutung wäre. Es behielte den Trost, nachdem die Eifersucht und Rivali¬
tät, die jetzt das Verhältniß trübt, aufgehört, von dem ihm über den Kopfe
gewachsenen Sohne mit der Achtung behandelt zu werden, die man der Mut¬
ter schuldet.
Zerfalle die Union in zwei ziemlich gleiche Hälften, so ist die Drohung,
die in dem Bestehen und Wachsthum derjclben für England liegt, auf lang
paralysirt, und in demselben Maße als letzteres in Amerika stärker wird, steigert
sich seine Macht in Europa.
Henriette Herz war den 5. September 1764 geboren und seit dem
1> December 1779 verheirathet. Börne oder, wie er damals noch genannt
wurde, Lion oder Louis B aruch, war den 18. Mai 1786 geboren, also 22 Jahre
jünger als sie. Als er den 9. November 1802 zum erstenmal in das
Herz'sche Haus kam, war er 16 Jahre alt; die schöne Frau kam ihm so jung
^r, daß er sie für 24jährig hielt; er fragte sie schüchtern, ob sie 23 Jahre
sie gab sich für 34jährig. Sie war aber bereits 38 Jahre alt.
Der junge Louis war nach Berlin geschickt, um sich unter der Leitung des
Di'- Herz' durch Privatstunden in den Schulwissenschaften weiter zu bilden
seine Briefe, die in mancher Beziehung sehr frühreif aussehn, verrathen, daß
er mitunter einer Nachhilfe in Bezug auf den Dativ und Accusativ bedürfte.
Er führte ein Tagebuch; wer hätte es damals nicht geführt? 'In Bezug auf
seine Schularbeiten war er, wie Henriette Herz selbst bekennt, ein sehr arger
Fciullenzcr, desto fleißiger arbeitete er an seinem Tagebuch. Bereits den ersten
Tag nach seiner Ankunft schreibt er Vormittags um 12 Uhr zwei große Seiten
voll, Nachmittags um 5 Uhr die dritte und Nachts um 11 Uhr die vierte.
„Mir ist nicht wohl, mir ist nicht weh, mein Herz klopft in starken Schlagen
u. s. w. Es ist eine Leere in meinem Herzen, ein Verlangen in meiner Brust;
soll denn nie diese Lücke" u. s. w. — Natürlich! wer im 16. Jahre ein Tage¬
buch führt, was soll er anders hineinschreiben? Außerdem Bemerkungen über
die Borzüge und Nachtheile der Mittagsstunde. Schon ehe er nach Berlin
kam, hatte er vor, seine Kenntniß des menschlichen Herzens in einem psycho¬
logischen Roman zu verwerthen.
Kaum ist er acht Tage im Hause, so merkt er, daß er Madame Herz
lieber hat als alle andern Menschen. Sie gibt ihm Stunden und -kommt zu
ihm auf die Stube. „Ich mochte Madame Herz immer ehrfurchtsvoll den
Rock küssen, wenn sie zu mir kommt, ich finde darin so etwas Erhabenes,
Herablassendes." Henriette Herz war nicht blos eine blendende Schönheit, sie
war auch eme Riesin, so daß die Berliner sich immer verwunderten, wenn sie
den kleinen Schleiermacher neben ihr hergehen sahn; und der arme Louis war
von einer unansehnlichen Figur. Auch bemerkt er auf einem späteren Blatt
seines Tagebuchs, daß er sie nur liebt, wenn sie sitzt, nicht wenn sie steht.
Den 30. December sagt sie zu ihm, daß sie ihm gut sei; Nachts um
12 Uhr beschreibt er diese Thatsache in seinem Tagebuch. „Was ich da fühlte,
was da in mir vorging u. s. w. Ich zitterte leise, eine laue Wehmuth er¬
griff mein klopfendes Herz, ein schmerzhaftes namenloses Gefühl beherrschte
mein Innerstes —--Der Vorhang ist weggezogen und mit Flammenzügen
steht's gräßlich vor meinen Augen: Du liebst sie und diese Liebe wird dich
unaussprechlich elend machen." Der sechzehnjährige Don Juan will ihr alle
seine Gefühle schreiben, und es ist ihm ganz recht, wenn sie den Brief ihrem
Mann zeigt. „Das wußte ich wohl, daß wenn ich liebe, ich rasend liebe."
Dr. Herz selbe den 19. Januar 1803; Louis fürchtet fortgeschickt zu wer¬
den, sie erlaubt ihm aber ,in Hause zu bleiben: „sich ferner in ihren Augen
zu sonnen."
Die folgenden Blätter des Tagebuchs sind voller Schmerzen und Ver¬
zweiflung; es scheint, daß er damit doch etwas laut wird, denn sie gibt ihm
keine Privatstunden mehr. Und hier machen wir auf eine kleine Ungenauig/
keit in dem Bericht Henriettens aufmerksam.
Sie erzählt, im Fürstschen Buch S. 137, daß er die an sie gerichteten
Briefe gar nicht übergeben, daß sie dieselben gar nicht gelesen und von seiner
Leidenschaft seine Vorstellung gehabt habe; daß erst bei seinem Abgang nach
Halle ihr diese sowie die betreffenden Stellen des Tagebuchs mitgetheilt seien.
Dem ist nicht so. Louis hat die Briefe abgegeben, auch Abschriften aus
Stellen in seinem Tagebuch; sie hat sie gelesen und darauf geantwortet. Das
Datum dieser Thatsache ist der 17. März 1803 Morgens 10 Uhr.
Wie hat sie ihm geantwortet? Natürlich wie es einer verständigen Frau
geziemt: „Nach Jahren wollen wir von der jetzigen Zeit sprechen." — Der
junge Mann beschließt zu sterben, er gibt dem Dienstmädchen einen offenen
unversiegelten Brief um einen Apotheker, worin er diesen um eine Quantität
Arsenik gegen die Ratte» ersucht, geht darauf spazieren und läßt in seiner
Stube einen gleichfalls unversiegelten Brief zurück, worin er Madame Herz
seine Absicht mittheilt, nicht länger zu leben. Das Dienstmädchen bringt, wie
sich von selbst versteht, beide ^Briefe sofort zu ihrer Gebieten». Henriette
war eine sehr gescheute Frau, sie war an Anbetung gewohnt, und es war ihr
wol nicht zum erstenmal vorgekommen, daß sich ein hoffnungsloser Anbeter
mit Todesgedanken trug. Aber in solchen Dingen bleibt man immer schwach:
sie erschrak fürchterlich und behandelte den Knaben, nicht wie es sich für seine
16 Jahre schickte, sondern mit düsterem Ernst als edle tugendhafte Frau, die
leider nicht lieben kann. In Folge dessen neuer Brief an den Apotheker,
1. April, mit dem Anerbieten von 10 Louisdor für den betreffenden Arsenik.
Diesmal scheint es Hcnrietten denn doch zu lächerlich .geworden zu sein, sie
tagte ihm das lustige Wort: „ich kann Ihre Liebe zu nichts brauchen."
Dies war die richtige Manier. Von dem Arsenik ist weiter nicht die
Rede, Louis beschwört sie zwar einmal noch flehentlich, ihn doch wenigstens
zu hassen; er fühlt sich noch vor seinein 17. Geburtstag als einen Greis,
aber er fängt an zu reflectiren und witzig zu werden. Jetzt macht er die
Bemerkung über das Sitzen und Stehen; er findet auch, daß er zuweilen ihre
Schwester Brenna mehr liebt als „Jelde"; er geht zuweilen zum Konditor
und hat Augenblicke, wo er sich für furchtbar lasterhaft hält. Der zersetzende
Geist des späteren Börne macht sich bereits geltend. „Die Eitelkeit des Men¬
schen mischt sich in all sei» Thun und Lassen, oft ohne daß man es merkt.
Wenn ich für meine Gedanken und Empfindungen einen passenden Ausdruck
habe und ich erinnere mich, diesen Ausdruck sehen, irgendwo gelesen zu haben,
dann gebrauche ich ihn nicht. Dies ist Eitelkeit: ich möchte gern originell im
Schreibe» sein."
Ja guter Junge! wir haben es wol gemerkt, daß du in deinem Brief
an den Apotheker vermieden hast, dich wie Romeo auszudrücken!
„Wahre echte Sentimentalität gleicht dem reinen kräftigen Kornbranntwein,
der mäßig genossen den Gesunden stärkt und erwärmt; aber die herrschende
Sentimentalität unserer nervenschwachen Jünglinge und schwindsüchtiger
Mädchen macht schläfrig und erhitzt, wie unsere überzuckerten Modeliqueurs."
— Lion ist noch immer nicht 17 Jahr alt, aber dies Epigramm könnte recht
gut in Bornes sämmtlichen Werken stehen.
Seit dieser Zeit heißt Madame Herz seine „Mutter", er küßt ihr noch
gern und zärtlich die Hand, aber gcrirt sich doch nur als ihr krankes Kind.
Leider muß er sich von ihr trennen; er wird den 12. Juli 1803 nach Halle
geschickt, jetzt wirklich 17 Jahre alt. Was soll er in Halle?
„Bis Ostern, schreibt er aus Halle den 19. Juli, soll ich noch auf der
Schule gehn und den ganzen Tag nichts weiter lernen als Lateinisch" u. s. w.
„Erst 6 Tage bin ich hier und schon hänge ich mit Leib und Seele an Halle;
vergessen ist Berlin und Alles, was mir dort theuer war. Frohsinn und Zu¬
friedenheit erfüllen mein Herz. Wandelt mich ja zuweilen ein schmerzliches
Gefühl an, so betrachte ich mit Wohlgefallen die eleganten Möbels, und weg
ist aller Schmerz. Wie sie wissen, ist ein Sopha immer der Gegenstand meiner
heißesten Wünsche gewesen: jetzt habe ich eins" u. s. w.
Mitten in dieser tragischen Ironie bekennt Louis die Fortdauer eines
Lasters, das sie ihm habe abgewöhnen wollen. Wir fürchten, dieses Laster
war nichts anders als Faulheit; er mochte wol lieber auf dem neuen
Sopha liegen als seine Schularbeit machen. Die Schilderungen aus Halle
sind' recht humoristisch, namentlich über die Reil'sche Familie, bei der er in
Pension ist. Als reicher junger Mann wird er sehr honorirt, man bewundert
seine Schnupftücher u. s. w. Madame Reil sagt ihm einmal: „ich weiß ge¬
wiß, wenn ich heute crcpire, mein Mann würde morgen die Herz heirathen,
er kann sie sehr gut leiden."
Nun ist er Studiosus, 18 Jahr alt, studirt den Jean Paul und das
„goldene Kalb": „wie dieses Buch hat mich noch keins gerührt (23. Sept.
1804); jetzt schaffe ich es mir eigen und lasse es herrlich binden. Oft denke
ich es selbst geschrieben zu haben." — In der That fängt er auch sofort an,
in Jean Paul'scher Manier Exercitien zu machen, und schickt 12. Nov. 1804
folgenden Passus seines Tagebuchs mit nicht geringem Selbstgefühl an seine
mütterliche Freundin: „Der Traum ist der Schatten unseres Lebens, wie unser
Leben ist der Schatten eines kommenden. (Etwas alttestamcntarische Wort¬
folge!) Einst wenn die Sonne wird stehn über unserm Haupt, da werden
alle Schatten schwinden, dann blühen die Sterne, die Welten, Gott zeigt sich
uns ohne Schleier und ein Herz wird sich bewegen im Busen des Weltalls.
---Aber näher und näher schreitet jetzt die lichtlose Mitternacht. Wenn
die Liebe wird erblinden, reißen auseinander die Fragen der Natur; Welten ver¬
rauchen, Sterne fallen, das Chaos hört auf zu sein, und das Nichts wird
zernichtet."
Die Stelle ist ein herrlicher Beleg für den demoralisirenden Einfluß den
damals Jean Pauls Romane auf junge Leute ausübten. In seinen bis¬
herigen Briefen zeigt Louis, auch da wo er cxtravagirt. durchaus die Fähig¬
keit, sich gut und schicklich auszudrücken, und nun verfällt er in diesen blühen¬
den Unsinn! Bekanntlich hat er die Begeisterung für Jenn Paul immer
bewahrt; und in der That findet einige Verwandtschaft statt. Die Mischung
von Sentimentalität und Ironie, die selber sentimental ist, ist bei beiden vor¬
handen, und ein aufmerksamer Leser der Borneschen Briefe wird sich schon
früher gesagt haben, daß seine Bitterkeit oft nichts Anderes ist als versetzte
Sentimentalität.
Im Herbst 1804 kommt Schleiermacher nach Halle, Henriettens ge¬
nauster Freund, und Börne wird ihm dringend empfohlen. „Ich fand
Schleiermachers Physiognomie sehr ironisch, gleich im ersten Augenblick meiner
Bekanntschaft. Ich fragte ihn nachher selbst, ob er wol so wäre? Er ver¬
neinte es, sagte aber zugleich, daß ihn schon viele seiner Bekannten dafür ge^
halten hätten, und Brenna nenne dies sein Wesen eanailleiig. Das Wort
drückt in der That die Sache sehr gut aus".
Zu Weihnachten 1804 begleitete er Schleiermacher ans einige Wochen
nach Berlin, Henriette sowol als Schleiermacher finden ihn affectirt und sa¬
gen ihm das. Nach ihrer Rückkehr nach Halle ist Schleiermacher sehr kalt
gegen ihn; die Gründe fuhrt er in einem Brief an Henriette an, der in den
„Schleiermacher'sehen Briefen" undatirt ist, den Fürst in den April 1806 ver¬
legt, der aber, wenn wir den Zusammenhang der gegenwärtigen Briefe er¬
wägen, in den April 1805 fällt, denn um diese Zeit fällt die Reise nach
Frankfurt, die im Brief erwähnt wird. „Börne ist mir sehr gleichgiltig. Wie soll
man mehr Interesse an einem Menschen nehmen, als er selbst an sich nimmt?
Er fängt gar nichts mit sich selbst an, vertändelt seine Zeit, verfnnmt seine
Studien, ruinirt sich durch Faulheit, und sieht das selbst mit der größten Ge¬
lassenheit an, und sagt mir immer, es wäre ihm nun einmal so, und wenn
er sich zu etwas Anderem zwingen wollte, so wäre es ja dann dock nicht besser.
Wie kann man auf einen Menschen wirken, der sich so den Willen selbst weg-
laisonnirt? Ich weiß nicht, ob er untergehen wird; manche Natur rettet sich
aus diesem Zustand; aber in diesem Zustand ist nichts auf ihn zu wirken und
kein Theil an ihm zu nehmen. Dabei ziert er sich noch und ist falsch . . .
Wie er klagen kann, daß er trübe ist, begreife ich wol, aber nicht, wie Du es
">s Klage aufnehmen kannst. Aller Trübsinn kommt aus seiner Unthätigkeitv
die ihn schlaff macht." — In einem spätern Bries. den Fürst 10. October
1806 datirt. sagt Schleiermacher: „Mit Börne und mir wäre es nicht gewor¬
den. Er liebt und hätschelt seine Faulheit und Eitelkeit, und will von allen
Menschen entweder gehätschelt werden oder hochmüthig über sie wegsehen. Das
letzte kann er nicht über mich, und das erste kann ich nicht gegen ihn; denn
Faulheit und Eitelkeit sind mir an jungen Leuten ekelhaft und verhaßt. Ein
interessanter Mensch, wenn Du es so nennen willst, kann er wol immer bleiben,
aber weiter glaube ich nicht,,daß er etwas wird; zumal ich auch nicht einmal
ein entschiedenes, bestimmtes tüchtiges Talent an ihm bemerkt habe, auf
welches ich meine Hoffnung setzen konnte, daß es Herr über ihn werden und
ihn durcharbeiten könnte." —
Louis — in dem sich beiläufig um diese Zeit ein tüchtiges Talent zur
Satyre herausbildet, wie namentlich sein Bericht über die Frankfurter Juden
und die Madame La Roche zeigt — klagt in einem Brief vom l. September
l80S über Schleiermachers Kälte. „Ich bin wahrhaftig nicht schlimmer ge¬
worden, aber er halte mich an sich gezogen um mich zu bessern, und da er
das nicht vermochte, ärgerte er sich darüber und jagte mich fort. Aber mein
Gott! wie würde ich mich vor solche Freunde stets bedanken, die mir meiner
vortrefflichen Tugenden und nützlichen Eigenschaften wegen anhingen, daß ich
sittlich, ordentlich, fleißig, mäßig, witzig und verständig und weiß der Himmel
was mehr bin, und die mich nicht darum liebten, weil ich Louis bin und
kein Anderer!,, — Beiläufig sind das Grundsätze, die keiner lebhafter verfochten
hat als — Schleiermacher selbst in seinen Monologen 1802. Das Verhältniß
zu Schleiermacker ist der Mittelpunkt auch der folgenden Briefe; wir heben
noch eine Stelle heraus, 20. Januar 1806. „Schleiermacher hat ein Etwas,
das mich immer abhalten wird, ihm ganz zu vertrauen und mich ihm warm
und innig aufzuschließen. Aber halten Sie dieses Etwas nicht für ein anti-
pathischcs Gefühl, das mich abschrecke, es ist vielmehr die Reflexion, die mich
warnt. Denn mit der höchsten Ausbildung des Verstandes, der uns zum
Bewußtsein unserer Individualität und der Kraft sie zu behaupten bringt,
auch jenes Gefühl zu verbinden, bei dem, wenn es uns beiwohnt, wir uns
nur als Glieder eines Ganzen erkennen: das ist den Männern nie, den Frauen
selten nur gegeben. So ists mit Schleiermacher. Was ich mit Gefühl rede,
fürchte ich, wird er für Declcunation, was ich mit Verstand sage, für Eloquenz
halten, so daß ich selbst nie meine Befriedigung dabei finde. Darum entsank
mir auch immer der Muth, wenn er im Dialog mich so bedächtig mit seinen
dialektischen Augen ansah, und mein Vertrauen war zu Ende."
Das ist doch viel besser ausgedrückt, als wenn er Jeanpaulisirt! Aber
die dialektischen Augen waren doch ganz an ihrem Ort.
Den 20. Juli 1806 bekennt er: „Mir ist das Bewußtsein sehr übel be¬
kommen, daß meines Vaters Vermögensumstände es mir verstatten würden,
so lange als ich nur will aus der Universität zu bleiben, es hat mich sehr faul
gemacht ... Ich fange jetzt an mich mit der praktischen Medicin zu beschäf¬
tigen und habe so viel Lust daran, daß ich mich oft des Lächelns darüber
nicht enthalten kann . . . Woran es mir noch fehlt, das ist der Muth. Sie
wissen gar nicht, wie hypochondrisch und furchtsam ich bin. Ich zittere immer¬
fort für mein Leben und meine Gesundheit und das ist schlimm für Einen, der
sich täglich der Ansteckung aussetzen soll." Er bleibt auf der Universität bis
Ostern 1807. und bei seiner Abreise erfährt er von einem Freunde, er sei in
der ganzen Stadt als ein halber Narr und in der halben Stadt als ein
ganzer Narr bekannt. „Wahrhaftig, nicht erschrocken, aber ganz verwundert
war ich darüber."
'
Wie mansieht, sind diese Briefe sehr geeignet, über den Charakter uns
die Entwicklung Börne's Aufschlüsse zu geben; wenn man aber seine Liebes¬
geschichte tragisch auffaßt, so ist das, gelinde gesagt, lächerlich.
Wir haben den Ausfall Vincke's gegen Waldeck mit dem äußersten
Mißmut!) gelesen, aus folgenden Gründen.
Erstens scheint uns die Aufgabe des Landtags nicht, über Perioden,
welche bereits der Geschichte angehören, ein Gutachten abzugeben, sondern die
Geschäfte des Tags zu besorgen und die Zukunft vorzubereiten. Wenn es
1848 zeitgemäß war. die Überschreitungen der Demokratie zu bekämpfen, so
liegt dazu heute nicht die mindeste Veranlassung vor. Heute gilt es, den Un-
rath. welchen die Reaction seit zehn Jahren zusammengehäuft, fortzuschaffen,
und jeder, der uns dabei behilflich ist, muß uns ein willkommener Bundes¬
genosse sein. Wenn wir alte vergessene Geschichten wieder aufwärmen, so
unterbrechen wir die nothwendigen Geschäfte des Jahres.
Zweitens hat Waldeck diesen Angriff in keiner Weise provocirt. Er hat
offen und würdig, wie es einem Mann geziemt, seine Stellung zur Politik
der Gegenwart bezeichnet. Er hat die Verfassung, gegen deren Nechtsgiltig-
knt er vor zehn Jahren mit seinen politischen Freunden protestirte, unum¬
wunden als rechtsgültig anerkannt. > Er hat den Männern, welche aus dem
Boden dieser Verfassung zehn Jahre lang gegen das Ministerium Man-
teuffel Opposition machten, für ihre aufopfernde, patriotische und nützliche
Thätigkeit gedankt, und damit diejenigen demokratischen Blätter desavouirt,
welche dem Ministerium Mcuiteuffcl dadurch zu schaden glaubten, daß sie die
parlamentarische Opposition auf jede Weise vor dem Volk lächerlich machten.
Er hat seine Ansichten über Preußens Stellung zu Deutschland in einer Rede
ausgesprochen, wegen welcher er, wenn er sie 1348 gehalten Hütte, von der
frankfurter Demokratie als „Gothaer" wäre mit Koth beworfen worden. Er
hat endlich bei dem letzten Zwist eine bessere Haltung bewiesen als sein Gegner.
Drittens war die Gelegenheit, welche Vincke wählte, um die alten Streitig¬
keiten zu erneuern, die unglücklichste, die sich denken läßt. Wir gehen weiter
als Waldeck: wir legen auf den Unterschied der beiden Ausdrücke Staatsbür¬
ger und Unterthan das größte Gewicht; ja wir halten ihn für einen der wich¬
tigsten Punkte unserer ganzen Entwicklung. Wir können uns Vinckes Angriff
nur aus einer übertriebenen Vorliebe für die Terminologie der englischen Ver¬
fassung erklären. Aber wenn der Engländer das Wort „Unterthan" beständig
im Munde führt, wenn er es für seine.höchste Ehre hält, sich als Unterthan
der Königin Victoria zu bekennen und vor Ihrer Majestät das Knie zu
beugen, so weiß er sehr wohl, daß das bloße Höflichkeit ist, daß Ihre
Majestät ihm nicht das Mindeste zu befehlen hat, ihm weder schaden noch
nützen kann.- Ganz anders in Deutschland, wo die Unterthanenschaft eine
sehr bittere Wahrheit ausdrückte. Deutschland war im vorigen Jahrhundert
wegen seines Servilismus und seiner „Hundedemuth" sprichwörtlich geworden.
Nur mit Mühe und Anstrengung arbeiten wir uns aus derselben heraus; und
noch immer gibt es eine Partei, welche uns die Hundedemuth, die asiati¬
sche Unterwürfigkeit unter jeden augenblicklichen Einfall des Monarchen, als
erste Pflicht eines Unterthans und Christen vorschreibt. Dieser Partei gegen¬
über ist es keineswegs gleichgiltig, welchen Ausdruck man gebraucht. Gern
wollen wir den König, den Trüger unserer Größe und unserer Hoffnungen,
unsern allergnüdigsten Herrn nennen, vorausgesetzt, daß unser Haus eine
Burg ist gegen die Willkür seiner Diener.
Und wer ist in diesem großen Kampf, der uns aus Unterthanen zu Staats¬
bürgern erheben soll, in Preußen der tapfere und beredte Führer gewesen?
Wer hat zuerst laut und unerschrocken den Dienern seines Monarchen gegen¬
über den ganzen Stolz und das ganze Selbstgefühl eines freien Mannes
herausgekehrt? wer hat ihnen zuerst, in einer Zeit, wo es noch Schrecken er¬
regte, mit voller Brust, so daß ganz Europa es hörte, das entscheidende Worr
zugerufen: daß sie nicht blos dem König, sondern auch dem Volk verant¬
wortlich sind, und ihnen erklärt, was Verantwortlichkeit heißt? Wer anders
als Georg Villele! — Segen sei der Stunde, in welcher er es aussprach, denn
von ihr datirt die neue preußische Geschichte.
Diese Unerschrockenheit hat er in seiner ganzen ruhmvollen Laufbahn be¬
währt. Als vorübergehend ein neuer Souverain aufkam, dem auch die Höf¬
linge im ersten Schrecken schmeichelten, das Volk, hat er ihm ebenso unum¬
wunden die Wahrheit gesagt als dem alten; er hat in Frankfurt, wo ein
halb verrückter Preußenhaß die herrschende Stimmung war, sehr stark den
Preußen heraustreten lassen, er hat in Berlin ebenso entschieden die Rechte
des deutschen Volks und der deutschen Nationalversammlung verfochten. Es
ist eine sehr häufige Erscheinung, daß man bei sich selbst gerade auf die
Eigenheiten den meisten Werth legt, die nicht die besten sind: so ist Vincke
hauptsächlich auf seinen Rechtsboden stolz. Er hätte Ursache auf etwas An¬
deres stolz zu sein, auf den starken gesunden Menschenverstand, der ihm in
jedem Augenblick in der Hauptsache das zeigte, worauf es ankam, und ihn
bestimmte, sich mit aller Macht seiner Natur darauf zu werfen. Es ist das
größte Unrecht, ihm feines schroffen Wesens wegen die Bildungsfähigkeit ab¬
zusprechen; er hat im Gegentheil in Frankfurt sehr viel gelernt, und von
Jahr zu Jahr einen immer vorurtheilsfreicrcn Standpunkt gewonnen. Man
lasse sich doch nicht dadurch irren, daß er bei seiner Heftigkeit in Nebensachen
oft Dinge behauptete, die uicht zu vertreten waren, und die er aus einem
falschen ?vint ä'Ircmirvui' nachher doch zu vertreten suchte. Stein ist gewiß
ein großer Staatsmann gewesen: wenn man aber alle Behauptungen zu¬
sammennehmen wollte, die er in der Hitze des Gefechts aufstellte, welcher
Unsinn würde dabei herauskommen! Wer die Bedeutung einer Persönlichkeit
für den Fortschritt des Landes anerkennt, muß schon das mit hinnehmen,
was nothwendig mit zu dieser Persönlichkeit gehört.
Aber gegen einen Fehler muß Vincke in der That ernsthaft ankämpfen,
gegen die Neigung zu unzeitiger Polemik. Der Witz und die Schlagfertig¬
st ist eine große und schöne Gabe, aber eine gefährliche, und man muß vor
5hr auf der Hut sein, wenn man auf die Dauer wirken will. —
Daß Vincke's Angriff nicht unerwidert bleiben würde, hatten wir erwartet;
Wir hatten namentlich erwartet, daß die „Nationalzeitung" über das
Mciaß hinnusgehn würde. Denn während diese Zeitung in der richtigen
Ueberzeugung, daß der alte Streit unzeitgemäß ist. im Allgemeinen vermeidet,
ihrerseits die Polemik zu eröffnen, stürzt sie doch, sobald ein Gothaer sich ein¬
mal vergessen hat, mit dem blinden Eifer eines Kampfstiers über ihn her,
und verliert vollständig die Haltung, die ihr sonst so gut steht. So hatte sie,
">s Beckerath rein aus politischen Gründen die Wahl Waldecks bekämpfte,
nichts Besseres zu antworten als Scheltworte; und so erwarteten wir es auch
W diesem Fall.
Unsere Erwartungen wurden vollständig befriedigt. „Professionsmähiger
Zünker". „absurdes Gebelfer", „die Vernunft ist dem schäumenden Redner aus-
gegangen"; „er stürzt kopfüber wie in Raserei"; „er macht die Tribüne zur Stätte
eines Deliriums" u. s. w. — das Alles hatten wir erwartet und wollen mit dem
Ton nicht weiter rechten. So angegriffen zu werden, kann Vincke nur lieb
sein; denn wenn man vorher mit seinem Angriff unzufrieden war, so stellt
sich jetzt natürlich Jeder auf seine Seite.
Aber Eins haben wir nicht erwartet, und wir trauten unsern Augen
nicht, als wir es lasen: die Geschichte mit dem Landrath a, D. Im An¬
fang schien uns die Stelle reiner Unsinn zu sein, und — wir wollen noch
jetzt hoffen, daß dieser erste Eindruck uns nicht getäuscht hat. Denn sollte in
der Stelle: „wie sehr er sich gestern auch mit seinen rettenden Thaten und
mit seiner monarchischen Gesinnung gebläht hat, er bleibt deshalb doch Land¬
rath a. D-," sollte in dieser Stelle wirklich die Insinuation liegen, daß Vincke
deshalb Waldeck angegriffen habe, um sich bei Hof beliebt zu machen und
eine Stelle zu erhalten, so finden wir keine Worte für diese bodenlose
Gemeinheit! Glücklicherweise wäre die Insinuation ebenso lächerlich als gemein.
Wir wollen lieber annehmen, daß der Verfasser wirklich Unsinn geredet hat,
daß er seinem Gegner „Landrath a. D!" nachschrie, wie man Einem „Kahlkopf!"
oder „lahme Ziege!" nachruft, wenn einem grade nichts Besseres einfällt.
In früheren Zeiten hat doch die Nationalzeitung, und zwar mit unserer
vollständigen Beistimmung, einem Theil, unserer speciellen Parteigenossen
gegenüber die Behauptung aufgestellt: der preußische Landtag habe nicht die
Aufgabe, Candidaten für Minister- und andere höhere Veamtenstellen zu lie¬
fern, sondern jedem Ministerium gegenüber, gleichviel welches es sein möge,
die Rechte und Interessen des Volkes zu wahnn. Wenn sie noch heute dieser
Ansicht ist, wie wir hoffen, so muß es ihr ja gerade hockst erfreulich sein, daß
ein unabhängiger Mann von Einsicht und Entschlossenheit ein Amt verschmäht
und rücksichtslos die schöne Aufgabe eines Volksvertreters erfüllt. Und daß
Vincke diese Einsicht besitzt, daß er in der Hauptsache für den gegenwärtigen
Augenblick das Nichtige will, das wird doch die Nationalzeitnng nicht in Ab¬
rede stellen wollen, da sie ihm bis jetzt so ziemlich in allen Punkten beigepflich¬
tet hat.
Wenn sie serner dem Volk empfiehlt, für den nächsten Landtag einen Hans¬
wurst zu wählen, der darauf dressirt werden toll. Vincke zu widerlegen, ^
verdient dieser Vorschlag Erwägung. Wir haben bis jetzt entschieden den
Grundsatz ausgesprochen, daß jeder tüchtige Mann, der die freiheitliche Ent¬
wicklung Preußens zu fördern verspricht, gewählt werden soll, gleichviel ob er
früher Demokrat oder Gothaer war. Jetzt müssen wir doch einige Vorsicht
empfehlen; wir müssen daraus dringen, daß jedem Candidaten, den dieNatw-
nalzeitung empfiehlt, die Frage vorgelegt werde: ob er auch nicht etwa jener
Hanswurst ist, der gegen Vincke dressirt werden soll?
Wir habe» seit längerer Zeit darauf gedrungen, die ^tichwörter „De>no-
traten" und „Gothaer" völlig fallen zu lassen. Da die Nationalzeitnng aber
daraus nicht eingeht, da sie noch fortwährend von einer demokratischen oder
Volkspartei redet, so bringen wir ihr Folgendes in Erinnerung.
Eine demokratische Partei gab es auch außerhalb der Bureaus der Natio-
nalzeiluug; es gab eine auf den Straßen, die wir für heute ruhen lassen wollen,
es gab eine in der Nationalversammlung zu Frankfurt. Dieser Demokratie
gegenüber bildete sich die sogenannte kleindeutsche oder gothaischc Partei, welche
einen deutschen Bundesstaat mit preußischer Spitze und parlamentarischer Ver¬
tretung, folglich mit Ausschluß Oestreichs, zu Stande zu bringen suchte. Da
sie das wollte und gegen die Abneigung der Süddeutschen zu kämpfen hatte,
mußte sie Alles aufbieten, um Preußen in der öffentlichen Meinung soviel zu
unterstützen, als es die schlechte Negierung möglich machte. Gegen diesen Zweck
und gegen diese Mittel kämpfte damals die in Frankfurt centrolisirte Demo¬
kratie in blinder Wuth.
Derjenige Theil der Demokratie, welchen die Nationalzcitung vertritt, hat
heute das nämliche Programm aufgestellt, welches wir vor zwölf Jahren auf-^
stellten ; er hat sich in Bezug auf die preußische Verfassungsfrage gleichfalls gefügt.
Wenn also die Nationalzeitung von der beispiellosen Resignation redet, mit
welcher sie uns entgegen gekommen sei.! so können wir uns doch auch wol
einiger Resignation rühmen. Wir haben von der Partei, welche uns vor
zehn Jahren als Gothaer schmähte und die jetzt selbst gothaisch geworden ist.
keine Ehrenerklärung verlangt; wir haben uus vielmehr gefreut, rüstige Mit¬
arbeiter für unser Werk zu gewinnen, und wir hoffen, daß es jetzt den ver¬
einten Kräften besser gelingen wird, als damals den vereinzelten. Daß bis
jetzt die neue» Acquisitiouen noch nicht Alles geleistet haben, hat die National¬
zeitung selber ausgeführt, als sie das „Wochenblatt des Nationalvereins"
besprach.
„Wenn es heute eine zweifellose Pflicht gibt, so ist es die. keine un¬
nützen Parteihändel zu entfachen. Diese Pflicht wird durch die Lage ausgelegt,
indem der freiheitlichen Entwickelung sich ohnehin so viel Hindernisse und un¬
begründetes, aber leider vorhandenes Mißtrauen entgegenstellen; sie wird nicht
weniger durch die Gesammtheit der Weltverhältnisse eingeschärft." Das sind
die Worte der Nationalzeitung: — wir rufen sie ihr selber zu! Die schlimmste
Art der Parteihändel ist ^ber die, in welcher wir einem Mann, der uns augen¬
blicklich mißfällt, gemeine, unwürdige Motive unterschieben. Vincke ist wegen
seines Angriffs gegen Waldeck zu tadeln, aber viel verwerflicher ist das Ver¬
halten der Nationalzeitung. — Wen, glaubt sie wohl damit zu dienen, wenn
es ihr wirklich gelänge, Vincke zu discreditiren? Es gibt eine Partei, die
bei den politischen Fragen, auf die es in diesem Jahr ankommt, um
diesen Preis der Nationalzeituug gern verstatten würde, die Republik, den Frei¬
handel oder den Communismus oder was ihr sonst einfiele, in vollster Freiheit
zu predigen. Nicht Waldeck ist es, der in diesem Augenblick dieser Partei gegen¬
über steht, sondern Vincke. Möge die Nationalzeitung gewarnt sein, daß nicht
auch auf sie das bittere Wort angewandt werde: „die elendeste Rauferei liegt
ihr mehr am Herzen, als das Wohl des Landes."'
Nach dem großen Kriege. Eine Geschichte in zwölf Briefen. Von Wil¬
helm Raabe (Jacob Corvinus), — Berlin, Schütte. — Den humoristischen Ton
hat der Verfasser, wie in seinem frühern Roman (die Chronik der Spcrlingsgcisse)
glücklich getroffen; wenn das Buch nur> etwas mehr Positiven Inhalt hätte! Die
Stimmung allein kann es doch nicht thun. —
Ludwig Rellstab- Aus meinem Leben. Bd. 1. 2, — Fruchtstücke. Bd. 1.2.
(Berlin, Gutentag). — Die letztere Sammlung enthält folgende Novellen: die weiße
Frau (die bekannte Sage vom Berliner Schloß); eine Fügung Gottes; Edmund von
Braunfels; in den Abruzzen; es ist nichts so fein gesponnen; Liebe. — Wie an¬
muthig Rellstab zu erzählen versteht, weiß Jeder, der seine Wcihnachtswandernngcn
in der Voß'schen Zeitung gelesen hat. Dies Talent zeigt sich auch in den Novellen;
viel mehr läßt sich aber kaum davon sagen. — Größeres Interesse für die meisten
Leser wird die zweite Schrift haben: „Aus meinem Leben." Rellstab war eine liebens¬
würdige Persönlichkeit, und sein Einfluß auf die musikalischen Zustünde Berlins,
welche Einseitigkeiten auch ihm ankleben mochten, sehr bedeutend. — Die Erzählung
ist ansprechend, wenn auch etwas breit. Sehr gut geschildert sind die Eindrücke
der Franzosen in Berlin und die Begeisterung, welche die Jugend ergriff, als es nun
endlich zum Freiheitskampf ging. — Rellstab, der 1815 mit Eifer zur Muskete griff,
wurde wegen Körperschwäche und Kurzsichtigkeit zurückgewiesen; der Verdruß, daß er
nun seine Schulkameraden, z. V. seinen Vetter Wilhelm Häring (Wilibald Alexis)
allein ins Feld abreisen lassen musste, bestimmte den Jüngling, nach einiger Zeit, «is
der Kampf bereits beendet war, der Schule Lebewohl zu sagen und Militär zu wer¬
den, in der Hoffnung, es werde bald wieder' losgehn. Da diese Hoffnung ihn täuschte,
gab er allmälig den Dienst wieder auf. Seine Besuche bei Jean Paul (1821),
Goethe und Beethoven und die Gespräche, die er mit ihn^en führte, füllen den grö߬
ten Theil des zweiten Bandes; was er von seinen eignen poetischen Versuchen, na¬
mentlich im Fach der Oper erzählt, hat weniger Interesse. —
Vcmitas. Ein Roman in sechs Büchern von Karl Frenzel. 3 Bde., Hannover,
Rümpler. — Vanitas ist die deutsche Uebersetzung von Vanit^-^air; und in der
That ist in dieser Novelle die Stimmung von Thackcray beibehalten, nur nicht die
schärft Zeichnung. In der Widmung an seinen Freund Rodenberg bezieht sich der
Verfasse auf seine eignen Erfahrungen: „so fanden wir die Menschen, irrend und
wankelmüthig in ihren Entschlüssen, zumeist in ihrer Liebe, immer strauchelnd auf
der Bahn des Guten und nie ganz in Bosheit und Sünde verloren . , . schwanken¬
des, wettergepeitschtes Rohr im Winde des Schicksals. Waren, sind wir selbst denn
besser?" — U. s, w. — Solche Erfahrungen sind zu bedauern, und der Wunsch
des Dichters, sein Herz auszuschütten, mag subjectiv gerechtfertigt sein. — Sollten
unsere Dichter indessen nicht lieber Charaktere von mehr Halt und Knochenbau aus¬
suchen, wenn dies Suchen ihnen auch mehr Mühe kostet, als ein leichtes Abschöpfen
momentaner Stimmungen? — Denn solche Charaktere gibt es doch, Gott sei Dank,
noch immer! — Der Stil ist zu loben, nur etwas zu blühend. —
Herr Frank-Pickharter von Eugen Salingcr. — 3 Bde., Hannover,
Rümpler. — Eine hochansehnliche jüdische Banquiersfamilic wird durch einen Gauner
betrogen, den sie für einen Krösus hält, und der sich erst am festgesetzten Hochzeits¬
tage entlarvt. — Launig und munter erzählt, etwas zu breit; hin und wieder
klingen Reminiscenzen durch. —
L. Mühlbach's kleine Romane. 7 Bde. (Mona, Hammerich). — Erdballen:
Zwei Lebenswege (Gisela); Antonio; Bonners oder Geschichte eines Millionärs. —
In der Vorrede zum ersten dieser Romane, der vor 14 Jahren geschrieben ist, sagt
die Verfasserin: „Wie Vieles ist seitdem anders geworden! Bin ich doch selber eine
Andere geworden, und dies Buch, das ich damals mit dem Blut meines Herzens
geschrieben, scheint mich jetzt als etwas Fremdes, fast Unheimliches an, das ich nicht
wehr verstehe, das keinen Theil mehr an mir hat.' Und doch gehört es zu mir.
bezeichnet einen Moment meiner geistigen Entwickelung, meines geistigen Strebens.
und ich möchte es darum nicht verleugnen." — Wir gratuliren der Verfasserin auf¬
richtig zu dieser Umwandlung, denn die Dinge, die in diesem Buche stehen, sind, ge¬
linde gesagt, greulich. — Die Verfasserin gehört jetzt zu den beliebtesten Schrift¬
stellerinnen Deutschlands;' ungefähr wie vor zehn Jahren Engen Sue. Auch so
ziemlich aus denselben Gründen. Sie haben die Neigung zu denselben Stoffen,
ihre Ansicht vom Leben ist verwandt („alles Glück der Erde besteht in dem Nicht-
Wissen, und die Kunde der Gegenwart in der Unkenntniß der Zukunft!" u. f. w).
auch in ihrem Talent erinnern sie an einander: eine gewisse Entschiedenheit und
Rücksichtslosigkeit in den Effecten und in der Wahl der Mittel. — Wir Hütten statt
E. Sue auch Fr. sonus nennen können: doch hat sich dieser nicht ein so großes
Publikum zu verschaffen gewußt. — Auf alle Fülle werden wir Deutsche, wenn
wir die Franzosen'ihrer Geschmacksrichtung wegen tadeln, uns etwas in unsern
vier Pfählen umsehen müssen. Tugendhafte Absichten haben ja E. Sue und Fr.
sonus auch, wenn sie das Laster darstellen; auch Chandcrlos de Laclos hatte sie.
Meeresstille und hohe See. Neue Scegeschichtcn von Heinrich Smidt.
(Berlin, O. Förster.) — In der bekannten Manier des Verfassers. —
Deutsches Magazin, herausgegeben von Julius No!denbcrg. (Berlin, spiel¬
ten.) Enthält in den beiden ersten Lieferungen Novellen vom Herausgeber (die
Straßcnsängerin von London), von Hesekiel (Judith von Muramion), von K. Frcnzel
(Pygmalion); Gedichte von Freiligrath, T. Ulrich, Tempcltc» u. s. w. — Feodor
West's „Deutsche Schaubühne" (Hamburg) enthielt in der neuesten Lieferung ein
Trauerspiel von Anna Lohn: Luise Strozzi. —
Alte und neue Geschichten aus Bayern von Hermann Schmid, (München,
Fleischmann), — Meist recht lesbar geschrieben. Möchte doch der Verfasser immer
gleich zu Anfang angeben, in welchem Jahrhundert und wo die Geschichte spielt;
mitunter muß man sich zu lange mit dieser Frage quälen, und erräth es nicht.
Das große Werk, welches die Lectüre des Dichters in Deutschland in einem ganz
außerordentlichen Grade gefördert hat: Shakspere's Werke — herausgegeben und er¬
klärt von Dr. Nicolnus Delius (Elberfeld, Fridhrichs), eilt feiner Vollendung ent¬
gegen. Sechs Bünde sind fertig, mit dem siebenten wird das Ganze abgeschlossen
sein. Gleichzeitig erscheint von dem ersten Band eine neue Auflage, welche (wir.
haben nur den Hamlet vergleichen können) sehr wesentlich bereichert und verbessert
zu sein scheint. Das Werk macht unsrer Nation Ehre. —
An fortlaufenden Erläuterungen des Dichters fehlt es nicht; feit hundert Jahren
scheint es die Hauptaufgabe unsrer deutschen Kritik zu sein, die Verdienste des Dich¬
ters mit Wis und Gelehrsamkeit ans Licht zu setzen. — Bei weitem das Beste, was
seit Gervinus darin gleistet ist, sind die „Vorlesungen über Shakespeare, feine Zeit
und feine Werke", von Fr. Krcyssig, 3 Bde. — Berlin, Nicolai. —
Eine sehr willkommene Ergänzung für das Verständniß Shakespeares gibt
Fr. Bodenstedt's Werk: Shakspeare's Zeitgenossen und ihre Werke
«Berlin, Decker): 1. Bd. John Webster; 2. Bd. John Fort; 3. Bd. John Lilly,
Robert Greene und Chr. Marlow. — Da die Dramen und die Dichter nicht von
der Art find, eine vollständige Uebersetzung als zweckmäßig erscheinen zu lassen, so
hat sich Bodenstedt meistens mit Auszügen, einzelnen Scenen, Notizen aus dem Leben
der Dichter ri. tgi. begnügt, und ist darin fehr umsichtig zu Werke gegangen: man
erhält ein anschauliches Bild von der Stimmung und dem Talent, von den Nei¬
gungen und den Principien dieser englischen Dramatiker. — In frühern Zeiten, als
die Verehrung vor Shakespeare Manchem unbequem wurde, Pflegte man zu behaup¬
ten: durch genauere Kenntniß seiner Zeitgenossen werde seine Größe wenigstens be¬
greiflicher; man sehe die gesunden und günstigen Voraussetzungen seiner Kunst-
Dieser Meinung war im Wesentlichen auch Tieck, der außerdem eine eigne Vorliebe
für die unechten Dramen Shakespeare's zeigte. — Eine aufmerksame Lectüre deö
Bodenstedt'sehen Buchs wird jedem unbefangenen Leser eine andere Ueberzeugung bei¬
bringen: das Staunen vor Shakespeare's Größe wird nicht vermindert, sondern ver¬
mehrt. Freilich sind es dieselben Elemente, die man in jenen Dramen wieder an¬
trifft,' namentlich wenn man den Titus Andronicus in Betracht zieht (denn u»r
dieses Stück läßt eine Vergleichung zu); aber in einer Verwilderung, die allen
Ausdruck übersteigt. — Shakespeare mit irgend einem dieser Dichter vergleichen,
heißt ungefähr, Goethe mit Leopold Wagner vergleichen. Eine Ähnlichkeit ist
ja vorhanden: von den Zeitgenossen wurden sogar einige Stücke von Lenz Goethe
zugeschrieben; wie das möglich war, versteh» wir heute nicht mehr, — Es ist
nicht bloß der unermeßliche Unterschied des Talents, der Shakespeare von seinen
Zeitgenossen trennt, sondern hauptsächlich der sittliche Geist. — Titus Andronicus
ausgenommen, der wie ein Erstlingsversuch eines jungen ungeordneten Talents an¬
zusehen ist, athmen wir bei Shakespeare stets die erfrischendste Luft reiner Menschheit;
bei Fort dagegen, bei Webster und wie sie alle heißen, wird uns übel zu Muth. Wer
die Bestialität rein genießen will, lese z. B. das Stück, dessen Titel Bodenstedt in
„Giovanni und Annabella" verschönert hat. Und Fort ist entschieden einer der
talentvollsten dieser Männer. — Es ist sehr zweckmäßig, den Boden zu analysiren,
auf dem der Genius aufgewachsen ist; seine Voraussetzungen zu studiren u. s. w.,
nur wähne man nicht, etwas mehr zu finden, als die bloßen Elemente: der Genius
selbst bleibt doch etwas Jneommensurablcs, oder, wenn man sich populärer ausdrückt,
ein Wunder. —
Barnstvrffs: Schlüssel zu Shakespeares Sonetten. Bremen, Kühtmann. —
Der Verfasser versucht, die Sonette, die man bisher auf einen vornehmen jungen
Freund bezogen hat, allegorisch zu deuten: jener junge Freund sei der eigne Genius
des Dichters. — So mißtrauisch wir jede allegorische Deutung betrachten, wo es
eine realistische gibt, empfehlen wir doch diese Schrift dem aufmerksamen seu.
dium aller Shakespearckenncr, ohne ein Endurtheil füllen zu wollen, das haupt¬
sächlich von gelehrten Gründen gestützt werden müßte. — Wir stimmen mit dem
Verfasser 1) darin .überein, daß die Mehrzahl dieser Sonette nach der bisherigen
Auslegung uns einen höchst peinlichen Eindruck gemacht hat; daß wir die Freunde
Shakespeare's nicht begriffen, die so etwas loben konnten; daß wir Shakespeare nicht
begriffen, wie er so etwas schreiben konnte. 2) Die symbolische Deutung, die der
Verfasser versucht, ist schön und des Dichters würdig, und man muß wünschen, daß,
sie stichhaltig wäre. 3) Auf einen großen Theil der Sonette paßt seine Auslegung
ganz ungezwungen, namentlich wenn man den Stil der Zeit erwägt, die der Allegorie
nicht abgeneigt war. 4) Auch wenn sie nicht auf alle passen sollte, würde der Ver¬
sasser noch nicht widerlegt sein, da es wol sein könnte, daß der Dichter anders ge¬
meinte Sonette von verwandter Stimmung nachträglich eingeschoben hätte, vielleicht
gerade um das Urtheil irre zu führen. — Wir sind sehr begierig, was die eigent¬
lichen Shakespeare-Gelehrten, z. B. Delius und Tycho Mommsen dazu sagen
werden; umgehen dürfen sie die Untersuchung auf keinen Fall, denn es handelt sich,
gerade herausgesagt, darum, einen Dichter, dem man in der ganzen Weltliteratur
am wenigsten eine Albernheit zutrauen sollte, von dem Verdacht einer Albernheit zu
retten, die ebenso das ästhetische wie das sittliche Gefühl verletzt.
Volkswirthschaft und Arbeitspflege im böhmischen Erzgebirge von
Dr. Th. Pisling. Wien und Prag, Kober und Markgraf, 1861. Eine gute
Anzahl brauchbarer Notizen eingebettet in eine noch größere Masse von Phrasen
und Oberflächlichkeiten. Für weitere Kreise von Interesse ist, was der Verfasser
über das „musikalische Proletariat" berichtet, welches wir in den böhmischen Musi¬
kanten und Harfenmädchen unserer Messen und Badeorte vor uns haben. Der
Haupt- und Stammort der böhmischen Musik wäre nach ihm das Bergstädtchen
Prcsnitz und der Gründer der Harscninufiknnten-Industrie der dortige Bürgermeister
Ignaz Walter (regierte von 1776 bis 1792), das erste Harfenmädchen, welches ge¬
reist und mit der Harfe Geld verdient, Anna Görncr, noch jetzt im Volksmundc
unter dem'Namen „Singrcsannemidl". Durch Hungerjahre und das napoleonische
Contincntalsystem unterstützt, griff später die Musik und die Reiselust immer weiter
um sich, und setzt ist beides über das ganze Erzgebirge verbreitet. Aber noch immer
ist Prcsnitz die Hauptstadt des Musirantcnthnms, Um die Bergstadt herum sind die
Ortschaften Sonnebcrg, Kupferberg, Ncischdorf, Schmiedeberg, Dörnsdorf, Sorgcnthal,
Christophhammcr, Glcischwitz, Wohlbau, Ncudörfl und Anzcndorf die Heimat der Harfen¬
mädchen, während die Sitze der kleinen Orchester mehr im westlichen Erzgebirge und
zwar hauptsächlich in Joachimsthal, Gottcsgab, Fribus, Seifen und Platten zu
suchen sind. ' Graslitz liefert die Instrumente. Wie groß die Zahl der Wandcr-
mufikanten Böhmens ist, ersieht man schon daraus, daß allein in Prcsnitz jährlich
über dreihundert Neisccvncessioncn ertheilt werden, und daß auf jede vou diesen
fünf bis sechs Personen reisen.
Festkalender aus Böhmen. Ein Beitrag zur Kenntniß des Volkslebens
und Volksglaubens in Böhmen. Von O. Frhrn. von Neinsb erg-D ürings-
fcld. Erste Lieferung. Wien und Prag, Kober und Markgraf. 1861. Eine Zu¬
sammenstellung der Sitten und Gebräuche , Spiele und abergläubischen Meinungen
des czcchischcn Volkes, geordnet nach den Jahrestagen. Ferner findet man darin
die Namen der in Böhmen verehrten Heiligen, die Bezeichnung der ihnen geweihten
Kirchen, die Erklärung der kirchlichen Feste, die hauptsächlichsten Wallfahrten und
Gnadenorte, die Volks-, Schützen- und Kinderfeste Böhmens verzeichnet. Nach Er¬
scheinen des Ganzen berichten wir ausführlicher über das Unternehmen.
Mit Ur.' beginnt diese Zeitschrift ein reifes Kuartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März 1861.Die Nerlagshandlnng
Wir verstehe» hier unter Ostern die ganze große Processton von Tagen
und Bräuchen, mit welcher der Glaube der katholischen Kirche die Auferstehung
Christi und der nebenhergehende Aberglaube, das heißt, der Rest des alten
Heidenthums. die Auferstehung der Natur vom winterlichen Tode feiert.
Voraus der Vortrab der Fastensonntage: Jnvocavit, der Herold, Reminiscere,
der Prediger, Oculi, der Pnnierträger, Lätare, der Schalksnarr, dann die
beiden Prinzen Gründonnerstag und Karfreitag, der eine heiter den Reichs¬
apfel, ein buntes El, das Symbol des Lebens, der andere düster das Scep¬
ter, ein Krenz, das Symbol des Todes, in der Hand, dann endlich mit seiner
Strahlenglorie und seinem Gefolge von Engelchören, Heiligen, vermummten
Göttern, heiliges Feuer. Opferkuchen und Zauberkräuter tragenden Dienern
der alte prächtige König Ostern selbst. In protestantischen Ländern ist diese
Procession mit jedem Jahrzehnt nüchterner und ärmer an Gestalten geworden.
In katholischen bewahrt sie noch viel von dem alten Glanz. In Böhmen
hat sie in»f dem platten Lande und in den kleinen Städten zugleich ein natio¬
nales Gepräge, und die alten Götter in dem Festzuge schauen bisweilen noch
»echt deutlich aus ihrer Verhüllung heraus.*)
So gleich beim Ersten in der Reihe, dem Sonntag Jnvocavit. der bei
den Deutschen in Böhmen die alte Fastnacht oder Allermannsfasching, bei den
Czechen aber Lisei Uebele. d. i. Fuchssonntag heißt. In der Nacht vor
demselben reihen die Frauen im Berouner und Rakonitzer Kreis Mohnbrejzeln
auf Reiser und hängen sie im Garten an die Bäume. Vor Sonnenaufgang
werden die Kinder geweckt und ihnen gesagt, daß der Fuchs gekommen und
Vretzeln gebracht. Sie hingen draußen an den Bäumen, wo die Kinder sie.
nachdem sie unter dem Baum ein Gebet gesprochen, sich nehmen könnten.
Mit dem Essen der Bretzeln wird die Vorstellung verbunden, daß dies vor
Zahnweh schützt Nun gilt der Fuchs bei den Czechen überhaupt als Spender der
Zähne, und wenn ein Kind einen Zahn verliert, so muß es, um einen dauer-
haftern neuen zu bekommen, den ausgebrochnen hinter sich werfen und sprechen:
„Da hast Du, Fuchs, einen bemerlten, gib mir dafür einen eisernen." Da
an einigen Orten statt Fuchs Baba gesagt wird, und man anderwärts dem
Fuchs die Function des Kinderbringens, wie sie bei uns der Storch hat, zu¬
theilt, so darf man annehmen, daß der brehelnspendende Fuchs des czechischen
Fuchssonntags nur das als Stellvertreter zurückgebliebne Attribut der Göttin
Baba. der Urmutter der Natur und aller Geburt ist, die in der Heidenzeit beim
Frühlingsfest die Kinder unverhüllt beschenkt haben wird.
Der zweite Fastensonntag, Reminiscere, hat im Brauch und Glauben
des Volks keine besondere Auszeichnung, und vom dritten, Oculi, ist nur zu
erwähnen, daß er bei den Czechen Kychavna Uebele, Niessonntag genannt
wird, da man meint, wer an ihm riefe, könne das ganze Jahr über nicht
krank werden. Dagegen knüpfen sich in den deutschen Strichen Böhmens an
den vierten, in den czechischen an den fünften sehr interessante Reste des alten
Frühlingsfestes, nach welchen jene Sonntage die Namen Todtensonntag und
czechisch Uebele Smrtelna führen.
Schon am Sonnabend vor dem Todtensonntag gingen früher die Mäd¬
chen des Dorfes weißgekleidet in den Wald, um'für die Feier des nächsten
Tages ein Bäumchen zu holen. Unter dem Gesang eines Liedes schnitten sie
eine kleine Tanne oder Fichte ab, schälten unten die Rinde los und ließen
oben die Zweige stehen, die sie mit ausgeblasenen Eiern bedingen und mit
weißen und rothen Bändern schmückten. An der Krone befestigten sie eine
weiße Puppe in Frauengestalt. Mit diesem Bäumchen, welches Lido (Sommer)
hieß, zogen sie am nächsten Morgen im Dorfe von Haus zu Haus, wobei
sie das beim Abschneiden des Bäumchens gesungene Lied wiederholten. Letz¬
teres lautete einst auf Deutsch: „Sommer, Sommer, Sommer, wo warst du
so lange? — War beim Wasser, war beim Wasser, wusch mir Hände und
Füße. Veilchen, Rose können nicht blühen, bis Perun ihnen hilft."
Umzug und Lied haben sich mit einigen Veränderungen bis auf den heu¬
tigen Tag erhalten. In einigen Gegenden hängt eine weibliche Puppe, welche
den Tod vorstellen soll, am Bäumchen, in andern eine Abbildung des Todes.
In Zwikowec tragen die Kinder nur die Puppe herum. In der Nachbarschaft
von Neustadt an der Mellau wird der Tod erst am Nachmittag nach dem
Segen aus Stroh und alter Leinwand gemacht, dann aufgestellt und von den
jungen Leuten Hand in Hand umtanzt, wozu sie singen: „Todtcnbringerin,
Todtenbringerin, wo bleibst du so lange? Am Wasser, am Wasser wuschest du
dir wol Hände und Füße?" Haben sie genug gesungen und gesprungen, s»
ziehen sie durch den Ort und singen: „Den Tod, den Tod aus der Stadt,
neuen Sommer in die Stadt, lieblich weht der Sommer, grün ist das Getreide-
Was uns der Sommer bringt, nimmt uns der Tod. Veilchen, Rosen bringt
uns der Sommer." Zuletzt trägt man den Tod an das Wasser und wirft
ihn hinein. Anderwärts ersäuft man ihn beim Sonnenuntergang, und dann
erst begeben sich die Mädchen in den Wald', hauen ein junges Bäumchen,
das sie mit einer weiblichen Puppe -behängen und mit Bändern anputzen, und
ziehen mit demselben durch die Stadt oder das Dorf, wobei sie singen: „Den
Tod trugen wir hinaus, den neuen Sommer herein. Was uns der Sommer
bringt, nimmt uns der Winter. Freut euch, Altmütterchen, daß wir den Tod
weggebracht und den neuen Sommer herbeigetragen haben!" Während des
Umzugs werden Gaben eingesammelt, die man zuletzt im Wirthshaus verzehrt.
In der Gegend von Chrudim versammeln sich die Knaben beim Richter,
um den Tod zu machen. Ist die Figur fertig, so trägt man sie zum reichsten
Bauer, wo sie am Sonntag früh mit Musik abgeholt und nach einem Bach
oder Teich gebracht wird. Dort stellen sich die Knaben in einer Reihe auf,
die Puppe wird ins Wasser geworfen, und alle stürzen ihr nach, um ihn zu
erHaschen. Wer zuletzt hineinkommt, stirbt noch im Laufe dieses Jahres und
muß zum Zeichen dessen aus dem Rückweg den Tod tragen, der alsdann ver¬
brannt wird.
Bei Schönfcld wird „der Türke hinter die Stadt gejagt" und dabei die
heilige Margarethe um einen frühen Sommer gebeten. - In Desky wirft das
junge Volk den Tod in einen Teich, der Adam heißt, und sagt dann, es habe
den Tod dem Adam gegeben. In Tabor endigt das bei der Ceremonie ge¬
bräuchliche Lied mit einer Anrufung der heiligen Margarethe um ein fruchtbares
Jahr, viel Weizen und Roggen u. s. w. In Böhmisch-Aicha tragen die Mädchen
und die Knaben einen besondern Tod in den Wald, wo sie ihn an einer Eiche
zu zerschellen suchen. Gelingt das den Mädchen zuerst, so glaubt man. daß
in dem Jahre mehr Männer, geschieht dos Umgekehrte, so erwartet man, daß
mehr Frauen als Männer sterben werden. An einigen Orten wird der Tod
nicht ersäuft oder verbrannt, sondern in die Erde verscharrt, an andern ist von
dem ganzen Gebrauch nur ein grüner Zweig übrig geblieben, welcher „der
Sommer" heißt, und mir dem die Mädchen die Burschen und die Frauen ihre
Männer schlagen, um dafür ein Geschenk an Aepfeln zu bekommen. Ist dieser
Nest des alten Frühlingsfests auch außerhalb Böhmens, wenn auch an andern
Tagen, in der leipziger Gegend z. B. am Aschermittwoch, erhalten, so ist
in der Gegend von Libochowic an der Eger eine Sitte lebendig, die an die
"Ah-7yueeQ" des englischen Landvolks erinnert. Mädchen in weißen Kleidern
Mit rothen Bändern und Goldflitterstcrnchen in den Haaren führen eine so¬
genannte Königin (Kralowna). die mit Veilchen und Maßliebchen bekränzt ist,
durch das Dorf, wo dieselbe jedem Hause die Ankunft des Frühlings verkün¬
digt und den Bewohnern Glück und Segen wünscht. Während des Umzugs.
bei dem es sehr feierlich zugeht, darf keins der Mädchen stillstehen, sondern
alle müssen sich fortwährend singend drehen.
Ein Gebrauch schreibt vor, am Todtensonntag Erbsen zu rösten, von denen
Jeder, der ins Haus kommt, wenigstens einen Löffel voll bekommt. Auch hat
der Tag- sein eigenthümliches Gebäck, das in einer Art Kolatschen besteht und
Druzbance oder Druzebne heißt.
Eine Erklärung der Sitte des Todaustragens hat Grimm gegeben. Die
Puppe, welche den Tod vorstellt, ist der Winter, der grüne, mit Eiern und
Bändern geschmückte Baum das Bild des neuen sommerlichen Lebens, das
Ganze das Ueberbleibsel eines heidnischen Ritus, der zu Ehren der um die
Zeit der ersten Veilchen und der Wiederkehr der Wandervögel wiedererwachen¬
den Natur stattfand, und bei dem einst auch die Namen von Göttern genannt
wurden. Jetzt ist die Feier ein Kinderspiel geworden, und die Götter haben
sich, ore anderwärts, davon zurückgezogen oder in Heilige verwandelt.
Andere Reste der alten Feier finden sich mit neueren Bildungen der Volks¬
sitte gemischt an andern Tagen der Monate, in welchen der Frühling beginnt.
Dahin gehört der Gregoriustag, der nach-dem alten Kalender um die Früh-
lingsnachtgleiche siel, und den noch jetzt verschiedene Bauernregeln der Czechen.
z. B. „an Gregori öffnet der Frosch das Maul", „an Gregori fliegt der Storch
übers Meer", als Ende des Winters bezeichnen. An diesem Tage z-ichen in ganz
Böhmen die Schulknaben in Verkleidung von Soldaten, geführt von Offizieren,
Trommler voraus, durch die Dörfer, um geistliche Liederzu singen, und zum Schluß
mit einem Bettelvers Geld und Lebensmittel einzusammeln, wovon dann in der
Schulstube ein Mahl ausgerichtet wird. Im Klattauer Kreise feiert man um
Gregori den Beginn des Ackerns, indem sich die jungen Leute in einem bestimm¬
ten Gehöft versammeln, einen der Burschen vom Kopf bis zu den Füßen in
Stroh einflechten, ihm eine zuckerhutförmige Strvhmütze aufsetzen, ihm das
Gesicht schwärzen und ihn dann mit Musik und Jauchzen durch das Dorf füh¬
ren. In jedem Hause tanzen sie mit dem Strohmann und den Mädchen des
Gehöfts herum, worauf sie sich von dem Besitzer desselben mit einem Glück¬
wunsch verabschieden, der von letzterem mit einigen Kreuzern, von der Frau
mit Eiern vergolten wird. Der Wunsch lautet: „Lieber Herr Vater und liebe
Frau Mutter! Wir wünschen euch, Gott der Herr möge euch in diesem Som¬
mer viel Getreide auf den Feldern, viele Mandeln in den Scheunen, viele
hundert Scheffel auf dem Schüttboden und viel Gras auf den Wiesen besche¬
ren. Mögen eure Ställe voll von Kleinvieh und Großvieh, euer Hof voll von
Geflügel, als Hühner. Enten und Gänse, euer Garten voll von Obst sein.
Möge euch Alles reichlich zuwachsen und Gott es vor Frost, Trockenheit und
Nässe, Hagel und Wetterschlag, Verderben und Schaden bewahren und geben,
daß ihr das ganze Jahr hindurch keinen Mangel an Brot. Kolatschen und
Kuchen. Buchten und Dalken. Futter und Obst. Milch und Käse. Rahm und
Butter. Eiern und jungen Hühnern leiden möget. Gras und Stroh für das
Vieh möge euch noch höher wachsen als die Mütze dieses Strohmannes ist.
damit euch die Frau Mutter recht oft gute Bade. Kuchelhupf. Kolatschen.
Weihuachtsstriczel. gelbe Eierkuchen und mürbe Brotkuchen backe und ihr deu
Armen sowie uns von der Fülle dieser Gottesgaben mittheilen könnt. Möge
euch der Weizen rein wachsen, damit ihr noch weißere Buchten und Kolatschen
haben könnt als jetzt, der Roggen mehr Körner geben als euer jetziger, die
Gerste der? Erbsen gleichen, damit die Dalken gut werden, die Kühe reichlich
Rahm und Butter geben, damit die Striezel recht mürbe werden, die Schweine
viel Ferkel bringen, damit ihr genug Schwarte zu den Erbsen und Räucher¬
fleisch zum Kraut habt, und die Hühner brav Eier legen, damit ihr zu Eier¬
kuchen, Kratzeln und Ostcrflade» viel einschlagen und auch uns hübsch Oster¬
eier geben könnt." Ist der Zug im letzten Gehöft des Dorfes gewesen, so
begibt er sich ins Wirthshaus, wo die verschiedenen Gaben vertheilt oder zu
einem gemeinschaftlichen Mahl verwendet werden.
Wir übergehen die vielen Heiligenfeste, Wallfahrtstage und andere Schöpf¬
ungen der katholischen Kirche, welche an dem einen und dem andern Orte
Böhmens im März das Alltagsleben unterbrechen, und wenden uns zum letz¬
ten Fastcnsonntag. Palmarum, der bei den Czechen Kvetnice d. i. Blumentag
beißt, ein Name, der dem französischen?Z.<jues Ssui-iss entspricht und von
dem alten Gebrauch herstammt, an diesem Tage sogenannte Palmen, Weiden¬
zweige mit Blüthenkätzchen in der Kirche zu weihen. Diese Palmen sind zu
allerlei Dingen gut. Sie werden in feierlicher Procession. während welcher
nach dem Volksglauben alle verborgnen Schätze sichtbar und zugänglich sind,
aus der Kirche nach Hause gebracht, wo sie zu allerhand Zauber und zur Ab¬
wehr von Unglück verwendet werden. An der sächsischen Grenze mischt man
drei von den Kätzchen unter das Futter der Kühe, damit sie reichlich Milch
»eben. Im Eger- und im Leitmeritzer Kreise pflegt man drei Palmkätzchen zu
verschlucken, um vor Halsweh gesichert zu sein, anderwärts geschieht es als
Schutzmittel gegen Zahnschmerzen. wieder an andern Orten bewahrt es vor
dem kalten Fieber. Man gräbt ferner Palmblüthen in die Saatfelder oder
stockt die Zweige aufrecht in das Getreide, damit dieses ebenso hoch werde,
was namentlich dann erwartet wird., wenn der Acker an seinen vier Ecken mit
Dreikönigswasser besprengt worden ist. Sodann befestigt man solche geweihte
Zweige an die Decke des Kuhstalls, der dadurch vor der Rinderpest bewahrt
Kird. Endlich schützen solche Palmen, vorzüglich wenn sie von Haselstauden
send. unter das Dach gesteckt oder auf den Boden gelegt, das Haus vor
^schlag. .
In den czechischen Dörfern Pflegt ferner am Palmsonntag der Bauer in
seinem Taubenschlag nachzusehen, ob sich darin ein eben ausgekrochnes, noch
feuchtes Tciubchen findet, mit dem er seinen Hausgenossen dann über das
Gesicht streicht, damit sie immer schön und jung, ohne Flecken. Sommersprossen
und Warzen bleiben. Anderswo wendet man zu solchen kosmetischen Zwecken
ein weniger seltsames Mittel an. Die Mädchen gehen, ohne jemand davon
zu sagen, vor Sonnenaufgang schweigend in einen Birkenwald, bohren dort
einen Baum an, stecken einen Federkiel hinein und hängen ein Töpfchen daran,
das sie am dritten Tag nach Sonnenuntergang, gefüllt mit dem inzwischen
herausgeflossenen Safte, abholen. Mit letzterem bestreichen sie sich d"us Gesicht,
um dadurch die Sommersprossen zu verlieren, oder trinken davon, um gesund
und > als Frauen nicht unfruchtbar zu werden. In Weinbergsgegenden geschieht
dasselbe mit dem Saft der Weinranken.
Wir kommen jetzt in die Karwoche. Der Dienstag in derselben heißt der
gelbe, die Mittwoch die krumme. Da von letzterer an bis zum Sonnabend
in allen katholischen Kirchen das Geläut schweigt, so werden in vielen böh¬
mischen Orten die Glocken, die nach dem Volksglauben in dieser Zeit nach
Rom gehen, um sich vom Papst neu weihen zu lassen, von den Schulknaben
vertreten. Diese versammeln sich jedes Mal. wenn an andern Tagen geläutet
wird — früh sechs, Mittags zwölf und Abends sechs Uhr — mit Ratschen,
Hämmerchen. Klappern und Schnarren versehen an der Kirche und durchlaufen,
sobald die Uhr jene Stunden geschlagen hat, die Gassen, indem sie mit ihren
Instrumenten einen möglichst großen Lärm machen.
Der Gründonnerstag heißt bei den Czechen Veliky oder Zeleny Ctvrtek,
der große oder grüne Donnerstag, und ist durch mancherlei Gebräuche aus¬
gezeichnet, in denen sich Nachklänge eines dem alten Donnergott geweihten
Festes mit dem Andenken an die Einsetzung des Abendmahles mischen. In
vielen von Czechen bewohnten Dörfern geht man an diesem Tage vor Sonnen¬
aufgang ins Freie, wo man niederkniee und betet, sich dann in einem Wasser
Hände, Gesicht und Füße wäscht und hierauf sich nach einem Berg oder Kreuz¬
weg begibt, um die Sonne aufgehen zu sehen, die an diesem Morgen drei
Freudensprünge thut. Hierauf nimmt der Bauer zwei junge Tauben aus seinem
Schlag, schneidet ihnen im Hof unter freiem Himmel den Hals ab, läßt das
Blut in eine bereit gestellte Schüssel mit drei Hand voll Weizen tröpfeln und
pfeift dann die andern Tauben herbei) damit sie von den mit Blut bespreng¬
ten Körnern fressen. Dies bewahrt sie vor dem bösen Feind und schützt sie
vor Jägern, die auf dem Felde nach ihnen schießen. Nach der Tanbenfüttcrung
verzehrt die Familie sammt dem Gesinde in der Stube mit Honig bestrictM
Brotkuchen, von denen auch das Vieh einige Stücke erhält. Nüchtern gegessen
sichert diese Fcstspeise vor Vergiftung, vor dem Biß von Schlangen und vor
Hautausschlägen. In manchen Strichen wirft man Honig oder Honigbrot >n
die Saat, daß sie besser wachse, und in den Brunnen, daß er klar und ohne
Wasserungeziefer, Frösche und Kröten bleibe. In Böhmisch-Leipa bekommen
die Hunde ein Stück Honigsemmel, damit sie nicht toll werden.
An der sächsischen Grenze findet am Donnerstag vor Ostern ein Bettel¬
umzug der Kinder statt, der „das Gründorstchcgehen" heißt. In Grullas an
der mährischen Grenze sind die Knaben bei dieser Procession mit Klappern
und Schnarren bewaffnet. In einigen Dörfern ist der Gebrauch des Todaus¬
tragens auf den Gründonnerstag verlegt. Im Jiciner Kreis ergötzt sich an
diesem Tage die Jugend mit dem „Jidase Horn", d. i. dem Judastreiben,
wobei sie einem rothhaarigen Knaben nachlaufen, denselben mit Schmutz wer¬
fen und wenn er sich einholen läßt, ihn durchprügeln. Festspeisen des Grün-
dounerstcigs sind außer jenen mit Honig bestrichnen Brotkuchen die sogenannten
Jidosky, kleine runde Brötchen, auf denen zwei übereinander gelegte Kreuze
einen achtsirahligen Stern bilden, und die man, nachdem sie in der Kirche ge¬
weiht sind, mit Honig bestrichen verzehrt. Ferner ißt man fast allenthalben
Spinatkrapfen und überhaupt viel grünes Gemüse, Zum Backen bedient man
sich statt der Butter häusig des Oels.
Andere Gebräuche am Gründonnerstag sind, daß man letztern gern zum
Aussäen des Flachses, des Kohls und der Erbsen wählt, weil diese Pflanzen
dann besonders gut gedeihen, daß man die an diesem Tag gelegten Eier am
Ostersonntag über das Haus wirft und sie da, wo sie niederfallen, vergrübt,
was vor Blitzschlag und anderen Unglück schützen soll, und daß die Hausfrauen
mit einem ohne Feilschen gekauften Besen unter Gebeten das ganze Hans fegen
und den Kehricht dann im Ofen verbrennen, was nicht nur ebenfalls vor Wetter¬
schaden sichert, sondern auch Glück bringt.
Die Einsetzung des Abendmahls wird noch in mehren Klöstern und an¬
dern geistlichen Häusern durch Speisung von zwölf Armen begangen, welchen
früher von den Aebten, Nectoren oder Prälaten zugleich die Füße gewaschen
wurden. In Neuhaus fand früher die Vertheilung des „süßen Breis" oder
»süßen Kochs" statt, eine Armenspeisung, welche von der bekannten Perchta
van Rosenberg, der „weißen Frau von Neuhaus", gestiftet worden sein soll,
aber sehr wahrscheinlich älteren Ursprungs, vielleicht eine Verknüpfung christ¬
licher Mildthätigkeit mit dem Nachhall eines Opferfestes ist. welches der Erden-
Mutter Perchta zu Ehren gefeiert wurde. Nach alten Rechnungen bekam Jeder,
dn- sich zu diesem Mahl einstellte, vom Schloß Neuhaus ein Brot, einen Krug
Vier, eine Fischsnppe. zwei Fischgerichte und einen aus Weizengrics. Süßbier
und Honj^ bereiteten Brei. Die Beamten und Diener des Schlosses, einige
Magistrotspersonen und Dorfrichter trugen die Speisen herzu, und wenn je¬
mand von der Herrschaft zugegen war, pflegte er die erste Schüssel zu reichen.
Der Zudrang war ungeheuer: 1699 speiste man gegen 8000. drei Jahre später
7632 Personen. Die Stiftung sollte nach dem letzten Willen eines der Be¬
sitzer von Neuhaus unwiderruflich sein, doch wurde sie durch ein Hofdccret im
Jahre 1782 ausgehoben und der Betrag für das Mahl dem Armenhaus des
Orts zugewiesen.
Der Karfreitag heißt bei den Czechen Veliky Pater, der große Freitag.
Früher ein großer Buß-, Bet - und Fasttag, ist er jetzt zu einem gewöhn¬
lichen Fasttag geworden, an dem nicht einmal die alltäglichen Arbeiten ruhen.
Dennoch nimmt er im Volksgebrauch eine hervorragende Stelle ein. So darf
man in der Gegend von Reichenberg an ihm kein Brot backen und keine Wasche
waschen. Anderwärts gehen die Mädchen vor Sonnenaufgang zum Bad in flie¬
ßendem Wasser, wodurch sie ihre Schönheit zu mehren meinen. Wieder an andern
Orten begibt sich der Bauer mit seinen Dienstleuten in den Garten, kniet auf
den Nasen und spricht ein Gebet, das, halb Zauberformel, folgendermaßen
lautet: „Ich grüße dich, Karfreitag, der du heute bist. Der Herr Christus,
hat das schwere Kreuz getragen, bis er unter ihm am ganzen Leibe zitterte.
Begegnete ihm das jüdische Volk und fragte ihn: Was zitterst du? Hast du
vielleicht das kalte Fieber? Und er anwortete: Ich habe es nicht und werde
es nicht haben, so lange ich lebe." Dann beten Alle ein Ave Maria und das
Credo. Der Gebrauch soll jedenfalls vor dem Fieber schützen, vor dem man
sich auch sollst am Karfreitag durch Untertauchen vor Sonnenaufgang in flie¬
ßendem Wasser oder durch Umwickeln der Füße mit einem während der Pas¬
sion gesponnenen Faden Garn zu verwahren sucht.
Ferner wäscht man am Karfreitag die Kühe und Pferde aus drei Quellen,
um sie gegen Krankheit zu sichern, und reibt ihnen die Krippe mit Stickwurz
aus, wovon sie dicker werden sollen. Espenstöckchen am Karfreitag vor Sonnen¬
aufgang geschnitten und aus Felder und Wiesen gesteckt, vertreiben die Maul¬
würfe. Ein Dorn vom Hagcbuttenstrauch zu derselben Zeit genommen gibt,
einen Zahnstocher, der das Zahnweh heilt, wenn man mit ihm das kranke
Fleisch so lange sticht bis es blutet. Wegwart in der Nacht auf den Kar¬
freitag mit bloßen Füßen ausgegraben, mit heiligen Worten beschworen und
mit einem Tuch um die Hand aufgehoben, hat die Macht, den, welcher damit
berührt wird, zu heftiger Liebe zu entzünden. Geht man in derselben Nacht
rücklings und schweigend auf eine Stelle zu, wo eine Beifußpflanze steht, so
findet man nach Aushebung derselben in der Wurzel ein schwarzes WürmelM,
welches man in einem Fläschchen mit heimnimmt, da es nach neun Tage» z»
reden anfängt und seinem Besitzer alle Wünsche gewährt. Indeß darf derselbe
jene neun Tage nicht beten und sich nicht waschen, auch muß er jeden Tag
beim Mittagsessen einen Bissen Brot nnter den Tisch werfen, sonst wird das
Würmchen böse. Man sieht, das Würmchen ist der Teufel, was noch dadurch
bestätigt wird, daß das Geld, welches der Inhaber des Wunschthierchcns
täglich erhält, jedes Mal am Tage des Empfanges durchgebracht wer-
den muß.
Regnet es am Karfreitag, so sagt man: soviel Regentropfen soviel Bett¬
ler, d. h. je nasser der Tag. desto weniger fruchtbar das Jahr. In der
Nacht vom Karfreitag auf den Karsamstag läuft man in czechischen Dörfern
um die zwölfte Stunde im Hemde in die Gärten und ruft: „Setzt an, Bäume;
wollt ihr nicht ansetzen, so hauen wir euch ab!" wobei jeder Stamm mit
einem Strohseil umwunden wird. Man glaubt damit zu bewirken, daß
sie reichlich blühen und Früchte tragen.
Der Karsamstag wird von den Czechen Bila Sobota, d. i. der weiße
Sabbath genannt und dient hier wie anderwärts in katholischen Ländern zur
Weihung des neuen Feuers in den Kirchen. In den ältesten Zeiten pflegte
man jeden Sonnabend Feuer zu schlagen, es zu segnen und dann die Altarkerzen
und die Kohlen in den Weihrauchfüssern damit anzuzünden. Jetzt geschieht
dies nur einmal im Jahr und zwar am Tage vor Ostern, wo man auch
das Oel in den heiligen Lampen und das geweihte Salz erneut, welches die
Kirche zu verschiedenen Zwecken bereitet. Das Verbrennen der Reste dieses
Oels und Salzes findet auf kleinen Scheiterhaufen vor den Pfarrkirchen statt
und wird in den meisten Orten „das Judasverbrennen", in den Dürfen an
der sächsischen Grenze „der alte Jude" genannt. Die Kohlen davon sind sehr
wichtig für den Aberglauben. Die deutschen Böhmen schützen mit denselben
ihre Kraut- und Getreidefelder vor dem Einfluß von Hexen und ihre Dächer
vor Blitzschlag. Die Czechen werfen sie in die Ställe, um das Vieh vor
Seuchen zu bewahren. Der Gebrauch ist das zusammengeschrumpfte und
christgläubig gewordene altheidnische Osterfeuer.
Während bei der Messe des Karsamstags das Gloria angestimmt wird
und die von Rom zurückgekehrten Glocken im Verein mit den Klingeln der
Chorknaben, zum ersten Mal wieder laut werdend „die Fasten ausläuten", eilt
wan an vielen Orten an ein fließendes Wasser, um sich Gesicht und Hände
Zu waschen, was gegen Krankheit und den bösen Blick sichert und die Sommer¬
sprossen vertreibt, oder um Wasser zu schöpfen, welches, in Flaschen aufbewahrt,
gegen Epilepsie. Gift und schlimme Augen gut ist. Einige glauben sogar,
daß ein Karsamstagsbad, in fließendem Wasser während des Gloria genom¬
men, von aller Sünde reinige. Andere ahmen mit zusammengebundenen
Schlüsseln das Glockengelüut nach und meinen, daß. soweit der Schall reicht,
die Bäume reichlich Obst tragen werden. Wieder Andere schlagen während
des Gloria an ihre Taschen, um sie das Jahr über immer voll Geld zu ha¬
ben, oder schwenken ihren Geldbeutel in einem Bach oder Fluß hin und her.
was dieselbe Wirkung hat. In Ostböhmcn pflegen die Frauen, sobald die
blöcken wieder zu läuten beginnen, mit einem in der Karwoche gebundenen
Besen das Haus zu fegen und namentlich unter den Betten vorzukehren,'
Man nennt dies „das Flöhausschütteln" und glaubt, daß man auch zu andern
Zeiten des Jahres diese lästigen Badegäste nur mit solchen Besen vertreiben
könne, die daher sehr gesucht sind. Am Abend endlich gehen die Mügde
aufs Feld, um junge Saat, sogenannte Ostersaat, für das Vieh zu holen,
das, damit gefüttert, das Jahr über reichlich Milet gibt.
Ostern, aus welches die Deutschen den Namen ihres heidnischen Früh-
lingsfests übertrugen, heißt bei den Czechen Veiikonoce, die große Nacht, oder
Svatky Cervene, das rothe Fest. Der letztere Name könnte von den rothen
Eiern stammen, mit welchen man sich an dem Ostertage zu beschenken pflegt,
und die in manchen czechischen Dörfern geradezu als pflichtmäsziger Tribut
der Mädchen an ihre Burschen betrachtet werden. „Der wird keine rothen
Eier mehr essen," d. h. nicht im Dienst aushalten bis Ostern, und „hüte ihn
wie ein rothes El" sind sprichwörtliche Redensarten der Czechen. Wie in
Polen zerschneidet auch hier und da in Böhmen die Bäuerin gleich am Mor¬
gen in der Frühe einige rothe Ostereier, um sie mit dem Bauer und den
Kindern gemeinschaftlich zu verzehren. Kein Osternacht ist ohne Eier, welche
gleich den übrigen stehenden Speisen des Festes in. der Kirche geweiht zu
werden pflegen. Letztere sind sehr mannigfach. In Prag erhalten die Dienst¬
boten zum Frühstück Lammsbraten, ein El und ein Stück Osterbrot. Zu
Mittag bekommt jedes einen Osterland, welcher ein kleiner runder Rosinen¬
kuchen ist. Dann ißt man das Osterlamm. Aus dem Lande gibt es als
Braten ein Böckchen, einen Kalbsschlegel oder eine Taube. Diese wird ohne
Messer und Gabel verzehrt, damit kein Knochen verletzt wird. Dann fassen
beide Eheleute die Enden des Brustknochens und ziehen — wer das kürzere
Theil in der Hand behält, wird von dem andern begraben. Auf einigen
Dörfern haben die Frauen ihren Männern Eierkuchen, Pomazance genannt,
oder Pfannkuchen (solely) zu schenken, welche letzteren aus Mehl, Rahm,
Rauchfleisch und Eiern bestehen. In Bezug hierauf nennt man Ostern wol
auch Svatky Mazancove oder Svitkove. Der Bauer ißt übrigens am Oster¬
tage mit seinem Gesinde nicht an dem gewöhnlichen, sondern an dem Ehren¬
tische, dem sogenannten Dreifuß.
Wenn man im östlichen Böhmen das Osterlamm verzehrt, muß dies stehend,
reisefertig angezogen, den Hut oder die Mütze auf dem Kopf und in der einen
Hand einen Stock, gethan werden. Die Ueberbleibsel des Lammes und die
Schalen der geweihten Eier werden theils unter die Bäume im Garten ver¬
graben, damit sie reichlicher tragen, theils in den Brunnen geworfen, damit
er nicht versiege. Die Mädchen fügen den Eierschaalen auch noch. Stückchen
vom Ostereierkucheu hinzu, schütteln die Bäume und sagen dazu einen Spruch-
der auf deutsch je nach der Baumgattung lautet: „sage du mir, Birnbaum
(Apfelbaum, Hollunder). wo jetzt mein Liebster ist?" Ob sie eine Antwort er¬
warten und — bekommen, bemerkt unsere Quelle nicht.
Andere Ostersitten sind, daß man auf Anhöhen geht, um die Morgensonne
am Horizont ihre drei Sprünge thun zu sehen, daß man dieselbe mit Flinten-
nnd Pistolenschüssen begrüßt, daß man die Pferde vor Sonnenaufgang oder
in der Mitternachtsstunde zur Schwemme reitet, damit sie das Jahr über gut
gedeihen, daß man die Kühe zu derselben Zeit mit Wasser aus Flüssen oder
Bächen begießt, damit sie reichlich Milch geben u. d. in.
Im Böhmerwald pflegen Unverhcirathete am Ostermorgen vor Erscheinen
der Sonne an einen Bach zu gehen, aus demselben mit den Zähnen ein
Steinchen herauszuholen und dieses, nachdem sie sich Kopf und Gesicht mit
Bachwasser gewaschen, gegen Osten gekehrt rückwärts über sich zu werfen.
Sie glauben, daß ihnen hierauf geoffenbart werde, ob sie im Verlauf des
Jahres sich verheirathen werden, auch soll die Sitte vor Zahnschmerz be¬
wahren.
Von den verschiedenen Processionen der Ostertage erwähnen wir nur die
der „Osterrciter" in den Dörfern an der sächsischen Grenze. Sobald früh die
Glocken zu läuten beginnen, versammeln sich die Burschen dieser Ortschaften
zu Pferde auf dem Anger vor der Kirche. Sind alle eingetroffen, so wird
dies durch Musik vom Thurme, Posaunen, Trompeten und Pauken und sechs
Böllerschüsse verkündet. ^ Die Reiter stellen sich in einer Reihe vor dem Por¬
tal der Kirche auf, ein Osterlied erschallt, begleitet vom Schmettern zweier
ebenfalls berittnen Trompeter. Dann lassen sich wieder die Glocken hören,
und nun setzt sich die ganze Gesellschaft, ein zweites Osterlied singend, in Be¬
wegung, um die Kirche drei Mal zu umkreisen. Voran reitet ein Fahnen¬
träger, ihm folgen die Trompeter, diesen die besten Sänger, die Gesangbücher
in der Hand, endlich die Uebrigen. Der letzte trägt eine blecherne Büchse.
Ist die Kirche drei Mal umritten, so schweigen die Glocken wieder, die Böller
krachen abermals, und die Reiter stimmen vor der Kirchthür ein drittes Lied
an. woraus sie ihren Weg nach dem Dorfe nehmen und hier vor jedem Hause
singend in ihre Büchse Gaben für die Kirche einsammeln. Kommen sie zu¬
rück, so wird nochmals ein Lied vorgetragen, sie reiten wieder drei Mal um
die Kirche und steigen dann ab. um die Messe zu hören.
In Reichenberg zogen früher zu Ostern „Saatreiter" unter Musik und Ge¬
sang um die Felder der Stadt. Jetzt gibt es dort nur noch „Saatgänger",
Welche am Ostermorgen das Lied-: „Freu' dich. Maria, Himmelskönigin!" er¬
schallen lassen.
Vieles von diesen Gebräuchen ist im Absterben begriffen, Anderes zum
bloßen Spiel und Scherz ohne Bedeutung geworden, anderes fristet seine
Existenz nur no unter denen, die auch die Bewahrer andrer Alterthümer
des Volkslebens sind, unter Kindern und Greisen. Die Welt wird auch in
Böhmen allmälig weniger bunt, allmälig gesetzter, nüchterner und verständiger,
und das Heidenthum, das vor dem Christenthum nicht wich, von ihm nur
einen andern Namen und eine andere Tracht und Manier erhielt, wird auch
hier, wenn gleich langsamer wie anderwärts, von der modernen Bildung in
einigen Jahrzehnten zersetzt und verflüchtigt sein.
Nach der kirchlichen Ueberlieferung soll der Apostel Petrus mit dem Apo¬
stel Paulus die Christengemeinde zu Rom gegründet haben. Petrus wäre
schou im Jahre 42 n. Ch., also lange vor Paulus, nach Rom gekommen,
dort 25 Jahre hindurch Bischof der Gemeinde gewesen und am Ende der Re¬
gierung des Kaisers Nero als Märtyrer dort gestorben. Diese Ueberlieferung findet
sich zuerst am Ende des zweiten Jahrhunderts (bei Dionys von Korinth und bei
Irenäus von Lyon), so wie sie nach katholischer Ansicht schon in 1 Petri 1, 13.
wo dann unter Babylon „Rom" verstanden sein soll, und in einem Briefe des
Clemens von Rom (der angeblich als Bischof der römischen Gemeinde im Jahre
102 starb) an die Korinther, in welchem des Petrus neben Paulus gedacht
wird, einen Anhalt findet. Allein als der Apostel Paulus nach Rom kam
(Apostelgesch. 28), war das Christenthum dort schon bekannt und eine Ge¬
meinde vorhanden, an die Paulus hatte schreiben können (Rom. 1, 7); der
Apostel Petrus aber damals in Jerusalem und Palästina, in Antiochien und
vielleicht in Kleinasien, also in ganz andern Gegenden thätig. Als Gründer
der römischen Gemeinde kann also Petrus nicht angesehen werden, und wenn
auch die Möglichkeit einer späteren Anwesenheit des Petrus in Rom mit ge¬
ringer Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, so kann sie keinenfalls
als historische Thatsache gelten. Wäre aber auch Petrus der erste Papst ge¬
wesen, so war es jedenfalls ein verheiratheter Papst; denn Matth. 8, 11
wird seine Schwiegermutter erwähnt und 1 Kor. 9, 5 schreibt Paulus: dah
der Apostel Petrus, wie andere Apostel, seine Gattin auf seinen Reisen mit
sich führe. Wenn nun auch 'die Continuität der römischen Bischofswürde von
Petrus bis zu den Päpsten, so daß ein Erbgut von jedem auf seine Nach'
folger übergehen konnte, sich aus den unechten Jsidor gründet, der erst nach
den Zeiten Ludwigs des Frommen zum Vorschein kommt, so kann selbstver¬
ständlich von einem Erbtheil des heiligen Petrus nicht die Rede sein.
Erst in der Mitte des 8. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung soll denn
auch der Kirchenstaat durch die sogenannte „Schenkung Pipins" entstanden
sein. Um diese Zeit hatten sich diejenigen Gegenden Italiens, welche bis da¬
hin noch die Oberherrschaft des oströmischen Reiches anerkannt hatten, in
Folge der Bilderstreitigkeiten, unabhängig gemacht, die kaiserlichen Beamten
vertrieben und selbstgewähltc Beamte an ihre Spitze gestellt. Diese Bewe¬
gungen waren aber insonderheit von der Geistlichkeit ausgegangen, und dem¬
zufolge erkannte dann auch die Stadt Rom mit ihrem Gebiete die Herrschaft des
römischen Bischofs an, so wie auch Ravenna und Umgegend dem Erzbischof von
Ravenna huldigte. Nun führte aber die Ausbreitung der Longobardenherrschaft
und die dadurch dem römischen Bischof drohende Gefahr zu einer Verbindung
desselben mit dem Frankenkönig Pipin. Pipin übergab das den Langobarden ab¬
genommene Gebiet dem heiligen Petrus (act sanctum ?lernen tiÄcliäit.; Lin-
tmrä), sich selbst aber machte er zum Patricias oder Statthalter und Schutz¬
herrn desselben. Unter seiner Hoheit erhielt nun der Papst das Herzogthum
Rom, d. i. einen etwa 10 Meilen breiten Küstenstrich von der Gegend von
Riedl und Sutri bis nach Ceprnno und Terracina sich erstreckend; ferner das
lLxarchat Ravenna nebst der sogenannten Pentapolis, d. i. das Gebiet zwischen
den Apenninen und dem Adriatischen Meere vom Po bis gegen Ancona hin.
Allein daß damit eine Schenkung von Seiten Pipins gemeint sei, ist mehr
als zweifelhaft, denn wenn auch seitdem der Papst sich nach dem Vorbilde
des byzantinischen Hofes mit einem Hofstaat von Beamten umgab und die
^noch und tribmii als Verwaltungsbeamte bestellte: so sah doch Pipins
Sohn und Nachfolger, Karl der Große, schon vor seiner Kaiserkwnuug, die
richterlichen Behörden des Papstes als sich, dem Patricius, untergeordnet an
und bestimmte, daß der fränkische Gesandte bei der Papstwahl gegenwärtig
sein könnte. Sobald Karl aber Kaiser war, nahm er die obcrhcrrschastlichen
Rechte über Rom als ein unveräußerliches Zubehör der kaiserlichen Gewalt
Anspruch. Alle römischen Beamten und Würdenträger, ohne ihrer Ver¬
pflichtungen gegen den Papst entbunden zu werden, waren zugleich kaiserliche
^ante; sie und das gesammte römische Volk mußten dem Kaiser schwören.
Der Kaiser hielt einen ständigen Sendboten in Rom, als seinen Stellvertreter;
"eben demselben stand ein päpstlicher Sendbote. War der Kaiser nicht selbst
Rom. so ließ er sich auch wol durch den Herzog von Spoleto vertreten.
Fällen wo Bischöfe und Beamte vor den Kaiser belangt wurden. — Nach
Karls des Großen Tode, unter dessen schwachem Nachfolger, sank die kaiscr-
''che Gewalt in Rom und mit ihr die päpstliche. Ludwigs des Frommen
ältester Sohn Lothar stellte noch einmal, als er 824 nach Rom gekommen
our, Ordnung und Macht her. Er erließ damals eine Konstitution, welche
der Papst schriftlich anerkannte und die fortan jeder Papst anerkennen sollte,
ehe seine Ordination erfolgte. Nach dieser Konstitution bestellten beide, Kai¬
ser und Papst, ihre Sendboten in Rom zur Beaufsichtigung der Beamten
(äuee8 und.juäiees), welche der Papst ernennt und die von dem Kaiser ver¬
pflichtet werden. — Nach Lothar verfällt die kaiserliche Herrschaft immer mehr.
Papst Johann der Achte (872—882) erließ eine Bulle mit dem merkwürdigen
Datum imperators äomino ?ohn Lliristo, und seit Karl dem Kahlen schon gab
es keinen kaiserlichen Sendboten mehr in Rom. Mithin ging die weltliche
Herrschaft auf die Päpste allein über, in Wahrheit aber verfiel sie den römi¬
schen Adelsfamilien, oder auch den Angriffen der Nachbarn: der Markgrafen
von Camerino, der Herzoge von Spoleto, der norditalischen Könige. In Rom
selbst waren seit der pipinischen Zeit aus den päpstlichen Hofbeamten, deren
Stellen erblich geworden waren, mächtige Adelsgeschlechter entstanden. Der
Papst wurde vom römischen Volke gewählt, aber der Adel übte auf die Wahl
überwiegenden Einfluß. Bald brachte Alberich die Herrschaft an sich, machte
sich zum Fürsten und Senator der Römer. Er ließ noch den Papst neben
sich bestehen; sein Sohn Octavian aber, als die Herrschaft auf ihn überging,
machte sich selbst zugleich zum Papst. Acht Jahre konnte er sich behaupten;
dann wurde König Otto der Erste über die Alpen gerufen, den er zum Kai¬
ser krönte. Seitdem war es mit der weltlichen Herrschaft des Papstes wie¬
der zu Ende. Kaiser Otto der Erste trat als höchster Gesetzgeber. Richter und
Kriegsfürst der Römer auf und nahm ihnen sogar die Besetzung des Stuh¬
les Petri. indem er selbst Päpste einsetzte. Ottos Enkel machte sogar- Rom zu
seiner Residenz. Nun berufen sich die Anhänger des Papstthums auf eine
von Kaiser Otto dem Ersten am 13. Februar 962 ausgestellte Urkunde, welche
dem Papste alle Länder zuspricht, die einst Pipin dem heiligen Petrus bestimmte.
Diese Urkunde. aus Purpurpergament mit goldenen Buchstaben geschrieben,
wird im Archive der Päpste aufbewahrt. Sie ist, sagt Giesebrecht, wie Inhalt
und Form beweiset, ein Betrug, und weil dieser Betrug sehr offenbarlich ist,
so wird sie noch jetzt Niemandem in die Hand gegeben. Kaiser Otto hat
vielmehr das italische Reich in seinem ganzen Umfange sich und seinen Nach¬
folgern erhalten und kein Stück Land dem heiligen Petrus geschenkt. Eine
andere vom Kaiser Heinrich dem Zweiten den 26. Juni 1024 ausgestellte Ur¬
kunde, in der das bekanntlich von diesem Kaiser gegründete Bisthum Baw-
berg, wie auch Fulda unter den besonderen Schutz des römischen Bischofs ge¬
stellt und dem heiligen Petrus gleichsam zum Eigenthum übertragen, auch zu
gewissen Dienstleistungen an die römische Kirche versuchtet wird, diente später
zum Anhalt sür die Fälschung einer großen Schenkungs- und Bestätigungs-
Urkunde, durch weiche Heinrich fast ganz Italien dem heiligen Petrus übergeben
haben sollte. — Nachdem Kaiser Heinins der Dritte den König von Ungarn.
Alm, unterworfen und des Lebens beraubt hatte, schickte er 1044 die Lanze
dieses Königs nach Rom. wo sie an einer Thür der damaligen Peterskirche
aufgehängt wurde. Die Papste leiten daraus ab, daß der Kaiser ihnen Un¬
garn unterworfen habe. — Außer den genannten Beweisen zur Beglaubigung
einer Schenkung des Erbtheils Petri und des Exarchats an den Papst, wird
noch ein Diplom Ludwigs des Frommen erwähnt, über welches das Nähere
zu erfahren nur nicht vergönnt ist.
Den ersten Grund zu einem wirklichen Eigenthum des Papstes legte die durch
ihre Burg Canossa, wo Heinrich der Vierte vor Gregor dem Siebenten Buße that,
so bekannte Markgräfin Mathilde. Aus persönlicher Achtung gegen Papst Gre¬
gor den Siebenten und aus innigem Einverständnis; mit seinen Bestrebungen
vermachte sie, obgleich dem jungen Wels von Baiern vermählt, dem Papste
alle ihre Güter „vains. mög. borg,, Mre xroxriewtis." Gräfin Mathilde über¬
lebte freilich Gregor den Siebenten noch über dreißig Jahre, und von ihrem
Tode an wurde die Erbschaft den Päpsten über anderthalb Jahrhunderte lang
bestritten.
Als Mathilde 1116 starb, nahm sofort Kaiser Heinrich der Fünfte von
den Mathildischen Gütern Besitz 1) als Verwandter, 2) als Kaiser. Die Güter
waren theils Eigenthum, theils Reichslehen. Der folgende Kaiser, Lothar
ohn Supplingenburg, erkannte das Eigenthumsrecht des Papstes dadurch an,
daß er das Mathildische Allod vonJnnocenz dem Zweiten als päpstliches Lehen
nahm gegen eine jährliche Abgabe von hundert Mark Silbers. Lothar be¬
lehnte wieder seinen Schwiegersohn, Heinrich den Stolzen, mit dem Mathil¬
dischen Allod, und beide Fürsten leisteten dafür dem Papste den Eid der Treue.
Dabei gingen sie den Vorbehalt ein, daß nach ihrem Tode die genannten
Güter, mit dem Reichslehen, dem Herzogthum Spoleto, an den Papst zurück¬
fallen sollten. Kaiser Friedrich der Erste nahm davon nicht weiter Notiz und
belehnte Wels von Baiern mit den Mathildischen Gütern (1158). Als er aber
später von Heinrich dem Löwen verlassen und bei Legnano besiegt, sich in Venedig
fast noch tiefer vor dem Papst demüthigen mußte, als Heinrich der Vierte in Ca¬
nossa, nahm er vom Papste den Nießbrauch der Mathildischen Güter auf fünf¬
zehn Jahre an. Der Kaiser erlebte den Ablauf dieses Termins nicht. Sein Sohn
und Nachfolger Heinrich der Sechste, nachdem er 1194 von Sicilien Besitz ge¬
nommen hatte, überwies seinem Bruder Philipp (von Schwaben) törram clo-
wimre UgMiläaö, worauf der päpstliche Bannfluch über ihn ausgesprochen
wurde. Philipp sah sich nach seines Bruders Tode veranlaßt, nach Deutsch¬
land zu gehen und gegen seine frühere Absicht die Krone selbst zu nehmen.
Da bestritt Papst Innocenz der Dritte ihm den Besitz der Mathildischen Güter
und brachte ihm einen Gegner aus, Otto von Braunschweig, der den Besitz
der Mathildischen Güter und des sicilischen Reiches der römischen Kirche zu
sichern schwur und dann als Kaiser anerkannt wurde. Philipp wurde bald,
ein Opfer.der Privatrache, schmählich ermordet; kaum fühlte Otto sich alleiniger
Kaiser, so nahm er sofort 1209 die Mathildischen Güter für das Reich in An¬
spruch und hatte dafür den Bannfluch zu erfahren. Auch einen Gegenkaiser
sandte ihm Innocenz der Dritte in Friedrich dem Zweiten, der. nachdem er sich
die Krone gesichert, am 22. November 1220 dem Papste das ganze Besitzthum
von Radicofani (einem Passe aus der Grenze des Kirchenstaates mit Toscana)
bis Ceprano, also das Erbtheil Petri und einen Theil der Mathildischen Güter,
in einem Vertrage zuschrieb, wobei Alle, die bis dahin Inhaber von Mathil¬
dischen Gütern waren, von dem Eide, den sie dem Kaiser geleistet, entbunden
und dem Papste verpflichtet wurden. Nach dem Untergange der Hohenstaufen
war es dem Stifter des Hauses Habsburg vorbehalten, auch Stifter des Kirchen¬
staates zu werden.
Wenn freilich Rudolf von Habsburg schon im Jahre nach seiner Thron¬
besteigung seinen treuen Schwager, den 'Hohenzollerschen Burggrafen Friedrich
von Nürnberg, mit anderen Abgeordneten nach Lyon schickte und dort die Ka¬
pitulationen Ottos des Vierten und Friedrichs des Zweiten in seinem Namen
anerkennen ließ, auch die in denselben erwähnten päpstlichen Besitzungen zu
schützen versprach: so war damit doch keine Schenkung gemeint; denn 1276
schickte Rudolf den Grafen Heinrich von Fürstenberg und 1278 den Kanzler
Rudolf von Hohcneck nach Italien, um die Städte der Romagna zur Huldi¬
gung für das Reich und für den römischen König aufzufordern. Aber Rudolf
sah sich seit der Besiegung Ottokars durch die Schwierigkeiten, die ihm die
Umwandlung der östreichischen Lande in Habsburgische verursachte, in die Un¬
möglichkeit gesetzt, mit der römischen Kirche in Feindschaft zu leben und wurde
durch den Vertrag vom 14. Februar 1297 der Gründer einer weltlichen Herr¬
schaft des Papstes.
In diesem Vertrage verzichtete er: 1) auf das Gebiet von Radicofani bis
Ceprano. 2) auf das Exarchat Ravenna, 3) auf das Herzogthum Spoleto
und Ancona. Dieser Verzicht geschah nicht nur im Namen des Kaisers, son¬
dern auch des Reiches, und er wurde erst nach erfolgten Willebriefen der Kur¬
fürsten abgeschlossen. Da nun in 1 auch das Mrimonium Laueti ?et.ri be¬
griffen ist, so wurde dies und auch die ganze angebliche Schenkung Pipins
bis dahin als zum Reiche gehörig angesehen, da das Reich nicht auf Etwas
verzichten konnte, auf das es keine Anrechte zu haben glaubte.
Seitdem ist das päpstliche Gebiet gelegentlich befestigt und erweitert, auch
gemindert und annullirt worden und wieder ins Leben gerufen. Noch 1273
kam die kleine Grafschaft Vcnaissin an der Rhone durch Schenkung an den
Papst. 1348 kaufte der Papst Stadt und Gebiet Avignon; Papst Julius der
Zweite erwarb sAnfang des 16. Jahrhunderts) das Fürstenthum Pontecorvo
und sein Vorgänger Alexander Borgia erhielt von Konig Ferdinand von Neapel
das Herzogthum Benevent. Vom Frieden zu Tolentino von 1797 an und
den folgenden Ereignissen bis zur Rückkehr des Papstes nach Rom am 24. Mai
1814 stand, freilich der Bestand des Kirchenstaats oft und mehr als je in Frage,
auf welche Ereignisse, da sie bekannt genug sind, wir hier weiter nicht ein¬
Ueber den ersten Band ist gleich nach dessen Erscheinen ausführlich be¬
richtet worden. Der nun vorliegende zweite umfaßt den Zeitraum 1720—40,
zwanzig Jahre bei der italienischen Oper in London. Ein dritter soll noch im
Laufe dieses Jahres mit der Darstellung der großen oratorischen Thätigkeit
Handels das Werk beschließen.
Die zur richtigen Würdigung des Buches nothwendigen allgemeinen
Gesichtspunkte haben wir in jenem ersten Bericht festzustellen gesucht, und des
Verfassers außerordentliche Befähigung für die Musikgeschichte überhaupt, wie
lpeciell für den vorliegenden Gegenstand nachgewiesen. Der zweite Band be¬
weist, daß seine Kräfte mit den Schwierigkeiten wachsen. Die in demselben
abgehandelte Periode ist bis jetzt die unklarste in Hündels Leben gewesen, nur
die allgemeinsten Umrisse waren bekannt, und über seine Schicksale waren nur
vereinzelte Nachrichten und Anekdoten im Umlauf. Von seiner ausgedehnten
'Kunstthätigkeit während dieser Zeit wußte man in weiteren Kreisen wenig
wehr, als daß sie besonders die Oper umfaßte. Man pflegte diese rein als
Vorstufe zu seinen Oratorien anzusehen, und als die letzteren mehr oder we¬
niger der Vergessenheit anheimfielen, war es ganz natürlich, daß seine Oper
vollständig ins Dunkel zurücktrat, um so mehr, da man ihr eine in sich ab¬
geschlossene Kunstbedeutung nie zuerkannt hatte.
Die erste Biographie Handels von Mainwaring 1760 hat, abgesehen da-
"on. daß sie als erste Beschreibung des Lebens eines Tonkünstlers überhaupt
interessant ist, keinen höheren Werth als den zusammengetragener Ueberliefe¬
rungen; allerdings fußt sie auf Mittheilungen von Zeitgenossen und gibt des¬
halb eine Vorstellung von dein, was man um diese Zeit in England über
Handel dachte. Die Nachrichten von Hawkins und-Burney, theils völlig un¬
zuverlässig, theils skizzenhaft, liefern auch nur sehr geringes und der Sichtung
sehr bedürftiges Material. Victor Schölchcr in London, von Geburt ein Fran¬
zose, trug mit unermüdlichem Fleiß die Werke Handels zusammen, und besitzt
gegenwärtig eine vollständige Sammlung von Partituren, deren der Meister
selbst bei seineu eiguen Ausführungen sich zu bedienen pflegte. Biographische
Daten und die Nachrichten der erstgenannten Schriftsteller über Händel zu einer
zusammenhangenden Lebensgeschichte zu vereinigen, lag ihm nun nicht fern;
sein durch ehrenwerthen Fleiß sich auszeichnendes Buch erschien 1857 zu Lon¬
don, ein zweiter noch erwarteter Band soll ein möglichst ausführliches Ver¬
zeichnis der Händelschen Werke bringen. Es heißt, daß Schölcher an die
Stelle von Rich in das Directorium der leipziger deutscheu Händelgesellschaft
gewählt sei; die Wahl bedürfte keiner Rechtfertigung; denn jedenfalls steht
Schölcher durch große Hingebung zur Sache in nahen Bcziehuugeru
Um das Dunkel dieser Periode in Handels Leben aufzuhellen, war bei der
Beschaffenheit jener secundären Nachrichten directes Zurückgehen zu den ersten
Quellen nothwendig. Eine große Anzahl Zeitschriften, Tageblätter, Lob- und
Spottgedichte :c. haben Chrysander vorgelegen und Zeugniß gegeben für die
rege Theilnahme, mit welcher Freunde und Feinde jeden Schritt des Meisters
begleiteten. In der gleichzeitigen Literatur ist Chrysander ebenso zu Hause
wie in der Kulturgeschichte, und das Bild, welches er uns von dem Treiben
der damaligen italienischen Oper und des ganzen Künstler- und Schriftsteller-
thums entwirft, ist so Wohl gelungen, wie es nur von jemand hergestellt wer¬
den konnte, der mit der Bildungsgeschichte und den Eigenthümlichkeiten des
Volkes auf vertrautem Fuße lebt. Die Persönlichkeit Handels tritt in diesem
reich bewegten Leben, dem es ebensowenig an sittenloser Verkommenheit wie
an ursprünglicher Kraft gebricht, oft in den Hintergrund — doch nur schein¬
bar; denn in der That ist er stets die bewegende Macht, welche das ganze
Kunsttreibcn um ihn herum in Schwung setzt. Wie er aus der äußern Um¬
gebung nur die zu seiner höhern geistigen Entwicklung nothwendigen Elemente
aufnahm und alles Uebrige ruhig an sich vorübergehen ließ, sahen wir scho"
in seiner Jugendgerichte. Hier in London in der frischesten Reife männliche»'
Kraft, konnte er um so mehr von der um ihn herumwirbclnden Jtaliener-
und Kastratenwirthschast innerlich unberührt bleiben. So sehen wir ihn in
unaufhaltsamem Vordringen doch eine dauernde Herrschaft erkämpfen, und seine
auf universaler Bildung beruhende Kunst schließlich als Gesetz dastehen. Die
Schwäche folgender Zeiten konnte davon abfallen und es verleugnen, ohne
seine Festigfeit zu erschüttern, und selbst neben Bach und Beethoven, welche
auf andern Bahnen ebenfalls zum Höchsten vorzudringen vermochten, hat es
seine Geltung behalten. Das Unternehmen, dem Händel in London zuerst seine
Thätigkeit zuwendete, war die italienische Opernakademie. Entstanden zu einer
Zeit, wo der Südseeschwindel eine Menge ähnlicher Unternehmungen empor¬
trieb, konnte sie ihre Abkunft zwar nicht verleugnen, doch schon durch ihren
Kunstzweck auf höhere Geltung Ansprüche machen. Und es ist merkwürdig,
welche Macht wir die Tonkunst in diesem versumpften Stillstand aller übrigen
bessern Kräfte gewinnen sehe». Mit Händel tritt sie „frei vor alle Welt hin.
zweierlei erstrebend: innere Bollendung für sich, und Heranbildung der Oeffent-
lichkeit für das Verständniß der Kunstwerke. So erleben wir denn das für
unmöglich Gehaltene, das; diese Kunst auf Jahrzehnte die Grundkraft, der
Träger der geschichtlichen Entwicklung wird; daß sie das Schlechte der Zeit
nach und nach ausscheidet, die bessern Kräfte aller Art sammelt, fortleitet und
läutert, bis sie mit neuer Stärke in andere Gebiete überströmen konnten." Zu
so bedeutenden Ergebnissen gelangt auch die Musikgeschichte, wenn sie mit der
Betrachtung des gleichzeitigen Cultur- und Sittenzustandes Hand in Hand geht.
Bisher ist ihr dieser Gesichtspunkt noch ziemlich fremd gewesen; hätten unsere
früheren Musikhistoriker die Kunst nicht allein für sich, sondern in ihren Wechsel¬
wirkungen mit dem Leben untersucht, so wären wir jetzt weiter. Das keines¬
wegs aus den lautersten Elementen hervorgegangene Opernunternehmen wurde
durch Händel die Grundlage eines späteren Gemeinsinnes für die Kunst, und
wieviel die Musik zur Veredlung der Sitten beigetragen, geht aus der stets
wachsenden Zahl der um Händel sich schaarenden Verehrer hervor. Als er seine
höchsten oratorischen Schöpfungen hinstellte, war das ganze gebildete Volk auf
deu Punkt gelangt, das Erhabene zu empfangen und zu würdigen.
Den betretenen Boden mußte Händel Schritt vor Schritt erobern. Nicht
daß den Bessern die Bedeutung seiner Werke einen Augenblick zweifelhaft ge¬
blieben wäre; ein großer Theil des Volkes jedoch, namentlich der gebildete
Mittelstand sowie der Landadel, war ans nationalen Gründen dem Treiben
der Ausländer abhold. Der hohe Adel dachte zwar anders, war aber in Par¬
teien für Händel und die Italiener getheilt. Ariosti kam weniger in Betracht.
Bononcini jedoch machte Versuche, die Kunstherrschaft zu usurpiren. wurde aber
nach und nach von Händel eines Bessem belehrt und verließ endlich England,
nachdem er sich noch mit dem Schimpf der Aneigung fremden Eigenthums
(eines Madrigals von Lilli) befleckt hatte. Für die Akademie schrieb Händel
zwölf Opern, welch/ selbst nach Frankreich sich verbreiteten; später noch neun¬
zehn.
Die Händelsche Oper ging wesentlich von der italienischen aus. wie Chry-
sander sagt, dessen Darstellung wir folgen, erschien aber neben dieser und neben
*
der französischen Musiktragödie als eine dritte Macht, welche die Eigenthüm¬
lichkeiten jener ungccinigt neben sich fortbestehen ließ. Auf diesem Grunde
bezeichnet sie den Uebergang aus einer dramatisch noch unvollkommenen Oper zu
einer in sich vollkommenen dramatischen Concertmusik (Seite 24). Es war ein
Schritt mehr seitwärts als vorwärts, jedenfalls aber ein unumgänglich nothwendi¬
ger, und führte eine wesentliche Läuterung und innere Durchbildung der Form mit
sich. Die höchste Ausbildung der Oper ist deshalb Händel keineswegs zuzu¬
schreiben, sondern erst ein Verdienst Glück's und Mozart's. Mit seinen Vor¬
gängern und älteren Zeitgenossen verglichen erscheint Händel bei entschiedener
künstlerischer Ueberlegenheit nie originalitätssüchtig, sondern beschied sich an
die vorhandenen Formen anzuknüpfen, um sie'je nach dem Bedürfnisse der Idee
des Schönen entsprechender zu gestalten. Mehr die innere Durchbildung zum
Charakteristischen, zum Schönen und geistig Freien, als die äußere Vermehrung
des Tonmateriats kennzeichnet sein Schaffen. Scarlatti wurde von ihm im
Pathetischen, im vollen Ausdruck tiefer Gemüthsbewegung, im rein Leiden¬
schaftlichen und Großen, sowie in der freieren und reicheren Gestaltung des
instrumentalen Satzes vervollkommnet. Dabei muß man Händel den Preis,
seinem großen Vorgänger (Scarlatti) aber vielfach die Originalität zusprechen.
Die Handlung der italienischen Oper flößte an sich nur geringe Theilnahme
ein, die einzelnen Charaktere und ihre individuellen Unterschiede erschienen ver¬
wischt durch die zu musikalischen Zwecken unternommene Verallgemeinerung.'
Daher wurden solche Opern einander so ähnlich, daß die Handlung in Gefahr
gerieth vor dem, was Sopran, Alt, Tenor und Baß bedeuten, völlig zu ver¬
schwinden. Weil aber diese Verallgemeinerung zum Theil aus einem richtigen
musikalischen Triebe entsprang, aus dem Bestreben nämlich, die verschiedenen,
das Leben bewegenden Charaktere auf gewisse Grundtypen zusammenzuziehe»,
damit es dem kunstvollen Tonausdruck möglich würde, ein treues und rechtes
Bild des Lebens mit seinen eigenen Mitteln zu zeichnen: so stand jedem rich¬
tig empfindenden Tongeiste auch in einer nur oberflächlich angelegte» Hand¬
lung noch immer der Weg offen zu einer frischen und tiefen Charakteristik.
Diesen Weg fand Händel wie keiner vor ihm, und das verleiht seinen Opern
eine so fesselnde dramatische Wahrheit. Nur muß man bei der Beurtheilung
derselben den eigentlich musikalischen Standpunkt stets festhalten, den» an dem
Bestreben, die Texte dramatisch umzugestalten, hat er sich uicht betheiligt (Seite 35).
Wenn man daher die Bühnenwerke des Lu»y, Rameau, Scarlatti und der neapoli¬
tanischen Schule, gewissermaßen auch Keisers und Purcells Opern als Vorstufen
der spätern Blüthe dramatischer Musik ansehen muß. so jsi das von Handels
Oper nicht zu sagen; in sich abgeschlossen fand sie auf demselben Boden keine
weitere Entwickelung, und ging in Handels eigentliches Musikdrama über,
ins Oratorium.
Chrysander vergleicht ferner Handels Opern mit einer Gruppe von
Shakespeares Lustspielen. Beide passen gleich wenig in die dramatische oder
dramatisch-musikalische Theorie, da sie abseits des Weges stehen, auf dem die
betreffenden Gattungen am breitesten sich entwickelt habe». Shakespeare zieht
sich aus dem realistischen Gebiet zurück ins phantastische, wie Händel aus dem
allgemein dramatischen ins subjectiv innerliche. Beide .gestalten im Lustspiel
und in der Oper nicht die aus dem tagtüglichen Lauf sich ergebenden Lebens¬
verhältnisse, sondern ergehen sich mit Behagen auf phantastischem Boden.
Beide haben hier romanische, namentlich italienische Ideale in einer Weise
nachgebildet, daß der warme Hauch südlicher Kunst uns daraus umwebt, aber
ebensowol der große nordische Athem fehlt: und wie sie also auf diesen Ge¬
bieten nicht mit der vollvereinten Kraft ihrer Natur arbeiteten, so hat auch
keiner von ihnen zu bewirken vermocht, daß die fernere Entwickelung dieser
Kunstzweige den von ihnen betretenen Weg einhielt. Frankreich gab bald
nach Shakespeare dem Lustspiel wie auch der Oper einen neuen Anstoß, wel¬
cher am stärksten auf England und Deutschland zurückwirkte; die Gesichtspunkte
für das Verständniß Händsls und Shakespeares wurden dadurch verrückt, und
beide geriethen >n Vergessenheit., Shakespeare ist seitdem wieder zu seinem
Recht gelangt, Händel wird es auch zu Theil werden. Endlich folgte bei
Shakespeare auf das Lustspiel die Tragödie, bei Händel auf die Oper das Ora¬
torium, bei beiden das ernstere Werk auf das kleinere und fremdländisch ange¬
legte. Das Vergnügen an der Formbildung muß es verursachen, daß große
Künstler in mittleren Gebieten über einen gewissen Formalismus nicht hinaus¬
kommen, nämlich in solchen, welche ungeeignet sind zur vollen Aufnahme des tie¬
feren Gehaltes, der in diesen Künstlern zur Gestaltung drängt. Shakespeare
führt mit unerschöpflichen Hilfsmitteln sein Lustspiel auf phantastischem
Grunde aus, welches Andere nach ihm einfacher und leichter auf natürlichen
Boden verlegten; daß jener unendlich mehr künstlerische Phantasie voraussetzt,
versteht sich von selbst. Händel hält in seiner Oper vielfach die Formen ein,
deren Durchbrechung Andere nach ihm berühmt gemacht hat, und ergeht sich
in der Schilderung allgemeiner und wenig individuell gefärbter Gemütszustande
und Charaktere mit einem Luxus von Kunstgedauken. welcher vielen seiner
Nachfolger nicht entfernt zu Gebote stand. Das Behagen, welches uns
Shakespeares Lustspiele wie Handels Opern einflößen, ist kein bloß sachliches,
sondern zum guten Theil ein formell künstlerisches, und auch da bewundern
wir den Dichter und Musiker, wo uns die Sache selbst weniger anzkht. Lust¬
spiel und Oper waren wegen der ans sich selt'-se gestellten, völlige eigene Leben¬
digkeit erstrebenden Haltung die besten Mittel, die Künstler im Schaffen sicher
zu machen. Sie waren der Tummelplatz, ans denn diese sich für das. Höhere
und Ernstere stabilen. Dasselbe Genie, welches auf dem Durchgänge durch
Lustspiel und Oper zur höchsten Kunstschönheit heranreifte, wäre bei alleiniger
Beschäftigung mit Tragödie und Oratorium in Gefahr gekommen, einem ein¬
seitigen Naturalismus zu verfallen.
Händel war also weit entfernt von einem Irrwege, als er Jahre lang
die Bahn der italienischen Oper beschult. Diese Darstellung, welche Chrysander
von der Händelschen Oper gibt, ist völlig neu und zutreffend, und wird ihre
allgemeine Bestätigung finden, wenn die Werke selbst erst zugänglicher geworden
sind. Jedes einzelne Musikdrama unterzieht er einer sehr genaueingehenden Unter¬
suchung; er hält sich dabei streng an die Sache, und seine Kritik der einzel¬
nen Opern ist eine treffliche Anweisung, wie man über Musik sprechen und
urtheilen soll. Bei der großen Masse Materialien, welche der Verfasser nicht
nur gründlich kennt, sondern durchaus verarbeitet hat, ist die einfache Ueber-
sichtlichkeit der Darstellung meisterhaft. Die Zustünde bei der Akademie muß
man aus dem Buche selbst kennen lernen, ein Auszug würde nur zu Ab-
schwächung der kräftigen Conturen führen, in denen jenes Leben bald in hei¬
ter prächtigem Farbenspiel strahlt, bald zu tiefschmutzigen Tinten sich nieder¬
dämpft. Die Mitglieder der Akademie waren für den Zweck vortrefflich ge¬
wählt, aber leider vor Neid und Eifersucht im steten Kampfe. Das Publicum
versetzte die beiden ersten Sängerinnen (Cuzzoni und Faustina) durch seine,
die Grenzen des Anstands weit hinter sich zurücklassenden Antheilsbezengungen
so sehr, daß sie mit Ohrfeigen bei offener Scene sich aufwarteten (Händel
feuerte die Kämpfenden mit der Kesselpauke an, wie eine dramatisirte Farce
von Colley Cibber sagt). Dem Glanz der Akademie war somit zu einem schnellen
Ende verholfen; Gay's Bettleroper (S. 190) that das Ihrige dazu. Eine neue
Opernnkadcmie bildete sich zwar, erreichte aber schon nach vier Jahrcsläufcn
ihr Ende, und die ersten öffentlichen Oratorien Händels (Acis und Galaiea,
Esther, Debornh, Athalia) wurden in London und Oxford 1731—34 aufge-
führt; er kehrte jedoch nochmals zur Oper zurück, und schrieb die letzte (Dci-
dcnnia) 1740, inzwischen aber mehrere Antheus, außer den früheren vier
Krönungsanthems 1727. den wuuderedlen Trauergesang auf die Königin Caro-
line 1737, und 1736 das Alexanderfest nach Drydens Ode „Timotdeos und
Cäcilie,", ein Werk, welches den Gehalt und die unterscheidende Eigenthüm¬
lichkeit seiner Kunst noch deutlicher aussprach, als seine italienischen Singspiele.
Die Verherrlichung der. Tonkunst selbst bildet, wie bekannt, den Gegenstand;
er ergriff ihn inmitten der wirrsten Operntämpfc zu einer Zeit, da er allseitig
vorbereitet war, „der Tonkunst denjenigen Grad der Vollendung zu verleihen,
ohne welchen die andern Künste ihr nie die völlige Ebenbürtigkeit zuerkennen
konnten" und mehrere der klügsten Männer noch behaupteten, daß die Ton¬
kunst überhaupt des geistigen Vollgehnltes entbehrte. Der Tag der heiligen
Cäcilia, als Schutzpatronin der Musik, wurde auch von englischen Tonkünstlcw
gefeiert; eine Cäcilienode von Dryden (1637) war Purcell. welcher tels erste
öffentliche Cäcilicnfest (1633) und auch spätere mit seinen Kompositionen ge¬
schmückt hatte, entgangen, weil er deren Bedeutung aller audern Cücilienpocsie
gegenüber noch nicht erkannt hatte, und sein Streben mehr daraus gerichtet
war „über gute Verse gute Musik zu machen, als darauf, Geist dem Geiste
zu verbinden, mit der höchsten Dichtung in einen Ringkampf sich einzulassen".
Es war also noch nicht diejenige Tonkunst da, welche es wagen durste, einer
durchaus vollendeten Dichtkunst ebenbürtig die Hand zu reichen! Nicht diese,
sondern die später (September 1697) entstandene, unter dem Namen „Alexan-
dcrsfest oder die Macht der Musik" berühmt gewordene Cäcilienode Drydens
war es jedoch, welche Händel wählte, um dem längst erloschenen Fest eine
neue Weihe zu geben. Marcello hat denselben Stoff musikalisch behandelt,
und zwar ebenfalls nach Drydens Dichtung, jedoch nur den griechischen Theil
unter dem Namen „Timoteo", ohne der heiligen Cäcilie, und der Tonkunst
christlicher Zeiten zu gedenken. Mithin fehlte seiner Cantate gerade die Haupt¬
sache; die ihr entzogene Bedeutung konnte durch nichts weniger als durch
Nachahmung der Simplicität der Alten, welche Marcellos Einfachheit des
Tonsatzes erstreben sollte, ersetzt werden. Händel war weit davon entfernt
seine Musik zum griechisch» Theil der Ode »ach den damaligen Borstellungen
von griechischer Musik überhaupt einzurichten, und so einen gelehrten Zwie¬
spalt in einem Werk zu befestigen, dessen Idee gerade die Versöhnung des
Griechischen und Christliche» durch die Tonkunst ist. Händel schuf die Musik
frei aus sich und seiner Zeit heraus, seiner Objectivität gelang es. der
Schönheit des Griechenthums gerecht zu werden, und zugleich mit Beibe¬
haltung derselben Lebensfülle zur höchsten christlichen Begeisterung sich zu er¬
hebe». —
Ueber Handels Versälle» gegen Bach »och el» paar Worte; es ist viel¬
fach Veranlassung gewesen, ihm Hochmuth vorzuwerfen. Es ist bekannt, wie
Bach ihn einmal in Halle aufgesucht und ein andermal zu sich »ach Leipzig
hat einlade» lasse». oh»e seine Absicht. Händel kenne» zu lernen, erreicht z»
habe». Die Sache ging jedoch sehr einfach zu. Bei Handels erstem Besuch
in Halle (171!)), sagt Forkel wörtlich, hätte Bach keinen Augenblick gesäumt,
Händel unverzüglich (von Cöthe» aus) seinen Besuch abzustatten; aber gerade
am Tage seiner Ankunft reiste Händel von Halle wieder ab. Abgesehn von
andern Unzuverlässigkeitcu Fortels i» seiner Bachbivgraphie ist der sehr eilige
unverzügliche Besuch Bachs ebensowenig denkbar wie ein absichtliches Aus¬
weichen Handels, und Chrysander löst diese vielfach mit Kopfschüttel» erzählte
Geschichte dahin auf, daß Bach zufällig nach Halle gekommen sein und Hän¬
del dann auch seinen Besuch gemacht haben werde. So fällt weder auf Bach
der Schein unmännlicher Eilfertigkeit noch auf Händel der Verdacht einer Bach
gegenüber schlecht angebrachten stolzen Ablehnung. Ebenso unsicher zeigt Forkel
sich bei der Erzählung von Bachs Einladung an Händel nach Leipzig.
Das in diesem zweiten Bande (S. -217. 18) über Bachs Matthäuspassion
und ihre Bedeutung in der Kunst aufgestellte Urtheil ist richtig, und verdeut¬
licht den Ausspruch im ersten Theil (S. 446)., „Während noch seit 1720
Kanzelbercdsamkeit und religiöse Dichtung mehr oder weniger im Pietismus
besangen blieben, durfte die musikalische Kunst das christliche Gemüth wieder
in seine Rechte einsetzen, und auf diesem Grunde den Bund mit der wahren
oder, wie Luther sagt, der unsichtbaren Kirche erneuern. So trat in der Ton¬
kunst an die Stelle des pietistischen Jcsulcin der große Schmerzensmann der
Evangelien, geschildert durch Schristwort, Gemeindegesang und freien Ausdruck
des Einzelnen. Das größte Werk dieser Art ist die Passionsmusik nach Mat¬
thäus von Bach, die auch genan in die Zeit fällt, welche in der italienischen
Oper gleichsam einen Riß verursachte. So gehört ein Werk, welches seinem
alle ähnlichen Versuche weit überragenden Kunstgchalte nach allein steht, den¬
noch durchaus in eine Zeit, die das Andringen der universal angelegten, aber
ausschließlich noch in italienischem Gewände auftretenden Tonkunst nicht nur
durch die kräftigsten nationalen Regungen zurückzudrängen, sondern auch durch
möglichst vollendete Ausbildung der einheimischen Kunstanlagen zu ersetzen,
ja zu überbieten suchte. Auf ihre edelste und kunstwürdigste Seite gesehen,
wird mau daher diese Epoche immer nach Bachs Matthäuspassion zu bezeichnen
haben." ,
Bach nimmt in der Gegenwart Händel gegenüber eine bei weitem bevor¬
zugte Stellung ein, schon deshalb, weil die Ausgabe seiner Werke früher be¬
gann und schon einen großen Kreis für sich hatte, als Händel erst wieder neu
ins Leben trat. Seinem wahren Kunstgehaltc nach wird jener meist ebenso¬
wenig richtig gewürdigt wie dieser, wenn auch besonders für das große Ora¬
torium des letzteren unserer gedankenlosen Kunst gegenwärtig alle Anknüpfungs¬
punkte noch mehr abhanden gekommen sind. Dem großen Lyriker Bach glaubt
sie noch eher ihre eigene Empfindelei unterschieben zu können, und schießt dabei
ebenso fehl, wie wenn sie Handels Gestalten nach ihren eigenen Begriffen von
Glöße messen will. In einer Zeit der Kunst, welche die bahnbrechenden
Genies über Nacht wie Champignons aufschießen und durch jedes Mittel sür
sich Propaganda machen sieht, muß die Vorstellung von wahrer Künstlcrhoheit
etwas in Verwirrung kommen, oder wenn sie auch erkannt wird, doch drückend
genug werden, um ihr möglichst aus dem Wege zu gehen und Gott zu danken,
daß jene Leute wenigstens todt sind und nicht mehr eigenhändig den Kehraus
aufspielen können. Dieser würde allerdings nachdrücklich genug ausfallen.
Daneben findet auch das alte: Bewahre mich vor meinen Freunden :c. sein
Recht. Denn falls man sich herabläßt, ein Händelsches Oratorium aufzuführen,
geschieht es bestimmt nicht nach der Originalpartitur, bei Bach flickt man an
den Texten herum, setzt Instrumente zu. wo sie nicht hingehören; wenigstens
muß die neuere Zeit durch irgend eine Überarbeitung zeigen, daß sie auch
existirt. Und doch machen diese Werke nur in der Urgestalt die Wirkung, welche
sie machen sollen, das kann ein Jeder beweisen, der nur einige davon mit
Sinn und Verstand studirt hat. Namentlich ist die moderne Jnstrumental-
eitelkeit immer verunglückt, wenn sie sich in Dinge mischt, welche gar nichts
mit ihr zu thun haben. Die Orgel ist das einzige hinzuzufügende Instrument,
diese sollte aber niemals fehlen.
Der Vollendung des Werkes kann man mit den besten Erwartungen ent¬
gegen sehen. Mit dem Wunsche, daß es dem Verfasser beschieden sein möge,
in seiner Weise noch vieles zur Kräftigung und Klärung unserer heutigen und
zukünftigen Kunst beizutragen, empfehlen wir das Buch allen ihren Verehrern
Daß selbst Dänen die Mißhandlung der Schleswiger mißbilligen, ist be¬
kannt. Sogar Raaslöf, der jetzige Minister für Holstein, gehört in diese Klasse,
und der Baron Dirckinck-Holmfeld hat wiederholt sich gegen die bis jetzt be¬
liebte Politik der Partei ausgesprochen, welche in den letzten Jahren in Kopen¬
hagen den Ton angab. Derselbe hat jetzt eine neue Flugschrift „Recht und
Willkür in Schleswig. Ein Beitrag zur Sprachfrage" (Leipzig. R. Falcke,
Hamburg, E. Heller) veröffentlicht, welche das Treiben der Eiderdänen in den
gemischten Districten Schleswigs in den stärksten Ausdrücken als ungerecht und
unklug zugleich verurtheilt. Wir nehmen in sehr wesentlichen Dingen nicht
den Standpunkt des Verfassers ein. können aber, was die Thatsachen betrifft,
sein Zeugniß recht wohl gelten lassen. Er sagt: „Die Deutschen haben Recht
"> dem Postulat, das anarchische Parteiregiment, dem Dänemark erliegt, hin¬
sichtlich der deutschen Elemente des Staats (reotius: der Monarchie) beseitigt
Zu sehen." Die deutschen Mächte „können jetzt wie 1851 sagen: Deine Pro-
Positionen genügen nicht, und wir wollen von einem dänisch-nationalen Ma-
joritätsprincip, sei es in Holstein oder in Schleswig, insofern deutsche Volks-
elemente dabei betheiligt sind, nichts, durchaus nichts wissen/' Dann zeigt
die Schrift, daß die Danisirungspolltik in Schleswig erfolglos und auf Un¬
recht basirt sei und daß sie, statt ihre Zwecke zu erreichen, vielmehr das Gegen¬
theil dieser Zwecke hervorgerufen hat. „Statt Terrain zu gewinnen, hat
Dänemark die Gelegenheit verscherzt, Schleswig näher an sich zu knüpfen.
Auch sage man nicht, daß der Zahl nach noch eine Majorität (von Dänisch¬
redenden und Dänischgesinuten) für Dänemark da ist. Man lasse es ja nicht
auf eine Volkszählung ankommen!" Dann heißt es, „daß die ganze Politik,
die ihr Gepräge in dem Sprachverfahren findet, durchaus verwerflich, im völli¬
gen Widerspruch mit dem im Frieden und durch den Londoner Tractat erreich¬
ten Rechts- und Staatsboden ist. Der schimpfliche Ausfall (Faedrelands) gegen
den Minister Manderström (es wurde darin, wol nicht mil Unrecht, behauptet,
daß Schweden auf eine Theilung der dänischen Monarchie und Aneignung des
dänisch redenden Stücks hinarbeite) verräth das traurige Bewußtsein der ultra¬
nationalen Partei, daß die Vernichtung des eignen Vaterlandes die Frucht
ihres Wühlens werden könnte. Denn was soll der Vorwurf eines Einverständ¬
nisses zwischen Schweden und Preußen über demnächstige Theilung Dänemarks
Anderes bedeuten, als daß man Todesgeruch wittert, weil man selbst an der
Vernichtung des Vaterlandes arbeitet und längst gearbeitet hat und nun des
Schlusses eingedenk wird, daß der Wahn der Parteien zur Auflösung führen
muß und der Grund und Boden, das Residuum des gemordeten Staates,
allerdings leicht Preußen und Schweden zufallen könnte."
„Daß das Princip der dänischerseits »erfochtenen Sprachsache eine Dani-
sirung. eine einreichende Incorporation, eine Verleugnung feierlicher Zusagen,
eine Dementirung gegebener Zustände und Rechte ist, liegt auf flacher Hand.
Dänemark kann in dieser Richtung nicht fortschreiten, ohne die Basis seiner
völkerrechtlichen Existenz mit treulosen Leichtsinn aufs Spiel zu setzen. Und
wozu dieses? Angeblich, um Verlornen Schafen ihr verscherztes besseres Sprach¬
bewußtsein wiederzuschenken; in Wirklichkeit aber, um den falschen im eignen
Innern wuchernden Tendenzen zu genügen. Daher die Lüge dem Ausland
gegenüber, daß nichts dergleichen wirtlich vorfällt, während man im Stillen
brütet und wühlt. Welcher Unsinn! Ist es da ein Wunder, wenn der Zustand
dem einer Gesellschaft von Trunkenbolden ähnlich wird, die in einem finstern
Saal aneinander gerathen, Freund und Feind nicht schonen und in gräßlicher
Verwirrung sich und Andern Verwüstung bereiten?"
In ähnlicher Weise spricht sich ein andrer Däne in den „Gedanken eines
Juden in Betreff der politischen Verhältnisse seines Vaterlandes" (deutsch bei
H. Bostan in Weimar, 1861) aus. Er will nichts von den Eiderdänen wissen,
will nicht schwedisch werden, den Gesammtstaat erhalten, Holstein nicht aus-
geschieden, Schleswig nicht getheilt sehen, aber er will auch die deutschen
Schleswiger. die er Südjütcn nennt, nicht zu Dänen gemacht, nicht gegen den
Frieden gesündigt, nicht Zank und Kampf mit Deutschland haben. „Beseitigt
man," sagt er. „den Scandinavismus als Triebfeder oder als Reizmittel,
welches wie Branntwein dem jungen Dänemark eingetrichtert worden, und
hält man ihn für unvernünftig, für ein Gaukelspiel oder für noch etwas
Schlimmeres, wie' sieht es dann aus mit unsern innern Fragen und Streitig¬
keiten der Parteien und Provinzen? Wie vielen unnützen Wortkram, wie viel
Zcitungsgeschreibsel Hütte man sich dann ersparen können." — „Ich will es
nur gerade heraussagen, daß wir Juden im Gegensatz zu den Großen in
Kopenhagen Friede, Einigkeit und unbeschränkten Handel und Wandel mit
unsern südlichen Nachbarn wünschen. Es ist nicht allein unser Interesse, un¬
ser materieller Vortheil und Wohlstand, der dies verlangt, auch ein vernünfti¬
ges Verhältniß zu den Nachbarn fordert dasselbe. Wir sehen die Deutschen
und namentlich unsre deutschen Mitbürger nicht mit so zornigen Augen an,
wie die da drüben in der Hauptstadt, mögen sie min gelehrte Professoren,
Schriftsteller und Studenten oder großprahlerische Wortführer bei Volksfesten
sein. Sie haben uns lange genug mit Galle gefärbte Brillen aus die Nase
gesetzt."
Ueber die Sprachfrage in Schleswig sagt der Verfasser: „Wegen dieses
halbdeutschen Kauderwälsch (dem Nubendänisch der Nordschleswiger) setzt man
den ganzen Staat, den Frieden mit Deutschland, die eigne Achtung in der
ganzen europäischen Gesellschaft aufs Spiel und geberdet sich, als ob sichs um
Venetien oder Rom handelte. Wir Juten sind wirklich über die Maßen ge¬
duldig; denn mit der Einsicht, welche wir besitzen, hätten wir schon längst den
guten Leuten, die sich mit der Negierung des Landes und der öffentlichen Mei¬
nung abgeben, sagen sollen: Holla, nun wollen wir — hol mich der Teufel! —
das Gewäsch nicht länger anhören! Es ist Blödsinn von Anfang bis zu Ende.
Laßt den Südjütcn (zu deutsch den Schleswig») sprechen wie er will, und
kümmert euch mehr um Fug und Recht und sorgt für Gerechtigkeit, Freiheit
und Friede im Lande."
Gegen Ploug, den Redacteur des Faedrcland, und den Exminister Blixen
sagt die Schrift: „Wir wollen am liebsten Dänen sein und bleiben und mit
den Deutschen und Schweden in gutem Vernehmen stehen. Doch ist vom
Schwedischwerden die Rede, so kann man sich drauf verlassen, daß Jütland
seinen eignen Weg gehen wird, und daß die Juden eher einen andern Weg
als nach Schweden einschlagen werden, wenn Unsinniges geschehen sollte."
Der Verfasser meint natürlich den Weg nach Süden. Er ist voll arger Vor¬
urtheile, aber ein ehrlicher Bursch, wie die Mehrzahl der Juden, und wenn
wir auch mit seiner Schwärmerei für die Gesammtstaatsidee nicht übereinstim-
men und den Gedanken einer Theilung Schleswigs reich der Sprachgrenze für
nichts weniger als unverständig halten, so kann man sich doch mit manchen
seiner Ansichten einverstanden erklären, und auf alle Fälle gibt auch er Zeug¬
niß, daß die Meinungen in Dänemark über die Behandlung der Schleswiger
sehr getheilt sind.
Zerstreute Gedanken! nicht etwa eine Abhandlung: — Zerstreute Gedan¬
ken, wie sie uns bei der Lectüre einiger Schriften eingefallen find, die von den
obigen Gegenständen handeln. Zählen wir erst diese Schriften aus.
G. Th. Fechner: über die Seelenfrage. Ein Gang durch die sichtbare
Welt, um die unsichtbare zu finden. (Leipzig, Amelang). — Bekanntlich hat
Fechner in einer halb poetischen, halb philosophischen, halb humoristischen, halb
ernsthaften Schrift: „Nanna oder über das Seelenleben der Pflanzen", sowie
in dem ausführlicheren „Zendavesta" den Begriff der Beseelung über alles
Existirende auszudehnen gesucht. Der vorliegende Versuch bewegt sich in der¬
selben Richtung.
Ludwig Noack: die Weltpcrspective des Seeleuscheines (in „Psyche."
Zeitschrift für die Kenntniß des menschlichen Seelen- und Geisteslebens. Leip¬
zig, O. Wigand); sucht die obige Schrift mit ziemlicher Heftigkeit zu wider¬
legen.
Paul de Jouvencel: Grundzüge einer Geschichte der Schöpfung. Aus
dem Französischen (Berlin, Hasselberg.) — Man lasse sich durch das Vorwort,
in welchem der Verfasser verspricht, jedem, der auch noch nicht den geringsten
Begriff von Mathematik oder sonst etwas hat, namentlich dem schönen Ge¬
schlecht, die Geheimnisse der Schöpfung aufzuschließen, man lasse sich auch durch
die krausen und wunderlichen Expositionen über Mathematik nicht abschrecken;
es ist Einiges in dem Buch recht vernünftig, und man kann viel daraus
lernen.
G. H. Lewcs: die Physiologie des täglichen Lebens (Leipzig. Brockhaus).
C. A. Roßmäßler: der naturgeschichtliche Unterricht. Gedanken und
Vorschläge zu einer Umgestaltung desselben und Anleitung zur Beschaffung
naturgeschichtlicher Lehrmittel (Leipzig, Brandstetter); ein vortreffliches kleines
Buch, das wir nur darum in diese Reibe ausnehmen, weil auch die übrigen
Schriftsteller die Scheidelinie zwischen Glauben und Wissen hauptsächlich durch
das Organ der Naturwissenschaft festzustellen versuchen. Diese Scheidelinie
wird um so sicherer gezogen werden können, wenn man den Wissenschaften
der Naturwissenschaft und der Metaphysik ihre Grenze absteckt.
Nicht Alles nämlich, was in das Gebiet der einen fällt, gehört auch in
das der andern; und neben ihnen gibt es ein Reich des unmittelbaren Be¬
wußtseins, das weder von dem einen noch von dem andern berührt wird. —
Man verzeihe das Durcheinander des Folgenden; es sind eben nur- zer¬
streute Gedanken.
— Nicht jeder klare Gedanke ist richtig; nicht jeder richtige Gedanke
ist klar. —
Klar ist nur derjenige Gedanke, den ich construiren, in unmittelbare sinn¬
liche Anschauung übersetzen, als unmittelbare eigne Empfindung aufnehmen,
den ich für mich praktisch verwerthen kann. Jeder Gedanke wird um so
klarer, je näher ich durch Analogien mir seine Construction vermitteln kann. —
Ein Beispiel. Alle Begriffe der reinen Mathematik sind klar, weil sie
nichts enthalten, als regulirte sinnliche Anschauungen. Ganz anders mit den
Begriffen der Physik und Physiologie, mit den Begriffen des Werdens
überhaupt.
Ein Kegel, eine Hyperbel, ein Ellipsoid ist mir ein vollkommen klarer
Begriff. Dagegen ist das Gesetz der Schwere etwas, was mein, eignes Be¬
wußtsein absolut übersteigt. Der Naturforscher hat durch unzählige regulirte
Beobachtungen über die Bewegung der Körper das Gesetz gefunden, daß alle
Körper einander anziehen: neue Beobachtungen, auf Grund des Gesetzes an¬
gestellt, haben dasselbe bestätigt. Man hat sogar den Grad der Bewegung
berechnet, man kann vermöge der Kenntniß dieses Gesetzes die Natur zwingen.
— Aber mit unserm eignen Wesen hat dieses Gesetz gar nichts zu thu»; es
a priori aus dem Inhalt unsers eignen Geistes herleite» zu wollen, verdient
mit Recht den Spott aller Naturforscher. , Die Erfahrung hat das Gesetz ge¬
funden, und wir sind damit zufrieden; wenn eine neue Erfahrung es modifi-
cirt oder ganz widerlegt, so haben wir damit auch nichts verloren. Die Klar¬
heit unsrer Begriffe im Allgemeinen wird dadurch weder vermehrt noch ver¬
mindert.
Um mit Kant zu reden: die Schwere fällt außerhalb der „synthetischen
Urtheile g, xiioii." — Ein Beispiel, daß nicht blos in der übersinnlichen Welt
Gedanken vorhanden sind, die über unsern Begriff Hinausgehen.
Es gibt Bedürfnisse unsers Denkens, welche uns zwingen, anzunehmen,
dnß. wo wir eine Wirkung wahrnehmen, eine Ursache vorhanden sein muß.
Ob wir nun aber über diese Ursache uns etwas Näheres vorstellen können,
das hängt davon ab, ob Analogien vorhanden sind. Leverrier fand bei der
Berechnung des Uranus, daß irgendwo auf die Bewegungen dieses Planeten
eine Kraft wirken müsse, die noch unbekannt sei; vermittelst der Analogie
schloß er auf einen neuen Planeten, und dieser Planet fand sich in der That.
— Der menschliche Geist hat das Bedürfniß, für die unendliche Wirkung, die
er Welt nennt, eine Ursache, oder für die unendliche Erscheinung ein Wesen,
eine Substanz zu suchen; diese Ursache, dieses Wesen, diese Substanz nennt er
Gott; da ihm aber die Analogie fehlt, so findet er durch den Syllogismus
nur ein großes X. eine Hypothese, die ihm keinen klaren Begriff verschafft,
ohne daß er an ihrer Wahrheit zweifelt. Der Glaube an Gott würde da¬
her ein ziemlich leerer sein, wenn er blos auf dem Syllogismus beruhte —
vorausgesetzt, daß diese Syllogismen alle richtig sind, worüber bekanntlich die
Metaphysiker noch streiten.'
Wie steht es mit dem Begriff der Seele?
Ich habe einen vollkommen klaren Begriff von meiner Freiheit, trotz aller Ver¬
suche, welche die Metaphysik macht, mich zu widerlegen. Wenn ich einen Entschluß
fassen will, so kann ich alle Gründe für und wider aufzählen, dieselben nach
Gesetzen, die ich selbst gegeben, prüfen, gegen einander abwägen, und danach
meine Wahl treffen. Der Stein kann das nicht, die Pflanze nicht, das Thier
nur bis zu einer beschränkten Grenze. — Im Verhältniß also zum Thier,
zur Pflanze, zum Stein bin ich frei. — Wenn der Metaphysiker mir einwen¬
det: aber daß dir eben jene Gründe für und wider, daß dir gerade im Augen¬
blick jene Gesetze einfallen, das liegt nicht in deiner Willkür; das bestimmt
sich aus deiner Individualität, aus der menschlichen Natur überhaupt, aus
dem Wetter, dem Schnupfen u. s. w.. so ist mir das ganz gleichgiltig; ich
weiß sehr wohl, daß die Freiheit nur ein relativer Begriff ist. — Noch
mehr: ich weiß, daß ich nicht immer frei bin. Wir alle schlafen und träumen;
im Traum sind wir gewiß nicht frei; manche Menschen betrinken sich, andere
werden verrückt: auch dann ist es mit der Freiheit zu Eude. — Sage ich
also: insofern Ich das Vermögen der Freiheit habe, bin Ich — das Wesen,
das sich als identisch mit sich selbst unmittelbar weiß — eine Seele, so ist
das ein vollkommen klarer Begriff, ich kann ihn praktisch verwerthen, ich kann
mich' in der Freiheit weiter ausbilden, durch Gymnastik des Körpers und
Geistes; ich kann den Körper und den Geist, und vermittelst ihrer die Außen¬
welt, meinem Willen immer mehr und mehr unterwerfen. — Wenn ich mir
Pflanzen und Steine beseelt vorstelle, so meine ich unter Seele etwas Anderes,
es ist also im Grund nur ein Wortspiel.
Aber was die Seele nun eigentlich mehr ist als das Bewußtsein von
der Möglichkeit der Freiheit ^ das sagt mir mein Bewußtsein nicht.
— Ich habe ein gemüthliches Interesse daran, sie mir als ungebunden vom
Körper zu denken; aber da mir alle Analogien fehlen, kann es mir auch nicht
gelingen, mir diesen Gedanken klar zu machen, ihn zu construiren.
Das gemüthliche Interesse wird durch den Glauben befriedigt. Der Glaube
heißt (freilich noch vieles Andere; wir haben uns öfters darüber ausgesprochen,
aber) hier nur: die Kraft des Geistes, sich im Interesse des Gemüths bei
einem nicht klaren, nicht construirbarer Gedanken, dem auch die Erfahrung nicht
zur Seite stehen kann, zu beruhigen. — Wir nennen es Kraft; die Gründe
haben wir ein andermal angeführt; es kann freilich mitunter auch Schwäche
sein; der Glaube ist Kraft, insofern er unser Gemüth und unsern Willen stärkt
und adelt; er ist Schwäche, insofern er unsern Verstand verwirrt und träge
macht.
Hat die Wissenschaft ein Interesse, den Glauben zu bekämpfen? — Nein,
solange der Glaube sich nicht in Aberglauben verwandelt. — Er wird Aber¬
glaube, sobald er 1) die Gesetzmäßigkeit unsers Denkens beeinträchtigt, d. h.
mit wirklich erkannten, klaren und bestimmten Wahrheiten streitet; 2) unsern
Willen lahmt, 3) unser Gewissen verwirrt. —
Ein Beispiel. — Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele befriedigt
theils ein gemüthliches, theils ein moralisches Interesse. — Ein gemüthli¬
ches, denn die Liebe zu unserm Sein ist so natürlich und so stark, daß wir
ein völliges Aufhören desselben schwer denken können; ein moralisches, denn
wir wollen den Causalnexus auch in der sittlichen Welt verfolgen. — Der
Verstand kommt dann dazu, diesen Glauben nach Analogien sich auszumalen,
nicht bloß bei den Philosophen, sondern auch bei den Theologen: denn die
moderne Annahme von der unmittelbaren Fortdauer nach dem Tode streitet
entschieden gegen die altchristliche Idee des Weltuntergangs, der darauf fol¬
genden Wiedererweckung der Todten und dem jüngsten Gericht. — Die Phi¬
losophen haben mitunter Seelenwanderung gelehrt: doch auch nur ein Bild. —
Ob dieser Glaube für unser Verhalten auf Erden nothwendig sei, wird be¬
stritten; auf alle Fälle ist er nicht schädlich; denn wer nur aus dem gemeinen
Motiv, jenseit einen Lohn zu erhalten, gut handelt, würde ohne diesen Glau¬
ben noch schlechteren Motiven folgen.
Aber der Glaube wird zum Aberglauben, sobald er aus dem Gebiet des'
Jenseits ins Diesseits überspielt; sobald aus den Seelen Gespenster werden.
'Diesen Aberglauben hat die Wissenschaft zu bekämpfen, denn er schadet allen
Kräften des Menschen, dem Verstand, dem Willen, dem Gemüth. Daß die
Naturwissenschaft — im Verein mit dem erhöhten sittlichen Gefühl, denn ohne
das wäre sie selbst unmächtig gewesen die Hexenprocesse abgeschafft hat,
ist einer der größten Fortschritte der neuen Zeit, und die Elberfelder Geschichten
verrathen deutlich, daß ihre Aufgabe noch durchaus nicht zu Ende ist. — Der
Teufel mit seinem Gefolge, den Hexen, Larven und Gespenstern, gehört nicht
zu den Freunden des Menschen; gegen ihn sollen wir auf der Hut sein; und
wenn unsev Dr. Luther das ganze Tintenfaß nach ihm'warf, so ist auch jetzt
die Tinte noch kein unebenes Mittel, dies schlechte Wesen den Menschen so
verhaßt, verächtlich und lächerlich zu machen, wie es sich ziemt.
Gott dagegen ist der höchste Menschen- und Scelenfreund, und der Deis¬
mus — sowol dem Pantheismus und Atheismus als dem Teufelsdienst ent¬
gegengesetzt — wird sein schönes Werk der Läuterung und Erhebung des
menschlichen Gemüths fortsetzen, nicht gegen die Wissenschaft, sondern im Verein
mit der Wissenschaft. Die Metaphysik wird es wieder aufgeben, wie sie es
ja früher schon einmal aufgegeben hatte, aus Gott einen klaren, d. h. con-
struirbarer Gedanken machen zu wollen. Es fehlt uns die Analogie: ein
Wesen, zu dem wir reden, das wir als Vater und Richter anbeten wollen,
muß eine Person sein; und die Persönlichkeit, als unendlich gedacht, wiedcr-
streitet unserm Denkvermögen — ebenso in der dreieinigen, wie in der umta¬
uschen Form, wie als spiuozistische Substanz. — Glücklich das Kind, das in
seinen Analogien und Bildern noch nicht durch Vergleichung gestört, wirklich
beten, d. h. mit aller Dringlichkeit eines Kindes um etwas bitten kann, wäre
es auch nur um ein Spielzeug. Wer dieses Glück nie genossen, hat eins
der wesentlichsten Güter entbehrt. — Die Stellung des Mannes zu Gott kann
diese Naivetät nicht mehr haben; das Bild hört auf, aber es ist ein nicht
zu ersetzender Verlust, wenn mit dem Bild auch das Gefühl des Wesens
schwindet: er erwirbt sich die Kraft, sich bei einem nicht klaren, und doch noth¬
wendigen Gedanken zu beruhigen, d. h. den Glauben. — Der Gedanke schien
dem Kinde klar; der Mann sieht die Unklarheit ein, und doch soll die Wahr¬
heit bleiben. — Das Kind beruhigt sich, wenn es sein Gebet gethan; das
Spielzeug wird morgen kommen. Für den Manu gehört eine Kraft dazu,
den Glauben ohne Bild zu erfassen: den Glauben, daß die Erscheinung aus
einer Substanz ruht, und daß diese Substanz das Gute ist. Der leichte Trost:
Alles, was ist, ist gut, mag den Pantheistcn trösten, den entweder die Schön¬
heit der eignen Individualität die Widersprüche der Welt vergessen läßt, oder
der mit diesen Widersprüchen tändelt; der ernste Denker wird mehr wollen. —-
Und darum ist die Methode des alten Kant, der etwa so räsonnirte: ich will
und soll das Gute, und indem ich weiß, daß ich will und soll, ergreife ich
kraft meines Willens den Glauben an Gott! diese Methode ist noch immer
mehr zu empfehlen, als die metaphysischen Grübeleien, wie etwa Gott be¬
schaffen sein möge, mit Ungrund, Abgrund u. f. w.
Diese Bemerkungen drängen sich unwillkürlich auf, wenn man die zahl¬
reiche neueste Literatur über Seele, Materie u. f. w. durchblättert. — In der
Regel treffen sich die Gegensätze gar nicht. — Die Kraft zu denken: ich will!
ich soll! ich bin frei! — Die Kraft, diesem Gedanken gemäß den Willen und
das Gemüth zu stählen, zu heiligen, zum Himmel zu erheben'(zum Himmel,
der bekanntlich auch diesseits ist), das ist das xuuewm saliens und das My¬
st
Vor den Zeiten der Hohenzollern war es die löbliche Gewohnheit des
märkischen Adels, seinen Unterhalt theilweise durch Wegelagerei zu erwerben.
Sie plünderten die durchreisenden Kaufleute oder wer sonst Geld hatte, und
verwertheten so die Erwerbsquelle zugleich zu einem ritterlichen Jagdvergnüqen.
Kurfürst Joachim fand diesen Zeitvertreib unpassend, er ließ einige von den
adeligen Straßenräubern aufgreifen und hinrichten. Darauf fand er über der
Thür seines Zimmers die Worte: Jochenke! Jochenke! hüte ti. kriegen
wi ti, dann hangen wi ti! — Indeß nicht der Kurfürst, sondern die Junker
wurden gehängt, und der Wegelagerei ein Ende gemacht.
Im preußischen Herrenhause, im Februar des Jahres 1861, ist von den
Erben der damaligen Ritter gesagt worden : unsere Namen hatten in der Mark
einen guten Klang, lange bevor von den Hohenzollern die Rede war. — Die
Minister Seiner Maj. des Königs Wilhelm des Ersten saßen dabei, und keinem
von ihnen fiel es ein. thatsächlich zu constatiren, wie dieser Klang gelautet
habe. Er lautete:
Als unter der Regierung Friedrich Wilhelms des Ersten der Adel versicherte,
durch eine Maßregel des Königs werde das Land ruinirt werden, antwortete
dieser: „das glaube ich nicht. Das aber glaube ich. daß dadurch der Junker
ihre Autorität ruinirt werden wird. Ich aber stabilire die Souveränität wie
einen weder von bronce!" Dies blieb auch der Grundsatz der folgenden Re¬
gierungen.
Die Stände wurden entfernt, der Adel aber für diesen Verlust theils im
Militär theils in den höheren Civilämtern entschädigt. Das System des mili¬
tärischen Absolutismus bestand die Probe von 1806 nicht; es wurde gestürzt
und die Regierung entschloß sich, den Staat auf volksthümlicher Grundlage
wieder herzustellen. In dieser Beziehung sind wir berechtigt, auf die Jahre
der größten äußerlichen Erniedrigung Preußens mit dem größten Stolz zurück¬
zublicken.
Die Frucht dieser Jahre war die Möglichkeit des Freiheitskampfes, des
glorreichsten, den wir gekämpft haben. Aber was folgte auf diesen Krieg?
Das. Land war verarmt, ausgesogen; ein Theil der besten Kräfte gefallen;
eine blinde Angst vor der Demagogie bemächtigte sich des Beamtenthums, die
brutalsten Verfolgungen traten ein und der militärische Absolutismus wurde
wieder hergestellt. Diesmal nicht zu kriegerischen, sondern zu friedlich polizei¬
lichen Zwecken.
Wem erzählen wir das? das weiß ja jedes Kind! — Wir erzählen das
denjenigen Liberalen, die, weil sie sonst keine Ideen im Kopf, oder nicht den
Muth und die Stetigkeit haben, eine ernste und männliche Ueberzeugung an der
Stelle, wo es nöthig ist. ernst und männlich auszusprechen, jetzt das Stichwort
austheilen: nur einen Krieg! dann ist Deutschland geeinigt und alle Verlegen¬
heiten überwunden, Krieg, gleichviel gegen wen! Am liebsten gegen den Erb¬
feind, gegen Napoleon. Um aber Krieg zu führen Rekruten! Rekruten! und
immer wieder Rekruten! haben wir nur erst ein glänzendes Heer, dann fürch¬
tet sich Alles vor uns und wir können thun was wir wollen!
Was wir wollen! — Wenn wir nur erst wüßten, was wir wollen! —
. Wenn Herwegh solche Kriegslieder machte um „Schwager" auf „Meleager"
zu reimen, so war das einem Dichter, der sich später gar nicht sehr kriegerisch
erwies, nicht zu verargen. Den Staatsmännern aber, die jetzt in dieselbe
Trompete stoßen, rathen wir einmal den Stielerschen Handatlas aufzuschlagen
und die Einheit Deutschlands zu bewundern, welche die damaligen Kriege
hervorgebracht haben; und dann die Acten des deutschen Bundes bis 1848.
Ein großer ernsthafter Krieg entzieht der Cultur nicht blos die Jahre, die er
dauert, sondern wenigstens eine dreifach so lange Zeit der Erschlaffung. Ein
Krieg ist mitunter nicht zu vermeiden, wer sich aber durch einen absiracten
Krieg, durch einen Krieg, der keinen.andern Zweck hat. als sich selbst, aus der
Verlegenheit zu ziehen hofft, der gleicht dem Verschwender, der, weil er sich
vor Schulden nicht mehr zu retten weiß, sein eignes Haus anzündet. — Fahren
wir in unserer Geschichte weiter fort.
Die Zeit vor dem Kriege hatte eine Literatur hervorgebracht, welche in
Napoleon den Erben der Revolution, in der Revolution die Folge der Auf¬
klärung sah, und deshalb die Aufklärung bekämpfte. Indem sie in dem alten
Schutt herumwühlte, welchen die Aufklärung scheinbar beseitigt, aber nicht
durch ein neues Lebensprincip ersetzt hatte, entdeckte sie unter Andern auch die
Stände.
Die Literatur drang in die Kreise der Staatsmänner ein, und 1823
wurden in Preußen die Provinzialstände wieder eingeführt: eine Repräsen¬
tation, in welcher der ritterschaftliche Grundbesitz einzig und allein die entschei¬
dende Stimme hatte. Für den oberflächlichen Beobachter eine ganz unschäd¬
liche Einrichtung, da im Großen und Ganzen wirklich der Absolutismus noch
dazustehen schien wie ein roolivi- von trouve; die Büreaukratie aber wußte
sehr wohl, an welchen Pfahl sie sich damit gebunden hatte: es war keine Re¬
form mehr durchzuführen, die den Interessen der Ritterschaft zu widersprechen
schien. Seitdem bestand zwischen der Büreaukratie und den Provinzialständen
eine stetige Opposition, in der sich zwei Elemente mischten, der Feudalismus
und der Liberalismus.
Als König Friedrich Wilhelm der Vierte zur Regierung kam, fragte er
bei dem preußischen Provinziallandtag an, ob er nicht Sondcrprivilcgien und
einen Herrenstand haben wollte? Beides wurde abgelehnt: statt der Sondcr-
privilegien wurde eine Gesammtverfassung gewünscht, und in Bezug auf den
Herrenstand meinte die Ritterschaft: wir sind alle Herren.
An sich war es eine fruchtbare Idee von Seiten des Königs, daß er dem
hoben Adel und den mediatisirten Fürsten, die sich bis dahin um das preu¬
ßische Staatsleben gar nicht gekümmert, Gelegenheit geben wollte, sich an
demselben zu betheiligen; aber die Idee hatte keinen deutlichen Ausdruck ge¬
funden.
Sie fand ihn im Februarpatent 1847. Die sämmtlichen Provinzialstände
wurden vereinigt und dem hohen Adel eine gesonderte Stellung in der Herren¬
curie gegeben. Manchem erschien es sehr wunderbar, daß die zweite Curie
des Landtags, die doch hauptsächlich aus dem ritterschaftlichen Element beruhte,
sich in der großen Majorität liberal zeigte: man hatte vergessen, daß in dem
Kampf der Provinzialstände gegen die Büreaukratie Feudalismus und Libe¬
ralismus durch einander geworfen; daß die Mehrzahl der Liberalen nicht wegen
ihres Liberalismus, sondern wegen ihrer Opposition gegen die Büreaukratie
gewählt waren. Die neue Verfassung litt an einem doppelten Fehler: in der
Herrencune setzte man voraus, daß ein Stand, den sür das Staatsleben
heranzuziehen allerdings wünschenswert!) war, bereits wirklich an demselben
betheiligt sei. da doch die Mehrzahl des hohen Adels von dem preußischen
Leben nicht den mindesten Begriff hatte; in der zweiten Curie gab man
der Ritterschaft die ausschließliche Herrschaft. Wir fürchten, im Lauf einer
friedlichen Entwickelung wäre aus dieser Verfassung ein Iunkerparlcunent ge¬
worden.
Sie sollte dieser Gefahr nicht ausgesetzt werden. Den Unruhen von
1848 gegenüber zeigte sich der Landtag eben so unhaltbar wie die Regierung;
er trat' mit einer an Einstimmigkeit grenzenden Majorität seine Rechte an
eine constituirende Versammlung ab. Die Mißgriffe dieser Versammlung auf¬
zuzählen, haben wir nicht nöthig, wol aber müssen wir hinzusetzen, daß die
Hauptschuld an der Regierung lag, die in dem Wahn stand, sie könne die
Dinge gehen lassen wie in ruhigen Zeiten. Einer schöpferischen und energischen
Regierung gegenüber ist die Demokratie stets machtlos.
Es war ein wunderbarer Glücksfall für Preußen, daß man nach der
Reaction nicht zum vereinigten Landtag griff, sondern die Verfassung im
Wesentlichen beibehielt. Gegen das Wahlgesetz von 1850 läßt sich viel ein¬
wenden, es genügt aber, sobald das Volk nicht blos gutgesinnt, sondern auch
bereit ist für seine Ueberzeugung etwas zu thun, dieser Ueberzeugung einen
deutlichen Ausdruck zu schaffen. — Nur ein neues Element wurde eingeschoben,
das Herrenhaus.
Das Herrenhaus war nicht einfach die Herrencurie von 1847, die eigent¬
lichen „Herren" sind zwar rechtlich alle darin, aber sie zeigen sich wenig; die
wirkliche Basis ist theils die Ritterschaft (durch Wahlen), theils die Partei/
welche bloß in dem Kampf gegen den Liberalismus lebt. Die Wirkung zeigte
sich wenig, solange die Regierung im Sinn des Herrenhauses auf die Wah¬
len der Abgeordneten Einfluß übte; sie mußte aber als ein schreiender Mi߬
klang hervortreten, sobald das Herrenhaus einem „liberalen" Ministerium und
einer liberalen Kammer gegenüberstand.
Bald drei Jahre ernster Erfahrung liegen vor; die Staatsmaschine steht
still, kein Gesetz von durchgreifender Bedeutung kann durchgesetzt werden; der
schüchterne Einschüchterungsversuch vom vorigen Jahr ist fehlgeschlagen, und
die gegenwärtige Majorität des Hauses ist in einer Stimmung, daß man die
Lage der Minister ihr gegenüber nicht beneiden darf. Auf diese Weise geht
es nicht fort; wenn man die Majorität nicht ändern will oder kann, so wird
man sich entschließen, ihr die Regierung übergeben zu müssen. — Was das
heißt, kann man nach den Reden der Herren von Kleist-Retzow und von Senft-
Pilsach abmessen; und jener Ausspruch, den wir an die Spitze stellten,, zeigt
deutlicher als alles, wie diese Art der Aristokratie das Königthum auf¬
faßt. -
Es scheint uns ein Mißgriff, daß man das Ministerium immer nur
drängte, die Spitzen der Verwaltung im liberalen Sinn zu modificiren. Den
Uebelstand geben wir zu, aber der Uebelstand ist gering, neben der Unmöglich¬
keit eine neue Kreis- und Provinzialverfassung durchzuführen, d. h. die Basis des
Staatslebens mit seiner Spitze in Einklang zu bringen. Jeder Versuch der^
Art scheitert am Herrenhause. Die Krone hat die Mittel in den Händen, auf
gesetzlichem Wege die Majorität zu ändern, und dann mit Hilfe der Abgeord¬
neten eine erste Kammer zu schaffen, die das repräsentirt, was in Preußen
die politische Aristokratie bildet.
Dre allgemeine Weltbewegung fordert in diesem Augenblick energischer
als je einen Entschluß. In Italien ist ein neuer liberaler Nationalstaat ent¬
standen. Oestreich bereitet eine Umgestaltung im großartigsten Mnaßstab vor,
die furchtbaren Schwierigkeiten unterliegt, aber nicht mehr zurückzunehmen ist.
Frankreich geht mit entschiedenen Schritten einem Nationalstaat entgegen.
Selbst Rußland hat sich entschlossen, die durchgreifende Reform, von der seine
Zukunft abhängt, wirklich in Angriff zu nehmen. In Bayern, Baden, Wür-
temberg — selbst in Sachsen (Abwerfung der Kirchenordnung, Gewerbefreiheit
u. f. w.) regt es sich: Preußen allein bleibt zurück: — sind das etwa unsere
moralischen Eroberungen!
Die ungeheure Schwierigkeit, mit der die preußischen Minister zu käm¬
pfen haben, verkennen wir nicht, aber sie mußten es bereits wissen, ehe sie
ihr Amt antraten. Es ist ein trübes ernstes Wort, das wir aber mit dein
vollen Bewußtsein dessen aussprechen, was wir sagen: wenn sich das Mini¬
sterium nicht jetzt noch zusammenrafft, so haben die drei letzten Jahre in Preu¬
ßen der guten Sache ebenso viel geschadet, als die acht vorhergehenden.
Zur Verfassungsfrage der dänischen Monarchie von D. A. Rcnck. —
Mona, Lehmkuhl und Comp. 1860. Der Verfasser, Fabrikant in Neumünster und
früher (vom König' ernanntes) Mitglied des Ncichsraths, ist Gesammtstaatspolitiker.
Sein Vorschlag geht auf Folgendes hinaus: Die Repräsentationen der drei Landes-
theile: Dänemark, Schleswig und Holstein tagen zu gleicher Zeit und an demselben
Orte. Für die Behandlung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten der Monarchie
treten sie in zwei Kammern zusammen, eine Länder- und eine Volkskammer. Zu
der Ländcrkammer wählt jede Repräsentation eine gleiche Anzahl Mitglieder, die
zweite wird (wie der bisherige Reichsrath) nach der Größe der Bevölkerung zu¬
sammengesetzt. Beide Kammern sind wesentlich gleichberechtigt. Alle Rechte des
Neichsraths gehen auf diese neue Länder- und Volksvertretung über. Mit Lauen-
burg bleibt es beim Alten. Statt des Bundcscontingcnts zahlt Dänemark, damit
es nicht genöthigt ist, an einem Bundcskricg teilzunehmen und weil es die Armee-
Einheit nicht aufgeben kann, eine jährliche Avcrsionalsumme, Wir haben darauf
nur ein Wort zu erwidern, und das heißt: abgeschmackt! Wenn der Verfasser hofft,
wie er hoffen muß, erstens die Dänen im Allgemeinen, dann die Eidcrdäncn, dann
die Schleswig-Hvlstcincr und endlich den deutschen Bund überzeugen zu können,
daß sein Zweikammersystem mehr als ein Lähmnngsmittcl ist, daß die Interessen der
Deutschen und der Dänen in der Monarchie bei demselben irgend vom Fleck kommen,
der Staat sich dabei weiter entwickeln kann, wenn er glaubt, daß man die hol¬
steinische Armee wie Schachtelsoldatcn kaufen kann, so erwartet er einfach ein Wun¬
der, und er sollte wissen, daß dergleichen im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr
erwartet werden darf.
Archiv für rechtswissenschaftliche Abhandlungen, herausgegeben von
Schering, Geh. Oberjustizrath. 1. Bandes 1. Heft. Berlin, Verlag von I. Gu-
tcntag. 18V1. Eine Ergänzung der vom Herausgeber vor einiger Zeit veröffent¬
lichten Anleitung zum Fertigen juristischer Referate, Anklageschriften u. f. w. durch
Beispiele, zu denen hauptsächlich solche Aufsähe gewählt wurden, welche von Kan¬
didaten der dritten juristischen Staatsprüfung geliefert und von der Prüfungscom¬
mission als besonders gelungen bezeichnet worden sind.
Die westliche Welt. — Reise durch die Vereinsstaaten von Nordamerika von
Alexander Mac Kap. Aus dem Englischen übersetzt von Marie Heine. Nebst einer
Einleitung und vier Illustrationen von Wilhelm Heine. 4 Theile. Leipzig, 1861.
Verlag von Chr. E. Kollmann. Der Verfasser hat nicht nur den Osten, Norden
und Westen, sondern auch den Süden bis nach der Mündung des Mississippi bereist, >
und die Schilderung seiner Beobachtungen ist zum großen Theil sehr ansprechend,
sowol was die Menschen als was die Natur betrifft. Indeß ist ihm die Reisebe-
schreibung nur das Gitterwerk, welches den Hauptinhalt seines Buches umschließt.
Bei Neuyork gibt er einen ausführlichen Ueberblick über den Handel und die com-
mercielle Politik der Vereinigten Staaten, in Washington angelangt, wo er mit vielen
einflußreichen Politikern verkehrte, bespricht er die sociale Entwickelung Amerikas,
die Gesellschaft in der Bundesstadt, den Charakter und das Räderwerk der Regierung,
die Verfassung, Senat und Repräsentantenhaus und die Gruppirung der Parteien,
In Virginien ferner nimmt er die Sklavcnfrage auf. In Georgien knüpft er an
ein Abenteuer im Postwagen ein Kapitel über die amerikanischen Eisenbahnen. Im
Mississippithal betrachtet er die Landwirthschaft der Union aus der Vogelperspektive.
Die Fahrt auf dem obern Ohio und die Ankunft in Pittsburg lenkt seine Aufmerk¬
samkeit aus die mineralischen Schätze der Vereinigten Staaten und deren Ausbeutung.
Andere Gelegenheiten werden zur Darstellung des Kanalfystems, der Militüreinrich-
tnngen, der Literatur, der Schulen, der religiösen Zustände und der Industrie Ame¬
rikas benutzt. Dann schließt das Werk mit einem Blick in die Zukunft der Union.
Das Werk war seiner Zeit eines der besten über Amerika, in einigen Beziehungen
das beste. Jetzt — vierzehn Jahre nach der Reise Mac Kays und elf Jahre nach
Abfassung des Buches — hat sich natürlich sehr Vieles wesentlich verändert, und
der Herausgeber hätte, statt einer bloßen Übersetzung entweder eine vollkommne Um¬
arbeitung, wobei Manches zu kürzen gewesen wäre, oder doch Anmerkungen unter
dem Text geben sollen, die Nenhinzugekommenes brächten und unrichtig Gewordenes
verbesserten. Indeß ist sehr Vieles noch jetzt richtig, Manches vortrefflich gesagt, und
so kann der, welcher der Entwickelung Amerikas gefolgt ist und die nöthigen Er¬
gänzungen selbst vornehmen kann, das Buch noch heute mit Nutzen lesen.
Nicht oft geschieht es, daß ein Blatt sich verjüngt. Sie haben in der Regel
eben ihre Zeit, wie die Blätter in der Natur, ihren Frühling, ihren Sommer und
ihren Herbst, wo sie alt und trocken werden und endlich abfallen. Ein Beispiel
derer, welche mit den Jahren besser geworden sind, ist die „Jllustrirte Z eitung",
die in Leipzig bei I. I. Weber erscheint, und deren letzter Jahrgang uns soeben
in zwei stattlichen Bänden zugesandt wurde. Wenn wir nicht irren 1843 gegrün¬
det und geraume Zeit die einzige ihrer Art in Deutschland, ist sie, was die artistische
Ausstattung betrifft, von Jahr zu Jahr.ihren Vorbildern in Paris und London
näher gekommen, ja sie hat mit den letzten Bänden in dieser Beziehung nicht nur
Alles, was in Frankreich dem Aehnliches erscheint, sondern auch, — mit alleiniger
Ausnahme der mit ungeheuren Mitteln ausgestatteten, von mehr als hunderttausend
Abonnenten getragnen Jllustrated London News — die englischen Blätter ihrer
Gattung überholt. Wie die Ausführung der Holzschnitte ist auch die Auswahl der¬
selben seit geraumer Zeit schon wesentlich sorgfältiger. Die Zeitung ist jetzt wirklich
Zeitung, d. h. sie illustrirt jetzt die Zeit, während sie früher mehr ein Pfennigma¬
gazin in großem Format war. Man führt uns, unabhängiger geworden, nicht
mehr Bilder vor, welche französische oder englische Festessen, Eiscnbahneröffnungcn,
Theatervorstellungen n. d. in. abcontcrfeicn. Der Herausgeber hat, wie es scheint,
gefunden, daß es selbst dem loyalen Oestreicher, geschweige denn dem deutschen Be¬
schauer des Blattes zu viel des Guten werden muß, wenn das Gesicht des Kaisers
Franz Joseph ihn fast einen ganzen Jahrgang hindurch aus jeder Wvchennumnur
ansieht. Endlich hat sich auch der Text vielfach gebessert. Wir begegnen manchem
wohl geschriebnen Aufsatz- Culturbildern unterhaltender und belehrender Art, Ncise-
schildcrungcn, gelegentlich auch wol interessanten Correspondenzen. Läßt sich noch
Manches hinzu-! und noch mehr hinwcgwünschen, so darf man nach den Fort¬
schritten, die das Blatt in den letzten Jahren gemacht hat, die Hoffnung hegen, daß
solche Wünsche sich erfüllen werden, und auf jeden Fall ist die Leipziger Jllustrirte
Zeitung unter allen deutschen Unternehmungen dieses Preises entschieden die
cmpfehlenswctthcstc.
Natur- und Culturlcbcn in vergleichenden Bildern. — Für alte und junge Leser
verfaßt von A. W. Grube. Zweites Bündchen. Wiesbaden, Kreidels Verlag, 1860.
Schildert die Verbreitung und Behandlung verschiedener Hausthiere, Pferd, Schaf
u. s. w. auf der Erde, die Lachszucht, die Nahrung der einzelnen Volker, Kaffee,
Thee und Tabak, die Art, wie man in dem und jenem Land ißt und trinkt, wobei
die Menschenfresser nicht vergessen sind, dann, wie die einzelnen Stämme ihre Hüt¬
ten bauen, woran sich ein Blick auf die keltischen Pfahlbauten, die 1854 in den
Seen der Schweiz entdeckt wurden, knüpft. Ein letztes Kapitel bespricht dann die
Kleidung und den Schmuck der Menschen. Welchen Werth die Angaben des Ver¬
fassers haben, zeigt Seite 22, wo wir belehrt werden, daß Griechenland von Aegyp-
ten cultivirt wurde, daß die erste Landung dieser Kolonisten vom Nil zur Zeit
des Moses in Thessalien stattfand, und daß sechzig Jahre später die Aegypter
eine andere Kolonie im südlichen Griechenland gründeten und die Pferdezucht nach
Athen brachten. Wir wünschen dem Verfasser Glück zu so gründlicher Kenntniß der
Urgeschichte, möchten aber zugleich das Publikum warnen, sie sür gute Münze zu
halten, bevor sie von Kennern des Alterthums approbirt ist.
Die „Rede zur Jubelfeier der k. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, ge¬
halten am 15. Oct. 1860 von August Böckh, ist in zweitem, sehr elegantem Ab¬
druck erschienen (Berlin, Gutcntag); ebenso zwei Predigten nach dem Tode Sr. Maj.
Friedrich Wilhelms des Vierten, gehalten vom Hofprediger Dr. Snethlage, 6. Jan.
und 27. Jan. 1861. Die zweite Rede schließt mit den Worten: „Hochbcgnadigtes
Ende eines Königs, das bei Allen, die es sahen und die davon hörten, den Wunsch
hervorrief und auch bei euch hervorrufen wird: meine Seele müsse sterben des Todes
dieses Gerechten und mein Ende sei wie sein Ende! Amen." — Interessante kleine
Vortrage sind noch: „das preußisch-englische Bündnis; im siebenjährigen Kriege,"
von or. Arnold Schäfer, Prof. zu Greifswald (Berlin, Hertz), mit zeitgemäßen
Anspielungen; und „die Baugeschichte von Berlin", vom Baumeister F. Adler
(Berlin, Hände und Spener); vortrefflich. —
Bilder aus dem deutschen Flottcnleben 1849, von P. I. Wilcken.
(Hannover, Rümplcr). Ein empfchlungswcrthes Büchlein, das uns, von unserer
Marine aus jener Zeit einmal eine recht klare Vorstellung gibt, und sehr hübsch
geschrieben ist. —
Mit Ur. beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März 1861.Die Verlttftshandlung