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Die zwölfjährige Dauer der im Jahre 1853 erneuerten Verträge unter
den Regierungen der Staaten des Zollvereins geht mit dem Jahre 1865 zu
Ende. Werden die Vertrüge nicht zwei Jahre vorher, also vor dem Si.Dec.
1863 gekündigt, so bleiben sie auf weitere zwölf Jahre in Kraft und werden
so fort von zwölf zu zwölf Jahren als verlängert angesehn.
Man erinnert sich, daß vor Ablauf der letzten Vertragspcriode Preußen
im Jahre 1851 mit der Kündigung vorging und für die Erneuerung des Han¬
delsbundes die Aufnahme der Staaten des Steuervereins Hannover und Olden¬
burg, (Schaumburg-Lippe nicht zu vergessen) mit denen Preußen eine Verein¬
barung getroffen hatte, als Bedingung stellte. Es war dies ein entschiedener,
ein deutscher Schritt Preußens, und der Erfolg zeigte, daß ein solcher Schritt
im deutschen Interesse die Gegner nicht zu scheuen hat. Der Lärm wär groß
auf beiden Seiten. Die Unzufriedenheit unter den Bewohnern des Steuer-
Vereins lagerte sich massenhaft in den Blättern der nahen Hansestädte ab; aber
wenn die Verfasser mancher Artikel jetzt einen Blick auf die Ausdrücke werfen
wollten, deren sie sich damals bedienten, sie würden vielleicht ein wenig roth
werden. Der freie Verkehr auf einem großen deutschen Handelsgebicte machte
seine Vortheile geltend, — allerdings nicht bei denen, welche dem Schleich¬
handel obgelegen hatten — und die Staatskassen befanden sich wohl bei den
Antheilen aus den Zolleinnahmen. Der Anschluß an den Zollverein hat in
allen seinen Gebieten einen particularistischcn Schmerzensschrei hervorgerufen,
der sich aber sehr bald stillte, und als ein allgemeiner, wirthschaftlicher und
patriotischer sich nur dann wieder erheben würde mit unwiderstehlicher Kraft,
wenn das gemeinsame Band zerrissen, der trennende Schlagbaum wieder auf¬
gerichtet werden sollte zwischen den Gliedern des Vereins. So war es 1852.
als mehrere Regierungen im Unmuthe über den Schritt, welchen Preußen ge¬
than, und nach Wien gelockt durch einen neuen Zolltarif und die Einladung
zu Verhandlungen aller Bundesstaaten, eine Trennung zwischen Nord und
Süd ins Auge faßten und anzubahnen versuchten. Jene Regierungen hatten
ihren Unmuth aus Gründen diplomatischer Etikette und aus politischen Ten¬
denzen geschöpft. Sie fanden es rücksichtslos und verletzend, daß Preußen,
ohne seine alten Zollverbündeten zu fragen, mit den Regierungen des Steuer¬
vereins abgeschlossen habe; daß es nun die Kündigung wie eine Pistole ihnen
auf die Brust setze, um sie zu zwingen, die neuen Genossen unter den von
Preußen einseitig vereinbarten Bedingungen aufzunehmen. Sie schleppten, um
Preußen ein Paroli zu biegen. Oestreich herbei, welches schon 1850 den Ein¬
tritt in den Zollverein stürmisch verlangt hatte, und erklärten: wenn wir euern
Steuerverein nehmen sollen, so müßt ihr unser Oestreich nehmen. — Der Weg,
welchen Preußen eingeschlagen, war allerdings nicht mit Rücksichten gepflastert;
aber es war der einzige, der zum Ziele führen konnte. Der Zollverein würde
seine Grenzen nie an die Küsten der Nordsee, an die Mündungen der Elbe,
Weser und Ems vorgeschoben haben, wenn es nur in Folge eines einstimmigen
Beschlusses der Vereinsstaaten hätte geschehn können. Ist doch bis jetzt die
Beseitigung der Durchgangszölle an dem Verlangen einer Regierung gescheitert,
daß gleichzeitig etwas anderes geschehe, was der Zollverein nicht leisten kann.
Im April 1852 tagten die Preußen widerstrebenden Regierungen in
Darmstadt. Sie verlangten, daß Oestreich ebenso wie Hannover in Berlin
mit berathe. Vergebens wurde ihnen vorgehalten, daß Hannover sich ver¬
pflichtet habe, dem Zollverein sofort beizutreten, Oestreich dagegen nicht, daß
der Zollverein, dessen Fortbestand durch die Kündigung in Frage gestellt wor¬
den, erst wieder zur Existenz gelangt sein müsse, bevor er mit Oestreich über
eine commercielle Annäherung unterhandeln könne. Vergebens machte Preußen
die bindendsten Erklärungen, daß es. sobald der Zollverein neu begründet sei,
mit Oestreich auf einer bestimmten Grundlage zu verhandeln und abzuschließen
bereit sei. Die Darmstädter hatten sich untereinander und gegen Oestreich ver¬
pflichtet, den Zollverein nicht eher zum Abschluß zu bringen, bis die in Wien
verabredeten Entwürfe über einen Zoll- und Handelsvertag und, über die inner¬
halb vier oder sechs Jahren erfolgende Zollcinigung mit Oestreich von Preu¬
ßen angenommen seien. Oestreich dagegen garantirte (!) den Darmstädtern eine
bestimmte Quote des Zollertrags auf den Kopf der Bevölkerung. Der Dualis¬
mus, welcher die politische Zerrissenheit Deutschlands unterhält, sollte auch in
das Gebiet des Verkehrs hineingetragen werden.
Wir wissen nicht, in wie weit die Finanzminister der darmstädter Coalition
durch die östreichische Garantie ihrer Zolleinnahmen beruhigt gewesen sein
mögen. Das aber ist bekannt, daß ihre Steuerpflichtigen durch die drohende
Sprengung des Zollvereins in die größte Unruhe geriethen. Angesichts des
östreichischen Silberagio, mit welchem man sich befreunden sollte, hörte die
Gemüthlichkeit auf; die Störung der auf dein freien Markte mit dem Norden
gepflogenen Verbindungen durch Wiedereinschiebung von Mauthschranken ge-
sährdcte viel und tief verzweigte Interessen. Die Unsicherheit der Verhältnisse
erzeugte eine allgemeine Stockung des Verkehrs. Der Schaden drohte un¬
berechenbar zu werden, und es zeigte sich gar bald, daß die mühsam errungene
Freiheit des Verkehrs unter deutschen Ländern nicht so leicht zu zerstören, als es
bisher leicht gewesen war. Fortschritte auf dem Wege der Einigung zu hinter¬
treiben. Es half nicht, daß in Bayern das Petitioniren für die Erhaltung
des Zollvereins verboten wurde. Die wiener Entwürfe schmolzen zu einem
Vertrage zwischen Preußen und Oestreich vom 19. Februar 1853 über
gegenseitige Erleichterungen des Verkehrs; den Staaten, welche am 1. Januar
1854 dem Zollvereine angehören würden, so wie den gegenwärtigen und zu¬
künftigen italienischen Zollverbündcten Oestreichs blieb der Beitritt offen. Am
4. April 1353 kam der Verlag über Fortdauer und Erweiterung des Zoll¬
vereins (Aufnahme des Stcuervereins) zwischen den betreffenden Regierungen
zum Abschlüsse.*)
Der Versuch, der militärisch-diplomatischen Ueberrumpelung Deutschlands
von 1850 eine handelspolitische folgen zu lassen, war gescheitert. Der Zoll¬
verein hatte einen Zuwachs von gleichartigen Elementen erhalten und die
Nordsee erreicht. Oestreich stand endlich in einem vertragsmäßigen Verhältnisse
zu dem deutschen Zollverein, welcher in Bezug auf Tarifsätze, Behandlung der
Waaren, Erhebung und Sicherung der Zolleinnahmcn den gegenseitigen Ver¬
kehr erleichterte und ausdehnte, und den Weg zu fortschreitender Annäherung
zeigte. Haben wir nicht hier auf dem Felde der Verkehrspolitik ein Vorbild
des Verhältnisses, welches die beiderseitigen Interessen sür Deutschland und
Oestreich in der all gemeinen Politik anzeigen, den engeren und den weiteren
Bund, den deutschen Bundesstaat, mit Oestreich völkerrechtlich geeinigt? Diese
Form, welche gegenseitige Bekriegung ausschließt, gegenseitige Hilfsleistung
bedingt, ist aus dem Chaos von Ideen, welche seit der formellen Beseitigung
der Verfassung des heiligen römischen Reichs deutscher Nation bis zum heu¬
tigen Tage aufgetaucht siud, immer wieder hervorgetreten als das Mindeste,
was der Nation gewährt werden muß, vielleicht aber auch als das Höchste,
was auf dem Wege friedlicher Verständigung erreicht werden kann. Außer
dieser Form gibt es nur die gegenwärtige Bundesanarchie mit ihren traurigen
Folgen, oder das Fortschreiten zum Einheitsstaate auf den Bahnen, welche die
Geschicke zeigen werden.
Haben die Vorgänge bei Erneuerung der Verträge in den Jahren 1851
bis 1853 gezeigt, daß der Zollverein jeden Widerstand gegen zeitgemäße Fort¬
bildung überwinden kann, weil er als nothwendig erkannt ist, so liegt die
Frage nah, ob nicht der wiederkehrende Anlaß in ähnlicher Weise benutzt wer¬
den sollte, um mittelst des Zollvereins eine stärkere Einigung deutscher Mittel
und Kräfte zur Verwendung für nationale Zwecke zu bewirken.
Zwei Einwürfe gegen die Erörterung dieser Frage im gegenwärtigen
Augenblicke sind von vornherein zu erwarten. Der erste sagt, es sei noch
zu früh, um über Aenderungen an Verträgen zu sprechen, welche erst nach fünf
Jahren ablaufen. Allein wenn eine Regierung glaubt, wesentliche Verbesse¬
rungen der Verträge bei ihren Zollverbündeten beantragen zu müssen, so hat
sie damit vor Ablauf der Kündigungsfrist, also vor Ende 1863 vorzuge¬
hen, weil sie später kein wirksames Mittel mehr in Händen hat. ihrer Stimme
Nachdruck zu verleihen. Will man aber vor Ablauf der Kündigungsfrist die
nöthigen Schritte thun, um sich mit möglichst vielen Bundesgenossen über
gemeinsame Vorschläge zu verständigen, so sind zwei Jahre kein zu langer
Zeitraum für Verhandlungen zwischen Regierungen deutscher Bundes- und
Zollvereinsstaaten. Es wäre daher nichts weniger als verfrüht, wenn eine
Negierung mit dem Jahre 1861 anfangen würde, Vorschläge in Betreff der
Erneuerung. Abänderung und Erweiterung der Zollvereinsvertrüge vorzubereiten.
Dabei könnte der sehr hoch anzuschlagende Vortheil erreicht werden, daß eine
Kündigung und damit die Erschütterung vermieden würde, welche 18S2 die
Interessen der Gewerbe und des Handels so stark beschädigt hat. Entsprechen
die Vorschläge dem Bedürfnisse der Einigung über gemeinsame Interessen und
der Wegräumung von Hindernissen in der freien Entfaltung der Production
und des Verkehrs, dann wird ihnen die öffentliche Meinung zu Hilfe kommen
und den Widerstand brechen. — Der zweite Einwand erklärt, daß die ein¬
heitliche Leitung der nationalen Interessen nicht durch die Fortbildung des
Zollvereins erreicht werden könne, und daß der Versuch jedenfalls zu viel Zeit
erfordern würde, Angesichts der gegenwärtigen politischen Verwicklungen, welche
dringend mahnen, die Kräfte der Nation schleunigst zusammenzufassen und für
die Vertheidigung des deutschen Vaterlandes verwendbar zu machen. — Gegen
diese Betrachtung haben wir nichts zu erinnern. Es soll uns lieb sein, wenn
die langsame, immerhin ungenügende Arbeit der Fortbildung des Zollvereins
für Zwecke der politischen Einigung überflüssig gemacht wird. Vielleicht ent¬
schließt sich die hohe Bundesversammlung, die Reichsverfassung von 1849
einzuführen und eine neue Kaiserdeputation nach Berlin zu entsenden; oder
— was sicherlich weniger überraschen würde, — es drängen die Ereignisse,
beleben an rechter Stelle den Geist der Initiative, bringen ihm den energischen
Ausdruck des Willens der Nation entgegen und lassen dann auch, was als
unerläßlich für die Selbsterhaltung erkannt und ersehnt wird, als erreichbar
erscheinen. Tritt ein deutscher Bundesstaat vor Ablauf der Zvllvereinsverträge
ins Leben, so wird seine Verfassung ohne Zweifel eine Bestimmung über die
s
Zolleinhcit enthalten, und es treten alsdann Gesetze an die Stelle der Ver¬
träge. Allein, so wünschenswert!? dies erscheint, so muß man doch darauf
gefaßt sein, daß es nicht vor 1863 in Erfüllung gehe, und in keinem Falle
wird die auf Verbesserung der materiellen Einigung verwendete Mühe verloren
sein, da ihre Resultate ein wirklich schätzbares Material für die Eventualität lie¬
fern würden, daß das politische und das Handelsgebiet Deutschlands eins
und dasselbe sein,'einer obersten Leitung unterstehn werden, wie bei jeder an¬
dern, einheitlich oder föderativ constituirten Nation. Haben doch die Verträge
von 1851 und 1853 selbst schon ihr Erlöschen nicht allein von dem Ablaufe
ihrer zwölfjährigen Dauer, sondern auch von dem Falle abhängig gemacht,
daß schon vorher eine Zolleinigung aller deutschen Staaten zur Ausführung
komme.
Wenn erwartet werden darf, daß der Zollverein aus der gegenwärtigen
Periode neu gestärkt, vielleicht erweitert, hervorgehn werde, so beruht dies
auf dem allgemein gefühlten Bedürfnisse stärkerer Einigung der deutschen
Staaten, und es hat dieses Bedürfniß in der unvergessenen Ansprache des
Prinzregenten von Preußen an das Staatsministerium vom 8. November 1858,
dem Programm der deutschen Politik Preußens, seinen Ausdruck gefunden.
Dort wird unter den Mitteln, durch welche Preußen in Deutschland mora¬
lische Eroberungen machen soll, die „Ergreifung von Einigungsele¬
menten, wie der Zollverband es ist. der indessen einer Reform
wird unterworfen werden müssen" ausdrücklich hervorgehoben. Es wird
erlaubt sein, aus diesen Worten herauszulesen, daß die gegenwärtige preußische
Regierung die Absicht hat, zu rechter Zeit und mit dem gehörigen Nachdrucke
solche Reformen in Vorschlag zu bringen, die geeignet sind, das Einigungs¬
werk, welches die Regierungen seit den dresdner Conferenzen haben ruhen
lassen, auf jenem andern Gebiete zu fördern, auf welchem Preußen für Deutsch¬
land Großes geschaffen, mit Umsicht, Ausdauer und Geduld erhalten und
erweitert hat. — Der Glaube an den Entschluß der preußischen Regierung,
für Reformen des Zollverbandes als eines Einigungselementes rechtzeitig
die Initiative wieder zu ergreifen, gibt denen, welche sich berufen fühlen, über
diesen Gegenstand das Wort zu nehmen, die Zuversicht, daß die Aufmerksam¬
keit der Nation sich demselben bald werde zuwenden müssen, daß die Be¬
mühungen, die Richtung und den Inhalt zeitgemäßer Reformen zu ermitteln
und zu erörtern, einen wirklichen Boden, eine praktische Bedeutung haben.
Von diesem Gesichtspunkte aus halten wir es an der Zeit, die nach unsrer
Ansicht wesentlichen Punkte, welche Gegenstand der Reform des Vereins
werden sollen, anzudeuten, und an ihre Spitze den Satz zu stellen, daß schon
der in den Verträgen angegebene Zweck des Vereins einer Erweiterung be¬
darf; daß dieser Zweck nicht mehr allein den freien Handel und Verkehr, son-
dern noch andre, damit verwandte, gemeinsame Interessen umfasse, und daß
der Verein nicht nur als einen „Vorschritt zur allgemeinen Handels- und Ver¬
kehrsfreiheit innerhalb Deutschlands", sondern auch als einen Vorschritt
zur Herstellung eines deutschen Bundesstciats sich ankündige. Damit
wird nur ausgesprochen, was ohnehin wahr und klar ist. Diejenigen Glieder
des deutschen Bundes und des Zollvereins, welche versäumt haben, von An¬
fang an zu erkennen, was sie mit der Gründung des Zollvereins zugelassen,
was sie mit dem Eintritt in denselben gethan haben, sollten doch jetzt nicht
länger auftehn, die nationale Bedeutung ihrer Schöpfung anzuerkennen.
Der Zollverein war und ist der Nagel am Sarge der gegenwärtigen Verfassung
des deutschen Bundes. Hatte das Organ des Bundes mehr als hinreichend
bewiesen, daß es ihm nicht möglich sei, etwas Ersprießliches zu leisten, so
zeigte der Zollverein, daß und wie ans anderm Wege etwas geleistet werden
könne. Es ist aber keineswegs gleichgiltig, ob die allgemein erkannte Bedeu¬
tung des Zollvereins als Einigungselement noch länger schüchtern ver¬
schwiegen, oder ob dieselbe feierlich ausgesprochen werde. Der Handelsbund
wird fester stehn und sicherer schreiten, wenn er nicht allein als eine Erwerbs¬
frage, sondern als eine Frage der Sicherheit und der Macht Deutschlands
aufgefaßt wird, als ein taugliches Mittel zur Erreichung der Bundeszwecke.
Nur wenn neben der Ausdehnung des deutschen Marktes bis zu den politischen
Grenzen, also neben der Ergänzung des Umfangs, auch die Hereinziehung
gleichartiger gemeinsamer Interessen, also die Vervollständigung des Inhalts,
als die Aufgabe des Zollvereins an die Spitze der Verträge gestellt wird, nur
dann wird der Kampf um seine Fortbildung die Intelligenz und die Masse
der Nation zu angestrengter Mitwirkung begeistern und den Widerstand der
entgegenwirkenden Elemente gründlich brechen helfen. Ja es wird kaum thun¬
lich werden, mit dem Vereine überhaupt weiter zu kommen, wenn nicht die
bessere Einigung deutscher Länder als sein Ziel ausdrücklich vorangestellt wird,
weil sich nnr daraus die Folgerungen ableiten lassen, die eine» merklichen
Fortschritt des Zollverbandcs bedingen. Dieser Satz wird seine Erläuterung
dort finden, wo von den Modificationen der bestehenden und von der Aus¬
nahme weiterer Bestimmungen bei Erneuerung der Verträge die Rede sein
wird; vorher aber müssen wir dem Antrage auf Uebergang zur Tagesordnung
begegnen, welcher jeden Anstrich von Politik als unpassend, gefährlich, ver¬
derblich fernhalte» möchte, und dafür die allerbesten Gründe anzuführen hat.
Man fürchtet, daß an der Klippe der Politik der so mühsam geschaffene und
durchgeschleppte Handelsbund scheitern müsse, daß man das gehoffte Bessere
nicht erreichen, das errungene Gute verlieren werde., Diese Furcht erfüllt eine
zahlreiche und achtbare Classe, welche an der Erhaltung und Ausdehnung des
freien deutschen Marktes ein wirkliches Interesse hal; sie wird genährt von
Andern, nicht weil sie das Nämliche, sondern weil sie das Gegentheil,
die Erstarkung des Zollvereins fürchten. Es ist daher nothwendig, die politische
Seite der Frage näher zu betrachten.
Der deutsche Zollverein ist ein politischer Körper, und indem er sich selbst
als einen Fortschritt zur Herstellung eines Bundesstaates darstellt, wird er nicht
mehr und nicht weniger politisch als bisher. Die Sorge um die Entfaltung
der Production, des Handels, der Bewegung von Menschen und Gütern ist
als die wichtigste Sorge des Staates in seinen auswärtigen Beziehungen an
die Stelle der Pflege von Familien-Interessen getreten. Die Politik der ande¬
ren Staaten ist vorzugsweise eine Handels- und Verkchrspolitik. Erleichte¬
rungen des internationalen Handels, der Schisfarth, Eisenbahn- und Telegra¬
phen-Linien bilden seht die wichtigsten Gegenstände diplomatischer Verhand¬
lungen und Vereinbarungen, und bringen den glücklichen Unterhändlern mehr
Orden ein als ihre übrigen nichtmilitärischen Verdienste. Wenn Vorgänge
aus unsern Tagen zur Bestreitung dieses Satzes angeführt werden können, so
nehmen wir dieselben zu seiner Bekräftigung in Anspruch. Denn selbst das
Oberhaupt, welches der Wille der Nation Frankreich gegeben hat. betrachtet
die Verwicklungen in Italien und im Oriente nicht als erwünschte Anbisse,
sondern als verdrießliche Störungen für die Entwicklung einer ersprießlichen
politischen Thätigkeit, Die Unterlage für letztere ist ihm der Friede, so hat
er unlängst wiederholt verkündet. Er bietet England und dem Zollverein Han¬
delsverträge, er mahnt die Franzosen zum Wetteifer mit den andern Natio¬
nen im Austausche von Erzeugnissen der Industrie, der Kunst, der Wissen¬
schaft. Er weiß, daß dies überwiegend das Interesse und der Wille der Na-
tionen ist, und daß Abweichungen der Politik von diesen Zielen auf das Ge¬
biet der Annexionen, Interventionen. Eroberungen nur Wenigen Wohlgefallen
und daher als durch die Verirrungen Anderer aufgenöthigte, vorübergehende
Ausnahmsfälle, keineswegs aber als stätige und normale Objecte politischer
Thätigkeit angesehen werden dürfen.
Indem Regierungen souveräner deutscher Staaten im Einklange mit der
Bundesverfassung einen Vertrag abschlossen, welker die Bedingungen des Han¬
delsverkehrs unter ihnen und nach außen regelt, haben sie einen politischen
Act vollzogen, ihre gemeinsamen Bemühungen für die Förderung der Vereins¬
zwecke sind politischer Natur und betreffen grade diejenigen Angelegenheiten,
welche unter den Aufgaben der Politik zu einer hervorragenden Stelle vorge¬
schritten sind, die Angelegenheiten des internationalen Verkehrs. Die Minister
der auswärtigen Angelegenheiten spielen dabei die Hauptrolle, und was sie
treiben, das ist eben Politik. Aber der Zollverein als solcher ist auch längst
in die Reihe der politischen Körper eingetreten, indem er mit auswärtigen
Staaten Verträge abgeschlossen hat, indem er Expeditionen aussendet und
Agenten bestellt, kurz, indem er Functionen übt. welche eine politische Existenz
voraussetzen. Allerdings muß der Verein, da ihm eine entsprechende Organi¬
sation und in Folge dessen die nöthigen Organe fehlen, dabei auf Umwegen sich
zu helfen suchen. Es wurde oben schon angeführt, daß der Handels- und
Zollvertrag mit Oestreich im Februar 1853 nicht von dem Zollverein, son¬
dern von Preußen abgeschlossen wurde, während den übrigen Vereinsstaaten
der Beitritt offen blieb. Damals war der Verein seines Lebens nicht sicher,
und der nämliche Fall kann 1863 wieder eintreten, wenn die Verträge gekün¬
digt werden. Aber auch in minder kritischen Perioden war es Preußen,
welches in seinem und seiner Zollverbündeten Namen über Verträge verhan¬
delte und sie abschloß, welches seine Agenten mit Wahrnehmung der vereins-
ländischen Interessen beauftragte, und welches seine Expedition nach Japan
den nämlichen Interessen zur Benutzung darbot. Es gibt Regierungen,
welche an diesem Auskunftsmittel keine Freude haben, und im gegenwärtigen
Augenblicke sehen wir wieder in Wien Preußen unter Assistenz von Bayern
und Sachsen, welche dazu schon 1850 designirt gewesen, über eine mögliche
Fortbildung des Vertrags von 1853 im Sinne weiterer Annäherung verhan¬
deln. Es mag dahingestellt bleiben, ob die Combination sich mehr geeignet
erweisen wird, positive oder negative Resultate zu erzielen, soviel ist gewiß,
daß nach den früheren Verhandlungen Preußen allein 1853 abschließen mußte,
daß der Zollverein als solcher kein Organ zur Führung der Verhandlungen
besitzt, und daß er jeden Augenblick, durch Kündigung der Verträge unfähig
gemacht werden kann, überhaupt etwas einzugehen, was ein längeres Leben
als bis Ende 1865 voraussetzt.*) Mögen Bayern und Sachsen für den Augenblick
durch ihre Betheiligung an den wiener Verhandlungen beschwichtigt sein, Andere
sind es nicht. Ein Beispiel dafür liefert das Rescript des badischen Mini¬
steriums vom 16. August an seinen diplomatischen Agenten in Berlin, womit
die Zustimmung zu Verhandlungen mit der französischen Negierung über einen
Handelsvertrag zwar ertheilt, dabei aber stark betont wird, wie die Regierung
Werth darauf lege, „daß ihr die Möglichkeit geboten werde, auf den Gang
jener Verhandlungen, sowol bezüglich der von Frankreich einkommenden An¬
träge, als bezüglich der Seitens des Zollvereins geltend zu machenden Dest-
derien. jenen Einfluß zu üben, welcher ihr bei den nahen Berührungen Ba¬
dens als eines unmittelbaren Grenznachbars von Frankreich unzweifelhaft ge¬
bühre." Die badische Regierung nimmt dabei keinen Anstand, den Sitz und
die Quelle des Uebelstandes zu bezeichnen, indem sie die Organisation
des Zollvereins beklagt, „welche eine Einstimmigkeit sämmtlicher Zoll¬
vereinsregierungen und nebstdem die Zustimmung der Stände eines jeden ein¬
zelnen Staates erheische, um einen derartigen Act zu Stande zu bringen."
Schließlich behält sich Baden weitere Aeußerungen über die Möglichkeit
und Zweckmäßigkeit einer andern Einrichtung vor, und wir dürfen
daher annehmen, daß die von Preußen als nothwendig erkannte Reform von
Seiten der badischen Negierung Unterstützung zu erwarten hat. Die Abhilfe
liegt, wie wir sehn, zunächst nicht sowol im Interesse Preußens, welches na¬
turgemäß die auswärtigen Angelegenheiten des Zollvereins leitet, sondern sie
ist ein berechtigtes Begehren der übrigen Vereinsglieder, zur Theilnahme an
den Verhandlungen in angemessener Weise zugelassen zu werden. Dafür gibt
es nur ein Mittel; eine ständige C ent r alö erw a ltung für den Zoll¬
verein, und diese folgt von selbst, sobald der Verein die Herstellung eines
deutschen Bundesstaates sich ausdrücklich und mit Bewußtsein zum Ziele setzt.
Dann ist es seine Aufgabe, sich ein Organ zu schaffen, in welchem alle Be¬
theiligte direct oder indirect vertreten sind, und dahin zu wirken, daß sein
Leben nicht nur auf kurze Vertragsperivden gefristet, sondern dauernd gesi¬
chert sei.
Wäre ein Handelsbund nicht seiner Natur nach ein politischer Körper,
so müßte er es werden, sobald er dahin gelangt, seine gemeinsamen Interes¬
sen nach Außen zu vertreten. Man kann als Beispiel die deutsche Hansa
anführen, aber außerhalb Deutschlands sind neuere Beispiele kaum zu finden,
weil es keinen Föderativstaat mehr gibt, welcher die Leitung seiner Handels¬
politik nicht der Bundesgewalt übertragen, welcher jedem seiner Glieder über¬
lassen hätte, zu thun was es will. Die politische Bedeutung des Handels¬
bundes betrafen die Verhandlungen von 1851 bis 1353. Oder lagen vielleicht
financielle Motive dem Andrange zum Eintritts Oestreichs zu Grunde? —
So wenig, daß die wohlbegründeten financiellen Besorgnisse der Darmstädter
durch die östreichische Garantie eines Minimums der Zollrevenuen beschwich¬
tigt werden mußten. Waren es volkswirthschaftliche Vortheile, die man
durch eine Mischung der östreichischen mit der vereinsländischen Wirthschaft
zu erzielen hoffte? — Aber dann hätte man nicht auf den Eintritt Oestreichs
innerhalb vier Jahren gedrungen, ohne nur irgendwie die national-ökonomi¬
sche» Gesichtspunkte sich klar gemacht zu haben; man hätte nicht die Aufnahme
Oestreichs zur Bedingung für die Erneuerung des Zollvereins gemacht. Nein!
die Politik war es. welche den Verein beinahe zerrissen hätte; die Stärke
der volkswirtschaftlichen Interessen war es. welche ihn zusammen¬
hielt. Schon vor Olmütz. im Februar 1850, hatte Fürst Schwarzenberg ver¬
langt, daß die Bundesc entralcommi ssio n eine Conferenz von Bevoll-
nächtigten der Bundesglieder beruft, um die östreichisch-deutsche Zoll- und
Handelseinigung anzubahnen, und Herr von Schleinitz unterließ es nicht,
seine dilatorisch gefaßte Antwortsnote vom 28. Februar 1850 den sämmt¬
lichen Zollvereinsstaatcn, den Staaten, welche zu dem Bündnisse vom
20. Mai 1849 gehörten, und der provisorischen Bundescentralcom-
mission zur Kenntniß zu bringen. Eine östreichische Denkschrift vom 30. Mai
1850 sagt grade heraus: „Ein deutscher politischer Verein muß in
unsrer Zeit auch zum Zollverein werden und umgekehrt, oder
das eine wie das andere bleibt eine Täuschung, eine Unwahr¬
heit u. s. w." — Damit hat dir Denkschrift die Wahrheit gesagt, und nie¬
mand braucht sich zu schämen, sie zu bekennen. Nach Olmütz, im November
1851, war der neue östreichische Zolltarif der Ausgangspunkt — man
weiß, daß Fürst Schwarzenberg für Tarifsätze und den gemäßigten Schutzzoll
schwärmte nebenbei aber richtete die kaiserliche Negierung „als deutscher
Staat an ihre deutschen Mitstaaten die Einladung, mit ihr in Verhand¬
lung zu treten, um die bisherige Absonderung Oestreichs von dem
übrigen Deutschland aufhören zu machen." — (Note des Freiherrn von
Prokesch-Osten an Freiherrn von Manteuffel vom 28. November 1351). Ge¬
genwärtig macht man in Wien nicht soviel Lärm, man verhandelt ruhig mit
den Delegirten des Zollvereins, und muß einsehn, daß Deutschland ein Bun¬
desgenosse im römischen Sinne nicht mehr sein wird. Wäre es nicht über¬
flüssige Mühe, nachzuweisen, daß während dieser Krise von 1851—53 dem
Zollverein eine weiter gehende Bedeutung als eine rein commernelle allge¬
mein zuerkannt worden ist, wir könnten aus eine Reihe von Schriften, ins¬
besondere auf eine unter wiener Auspicien sehr geschickt verfaßte Schrift: „Die
Zollconferenz zu Wien in ihren nothwendigen Folgen für das gesammte
Deutschland, mit officiellen Ackerstücken (Leipzig bei Remmelmann, 1852)"
verweisen. Diese Schrift hat selbst den Veteranen unsrer Lehrer der Natio¬
nalökonomie. Geh. Rath Rau in Heidelberg, stutzig gemacht, und veranlaßt,
ihre Richtung zu beleuchten und zu bekämpfen. In dem Vorworte seines
Aufsatzes: „Die Krisis des Zollvereins im Sommer 1852 sagt Rau: „Die
Zollvcreinsangelegenheiten waren lange mit einer gewissen Harmlosig¬
keit als rein wirthschaftliche betrachtet und behandelt worden. Neuer¬
lich haben sich auch allgemeine Erwägungen der Staatsklugheit
eingemischt, die nun nicht mehr auszuscheiden sind; aber auch diese las¬
sen sich offen abhandeln, wenn die Grundsätze, von denen man ausgeht,
lauter sind und ohne parteiische Nebenabsichten, Niemand zu Liebe oder zu
Leide, durchgeführt werden." Ja. so ist es, die politische Bedeutung des
Zollvereins ist nicht mehr auszuscheiden, darum ist es gerathen, sie anzuer¬
kennen und an die Spitze zu stellen. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit
ist seit zehn Jahren unter den Deutschen stärker geworden. Alles, was diesem
Gefühle zusagt, wird die Nation für sich haben, und dahin gehört der Han-
delsl'und, wenn er als ein Einigungselement sich in festen Formen
dauernd gestaltet, nachdem er Zähigkeit genug bewiesen hat, Versuche zur
Spaltung und Verwirrung abzuweisen.
Der Bundestag wird ein wirksames Veto nicht einlegen, wenn der Zoll¬
verein sich bereit erklärt, in einem deutschen Bundesstaate aufzugehn. Hat
doch die hohe Bundesversammlung und haben sämmtliche Glieder des deut¬
schen Bundes die Verfassung desselben für reformbedürftig im höchsten Grade
erklärt. Die Vereins.rcgicrungcn aber sind sich ohne Zweifel bewußt, daß
ihre Verbindung nicht gegen die Sicherheit des Bundes oder eines Bundes¬
staates gerichtet, also nach Art. 11 der Bundesacte erlaubt ist Dasselbe
Bewußtsein haben sich gewiß die 29 deutschen Regierungen bewahrt, welche
seiner Zeit auf Grund des nämlichen Artikels das Bündniß vom 2t>. Mai
1849 mit ihren Bundespflichten vereinbar gefunden haben.
Man glaubt in manchen deutschen Landen immer noch Verheißungen un¬
erfüllt lassen zu dürfen, welche die Nation in die Verfassung zu setzen ver¬
sprachen, äußere Gefahren zu bestelln und ihren Interessen Beachtung zu
verschaffen. Man hält an Einrichtungen fest, die sich zu nichts Gutem taug¬
lich erwiesen haben. Es fehlt nicht an Mahnungen. — wir meinen nicht in
Worten, sondern in Ereignissen — an das Nothwendige zu denken, ehe es
zu spät wird, und nicht länger die dargebotene starke Hand der Regierung
des größten deutschen Staates für die Abstellung der schreiendsten Uebelstände
abzuweisen. Aber was wir vermissen, das ist die praktische Richtung in den
Bestrebungen für bessere Einigung des deutschen Vaterlandes. Neben den er¬
freulichen Kundgebungen für die Einheit möchten wir vereinte Kräfte für die
Vervollkommnung des bestehenden, der Reform bedürftigen Handelsbundes
wirken sehn. Geschieht dies, dann werden in dem Zeitpunkte, in welchem
über die Erneuerung der Zollverträge entschieden werden muß, die Ministerien
und dieKammern derjenigen deutschen Staaten, welche früher der revolutio-
nären Politik des Fürsten Schwarzenberg folgten, den Weg der Reform mit
Preußen gehn. Wir behalten uns vor, im nächsten Heft auf die Bestimmungen
der Verträge, welche eine Abänderung oder Erweiterung wünschen lassen, aus¬
führlich einzugehn.
Schon Mitte Februar erließ das Ministerium für das Herzogthum Schles¬
wig ein Rescript an das gottorfer Amthaus wie an einige andere Behörden,
worin dieselben aufmerksam gemacht wurden, daß in verschiedenen Bezirken
Petitionen verbrecherischen Inhalts im Umlauf seien, woran die Weisung sich
knüpfte, auf solche Schriftstücke zu fahnden und gegen die Unterzeichner Unter¬
suchung einzuleiten. Die Polizei setzte sich in Bewegung, und nachdem einige
Behörden einberichtct, daß namentlich in Angeln Petitionen an die Stände
eingereicht worden seien, deren Fassung ma» nach den vorgefundenen Abschriften
für strafbar halten müsse, erfolgte vom Ministerium der Auftrag, gegen die
Betreffenden crimincll zu verfahren und dabei besonders diejenigen scharf ins
Auge zu fassen, welche 1851 nur bedingt amncstirt worden seien, wobei zu
bemerken ist. daß zu letztem alle die gezählt werden, welche vor der 1850 in das
Herzogthum einrückenden dänische» Armee nach Süden geflüchtet waren.
Inzwischen hatte die Polizei auch in der Stadt Schleswig eine hierher
gehörige Entdeckung gemacht. In der letzten Woche des Februar, als man
mit Einfordcrung der von Heiberg verbreiteten Abdrücke der Sechsundzwanziger-
adrcsse beschäftigt war, fand sich ein Polizeidiener in der Wohnung des Hand¬
schuhmachers Stender ein, um ein diesem eingesandtes Exemplar abzuholen.
Der Mann ist nicht daheim, die Frau, die nicht weiß, wovon die Rede, sucht
in der Schublade, findet eine Abschrift der Schleswiger Petition an die Stände
und übergibt sie dem Polizeidiener, der sie mitnimmt. Die Folge ist, daß
am nächsten Tage erst Stender, dann der Knopfmacher Gerte, dessen Hand¬
schrift aus dem Papier erkannt worden, vom Polizeimeister in Haft genom¬
men wird.
„Werde die Leute schon mürbe kriegen," äußerte der Mann der Polizei,
und es ist ihm wenigstens mit dem einen vollständig gelungen. Gerte ist
mürbe geworden. Man sperrte ihn in ein gemeines Diebsloch, versagte ihm
die von der Familie besorgten Bequemlichkeiten, (selbst die von der Schwester
gebrachten Morgenschuhe wurden zurückgeschickt) und erwiderte auf die Andeu¬
tung, daß er zum Tiefsinn geneigt sei und daß bei längerer Hast für seinen
Gemüthszustand zu fürchten, höhnisch, die Gefängnißluft werde ihn gesund
machen. Vermuthlich aus diesem menschenfreundlichen Grunde hielt man ihn
neun volle Tage ohne Verhör eingesperrt, aber der Erfolg war kein glücklicher.
Eines Morgens fand mau Gerte, dessen Melancholie mit jedem Tage zugenom-
wen, im Gefängniß an seinem Tragband erhängt. Um das Maß der Schande
voll zu machen, ließ der Polizeimeister aussprengen, der Arrestat habe einem
Mitgefangnen vor seinem Tode gestanden, daß er eine Petition gefälscht und
ins Zuchthaus zu kommen erwarte, weshalb anzunehmen sei, daß er sich aus
Furcht das Leben genommen — eine freche Lüge, da eine Unterredung mit
jenem Gefangnen, der eines gemeinen Verbrechens halber bald darauf ins
Zuchthaus abgeführt wurde, so gut wie undenkbar, und Gerte überdies ein durch¬
aus redlicher Charakter war, der als fleißiger Handwerker im besten Rufe stand.
Die Aufregung, welche die Kunde von diesem Vorfall in der Stadt hervor¬
rief, war ungeheuer. Sie war so groß, daß der Polizcimeister es gerathen
fand, den andern Arrestaten in dieser Sache, der ebenfalls neun Tage ohne
Verhör gesessen, sofort zu entlassen. Um sich indeß nicht bloß zu stellen, gab
er als Grund dafür an, daß Stender wahnsinnig sei — eine zweite Lüge, die
noch überdies eine ungeschickte war, da jener, wenn er an Wahnsinn gelitten
hätte, diesen nur der neuntägigen Haft hätte verdanken können.
Gerte's Leiche wurde von zwölf Mitgliedern des Gesangvereins vom Rath¬
haus, wo er eingekerkert gewesen, nach der Wohnung seines alten Vaters ge¬
tragen, den er mit seiner Hände Arbeit ernährt hatte, und es verlautete, daß
die ganze Stadt sich anschicke, bei der Beerdigung dem Sarge zu folgen. Eine
solche Ehrenerweisung für den todten Aufrührer kounte der Polizeimeister nicht
dulden. Er erlaubte nur dem Vater und einem Schwager, dem Verstorbenen
das letzte Geleit zu geben; alle Andern, selbst Verwandte, waren davon aus¬
geschlossen. Um dieses Verbot durchführen zu können und das Volk vom Kirch¬
hof entfernt zu halten, verlangte er von dem commandirenden General Müller
ein Commando Soldaten. Der General lehnte das mit dem Bemerken ab,
daß ihm die ruhige Haltung der Bürger seit Jahren bekannt sei und jene
Maßregel nur dazu dienen würde, die Aufregung zu vermehren. Vergeblich.
Die Polizei in Schleswig ist nicht nur angesehener und mächtiger als der
Richterstand, sie nöthigt auch dem Militär ihren Willen auf. Polizeimeister
Jörgensen telegraphirte nach Kopenhagen, und sofort erfolgte von dort der
Befehl an den General, die verlangten Mannschaften zu stellen. So wurde
eine Compagnie mit scharfgeladnem Gewehr auf den Kirchhof postirt, andere
Truppen besetzten die Aufgänge nach der dorthin führenden Allee, und die
ganze Straße, die der Leichenzug zu Passiren hatte, wimmelte von Gendarmen
und Polizisten, die, als der Leichenwagen — unter Vortritt des Polizeimeisters!
— sich in Bewegung setzte, denselben begleiteten, um jeden, der zu folgen
Miene machte, zurückzutreiben. Nur den genannten beiden Verwandten gestat¬
tete man, mit bis an das Grab zu gehn. „Folgt denn niemand mehr?" rief
der alte Vater sich umschauend aus. Man hatte ihm verschwiegen, wie sein
Sohn geendet.
An dem Begräbnißtage so wie am nächsten herrschte in Schleswig eine
Art Belagerungszustand. Auf den Straßen dursten nicht mehr wie drei, in
den Wirthshäusern nicht mehr wie acht Personen zusammenstehn. Die Polizei,
die Gendarmerie vigilirte überall. Als der Vertreter Schleswigs in der Stnnde-
versammlung, Senator Marquards zurückkehrte, lauerte Iörgcnsen mit einer
Anzahl seiner Leute des Abends vor dessen Wohnung, um zu verhüten, daß
ihm von seinen Wählern eine Ehrenbezeugung erwiesen werde. Natürlich ver¬
hielt sich Alles still. Bald darauf aber wurden der genannte General und
ein Oberst der Kavallerie zur Disposition gestellt, weil unter solchen Umständen
jüngere Officiere besser am Platze wären. Ein Major, der dem Polizeimeister
bemerkt, daß er allein an der Unruhe in der Stadt schuld sei und daß man ihm
vorzüglich es danke, wenn die Kluft zwischen den beiden Nationalitäten hier
unausfüllbar sei. wurde wegen dieser Aeußerung damit bestraft, daß man ihn
nach Räubers in Jütland versetzte. Fort mit ihm! Was sollen auch Leute,
die nicht mit den Auge» des Fanatismus sehn, unter diesen aufrührerischen
Schleswig-Holsteinern! Peitschen thuns nicht, züchtigen wir sie mit Scorpionen!
Vielleicht, daß sie dann sich ducken lernen, vielleicht auch, daß ihnen die Geduld
reißt. In beiden Fällen gibt es dann wol Gelegenheit, die thatsächliche Ein¬
verleibung in eme förmliche zu verwandeln.
Allgemein wurde die Untersuchung wegen der Petitionen oder Adressen an
die Stände erst, als dieselben im Lesezimmer der Versammlung in Flensburg
ausgelegen hatten, und der Präsident diese Papiere der Regierung ausgeant¬
wortet. Die Schleswiger Adresse war von ziemlich 400 Bürgern abgesandt
worden. Man griff aus diesen zunächst diejenigen heraus, welche den andern
den Entwurf der Adresse mitgetheilt und die unterzeichneten Exemplare gesam¬
melt und dem Abgeordneten der Stadt mitgetheilt hatten, vernahm sie und
belegte sie mit Stadtarrest. Zu letzterem war so wenig Veranlassung vor¬
handen, wie zur Schließung der Heibergschen Buchhandlung; wol aber lag
darin, namentlich für> solche Gcwerbtrcibende, die ihr Geschäft täglich über Land
zu gehn nöthigt, eine ähnliche Beeinträchtigung ihres Erwerbes wie in jener Ma߬
regel, und bei dem Charakter des Vorstands der Schleswiger Polizei ist der Ver¬
dacht gerechtfertigt, daß der letztere Grund auch hier der bestimmende gewesen
ist. Erleichterungen wurden nur in besonders dringenden Fällen zugestanden
und dann uuter lästigen, bisweilen abgeschmackten Bedingungen. Einem Arzt,
dem Dr. Volquards, erlaubte der Polizeimeister seine außerhalb der Stadt
wohnenden Patienten nur des Nachts zu besuchen. Von einem Kaufmann,
der aus die leipziger Messe wollte, forderte er die in Betracht des Inhalts der
Adresse (es war die im zweiten Abschnitt mitgetheilte) unverständig hohe Kau¬
tion von 1000 Nthlrn.
Gegen Pfingsten erst wurde der Stadtarrcst aufgehoben, doch auch dann
nur für die. welche sich blos durch Unterzeichnung, nicht zugleich durch Cvlpor-
tirung der Adresse mißliebig gemacht.
Als Hauptschuldiger wurde der Kaufmann Verseck angesehn, der sich als
Verfasser der Adresse genannt, Der Polizcimeister hatte nach dem Verfasser
vorzüglich deshalb mit besonderm Eifer geforscht, weil er der Meinung war,
daß Heiberg es sein müsse. Und als diese Ansicht durch Versecks Bekenntniß
zu Nichte geworden, soll er in seinem Unmuth ausgerufen haben, daß nun die
ganze Untersuchung vergeblich sei. Indeß mochte er immer noch hoffen, jenen
in die Sache verwickeln zu können. In langen Verhören wurde Verseck mit
Kreuz- und Querfragen über den Inhalt der Adresse inquirirt. den er nach der
Behauptung des Polizeimeisters nicht gehörig vertreten konnte. Als er ein¬
räumen mußte, daß er Hilfe dabei gehabt, sollte er den Gehilfen nennen, und
als er dies verweigerte, weil er sein Ehrenwort auf Verschweigung des Namens
gegeben, wurde er arretirt. Wieder verhört, blieb er bei seiner Weigerung,
indem er zugleich erklärte, daß er das ihm gegebne Material durchweg um¬
gearbeitet habe, daß er deshalb sich für den Verfasser ansehn und für den
Inhalt des Schriftstücks einstehn wolle. Das Criminalgericht belegt ihn dafür,
d. h. wegen jener Weigerung, mit drei Tagen Gefängniß bei Wasser und Brod.
Verseck beruft sich dagegen auf das Appellationsgericht. Dieses hebt die Strafe
zwar auf, eröffnet aber zugleich dem Magistrat, daß dem Angeklagten bei be¬
harrlicher Weigerung allerdings eine Strafe zuerkannt werden dürfe, doch müsse
ihm dieselbe vorher angedroht werden. Diese Entscheidung gründet sich auf
eine Verfügung vom 14. Juli 1813, nach welcher ein Angeschuldigter, welcher
es ablehnt, über einen Gegenstand, über den er Auskunft geben kann sich aus¬
zusprechen, mit ein bis drei Tagen Gefängniß belegt werden kann.
Nun citirte das Gericht den Dr. Heiberg, stellte ihm vor, wie das Publi¬
kum den wirtlichen Verfasser der Adresse zu wissen verlange, und drang in ihn,
zu sagen, ob er es sei. Der Befragte, der für Versecks Gemüthszustand fürch¬
tete, da auch er zur Hypochondrie neigte, gestand zu, daß derselbe sich aller¬
dings an ihn, als frühern Advocaten (Heiberg verlor seine Bestallung wegen
Betheiligung an der Erhebung von 1348) um einen Entwurf zu einer Adresse
gewendet habe. Indeß habe er verweigert, darauf einzugehn, und erst auf
wiederholtes Andringen sich herbeigelassen, einige Zeilen aufzuschreiben. In
der vorliegenden Adresse könne er seine Arbeit nicht wieder erkennen. Verseck
bestätigte dies durchaus, indem er versicherte, das Heibergsche Concept von
Zeile zu Zeile verändert zü haben. Nach diesen Aussagen war es klar, daß
selbst in dem Falle, die Adresse hätte Strafwürdiges enthalten, lediglich Ner-
seck, der den Hcibergschen Gedanken die Form gegeben, der die Adresse, ohne von
jenem dazu bestimmt zu sein, unterschrieben, und sie an die Ständeversamm-
lung abgesandt hatte, dafür verantwortlich sein konnte. Wollte man anders
urtheilen, so könnte jeder Tagcsschriftsteller dafür bestraft werden, wenn seine
Gedanken von jemand benutzt werden, um davon eine verkehrte Anwendung
zu machen.
Mittlerweile hatten auch auf dem Lande, namentlich in Angeln und im
Amte Tondern, die Untersuchungen dieses Monstreprozesses ihren Verlauf gehabt
und mit Verurtheilungen geendigt. Mehre Landleute wurden zu 30, einer zu
40 Tagen Gefängniß bei Wasser und Brod verdammt, der letztere, weil er zu¬
gelassen, daß einige andere in seinem Hause eine Petition unterschrieben. Ueber
ein Mitglied der Ritterschaft, den Gutsbesitzer v. Rumohr auf Druid, wurden '
wegen Entwerfung einer Adresse drei Monate, über den Kanzleigutsbesitzer
Steindorf in Grumbye wegen Verbreitung einer solchen vier Wochen Festungs¬
haft strengsten Grades verhängt. Viele andere verurtheilten die Gerichte zu
Geldstrafen von 30 bis so Nthlrn., wieder andre nur zur Tragung der Unter¬
suchungskosten.
Aehnlich war der Verlauf in den südlichen Harden des Amtes Tondern,
wo etwa anderthalbhundert Unterzeichner einer Adresse mit Geldstrafen belegt
wurden. Diese wie ihre Leidensgenossen in Angeln haben großentheils Be¬
rufung gegen das Urtheil eingelegt, und wie man hört, hat auch der Obcr-
sachwalter (Staatsanwalt), dem von jedem Criminalerkenntniß eine Abschrift
mitgetheilt werden muß, gegen sämmtliche in dieser Sache ergangene Ent¬
scheidungen Recurs ergriffen. Ob in. der Absicht, eine Schärfung, ob zu dem
Zweck, eine Milderung zu beantragen, steht dahin. Viele erwarten das Erstere*).
In der Stadt Eckernförde, von wo die erste der im zweiten Abschnitt
mitgetheilten Adressen ebenfalls in mehren hundert Exemplaren an die Stände
abgegangen, wurde die Untersuchung schon vor drei Monaten beendigt, doch
hört man noch nichts von Verurtheilunge». In Schleswig sind, soviel uns
bekannt, noch nicht alle Unterzeichner vernommen. Auf jeden Fall ist die Un¬
tersuchung ein Eingriff in das ohnehin eng bemessne Petitionsrecht der Schles¬
wiger. Die Adressen sind Beschwerden und Bitten, die, an ein gesetzmäßiges
Organ zur Befürwortung derselben gerichtet, sich gegen Verletzung der Zusagen
von 1852 erklären und das durch diese Verletzung wieder in Kraft getretne
alte Recht betont wissen wollen, was denn auch in der Sechsundzwanziger¬
adresse am Schlüsse geschehn ist. Sie enthalten nichts Aufrührerisches, nichts
Ungesetzliches. Sie enthalten die Wahrheit. Diese können die Dänen in Be¬
zug auf Schleswig nicht vertragen, daher die Verfolgung.
Ein andres Beispiel dasür ist das gegen den Gutsbesitzer Berkhan in
Angeln beobachtete Verfahren. Derselbe hatte im Herbst 1859 beim König
in Glücksburg eine Audienz gehabt, dabei seine Beschwerde gegen den Propst
Hansen vorgebracht, welcher ihm Beschränkungen der lästigsten Art hinsichtlich
des Privatunterrichts seiner Kinder aufgenöthigt hatte, und darauf vom König
die Antwort erhalten, er möge sich um Abhilfe an die Ständeversammlung
wenden. Weil er dieses Ergebniß seines Besuchs in Glücksburg Andern mit¬
getheilt, wurde er in Untersuchung gezogen, wiederholt verhört, dann auf An¬
weisung des Ministeriums criminell behandelt, „da es nicht denkbar sei, daß
Sr, Majestät sich so geäußert haben sollte," und schließlich, als er auf die
Andeutung, daß er bei einem Widerruf seiner Angabe straflos sein solle, bei
seiner Behauptung beharren zu wollen erklärte, da sie die Wahrheit enthalte,
von der Hardcsvorstei zu drei Tagen Gefängniß bei Wasser und Brod und in
die Kosten verurtheilt. Das Appellationsgericht cassirte dieses Erkenntniß.
Offenbar hatte die Negierung, deren Seele noch immer der berüchtigte Etatsrath
Regcnburg ist, gemeint, daß die 14.000 Petitionen, die in der Sprachangele¬
genheit bei den Ständen eingelaufen waren, eine Folge jener königlichen Ant¬
wort gewesen seien, und da man den König dafür nicht in Anspruch nehmen
konnte, so wollte man durch Bestrafung dessen, der sich zum Echo seiner Worte
gemacht, ihn wenigstens abschrecken, sich künftig in ähnlicher Sache ähnlich zu
äußern — eine Absicht, die nach der kurzen Abfertigung derer, die dieses Jahr
in Glücksburg ihre Bitten und Klagen anbrachten, nur zu gut gelungen zu
sein scheint.
Die Erbitterung, welche diese und andre Maßregel» im Lande hervorge¬
rufen haben, ist außerordentlich. Selbst das (lediglich aus materiellen Grün¬
den, die überdies nicht vollkommen zutreffen) bisher ziemlich dänisch gesinnte
Flensburg beginnt zu wanken und Opposition zu machen. Sein Vertreter
in der Ständeversammlung trat, in der Regel mit der dänischen Minorität
gehend, in der letzten Session wiederholt auf die Seite der deutschen Majo¬
rität. Mit schwerem Herzen meldete vor einigen Wochen die „Dannevirke".
wie die Stimmung der deutschen Bewohner der Stadt sich immer mehr von
dem entferne, was dieses Blatt „die alte treue Loyalität" nennt. Als der
Bürgerverein vorigen'Sommer sein fünfundzwanzigjährigcs Bestehn feierte,
brachte der zweite Bürgermeister, indem er daran erinnerte, wie vor einem
Vierteljahrhundert niemand gedacht haben könne, daß derselbe in kurzer Zeit
so viele Dänen zu Mitgliedern zahlen würde, einen Toast auf die Hoffnung
aus, daß in abermals fünfundzwanzig Jahren hier nur noch dänisch gespro
eben werden würde. ' Die Folge war, daß Tags darauf ein Viertel der Mit¬
glieder ihren Austritt erklärten. Dagegen wächst und gedeiht der Gesang¬
verein, der keinen notorisch Dänischgesinnten" aufnimmt, ,in einem der Danne¬
virke „Bestürzung erregenden" (forbausende) Grade und zählt jetzt bereits
600 Theilnehmer. Man kann nicht sagen, daß die Stimmung in der Stadt
eine prononcirt deutsche sei, sicher aller ist die große Mehrzahl der Bürger
schaft und die bei Weitem überwiegende Masse der jüngeren Generation ent¬
schieden antidänisch.
Ganz besonders bezeichnend war ein Vorfall, der im letztvergangnen Juli
im Kreise der Se. Nicolai Schützengilde stattfand. Diese Gesellschaft ist nicht
nur an Zahl die stärkste ihrer Art in Flensburg, sondern erfreute sich auch
bisher des Rufes, ein starkes Bouquet dänischer Loyalität zu besitzen. Der
König war Patron und erstes Mitglied, der Gilde, der Oberpräsident von
Flensburg und zahlreiche andere höhere und niedere Beamte befanden sich
darin, und die Bürger, die sich betheiligten, standen ebenso wenig im Geruch
zur Opposition gegen Dänemark zu gehören. Da mußte es Wunder nehmen,
daß, als vor einigen Monaten der Rector des flensburger Gymnasiums, ein
gewisser Simensen, der ultradänische Anschauungen zum Besten zu geben, liebt,
die deutsche Partei zu denunciren für gut fand, eine beträchtliche Anzahl von
Mitgliedern dies als ein Aergerniß aufnahmen. Es sollte aber besser kommen.
Ein Mitglied der Gesellschaft, der Goldschmied Beyrcis hatte sich unterfangen,
die dänischen Beamten in der Stadt insgesammt als Spione und Denucian-
ten zu bezeichnen. Dies war höhern Orts hinterbracht worden, und es war dort
beschlossen, eclatante Genugthuung zu fordern. In einer am 1Ä. Juli abge-
haltnen Generalversammlung der Gesellschaft theilte der Oberpräsident v. Ro¬
sen im Namen des Königs mit, daß jene Aeußerung das Allerhöchste Mißfal¬
len erregt und Se. Majestät beschlossen habe, aus der Gilde auszutreten, wo¬
fern Bcyreis nicht ausgeschlossen werde. Man stimmte sofort darüber ab,
und jetzt ergab sich, daß die Gesellschaft bei Weitem weniger als man ge¬
glaubt, das Lob loyaler Gesinnung verdiente. Zur Exclusion des kecken Gold¬
schmieds war eine Zmcidrittelsmajorität erforderlich, es fanden sich aber von
80 Stimmen nur 40. die, natürlich meist Beamten angehörig, für dieselbe
waren. So mußte statt des Goldschmieds der König austreten, ihm folgten
sämmtliche Beamte, und die Gesellschaft wurde von der Polizei geschlossen.
Bemerkungen hierzu sind wol überflüssig.
Nicht weniger stark ist, wie eine Zuschrift vom ersten August dieses Jahres
uns meldet, die Opposition gegen die Danisirung unter den Deutschen in Apen-
rade, wo das aufdringliche Dänenthum allerdings in besonders widerwärti¬
ger Art sich geltend macht. Nach dem Kriege sollte in den Schulen Deutsch
die Haupisprache sein, jetzt wird in den Elementarclassen nur Dänisch, in den
obern nur zwei Stunden wöchentlich Deutsch gelehrt. Die Nectorschule. welcher ein
ehemaliger dänischer Lieutenant vorsteht, der gegen den Wortlaut des Gesetzes
nicht einmal das theologische Kandidaten - Examen gemacht hat, ist so herab-
gekonunen, daß, nährend sie früher von vielen Auswärtigen besucht war, je'tzt
selbst Einheimische ihre Kinder anderwärts unterrichten lassen. Statt der denk-
schen Gerichtssprache ist die dänische eingeführt, Decrete und Bekanntmacbun-
geu, die der Magistrat erläßt, sind nur in dänischer Sprache abgefaßt, deutsch
geschriebene Eingaben und Documente werden vom Bürgermeister als nicht
vorhanden betrachtet. Die deutschen Bezeichnungen an Straßenecken, auf
amtlichen Schildern u, s, w, sind mit dänischen vertauscht. Selbst den wür¬
digen alten Klingelbeutel in der Kirche traf die Verbannung, weil er sich un¬
terstand, die Leute auf deutsch an die biblische Wahrheit zu erinnern, daß Gott
einen fröhlichen Geber lieb habe. Ja selbst der deutsche Nachtwächterruf hat
sich von einer sorgsamen Wohlfahrtspolizei in das alleinseligmachende Dänisch
übersetzen lassen müsset
Zeugnisse für Dienstboten und Handwerksgesellen, die nicht dänisch geschrie¬
ben sind, werden von der Polizei zurückgewiesen, deutsch abgefaßte Rechnungen,
von Handwerkern und Kaufleuten den dänischen Beamten zur Berichtigung
übersandt, werden nicht bezahlt. Das Wochenblatt der Stadt erschien anfangs
in deutscher Sprache. Als es während der Erhebung in andre Hände über¬
ging, übernahm der Herausgeber die Verpflichtung, die Sprache beizubehalten.
Aber nach wenigen Monaten schon fing es an dänisch zu reden, und wenn
spater gelegentlich noch eine oder die andere deutsche Anzeige darin stand, so
hat seit Anfang dieses Jahres auch dies aufgehört, da der Herausgeber, vom
Bürgermeister dazu angehalten, derartige Annoncen nur dann aufnimmt, wenn
zugleich die dänische Uebersetzung daneben eingerückt wird, und letzteres zu viel
Kosten macht.
Im verflossenen Jahr kündigte der Vorstand eines geselligen Vereins in
einer deutsch geschriebenen Anzeige im Wochenblatt an, daß an einem bestimm¬
ten Tage eine Generalversammlung stattfinden solle. Ohne Verzug wurde der
Director vor den Bürgermeister geladen und ihm von diesen, bedeutet, daß
man sich in Zukunft deutscher Annoncen enthalten möge, da man sich damit
„nur lächerlich mache".
Um dieselbe Zeit schickte jemand nach der Post einen Knaben mit einem
Zettel, auf dem in deutscher Spracke bemerkt war, man möge dem Ueberbringe'r
die für den Schreiber des Zettels angekommnen Briefe und Zeitungen mitgeben.
Der Postmeister sah das Papier an und gab es sofort zurück, indem er äußerte,
er verstände kein Deutsch. Natürlich wollte er's nur nicht versteh». Die Folge
seines Widerwillens aber war, daß, da der Knabe einen weiten Weg zurück
nach Hause und dann wieder auf das Pvstcomptoir machen mußte. um eine
dänische Bescheinigung zu bringen, ein angelangter Brief von Wichtigkeit, der
sofortige Erwiderung erheischte, erst am nächsten Tage beantwortet werden
konnte.
Der Musikdirector Lindau aus Preußen hatte zu seinen Concerten auf
deutsch eingeladen. Darauf wurde er vor den Bürgermeister citirt. der. nach-
''^
dem er ihm bemerkt, daß solche Einladungen hier nicht in der Ordnung seien,
an ihn das Verlangen stellte, unter die vorzutragenden Musikstücke auch den
„Tapperen Landsoldat" aufzunehmen. Lindau weigerte sich dessen: er wolle
keine politischen Lieder spielen. Nun, so solle er wenigstens das dünische Natio¬
nallied „Kong Christian stob vet holen Mast" geben, sagte der Bürgermeister,
und um nicht der Erlaubniß Concerte zu geben, verlustig zu gehn, mußte jener
sich fügen. >
Während das gesammte deutsche Volk bis zu den fernsten Inseln und bis
in die Hinterwüldcr Amerikas hinein den Schillertag festlich beging, durfte in
Apenrade eine Feier nicht stattfinden. Eine Gesellschaft hatte auf den zehnten
November einen Ball angesetzt. Kaum kommt dies der Polizei zu Ohren, als sie
- den Vorsteher rufen laßt und denselben einem förmlichen Verhör unterwirft, ob
damit nicht eine Demonstration beabsichtigt sei. Darüber beruhigt, verbietet
der Bürgermeister jeden etwaigen Toast auf Schiller, und so mußte man sich
begnügen, den Manen des Nationaldichters eine stille Libation zu weihen.
In ähnlicher Weise verfährt das T'änenthnm in andern Städten des
Herzogtums gegen die Deutschen, und wenn es ihm gelungen ist. die Einen
und die Andern einzuschüchtern, so versucht doch noch immer die große Mehr¬
zahl auch in den kleinen Dingen des Alltagslebens nach Kräften Opposition
zu machen, und von einer Verschmelzung der Parteien ist auch in dieser Be¬
ziehung nicht entfernt die Rede. Eine Reaction, eine Restauration des alten
Verhältnisses würde von der großen Mehrzahl der Schleswiger mit dem Gefühl
willkommen geheißen werden, mit dem ein vom Alp Gedrückter den Morgen
begrüßt, der ihn von seiner Last befreit. Die letzte fchleswigfche Stündcverscnnm-
lung hat uns nicht im Unklaren darüber gelassen, was der Wille des Landes
ist. Selbst die Dänen in derselben leugneten nicht, daß, wenn das Sprach-
rescript der Abstimmung des Volkes in den betreffenden Bezirken unterworfen
würde, der Fall desselben unzweifelhaft wäre. Nicht viel weniger stark hat sich
in den Wahlen die öffentliche Meinung gegen andere seit 1851 verfügte Ma߬
regeln ausgesprochen. Käme es auf die Stände an, wäre Schleswig organi-
sirt, wie es nach den dem Patent von 1852 vorausgcgangncn Verhandlungen
sein sollte, hätten seine Vertreter dieselben Rechte, wie die des Königreichs, so
fiele der Reichsrath, der Gesammtstaat und alles, was damit zusammenhängt,
alles was Schleswig von Holstein trennt, vermuthlich schon in den ersten
Tagen der nächsten Session der Stunde vor dem Votum einer Majorität, die
mehr als zwei Drittel der Bewohner des Landes und unter diesen die wohl¬
habendsten und intelligentesten vertritt, in Nichts zusammen.
Holstein und Schleswig sollten gleichberechtigt sein. Für Holstein und
Lauenburg ist die Gesammtstaalsverfassung aufgehoben, also ist sie auch für
Schleswig aufzuheben. Die Verordnung von 1855, welche jene Verfassung
brachte, sollte für alle vier Theile der Monarchie gelten; der Reichsrath ein
Vertreter der Totalität dieser Theile sein, also war die Aufhebung der
Verfassung sür zwei Theile eine solche, durch welche die Geltung derselben für
alle aufhörte. Sollte der Gesammtstaat blos für Dänemark und Schleswig
fortbestehn, so bedürfte es dazu eines neuen Gesetzes, und dieses hätte nur
rechtlichen Bestand erlangen können, wenn die Stände Schleswigs es gutge¬
heißen hatten. Die Rechte und Interessen des Herzogtums waren selbst da¬
mals nicht ausreichend gewahrt, als die Verordnung von 1855 noch für alle
Theile der Monarchie galt und der dänischen Majorität im Reichsrath außer
den schleswigschen Stimmen holsteinische und laucnburgischc gegenüberstanden.
Jetzt ist dies noch weit weniger der Fall, und so kann man in dem Patent,
welches 1858 den Gesammtstaat und den Reichsrath nur sür die zum deutschen
Bunde gehörigen beiden Herzogtümer aufhob, nnr einen Act erkennen, der
die Einverleibung Schleswigs in Dänemark vorbereitet, ja der, zusammen¬
gehalten mit den zahlreichen Danisirungsmaßregeln in Kirche und Schule, in
den Kreisen der Beamten und der von Concessionen abhängigen Gewerbe, so
wie verglichen mit den auf völlige Losreißung des Herzogtums von Holstein
berechneten Verfügungen, bereits eine thatsächliche Incorporation ist.
Die Stände Schleswigs haben in ihrer diesjährigen Session das ihnen
auch in Sachen des Gescunmtstaats zustehende Wort verlangt. Sie haben
gegen das Fortbestehn der Verordnung vom zweiten October 1855 für Dänemark
und Schleswig, gegen die Rechtsbeständigkeit der vier ersten Paragraphen der
Svndervcrfassung für Schleswig, über welche die Landesvertretung nicht berathen
durfte, gegen jede ohne Vernehmung der Stände Schleswigs vorzunehmende
Ordnung der Verhältnisse dieses Herzogtums zu den übrigen Theilen der
Monarchie und gegen alle bisherigen und zukünftigen auf eine Loslrennung
Schleswigs von Holstein gerichteten Maßregeln in der Sechsundzwanzigeradresse
feierlich Verwahrung eingelegt. Jenes Verlangen ist unerfüllt geblieben, dieser
Protest durch einen Willküract des Präsidenten verhindert worden, zum giltigen
Beschluß zu werden und als solcher an den König zu gelangen. An uns in
Deutschland ist es nun, die Forderungen und Beschwerden Schleswigs zu den
unsern zu machen. Es ist zu sorgen, daß die Gcsammtstaatsvcrfassung wie
für Holstein und Lauenburg, so auch für Schleswig suspendirt, und daß den
Sckleswigern gestattet werde, sich über ihre Stellung in der dänischen Monar¬
chie rückhaltlos auszusprechen. Sie werden dann, deß sind wir sicher, mit großer
Majorität und mit gleicher Energie wie die Holsteiner sich gegen die 1855 be¬
liebte Gesammtstaatsverfassung als eine nicht zu gedeihlichen Zielen führende
erklären und ohne sich auf Vorschläge einzulassen, in denen nur eine Abände¬
rung der Gesammtstaatsidee läge, die Forderung stellen, daß ihnen von der
Regierung auf Grund der alten Landesrechte zeitgemäße Vorlagen ge-
macht werden. Diese Forderung wäre dann von Deutschland zu unterstützen,
ihre Erfüllung, falls sie verweigert würde, zu erzwingen. Es wäre zurückzu¬
kehren zu den beiden ersten Fundnmentalsätzen des Schleswig-holsteinischen Rechts,
zu denen, nach welchen die Herzogtümer Schleswig und Holstein selbständige,
fest mit einander verbundene Staaten sind.
Ob auch an den dritten erinnert werden kann, nach welchem in den Herzog-
thümern der Mannsstamm herrscht, ist eine Frage, deren Beantwortung von
den Umständen abhängt. Auch das londoner Protokoll ist wol kein Document,
das für die Ewigkeit unterschrieben ist. Doch glauben wir, daß die Gegen¬
wart nicht danach angethan ist. es schon in Frage zu stellen. Ein Angriff
auf das Patent von 1852 dagegen würde ausgeführt werden können, ohne daß
damit sofort eine Einmischung der fremden Großmächte provocirt wäre. Das
Protokoll schloß blos die Möglichkeit des Zerfalls der dänischen Monarchie in
zwei von verschiedenen Linien beherrschte Staaten, nicht die Umbildung der¬
selben in eine Gestalt aus, welche dem Zwillingsstaat Schweden-Norwegen
gleichen würde.
Preußen hat für Ordnung der einen von den beiden 1351, gegen den
Wunsch der Nation gewendeten Angelegenheiten in einer vollkommen richtigen
Weise gesprochen. Es hat in der kurhcssischen Frage das von der Gegenpartei
angetragne Compromiß abgelehnt und das alte gute Recht vertreten. Möge
es dasselbe in der Schleswig-holsteinischen thun. Was dort die Verfassung von
1 860, das ist hier eine jede Verfassung, die sich auf das Patent von 1852
gründet, gleichviel welche. Wird dort die Probe für die Entschlossenheit des
berliner Cabinets in dem bevorstehenden Zusammentritt der Stände kommen,
so ist sie auch hier nicht fern, da demnächst auch in Schleswig-Holstein wieder
Stände tagen werden, von denen zu erwarten ist, daß sie, durch die Erfahrung
belehrt, wie mit einem Compromiß nichts zu erreichen ist, einfach das alte
Recht zurückfordern werden.
Damit aber Preußen hier thun kann, was wir für seine Pflicht halten,
bedarf es einer Ernuithigung von der gesammten Nation. Erwarten wir von
ihm ein beherztes Auftreten, so zeigen wir anderen uus ebenfalls beherzt. Ohne
einen mächtigern Rückhalt in der öffentlichen Meinung als der ist. den es bis¬
her fand, wäre ein energisches Vorgehn in der Sache Schleswig-Holsteins
nickt Beherztheit, sondern Tollkühnheit. An uns ist's, durch fleißiges, eifriges
Arbeiten in Privatkreisen, in der Presse, durch unsre Abgeordneten in den
Volksvertretungen auf die Regierungen zu wirken, daß der Bundestag seine
volle Schuldigkeit thut. Bis jetzt ist davon, wie in andern Fragen so auch
in dieser fast nur von Preußen gehofft, wenig für Preußen gethan worden. Mag
etwas Wahres daran sein, wenn man sagt, Preußen müsse sich das Vertrauen
des übrigen Deutschland erst noch verdienen, so hat der Gegenvorwurf, das
übrige Deutschland erschwere ihm dahinzielendcs Handeln durch sein Mißtrauen,
sicher weit mehr Berechtigung. Glauben wir statt zu zweifeln, geben wir uns
hin, statt zu mäkeln, und es wird sich durch die Wechselwirkung zwischen der
Nation und der mächtigsten ihrer Regierungen eine Schwung- und Schlagkraft
entwickeln, mit welcher gerüstet, wir in Bezug auf unsre Interessen in Trans-
albiugicn mit viel größerer Begründung das zuversichtliche Wort des italie¬
nischen Patrioten nachsprechen können: „Wir wollen Herr sein in unserm Hause,
mögen die Allmächtigen der Erde es wollen oder nicht wollen!"
„Don Liborio" — so fragte im Juni dieses Jahres den eben zum Mi¬
nister des Innern ernannten altliberalen Advocaten Romano einer seiner
ehemaligen Clienten, „wen werden Sie jetzt verrathen, den König oder Gari-
valdi?" — „Aber," antwortete Romano, „ich bin ja jetzt constitutioneller Mi¬
nister!"
Diese Unterhaltung fand im Cafe d'Europa statt, dem am Zusammen¬
stoß der Toledo- und Chiajastraße dem Largo ti Palazzo gegenüber so herr¬
lich gelegenen Caffeehause, dem stets brodelnden Heerde der politischen Um¬
triebe Neapels, seit diese nicht mehr das Dunkel der Verborgenheit zu suchen
brauchen. Liborio Romano hatte ebenda noch vor wenigen Wochen eine
Collecte sür Garibaldi in Circulation gesetzt, auf welcher außer dein seinigen
noch die Namen mehrer seiner späteren Kollegen im Cabinet des constitutio-
nellen Königs verzeichnet standen.
Ein lautes Gelächter von den Marmortischen rings umher erschallte auf
diese verlegenen Worte des alten Verschwörers, welcher, theils um sich der
unangenehmen Lage zu entledigen, theils wohl auch um über seines Herzens
Meinung keinen Zweifel aufkommen zu lassen, am Ende in die allgemeine
Heiterkeit mit einstimmte.
Dieses Gelächter kündigte an, was in den letzten Tagen geschah. Die
Bourbonen sind vom Throne gestiegen. Als constitutioneller Beherrscher
seiner Staaten hat Franz der zweite das Lachen jenes Ministers um kein
volles Vierteljahr überlebt.
Diseitö MsMg-in moniti! ruft die Katastrophe den Dynastien Europas
zu. In der Politik werden die Sünden der Väter an den Kindern heimge¬
sucht bis ins dritte und vierte Glied. War es möglich, einem Bourbonen zu
trauen, der in einem Augenblicke der Noth eine Verfassung gegeben? Aber
auch das Volk dieses Königs, welches in dieser Revolution nicht mit der Kraft
der moralischen Ueberzeugung für das Recht gegen die Fürstengewalt aufgetreten,
sondern nur gleichgiltiger Zuschauer gewesen ist des Verrathes, der seinem Fürsten
den Boden unter den Füßen weggezogen, wird noch lernen müssen.
Vorgestern, von ^mein Ausfluge nach Sorrent zurückkehrend, fand ich in
Castellamare bedeutende Truppenmassen, welche, von Neapel kommend, mit
der Eisenbahn nach Nocera befördert werden sollten. Garibaldi, hieß es, sei
in Salerno; die dort zu seiner Abwehr aufgestellte, zahlreiche königliche Armee
habe ihre beinahe uneinnehmbare Position ohne Schwertstreich aufgegeben,
und der König, welcher sich in der Hauptstadt nicht mehr sicher fühle, wolle
sie noch denselben Abend verlassen und in Gaöta Schutz suchen.
„Das heißt," so faßte mein Begleiter, ein durch längern Aufenthalt in
Neapel mit den dortigen Verhältnissen vertrauter Mann, diese Mittheilungen
zusammen, „heute Abend wird Europa einen Thron weniger haben." —
„Aber," fügte er hinzu, „sprechen wir nicht davon; vielleicht ist es ein künstlich
in Umlauf gesetztes Gerücht, welches nur den Wunsch des revolutionären
Comites und der Minister, nicht die wirkliche Absicht des Königs ausdrückt.
Wer weiß, wie die Sache sich noch wenden kann." —
Vergebliche Vorsicht! War der unglückliche Monarch einmal bewogen worden,
sich des Haltes seiner noch in der Hauptstadt stehenden Truppen zu entledigen,
von denen man freilich keinen regelmäßigen Kampf für die legitime Sache, wol
aber Plünderung und Excesse befürchtete, so ließ sich überhaupt kein Damm
mehr denken, an dem die Wogen des Umsturzes sich hätten brechen können.
Ich wurde auf den Vertreter Frankreichs aufmerksam gemacht, welcher, offen¬
bar in Folge der erhaltenen Nachrichten, von seinem Landgute in Castella-
mare zur Stadt eilte, um dem Ausgange der Dinge beizuwohnen. Es war
ein dicker, kurzer Herr von ungemeiner Lebendigkeit in den Mienen. Sein
Gesicht drückte Freude, ja Triumph aus über den endlichen Erfolg der so
lange durch die Scylla aufrichtiger Gehässigkeit und die Charybdis geschmink¬
ter Freundschaft auf dies eine Ziel losgcsteuerten Politik seines Herrn und
Meisters. Nur Geduld. Herr Gesandter! Siege sind oft Niederlagen. Mehr
als äußerlich gewonnen wird, geht innerlich verloren durch den sich in die
allmülig ernüchterten Gemüther einnistenden Widerstand. Der Grundsatz
der legitimen Erbfolge ist es, welcher Europa den ersten Rang unter den
Erdtheilen gesichert hat, auf welchem die ganze Weltgeschichte als auf das
erste Erfordernis einer dauernden Staatenbildung hinweist. ' Wenn auch
schmählich von den Bourbonen verunziert, ficht dennoch d"le Legitimität für sie
gegen die muratistischen Gelüste. Ob dieser Kampf so ausfallen würde,
wie man es jetzt in den Tuilenen wünschen mag? Darüber kann sich nur
egoistische Beschränktheit täuschen.
An den verschiedenen Stationen, Torre della Nunziata, Torre del
Greco und Portici lagen auf den Bahnhöfen Truppen, den abendlichen Haupt¬
zug, der sie mitnehmen sollte, erwartend. „Dove g,mela,te?" riefen ihnen aus
allen Wagenfenstern Neugierige zu. Einige antworteten: nach Nocera, an¬
dere: nach Capua, uoch andere: wir wissen's nicht. Sie hattey Alle recht, am
meisten die letzten.
Als wir die Stadt erreichten, war es dunkel. Wir eilten nach dem To¬
ledo hinaus, dieser prächtigsten unter den prächtigen Straßen Neapels, welche
zugleich als ihr politischer Wärmemesser gelten kann. Wie sonst walzte sich
zwischen den hohen Palastreihen unübersehbar zu Wagen und zu Fuß durch
laut schreiende Obst-, Limonade-. Confect- und Zeitungsverkäuferinnen die
wohlgekleidete Menschenmasse, welche allabendlich dort nach der Glut des Ta¬
ges Erholung zu suchen pflegt. Wir fragten einen müssig dastehenden alten
Mann, was man vom König höre. Auf die italienische Anrede antwortete
der Greis in gebrochenem Französisch mit dem Erbieten uns zu einer „Mo
ÄemoiskUö" zu führen. Wir fragten einen zweiten, der uns als Antwort
seine Dürftigkeit klagte. Andere hatten überhaupt keine Zeit, uns Rede zu
stehn, bis wir im Cafe Benvenuto erfuhren, daß der König erst den fol¬
genden Tag reisen werde. Wir sahen ein, daß wir ohne etwas zu versäu¬
men uus in unsern Gasthof zurückziehn konnten, die Physiognomie der Stadt
war noch unverändert.
Am folgenden Morgen hörte man über die Vorgänge im Palaste, welche
zu der plötzlichen Entscheidung geführt hatten, das Nähere. Nachdem die
Bemühungen der revolutionären Comites, und des Ministeriums die Massen
zu einer Kundgebung im Sinne der italiemschen Einheit fortzureißen, gari-
baldinische Proclamationen, Aushänge der Porträts von Garibaldi und Victor
Emanuel in allen Bilderläden der Stadt, Verbot der Porträts der könig¬
lichen Familie in deu Schaufenstern. Bestrafung der Personen, welche den
König'hochleben ließen u. s. w. — nachdem alle diese Bemühungen, trotz der
Unterstützung von fünf im Hasen liegenden piemontesischen Kriegsschiffen.
von zwei Regimentern Bersaglieri, welche frei an das Land kamen und dort
die Huldigungen des Comites empfingen, von einem ganzen Schwarm poli¬
tischer Emissäre, deren Vereinigungspunkt das Hotel der sardinischen Gesandt¬
schaft war. keinen Erfolg gehabt hatten, benutzte der Minister des Innern
den ersten Schrecken der Nachricht von dem Verluste Salerno's. bei dem Könige
einen Ministerrath zusammen zu rufen, zu welchem auch die Generalität zu¬
gezogen wurde. Der körperlich wie geistig schwächliche junge Monarch hatte
bis dahin die ernstliche Absicht gehegt, sich, wenn der Aufstand den Thore» der
Hauptstadt nahe komme, selbst an die Spitze seiner Truppen zu stellen und wenig¬
stens die militärische Ehre der Neapolitaner zu retten, Nur hatten die fast
täglichen schmerzlichen Ersahrungen von Treulosigkeit und Verrath unter den
seiner Person am nächsten Stehende», seinen Verwandten, seine» Generälen
und hohen Civilbeamten, es noch nicht zur Ausführung dieses Planes kom¬
men lassen, welcher, wenn auch im Begriff, unter dem steten Zaudern zur
bloßen Chimäre zu werden, dennoch dem Ministerium Besorgniß einflößte.
Die Masse der Soldaten in der Hauptstadt hatte noch kein Symptom des
Abfalls gezeigt, sie schien im Gegentheil ihrem Kriegsherrn noch blindlings
anzuhängen. Waren auch die hohem Officiere für Garibaldi gewonnen, so
lag doch in ihrer Unzuverlässigkeit selbst für das Ministerium ein .Bedenken.
Die königlichen Truppen sind ein vortreffliches Material, kräftige Bursche, gut
genährt, gut gekleidet, gut bewaffnet. Von Garibaldi's Leuten soll sich dies
nicht sagen lasse». Bei gleicher Führung, ja bei irgend welcher ernstlichen
Führung der königlichen Truppen überhaupt, konnte der Ausgang des
Kampfes kaum zweifelhaft sein. War es also undenkbar, daß einer der ab¬
trünnigen Generale, cuigezogc» durch ihm persönlich sich bietende Vortheile,
nun anch wieder Garibaldi verrieth und dnrch einen glücklich geführten Schlag
das Prästigium zerstörte, welches bis jetzt den kühnen Abenteurer und seine
Unternehmungen umgibt? — Diese Gefahr wurde vermieden, sobald es ge¬
lang, den König zum Preisgeben seiner Hauptstadt und zum Zurückziehn sei¬
ner Truppen zu bewegen; in diesem Falle aber hoffte man eine endliche
Kundgebung der Bevölkerung für ein einheitliches Italien eintreten zu sehn,
und sicher hatte man Aussicht, für die Zwecke der Revolution die neapolita¬
nische Flotte zu gewinnen, deren Befehlshaber durch den Oheim des Königs,
den elenden Grafen Aquila, längst demoralisirt worden waren. Das ein¬
stimmige Votum der Minister und Generäle lautete dahin, daß Neapel für
den König keine genügende Sicherheit biete, und daß er sich nach der Festung
Gaeta zu begeben habe. Der rathlose, junge Monarch ließ sich bewegen,
darauf einzugehn.
Der Morgen des 6. Sept. zeigte den Neapolitanern zum ersten Mal in
diesem Herbst einen bedeckten Himmel; man hörte fernes Donnern und aus
dem vom Meere aufsteigenden Gewölk fielen von Zeit zu Zeit schwere, warme
Regentropfen nieder. Das abergläubische Volt, durch die Comites während
der Nacht von dem bevorstehenden Abzüge des Königs und der Truppen in
Kenntniß gesetzt, schien dies als ein böses Omen aufnehmen zu wollen. Eine
Anzahl alter Weiber hatte sich schon früh heulend und händeringend auf dem
Schloßplatze aufgestellt, „Der Himmel selbst weint!" hieß es in der ganzen
Stadt. Solche Hebel ihrer Politik — der vornehmste ist das Blut des hei¬
ligen Januarius — haben die Bourbonen sich sonst immer gern zu Nutze
gemacht. Aber hier war Niemand, der dazu im Stande gewesen wäre. Der
König hatte noch das feste, hochgelegene Schloß Se. Elmo und die verschie¬
denen kleinern Forts am Meere, von denen aus er die Smidt in kurzer Frist
in einen Schutthaufen verwandeln konnte. Er hatte noch seine Soldaten
und vor allen Dingen Geld! Dies letztere allein wäre in seines schlauen Va¬
ters Händen vielleicht genügend gewesen, den Begebenheiten eine ganz ent¬
gegengesetzte Richtung zu geben; denn noch wagte außer einigen Ezaltirten
Niemand in der Stadt, sich gegen ihn auszusprechen. Aber keine Sache ist so
sehr verloren, als die sich selbst aufgibt.
Inzwischen erschienen bei den verschiedenen Hoflieferanten und Juwelie¬
ren, den Handwerkern des Königs und der königlichen Prinzen Emissäre des
Cömitvs. um ihnen freundschaftlichst anzurathen, die königlichen Wappen von
ihren Thüren abzunehmen. Aehnliche Rathschläge waren in Neapel in der
letzten Zeit oft ergangen, namentlich an die wohlhabenden Bürger, sich doch
mit einer so und so hohen Summe bei dem patriotischen Fond zu betheiligen;
— die Ueberbringcr pflegten dabei mit der geballten, wagerecht gehaltenen
Faust von der Herzgrube nach Außen zu zucken, ein dem Italiener ungemein
verständlicher Hinweis auf seine Nationalwaffe, welcher ihn, sogar wenn es
sich um seinen Beutel handelt, zu schleunigster Anerkennung des Unvermeid¬
lichen bewegt. Daß also in Strada ti Toledo und Strada d> Chiaja die könig¬
lichen Wappen bald verschwunden waren, ist leicht begreiflich. Es machte dies
auf die Gewerbtreibenden einen sehr peinlichen Eindruck, welcher sich darin
äußerte, daß sofort die sämmtlichen Läden von Gold und Schmucksachen, von
feinen Lavaschnitzcrcien und Korallenarbeiten, ein Haupterwerbzweig der Stadt,
geschlossen wurden. Zu Excessen kam es übrigens, mit Ausnahme der Zer¬
störung des in Stuck ausgeführten königlichen Wappens über der Artillerie-
caserne, nicht, und es ließ sich nicht bemerken, daß die in den geringern-Stadt¬
theilen so zahlreichen Hut-, Handschuh- und Schuhmacher, die Messing- und
Eisenarbeiter, die Sattler, die Mattcnflechter u. s. w. sich in ihrer Arbeit
hätten stören lassen.
Mancher war bei der allgemeinen Ruhe wol schon geneigt, an ein aber¬
maliges Verschieben der Abreise des Königs zu glauben; aber bereits am fru-
hin Nachmittage hatte man wieder eine Vordeutung, die seinen Zweifel mehr
aufkommen ließ. Die Königin Mutter mit dem Grafen und der Gräfin Tra-
pani, die einzigen dem königlichen Paare treu gebliebenen Mitglieder des
Hauses Bourbon, fuhren auf einem östreichischen Schiffe nach Gaöta ab. Der
König selbst hatte die Absicht, am Abend auf seinen beiden Dampfkriegsschiffcn
Mvnarca und Bordone nachzufolgen, da ihn noch verschiedene Geschäfte an
seine Residenz fesselten. Er lieh die Häupter der Nationalgarde vor sich er¬
scheinen, dankte ihnen für die der Sache der Ordnung bewiesene Hingebung
und empfahl ihnen, ferner für die Ruhe der Hauptstadt zu sorgen. Dann
stellte er den noch in Neapel befindlichen Truppen die Wahl, ob sie von ihm
ihres Eides entbunden zu werden, oder ihm nach Gaöta zu folgen vorzögen.
Sie entschieden sich fast einstimmig für letzteres; dagegen zeigte von den in
seines Vaters und seinem Dienst ergrauten Generälen nur ein einziger sich
bereit, dieses treue Corps anzuführen. Er erließ auch zwei Manifeste, das
eine als Protest für die Rechte seiner Familie gegen die Usurpation, und das
andre zur Erklärung seiner Abreise, welche er durch den Wunsch motivirte,
seiner Hauptstadt die Schrecken des Kriegs zu ersparen. Wie er darin dem
Beispiel andrer Fürsten in gleicher Lage folgte, so werden auch die beiden
Actenstücke kein von andern ähnlichen verschiedenes Schicksal haben, d. h. das
erstere wird nichts helfen, das letztere keinen Glauben finden.
Nun aber trat ein andrer, unvvrhergesehner Fall ein. Aufgefordert sich
in Bereitschaft zu setzen, verweigerten die Capitäne des Monarca und Bor-
done, ihren König aufzunehmen! Man sagt, das Comite habe sie für den
Fall, daß sie nach Gaöta gingen, mit dem Stilett bedroht. Ich glaube, daß
dies nicht nöthig gewesen; denn das eigne Interesse der beiden Officiere genügt,
diese Weigerung zu erklären. Der König wandte sich nun an den spanischen
Gesandten, welcher ihm bereitwilligst eine im Hafen von Neapel stationirte
Dampfcorvette zur Verfügung stellte. Während die obern Schichten der Ge¬
sellschaft wieder auf dem Toledo hin und her wogten, verließ, gedeckt von der
Dunkelheit, um acht Uhr Abends, unbemerkt und von Niemandem beachtet, der
unglückliche Sproß des unglücklichsten Fürstcngeschlcchts unsrer Tage das Schloß
seiner Väter und seine Residenz, die schönste Stadt auf dem Erdboden.
Auch ich schlenderte an jenem Abend mit einem Bekannten auf dem To¬
ledo umher, wo die Ereignisse des Tags, wie für alle Welt so auch für uns,
den einzigen Gegenstand der Unterhaltung bildeten. Die königlichen Manifeste
waren angeschlagen, Alles drängte sich sie zu lesen, aber kein Urtheil war zu
hören. Es schien, als ob Niemand fühle, daß für ihn die Sache ein andres
Interesse als das der Neugierde habe. Ich bemerkte nur einen ältern Herrn
der sich mit einer gewissen Gutmüthigkeit zu den Worten hinreißen ließ: ?o-
vsi-0 xieeolo, alte ooso. Ira, kirtto! „der arme Junge, was hat er denn gethan?"
Eine Antwort wurde ihm nicht zu Theil, die große Menge wußte nichts von
solcher Sentimentalität. So jung sein und eine Krone wie die von Neapel
verlieren, ohne auch nur einen Schatten von Mitleid rege zu machen, — ein Opfer
feigen Verrnths der Seinen werden, ohne auch nur einen Gedanken von
sittlicher Entrüstung aufsteigen zu sehn, das ist das besondre Mißgeschick des
Sohnes des Ne Bomba. Keine Anekdote, die irgend wie auf geistige Bega¬
bung oder menschlich-freundliche Gesinnung schließen ließe, wird von diesem
Fürsten in seiner Hauptstadt umhergetragen; selbst die auswärtige Diplomatie,
welche ihm die Thaten seines Vaters nicht zur Last legt, ist in Verlegenheit,
wenn sie etwas anführen soll, um Interesse für ihn zu erwecken. Seine eid¬
brüchigen Diener versichern, daß er feige, falsch und lügenhaft sei, und es
mag dies wahr sein, denn wie konnte sich in solcher Umgebung ein tüchtiger
Charakter ausbilden? Demnach ist Franz der Zweite nur als Sohn und Erbe
des Re Vomba gefallen. Wenn sein Vater keine Staatsbeamten wollte,
sondern nur Spione und bezahlte Schergen des De spo disen u s um sich
duldete, wenn er jede Regung von Talent und Gesinnung, mit rücksichtsloser
Grausamkeit niederhielt, da konnte auf den jungen Konig der Staatsorganis¬
mus nur als eine classificirte Gesellschaft von Verräthern übergehn. Diese
Gesellschaft flog auseinander, als die eine alle Fäden zusammenfassende und
mit Geschick die klingende Grundlage aller Korruption spendende Hand erkaltet
war — sür fremdes Gold warf Filanghicri unter die Schweizer den Erisapfel,
der zu den Excessen und zur Auflösung dieser einzig verläßlichen Söldnertruppe
führte, für fremdes Gold waren alle Beamte feil, und wo jemand noch äußer¬
lich treue Gesinnungen an den Tag legte, lag nur die Absicht zu Grunde, seine
Ehre möglichst hoch zu verwerthen.
Plötzlich erschallte vom Largo ti Palazzo her Militärmusik. Alle Spa¬
ziergänger wandten sich dahin, auf vielen Gesichtern sah man Spuren des
Schreckens. Doch beruhigte man sich schnell, es waren die treugebliebnen Re¬
gimenter, welche mit klingendem Spiel, mit Fahnen und vorgetragenen auf
Stangen befestigten Laternen abzogen. Es ist eine schone Truppe, diese Nea¬
politaner, gewandte Leute, denen die kostbare, geschmackvolle Kleidung vortreff¬
lich steht. Munter, als Wenns zur Wachtparade ginge, marschirten sie durch
die Spalier bildenden Massen dahin. Dem ersten Regiment folgte bald ein
andres, dann ein drittes, ein viertes, bis die garibaldisch gesinnte National¬
garde als einzig bewaffnete Macht in der Stadt dastand. Auch hier wagte
Niemand ein Wort des Spottes oder Hohnes laut werden zu lassen. Die
Menge beobachtete ein dieses Schweigen — man hätte an einen nächtlichen
Leichenzug denken mögen, wenn die lustigen Melodien der Hornisten nicht die
Illusion niedergehalten hätten.
Während also äußerlich dieser Abend einen so ruhigen Verlauf nahm,
hielt das revolutionäre Comite eine stürmische Sitzung, welche sich bis gegen drei
Uhr Morgens hinzog. Es handelte sich darum, was nun mit dem herren¬
losen Königreiche angefangen werden sollte. Aus dem Chaos der allgemeinen Ver¬
neinung des Alten, Bestehenden, hatten sich längst zwei einander schroff gegenüber¬
stehende Parteien gebildet, die wir kurz als Cavonnsten und Mazzinisten, mo¬
narchische und republicanische Unitarier, bezeichnen wollen. Jene verlangten
einfachen Anschluß an Piemont oder Anerkennung des Königs Victor Emanuel
als König von Italien, diese wollten eine neapolitanische Republik mit der
Aussicht, in kurzer Frist den ganzen Nest der italienischen Halbinsel zu annec-
tiren. Die Cavomistcn, von dein Marquis von Villamarina, dem piemonte-
sischen Gesandten ovganisirt, von der im Hafen stationirten piemontesischen See¬
macht unterstützt, schritten sofort zur Mahl einer provisorischen Regierung,
welche vor Garibaldis Ankunft — darauf legte man ein besondres Gewicht
— die Einverleibung Neapels in das Reich des Ne galantuomo aussprechen
sollte. Dagegen sperrten sich die Mazzinisten mit solchem Ungestüm, daß man
eine Weile an ein bevorstehendes Blutvergießen glauben konnte. Diese Partei,
welche mit ihrem letzten Worte vor die Öffentlichkeit zu treten noch nicht
wagt, war in jüngster Zeit für Garibaldi besonders thätig gewesen und hofft
ihn noch zu ihren politischen Ansichten hcrüberzuziehn; die Wahl zwischen einem
Aufgehn Neapels in ein piemontesisches oder ein garibaldisches Italien konnte
ihr also nicht zweifelhaft sein. Während der König seine Anordnungen zur
Abreise traf, hatte Garibaldi seinen feierlichen Einzug in dem nahen Salerno
gehalten, von wo er erst den 8. d. M. hier in Neapel eintreffen wollte. Um
die cavounstischeu Pläne zu vereiteln, galt es seine Ankunft zu beschleunigen.
Botschafter gingen über Nacht nach Salerno, und schon früh Morgens wußte
man, daß der große Condottiere, nur von Cosenz und Türr begleitet, heute
Mittag seinen Einzug in Neapel halten wolle.
Es ist am Abend eines bewegten Tages, daß ich mich zu diesen Aufzeich¬
nungen niedersetze — soeben komme ich von einer Fahrt durch die zu Ehren
Garibaldis festlich erleuchteten Straßen Neapels zurück. Schon früh war die
italienische Tricolore mit dem savoyischen Kreuz hie und da ausgehängt wor¬
den; die Zahl dieser Fahnen mehrte sich vor den Häusern mit unglaublicher
Schnelligkeit, als zahlreiche Banden von Lazzaroni, ebenfalls mit solchen Ban¬
nern versehn, unter Trommelschlag und furchtbarem Geschrei „evviva, LsirridalcU!
üvviva 1'It.g.lig.!" gegen neun Uhr Morgens ansingen die Straßen zu durchzieh«.
Das Ansehn der Stadt wurde immer bedenklicher. Den Fahnenträgern ge¬
sellten sich außer dem unerwachsenen Janhagel, der hier, was Lärm machen
anbetrifft, das Großartigste leistet. Banden von zerlumpten, hungrig aussehen¬
den Pikenmännern bei. Die Vorübergehenden wurden gezwungen, das Sym¬
bol der italienischen Einheit zu begrüßen, die Nationalgarde trat davor ins
Gewehr. Geschäfte hinderten mich den Einzug des Dictators zu sehn. Als
ich gegen ein Uhr nach dem Toledo eilte, befand er sich schon in der Stra-
ncna Reale, den, am Largo ti Palazzo gelegnen geräumigen Palais, wo die
Könige von Neapel ihre Gäste einzuquartieren pflegten. Kaum 1500 Personen
aus einer Stadt von einer halben Million Einwohner hatten sich dort ver¬
sammelt, um ihren Befreier durch Zuruf und Hütcschwiugen zu bewillkommnen,
wenn er, was oft geschah, in seinem rothen Hemde auf den Balcon heraus¬
trat. Dies nieist der Hefe der Bevölkerung angehörige Publikum ver¬
schwand so zu sagen auf dem ungeheuern Raum der Schloßfreiheit. Das
königliche Palais war verschlossen, ohne Wache; nur hinter dem Gitter des
Schloßgartens bemerkte man noch die brillante Uniform der Guardia reale.
In den industriellen Stadttheilen war Alles bei den gewohnten Beschäftigungen.
Bon Enthusiasmus ließ sich hier trotz der seit dem Morgen fortgesetzten Um¬
züge künstlich fanatirsiter Evviva-Unser kaum eine Spur bemerken.
Indessen Enthusiasmus war nöthig, somol des Inlands als auch des
Auslands wegen. Es wurde zu dem Zwecke in der üblichen eindringlichen
Weise die allgemeine Illumination angesagt. — wer hätte gewagt, sich einem
solchen Befehl zu entziehn? -- Am Nachmittage erfuhr man, daß Garibaldi
ein neues Ministerium mit Liborio Romano an der Spitze gebildet habe; am
Abend sprach man schon davon, daß von diesem Ministerium 65,000 Ducati
gespendet worden seien, um die schlummernden patriotischen Gefühle der Nea¬
politaner zur Extase zu erwecken. Ebenso hatte der verstorbene König seine
lumpige Noyalistengarde zum Angriff auf die liberale Stadt begeistert. Einen
wunderbaren, einen unauslöschlichen Eindruck machte übrigens auch dies in der
ganzen Stadt improvisirte Volksfest, namentlich in der Toledostraße. Zwi¬
schen den himmelhohen, bis oben mit Lampions und Tricoloren geschmückten
Häusern drängte sich Wagen an Wagen langsam und majestätisch durch eine
unzählbare, mit Fahnen, Schärpen und Cocarden bunt ausgeputzte Volks-
masse. Auf den Wagen standen, in der eigenthümlichen Beleuchtung sich rei¬
zend ausnehmend, in Weiß mit tricoloren Schärpen oder in die garibaldische
rothe Blouse gekleidet, Mädchen und Frauen, die Fahnen und Dolche schwan¬
gen und zum Einstimmen in das betäubende Evviva-Geschrei aufforderten.
Neben den Weibern sah man, Fackeln in den Händen, zum Theil in wvhldrap-
pirten Lumpen, zum Theil auch in wirklich gelungenen Costümen. junge Män¬
ner mit allen Abzeichen des revolutionären Italiens, bisweilen auch Geistliche
mit einer Schärpe über der schwarzen Sutane, oft zwölf Personen auf einem
viersitzigen Wagen. Wildaussehende Proletarier waren überall vertheilt,
um den zu Wagen und zu Fuß Vorüberziehenden brennende Fackeln nufzu-
nöthigen — man brauchte dafür nur ein Almosen zugeben; denn die Regier¬
ung hatte Alles bezahlt. Je später der Abend, um so entsetzlicher wurde die
Scene, um so leidenschaftlicher die Geberden, um so höllischer der Lärm.
Aus den engen Nebengäßchen brachen ganze Schwärme von verdächtigen
Frauenzimmern mit Dolchen und Pistolen bewaffnet hervor und bahnten sich
mit kreischenden Geschrei ihren Weg, die Pikenmänner, jetzt von schmutzigen
Mönchen mit Fackeln begleitet, erschienen ebenfalls wieder — die wüthende
Ertase, welche sich in Mienen, Gesten und Schreien ausdrückte, hätte mich in
Lebcnsangst gesetzt, wenn dies Volk, anstatt Maccaroni zu essen, der nordischen
Passion des Trinkens huldigte. Dennoch war ich froh, als ich ohne Schaden
meine Wohnung wieder erreichte.
Garibaldi hat, wie früher in Calabrien, so auch hier die sämmtlichen
Beamten in ihren Würden bestätigt. Romano hatte ja schon als constitutio-
neller Minister Sorge getragen, überall nur Garibaldianer anzustellen. Der
Uebergang von der legitimen zur revolutionären Regierung ist also ein fast
unmerklicher gewesen. Einige Cavouristen sind sogar verhaftet worden, d. h..
es soll kein Pnrteiwesen geduldet werden. Indessen haben viele wohlhabende
Familien die Stadt verlassen, die Gasthöfe sind leer, der Handel liegt dar¬
nieder und an hohen Contributionen wird es nicht fehlen. Ob die Neapoli¬
taner auf die Dauer zufriedener mit der Regierung ihres magnanimo Dittatore
sein werden, als es die Sicilianer zu sein scheinen, das wird sich in wenigen
Mehr als zwölf Jahre sind dahingegangen, seit
Oestreich in die Verfassungswehen trat. Der unmittelbare Anstoß mag ein
äußerer gewesen sein, der Grund lag tiefer. Die absolute Monarchie ist nur
so lange möglich, als die Kräfte, welche den Staat ausmachen, nicht zu jenem
Grade des Selbstbewußtseins und der Intelligenz gediehen sind, der sie befähigt
ihre Handlungen zu prüfen und über ihre Zweckmäßigkeit zu entscheiden. Man
kann die Cultur eines Volkes Jahrhunderte lang gegen außen absperren, zurück¬
halten, unterdrücken, der Strom der Zeit durchbricht am Ende jeden künstlichen
Damm, ein Paraguay ist aus die Dauer unmöglich, zumal im Herzen Euro¬
pa's. Der Zwischenfall, daß ein schlauer Despot auf eine intelligente Nation
zeitweilig mit eiserner Faust drückt, steht dieser Ansicht nicht entgegen; sein
Thron, das wissen wir z. B. bei Frankreich, stützt sich auf thönerne Füße.
Ueber kurz oder lang hätte das östreichische Volk auch ohne die Ereignisse des
Jahres 1848 seinen Antheil an der Selbstverwaltung gefordert. Damals über¬
raschten sie uns zum Theil noch unvorbereitet. Die Liberalen der Märztage
waren Neulinge und hatten goldne Träume. Sie dachten sich in schönen Reden
hören zu lassen über Recht und Freiheit, Staat und Kirche, am Ruder sitzend
die Entwicklung der neuen Regierungsform Schritt für Schritt selbst zu leiten,
und als der Sturm über ihren Häuptern wirbelte, waren sie die ersten, die
das Unheimliche der neuen Dampfkraft empfanden und nach dem alten Steuer
griffen. Meistens waren es hartgesottene Conservative des alten Regimes, nur
von etwas strebsamen Geiste. Damit wollen wir jedoch nicht geleugnet haben,
daß sich auch Staatsmänner von echter Bildung und praktischer Anschauung
darunter befanden; die Aprilverfassung war vom richtigen Standpunkte des
Volkscharakters aufgefunden, der den Deutschen vom Ungarn, Slaven und
Italiener schied, nur die Heranziehung der Polen war ein Mißgriff. Nach
Besiegung der Revolution in Italien und Wien machte sich der entgegengesetzte
Grundsatz, jener der Reichscinheit mit straffer Centralisation geltend. Ihm
gab zuerst die Märzverfassung von 1849 ihren ideellen Ausdruck. Möglich,
daß er vom Anblick der drohenden Auflösung und des gänzlichen Zerfalls
des Reiches hervorgerufen wurde, obschon diese nur in den Fehlern und dem
Fluche des alten Polizeisystems wurzelten, jedenfalls lag es im dynastischen
Interesse, sich das Nahe und Ferne, das Gleichartige und Abstoßende, den
geschmeidigen Deutschen und den halbwilden Sereschaner wie durch ein Tele-
praphennetz dienstbar zu machen. Dafür gab die Organisation aller Stellen
und Aemter nach französischem, wenn man will constitutionellen oder auch im¬
perialistischen Muster die gelungenste Handhabe. Die neue Einrichtung fand
so vielen Beifall, daß sie mit geringen Abänderungen auch nach Ablegung der
constitutionellen Formen beibehalten wurde; sie kostete dem Staat große Sum¬
men. Als man jeder Bewegung vollends Herr geworden, stand man auch
nicht an offen zu erklären, daß man hinfort die Früchte so großer Anstrengung
im Schatten der Ruhe genießen wolle. Was man hie und da noch zur
Tröstung des armen Volkes in dienstfertigen Zeitungen von Provincial-
statuten verlauten ließ, es verhallte in den dumpfen Kanzleistuben, die
auf den Vorerhebungen jahrelang den Staub wachsen ließen. Man
schien der vollen Macht und Herrschaft so gewiß, daß man der Hilfe von unten,
der Liebe und Dankbarkeit des Volkes vollends entbehren zu können glaubte;
den Ersatz dafür sollte die Armee mit unüberwindlicher Streitkraft und Stärke
und ein neuer Bundesgenosse, Rom und seine Jesuiten, geben. Die erstere
schien Hunderte von Millionen werth, den letzteren gab man die geistigen und
materiellen Güter des Volkes preis. Das Eoncordat sollte Oestreich in die
finstersten Zeiten des Mittelalters zurückdrängen, es erinnerte um den Ursprung
des katholischen Einheitsstaates unter dem großen Karl, der mit den Send¬
boten sein weites Reich leitete, und die sreie» Sachsen durch die Taufe unter
sein Joch zwang, nur strahlte von seinem Hofe anch das Licht alles Wissens
jener Zeit, und die Kirche griff nicht nach den schönsten Juwelen seiner Krone,
sondern empfing den Hirtenstab aus seinen Händen. Der Segen, den man
sich auf dieser Bahn gesichert, offenbarte sich beim ersten Kanonenschuß im Jahre
18S9. Der Credit, der durch den langen Frieden und die Kunst des klugen
Finanzministers wiedergewonnen schien, war zerrütteter als je, der Krieg allein
erschütterte ihn nicht, denn eine Vermehrung der Staatsschuld um 200 Millionen
führt bei so reichen Hilfsquellen noch zu keinem Staatsbankerott, das Vertrauen
in die Regierung, in den Bestand der gegenwärtigen Verwaltung war gesunken,
man frug sich: Wird auch das Volk für sie einstehn? Das Volk, dem man
nicht einmal ein offenes und biederes Wort vergönnte, das Volk, dem man
die selbstgewährtcn Rechte nahm, und dafür römischen Geistesdruck auflegte,
das Volk, dem man mir immer mehr Steuern und Rekruten abheischte. aber
jede Bitte um politische Freiheit zum Verbrechen rechnete, dieses Volk, das liegt
auf offener Hand, ist theilnahmlos am Schicksal seiner Lenker. In unsrer
östreichischen Vendee, in Tirol, auf dem blutigen Boden der für Habsburg im
Jahre 1809 gefallenen Helden, trat dies eben recht deutlich zu Tage. Selbst
unsre Beamten vermochten auf die eifrige Nachfrage nach der alten Anhänglich¬
keit an das Herrscherhaus nicht die von oben gewünschte Antwort zu geben,
und kein Erlaß des Kaisers wird sie uns einreden. Nicht sie, die hohen Tag¬
gelder, die man, um dem angedrohten Looszwang auszuweichen, den Schützen
zusicherte, stellten diese ins Feld. Wie gering das Vertrauen war, das man in
die Regierung setzte, zeigte z. B. die Aeußerung eines Gemeindevorstehers von
Oberinnthal, der unserm Erzherzog-Statthalter das Ausrücken seiner Leute nur
unter der Bedingung zusagte: „daß man ihnen nichts mehr verspreche." Unsre
Aelpler dachten an die Jahre 1809, 1813 und 1848. Andere Provinzen des
Kaiserstaates werden sich kaum eines größeren rühmen. Welche Hilfe der Staat
von dem verhätschelten katholischen Klerus erwarten darf, beweisen dessen Spen¬
den in der Kriegsnoth von 1859; er empfängt lieber als er gibt, und vertröstet
zweideutig wie alle Orakel auf Se. Michaels Rache.*) Man kennt seinen schlecht
verhehlten Einfluß auf die Leitung der öffentlichen Dinge, man kennt sein
Trachten nach der Knechtung des Geistes, der Bund mit ihm erbittert selbst
den gemeinen Mann. Auch in der Stimmung der Armee trat seit dem letzten
Kriege ein merklicher Umschlag ein.; es lebt in ihr ein blutiges Gedächtniß
an ihre Führer, an die Versorgung vor, die Pflege nach der Schlacht. Nicht
Geschick und Talent, die Hofgunst wird auch künftig zum Marschall befähigen.
Wo ankert die Rückkehr zum Vertrauen? „Glückliche politische innere Institu¬
tionen" werden es wiederbringen, versichert man; hören wir die Anträge.
Das Vcrfassungsprogramm des Freiherrn von Andrian, wol das älteste,
weil schon im Jahre 1851 entstanden, spiegelt die damals systemisirte Reaction.
Die Verfassungen vom 25. April 1848 und 4. März 1849 sind, wie das Bild
jenes umsturzlüsternen Dogen von Venedig, schwarz verhängte Tafeln der Ver¬
gangenheit. Er greift zurück auf das Patent vom 15. März 1848, das die
Abgeordneten aller Provincialständc der Monarchie zur Constituirung des Vater¬
landes zu berufen versprach; eine erbliche, vom Kaiser ernannte Pairschaft soll
das Oberhaus, eine bestimmte Anzahl von Ausschüssen der Provincialstände das
Unterhaus bilden, nachdem vorerst eine Notablenversammlung im Einverständ¬
nis mit dem Reichsrath den Entwurf berathen. Dies Programm faßten nach
ihm alle Bureaukraten, Magnaten und geistlichen Würdenträger als die Grund¬
lage der Restauration auf. die alle Gutgesinnten befriedigt, und jeder gefähr¬
lichen Bewegung Halt gebietet. Auf diesem Wege gelangte der ehemalige
Vicestatthalter in Lemberg, Freiherr von Kalchberg, wiewol aus dem Staats¬
dienst ausgeschieden doch noch innig daran hängend, voll bureaukratischer
Scheu vor der modernen Volksvertretung zum Vorschlag eines Reichsrathes,
der aus Erzherzogen, Ministern, Landcschcfs, Metropoliten und Fideicommiß-
besitzern, auch Superintendenten, Professoren und Banquiers, endlich aus Abgeord¬
neten der zeitgemäß abgeänderten Landtage zusammengestellt, nicht als Parlament,
sondern als Rechtskörper der Regierung rathen, helfen, den Staatshaushalt über¬
wachen soll. Weniger staatsmännisch, aber noch conservativer sprach sich zu
Gunsten einer ähnlichen „Neichsvertretung" der hoffnungsselige Unbekannte in
„Oestreich und seine Bestimmung" aus, und glaubte in hingebender Verehrung
sür den Freiherrn v. Bach, den Vater des Concordats, daß Oestreichs welt¬
historischer Beruf in seiner Stellung als katholische Macht, als Beschützerin
des römischen Glaubens gipfle. Als vollständigsten Ausdruck der ständisch
Gesinnten müßten wir aber jenen den magyarischen Reichsräthen zugeschrie¬
benen Entwurf einer östreichischen Gesammtverfassung betrachten, den anfangs
die „Ostdeutsche Post" und nachher ausführlicher die „Süddeutsche Zeitung"
veröffentlichte. Umsonst haben die Altconservativen ihr Einverständnis; abge¬
lehnt, das „Majoritätsgutachten" gibt, wenn auch als ein sehr abgeschwächter
und verhüllter Ausdruck Zeugniß, daß ihr Herz von jenen Wünschen voll ist.
Vorschnell, verfrüht, indiscret mag jene Publication gewesen sein, doch die
Grundidee blieb auch nachher dieselbe, ein Nachdruck auf Löschpapier vom
pergamentenen Original, etwas unklar, als ob die Worte nur da wären, die
Gedanken zu verhüllen, doch entnimmt man ohne Schwierigkeit, daß die ari¬
stokratischen Urheber im EinVerständniß mit unserer Hochkirche grade so wie
im ersten Entwurf nach der ungarischen Verfassung in das Jahr 1847
zurücklangen, nach der Einberufung des alten Landtags, „Die Anerkennung
der his>ousch-politisckeu Individualität der einzelnen Länder" würde sich nur
durch die Anknüpfung „an früher bestandene historische Institutionen" ver¬
wirklichen, grade so wie der eiste Entwurf auf dem Princip der Continuität
des rechtlichen Bestandes fußte. In diesem Sinne waren auch dort alle Länder
gleichgestellt. Nur die einheitliche Spitze eines Reichstags, dem man früher
außer unvermeidlichen Angelegenheiten des Gesaniintstaates dasjenige anheim
geben wollte, was die Landtage, vor allem der ungarische, an ihn abgeben
werden, ist rücksichtsvoll vermieden. Die Erhaltung des Körpers, dem sie
selbst anzugehören die Ehre haben, genügte den Hofleuten zur ,,Vertretung
des gemeinsamen staatsrechtlichen Verbandes". Dieser Aufstellung trat nach
reiflicher Erwägung auch Graf Clam-Martinitz bei, denn sein System mit dem
überwuchernden Einfluß der alten Gutsherren in den Kreiscongregationen und
der uugarilchen Localantonomie paßte scheinbar ja auch in diese Form/)
Das kroatische Project") hielt die historischen Crinnernngen nur mäßig auf¬
recht, es zeichnet sich durch die Bildung von fünf Krongebicten und die Be¬
rücksichtigung der Nationalgerechtsame aus, und hält durch einen Reichscongreß
mit Abgeordneten der Landtage wie aller Gaue, Comitate und Zungen an
einem Gesammltöiper fest. Einer freieren Ansicht scheint das ,,Minoritäts-
gntachlen" des reichsräthlichen Ausschußes zu huldigen. Nicht nur die Bitte
um eine neue Schöpfung, die der Kaiser aus seiner Machtvollkommenheit ge¬
währen soll, und die Betonung der erweiterten Rechte des Reichsraths als
Beginn neuer politischer Institutionen, sondern namentlich der Schlußantrag
aus Vertretung aller Interessen der Bevölkerung in der Gemeinde, im Land¬
tage und im Reichsrathe weisen aus eine wirkliche Volksvertretung hin. Die
Zurückhnltuug, womit die Andeutungen ausgesprochen sind, die Bezugnahme
auf des Kaiseis eigene Ansprache zur Begründung ihrer Berechtigung, die be-
hntscune Vermeidung jenes verhängnißvollen Wortes, das in hohen und höch¬
sten Kreisen nur mir Schecken vernommen wird, erproben zur Genüge, in
welcher Weise das freie Wort gestattet ist. Der Minoritätsantrag erinnert
u»s an die Worte eines hochbegabten Mannes, den seine Stellung und Er¬
fahrung wol befähigten ein einsichtsvolles Urtheil zu fällen; wir meinen den
Freiherrn v. Brück, Ihm gilt der städtische und ländliche Mittelstand als der
Haupiträger der Urpi odnction, der Industrie, des Handels und der Schiffahrt,
kurz als der Kern des östreichischen Volkes. Hieraus folgt uach ihm der wich¬
tige allgemeine Grundsatz; „eine gesunde, lebensfähige Constituirung des
Reichs darf nickt auf die altständische Gliederung zurückgreifen, sondern muß
sich mit aller Entschiedenheit auf jene Elemente stützen, in welchen die gesammt-
staatlichen und allgemeinen Culturinteressen ihren Schwerpunkt finden, welche die
Fülle und den Fortschritt im wirthschaftlichen und geistigen Leben auch wirk¬
lich tragen und durch welche die wahrhaften Bedürfnisse, das Streben und
überhaupt der geistige Inhalt der Zeit allein auch zur Erscheinung und Gel¬
tung kommen können/' In diesem Sinne sollen die Provincialstände gebil¬
det werden; „um nickt zu aufreizenden inneren Gegensätzen zu führen, er¬
fordern sie, daß eine gcsammtstaatliche Institution, die durch die Reform des
Reichsraihs angebahnt und fortschreitend ausgebildet werden könnte, ein hin¬
längliches, in sich lebensfähiges Gegengewicht abgeben. — Was man auch
biete, weniger als loyale Erfüllung aller Verheißungen der deutschen Bundes¬
acte kann man unmöglich gewähren, wenn man ,die politische Scheidewand,
welche Oestreich vom übrigen Deutschland trennt, wirklich hinwegräumen und
das beiderseitige Vertrauen dauernd befestigen will"*)
nicht vermittelnd zwischen den beiden Anträgen des Reichsraths, sondern
über ihrem Parteigetriebe steht ein Dritter, den wir den Gouvernementaleu
nennen Möchten. Man thut den Lenkern unsrer Geschicke Unrecht durch den
Vorwurf, als handelten sie plan- und rathlos, sie warten eben nur den rech¬
ten Zeitpunkt ab. um mit einer vollendeten Schöpfung hervorzutreten. Schon
das kaiserliche Patent vom 5. März d. I. sprach von Landesvertretungen.
von Vorlagen derselben an den verstärkten Reichsrath. es übertrug diesem die
Berathungen der ihm zugewiesenen Gegenstände, versagte ihm aber die Ini¬
tiative. Die Augsb. Allg., die von den Geheimnissen des Cabinets man¬
ches ausplaudert, was zur Beruhigung der Gemüther dient, beschämte sogleich
einen falschen Propheten der officiösen „Wiener Zeitung", der „diesen Act der
Gesetzgebung als den Schlußstein der Organisationen andeutete", und meinte,
der verstärkte Reichsrath erinnere nicht unangenehm an den geheimen Rath
(Privy Council) der Königin von England.^) Wer weiß nicht, daß England
die freieste Verfassung in ganz Europa hat? Auf die neuen vorerst von der
Negierung allein zu ernennenden Mitglieder legt jener Berichterstatter aus
Wien ein besonderes Gewicht, „ihr durch Unterstand nicht getrübter, wirklich
staatsmännischer Geist werde den ständigen Reichsrath mit kräftigenden Hauch
anwehen." Und siehe da, eben als die Kämpfe im Reichsrath fast so er¬
bittert zu werden drohten, als einst die der Horatieri und Curiatier, that so
ein frischer vom Leben geschärfter Geist den Mund auf und legte in warmen
und begeisterten Worten einen die Grundzüge des Patents für Ungarn vom
19. April d. I. ausführenden Plan der Neugestaltung Oestreichs „Palinge-
nesis" genannt, nicht dem Reichsrath, sondern dem ganzen östreichischen Volk
zur beruhigenden Einsicht vor. Auch Graf Rechberg erinnerte in der NeichS-
rothssitzung von 11. d. M. an dasselbe Patent als Gewähr gegen die Rück¬
kehr des alten Systems. Diese „Palingenesis" scheint nun fast alles zu ver¬
künden, was man in höheren Kreisen als politische Nothwendigkeit ansteht,
freie Bewegung der Gemeinde in der Rechtssphäre ihres eigenen Haushalts,
Kreiscongregationen mit Beizug aller durch Besitz und Bildung hervorragen¬
den Kräfte, die ihr Mandat durch Majestätsbrief erhalten, administrative Land¬
tage mit Ausschluß der Politik, endlich als Krone des Baues den Staatsrath,
jenes historische Privy Council. welches „der Gedanke des Monarchen im Sta¬
dium der Erwägung" ist. also eben unsern verstärkten Reichsrath, ohne wei¬
tere Entwicklung versteht sich, da hiedurch schon der äußerste Schritt vorwärts
gethan ist. Politische Institutionen auf excentrisch gelegenen Punkten des
Reichs vergleicht der Verfasser mit mehreren Seelen in einem Körper; daran
gemahnt ihn namentlich der ehemalige ungarische Landtag. Die Broschüre
ist nur eine öffentliche und im Einzelnen ausgearbeitete Mittheilung jener frü¬
her im Manuscript wenigen Auserwühltcn anvertrauten Gedanken des Gra¬
fen Clam-Martinitz, zugleich das Programm, womit der östreichische Tory
künftig als Minister debütiren will. Seine jetzigen Freunde, die bei der Wieder¬
geburt des constitutionellen ungarischen Landtags Gevatter stehen möchten,
sollen ihn nur an das Ziel seiner Wünsche tragen.
Kein Zweifel, man wird die feudalen Stände zeitgemäß abändern, nicht
als ob das Kleid, worein sie sich hüllen, zu altfränkisch, sondern weil die Rechte,
die sie beanspruchen, nicht für unsern absoluten Einheitsstaat passen. Auch
eine starke und autonome Vertretung der geistigen und materiellen, Cultur-
und Wirthschaftsinteressen dürfte sich angesichts der tiefen Wurzeln, die sie in
den Boden der Gegenwart getrieben, in zu starkem Wuchse entwickeln. Man
will der Verwaltung bis auf ihre äußersten Ausläufer Herr bleiben, nicht ein
Jota der alten Herrschervorrechte aufgeben, nur der Mechanismus, nicht der
leitende Grundgedanke des absoluten Systems, soll geändert werden. Der
Vorwurf der schleppenden Geschäftsführung, der erregten Mißstimmung, der
übergroßen Kosten trifft nur die Maschine, die Bureaukratie, sie vereitelte die
bestgemeinten Absichten; wolan denn, man lasse die Leute walten im eigenen
Hause, dein Staat erübrigt noch das umfangreiche Gebiet der geistigen und
materiellen Wohlfahrtspflege, dadurch kehren Sparsamkeit, Vertrauen und
Liebe wieder. Wir vermissen hiebei nur den nothwendigsten Factor, die Opfer¬
willigkeit des Volks. In einer Zeit, wo Unzufriedenheit und Ueberdruh selbst
den Geduldigste» ergriffen, und aus leicht begreiflichen Gründen jeder das
letzte Heil nur in sich, seiner eigenen Kraft sucht, haben solche Entwürfe keinen
Boden, wehe uns, wenn sie zur Ausführung gedeihen, sie ist der Anfang der
Auflösung. Die Rettung kann freilich nur durch das Volk kommen, aber
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durch ein freies Volk, dem man das volle Vertrauen dadurch wiedergibt, das
man ihm das Recht einräumt selbstständigen Antheil an der Schlichtung der
Dinge zu nehmen, woran sein Wohl oder Wehe hängt. Nicht ob. sondern
wie es zu seiner freien Vertretung heranzuziehen, ist die Frage. Hierbei muß
man allererst die Liebhaberei aufgeben, aus Oestreich einen künstlichen Ein¬
heitsstaat zu schaffen. Dafür fehlt es an der absoluten Unmöglichkeit eines
entsprechenden Organs; der Neichsrnth mag als Beispiel gelten.
Man machte sich seine einheitliche Gestaltung so leicht als thunlich: meist
hoffähige, durchaus conservative und wohlgcschulte Leute, aus der sorgfältig¬
sten Wahl hervorgegangen, nach dem Willen ihres Monarchen wie nach dem
Zenith ihrer Wünsche blickend. Trotz alledem gilt der Ausnahmsstellung Ungarns,
seiner Nationalität, Sprache und Verfassung, der legitime Eifer ihrer über¬
wiegenden Mehrheit, Deutschland ist ihre Hekuba. Denke man sich denselben
Körper aus dem Schooße der Landcsvertretnngen hervorgegangen; die Gegen¬
sätze, Reibungen, Kämpfe werden sich in demselben Maße steigern, als man
den Wahlen Freiheit gestattet, das Endergebniß kann nur eine Unterdrückung
der deutschen Minorität oder die Auslösung sein. Ein Reichstag aber würde
selbst dann, wenn man durch eine Vertretung der Interessen den Sauerteig
des Proletariats von den Urwähler ausschiede, und der deutschen Intelligenz
eine künstliche Vermehrung von Stimmführern sicherte, der nationalen Zer¬
fahrenheit nicht steuern; es erübrigt demnach nur die politische Scheidung jener
beiden Hauptträger des Zwiespalts, der in ihrer Gesittung. Cultur, Sprache
und Nationalität liegt, eines Zwiespalts, mächtiger als jede Staaiskunst. Mög¬
lich bleibt nur die Vereinigung Ungarns mit seinen slavischen Nebenländern,
dem theilweise ungarischen Siebenbürgen und dem blondgelockten Bruder in
Polen, gegen eine Verbindung mit Deutschöstreich waltet hier wie dort die
gleiche Abneigung vor; durch Jahrhunderte brachte diese Mißehe uns Deut¬
schen in Oestreich nur Geistesdruck, Knechtung und Trennung von unserm
Vaterland, wie lange sollen wir selben noch dulden? Der weltgeschichtliche Be¬
ruf des untern Donaureichs findet jenseits der Leitha semen Schwerpunkt.
Wenn der Zerfall der Türkei nicht in zu weiter Ferne steht, gesellen sich ihm
nächstens auch halbwilde Stämme in Serbien und Bosnien zu, dann scheidet
sich das magyarisch-slavische Element von selbst aus. Und denkt man auch
ohne diesen Zuwachs wol im Ernste daran, Magyaren und Slaven ins künf¬
tige deutsche Parlament zu bringen?
Zwei Körper also, weil auch zwei Seelen vorhanden, und wenn das
Stück von Lombardovenetien nicht abfällt, mag auch diesem seine eigne Ver¬
tretung werden, nur ohne Einfluß auf die Politik, so lange die seine so ag¬
gressiv feindlich, so erbittert gegen das deutsche Barbarenthum, dem es mit
manchem Jahrhundert den besten Theil seiner Bildung dankt. Ein Rath von
Ministern für das Aeußere, den Krieg und die Finanzen mit besondrer Ver-
tretung der erwähnten Ländergruppen könnte die einheitliche Executivgewalt
bilden, für Kriegsfälle wäre Bundeshilfe, .überhaupt der Maßstab des Bei¬
trags zu gemeinstaatlichen Auslagen durch Vertrag festzustellen.
Vor allem sage man offen, ehrlich und wahr, was man gewähren will;
halbe Zusagen, rückhältigc Gedanken, zweideutige Handlungen können das
Mißtrauen nur noch steigern nicht heben. Beispiele sind gehässig, eins müs¬
sen wir aber dennoch anführen unsrer Rechtfertigung halber. Es dürfte nicht
bestritten werden, daß Oestreich bei der Zusammenkunft in Teplitz aufrichtiges
Eingehn auf deutsche Interessen, zunächst confessionelle Gleichstellung und Ge¬
währung von Verfassungen nach der deutschen Bundesacte zusicherte. Da hören
wir nun, daß unser Erzherzog-Statthalter eben nach jenem Tage von Teplitz,
am Borabend des salzburger Festes, den Auftrag zu einer Denkschrift gegen
die Ansässigmachung der Protestanten in Tirol gab, um sie dem künftigen
Landtag vorzulegen. Für das deutsche Tirol gilt also jene Gleichstellung noch
als eine offne Frage! Wir fürchten sehr, daß die Gewährung politischer Rechte
in Oestreich noch lange im selben Falle sein wird.
In der 15. Plenarsitzung des verstärkten Neichsraths am 21. September ver¬
wies der Ministerrcpräsident Graf Rcchberg in Betreff der Valutafrage auf Vor¬
gänge in England. Das werde man doch — so geben wiener Blätter die Be¬
merkung des Ministerpräsidenten — weder ein crcditarmcs noch ein politisch unfreies Land
nennen, und wie hoch hätten sich daselbst die Schwankungen der Valuta von 1792
bis 1820 belaufen? Ebenso wie damals in England, so seien diese Schwankungen der
Valuta in Oestreich während der jüngst vergangenen Jahre und im gegenwärtigen
Augenblicke vornehmlich die Folgen äußerer Verhältnisse, in denen eine Veränderung
herbeizuführen, außer der Macht der Regierung liege. — Es scheint doch ein kleiner
Unterschied Beachtung zu verdienen. Die Ursache der Bankrestriction in England
von 1797 bis 1819 war der ungeheuere Aufwand für den Krieg gegen die Re¬
publik und gegen das Kaiserreich der Franzosen, wobei die Bank durch ihre Mittel
die Regierung unterstützte. Diese Mittel wurden dem Handel entzogen, und die
Anschaffung von Gold zur Einlösung der Noten nahm vollends ihre Kräfte in An¬
spruch. Da verbot am 27. Februar 1797 (im fünften Kriegsjahr) die Negier¬
ung der Bank, ihre Noten einzulösen. Am nämlichen Tage gab eine zahlreiche
Versammlung der angesehn sten Geschäftsleute unter dem Vorsitze des
Lord Mayor einstimmig die Erklärung: daß sie nach wie vor die Banknoten in
Zahlung nehmen und geben würden. Am dritten Mai genehmigte das Parlament
die Maßregel der Negierung, nachdem eine Commission den Stand der Bank ge¬
prüft und gesund gefunden hatte. Während des Krieges war der tiefste Stand der
Banknoten 15 Procent unter dem Werthe der Goldbarren.; kurz vor dem Frieden
1814 sank er bis 25 Procent. Man stritt damals, ob der Unterschied von dem
Steigen des Goldes oder von dem Fallen des Papiers herrühre. Im Jahre 1819
brachte Sir Robert Peel das Gesetz über die Wiederaufnahme der Baarzahlungen,
welches vom Parlament angenommen und bann auch vollzogen wurde. Während
der ganzen Periode wirkten Negierung. Parlament und Volk zusammen für die Er¬
haltung des öffentlichen Credits, trotz des unermeßlichen Aufwandes für Krieg und
Subsidien. Weit mehr Aehnlichkeit mit der Lage der östreichischen Finanzen scheint die
englische Wirthschaft von 1688 zu haben, deren Folgen dann Wilhelm von Ora-
nien übernehmen und überwinden mußte
Die Organe, durch welche der Zollverein seine Angelegenheiten besorgt,
sind folgende:
Das Centralbureau in Berlin, welches die vierteljährlichen provi¬
sorischen Abrechnungen zwischen den vereinigten Staaten (dies ist der offi-
cielle, glücklich gewühlte Ausdruck) fertigt und die definitiven Jahresabrech¬
nungen vorbereitet;
Die Geueralconserenz der Bevollmächtigten, welche regelmäßig
jedes Jahr in den ersten Tagen des Juni zusammentritt, die definitive Jahres¬
abrechnung feststellt, über Abänderungen der bestehenden Vorschriften und An¬
ordnungen, einschließlich des Tarifs, überhaupt über zweckmüßige Entwicklung
und Ausbildung des Handels- und Zollsystems beräth und —jedoch nur unter
Uebereinstimmung sämmtlicher Mitglieder — beschließt; endlich über
Beschwerden und Mängel, Wünsche und Vorschläge in Betreff der Vereins¬
angelegenheiten verhandelt, Dringende Fülle (z. B. Pferdeausfuhrverbot)
werden auf diplomatischem Wege oder durch Berufung außerordent¬
licher Konferenzen erledigt, mit Detailausführungen beschüftigen sich
gemeinschaftliche Commissäre. Zur Controle haben die Mitglieder
die Befugniß, gegenseitig Controleure zu den Hauptzollämtern, Bevollmäch¬
tigte zu den Zolldirectionen anderer Vereinsglieder zu entsenden.
Um diese Einrichtungen unter den Begriff einer Organisation zu
bringen, muß man denselben in einem ungewöhnlich weiten Sinne auffassen.
Die einzige ständige Behörde, das Centralbureau in Berlin, hat es ausschlie߬
lich mit Ziffern und Tabellen zu thun; die Konferenzen registriren die nach den
Negierungsinstructionen abzugebenden Stimmen der Mitglieder und eignen sich
nicht zur Leitung der Verwaltung. Die Summe ihrer gesetzgeberischen
') Wir bitten, im ersten Abschnitte folgende Gehfehler zu berichtigen:
"
Seite 3 in der Anmerkung, Zeile 1, statt „Versammlungen l, „Bcrhandlungm," S. 7.
Zeile 9 u, 10 v. o, statt „anderen" l, „modernen" Staaten, Zeile 18 v, o, statt „Anbisse"
l, „Anlässe," Seite 9 Zeile 14 v, u. statt „betrafen" l, „beherrschte,"
Leistungen könnte durch einfache Zusammenstellung der Jnstructionen gezogen
werden. Die Controle, wie die Verwaltung, ist lediglich Sache der einzelnen
Regierungen. Kurz, die Organisation des Zollvereins ist noch lockerer als die
des Bundes, dessen Versammlung doch einen festen Sitz und wöchentliche
Sitzungen hat und während der Ferien einen Ausschuß zurückläßt. Man darf
nicht verkennen, daß aus bessern Grundlagen die Verträge nicht zum Abschlüsse
zu bringen waren, und daß die offenbaren Schwächen seiner Einrichtungen den
Gründern des Vereins nicht zum Vorwurfe gereichen. War es gelungen, die
Freiheit des Verkehrs, wenn auch mit Ausnahmen, unter deutschen Ländern
herzustellen, letztere dem Auslande gegenüber als eine handelspolitische Einheit
auftreten zu lassen; war dies gelungen, indem man sich über Zollgesetz, Cartel,
Tarif, Vertheilung der Einnahmen und über andere wichtige Erfordernisse ver¬
ständigte, so mochten immerhin den starken Vorurtheilen, welche die sogenannte
Souveränetät und Selbständigkeit des Einzclstnates ängstlich wahren zu müssen,
ihr nichts vergeben zu dürfen glaubten, Concessionen gemacht werden. Wurde
dadurch der Entwicklungsgang des deutschen Zollverbandes aufgehalten, so
durfte man doch mit Zuversicht erwarten, daß durch die wachsende Macht der
Interessen, durch deren innige materielle Verbindung, das Band innerlich ge¬
festigt werden würde, und daß die Zeit, ihre Erscheinungen und Bedürfnisse die
particnlaristische Scheu vor einer brauchbaren Organisation überwinden müssen.
Wenn im Jahre 1852 Preußen selbst noch die Einstimmigkeit für giltige
Beschlüsse der Generalconferenzcn aufrecht erhielt, und der Meinung war, man
dürfe nur guten Willen schaffen, um eine wirkliche Unanimität, Ein Herz
und Eine Seele, den sämmtlichen Gliedern einzuhauchen, — wenn damals
Preußen selbst die Erweiterung der Kompetenz der ständigen Behörde ablehnte,
so wollen wir darüber keinen Tadel nussprechen. Bei den damaligen Unter¬
handlungen stand im Vordergrunde die Erweiterung des Gebietes mittelst
Aufnahme des Stenervereins in den Zollverein; es wäre nicht zweckmäßig
gewesen, die Frage der Organisation gleichzeitig zur Entscheidung zu bringen,
und dadurch die Empfindlichkeit der Darmstädter noch stärker zu reizen, als es
durch die zum Zwecke der Aufnahme des Steuervereins nothwendigen Schritte
Preußens ohnehin schon geschehn war.
Gegenwärtig liegen die Dinge anders. Es find grade die auswärtigen
Angelegenheiten des Zollvereins, welche den, früher gegen Preußen vereinigten
Regierungen Anlaß geben, über die Lücken und Mängel der bestehenden Ein¬
richtungen zu klagen. Sie suchen Mittel und Wege, ihre Anliegen bei den
bevorstehenden Unterhandlungen über einen Handelsvertrag mit Frankreich gel¬
tend zu machen; sie werden daher ihre Zustimmung nicht wol versagen dürfen,
wenn die Verwaltung des Zollvereins bei Erneuerung der Verträge in einer
ihren berechtigten Anforderungen entsprechenden Weise geordnet wird. Dies
geschieht, wenn das Ccntralbureau in Berlin von einer bloßen Nechnungs-
stelle zu einer Centralvcrwa ltung des Zollvereins ausgebildet wird, und
wenn die jährlichen Generalconferenzen in eine Vertretung der Zollvereins-
staaten — einen Zollvereinstag — unigestaltet werden. — Die Besetzung der
Stellen in der Centtalverwaltung ist das Mittel, um den einzelnen Staaten
einen ihrer Bedeutung entsprechenden Antheil an der Leitung der Vereins-
angelegenheiten zu verschaffen. Der Borsitzende wird von Preußen zu ernennen
sei» ; die Ernennungen des Stellvertreters, der Abtheilungsvvrstände und ihrer
Stellvertreter, würden an Bayern, Sachsen, Hannover, Würtemberg. Baden
u. a. fallen, und so weit die Zahl der Stellen nicht ausreichen sollte, um alle
Ansprüche gleichzeitig zu befriedigen, würde ein Turnus tu der Besetzung der¬
selben eintreten tonnen. In Verbindung mit der Centralvcrwaltung wird die
Errichtung von Vereinsconsulaten stehn, welche eine preußische Denkschrift von
1852 befürwortete, die zugleich Vorschläge machte, wie das Consulatwesen durch
die gegenwärtigen Organe, das zu verstärkende Centralbureau und die General-
conferenzeu, zu ordnen und zu behandeln wäre. An die Stelle der Contro¬
leure und Bevollmächtigten, welche die Mitglieder gegenseitig an andere Haupt-
stcucrämter und Zolldirectioue» entsenden dürfen, müßten Nevisions- und
Controlebeamte der Centr a to erw alt» ug treten, und diese Aenderung
wird kaum auf Widerspruch stoßen, da die Regierungen in der letzteren ver¬
treten sein werden. Der Aufwand für die Centtalverwaltung. die Konsulate
und die Controle müßte aus dem Ertrag der Zolle geschöpft werden und er
wird kaum die Hohe der Summen erreichen, weiche die Regierungen durch Ver¬
einfachung ihrer Zolldireclionen und den Wegsoll ihrer Bevollmächtigten er¬
sparen.
Eine Vertretung der Interessen, welche der Zollverein zu pflegen
hat, mittelst einer Versammlung von Abgeordneten — man mag sie Sachver¬
ständige, Notable oder mit einem andern passenden Ausdrucke nennen, — welche
ans allen Vereinsstaaten beschickt wird, periodisch zusammentritt, öffentlich ver¬
handelt und bei der Gesetzgebung beschließend mitwirkt, eine solche Vertretung
erscheint durchaus nothwendig, sie ist eine Lebensfrage für die Zukunft des Zoll¬
vereins und vielleicht der politischen Gestaltung Deutschlands. — Bei aller
Fülle von Sachkenntniß und Erfahrung, welche in den Generalconferenzen sich
zusammenfinden mag, fehlen ihnen doch die wesentlichen Bedingungen einer
fruchtbringenden Thätigkeit, es fehlt ihnen die Möglichkeit, durch Erörterungen
zu Resultate,, zu gelangen. Nur durch den belebenden Hauch öffentlicher Ver¬
handlungen über die gemeinsamen wirthschaftlichen Anliegen der vereinigten
Staaten wird die Theilnahme des Volkes geweckt, nur durch den Nachdruck
beschließender Kraft werden wirkliche Fortschritte im Sinne der Einigung und
des Wohlstandes zu erzielen sein. Ohne einen Zoiloereinstag — in Er-
mangelung eines Parlaments — wird die Bedingung der Einstimmigkeit nicht
zu beseitigen sein, und eben so wenig die Rntification der Regierungen und
die Zustimmung sämmtlicher Kammern in den Einzelstaaten zu den seltenen
einstimmig gefaßten Beschlüssen der Gcneralconferenzen wie zu den mühsam zu
Stande gebrachten Verträgen zwischen den Regierungen. Steht dagegen der
Ccntralverwaltung eine Repräsentation der gewerblichen, der Handels- und Ver-
kehrsthätigkeit zur Seite, so wird die Wahrung dieser Interessen sehr bald mit
größerm Vertrauen dort, als in den Verhandlungen der Generalconfercnzen
und der Spccialkcnnmern allseitig erwartet werden. Endlich aber wird durch
die Schaffung und das Leben einer tüchtigen Vertretung der Interessen auf
die noch außerhalb des Verbandes stehenden deutschen Städte und Länder eine
Anziehungskraft geübt werden, welche den Beitritt derselben ungemein erleich¬
tern muß.
Die Zusammensetzung der Repräsentation der volkswirtschaftlichen
Interessen des Vereins wird füglich unter Mitwirkung der Landesvertretungen
geschehn können, etwa in der Weise, daß dieselben die doppelte oder dreifache
Anzahl der Candidaten, und zwar ohne Beschränkung auf ihre eignen Mit¬
glieder bezeichnen, aus denen die Regierung die Abgeordneten zu dem Vereins¬
tage ernennt; oder es könnten dieselben zum Theil von den Regierungen er¬
nannt werden, zum Theil aus Wahlen der Stände- und der Handelskammern
hervorgehn. Jedenfalls dürfte es zweckmäßig sein, wenn über die Eigenschaf¬
ten und die Wahlart der Abgeordneten zu dem Vereinstage allgemeine Be¬
stimmungen vereinbart würden, innerhalb deren dem Einzelstaate ein gewisser
Spielraum zur Berücksichtigung seiner besondern Verhältnisse bliebe. Die Fest¬
setzung der Zahl der Abgeordneten eines jeden Vereinslandes zu dem Ver¬
einstage wird einen der schwierigsten Punkte der Unterhandlungen bilden:
schwierig, nicht ans innern, in der Sache liegenden Gründen, gar nicht schwie¬
rig, wenn der von Preußen 1852 erhoffte gute Wille zu dem großen Werke
bessere Fortschritte als bisher in den nächsten Jahren zu machen veranlaßt
werden sollte; schwierig nur, weil seine billige und befriedigende Lösung dnrch
gewisse Schattenseiten des deutschen Charakters und durch das große Spiel
kleiner Leidenschaften erschwert wird. Gelingt es jedoch, einen billigen Nepar-
titionsfuß, welcher neben der Volkszahl auch noch andere Factoren aus den
Hauptzweigen der volkswirthschnstlichen Thätigkeit in Anschlag bringen müßte,
vorzuschlagen'und die bedeutenderen Glieder des Vereins dafür zu gewinnen,
dann ist die Durchführung lediglich Sache einer geschickten und kräftigen Leitung
der Verhandlungen. Der Bundestag hat seine Stimmen, seine Matrikel, er hat sein
Simplum für die Kanzleikosten unter die Curiatstimmen bis auf Drittelkreuzer
glücklich repartirt; in Frankfurt und in Erfurt bat man sich schließlich über
ähnliche Schwierigkeiten hinweggeholfen; der Zollverein hat sich zu Modisi-
cationem des einfachen Maßstabs für die Vertheilung der Revenuen bequemt.
Böswillige Renitenten können am Ende in eine Lage versetzt werden, in wel¬
cher sie zwischen einem Ja und einer Unmöglichkeit zu wählen haben, eine
Lage, in welcher sich Regierungen und, Kammern schon manchmal befunden,
über welche sie aber ein Recht, sich zu beschweren, nur dann haben, wenn ihr
Gewissen ihnen sagt, daß sie nicht böswillige Renitenten sind. Ein flüchtiger
Blick auf die Verträge genügt, um zu sehn, daß dieselben sich keineswegs anf
den Zolltarif, auf Bestimmungen über die Erhebung, Verwaltung und Ver-
theilung der Zollgefälle, die Sicherstellung derselben gegen Unterschleife und
die Bestrafung von Contraventionen und Defrandationen beschränken, sondern
daß sie sich über Gegenstände verbreiten und Ziele anstreben, welche weit über
diese Grenzen hinausreichen.
Der Verkehr im Innern soll frei sein. Abgesehn von den Ausnahmen
in Bezug auf Staats monopolien, — Spielkarten und Salz—leuchtet ein,
daß die Freiheit des Verkehrs mehr oder weniger illusorisch wird, falls die
einzelnen Staaten Erzeugnisse vereinsländischen Ursprungs nach Belieben mit
Verbrauchsteuern belegen und die zollpflichtigen Waaren noch mit andern Ab¬
gaben für eigne Rechnung belasten dürfen. Nicht minder wird der freie Ver¬
kehr beeinträchtigt, wenn dem Transport der Waaren und Producte durch
Stapel- und Umschlagsrechte, durch hohe Gebühren für die Benutzung der
Land- und Wasserstraßen, der Brücken, Schleußen, Lager- und Niederlagsplätze
beliebig Hindernisse bereitet und Lasten aufgebürdet werden dürfen. Die Be¬
stimmungen über die Münzen, in welchen die Zollabgaben zu entrichten sind
und die Vertheilung der Revenuen zu geschehn hat, können ebenfalls nicht den
einzelnen Mitgliedern überlassen werden; die Verschiedenheit der Münzfüße so
wie des Papiergeldes erweist sich als eine Erschwerung des Verkehrs aus dem
freien deutschen Markte, und es steht dem Verbände nicht wol an, daß Mit¬
glieder die Zahlungsmittel andrer Vereinsgenossen von ihren Kassen und von
dem Umlaufe ausschließen. Da die zollpflichtigen Güter gemessen oder ge¬
wogen werden, so waren Verständigungen über Maß und Gewicht nicht zu
umgehen. Endlich erfordert die Gleichheit der Milbewerbung, daß die unge¬
hinderte Niederlassung den Vcreinsangehörigen überall unter den nämlichen
Bedingungen gestattet, daß die Handel- und Gewerbetreibenden nicht in dem
einen Staate mehr in ihrem Betriebe beschränkt und höher besteuert werden
als in dem andern. So folgt Eines aus dem Andern, und es müßten eine
Reihe von Bestimmungen vereinbart werden, welche der Machtvollkommenheit
des Einzelstaatcs zum Besten des Ganzen gewisse Grenzen ziehen. Das Recht
der Besteuerung und der Erhebung vou Gebühren ist nicht allein in
Bezug auf die Zölle, sondern in manchen andern Beziehungen wesentlich be¬
schränkt. Die Steuer vom Rübenzucker wird ebenso wie der Eingangszoll
vom Rohrzucker vom Vereine festgesetzt und vertheilt. Auf ausländische Waaren,
welche den Zoll entrichtet haben, darf keine innere Steuer gelegt werden. Pro^
ductions- und Vcrbrauchstener» sind nur ans bestiinnite Erzeugnisse (Brannt¬
wein. Bier, Essig. Wein, Tabak, Mehl, Fleisch u. tgi.) zulässig, und dürfen
»ur bis zu vereinbarten Maximalsten, und von den gleichnamigen Erzeug¬
nissen andrer Vereinsländer nicht höher und nicht in lästigerer Weise als von
den inländischen erhoben werden. — In ähnlicher Weise sind theils allgemeine
Grundsätze, theils nähere Bestimmungen verabredet, wegen Erhebung von
Chansseegcld, Wasserzölleu und Wasserweggeid, Gebühren für die Benutzung
von Kanälen, Schleuße». Brücken, über Seeschiffahrt und Hafenabgaben u. f. w.
Die Stapel- und Umschlagerechte sind mit den Schlagbämnen zwischen den
Vereinsstaaten gefallen.
Daß die nothwendigen Konsequenzen aus dein obersten Grundsatze des
freien Verkehrs im Gebiete des Zollvereins bis jetzt nur sehr mangelhaft gezogen
sind, bedarf eines Beweises um so weniger, als die Verträge selbst es aus-
sprechen, indem sie die Zielpunkte bezeichnen, nach welchen der Verein zu streben
sich vornimmt. Es soll z. B. dahin gewirkt werden, daß gleichförmige Grund¬
sätze angenommen werden, um die Gewcrbsaml'eit zu befördern, und den
Angehörigen eines Vercinsstaates zu erleichtem, in dein ander» Arbeit und
Eiwerb zu suche» — allgemeines deutsches Gewerbegesetz, Handelsgesetz.
Freizügigkeit. — Gleichmäßigkeit der innern Besteuerung wird als
wünschenswerth dargestellt, schon um die Uebergangs- oder Ausgleichungs-
nbgaben verschwinden zu machen, während man sich bis jetzt darauf beschränken
mußte, zu sorgen, daß die vorhandene Verschiedenheit nicht noch größer werde.
Das Bedürfniß der Annäherung hat auch bereits einige Erfolge in Verträgen
zwischen Preußen, Sachsen und Thüringen — erneuert 4. April 1353— und
zwischen diesen Staaten einerseits, Hannover. Kurhessen, Braunschweig und
Oldenburg anderseits vom nämlichen Tage über gleiche Besteuerung, gegen¬
seitig freien Verkehr und Gemeinschaftlichfeit der llebergangssteuern von innern
Erzeugnisse», errungen. Während früher außer den Gegenständen der Stcmts-
monvpole auch noch solche, für welche Erfindungspatcnte oder Privilegien
ertheilt waren, vom freien Verkehr ausgeschlosse» wäre», ist diese A»snahme
ans den erneuerten Verträge» von 1853 verschwunden, weil nach einer schon
1842 abgeschlossen», besondern Uebereinkunft die Ertheilung von Patenten nie
das Recht begründen darf) die Einfuhr, den Verlauf und Absatz überein¬
stimmender Artikel zu verbieten; auch wurde das Recht des Patentinhabers,
den Gebrauch solcher Artikel, wenn sie nicht von ihm oder mit seiner Zu¬
stimmung bezogen worden sind, zu untersagen, auf Maschinen und Werkzeuge
für den Gewerbebetrieb beschränkt. — Ein gemeinschaftliches Zollgewrcht
ist vereinbart und auf dem Wege, allgemeines Landesgewicht zu werden;
über ein gemeinschafiliches Maß will man sich verständigen, überhaupt dahin
streben, für das Maß- und G e w i es t s sy se e in im Allgemeinen die wünschens-
werthe Uebereinstimmung herbeizuführen. Sämmtliche Regierungen sind der
Mnnzconvcntivn van I83S, dem Münzcartel von 1845, seither noch dem
Münzvertrag vom 21, Januar Is57 beigetreten, welcher bekanntlich auch über
Papiergeld und Banknoten Bestimmungen nnfgenommcn hat.
Es enthalten sonach die Zollvertrage Bruchstücke und Keime für eine
deutsche, vor der Hand eine vereinsländische volkswirtschaftliche Ver¬
fassung und Gesetzgebung, welche nur des ernsten Willens bedürfen,
um bei Erneuerung des Verbandes Gestalt und die Bedingungen gesunder
Entwicklung zu gewinnen. Daß dies nicht gleich bei der Gründung des
Zollvereins geschehn konnte, daß es unter seiner bisherigen Verfassung »lebt
möglicls gewesen, liegt aus der Hand. Allein nun wird es nachgerade Zeit,
den Zielen, welche der Zollverein sich gesetzt hat, näher zu treten und die
Zeit nicht damit zu verderben, daß man nutzlos den Bundestag mit An¬
trägen behelligt, die nur mittelst des Zollvereins Erfolg versprechen. Der
erste und wichtigste Schritt ist die Organisation — die Centra iverw aler n g
und der Vereins tag. Ist der Entschluß gefaßt, diesen Punkt festzuhalten
und durchzusetzen, dann werdeu die Befugnisse und der Wirkungskreis der
Organe gleichzeitig zu vereinbaren sein. An stehle der Wünsche und Dcsideric»,
der Ausdrücke: „die Regierungen werden dahin Wirten," — „sie werden ihre
Sorgfalt dahin richten," — „man hält es für wünschenswerth" u. d. gi. werden
die allgemeinen Grundsätze festzustellen sein , nach welchen die leitende Behörde
in Gemeinschaft mit dem Vereinstage die organischen Gesetze auszuarbeiten,
und die Vollzugsverordnungen zu erlassen haben wird, in so weit das Be¬
stehende nicht ausreicht oder einer Abänderung bedarf. Außer dein ZoUwe fen
im engeren Sinn, — Zollgcsetz, Zollordnung, Tarif, Organisation, Verfüg¬
ungen zur Ausführung, wobei namentlich das Declarations-und Begleitschein¬
wesen zur Erleichterung der Güterbewegung vereinfacht werden kann — wird,
sich der Zollverein über gemeinschaftliche Bestimmungen in Betreff nachfolgender
Einrichtungen zu verständigen haben, welche er theils schon in den K>eis seiner
Anliegen gezogen hat, theils denselben anzueignen Anlaß finden wird:
Glei es in äßige Besten er u n g in seinem Gebiete, und zwar bei direct e n
Steuern von Gewerben und Handel, und bei indirecten (Prodnctions- und
Verbrauchs-) Steuern; einheitliche Gesetzgebung über den Betrieb von
Handel und Gewerbe (Handels- und Gewerbegesetz, Freizügigkeit). Es ist nicht
allein dies in den Verträgen theils angedentet, theils bruchstückweise angegriffen,
sondern es liegen auch in Bezug auf indirecte Steuern, abgesehn von dem
Rübenzucker, Vereinbarungen vor, welche als Grundlagen gesetzlicher Anord¬
nungen für das ganze Vereinögebiet dienen können, Anordnungen, .die noth-
wendig getroffen werden müssen, um nur die lästigen Uebergangsabgaben zu
beseitigen, — Flußschiffahrt, Wasserzölle, Weggelder auf Land- und
Wasserstraßen. Einheit in Münze, Maß- und Gewicht; Leitung, beziehungs¬
weise Oberaufsicht über Post- und Telegraphenwesen, Eisenbahnen und
Kanüle. Bank- und Papicrgeldwesen. Dies sind die Zweige und die Einrich¬
tungen in dem wirthschaftlichen Verkehr, in Handel, Credit und der gewerblichen
Thätigkeit, welche einer einheitlichen Gesetzgebung und Leitung bedürfen, und die¬
selbe von der Ausbildung des Zollvereins erwarten. Dann erst kann im deutschen
Körper der Blutumlauf ein normaler werden, und die Mittel schaffen, welche
Ansehn und Macht unter den Nationen verleihen. Die Seeschiffahrt wird zur
Vereinsangelegenheit erhoben werden müssen, und so wird der Verein eine Flagge
und eine schützende Flotte nicht lange mehr entbehren können. Es fehlt
nicht an Fähigkeit und an Kräften, um diese Arbeiten zu bewältigen, und viel
schätzbares Material ist vorhanden, um aus dem Gewirre der Particulargesetz-
gcbungen heraus zu gemeinsamen deutschen Institutionen zu gelangen. Die
Gegenwart endlich bringt in der Nation eine Fülle von gutem Willen zur
Einigung hervor, welchem sich die Kanzleien nicht hinter den Bollwerken ihrer
mit Bedenklichkeiten vollgepfropften Actenstöße werden verschließen dürfen, sobald
von maßgebender Seite der ernste Wille sich zeigt, mit Verstand und Nach¬
druck die Einigung zu erzielen. Mit der Herstellung einer Centralverwaltung
und eines Vcreinstags sind die Mittel und Wege für zeitgemäße Fortbildung
der Verfassung und Gesetzgebung wie der Einrichtungen zur Förderung der
gemeinsamen wirthschaftlichen Interessen gegeben. Dann wird es sich wol
nicht mehr um eine zwölfjährige Dauer der Verträge handeln, sondern es
wird zu bestimmen sein, daß der Verein so lange besteht, bis ein deutscher
Bundesstaat ihn aufnimmt.
Im Allgemeinen wird, wenn von dem Zollverein die Rede ist, zunächst,
ja fast ausschließlich, an den Tarif gedacht; allerdings ein wichtiger Bestand¬
theil der Zollgesetzgebung, aber doch nicht der einzige. Uns ist stets die
Ansicht als die richtige erschienen, welche die Lichtseite des Zollvereins nicht
in den Abgaben erblickte, die von ein-, aus- und durchgehenden Waaren an
der Grenze gegen das Ausland erhoben werden, sondern in der Aufs ebüng
dieser Abgaben an den Grenzen der Vereinsstaaten gegen einander. Der Tarif
enthält Sätze, die als Finanzzölle (Lerbrauchsteuern) gelten, und den größern
Theil der Einnahmen liefern (Kaffe, Zucker — einschließlich Rübenzucker —
geistige Getränke, Tabak u. d. gi.), andere, auf Fabricate und Halbfabricate,
die einen mäßigen Schutz mancher Industriezweige, besonders der Spinnerei
und Weberei, bezwecken. Wir würden es nicht für zweckmäßig halten, wenn
die Erneuerung der Verträge dazu benutzt werden sollte, den Streit zwischen
Zollschutz und Freihandel auszufechten, und eine Umgestaltung des Tarifs in
der einen oder der andern Richtung zu verlangen. Wichtiger und für die
Zukunft entscheidender ist die Frage der Organisat i on und der Wirkungs¬
sphäre des Zollverbandcs, und auf diese Frage sollten unseres Trachtens
diesmal alle Kräfte für die wirthschaftliche Einigung gerichtet werden. Die
Fortbildung des Tarifs wird durch die Centralverwaltung und den Vereinstag
mit besseren Erfolg geschehn können, als es seither durch fünfzehn Gcncral-
conferenzen mit unendlicher Verschwendung von Mühe und Zeit geschehen ist.
Die Richtung aber, nach welcher wir die Tarifreform für wünschenswert!)
halten, ist die Vereinfachung. Gegenwärtig zählt der Tarif 32 Gegenstände
auf, welche gar keiner Abgabe unterworfen find; sodann 43 Hauptgegenstände
mit vielen Untera'btheilungcn, von welchen beim Eingange eine geringere oder
eine höhere Abgabe als ein halber Thaler vom Centner, und beim Ausgange
überhaupt irgend eine Abgabe erhoben wird; alle übrigen, deshalb auch nicht
namentlich im Tarife aufgeführten Artikel zahlen die allgemeine Eingangs¬
abgabe von einem halben Thaler für den Centner, aber keine Ausgangsabgabe.
Eine ansehnliche, aber zum Verschwinden besonders geeignete Abtheilung des
Tarifs enthält die Bestimmungen über die Abgaben, welche bei der Durch¬
fuhr erhoben werden. Befrachter wir dagegen den englischen Tarif, wie er
aus der letzten Session des Parlamentes hervorgegangen ist, und in dem Econo-
inist vom 22. September kaum anderthalb Spalten füllt, so zeigt derselbe, statt der
frühern 150 nur noch zwölf Hauptartikel, in welche statt der ehemaligen 400
nur noch 40 einzelne zollpflichtige Gegenstände eingereiht sind. Unter den zwölf
Artikeln betrifft Einer die Abgaben, welche zur Ausgleichung der Accise auf
inländische Papiere und Drucksachen, Malz, Hopfen, Gold- und Silbergeschirr.
Spielkarten und Würfel von den gleichnamigen ausländischen Erzeugnissen zu
entrichten sind; ein anderer Artikel ist vorübergehender Natur, da die Zollsätze
welche er ans Hüte und Mützen legt, am 31. März 1801, auf Korkstöpsel am
31. März 1862 erlöschen. Die übrigen zehn Gegenstände, welche in England
noch der Zollabgabe unterliegen, sind: 1) gcgohrene Flüssigkeiten (feriueutsä
liMvrs), hauptsächlich geistige Getränke und Essig; 2) Zucker; 3) Tabak; 4) Thee;
5) Kaffe; 6) Kakao; 7) Getreide und Mehl; 8) getrocknetes Obst; 9) Holz;
10) Pfeffer. — Diese Einfachheit möchten wir den Reformatoren des Vereins¬
zolltarifs zur Nachahmung empfehlen; die Höhe mancher englischen Tarifsätze,
z. B. 3 Thaler auf das Pfund Rauchtabak, 12'/^ Silbergroschen auf das Pfund
Thee, dürfte unseren deutschen Konsumenten beiderlei Geschlechtes eben so wenig
zusagen,/wie das Verschwinden des Eisens aus der Reihe der zollpflichtigen
Gegenstände einer gegenwärtig stark gedrückten Classe von Producenten.
Ebensowenig als die Reform des Tarifs halten wir die Erweiterung
des Gebiets für eine Frage, die bei den Unterhandlungen über Modificationen
der Verträge in bon Vordergrund gestellt werden sollte. Zum Glücke ist kein
Anlaß zu Besorgnissen vorhanden, daß von dieser Seite her die schwere Arbeit
der Neubildung des Handelsbundes von ihren nächsten und wichtigsten Aus¬
gaben hinweg auf Abwege geleitet werden könne. Das Nothwendige und
Nützliche in dieser Beziehung ist 1853 erreicht worden, weil Preußen sich ent¬
schlossen hatte, es für erreichbar zu halten, und weil ihm Hannover, Oldenburg
und Schaumburg-Lippe die Hand dazu geboten hatten. Das Unzweckmäßige,
der Eintritt Oestreichs, ist damals vermieden worden, obgleich Fürst Schwarzen¬
berg es für erreichbar hielt und die Darmstädter ihm zu Diensten waren.
Das eine ist geschehn, das andre unterblieben, weil die öffentliche Stimme
sich gegen das Zerreißen des Bandes zwischen Süd und Nord erklärte, das
Gefühl der Verantwortlichkeit bei den unzweckmäßig handelnden Personen
weckte und den Ausschlag gab. — Gegenwärtig liegen die Dinge etwas an¬
ders und weniger gefährlich. In Wien unterhandeln für den Zollverein Preu¬
ßen, Bayern und Sachsen mit Oestreich über weitere Erleichterungen des Ver¬
kehrs auf Grund der Vereinbarung vom 19. Februar 1853. Den Eintritt
Oestreichs in den Verband hat Preußen von der Tagesordnung gestrichen, und
wir müssen gestehn, daß wir die schroffe Form, in welcher dies geschah, den
Drohungen des Fürsten Schwarzenberg 1850 und 1851 gegenüber, die damals
angewendete Höflichkeit dagegen der jetzigen Lage Oestreichs gegenüber sür
passender gehalten hätten. Für den' Augenblick hat es keine Noth mit dem
Beitritte Oestreichs; man ist dort nicht zudringlich, und die seit 1853 und seit
dem Münzvertrage von 1857, welchen Oestreich brach, indem es die Einlösung
seiner Banknoten einstellte, bevor sie recht angefangen hatte, so schlimm ge-
wordnen Geld- und Crcditverhältnisse an her Donau müßten selbst den ver¬
wegensten Darmstädter abhalten, seine Zollrevenüen für eine Verlorne Sache
in die Schanze zu schlagen. Dagegen wünschten wir sehr, daß aus den Unter¬
handlungen in Wien weitere Erleichterungen des gegenseitigen Verkehrs her¬
vorgehn, daß namentlich die östreichischen Weine zu Gunsten der vereinslän-
dischen Consumenten, welche die Rhein- und Moselweine sehr theuer bezahlen
müssen, zollfrei eingelassen werden und für Oestreich ein weitres Tauschmittel
gegen vereinsländische Fabricate, ein bessres als seine Banknoten, abgeben
möchten. Für die Zukunft, wenn Oestreich auf einem oder dem andern Wege
zu einer leidlichen Ordnung seiner Finanzen und seiner Valuta gelangt sein
wird, denken wir uns eine innigere Verbindung zwischen dem Kaiserstaate und
Deutschland, — Aufhebung der Zölle an den gegenseitigen Grenzen, keine
Vertheilung der Revenüen (jeder Theil behalte, was an seinen Zoll¬
stätten erhoben wird), Zollämter nur noch wegen der Ausnahmen vom freien
Verkehr, z. B. wegen des Tabaks, so lange das östreichische Staatsmonopol
besteht, wegen etwaiger Uebcrgangsabgaben und wegen der statistischen Er¬
hebungen; eine Commission aus Beamten des Zollvereins und Oestreichs,
um über Erhaltung eines gleichförmigen Tarifs, ohne welchen die Annäherung
nicht ausführbar wäre, und über gemeinschaftliche Verträge mit auswärtigen
Staaten, sowie über verwandte Gegenstände sich zu verständigen. Es ist jetzt
und vermuthlich noch lange nicht an der Zeit, Vorschläge in dieser Richtung
näher auszuführen; wir haben dieselben nur angedeutet, um zu zeigen, daß
wir uns gegen Oestreich nicht abstoßend verhalten, sondern nur die nothwen¬
dige wirthschaftliche Einigung Deutschlands von ihm nicht ebenso verderben
lassen möchten, wie es durch den Bundestag die politische Einigung bis jetzt
behandeln läßt.
Ist von östreichischer Seite einstweilen kein überstürzender Einbruch in den
Zollverein zu fürchten, so ist von andrer Seite für den Augenblick nicht
viel zu hoffen. Außerhalb des Zollvereins stehn zur Zeit noch die deut¬
schen Länder Limburg, Mecklenburg, Schleswig-Holstein, sammt
Lauenburg, und die nicht minder deutschen Städte Lübeck, Hamburg
und Bremen. Alle, mit einer Ausnahme, mit dem Meere verbunden,
die letztern - Vermittler des überseeischen Handels, Träger der Betheiligung
Deutschlands an dem Welthandel, und Hauptfactoren deutscher Seeschiffahrt.
Es bedarf wol kaum einer Auseinandersetzung — sie würde zudem schmerzlich
sein — daß und warum die Aufnahme von Limburg. Schleswig-Holstein und
Lauenburg in das deutsche Handelsgebict aussichtslos, eine Unterhandlung
darüber mit den betreffenden Bundesregierungen im Haag und in Kopenhagen
von Seiten Preußens für den Zollverein nicht einmal einzuleiten ist, so lange
Deutschland auf seiner gegenwärtigen Stufe des Ansehns und der Macht in
der europäischen Familie verharrt. Wird Deutschland stark, indem es gezwungen
wird, seine Kräfte zu sammeln und zu gebrauchen, dann, aber auch nur dann,
werden die schwächeren Nachbarn den Bund mit ihm aus dem politischen wie
auf dem wirthschaftlichen Gebiete schätzen und nachsuchen. So lange aber
Schleswig-Holstein und Lauenburg nebst Mecklenburg dem deutschen Handels-
gebicte nicht angehören, können die Hansestädte Lübeck und Hamburg nicht
beitreten, selbst wenn sie mehr als bisher sich dazu neigen sollten. In Meck¬
lenburg scheint die Erkenntniß der Vortheile, welche die Beseitigung der nach
dem alten Reichsfuße bestehenden, nicht Grenz-, sondern Orts- und sonstigen
Zollplackereien, der freie Verkehr auf dem deutschen Markte, und der Antheil
an dem Zollertrage des Vereins ihm bieten würden, mehr und mehr Boden
zu gewinnen. Bei sorgfältiger Beachtung und gehöriger Unterstützung dieser
Regungen dürfte Mecklenburg noch am ehesten veranlaßt werden, die Auf¬
nahme in den Zollverein nachzusuchen, der alsdann den Hansestädten Lübeck
und Hamburg einen Schritt näher treten würde. Bremen ist seit 1854 vom
Vereinsgebietc umgeben, und hier machen sich gegen den Beitritt zum Zoll¬
vereine die hanseatischen Bedenken geltend, welche übrig bleiben, wenn das
Hinderniß räumlicher Trennung weggefallen ist. Diese Bedenken sind aller¬
dings in hohem Grade beachtenswert!). Sie lassen sich kurz dahin zu¬
sammenfassen, daß die Hansestädte durch die freie Bewegung der Schiffe
und ihrer Ladungen, durch ihre Verbindungen und Verträge mit über¬
seeischen Plätzen und Ländern dem deutschen Handel bessere Dienste lei¬
sten, als wenn sie dem Zollverein angehörten, durch die Lasten und Förm¬
lichkeiten der Zollbehandlung in der schnellen und unbeschränkten Disposition
über Schiffe und Ladungen, in ihrem Verkehre und ihren Vertragsbeziehungen
nach Außen beeinträchtigt würden. Es sei daher für beide Theile am besten,
wenn sie in ihrem bisherigen freien und freundschaftlichen Verhältnisse blie¬
ben. — Es läßt sich nicht verkennen, daß der Eintritt in den Zollverein den
Hansestädten nicht angesonnen werden kann, wenn er die Seele ihres Han¬
dels und ihrer Rhederei, die ungehinderte Disposition über ihre Schiffe und
über die Waaren vernichten oder verkümmern würde. Allein es ist eben die
Voraussetzung, daß der Zollverein die Seeschiffahrt und den Seehandel durch
seine Formen und Lasten hinsiechen machen würde, nicht richtig. Sind die
Erleichterungen, welche Freihafen, Niedcrlagsplätze für unverzollte Waaren u.
tgi. gewähren, ungenügend, so wird es den Seestädten nicht schwer fallen,
bessere Einrichtungen zu bedingen. Hinsichtlich der Verträge mit anderen see¬
fahrenden oder küstenbewohnenden Mächten würde vordem Anschlusse zu unter¬
suchen sein, ob und in wie weit sie durch den Beitritt alterirt, oder aus den
ganzen Verein übertragen werden können. Bei einigem guten Willen würden
sich ohne Zweifel die Bedingungen ermitteln lassen, unter denen die See¬
städte im Zollverein so gut wie bisher nach Außen zu handeln im Stande
sein werden, während sie frei mit dem Hinterkante, aus weichem sie Güter
beziehn und welchem sie Waaren zuführen, verkehren würden. Lästigere und
kostspieligere Anordnungen braucht der Zollverein nicht, als sie andere Staa¬
ten dem Verkehr ihrer Häfen vorschreiben, welche bestehn und blühen, ohne
sich dem Handels- wie dem politischen Körper, dem sie angehören, entzieh»
zu wollen. Ein Bedenken aber! muß nothwendig aus dem Wege geräumt
werden, wenn je von einem Anschluß der Hansestädte die Rede sein soll, das
ist die mangelhafte Organisation des Vereins, welche jene Städte mehr als
die Binnenländer fürchten lassen müßten, daß ihre wichtigen Interessen, wich¬
tig nicht allein für sie, sondern für die Betheiligung Deutschlands an dem
Welthandel, nicht die gehörige Beachtung finden würden in einer General-
confcrenz ans Beamten von Binnenstaaten, welchen diese Verhältnisse mehr
oder weniger unbekannt sind, oder bei Verhandlungen mit anderen Staaten
durch eben solche Beamte. Dieses Bedenken, wie so viele bereits aufgezählte
Hindernisse einer gedeihlichen Entwickelung, können allerdings nur gehoben
werden, durch eine bessere Organisation des Zollvereins, welche wir daher
auch, nebst der entsprechenden Vervollständigung seiner Befugnisse auf alle
wirthschaftlichen Verhältnisse, die einer einheitlichen Leitung bedürfen, als das
Ziel aufgestellt haben, welches bei einer Erneuerung des Zollvereins erreicht
werden muß. Hierher mögen ihre Thätigfeit die Regierungen wenden, welche
aus Versehen den Bundestag mit Vorschlägen für Mas;- und Gewichtseinheit
angegangen haben; hier ist ein Feld für fruchtbare Thätigkeit der Stände-
und Handelskammern, der Handwerkertage, der Land- und Forstwirthe, der
Volkswirthe, selbst des Nationalvereins. Es gilt. Deutschland auf Grund
und durch Fortbildung des bestehenden Handelsbundes zu einer volkswirth-
schaftlichen Einheit und Macht zu gestalten, welche bestimmt ist, ein Bundes¬
staat zu werden, oder, falls dW auf anderen Wege gelingen sollte, in dem¬
selben auszugehen und ihm die Mittel für seine militärischen, diplomatischen
Der Ausspruch des lakedämonischen Königs Kleomencs, daß Homer der
Dichter der Spartaner sei, weil er Kriegsthaten besinge und lehre wie man
kämpfen müsse. Hesiod hingegen der Dichter der Heloten, weil er von den
häuslichen Verrichtungen singe und den Landbau lehre, dieser Ausspruch, der
zunächst die streng dorische Gesinnung in ihrem ganzen Stolze und in ihrem
ganzen Selbstvertrauen bezeichnet, kann mit geringen Einschränkungen auf das
hellenische Alterthum überhaupt angewendet werden. Zur Theilnahme an der
öffentlichen Gewalt sind zwar überall nur die Freien, die Bürger berechtigt;
in Griechenland aber ging ihre Thätigkeit fast vollständig in dieser Theilnahme
auf. und alle Versuche, welche einsichtsvolle Gesetzgeber oder Voiksfülner zu¬
weilen machten, die Bürger für eine selbstthätige Wirksamkeit in den niedern
Verrichtungen des täglichen Lebens zu gewinnen, scheiterten an dem hochstre¬
benden Sinne des griechischen Vollbürgers, welchen die ihm mehr oder min¬
der klar, mitunter wol auch sehr unklar vorschwebende Idee der Kalokaga-
edle so vollständig beherrschte, daß er sich aller und jeder banausen Thätjgkeit
enthalten zu müssen glaubte und nur durch die eiserne Nothwendigkeit, etwa
durch den Hunger vermocht werden konnte, seine Borstellungen von der höher«
Berechtigung der hellenischen Race um ein Kleines herabzustimmen. Die Ar¬
beit, das heißt die ganze Summe der mechanischen, nur auf Erwerb gerichte¬
ten Thätigkeit war theils in den Händen persönlich freier, aber politischer
Nichte untheilhastiger Schutzvcrwandter, zum bei weitem größten Theile jedoch
wurde sie von Sklaven betrieben, welche entweder wie in Sparta die Helo¬
ten, in Thessalien die Pcnesten und ähnlich wol mich die Klarsten aus Kreta
einen leibeignen, an die Scholle gebundenen Bauern- und Handwerkerstand
bildeten, oder wie in Athen, Korinth und andern großen Handelsstädten ihrem
Ursprünge nach aus der Fremde eingeführte Kaufsklaven waren.
Die bezeichneten Berhältnisse, wenn anch nach Zeit und Ort mannich-
fachen Schwankungen unterworfen, müssen wenigstens für das Jahrhundert
von den Perserkriegen bis zum Schlüsse des peloponnesischen Krieges, viel¬
leicht sogar mit nur geringen Veränderungen bis zur Unterwerfung Griechen¬
lands unter die makedonische Herrschaft herab als bestehend angesehn wer¬
den. In früherer Zeit scheinen sie mehrfach andre gewesen zu sein, und nach¬
dem Alexanders Militärdespotie die äußerlich starren, aber innerlich morsch
gewordenen Grundlagen des griechischen Staatslebens zerbrochen und dem
Geiste hellenischer Cultur neue weite Bahnen eröffnet hatte, da sehen wir
und können es ziemlich deutlich verfolgen, wie auch diese Verhältnisse der
Regierenden zu den Regierten in den einzelnen Staaten sich wesentlich anders
gestalteten, wie die banausc Thätigkeit der rechtlosen Mehrheit dem auf die
Staatsleitung gerichteten, also in gewissem Sinne idealen Wirken einer be¬
vorzugten Minderheit gegenüber zwar nicht an Achtung — dazu gab es in
Griechenland nach dem Zeitalter des Demosthenes überhaupt wol nur noch
wenig Veranlassung —. aber doch an Berechtigung und an Boden gewann.
Was nach der Schlacht bei Krannon vorläufig für Athen, nach den Niederla¬
gen von Sellasia und Mantineia für Sparta eintrat, das ward nach der Er¬
stürmung von Korinth durch die Römer endgiltig für ganz Griechenland durch¬
geführt: die Auslösung der alten Verfassungen schloß bisher Berechtigte von
der Theilnahme an der Negierung aus und gestattete dagegen bis dahin po¬
litisch Rechtlosen einen Antheil an derselben, soweit natürlich als die neuen
Machthaber es nicht für gut befanden, ihre hellenischen Unterthanen der Mühe
des Regierens überhaupt zu entheben. Allein trotz dieser Lösung der alten
Gegensätze, die ohnedem bei weitem nicht etwa als eine vollständige gedacht
werden darf, und die das Verhältniß von Herren und Sklaven in der Haupt¬
sache kaum ernstlich berührte, finden wir ebenso wenig wie dies vom Bauern¬
stande gesagt werden kann, bis in die späteste Kaiserzeit irgend eine Spur
V
von der Entwicklung eines freien, geachteten , innerlich kräftigen Handwerker¬
standes, der etwa ein gesundes Lebenselement hätte bieten können zu einer
neuen, staatlichen Entwicklung, wie sich ein solches in dem Handwerkerstande
der germanischen und romanischen Völker vorfand, als am Ausgange des
Mittelalters das frühere Verhältniß von Herren und Knechten ferner unmög¬
lich geworden war und der moderne Staat zu seiner Bildung eine Grund¬
lage suchte, auf der er hoffen durfte sich zu erbauen mit der gegründeten
Aussicht aus eine gedeihliche Entfaltung. Im Gegentheil ergibt sich ans
den Berichten römischer und griechischer Schriftsteller, die freilich oft hart,
kaum aber ungerecht urtheilen, das beklagenswerthe Resultat, daß selbst die
tiefste Noth und Erniedrigung die Hellenen nicht vermochte, sich zu einer kräf¬
tigen, ehrenwerthen Arbeitsthätigkeit und zur Achtung vor der Arbeit zu ent¬
schließen: mit wenigen anzuerkennenden Ausnahmen scheint die griechische
Nation zuletzt aus nicht eben hoch geschätzten Banausen, aus Faullenzern,
Seiltänzern, Narren und aus eiuer ziemlichen Anzahl witziger Köpfe bestan¬
den zu haben.
Gleichwol deuten viele Anzeichen darauf hin, daß die Bedingungen wie
zur Entwicklung eines kräftigen, freien Bauernstandes, so auch zur Heranbil¬
dung eines innerlich und äußerlich starken, freien Handwerkerstandes von vorn¬
herein gegeben waren. Die alten Urkunden der Griechen sprechen durchaus
mit Achtung von der Thätigkeit der Handwerker, welche zu der Zeit, als die
homerischen Gesänge entstanden, bereits einen nicht unbedeutenden Grad von
Kunstfertigkeit in ihren Gewerben erlangt haben mochten. Die Paläste
des Alkinoos, Menelaos und Odysseus glänzen von Gold, Silber und Me¬
tall; der Sckild des Achill und des Herakles, die silbernen Dreifüße und Ba¬
dewannen, sowie die künstlich gearbeiteten Schnallen, welche auf große Voll¬
kommenheit der Werkzeuge schließen lassen, bezeugen, daß die Bearbeitung der
Metalle zu einer hohen Stufe der Ausbildung gediehen war. Nur scheint die
Verwendung des Marmors zu Bauten und die Bereitung eiserner Waffen und
Gerätschaften einer spätern Zeit anzugehören. Lieferte auch Sidon noch die
schön gearbeiteten Becher und Mischkrüge und mäonische und karische Frauen
gefärbtes Elfenbein, welches zum Schmucke der Pferdezäume diente, so ver¬
standen doch auch die Griechen des Homer die Kunst des Vergolders schon
und waren nicht unerfahren in der Verwendung des Elfenbeins, das sie von
Außen bezöge«. Nicht mindere Fertigkeit müssen sie im Weben besessen ha¬
ben, wenn auch die Phönikier aus Sidon ihnen, sowie den in der Bildung
höher stehenden Trojanern die vortrefflichsten der gewirkten Prachtgewänder
und Teppiche geliefert haben möge». Die Weberei wurde übrigens, wie die
meisten der andern Handwerke, stehend betrieben: im Sitzen zu weben lernten
die Griechen erst später von den Aegyptcin.
Fallen die Begriffe von Handwerk und Kunst bei Homer meist noch zu¬
sammen, so finden wir doch nirgends, daß die mechanische dem Erwerb ge¬
widmete Thätigkeit nur auf Sklaven beschränkt gewesen wäre, deren Zahl im
Verhältniß zu spätern Zeiten überhaupt als eine sehr geringe zu denken ist.
Die Theken als freie Leute ohne Grundbesitz und Heerden und deshalb auf
Lohnarbeit angewiesen, verrichten dieselben Dienste wie die Sklaven, werden
jedoch ausdrücklich von diesen unterschieden, und selbst einem Freier der Pe-
nelope kann es nur im Uebermuthe beikommen, mit einer gewissen Gering¬
schätzung auf einen um Lohn Dienenden herabzusehn. Weiß doch Euryma-
chos so gut wie die übrigen Freier den Werth der Arbeit zu schätzen, und er-,
klären sie doch den Odysseus hauptsächlich deshalb für so verächtlich, weil er
als Bettler und Hungerleider auftrete, der weder Geschick, noch Lust und Kräfte
zur Arbeit habe und unter dem Volke umherschleiche, um seinen unersättlichen
Bauch zu füllen. Entschiedene Freude an der Arbeit und Achtung vor der¬
selben spricht Odysseus aus, wenn er in Erwiderung auf die frechen Bemer¬
kungen des Eurymachos diesen zu einem Wettstreite der Arbeit herausfordert.
Ja selbst das Ideal griechischen Heldenthums, Achill, bei dem wir gewiß keine.
Neigung voraussetzen dürfen, seiner Würde auch nur das Geringste zu verge¬
ben, erklärt mit Bestimmtheit dem Odysseus, der das Loos des mächtigen
Todten pries, daß er, natürlich als freier Thete. ja nicht etwa als Sklave,
lieber einem armen Manne um Tagelohn dienen, als über all die Todten
im Schattenreiche herrschen wolle. Erst der Sophokleische Teukros glaubt in
dem Streite mit Menelaos sich dagegen verwahren zu müssen, daß man ihm
die Bogenschützenkunst als eine banause Fertigkeit anrechne. Die ältere Zeit
kennt die Banausen als Feuer- oder Ofcnarbeiter, als Stubensitzer in dein
verächtlichen Sinne, in welchem man sich später dieses Ausdrucks bediente,
durchaus nicht: dem Homer und Hesiod ist selbst das Wort unbekannt. Ihnen
sind vielmehr die Demiourgcn, die des Erwerbs wegen für das Volk, für
die Mitbürger arbeiten, achtbare und gesuchte Leute. Der Zimmermann, der
Schiffsbaumeister steht in gleicher Geltung wie der Scher, der Arzt, der
Sänger oder wie der Gefährte der Edeln, der Herold. Den Tychios, welcher
dem Ajax den siebenhäutigen Schild verfertigt hatte, schließt kein unliebsamer
Ledergeruch von einer ehrenvollen Erwähnung in der Ilias aus, trotzdem,
daß wir vermuthen möchten, er sei in häufigere und nähere Berührung mit
dem Rohmaterial seines Handwerks gekommen als der Kleon des Aristopha-
nes. Den gefallenen Patroklos entehrt es nicht, daß der Kampf um seinen
Leichnam durch ein Bild veranschaulicht wird, das von der Gerberei entlehnt
ist. Und wie das zahlreiche Geschlecht der Lederarbeiter vom Gerber und
Kürschner herab bis zum Schuh- und Handschuhmacher volle Anerkennung
findet, so werden auch die übrigen Handwerker von dem Altmeister der Dicht-
kunst in rühmender Weise genannt. Den Stellmacher oder Wagner, der mit
funkelnder Axt die glatte Schwarzpappel füllt, um sie zum Radkranze für den
prächtigen Wagen zu biegen, kannte der homerische Held nicht gering schätzen,
und die Metallarbeiter, die Schmiede, die ihren Vertreter selbst im Olymp
haben, namentlich die Waffenschmiede waren für ihn viel zu wichtige Persön¬
lichkeiten, als daß er nnr hätte daran denken können, sie zu mißachten. Aber
auch der Goldschmied Laertes, der mit Ambos. Hammer und Zange das
Gold sinnreich zu verarbeiten weiß, und Jkmalios, der feines Hausgeräth
liefert, seines Handwerks also ein Kunsttischler, sind würdige Meister ihres
Gewerbes. In demselben Grade gellen die Töpfer, die Weber oder vielmehr
Weberinnen und alle Demiourgen, welche Namen sie immer führen mögen,
nicht nur als nützliche, sondern auch als ehrenwerthe Männer. Es ist rührend
zu hören, mit welch' inniger Achtung vor der Arbeit die dürftige Lohnspinne¬
rin als eine redliche Frau bezeichnet wird, weil sie in treuer Liebe zu ihren
Kindern einen wenn auch nur kärglichen Gewinn erstrebt von dein Fleiße
ihrer Hände. Hesiod sagt ausdrücklich, daß nicht die Arbeit, sondern die Un-
thätigkeit, der Müßiggang Schande bringe, ein Gedanke, der. wie wir sahen,
der Anschauung der spartanischen Oligarchen etwa um das Jahr 500 nicht
ganz entsprach.
Es würde leicht sein unsre Behauptung, daß die Grundlagen zur Ent¬
wicklung eines ehrenwerthen, freien Handwerkerstandes, nämlich die Achtung
vor der Arbeit und der gute Wille zu arbeiten, sowie Geschick und Kräfte
dazu in Griechenland von vornherein dagewesen seien, durch eine lange Reihe
sprechender Beispiele zu stützen. schwiegen wir auch von den heilkundigen
und andern erfahrenen Männern, weil sie zwar dem alten Hellas ebenfalls
nur als Demiourgen, galten, für uns hingegen, die wir eine Darstellung des
Handwerks im Alterthume beabsichtigen, außerhalb dieses Begriffs fallen, wie
ihn die moderne Anschauung festgestellt hat; unterließen wir also von den
Aeskulnpsöhuen zu sprechen, von Machaon und Podaleirios, deren jeder einer
ganzen Scharr andrer Männer gleichgeachtet wird, oder von dem Centauren
Cheiron, dessen Erfahrungen sich auf Achill und Patroklos vererbten, oder
von Autolykos und dessen Söhnen, die den Odysseus verbinden und pflegen,
als er auf der Jagd von den Hauern eines Ebers getroffen ist, oder endlich
von Apollon, der das Blut der Wunde und die Schmerzen zu stillen weiß,
und von Paon. der im Olymp auf des Göttervaters Geheiß den verwunde¬
ten Ares heilt; thäten wir aller dieser und ähnlicher Beschäftigungen, die,
sobald Erwerb damit verbunden war, dem spätern Griechen freilich auch als
banause erschienen, gar keine Erwähnung, so würde doch die aithellenische
Welt Belege genug bieten zur Begründung unsrer Voraussetzungen. Wir
brauchten uns nicht auf Dädalos und die Dädaliden zu berufen, die Schöpfer
bewundernswürdiger Werke, oder gar auf die idäischen Daktylen, die Telchi-
nen in Rhodos oder auf die Korybanten der'Großen Mutter: wir könnten
einfach an Anchises erinnern, der die Rinder weidete, als ihn die süßiächelnde
Göttin aufsuchte, um ihm ihre Gunst zu schenken, oder an Aeneas, an die
Söhne des Priamos auf dem Ida, an die sieben Brüder der Andromache.
die Achill bei den Heerden erschlug. Sie alle halsen den Knechten bei der
Arbeit, obschon sie Fürstensöhne waren. Der fingirte Wahnsinn des schlauen
Beherrschers von Ithaka ward von dem noch schlaueren Palamedes. der in
der Geschichte der Erfindungen mehrfach genannt wird, bekanntlich bei einer
banausen Beschäftigung entdeckt, und Odysseus ist es auch, der sich rühmte,
daß er Holz spalten und zum Feuer zusammenlegen, Fleisch braten und zer¬
theilen, sowie ähnliche Dienste geringer Leute verrichten könne. Sein Bett
zimmerte er mit eigner Hand; im Schiffsbau war er gleich erfahren. Vor¬
trefflich scheint sich auf den Gartenbau sein Vater Laertes verstanden zu ha¬
ben. Paris betheiligte sich mit sachkundigen Gehilfen bei dem Baue seines
Palastes; sein Bruder Lykaon schnitt Holz zum Wagen, und die Brüder der
Nausikaa leisteten ihrer Schwester Dienste, die das spätre Alterthum und unsre
Zeit nur von Stallknechten zu beanspruchen Pflegt. Und wie die niedrigsten
Verrichtungen die Männer nicht entehrten, so gab es noch weniger Anstoß,
wenn Frauen sich selbst der geringsten weiblichen Beschäftigungen befleißigten.
Die Phäakenfürstin und ihre sittige Tochter, welche recht wol gewußt zu ha¬
ben scheint, wie in dem für manche Haushaltungen so bedeutenden und drücken¬
den Wäscherlohne Ersparnisse anzubringen seien, Penelope ferner, Andromache
und andre Frauen und Töchter der Edeln sind Muster wirthschaftlicher Häus¬
lichkeit. Selbst Helena verdient insofern das Lob einer bedächtigen und flei¬
ßigen Hausfrau, als sie trotz der Unterbrechungen und mehr oder minder
freiwilligen Reisen, wozu das Unstätte ihrer Neigungen sie veranlaßte, dennoch
ganze Kästen mit den Werken ihrer emsigen Hand gefüllt hatte.
Allein es bedarf aller dieser Ausführungen wenig, wenn wir darauf hin¬
weisen, daß der religiöse Glaube des griechischen Volks die Arbeit im eigent¬
lichen Sinne des Wortes in den Himmel erhob und sie durch die Thätigkeit
der Unsterblichen geheiligt werden ließ. Wir meinen nicht den Frohndienst,
den Poseidon und Apollon dem betrügerischen Laomedon leisteten; wir denken
nicht um die goldne Spindel der Artemis, an den Webebaum der Kalypso
und Kirke oder an die mannichfachen Verrichtungen der Hebe; auch die dunkle
Gestalt des Prometheus rufen wir nicht herbei: Athena Ergane vielmehr und
Hephästos sind es, die wir hier im Auge haben.
Mögen auch gelehrte Mythologen die Erscheinung der ersteren noch so
tiefsinnig deuten, dem gemeinen Manne in Athen und Sparta, in Elis, Thes-
piä und wo sie sonst noch verehrt wurde, war die Göttin in dieser Gestalt
das Ideal höherer und niedrer Kunstfertigkeit, in gewissem Sinne allerdings
die Spinnerin Berta der deutschen Mythologie. Von ihr leitete schon die
älteste Zeit die Weberei ab, und die Sage wußte von manchen Prachtgewän¬
dern zu erzählen, welche Athena entweder sür sich selbst oder für andre Götter
und Helden, namentlich für Herakles gewebt oder gestickt oder sonst sinn¬
reich verziert hatte. Sie war die Vorsteherin derer, die künstliche Schmuckar¬
beit fertigten: aber much die Zimmerleute und Schiffsbaumeister, die Wagcu-
schmiede, Goldarbeiter, Töpfer sind von ihr belehrt. Und in später Zeit, als
Griechenland längst entartet und auch in Rom das Gestirn des göttlichen
Julus bereits verblichen war, als das Volk den Glauben an die Götter und
die Achtung vor der Arbeit und vor sich selbst verloren hatte, da gefällt sich
die Poesie darin, weitläufig auszuführen, wie auch der Waller, der Färber,
der Schuhmacher, kurz wie Handwerk und Kunst sich ohne die blauäugige
Pallas nicht zu rathen wüßten. In der Nähe des arkadischen Orchomenos
war ein Tempel der Athena Mechanitis, und in den letzten Tagen des atti¬
schen Monats Pyanepsion, also in der ersten Hälfte des November, feierte
man in Athen der göttlichen Lehrmeistern und Beschützerin der Künste und
Handwerke das Fest der Schmiede, die Chaikeen und Athenäen, über welche
uns leider ausführlichere Angaben fehlen. Vor Alters mag es ein allgemei¬
nes Volksfest gewesen sein: nach Beendigung der Sommerarbeit in der freien
Natur wollte man sich sammeln und den Segen der hehren Göttin herab-
flehen zum Beginn der Winterthütigkeit daheim. Während der rauhen aber
kürzern Jahreszeit sollte durch häusliche Beschäftigung sür den eignen Heerd
und sür das Wohl der Mitbürger dasselbe erreicht werben, was man in der
mildern und langen Jahreshälfte durch Feldarbeit gewann: Familie und
Staat sollten in allen ihren Bedürfnissen sicher gestellt werden. Darum betete
man zu Athena. Das Fest war natürlich in späterer Zeit, entsprechend dem
veränderten Volksgeiste der Griechen, von keiner großen Wichtigkeit mehr,
und ward nur noch von den Handwerkern, besouders von den Schmieden,
also, nach der Ansicht der großen Philosophen, von Wesen untergeordneter
Art gefeiert. Ein Brauch blieb aber für alle Zeiten, der uns die ursprüng¬
liche Bedeutung und den Zusammenhang dieses Festes mit dem Hauptfeste
der Göttin ahnen läßt. An den Chalkeen ward nämlich die Arbeit an dem
Prachtpeplos der Athena begonnen, an welchem auserwählte Frauen und
Jungfrauen Athens fast neun Monate lang ihre besten Künste der Weberei
und Stickerei zu üben pflegten, bis am Haupttage der großen Panathenäen
die Darbringung jenes reichen, mit den kunstvollsten Bildern geschmückten
Obergewandes erfolgte, von welcher der bekannte Cellafries am Parthenon
eine lebendige Anschauung gewährte.
Aufs Engste mit Athena verbunden erscheint wenigstens im attischen Cultus
'
Hephästos, wie er denn auch ein den Chalkeen, wo beim Zurücktreten des
grüßen warmen Himmelslichtes der Bürger das Heerdfeuer aufsuchte, um da¬
bei zu wirken und zu schaffe», gemeinschaftlich mit dieser seiner Freundin verehrt
wurde. Er ist recht eigentlich der Gott der Handwerker, das Urbild der Ba¬
nausen, nicht von reizender Gestalt, sondern gebrechlich und lahm, wie die
Handwerker bei einer sitzenden Lebensweise leicht in ihrer Entwicklung zurück¬
bleiben tonnen. Schon hier mischt sich ein komisches Element dem Wesen
des Göttcrschmieds bei, wie es dem Charakter des Handwerkers von echter
Art nicht fern liegt; und dieses Komische steigert sich in dem Verhältnis; des
Hephästos zum Dionysos bis zur lustigsten Ausgelassenheit, wozu bei unserm
Handwerker eine Analogie zu finden nicht schwer fallen dürfte. Die mannich-
fachen Werke des kunstreichen Gottes, insbesondre der glänzende Waffenschmuck
Aedilis, sind allbekannt. D>e Werkstätte in dem Paläste, weichen sich der
schmausende, allezeit thätige und dienstbereite Gott erbaut hat, enthält den
ganzen Zubehör einer Schmiede, Blasebalg, Ambos, Hammer und Zange.
Der Nuß nöthigt ihn, ehe er Besuche empfangen kann, Geficht und Hände zu
waschen. Eine gewisse Unbeholfenheit und Derbheit, die bei ihm zuweilen
hervortritt, schließt die Eigenschaften der Gutmüthigkeit, Treuherzigkeit, Ge¬
fälligkeit nicht aus; mit kurzem Worte, er ist eben ein göttlicher Handwerker.
Wenn also ein Gott schmiedete und Göttinnen webten, so mußte noch
mehr für die Menschen gelten, daß Arbeit nicht sekände oder eine niedrige
Beschäftigung die Unfähigkeit, für die höher» Interessen des Lebens zu wirken,
nothwendig bedinge. Diese Ansicht war früher in Hellas die herrschende, und
auch späterhin versuchte man noch zuweilen, sie wenigstens im Princip festzu¬
halten. Weise Männer erkannten, daß man durch Gesetze und Strafbestim¬
mungen nicht bessere, wenn nicht die Erziehung den Sinn für das Gute in den
Seelen wecke und es zur Gewohnheit mache. Sie suchten daher die Bürger
zur Thätigkeit anzuleiten, um sie hierdurch vom Schlechten abzuhalten. Die
drakonische Gesetzgebung bestrafte den Müssiggang mit dem Verluste der bürger¬
liche» Rechte, und nachdem Solon durch die Lastennbschütteluug die niedern
Volksclassen von dem Drucke der übermächtigen großen Grundbesitzer befreit
hatte, suchte er die so Befreiten zu nützliche» und lohnenden Beschäftigungen
zu veranlassen, durch welche sie vor neuer Verschuldung und Dienstbarkeit, sowie
vor den Verirrungen und Lastern bewahrt werden sollten, denen eine müssige,
besitzlose und hungernde Menge mir zu leicht verfällt. Die Aufnahme Fremder
unter die Schutzverwandten — wol nicht, wie Plutarch irrthümlicher Weise
berichtet, unter die Bürger — wurde nur denen gestattet, welche ein Handwerk
verstanden und sich bleibend in Attika niederzulassen erklärten; das angeblich
ägyptische Gesetz, daß jeder Landesangehörige nachweisen sollte, wovon er
lebe, übertrug Solon auf die athenischen Bürger und setzte den Areopag zum
obersten Wächter dieser nützlichen Bestimmung. Jeder Athener hatte das Recht
und die Pflicht, einen Müssiggänger vor diesem Gerichtshöfe anzuklagen, ein
Verfahren, in welchem fteilich der Spartaner Herondas, der Zeuge desselben
war, eine Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit erblickte, die man aus
diese Weise zum Verbrechen mache. Zwei junge Männer, Menedemus und
Asklepiadcs, wurden voe den Areopag citirt, um von den Mitteln zu ihrem
Unterhalte Rechenschaft zu geben, da man in Erfahrung gebracht hatte, daß
sie ohne Vermögen waren und dennoch den ganzen Tag in den Hörsälen der
Philosophen zubrachten. Als es sich zeigte, daß die Junger der Weisheit,
um ihren Wissensdurst befriedigen zu können, während der Nacht in einer
Mühle zu arbeiten und allnächtlich zwei Drachmen (Obolen?) zu verdienen
Pflegten, entschied der Gerichtshof, daß einem Jeden zweihundert Drachmen
verabreicht werden sollten. Tragen solche und ähnliche Erzählungen, die wir
meist spätern Sammlern verdanken, anch den Charakter des Anekdotenhaften
an sich, so zeugen sie doch zur Genüge von dem Geiste, der im ältern Griechen¬
land herrschte in Bezug auf einen redlichen, wenn auch niedern Erwerb. Der
große Gesetzgeber der Athener bestimmte sogar, daß, wenn ein Sohn durch die
Schuld des Vaters nichts gelernt hatte, wovon er sich hätte ernähren können,
er nicht verpflichtet war, im Alter für diesen zu sorgen. Kein Gewerbe sollte
von der Rednerbühne ausschließen; einen Bürger wegen seiner Beschäftigung
zu schmähen, zog Strafe nach sich. Aber vergebens kämpfte Solon gegen den
neu aufstrebenden Geist: er konnte der Arbeit ebenso wenig Achtung verschaffen,
wie nach ihm Peisistratos, welcher die Tagediebe vom Markte vertreiben ließ.
Fragen wir nun nach den Ursachen, welche der Entwicklung eines freien
und geachteten Handwerkerstandes auf den früher bezeichneten, allerdings vor¬
handenen Grundlagen feindlich entgegenwirkten und dieselben zuletzt fast gänzlich
zerstörten, so müssen wir bereits in der lykurgischen Gesetzgebung oder viel¬
mehr hinter dieser in der dorischen Wanderung und deren Folgen die Anfänge
einer Abneigung gegen die Arbeit und besonders gegen das Handwerk suchen.
Nach der Arderon>fung von Lakonien und Messeinen übte die Herrschaft über
diese große Landstrecke, die den dritten Theil des Peloponnes einnimmt, eine
Anzahl Vvltvürger dorischen Ursprungs, die selbst in der Blütezeit Spartas
nicht mehr als etwa 9000 Familien gebildet haben können. Die 30000 Periöken-
familicn waren von der Theilnahme an der Staatsregierung ausgeschlossen:
ihren politischen Pflichten entsprachen keine politischen Rechte. Die Heloten
endlich, deren Zahl mindestens auf 175000, von den meisten Schriftstellern
aber weit hoher angegeben wird, genossen nicht einmal der persönlichen Frei¬
heit und waren ihren Unterdrückern stets ein Gegenstand argwöhnischer Besorgniß.
Dieser Umstand nöthigte die Spartaner von vornherein zum ausschließlichen
Waffendienste und zu beständiger Kriegsbereitschaft, wodurch sie von selbst oder
an der Ausübung eines Handwerks behindert waren. Die anfängliche Noth¬
wendigkeit ward bald zur Gewohnheit, welche Lykurg zum bindenden Gesetz
erhob, und je weiter im Laufe der Zeit die Kluft, je untilgbarer der Haß
ward zwischen Siegern und Besiegten, desto schroffer erhob sich der Spartiat
in stolzem Selbstbewußtsein, mit um so tiefrer Verachtung blickte er herab auf
die Arbeit, die eines freien Bürgers unwürdig sei. Die Bestellung der Aecker
und die Betreibung der Handwerke war sonnt im Süden des Peloponnes
durchaus aus die halbfreien Periöken und die unfreien Heloten beschränkt, und
es ist nur zu verwundern, daß dieser Umstand sowie die Heranziehung der Ersteren
zu Kriegsdiensten und die gelegentlichen Gewaltmaßregeln gegen Letztere, vor
Allem der oft blutige Gensdarmeudienst der Krypteia, einer gedeihlichen Ent¬
faltung der Arbeitsthätigkeit nicht noch hinderlicher waren. Aehnliche Verhält¬
nisse mögen in den meisten andern dorischen Staaten und in Kreta, sowie in
dem von einer stolzen Adelsoligarchie beherrschten Thessalien stattgefunden,haben.
Korinth allein machte hiervon eine bemerkenswerthe Ausnahme; die Einträg¬
lichkeit der Gewerbe hatte dort frühzeitig auch eine höhere Schätzung derselben
gelehrt, und der Mangel ausgedehnten Grundbesitzes wies von selbst auf die
Pflege der Handwerke und aus kaufmännische Unternehmungen hin. In der
korinthischen Kolonie Epidauros hingegen gab es keine Handwerker außer deu
öffentlichen Sklaven.
Natürlich mußten diese tiefgreifenden Umwandlungen im Peloponnes so¬
wie im Norden des eigentlichen Hellas einen wesentlichen Einfluß üben auch
auf die Staaten nicht dorischer Bevölkerung. Der steten Kriegsbereitschaft
der Spartaner gegenüber war man, um die politische Selbständigkeit wahren
und sich früher oder später von der lakcdämonischen Hegemonie emancipiren
zu können, zu einer ähnlichen Wehrhaftmachung der gesammten freien Bürger¬
schaft genöthigt. In Böotien war oh»edles eine gewisse Herrschaft der spä¬
ter eingedrungenen Aeolicr über die ältern Landeseinwohner, wenn auch nicht
in so ausgeprägter Weise wie in Lakonien und Messenien, gegeben. Lokris
und Phokis mögen zwar, wenigstens in früherer Zeit, weder das Verhältniß
der Leibeigenschaft noch das der Sklaverei gekannt haben, doch waren diese
Staaten zu klein und zu wenig befähigt zu einem großartigen Eingreifen in
die culturgeschichtliche Entwicklung Gesammtgriechcnlands, als daß die Aus¬
nahme, die sie bildeten, von irgend welcher Bedeutung hätte sein können.
Die wilden Aetolier vollends und die rauhen Atarnanen können hier ebenso
wenig in Betracht kommen, als die Verhältnisse der Epiroten für uns In¬
teresse haben. Wol aber sind die Zustände in Attika von hoher Wichtigkeit.
In diesem kleinen, von der Natur nicht eben reich gesegneten Lande von
kaum 40 Quadratmeilen wurden Sklaven ohne Zweifel schon lange vor der
solonischen Zeit, jedoch wol meist nur zu persönlicher Bedienung der Vorneh-
meren verwandt. Des Feldbaus und der Gewerbe, soweit von letzteren da¬
mals überhaupt die Rede sein kann, nahm sich die Phyle der Argadeis jeden¬
falls am eifrigsten an. Solon konnte der Vermehrung des Sklavenbestandes
nicht günstig sein, da er >im Gegentheil der durch den Druck des Adels in
actuelle Sklaverei gerathenen ärmern Bürgerschaft durch die Seisachthie
wieder zu ihrer Freiheit verholfen hatte und den Zweck verfolgte, fleißige, ar¬
beitsame Bürger zu erziehen. Die vierte Schätzungsclasse seiner timokratischen
Verfassung, die Theden, welche zwar das Stimmrecht in den allgemeinen
Volksversammlungen besaßen und zum Beisitz in den großen Geschwornen¬
gerichten berufen werden konnten, aber von allen obrigkeitlichen Aemtern aus¬
geschlossen waren, werden sich also vorzugsweise der Gewerbsthätigkeit, die
damals noch in Ehren stand, befleißigt haben. Daß die Tyrannis einer Er¬
weiterung der Sklaverei als eines Instituts, das ihrem Wesen entgegengesetzt
ist, nicht geneigt sein durfte, versteht sich von selbst. Eine massenhafte Ein¬
führung von Sklaven hat also nicht wol vor der kleisthcnischen Verfassungs¬
veränderung, wahrscheinlich aber erst während der Perscrkncge und nach
denselben stattgefunden. Athen hatte den Sieg bei Marathon fast allein ge¬
wonnen: seine ganze waffenfähige Mannschaft bewies eine Tüchtigkeit der Ge¬
sinnung, einen Muth zu edeln Entschlüssen und eine Kraft zu männlichen Tha¬
ten, wie die Geschichte nur selten davon berichtet hat. Und als die Gefahr
zehn Jahre später abermals Griechenland bedrohte, unter die Botmäßigkeit
orientalischer Barbarei und Despotie zu verfallen, und als die „Hellenenkin¬
der kamen und das Vaterland befreiten und Weib und Kind und die Sitze
der heimischen Götter und die Gräber der Ahnen" — da hatte Athen die
meisten Kämpfer gestellt und auch die tapfersten waren Athener. Die Pelo-
ponnesier müssen sogar, wenn nicht der Mutlosigkeit, so doch der Selbstsucht
bezüchtigt werden.
Athen war dnrch sein heldenmüthiges Einstehn für die Sache des ge¬
meinsamen Vaterlandes in Wahrheit der erste Staat in Griechenland gewor¬
den und an die Spitze einer zahlreichen Bundesgenossenschaft getreten, die an
Macht und Umfang größer war als die Bundesgenossenschaft der Peloponne-
sier. Wollte es sich in dieser Stellung behaupten, den Mißgünstigen begegnen,
die Abgeneigten festhalten, so hatte es alle seine Kräfte anzustrengen und sich
auf den Kampf vorzubereiten, der früher oder später mit Sparta geführt wer¬
den mußte um die Vorherrschaft in Griechenland. Der Ruhm des Sieges
über die Perser gebührte nicht blos dem unverzagten Muthe und den klugen
Rathschlüssen der Führer, er gebührte dem Volte, welches jenen Muth zu thei¬
len und jene Rathschlüsse zu vollführen fähig war, und in dem Volte nicht
blos den Höhergestellten und Begüterten, sondern in gleichem Maße den nie¬
dern und ürmern Bürgern, den Feldbauern und Handwerkern. Dies veran-
laßte den gerechten Aristides, die reine Demokratie zu vollenden, das heiß^
auch diejenigen Schränken aufzuheben, welche die unterste Schätzungsclasse der
Thaten von den Siaatsümtern bisher ausgeschlossen hatten. Die Maßregel
war gerecht, allein sie war, wenn wir nicht irren, der Anfang großen Unrechts
und herben Verhängnisses für Athen und Hellas. Hätte Aristides ahnen kön¬
nen, welche Folgen sein Gesetz haben mühte, wir glauben, er würde minder
gerecht gewesen sein.
Der unbemittelte Bürger konnte seine Thätigkeit nicht zugleich dem Staate
und seinem Gewerbe widmen; überhaupt würde die geringe Zahl ätherischer
Vollbürger wol schwerlich vermocht haben, ihre Stellung den Spartanern
gegenüber zu behaupten, wenn sie ihrem demokratischen Staatswesen nicht
hätte eine Unterlage geben können, ähnlich derjenigen, worauf die aristokra¬
tische Großmacht des Peloponnes beruhte. Diese Grundlage ward ermög¬
licht durch die Einfuhr von Sklaven, hauptsächlich aus Lydien, Phrygien und
den übrigen Provinzen Kleinasiens, sowie aus Thracien und den skythischer
Gegenden. Auf den Sklavenmärkten in Chios, Delos und Byzanz wurden
sie in großer Anzahl aufgekauft und von nun an allgemein zur Betreibung
bauauscr Verrichtungen verwendet, deren sich die athenischen Bürger mehr und
mehr entwöhnten und zu schämen anfingen.
Diese Verhältnisse mögen sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte, nach¬
dem der Antrag des Aristides durchgegangen war, ausgebildet haben; bis
zum Anfange des peloponnesischen Krieges, wo sich zuerst nachtheilige Folgen
zeigten, waren sie vollständig entwickelt. Die Zahl der attischen Sklaven, die
zur Zeit des Demetrius Phalereus 400000 betrug, wird sich um das Jahr
i30 v. Chr. etwa aus 360000 belaufen haben, während die Zahl freier äthe¬
rischer Bürger, die 120 Jahre später zu 21000 angegeben wird, damals nicht
wohl 15 bis 16000 überstiegen, haben kann. Das Verhältniß der freien zur
Stiavenbevölkernng war also wie 1 zu 5. Außerdem lebten in Attika und
zwar wol hauptsächlich zu Athen etwa ,10000 Familien Schutzvcrwandter.
Wir könnten geneigt sein, in diesen Angaben Zahlenfehler zu vermuthen, wenn
sie nicht durch sichre Zeugnisse geschützt wären. Freilich klingt es fast un¬
glaublich, wenn berichtet wird, in Korinth seien 460000. auf der kleinen In¬
sel Aegina 470000, auf Chios eine noch größere Anzahl von Sklaven ge¬
wesen. In Athen gab es wol schwerlich irgend ein so armes Bürgerhaus,
welches gar keine Sklaven besessen hätte; reiche Leute aber hatten bisweilen
mehrere Hunderte. Nikins allein beschäftigte ihrer Tausend in den Bergwer¬
ken und die Bewohner von Elatca in Pholis beklagten sich, daß ihr Fürst
Mnason, der Freund und Schüler des Aristoteles, tausend Handwerkssklaven
unterhalte und dadurch eben so vielen armen Bürgern die Nahrung entziehe.
Wir haben ausführlich bei der Darstellung dieser Zustände verweilt, um
zu zeigen, welche Ursachen der Entwicklung eines freien Handwerkerstandes
feindlich entgegentreten. Es gilt jetzt nachzuweisen, wie die aufkeimende An¬
sicht, daß eine bemause Beschäftigung, besonders wenn sie Lohnerwerb be¬
zwecke, des freien Bürgers unwürdig sei, im Laufe der Zeit weiter ausgebil¬
det und geflissentlich groß gezogen wurde. In-seltsamer Verblendung wett¬
eiferten Staatsmänner und Philosophen mit einander in dem Bestreben, dem
Athener das Handwerk zu verleiden, und die Komödie unterstützte sie darin
nach Kräften.
Während früher die unbemittelten Bürger es vorgezogen haben werden,
ihre eignen Geschäfte zu treiben, von denen ihr Unterhalt abhing, statt sich
Amtsverrichtungen aufzubürden, für die sie nicht bezahlt wurden, so gestalte-
ten sich seit Perikles diese Verhältnisse wesentlich anders. Dieser große Staats¬
mann suchte das demokratische Element zu verstärken und als ein Gegenge¬
wicht gegen die oft selbstsüchtigen und particulanstischen Bestrebungen der
Wohlhabenderen eine größre Betheiligung der unteren Classen an den Staats¬
geschäften zu bewirken. Zu dem Zwecke führte er oder die Politiker seiner
Partei für die Functionen im Rathe und in den Gerichten, sowie für den Be¬
such der Volksversammlungen eine regelmäßige Besoldung ein, welche anfangs
zwar sehr mäßig war und für die Theilnahme an den Ekkiesien und die rich¬
terliche Thätigkeit nicht mehr als einen Obol (etwas über einen Silbergroschen)
betrug, von spätern Demagogen aber auf das Dreifache erhöht wurde. Na¬
türlich fand der arme Bürger es bequemer, für eine mühelose und obendrein
ehrenvolle Beschäftigung vom Staate seinen Triobolos zu erhalten als im
Schweiße seines Angesichts durch banause Arbeit sein Brod zu verdienen.
Dazu kamen die ebenfalls von Perikles eingeführten Theorikenspenden, welche
aus der Staatskasse an das Volk verabreicht wurden, um diesen die Theil¬
nahme an den Festspielen und den Besuch der Theater zu erleichtern. Daß
durch den Ettlesiastensold und den Richterlohn die ärmern Bürger sich den
Lastträgern gleichstellten, wie Aristophanes meinte, ließ man nicht gelten; die¬
ser Erwerb ward eben nicht als Banausie angesehn. Arbeitscheu, Vergnügungs¬
sucht, Geldgier, Geschwätzigkeit waren die Folgen. Drei Obolen reichten bei
der ursprünglichen Genügsamkeit des gemeinen athenischen Mannes und der
wenigen Bedürfnisse, die er hatte, ziemlich aus sich und seine Familie zu er¬
halten; was daran fehlte, mußte der Sklave, falls nicht mehr als einer im
Hause war, verdienen. Daß die Verhältnisse einmal minder günstig werden
könnten, daran dachte man nicht; meinte man doch an der persischen Beute
und an den Summen, die von den verbündeten oder unterthänigen Staaten
in die Bundeskasse nach Athen flössen, einen Rückhalt zusahen, auf den sich¬
rer Verlaß war.
Seit die Brüder Grimm gelehrt haben, wie wichtig für Kenntniß
früherer Culturzustände die deutschen Volkslieder, Sagen und Mährchen sind,
ist eine stille Gemeinde von Sammlern unablässig bemüht, diese Traditionen
aus alter Zeit dem Munde des Volkes abzulauschen, bevor sie vollends ver¬
klingen. Wenn auch zuweilen ungeschickter Dilettantismus an diesen ehren¬
werthen Bestrebungen hängt, so ist doch auch zu rühmen, daß nicht wenige
ansehnliche Gelehrte in dieser Richtung rastlos thätig sind. Selbst dem ge¬
bildeten Dilettanten ist jetzt möglich geworden, Nützliches zu fördern, denn die
richtigen Gesichtspunkte, nach denen Lieder, Märchen, Sagen und Volksge¬
bräuche gesammelt werden müssen, sind allgemein bekannt. Es wird nicht
mehr vorzugsweise der poetische Reiz gesucht, welcher zufällig solche Habe des
Volks verklärt, sondern es ist der mythologische und historische Inhalt, wel¬
cher die Sammler anzieht. Und der große Zweck aller solcher Auszeichnun¬
gen ist der: die Eigenthümlichkeit des deutschen Namens, Geist, Gemüth,
bis in eine entfernte Zeit zu erspähen, in welcher die geschichtlichen Nachrich¬
ten aufhören.
Durch diese und verwandte Quellensammlungen ist uns eine ganz neue
Kenntniß der ältesten Zeit aufgegangen; nach mancher Seite hin bereits so
reich und sicher, daß uns jetzt schon möglich ist, die Berichte des Cäsar und
Tacitus kritisch zu begutachten, Einseitigkeiten und Mängel ihrer Auffassung
zu verstehn.
Denn das Bild, welches die großen römischen Staatsmänner von den
Zuständen des deutschen Volkes geben, — im Ganzen doch selbst bei Tacitus
kurze Notizen — bedürfte dringend der Ergänzung und weiteren Ausführung.
Wol waren sie befähigt, die kriegerische Wucht, den sittlichen Kern und die
dauerhafte Tüchtigkeit der deutschen Natur zu würdigen, aber die Culturzustände,
die realen Grundlagen des deutschen Lebens, die älteste Production und die
sociale Ordnung der gefährlichen Völker sind von dem überfeinerten Italiener
ebenso unterschätzt worden, als Klima und Vegetation des Landes. Lange
hat man nach ihren Berichten die Germanen für wilde Kriegerstämme gehal¬
ten, die erst im Uebergange vom Nomadenleben zu einer losen Seßhaftigkeit
waren, und es siel selten einem Geschichtschreiber ein, zu fragen, wie es mög¬
lich war, daß solche Horden den disciplinirten Heeren der größten Erdennacht
durch Jahrhunderte siegreichen Widerstand leisten konnten. Wenn Cherusker,
Kutten. Brukterer und andere ^Völker von sehr geringer geographischer Aus¬
breitung römische Legionen schlagen konnten, so lag der Schluß doch nahe,
daß solche Stämme, welche mit ihren Bundesgenossen zwanzigtausend, dreißig¬
tausend Krieger in's Feld stellen konnten, eine Menschenmasse enthalten mu߬
ten, welche oft über die Hunderttausende hinausging, und nicht weniger nahe
lag der zweite Schluß, daß solche Menschenmenge auf scharfbegrenzten Raume
von kriegerischen Nachbarn umgeben, doch nur ezistiren konnte unter allen Be¬
dingungen einer, wenn auch einfachen, aber regelmäßigen und tüchtigen Pro-
duction der Lebensmittel und realen Bedürfnisse. Jetzt wissen wir. daß nicht
wenige deutsche Stämme schon zur Römerzeit in Verhältnissen lebten, welche
auf dem Lande bis in das späte Mittelalter bestanden haben, hier in einzel¬
nen Gehöften, dort in geschlossenen Dörfern, mit sorgfältig abgesteckten Gren¬
zen, in verschiedenartiger, aber sehr fester Eintheilung der Gemeindeflur, in
Höfen und Häusern, deren Beschaffenheit sich in manchen Gegenden bis auf
die neue Zeit wenig geändert hat. Wahrscheinlich hat wenig später, als Ta-
citus schrieb, der Marschbewohner an der Nordsee den ersten Damm gegen
die brandende See gezogen, schon stand sein Wohnsitz auf den Wurden, den
kleinen Erdhügeln, welche ihn bei tobender Fluth über dem Wasser erhielten,
schon breitete das altsächsische Haus sein weites Dach über die Diele mit
dem Herde, die kleinen Schlafzeiten und die Viehställe. Große Heerden von
Borstenvieh lagen im Schatten der Eichen- und Buchenwälder, Pferde und
Rinder, beide kleine Landrace, grasten ans dem Dorfanger, langlockige Schafe
an den trocknen Berglehnen; schon wurden mit dem Flaum der großen Gänse-
hecrden weiche Polster und Pfühle gestopft; die Frauen webten auf einfachem
Stuhle das Linnengewand, und vielbetretene Handelswege durchzogen das
Gebiet von Rhein und Weichsel nach allen Richtungen. Der fremde Händler,
welcher den Luxus und schwere Geldstücke der Römer in seinem Karren vor
das Haus des Landmannes fuhr, war sicher, von dem Wirth und der Haus¬
frau Pelzwerk des Waldes, hochgeschätzten Gänseflaum, blondes Haar der
Sklaven, Schinken und Würste aus dem Rauchfange einzutauschen, zuweilen
auch eigenthümliches Gewebe der Landschaft, sogar Toilettengegenftände, z. B.
eine feine Pomade zum Haarfärben. Es ist wahr, der kriegerische Hausherr
hielt seine Waffen in höherer Ehre, als den Pflug, aber wenn er nicht selbst
das Feld baute, so ging er nicht deshalb müßig, weil der Feldbau überhaupt
unbedeutend war, sondern weil der Stand der Freien bereits einen unholden
Aristokratismus entwickelt hatte; denn er hielt sehr darauf, daß ihm seine
Knechte den Grund bauten und die Unfreien von ihrem Ertrage Garben und
Viehhäupter abgaben. Er aber, der freie Krieger, war ein privilegirter Mann
nicht nur einer Gemeinde, auch in dem einfachen Staat, zu welchem er ge¬
hörte. Denn nicht in Gemeinden mit lockerm Zusammenhang lebten die
Landwirthe des alten Deutschlands, eine alte Landverfassung schloß sie zum
Volk zusammen, eng verbunden mit religiösen Erinnerungen und dem offene-
lichen Gottesdienst des einfachen Staates. Auch die Völker lagerten nicht
nebeneinander wie Nomaden, auch ihre Grenzen waren fest abgesteckt, durch
heilige Umzüge der Götterwagen geweiht. In bestimmten Formen fand auch
der Einzelne des Nachbarvolkes Schutz und Sicherheit für seinen Privatver¬
kehr und über den unvermeidlichen Kriegen und Fehden der einzelnen Völker
zogen sich doch von einem zum andern zahlreiche Bande, welche versöhnten
und zusammenhielten: gemeinsame Opfer, zahlreiche Blutsverwandtschaften und
Ehebündnisse, und über Allem das Gefühl des gemeinsamen Ursprungs, die¬
selbe Sprache und die religiöse Weihe, mit welcher diese Erinnerungen an
alte Gemeinsamkeit umgeben waren. Wenn der Germane des Tacitus uns
wie ein grimmiger Krieger erscheint, der im Wolfsfell mit Speer und Hvlz-
schild über das Waldverhau späht, welches sein Dorf gegen einen Ueberfall
der Feinde schützen soll, so wird derselbe Deutsche in den Untersuchungen der
neusten Wissenschaft zum Hausherrn und Landwirth. Behaglich schaut er uns
in den schönen großen Braukessel, welchen sein Nachbar, der kunstfertige Schmied,
geschmiedet hat, oder steht im gefärbten Linnenkittel vor dem hochbeladenen
Erntewagen, auf welchen seine Knechte die letzte Noggenmandel werfen und
die Töchter mit frommem Spruche den Erntekranz befestigen. Es ist wahr¬
scheinlich, daß ihm das feine Mehl des Weizen unheimisch war, seine Brod¬
frucht galt den Römern des Vespasian noch für ein unholdes Gewächs, wel¬
ches dem Genießenden Leibgrimmen verursache, aber um das Jahr 300 n.
Chr. wurde das Getreide des deutschen Schwarzbrods schon im kaiserlichen
Decret als dritte Handelsfrucht an den Getreidebörsen Griechenlands ange¬
schlagen. Noch entbehrte der Germane zur Zeit der Flavicr die seinen Obst¬
sorten des Südens, und die immer blühenden Rosen Italiens blieben ihm
noch lange unbekannt, aber schon waren die Kirschen am Rheinstrome zu Rom
hochberühmt, und die wandernden Händler wußten zu erzählen, daß ihnen
die Deutschen Rettige gewiesen Hütten so groß wie kleine Kinderköpfe und
Honigwaben von acht Fuß Länge, diese allerdings von wildem Honig.
Und wie neben der deutschen Sprachforschung auch die Untersuchung über
die Gaue und die uralte Eintheilung der Dorffluren geholfen hat, von der
Production der Ahnen ein neues Bild zu geben, eben so sehr hat das Su¬
chen in Sagen. Märchen und altem Aberglauben ergänzt und berichtigt, was
die Römer von der Religion der Deutschen zu berichten wußten. Wenig war
mit der kleinen Anzahl von Götternnmen und Heiligthümern anzufangen,
welche Tacitus überliefert, bevor der Vergleich mit den Traditionen der Skan¬
dinavier und Isländer und das Aufspüren der altheidnischen Ueberlieferungen,
welche bis heute im Volke erhalten sind, eine Fülle von Göttergestalten und
eine sehr originelle Auffassung des lebendigen Schaffens in der Natur offen¬
barte. Fremd und unverständlich war uns der Germane, welcher nach dem
Bericht des Römers in Mercur den höchsten Gott anbetete. Auch die Nach¬
richt, daß dieser Gott bei den Deutschen Wuotan heiße, hatte nur deshalb
Werth, weil sie die innere Einheit der deutschen Götterwelt mit den Asen-
göttern der isländischen Edda beweisen half. Lebendig wurde uns diese Ge¬
stalt des höchsten deutschen Gottes erst, als wir den wilden Jäger unserer
Sagen und den schlafenden Kaiser des Kiffhäusers mit der deutschen Urzeit in
Verbindung gebracht hatten. Jetzt wissen wir, wie reich und emsig die Geister
>um den Herd, Hof, Acker, Fluß und Wald eines frommen Cheruskers schweb¬
ten. Auch nach dieser Richtung hat sich uns der alte Sueve oder Hermundure
in seinen schwäbischen' und thüringischen Hausherrn verwandelt, der in der
Dämmerung mißtrauisch nach seinem Dachbalken sieht, auf welchem der kleine
Hausgeist zu sitzen liebt, und der beim Sturmesbrausen sorglich die Fenster
schließt, damit nicht ein geisterhafter Pferdekopf aus dem Gefolge des wilden
Gottes, der durch die Lüfte braust, in seinen Saal Hereinschane.
Ja selbst auf das Herzlichste und Seelenvollste, was der Deutsche in jenen
Jahrhunderten schuf, auf seine Lieder, die damals noch keine sorgliche Hand dem
Pergament überlieferte, vermögen wir einige Schlüsse zu machen. Nicht ganz
unbekannt ist uns die älteste Art zu dichten, der eingeborne epische Vers mit
seiner Alliteration, und noch jetzt klingt ans einigen erhaltenen Volksliedern
und Sprüchen die uralte Methode des witzigen Wettkampfs und eine Räthsel¬
weisheit, durch welche am Herdfeuer des sächsischen Häuptlings ein wandern¬
der Sänger die Hörer entzückte.
Nach der Völkerwanderung begannen langsam und schwerfällig schriftliche
Aufzeichnungen in Deutschland selbst. Sie kamen mit derselben unwidersteh¬
lichen Macht, welche Vieles in dem Gemüthsleben des deutschen Volkes än¬
derte, mit dem Christenthum. Aber wie energisch die neue Religion den Geist
in neue Bahnen lenkte, und wie furchtbar das Völkergetümmcl jener Periode
der Wanderung vernichtete, beide Wandlungen der Deutschen sind nicht so
groß, daß sie alles Alte in Trümmer warfen. Die Völkerwanderung selbst
denkt man sich noch zu sehr als einen chaotischen Zerstörungsproceß, der früher
Lebendiges vollständig beseitigte. Schon eine flüchtige Betrachtung auf ihren
Verlauf vermöchte das zu widerlegen. Es ist wahr, sie hat mehrere der mäch¬
tigsten deutschen Völker, welche im Osten Deutschlands und darüber hinaus
saßen, weit aus der Heimat fortgetrieben, und die entvölkerten Wohnsitze
haben sich mit nachrückenden Slaven gefüllt. Die Bayern sind ans Böh¬
men zur Donau, die Sueven und Allemannen südwärts in ihre jetzigen Sitze
gezogen. Alte Völkernamen sind geschwunden, und neue breiten sich siegreich
bis weit über den Rhein. Aber ungefähr die Hälfte des Deutschlands, wel¬
ches den Römern bekannt war, das weite Gebiet von der Nordsee bis zum
Thüringer Walde und der Rhön, von der Saale bis nahe an den Rhein
behielt im Ganzen seine alten Bewohner. Denn Thüringer, Kollen, wie die
meisten Stämme der Niedersachsen kamen nur zu partiellen Schwärmen; sie
wurden wahrscheinlich stark decimirt in Durchmärschen fremder Völker und in
Auszügen der Stammgenossen, sie wurden anch, z. B. die Thüringer,
vielfach durchsetzt von fremden Haufen, welche sich unter ihnen niederließen;
aller ein Kern der alten seßhaften erhielt sich doch in allem Wogen und
bewahrte treu altheimische Ueberlieferungen, Spracheigentümlichkeiten. Sitte,
Recht.
So vermögen wir von der Gegenwart aus in einer wenig unterbroch-
ner Continuität zurückzublicken bis in die entfernteste Vergangenheit unserer
Nation, und wir verdanken solches reiche Wissen vorzugsweise den Discipli¬
nen, welche neben und mit der deutschen Sprachwissenschaft seit dem ersten
Jahrzehnt dieses Jahrhunderts herausgewachsen sind. Von solchem Stand¬
punkte aus würdigen wir auch' die neuen Werke, welche zur Besprechung
vorliegen.
Unter den Sammlern der Volksüberlieferungen nimmt Kühn vielleicht
die erste Stelle ein. Groß ist seine Ausdauer — er sammelt für deutsche
Mythologie seit länger als 20 Jahren, zumeist auf Territorien des niedersäch-
sischen Stammes — musterhaft ist seine Genauigkeit und die Zuverlässigkeit des
Mitgetheilten; und ungewöhnlich groß ist seine wissenschaftliche Tüchtigkeit.
Denn er ist einer der wenigen Gelehrten, dem Sprache und Literatur des al¬
ten Indiens nicht weniger vertraut sind, als die der deutschen Vorzeit. Wenn
er sorgfältig die Städte verzeichnet, in welchen nach dem Volksglauben einst
unsre alten kleinen Zwerge gehaust haben, und wenn er unermüdlich von mär¬
kischen Bauerfrauen zu erforschen sucht, wo Frau Harke — die mütterliche Göttin
mehrer sächsischen Stämme und der Thüringer — ihr Borstenvieh aus der
Unterwelt herausgetrieben habe, so gewinnt diese Aufzeichnung des Details
deshalb bei ihm besondere Bedeutung, weil er zugleich mit unübertrefflicher
Kühnheit, ja oft mit großem Blick diese zertrümmerten Ueberreste im deutschen
Volksgemüth in ihrem Zusammenhange mit den verwandten Vorstellungen
der Vedas darzustellen, versteht. Sein großes Werk: die Herabkunft des
Feuers und des Göttertrankes hat der mythologischen Forschung ein
neues Gebiet erobert, man kann nicht mehr über Entstehung und Umbildung der
Völkermythen schreiben, ohne dasselbe zu dem eigenen Wissen gehalten zu haben.
Denn jetzt ist für einen Kreis der ältesten mythischen Vorstellungen bei Griechen,
Germanen, Sclaven der innere Zusammenhang und ihre allmälige Entwicklung
aus den ältesten asiatischen Vorstellungen nachgewiesen, ja die Grundzüge des ge-
sammlen Gottesglaubens, welchen die Völker Europas aus ihrer Urheimat im
Osten mitbrachten, sind aus der tiefen Dämmerung vergangener Jahrtausende,
wenigstens in der Hauptsache, zu erkennen. Was Kreuzer in seiner Mythologie und
Symbolik trotz einer bewunderungswürdigen Divinationsgabe noch oft willkürlich
und ohne wissenschaftliche Berechtigung combinirte, dieselbe Arbeit wird jetzt mit
ungleich reicheret» Wissen um einer Fülle von Detail gewagt. Die Forschungen
Kubus sind bereits der Mittelpunkt geworden, von welchem ähnliche Arbeiten
befreundeter Forscher ausgehn, und es ist vorauszusehn, daß Umfang und
Bedeutung dieser Arbeiten im nächsten Jahrzehnt noch beträchtlich zunehmen.
Nun ist allerdings in dieser Richtung Einiges, was den Deutschen mit besonderem
Stolz erfüllen kann, denn nur bei uns ist so großartige Auffassung der hi¬
storischen Processe des Menschengeschlechts möglich. Aber auch zur Vorsicht
möchten wir mahnen. Nichts ist schwerer in seinem geschichtlichen Verlauf zu
erfassen, als die mythischen Anschauungen und Vorstellungen der Völker.
Denn hier ist ein unaufhörliches Unbilde» und Neuschaffen zu erklären, ein
geheimnißvolles Zerfließen und Zusammenballen luftiger Phantasiegebilde, viele
Processe des Geistes und Gemüths, welche uns niemals ganz durchsichtig werden
können. Und wie wenig von der unendlichen Masse des alten Mythenstoffes
ist uns erhalten, und in wie entstelltem Zustande ist das Meiste der einheimischen
Ueberlieferungen. So hat auch der größte Scharfsinn, das reichste Wissen
sich davor zu hüten, daß es nicht zu schnell combinire, oder einem blendenden
Lichtstrahl zu eilig folge. Vergleichende Mythologie ist für junge Gelehrte
ein gewagtes Studium, und Jedem, der damit umgeht, ist dringend zu wünschen
daß er wenigstens durch das reiche und sichere Wissen gekräftigt sei, welches
Adalbert Kühn auszeichnet. — Die vorliegenden Sagen, Gebräuche und Märchen
sind in derselben Weise geordnet, welche die früheren Arbeiten des Verfassers
werthvoll gemacht haben. Die reichen Citate, die fleißige Anführung ver¬
wandter Traditionen, viele schöne Untersuchungen, welche bescheiden angehängt
sind, machen das Werk zu einem unentbehrlichen Hilssvuch für alle weiteren
Sammlungen.
Eine ehrenwerthe und tüchtige Arbeit, welche nur an dein Umstand leidet,
daß sie als populäres Werk dem Leser zuviel Ernst zumuthet. als wissenschaft¬
liche Arbeit Einzelnes zu kurz behandelt, an manchen Stellen zu wenig be¬
gründet. Wer sich aber bei einigen Vorkenntnissen einen guten Ueberblick darüber
erwerben will, was bis jetzt von altdeutscher Mythologie gefunden ist, dem
darf man das Buch angelegentlich empfehlen. Eine längere Einleitung behandelt
das Wesen der Mythen und die Gesetze ihrer Entwicklung, dann folgt eine
kurze Geschichte der germanischen Mythologie, der Glaube der Veda's und die
Erinnerungen an jene Urzeit, welche in den deutschen Mythen enthalten sind;
die Auswanderung der Germanen nach Europa und die ältesten Bildungen
des einheimischen Götterglaubens, Endlich die Darstellung der einzelnen
Mythen nach den erhaltenen Ueberlieferungen und der Nachweis ihres innern
Zusammenhangs, jedem Mythenkreise sind die entsprechenden Vorstellungen des
germanischen Nordens als Ergänzung und Gegensatz zugefügt. Mit Recht
hebt Mannhardt als Gegensatz zwischen germanischer und nordischer Mytho¬
logie hervor, daß die nordischen Eddalieder uns vorzugsweise die Mythen¬
bildungen überliefern, wie sie im Kreise der Krieger, Priester und Sänger
lebendig waren, während die zahllosen kleinen Reste, welche in Deutschland
erhalten sind, zumeist aus dem Glauben der untern Volkskreise stammen. Vieles
wurde durch seine Unscheinbarkeit bis zur Gegenwart vor dem Untergange
bewahrt, noch Mehreres ist in den letzten Jahrhunderten verloren worden.
Denn bis zur Reformation waren die Erinnerungen und Bräuche aus dem
deutschen Heidenthum noch unvergleichlich mächtiger als jetzt; es ist nichts
interessanter, als in der Persönlichkeit des großen Reformators selbst diesen
Erinnerungen nachzugehn. In diesem Repräsentanten des deutschen Volks-
gcmüths steckt hinter dem frommen Mönch und bibelfesten Schriftgelehrten noch
viel volksmäßiger Heidenglaube, in seinen Vorstellungen vom Teufel, vom
Weltende mischt sich Biblisch-christliches seltsam mit uralten heidnischen An¬
schauungen, und die letztern kommen um so reichlicher zu Tage, je unbe¬
fangener und behaglicher er sich gehn läßt, am meisten in seinen Tischreden.
Es lohnt sehr, das mit Liebe und genügendem Wissen zusammenzustellen.
Das erstere Buch ist das Resultat fleißiger Lectüre eines Dilettanten, es
enthält eine Fülle schätzenswerthcr Lesefrüchte, nicht übermäßig geordnet, zu¬
weilen durch feine Betrachtungen verbunden. Die wissenschaftliche Benutzung
des Buches wird dadurch beeinträchtigt, daß der Verfasser selten die Quelle
angibt, aus welcher er die einzelnen Mittheilungen genommen hat, und daß er
mit der deutschen Alterthumswissenschaft nicht sattsam vertraut ist. Das zweite
Werk wurde durch den Centralausschuß für innere Missionen veranlaßt, welcher
von seinen Gesinnungsgenossen durch ganz Deutschland Mittheilungen über
den heidnischen Aberglauben in unserm Volksleben einzog. Leider ist der
Herausgeber ein gläubiger Theologe und deshalb die wissenschaftliche Unbe¬
fangenheit nicht vorhanden. Es ist für einen Ehrenmann unbequem, über
unsern alten Volksteufel zu refenren, leiern der Schreiber selbst nicht ganz frei
von der Besorgnis; ist, daß ihn, der alte Christenteufel über die Schulter auf
das Papier schauen könnte. Ein gutes Register erleichtert den Gebrauch des
Buches. Wer jetzt nach so mancher Sammlung von Volksaberglauben eine'
wissenschaftliche Verarbeitung des inassenhnften Materials unternähme, der
würde die Aufgabe haben, dasselbe zunächst nach den mythologischen Vor¬
stellungen zu ordnen, welche dem Volksbrauch zu Grunde liegen, und die weit
schwierigere Aufgabe, den ursprünglichen Sinn des sinnlosen Brauchs nach¬
zuweisen, so weit unser Wissen reicht. Bei manchem Aberglauben ist es frei¬
lich unmöglich, auch nur nachzuweisen, in welcher Nation und unter welchen
Culturverhältnissen er zuerst entsprang. Einige Traditionen sind so uralt, daß sie
vielleicht das älteste sind, was die Menschheit an geistiger Habe besitzt, anderes
hat sich in irgend einer Vorzeit aus einem Volk in das andere gewälzt, fast jedes
Culturvolk hat als letzten Niederschlag seines Erdenlebens seinen Aberglauben
den nachfolgende» Völkern zurückgelassen, Einzelnes scheint von Babyloniern,
Phöniziern, Aegyptern, Griechen, Römern und Germanen mit einer gewissen
Naturnothwendigkeit übereinstimmend erfunden. Alis jedem Gebiet menschlicher
Interessen ist unser Aberglaube hervorgegangen, überall, wo der Mensch zu
scheuen und zu ehren hatte, wuchs er herauf, aus altem Recht, alter Heilkunst,
kindlicher Naturbettachtung, aus der gemeinsamen Quelle von alle dem, aus
der Scheu und Sorge um das Göttliche. Noch hat die Wissenschaft an das
große Chaos des Stoffes nicht so kräftig die bildende Hand gelegt, als zu
wünschen wäre.
Eine hochwillkommene Arbeit und des besten Dankes werth. Der Heraus¬
geber hat selbst nach dem Munde der Isländer, mehreres nach ihren schrift¬
lichen Aufzeichnungen gesammelt mit vollem Verständniß für die Wichtigkeit
der isländischen Sagen. Die mythologischen und sagenhaften Erinnerungen
der Isländer sind aus mehreren Gründen vorzugsweise lehrreich. Erstens war
anzunehmen, daß sich in der Heimath der Eddalieder noch vieles Wichtige des
Götterglaubens wie der Heldensage erhalten habe. Diese Hoffnung ist nur zum
Theil erfüllt. Die alten Göttergestalten sind fast mehr verdämmert, als in
Deutschland selbst, auch die spätern Umbildungen der Heldensage geben wenig
neuen Aufschluß. Ferner aber war eine Aufklärung wünschenswert!) über das
Verhältniß des skandinavischen Gött^erglaubens zu dem der deutschen Stämme.
Zwar wußte man, daß die Grundgestalten hier wie dort dieselben sind, daß
zahlreiche Einzelnheiten in beiden Gebieten der germanischen Mythologie
einander vollständig entsprechen, aber es war noch ein sehr großer Unterschied
zwischen der Götterwelt, welche sich um den nordischen Odin gruppirte und
zwischen den weniger erhabenen, aber behaglicheren Gebilden der deutschen
Erdgöttinnen, der Elbe, Riesen und Zwerge, so daß wol ein Zweifel erlaubt
war, ob der Unterschied nur in der Farbe läge und in dem Zufall, welcher
hier Anderes als dort mit einiger Reichlichkeit erhalten habe. Die Sammlung
Maurers macht deutlich, daß un Norden das Kleinleben der alten Götterwelt
Saum weniger reich und behaglich entwickelt ist, als in Deutschland, und daß
die Ennnernngen an die kleinen Geister des Hauses und Lebens in allen Haupt¬
sachen den deutschen entsprechen. Natürlich hat die rauhe Natur, die isolirte
Lage, Schrecken und' Gefahr des Nordens zu der gemeinsamen Habe auch
Neues gefügt. Auch dies abzulösen, ist von hohem Interesse, lind ebenso sehr
die Betrachtung, wie durch die Verbindung mit dem germanischen Süden auch
späterer Sngestvff aus dem Innern Deutschlands, den Ufern der Nord- und
Ostsee fortdauernd dort angenommen und verarbeitet wurde. Zuletzt erhält
vieles, was wir in Deutschland vermutheten, durch die isländische Ueberliefe¬
rung vollkommene Bestätigung. Viele Reihen von Vorstellungen, welche in
Deutschland ganz in Trümmern liegen, sind dort in alterthümlicher reicher Ent¬
wicklung erhalten, vor Allem der Gespensterglaube, >— es ist bereits anderswo
hervorgehoben, daß die Sage von Bürgers Lenore hier in alter Form erhalten
sei. Zu den Eigenthümlichkeiten des Eislandes gehören die Sagen von Ge¬
ächteten oder Ausgestoßenen, welche im wüsten, unbewohnten Innern der Insel
an unzugänglichen Orten wohnen sollen als ein ricscnstarkes, zaubertundigcs
Geschlecht, aus welchem noch jetzt zuweilen Einzelne den Wohnungen der Mer>
scheu nahen, unheimliche Gestalten, halb Räuber, halb Dämonen. An dem
Werte ist die gute Anordnung und Verarbeitung des Stoffes besonders zu rühmen.
Schlußlicferung des zweiten Bandes, dritte und vierte Lieferung des dritten
Bandes. 1859, 1860. Den Buchstaben D für das Wörterbuch bearbeiten
war die letzte größere Schöpfung Wilhelm Grimms. Das Manuscript war
grade vollendet, als er sich zur tödtlichen Krankheit hinlegte. Wieviel die
Wissenschaft mit ihm verloren, die Hoffnung blieb, daß unter der Hand des
Bruders das Lexikon beschleunigten Fortgang haben werde. Freilich ist noch
viel zu thun, erst das E naht seinem Ende, mit ihm etwa der dritte Theil
des Ganzen. Auch wächst dem fortschreitenden Werk der Stoff immer mäch¬
tiger, noch immer werden ältere und neuere Werke ausgezogen, um seltene
Wörter in die große Sammlung abzugeben, schon im zweiten Theil ist ein langes
Verzeichnis, solcher Werte beigefügt, darunter viele fast verschollene. Dauemd
wird das Unternehmen durch die Theilnahme des Publikums getragen, der Be¬
gründer der deutschen Philologie widmet die nächsten Jahre seines Lebens,
welches so reich an Ehre und Vndiensten ist, fast ausschließlich dem Riesen¬
werk, dem größten Beginnen unter dem Vielen, das wir ihm zu danke» ha¬
ben. Bei jedem neuen Hefte, welches der Leser durchblättert, erneut sich das In-
teresse, aus dem unerschöpflichen Quell der lebendigen Muttersprache eine so große
Fluch klar und durchsichtig i» stattlicher Einfassung zusammengeschöpft zu finden.
Dabei kann man immer aufs Neue beobachten, wie vieles von der eigenen
Sprache dem einzelnen Lebenden fremd bleibt. Und ferner wie zahlreich sind Ab¬
leitungen, selbst Stammwörter, treffende charakteristische, schöne Ausdrücke und
Redensarten, welche in den letzten Jahrhunderten entstanden und wieder ver¬
klungen find. Jede Zeitbildung, ja jede kräftige Persönlichkeit hat Originelles
erfunden, und neben der Hauptmasse, welche lebendig auf viele folgende Ge¬
nerationen überging, aber, wie vieles Brauchbare und Schöne ist wieder so
verloren, daß es nicht einmal mehr im Volksmund und in den Dialekten
zu finden ist. Am meisten sind die Verlornen Stammwörter zu bedauern.
Denn jedes Stammwort, welches im Volke lebendig bleibt, ist dem Deutschen
ein lebendiges, immer neue Früchte tragendes Gebilde, welches eine Anzahl
abgeleiteter Wörter, so oft das Bedürfniß kommt, mit Leichtigkeit aus sich
entwickelt. Jeder Schriftsteller, welcher Einfluß auf die Mit- und Nachwelt
gewinnt, ist zugleich ein freier Verwalter des Sprachschatzes. Er vermag seltne'
Habe ans dem Alterthum zu bewahren, fast Verschollenes wieder zu beleben
und Fehleudes ganz neu zu erfinden. Unendlich. verschieden ist sowol die
Sprachgewalt, als der Wortreichthum, mit welchem der Einzelne arbeitet. Er
holt sein Sprachmatcrial zum Theil aus der Schriftsprache, der er den größten
Theil seiner Bildung verdankt, zum Theil von dem Dialekt der Heimath, aus
dem er heraufgewachsen ist. Nicht jeder Dialekt begünstigt in gleichem Maße
die Verwendung seiner Wörter und Redewendungen für die Schriftsprache,
aber auch nicht jede Persönlichkeit ist in gleicher Weise befähigt, den Dialekt
der Heimat zur Bereicherung der Schriftsprache auszubeuten. Es ist klar,
daß zu solcher Bereicherung der Sprache mehrere Vorzüge zusammentreffen
müssen, ein behagliches Ruhen in den angestammten Sprachtraditioncn, sou¬
veräne Leichtigkeit im Ausdruck, verbunden mit feinem Sprachsinn, und das
immer rege Bedürfniß nach energischem und characteristischen Ausdruck. Wol
bekannt ist, daß kein Deutscher in höherm Grade diese Sprachtugenden besaß,
als Luther, und im letzten Jahrhundert Goethe, die doch beide so sorglos im
Gebrauch ihres Reichthums sind. Und der würde eine große und feine Ar¬
beit wagen, der es unternähme, die bedeutenden Schriftsteller der Deutschen
nach ihrem Verhältniß zu ihrer Sprache zu charakterisiren. Es lohnt sehr
darauf zu achten, denn die deutsche Schriftsprache der Gegenwart steht wie
die ganze Nation erst in den Anfängen ihrer modernen Entwicklung. Sie ist
seit Lessing fast ausschließlich durch Gelehrte und Dichter gebildet worden,
nicht übergroß ist die Zahl solcher, welche sie mit freier Kraft handhabten,
noch steht sie zum Volk vornehm, spröde, oft pedantisch und arm. Durch das
Feuer der öffentlichen Beredtsamkeit, durch die Grazie leichter, gesellschaftlicher
Unterhaltung ist sie noch zu wenig gebildet, noch hat der Glanz eines reichen
Humors sie nicht verklärt, noch ist sie arm im Ausdruck des charakterisirenden
Details und weniger gewandt im epigrammatischen Ausdruck als sie vor drei
Jahrhunderten war. Was ihr fehlt, tan» ihr freilich nicht vorzugsweise durch
Sprachgelehrsamkeit und philosophische Sorgfalt gegeben werden, denn nur
derjenige neue Fund wird in ihr lebendig bleiben, der keck und frisch aus
schöpferischer Seele quillt. Aber lernen soll deshalb doch jeder an seiner Sprache,
und zu dem, was die Amme und die Kinderzeit in die Seele gebildet haben,
und später der Verkehr mit Andern und das Lesen gischriebner Bücher, soll
man seiner Sprache mächtig zu weiden suchen auch durch den Sprachschatz,
welchen Wörterbücher und die Schriftsteller früherer Zeit uns überliefern. Schnell
wird dann, was dem eignen Wesen dient, durch die gesunde Kraft des Schrift¬
stellers so reproducirt werden, daß es als eigne Habe und Bereicherung des
vorhandenen Sprachgutes erscheint. Auch zu diesem Zweck wird Grimms
Wörterbuch geschrieben. Und mit herzlichem Antheil möge der Leser sich in
die Seele des Gelehrten versetzen, dem die unendliche Habe seines Volks, welche
sich seit zweitausend Jahren entwickelt bat, während seiner Arbeit in einer Weise
durch die Seele zieht, wie das bis jetzt noch me bei einem einzelnen Mensche»
der Fall war.
Indem Preußen sich anschickt, die warschauer Konferenz zu besuchen, aus wel¬
cher eine neue Gruppirung der europäischen Politik hervorgehn soll, dürfte es
zeitgemäß sein, über die Kräfte und Interessen, welche die verschiedenen Staaten
einzusetzen haben, eine Bilanz zu ziehen.
Was im Einzelnen in Warschau besprochen werden soll, ist uns nicht bekannt;
über die Richtung der Cvnfereoz im allgemeinen aber kann kein Zweifel obwalten.
Wenn zwischen Nußland, Oestreich, Preußen und de» deutschen Mittclstciatcn eine
Verständigung zu Stande kommt, so kann die Spitze derselben nur lgegen Frank¬
reich gerichtet sein und mit mehr oder minder Consequenz zu den Grundsätzen der
heilige» Allianz zurückführen. Denn Oestreich kann keine andere Allianz gebrauchen,
als eine solche, welche ihm das neue Königreich Italien niederschlagen und ihm da¬
durch die ungeheuern Ausgaben der beständigen Kriegsbereitschaft mildern hilft.
Durch die Unklarheit der deutschen Politik ist Nußland diplomatisch wieder ans
eine Höhe gestellt, die seinen Machtverhältnissen nicht im mindesten entspricht. Wir
wisse», daß seit Beendigung des Krimfcldzugs seine Armee in beständiger Reduction
begriffen ist, einer Redaction, die sich aus dem gänzlichen Ruin seiner Finanzen er¬
klärt; wir wissen, daß überall die bedenklichste» Unruhen in der Bauernschaft bcvor-
stehn, daß die Regierung sich in der völligster Rathlosigkeit befindet und daß der
moralische Aufschwung des Nationalgefühls, den Kaiser Nikolaus künstlich bei seinem
Volk hervorgebracht, so gut wie vcrrnncht ist. Positive Interesse» bei einem Kriege ge-
jZ"> Fxai^kreich hat Nußland fast gar keine, wenn man nicht etwa die Besorgniß
vor einem polnischen Aufstand in Anschlag bringen will, den man durch eine legi-
timistische Allianz beseitigen möchte. Die positive Hilft, die wir von Nußland in
einem Krieg gegen Frankreich zu erwarten habe», ist nicht der Rede werth, und im
Fall eines nachtheiligen Ausgangs würde Nußland sich beeilen, einen neuen Tilsiter
Frieden zu schließen. —
Wie es mit Oestreich steht, brauchen wir der Welt nicht zu verrathen. Die
Einberufung des verstärkten Ncichsrctths ist eins der wichtigsten Ereignisse unserer
Tage l nicht wegen dessen, was er gethan — er hat eben nichts gethan — sondern
wegen dessen, was er enthüllt hat. Bisher konnte man die Beurtheilung der öst¬
reichischen Znstünde dem bösen Willen übelgesinnter Literaten in die Schuhe schieben;
jetzt haben die Notabeln Oestreichs gesprochen, vom Kaiser selbst aus den vornehm¬
sten Männern aller Provinzen erlesen. Obgleich sie die Wunden des Staats mit
sehr zarter Hand berührt, obgleich sie auf die schlimmsten Schäden gar nicht hinge¬
wiesen haben, sind doch die Resultate dieser Besprechung erschreckend. Es hat sich
ein sehr erhebliches laufendes Deficit herausgestellt; alle Stimmen sind darüber
einig, daß die Deckung desselben dnrch Erhöhung der Steuern nicht bewerkstelligt
werden könne, und was an den Ausgaben des Staats erspart werden soll, dar¬
über hat kein Einziger einen Vorschlag gemacht. Die einzige Ersparnis? von Wich¬
tigkeit wäre eine Reduction der Armee, diese kommt aber nicht in Frage, weil
Oestreich viel stärkern Feinden als im vorigen Jahr gegenüber steht. Vor einem
Staatsbaukrott haben alle Stimmen ihren Abscheu ausgesprochen; es ist möglich,
daß er dennoch erfolgt, da Oestreich in dieser Beziehung nichts mehr zu verlieren
hat. Aber auch ein Staatsbankrott würde nur eine vorübergehende Linderung
herbeiführen und, gleichviel ol> mit oder ohne Grund, die Unzufriedenheit des Volks
nur noch steigern. Eine Anleihe kann Oestreich nicht machen, denn es erhält auch
für die lächerlichsten Wuchcizinsen kein Geld mehr. Von seinem Volk kann es
keine weiteren Opfer erwarten, als die es erzwingt, denn wenn die Oestreichs in
nichts anderen einig sind, so sind sie doch einig im Haß des gegenwärtigen Systems.
In dieser Beziehung hat der Reichsrath nicht den mindesten Zweifel übrig ge¬
lassen. Alle Nationen, Deutsche, Böhmen, Ungarn, Kroaten, Polen, Rumänen —
wer kennt die Völker, nennt die Namen! — alle Stände, Fürsten, Grafen, Kardi¬
näle, Beamte, Bürger, ja, was dem Ganzen die Krone aufsetzt, die Minister selbst
sind vollkommen darüber einig, daß auf die Weise, wie bis jetzt regiert worden ist,
unmöglich weiter regiert werden kann.
Wie soll denn regiert werden? — Die Minister selbst wissen es nicht; wüßten
sie es, so hätten sie den Reichsrath nicht einberufen; der Reichsrath soll ihnen ra¬
then, was sie thun sollen: sie selbst haben auch nicht die kleinste Andeutung dar¬
über gegeben, was sie etwa thun können oder thun wollen. In dieser Beziehung
stehts mit Oestreich ganz wie mit Frankreich im Jahr 1788.
Der Reichsrath hat verschiedene Gutachten abgegeben, von denen nur das der
Ungarn und das des Sachsen Maager von Bedeutung sind. Denn das sogenannte
Minoritütsvotum spricht sich zwar gegen^einzelne unzweifelhafte Uebelstände, es spricht
sich gegen die Minister und gegen die Ungarn, gegen Centralisation und gegen
Föderation aus; es ist höchst wohlmeinend und freimüthig, liberal und loyal: aber
wenn die Minister wirklich etwas daraus lernen wollen, so müssen sie neben den
gewöhnlichen fünf Sinnen noch einen sechsten haben. Was die Majorität betrifft,
so find von dieser ganzen aristokratischen Gesellschaft eben nur die Ungarn nennens-
werth, die für sich etwas Bestimmtes wollen, während die Forderungen der andern
ziemlich im Unklaren bleiben.
Der Abgeordnete Maager, in diesem Augenblick der Held der öffentlichen Mei¬
nung, hat den Muth gehabt, das kühne Wort N c ich sparln in ent auszusprechen.
Es gab Zeiten und sie liegen noch nicht fern, wo die Regierung so einen Ver¬
such wirklich hätte wagen können- Zeiten des augenblicklichen Aufschwungs, des
kühner ausbrechenden Staatsgcfühls und, was die Hauptsache ist, Zeiten, wo die
Ungarn noch gänzlich erschöpft waren. Diese Zeiten sind nicht mehr. Das Sonder-
gcfühl der einzelnen Völker hat sich wieder gesteigert, das Staatsgefühl ist nament¬
lich seit vorigem Jahr unendlich gesunken. Eine vom Volk gleichviel nach welchem
Wahlmodus gewählte Reichsversammlung würde heute der erste Schritt zur Revolution
sein, und Oestreich ist nicht in der Lage ein hitziges Fieber zum zweitenmal zu überstehn.
Das Majoritütsvotum verlangt Wiederherstellung der altungarischcn Verfassung
und, um die andern Völker zu befriedigen, Einführung einer ähnlichen Verfassung
in allen Kronländern, d. h. Zurückführung der östreichischen Gesammtmonarchic auf
das Maß der pragmatischen Sanction. Gern Möchten wir mit den Liberalen und
dem Bürgerstande gegen die Aristokratie stimmen, aber wir können uns der Ueber¬
zeugung nicht erwehren, daß dieser von der Aristokratie angegebne Weg der einzig
mögliche ist. Sollte Oestreich einmal zusammenfallen — und daß es geschehen kann,
darf doch wol heute uicht erst erörtert werden? — so tritt dann doch keine Anarchie
ein, sondern die einzelnen Kronlande haben eine selbständige Organisation; und
wird die Gesammtmonarchic gerettet, desto besser! die Kaiser haben ja lange mit der
pragmatischen Sanction regiert.
Es ist aber wenig Aussicht, daß die Regierung dies Votum annehmen wird.
Es kommt ihr zunächst auf nichts anders an, als auf Geld und Soldaten; und der
Majoritätsvorschlag gibt ihr keineswegs die Mittel an die Hand, beides leichter zu haben.
Was wünscht dann aber die Regierung? — Denn etwas muß sie doch wün¬
schen! — Sie wünscht einen Krieg; aber einen Krieg, in welchem es Preußen und
Deutschland mit Frankreich allein aufnehmen und ihr die Italiener überlassen soll.
Sie rechnet mit Recht darauf, daß sie die letzter« besiegt, wenn sie allein bleiben.
Der Anfang des Kriegs wird durch Stnatsbankrott und Zwangsanleihcn ermöglicht,
die Fortsetzung allenfalls durch Brandschatzung sämmtlicher italienischer Städte. Be¬
siegen die „natürlichen Verbündeten" den Kaiser Napoleon, desto besser! Werden sie
geschlagen, so wäre der Kaiser Napoleon doch ein großer Thor, wenn er nicht für
Abtretung der Rheinprovinz den Oestreichern die Lombardei überlassen wollte.
Oestreich hat also allen Grund, den Neichskricg zu wünschen, denn einen Frieden
von der Art, wie er jetzt stattfindet, hält es jetzt nicht mehr drei Jahre aus. Aber
Preußen hat ebenso viel Gründe dagegen. Noch sind die Mittelstädten nicht zu der
Erkenntniß gekommen, daß ein Krieg gegen Frankreich nur unter preußischer Hege¬
monie geführt werden kann. Noch ist seine eigne Kriegsverfassung nicht geordnet;
kommt es jetzt zum Krieg, so hat es alles zu verlieren und nichts zu gewinnen.
Denselben Grund, den Krieg zu vermeiden, hat Sardinien. Es ist ein wahres
Glück, daß durch die neuen Vorfälle bei Capua das leicht entzündbare und durch
die schwindelnden Erfolge Garibaldis wirklich entzündete Publikum sich wieder daran
erinnert, daß im 19. Jahrhundert keine Wunder mehr geschehn; daß wenn die feige
und vcrrathnc Regierung eines Mittclstaats vor einer undisciplinirtcn Truppe davon¬
läuft, der sie um das drei- oder vierfache überlege» ist, diese Truppe darum noch
nicht die Kraft gewinnt, die Armeen Frankreichs oder Oestreichs zu schlagen. Mensch¬
lich hegen wir das tiefste Mitgefühl für Garibaldiz es ist immer eine schöne Er¬
scheinung in unserer Zeit, wenn ein Mensch mit Selbstverleugnung sein Leben an
eine Idee setzt. Wir wollen uns auch nicht zu seinen jetzigen Anklägern gesellen;
denn Erfolge wie die seinigen müssen nicht blos das Publikum, soudern ihn selbst
berauschen. Aber es ist ein Glück, daß er jetzt vor der geregelten Macht zurück-
treten muß; es ist ein Glück, daß er vor der Zeit seine ungemessenen Entwürfe er¬
klärt und sich dadurch unmöglich gemacht hat; denn die Rolle, die er spielte, war
von vorn herein unhaltbar und ungesund, und wenn wohlmeinende Menschen¬
freunde ihm die Gesinnung eines Washington wünschten, so vergessen .sie den
Ort der Handlung! um unter neapolitanischen Lazzaronis, Mönchen, Söld¬
nern, Prinzen u. s. w. ein Washington zu werden, dazu reicht die beste Gesin¬
nung nicht aus. Indem Victor Emanuel die Sache in die Hand nimmt
und auf dem regelmäßigen Wege der Eroberung vorschreitet (warum soll man
das Wort nicht gebrauchen? obgleich die Neigung der zu Erobernden dem Eroberer
entgegenkommt!) ist, wenn auch die Schwierigkeiten noch immer ungeheuer sind,
wenigstens die Möglichkeit eines bleibenden Erfolgs gegeben, eines Erfolgs, dessen sich
der Menschenfreund freuen kann. Denn eine Masaniello-Republik in dem demora-
lisirten Süditalien, gleichviel ob unter Garibaldi oder Mazzini — lieber den seligen
König von Neapel mit seinen Bomben und seinen Lazzaronis!
Sardinien hat Grund, für jetzt den Krieg zu vermeiden, Preußen ebenso, Eng¬
land hat sich bereits ausführlich darüber ausgesprochen. Damit ist nun freilich noch
lange nicht ein deutsch-italienisch-englisches Bündniß angebahnt. Aber eines kann doch
geschehn: England und Preußen können Oestreich sowol als Sardinien sür jetzt
Frieden gebieten. Das Princip der Nichtintervcntion mit Ausnahme Roms, wo es
den persönlichen Schutz des Papstes gilt, ist von Frankreich ausgestellt; geht man
darauf ein, so ist Frankreich in eigner Schlinge gefangen; ohne Bundesgenossen wird
Oestreich nicht anfangen, und so können wir dann abwarten, ob es Italien gelingen
wird, sich selbständig zu constituiren, und darnach unsere weitern Maßregeln ein¬
1. Eine Reihe von Versuchen über die eigene Wärme der Pflanzen.
2. Was ist bis jetzt von der Weise und dem Maße bekannt, worauf und worin
die Lust in geschlossenen Räumen durch den Aufenthalt der Meuschen verdorben wird,
und welche Mittel gibt es, die Luft in bewohnten oder zeitweise start besetzten Räumen
in einem erwünschten Zustand der Reinheit zu erhalten?
3. Die Gesellschaft wünscht Untersuchungen bei einer oder mehreren Thierarten
über den Verlauf der Nervenfäden im Rückenmark von den Nervenwurzcln aus;
sie sollen sich nicht nur ans mikroskopische Bcovachtuna.er, anch in Verbindung mit
der W a it er'schen Untcrsuchungswcisc, sondern auch aufphysiologischc Experimente stützen.
4. Das Leben und die Verdienste des holländischen Naturforschers Christian
Huyghens.
5. Die Gesellschaft wünscht cineAbhandlung über die Verwandtschaft der griechischen
und sanskritischen Sprachen, in welcher die kritisch geprüften Resultate der linguistischen
Forschungen klar dargestellt und systematisch zusammengefaßt werden, damit daraus
ersichtlich werde, welche Resultate für die nähere Kenntniß der griechischen Sprache
durch das vergleichende Studium jener Sprachen erhalten oder noch zu erwarten sind.
6. Eine Abhandlung über Justinianus und seine Zeit.
7. Eine geschichtliche und kritische Untersuchung, wie sich das Hegel'sche System
seit 183 l nach verschiedenen Richtungen entwickelt, und welchen Einfluß es bis. jetzt
aus andere Wissenschaften, und insbesondere auf die Lehre von Gott und der Welt,
ausgeübt hat. Es soll zugleich nachgewiesen werden, wie diese Entwickelung und
dieser Einfluß mit anderen Tendenzen und Erscheinungen der Neuzeit zusammen hängen.
8. Eine historisch-kritische Uebersicht der malaischen Literatur, welche nicht nur
die schon gedruckten, sondern auch so weit möglich die noch nicht gedruckten malaischen
Werke umfaßt.'
9. Die Geschichte der Niederlassung der Niederländer in Guinea, oder aus Afrikas
Westküste, vom Anfang bis auf unsre Zeit.
10. Ilistorig, erwies. triduua.tus ?1ebis, hu-rs iuteriorem civitatis RomÄUg-s
eouäitiouem, per vu,ria, cleineexs temporu, speetancl^M praedeat.
11. Lxnloretur et äiiuclieetnr ^.siuii ?o1iiouis 6s O. .lulii Laesaris
coma«ZiUg.i'iiK sententia, ein^s exstg-t in Luetonii tuae Sars o. 56: ,,eos ?o1Ile>
^.Sinius' xarum cliliMntei- ps.runa.us integra veritate eompositos xuts.t: ciuum
tüitösar xluracius, et czus,e xer ^lios erant gehen,, temsre ereäi6erit; et c^uirs
xer hö, vel eousulto, oft edi^in msmoria, lirxsus, pei-xeram eäiäerit."
12. visciuiüitio als loco cliilieiliors vel eoutroversc) aä cliseixliiurm auticiui-
ts-dis sive graecae seu 1Mug.e pertiuents.
13. Lruirutur ex InLerixtiouibus I^atiuis, ciua-e in vallis Komuni imxerii
regionibus suol rexerwe, et s <Zrs>um»tieorum voterum inäieüs eae vooes et
loin^s, in «.nidus xroprii regionis euiuscius sermonis vsstigia. agnose^neur,
eaeciue accurate eolleetas its. ZiLponantui', ut q.un.e et ein^Jia kuerint I^admi
svrmouis ielioms-ta. in vu,rils imxerii liomani partiduZ usurpats., amant.um iieri
xossit, ektieerv iucle liesse.
"'
14. visciuisitio 6v 1. I-ivii cliotioue, eins, xroxriotg-s sins in veidorum usu
et constructione, exemplis älligenter eolleetis ol'äiuea.ne 6ispositis et illustrs-dis,
expou^tur, et <iuatovu3 in es, tFtwrt<7/ltov L'«<avMitaiis uomioo el obieoit ^.Sinius
?o11i0, vestigiu, exstare viäeautur, ostenäatur.
Für eine befriedigende Beantwortung jeder dieser Aufgaben gewährt die Gc-
cllscheift eine goldne Medaille oder 30 Ducaten, welcher Preis für die Fragen Ur. 2
und 13 verdoppelt wird Der Verfasser kann sich entweder der deutschen (aber nur
mit lateinischen Buchstaben), holländischen, französischen, englischen, oder der latei¬
nischen Sprache bedienen; für die Aufgaben Ur. 10 bis 14 wird jedoch der Ge-.
brauch der letzten verbindend gestellt. Die Antworten müssen von einer ander» Hand
als der des Verfassers geschrieben, und dem Secretär der Gesellschaft, Herrn or.
I. W. Gunning in Utrecht, vor dem 30. Nov. 1861, nur für die Ur. 13 vor
dem 30. Nov. 1863, frankirt zugeschickt sein. Die Abhandlungen werden nicht
unterzeichnet, ein beigefügtes versiegeltes Billet enthält den Namen des Verfassers.
Ist derselbe Mitglied der Gesellschaft, so wird dies auf der Adresse des Billets durch
den Buchstaben L angedeutet.
Die politische und sociale Lage Mecklenburgs ist in der jüngsten Zeit
vielfach Gegenstand der Erörterung in den verschiedensten Zeitschriften gewor¬
den. So allseitig aber auch die Theilnahme gewesen ist. welche durch jene
Erörterungen hervorgerufen wurde, ist doch ein Zeitraum von fast zehn Jah¬
ren für das Land völlig frucht- und fortschrittslos verstrichen, ja es hat sich
während dieser Zeit bis zur Evidenz herausgestellt, daß bei dem Fortbestehn
der jetzigen Verhältnisse jedes Fortschreiten auf dem Wege politischer und
socialer Entwicklung unmöglich, daß keinerlei Abhilfe derjenigen drückenden Män¬
gel und Gebrechen unserer politischen und socialen Einrichtungen zu hoffen ist,
welche uns von allen Seiten umringen.
Es scheint jetzt jedoch eine Zeit nahen zu wollen, wo sich die Kräfte zur
Herbeiführung gründlichen Anbaues der bestehenden Verhältnisse vereinigen
möchten. Da wird es eine Pflicht sür Jeden, nach seinem Maße beizusteuern,
daß die Zweckwidrigkeit und Verderblichkeit der letzteren möglichst von allen
Seiten erkannt und völlig klar dargestellt werde. Zu diesem Zwecke möge die
folgende Darstellung beitragen, welche freilich die drückendsten Momente unsers
staatlichen und bürgerlichen Lebens nur in der Kürze zusammenfassen, nicht
erschöpfend dem Leser vor die Augen führen kann; aber doch dazu dienen
dürfte, daß sich die an verschiedenen Orten niedergelegten Urtheile über unsere
Zustände in einem Gesammtbilde darstellen.
Prüfen wir unbefangen die Lage Mecklenburgs, so erscheint die auf dem
Princip der Sonderinteressen beruhende ständische Verfassung als dasjenige
Hauptmoment, welches sich nicht nur jeder Entwicklung aus der Bahn
eines naturgemäßen Fortschritts entgegenstemmt, sondern welches auch seinem
innersten Wesen nach nur befähigt ist, zu den Verhältnissen und Einrichtungen
einer längst vergangenen, mit der heutigen in vielfachem Widerspruche stehen¬
den Zeit zurückzuführen. Der Schwerpunkt dieser ständischen Verfassung aber
beruht im der Art und'Weise ihrer Vertretung, welche ausschließlich bei den
Rittergutsbesitzern und den Magistraten sich befindet. Diese beiden Factoren
bilden die Landschaft, erstere aus eigenem Rechte und ohne alle Verantwort-
lichkeit, letztere in Folge ihrer Stellung und fast durchgehends von der Bürger¬
schaft ihrer Städte unabhängig.
Eine solche Vertretung ist nichts weniger als eine wahre Landesvertretung,
ist nicht eine solche, welche auf die berechtigten Wünsche des ganzen Volkes
zu hören oder ihnen gar zu entsprechen vermöchte. Sie hat sich, auf dem
Boden des Sondcrintcresses erwachsen, vielmehr im Laufe der Zeit mit den
Wünschen und der Wohlfahrt des gesammten Landes dergestalt in Widerspruch
gestellt, daß sie jegliches zeitgemäße Fortschreiten hindert und daß sie — dem
Willen einzelner Weniger gegenüber — selbst die als nothwendig allgemein
anerkannten Reformen im Staatsleben durchzuführen und sicher zu stellen nicht
vermag. Wie die landständische Verfassung auf dem nach allen seinen An-
schaungcn veralteten Landcsgrundgesetzlichen Erbvergleiche beruht, so ist die
Vertretung des Landes immer genöthigt, auf die Bestimmungen desselben zu-
rückzugehn, und sie bleibt selbst in solchen Fällen auf diesen bestehn, wo sie
sehr wol eurer freien Selbstbestimmung Raum geben könnte. Sie wagt das
Letzter? nicht, um nicht von einem Schritte zum andern gedrängt zu werden
und dadurch den Boden unter den Füßen zu verliere». Denn dieser Boden,
auf welchem sie steht, ist ein künstlich untergeschobener, der Landesgruudgesetz-
liche Erbverglcich ist nichts weniger als die in-rAng, eimrw Mecklenburgs, wenn
man ihn auch bis zum Ueberflusse als solche preisen hört; er ist seinem wahren
Wesen nach nichts weiter, als eine zwischen Fürsten und Stünden, als Ver¬
tretern ihrer Güter und Städte, unter kaiserlicher Obwaltnng vollzogene
Friedensacte über streitige Punkte, bei deren Abfassung an eine Berücksichti¬
gung des ganzen Landes so wenig gedacht wurde, daß es in ihm ausdrück¬
lich heißt: „bei solchen Verordiiungen und Gesetzen, welche gleichgiltig (d. i.
allgemein giltig), zur Wohlfahrt des ganzen Landes absichtlich und diensam
sind, braucht nur das rathsame Bedenken der Ritter- und Landschaft (der
Stände) vernommen zu werden, während mit der Publication derselben, et¬
waigen ständischen Dissenses ungeachtet, dennoch verfahren werden soll." Da¬
gegen heißt es andrerseits, daß bei Landesordnungen und Constitutionen,
welche die wohlerworbenen Rechte der Ritter- und Landschaft gesammt oder
besonders berühren und ihnen entgegen laufen oder deren Minderung und
Abänderung zum Zwecke h^ben sollten, ohne der Ritter- und Landschaft aus¬
drückliche Bewilligung nichts verhängt werden dürfe."*) Diese Worte be¬
weisen auf das Klarste, daß der Erbvergleich von vornherein nur den Zweck
hatte. Eigenrechte festzustellen, die zwar die Eigenrechte derjenigen Personen
waren, welche zur Zeit seiner Entstehung die Ritter- und Landschaft bildeten,
wie solche auf dem feudalen und communal-aristokratischen Boden des Patri-
monialwcsens erwachsen waren; daß er zwar diese Personen als natürliche Ver-
treter ihrer Hintersassen und Städte betrachtete, jedoch nicht als Vertreter des
ganzen Landes und der Bewohner desselben. Der Erbvergleich ist demnach keine
Staatsverfassungsurkundc, wie es auf dem außerordentlichen Landtage des
Jahres 1848 die Stände, und namentlich auch die Ritterschaft selbst mit fol¬
genden Worten aussprachen, „daß sie nur sich und unmittelbar ihre Angehö¬
rigen vermöge des ihnen zustehenden Rechtes, und somit nur die dahin ge¬
hörigen Interessen vertreten."
Aus freier Entschließung und völlig ungezwungen erkannten die Stände,
auf diesem Ausspruche fußend, den Widerspruch, in welchem ihre Vertretung
mit dem Begriffe einer wahren Landesvertretung steht. Sie lösten sich im
Jahre 1848 deshalb ohne ausdrücklichen Vorbehalt,*) mit einstimmiger Bil¬
ligung des desfallsigen Beschlusses, auf. Am 10. October 1849 wurde ein
neues, mit der inzwischen zusammengetretenen Abgeordnetenversammluug be¬
rathenes Staatsgrnndgesetz publicirt, jedoch in Folge des bekannten Freien-
walderschiedsspruchs am 14. September 1850 gleichfalls wieder aufgehoben.
Die alten Stände traten darauf wieder zusammen, jedoch ausgesprochner
Maßen nicht zu dem Zwecke, um in der früheren Weise weiter zu bestehn,
sondern nur, um zur Berathung einer neuen, dem Geiste der Gegenwart ent¬
sprechenderen Verfassung behilflich zu sein. Daß dies wirklich der Zweck, we¬
nigstens der Hauptzweck ihres damals erneuerten Zusnmmentretens war, sagt
das h. Publicandum vom 14. September 1850 ausdrücklich mit folgenden
Wörtern „Wir werden ungesäumt die erforderlichen Einleitungen treffen, da¬
mit das Werk der Reform der ständischen Vertretung und der Landesverfass¬
ung, welches auf dem außerordentlichen Landtage des Frühjahres 1848 be¬
gonnen wurde, unter verfassungsmäßiger Mitwirkung Unserer getreuen Stände
wieder aufgenommen werde." Diese Worte lassen nur die obige Deutung zu.
An den a. o. Landtag des Jahres 1848 sollten die wieder zusammengetrete¬
nen Stände anknüpfen, also an diesen Landtag, dessen Berufung nur ge¬
schehn war, um den bisher unberücksichtigt gebliebenen Interessen des Landes
zu genügen, dessen Resultat die — freilich nur einstweilige, aber unbe¬
dingte — Aufhebung der ständischen Verfassung war. und auf welchem die
Stände eine Höhe der Selbsterkenntniß offenbart hatten, die sich in den oben
angeführten Worten zur Genüge darlegt und beiläufig in der mecklenburgischen
Geschichte unerhört ist. Auf dem a. o. Landtage 1843 war nicht nur von
ihnen die Nothwendigkeit einer Verfassungsreform anerkannt, es füßle sogar
der ständische Widerstand gegen die mit der Abgeordnetenversammluug ver¬
einbarte Verfassung mit auf der Anerkennung dieser Nothwendigkeit?, insofern
gegen jene Verfassung eben nur der Einwurf erhoben wurde, daß sie ohne
ständische Begutachtung zu Stande gekommen sei. Der freienwalder Schieds-
Vrg>. I. Wiggcrs, Vr7 Das Verfassungsrecht in Großh. Mecklenburg-Schwerin.
Spruch ging nämlich von der Ansicht aus, daß die früheren Stände zwar ihrer
Mitwirkung, aber nicht ihrer Mitbegutachtung der neuen Verfassung sich be¬
geben hätten. Die Nothwendigkeit einer Verfassungsreform findet sich zu die¬
ser Zeit auch niemals geleugnet und gewann sofort ihre Bethätigung dadurch,
daß desfallsige commissarisch-deputaUsche Verhandlungen zu Schwerin eröffnet
wurden, die freilich resultatlos verliefen, weil sich die Ansichten inmittelst
abermals geändert hatten. Indessen war dies nur auf Seiten der Stände
der Fall; die Regierungen hielten an ihrer Auffassung fest, indem das h.
Rescript vom 25. November 1851 ausdrücklich erwähnte, daß die Verfassungs-
Verhandlungen demnächst (d. i. unter günstigeren Umständen) wieder aufgenom¬
men werden sollten. Daß die Sache nun bis zum heutigen Tage auf diesem
Standpunkte verblieben ist, wird den nicht wundern können, welcher die stän¬
dischen Verhandlungen der letzten acht Jahre ohne Vorurtheil verfolgte. Nicht
nur haben die Stände grade während dieser Zeit einer jeden Reform auf das
Kräftigste widerstanden, sondern auch durch ihr immer weiteres Zurückgehn auf
das im Landesgnnidgesetzlichen Erbvergleich sanctionirt sein sollende particulari-
stischc Wesen des feudalen Patrimonialstaates den Landesherrn positiv unmöglich
gemacht, mit Reformvorschiägen, welche die Verfassung im Ganzen betreffen,
wieder hervorzugehn. Daß dies nicht geschehn konnte, darf der Landesherr-
schaft nicht zum Vorwurfe gemacht werden; ihre Würde leidet ein abermali¬
ges Zurückweisen solcher Vorlagen nicht, und sie weiß am besten, daß ein
solches ganz sicher der Fall sein würde. Es gibt nur einen Weg, welcher
zum Ziele zu führen gegeignet sein möchte: Ausnahme der Versassungsreform
im Schooße der Stände selbst.
In dem Vorstehenden ist entwickelt, daß die bestehende ständische Vertre¬
tung Mecklenburgs eine wirkliche Landesvertretung nicht ist, ja daß sie nicht
einmal wehr auf der Voraussetzung beruht, welcher gemäß sie im Jahre 1850
wieder zusammentreten konnte. Es darf daher mit Fug und Recht gesagt
werden, daß dieselbe den berechtigten Wünschen des Volks durchaus widerstrebt
und in dieser Hinsicht dem öffentlichen Wohle zuwider läuft. Wo aber ein
bestehendes Verhältniß im Allgemeinen mit der Wohlfahrt des Landes nicht
verträglich ist. da wird sich dies auch in seinen besondern Beziehungen zeigen
müssen. Das ist nirgends deutlicher hervorgetreten, als bei den ständischen
Verhandlungen der letzten acht Jahre. Grade während dieser Zeit, in welcher
das Staatsleben sich nach allen Seiten hin hätte entwickeln müssen, hat
sich das Zurückgehn der Stände auf ihre papiernen, aber „wohl erworbnen"
Gerechtsame verstärkt und haben sie nicht nur den Reformen aller Art einen
um so größeren Widerstand entgegengesetzt, sondern sind sie auch in Dingen
des allgemeinen Landeswvhls, in welchen der Staat nicht wol ohne ihre Bei¬
hilfe fortschreiten konnte, weil es sich um die Garantie von bedeutenderen An-
leihen handelte oder die allgemeine Gesetzgebung betraf, immer und immer
ein wesentliches Hemmniß geworden.
Sehr deutlich zeigen dies diejenigen Verhandlungen, welche über die Fort¬
führung der mecklenburgischen Eisenbahn von Güstrow über Neubrandenburg
nach Stettin hin, und über die Beschaffung der nach dem Voranschlage die
Summe von 5^/2 Mill. Thalern nicht übersteigenden Anlagekosten gepflogen
wurden. Mit Ausnahme verhältnismäßig sehr weniger Stimmen war der
Nutzen einer solchen Bahn nicht nur im ganzen Lande, sondern auch im Schooße
der Ständeversammlung anerkannt, und auch die dissentirenden Ansichten waren
mehr gegen unwichtigere Nebenpunkte. als gegen die Sache selbst gerichtet.
Es wurde deshalb auch bei den Verhandlungen aus dem Landtage das Project
nicht gradezu verworfen, sondern einfach verschleppt. Das geschah deshalb,
weil aus einer nähern Verbindung mit Preußen der demnächstige Anschluß
an den Zollverein sich wie ein drohendes Gespenst vor den Augen der Ritter¬
schaft erhob, noch mehr aber deshalb, weil die Landschaft ihre Zustimmung
zum Bau der Eisenbahn bedauerlich davon abhängig machte', daß zuvor eine
Reform der mecklenburgischen Steuer- und Zollverhältnisse vereinbart werde,
und als sie dies nicht erreichen konnte, von dem Rechte der illo in xartes
Gebrauch machte und ihr Veto gegen den Bau einlegte. Wir bedauern dies
von Seiten der Landschaft aufs Tiefste; denn es ist immer ein politischer Fehler,
wenn man das eine erreichbare Gute hemmt, weil man das andre Gute nicht
erreichen kann. Allerdings ging ihr Schritt aus der Befürchtung hervor, daß
bei dem Fortbestehn der jetzigen Steuerverhältnisse die Städte durch die neue
Eisenbahn leiden würden. Aber theils war dies keineswegs eine nothwendige
und evident voraus zu erkennende Folge, theils hätte, wäre sie eingetreten,
das bestehende Steuersystem um so gewisser fallen müssen.
Ueber die Reform des letztern ist in dieser Zeitschrift schon früher gespro¬
chen. Man mag über deren Wesen und Ziel verschiedner Ansicht sein, aber
ihre Nothwendigkeit, ihre dringende Nothwendigkeit leugnet Niemand. Dennoch
ist sie nach jahrelangem Hinschleppen einem gedeihlichen Abschlüsse noch um
keinen Schritt näher gebracht. Der Grund ist hier darin zu suchen, daß mit
jeglicher Aenderung des bestehenden Systems namentlich und fast ausschließlich
auf Seiten der Ritterschaft eine Menge von Sondennteresscn berührt werden,
denen man nicht entsagen will, weil sie ans dem Boden des Landesgrundgcsctzlichen
Erbvergleichs beruhn. Es soll einmal die Gesammtstellung ungestört in dem
Maße, wie sie durch diesen geordnet ist. bis aufs Aeußerste erhalten werden.
In Hinsicht auf die Rechtspflege ist es noch nicht zu einer einheitlichen,
zeitgemäßen Gesetzgebung gekommen. Das hat sich besonders in neuerer Zeit fühl¬
bar gemacht, und es ist alUrdings schreienden Uebelstünden bis zu einem gewissen
Grade abgeholfen. Es können aber alle diese Abhilfen auf dauernden Werth
um so weniger Anspruch machen, als sie nur Theile des Ganzen betreffen und
dadurch nur die Masse der Rechtsquellen vermehren helfen. In Kriminalsachen
besteht noch immer die langsame, schriftliche Praxis früherer Zeit; nur für die
Schlußverhandlungen ist ein öffentliches, mündliches Verfahren eingeführt.
Daß dies für die Criminalrechtspflege ohne besondere Bedeutung sein muß,
liegt auf der Hand und zeigt sich übrigens auch im Gange der öffentlichen
Verhandlungen, Die Langsamkeit des Verfahrens hat sich schon so häufig
drückend fühlbar gemacht, daß Anordnungen zur leichtern Ueberführung
von Verbrechern nothwendig geworden sind, die jedoch, fo wünschenswert!)
sie an und für sich sind, sich in Rücksicht auf unschuldig Angeklagte als sehr
bedenklich erweisen. Daneben bestehn noch heute auf dem Territorium der
Ritterschaft die Patnmonialgerichte. Institute der Vorzeit, deren Verwaltung
in den Händen von Einzelnrichtern liegt, die der Gutsherr unter den Candi-
daten, welche das Richterexamen bestanden haben, bestellt und die theilweise
sogar kundbar sind. Auch diese Art von Rechtspflege geht aus den „wohler¬
worbnen Rechtest" einzelner Personen im Staate hervor. Es soll hier nicht
behauptet werden, daß eine gewisse Art von Parteilichkeit mit ihr nothwendig
verknüpft sein müsse; aber mit dem Begriffe einer wohlgeordneten und unpar¬
teiischen Rechtspflege wird sse Niemand im identificiren vermögen. Die Pa-
trimonialgerichte sind dem gesunden Sinne des Volks so sehr zuwider, daß z. B.
die Gutsuntergebnen sie mit der größten Energie hassen. Ob sie es verdient
haben oder nicht, bleibt hier ganz gleichgiltig, obwol sich auch Ersteres nicht
leicht in allen Fällen und namentlich rücksichtlich der frühern Zeiten wird be-
streiten lassen. Man wird doch immerhin eine Rechtspflege nicht gesund oder
zweckmäßig nennen können, auf welche der bei weitem größte Theil des Volks
mit Abneigung blickt. Es braucht aber kaum hier noch erwähnt zu werden, daß
eine einheitliche, alle Classen des Volks gleichmäßig umfassende Gesetzgebung
unmöglich ist. so lange die jetzigen Verhältnisse der ständischen Vertretung be¬
steh», da schon von vornherein der Begriff des Einheitlichen jedes Sonder¬
recht aufheben muß, und umgekehrt.
Die Verhältnisse des Lehnswesens sind im Laufe der legten Jahre auf
die strengsten Feudalprincipien zurückgeführt worden. Die Verkäuflichkeit und
Verschuldbarkeit der Lehne sucht man mehr und mehr zu beschränken; die früher
gestattete Allodisicirung derselben ist factisch fast ganz aufgehoben; die letzt¬
willige Dispositionsfähigkeit der Lehnsbesitzer ,se durch die neuerliche Gesetz¬
gebung hinsichtlich der Töchter beschränkt, überhaupt unsicher geworden. Die
ganze Lehnsgesctzgebung ist aufs Aeußerste verwickelt und selbst vielen der
tüchtigsten Juristen in Mecklenburg*) undurchdringlich; der Gang derselben zeigt
aber deutlich, daß auch hier das Streben auf eine Zurückführung in frühere
Zeiten gerichtet ist. Eine solche ist indessen hier um so bedenklicher, als sie
im graben Gegensatze steht zu den landesherrlichen Bestrebungen und Verfü¬
gungen im Domanium des Landes, welche die allmälige Vermehrung des länd¬
lichen Mittelstandes bezwecken. Die Ritterschaft ihrerseits bezweckt nämlich die Un-
theilbarkeit von Grund und Boden, wie sie jetzt besteht, in ihren strengsten
Consequenzen aufrecht zu erhalten und durch die Gesetzgebung zu binden. Es
ist klar, daß dieser Gegensatz der Bestrebungen auch auf die weitere Theilung
des Areals im Domanium nur hemmend einwirken kann. Denn wenn auch
die Landesverwaltung bisher in ihrer Weise fortgefahren und die Zahl der
mittlern und kleinern Besitzungen jährlich vermehrt hat, so konnte und kann
sie dies doch immer deshalb nur in einem geringern Grade thun, als wün¬
schenswert!) war und ist, weil sie nicht über ein bestimmtes Maß hinausgehn
darf. Sie darf dies aber deshalb nicht, weil ihr sonst bald die Gelegenheit
zu weitrer Vermehrung solcher Besitzungen fehlen würde und weil sie eine An¬
zahl großer Güter in ihrer Landeshälfte reserviren muß, um der Ritterschaft,
deren Machtstellung auf dem großen Grundbesitze beruht, in dieser Hinsicht
einigermaßen das Gleichgewicht halten zu können.
Sobald eine Aenderung in der Veriretung des Landes eingetreten sein
wird, muß die Frage über die Theilbarkeit der Güter in Mecklenburg zur
Sprache gebracht werden. Dieselbe ist bei dem herrschenden Systeme nicht
möglich; da die politische Stellung der Rittergutsbesitzer auf dem großen
Grundbesitze beruht, so steht und fällt jene mit diesem. Andererseits aber
rückt die Nothwendigkeit der Theilbarkeit bis zu einem gewissen Grade täglich
mit immer größerer Schwere nahe, Die Heimath-, Niederlassungs- und Ar-
mennoth in Mecklenburg mit ihrem Gefolge von Auswanderung, unehelichen
Geburten u. f. w. ist so entschieden an die Erhaltung des Status <zu<i ge¬
knüpft und nur durch die Modification des Bestehenden zu einem glücklichen
Austrage zu bringen, daß wir nicht umhin können, diesen Gegenstand hier
ganz besonders hervorzuheben und zu erläutern.
Auf dem 103.4» Quadratur, umfassenden Gebiete der Ritterschaft befinden sich
nur 917 Hauptgütcr (von denen ein Theil Nebengüter besitzt) in den Händen
von 023 adligen und bürgerlichen Besitzern. Die durchschnittliche Größe eines
jeden Gutes beträgt 2692^ preuß. Morgen und im durchschnittlichen Besitze jedes
Gutsbesitzers befinden sich 3992'/» preuß. Morgen Areal, welche nach den Ver¬
kaufspreisen des Quinquenniums i8°Vss, laut den Mittheilungen des statisti¬
schen Bureaus. einen mittleren Werth von 176,000 Thlrn. für jeden Gutsbesitzer
repräsentiren. Neben diesen Gutsbesitzern befinden sich auf dem Gebiete der
Ritterschaft, auf dem Areale derselben und von ihnen in gewissem Grade ab¬
hängig, auch ihnen zur Pachtleistung verpflichtet, nur noch 1187 kleinere Land¬
wirthe (Bauern), außerdem einige Müller, Schmiede u. s. w. Die ganze
Menge der übrigen Bevölkerung in diesem Landestheile besteht, wenn man
noch die Prediger, Forstbeamten, Schullehrer. Küster u. s. w. abrechnet, aus
Tagelöhnern und deren Familien. Die auf ritterschaftlichen Areale lebenden
Bauern sind von den Grundherren dergestalt abhängig, daß sie von ihrem
Acker entfernt werden können, indem ihnen entweder derselbe ganz genommen
wird, oder indem sie an einer andern Stelle des Gutsbezirkes neu angebaut
werden. In dieser und jener Weise sind viele Bauerstellen ge- und verlegt.
Noch im Jahre 1805 bestanden auf dem Gebiete der Ritterschaft 1658, im
Jahre 1819 noch 1502, im Jahre 1847 nur noch 1272 Bauerstellen und von
diesen sind im Laufe der letzten zwölf Jahre 85 Stellen ganzlich niedergelegt.
Die Zahl der Verlegungen ist gewiß nicht geringer, obwol nicht erforschbar,
da es unseres Wissens bisher Niemand versucht hat, solchen Kleinigkeiten sta¬
tistisch nachzuspüren. — Die Tagelöhner der Ritterschaft haben zwar für sich
und ihre Familien, wenn sie arbeiten wollen und können, ein verhältnißmäßig
gutes Auskommen. Aber sie sind von dem Belieben ihrer Gutshcrern factisch
ganz abhängig, namentlich hinsichtlich ihrer Niederlassung und der Armen¬
versorgung. Erstere ist ihnen nur möglich, wenn eine nachhaltige Vermeh¬
rung der Arbeitskraft auf dem Gute, wo sie geboren wurden, zweckdienlich
erscheint, überhaupt nur aus persönlichen Rücksichten des Gutsbesitzers allein,
welcher darin jeder Verantwortung oder Controle enthoben ist. Deshalb steht ihm
zwar auch die Armenversorgung mit Recht allein zu; aber eben dieser Umstand
wird zurückwirkend natürlich wieder ein großes Hinderniß der Niederlassung,
deren Beschränkung dann die bedauerlichen Folgen einer unverhältnißmößig
großen Zahl unehelicher Geburten nach sich zieht. In dem 7,04 Quadratur,
umfassenden Klostergebiete verhält es sich in allem, wie in der Ritterschaft;
die klösterlichen Konvente adliger Jungfrauen sind die Besitzer des Areals unter
Aufsicht und Verwaltung der adligen Landstände. Es befinden sich auf jener
Fläche 31 große Güter, 236 Baucrstellcn. deren Niederlegung jedoch sehr selten
geschieht, einige Prediger, Förster u. s. w. — Das Domauium umfaßt 97,2»
Quadraten. In ihm gibt es keine Gutsbesitzer, aber 254 große Pachtgüter,
5443 Bauern und Erbpächter, 9682 Büdner. Häusler ze.; daneben Prediger und
Förster mit oft bedeutenden Ackerwerken, Küster, Schullehrer, einzelne Handwerker
u. f. w. Der übrige Theil gehört auch hier zur Classe der Tagelöhner, ist aber,
unter der geregelten Verwaltung landesherrlicher Beamten stehend, jeder persön¬
lichen Willkür entzogen und betreffs der Niederlassung und Armenpflege insofern
besser gestellt, als diese nicht auf jeden einzelnen Ort beschränkt, sondern auf
den größern Bezirk des Amtes ausgedehnt sind.
Zieht man aus dem eben Gesagten, mit Rücksicht auf die ganze Bevöl¬
kerung der einzelnen Landestheile in Mecklenburg-Schwerin die Summe, so
ergibt sich, daß in der Ritterschaft ca. 30,000, im Klostergebiete ca. 1800. im
Domcunum ca. 30.000 Tagelöhnerfamilien wohnen. Bezüglich der übrigen
Bewohner dieser Landestheile bilden die Tagelöhner in der Ritterschaft aber
92,s, im Klostergebiete 86,7, im Domanium 65,3 Procent, im Ganzen 76,s
Procent der Gesammtbevölkerung. Die ländliche Mittelclasse beträgt ferner
in der Ritterschaft 5,s, im Klostergebiete 11.n und im Domanium 34,1 Procent,
im Ganzen 22, v Procent der ländlichen Bevölkerung überhaupt.
Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß der Fortschritt und die Ver¬
mehrung derjenigen mittleren und kleinen Industrie, auf welche unsere Land-
städte angewiesen sind, ganz besonders von dem Stande und der Zahl der
ländlichen Mittelclasse abhängig sind. Die größere Wohlhabenheit, welche
letztere durchweg in der neueren Zeit — namentlich durch höhere Kornpreise —
errungen, würde im höchsten Grade wohlthätig auf die städtische Industrie
zurückgewirkt haben, wenn nur die Zahl der zur ländlichen Mittelclasse Gehö¬
rigen einigermaßen im richtigen Verhältnisse zur Zahl der Industriellen sich
vermehrt hätte. Da dies aber wegen des ständischen Widerstrebens in keiner
Weise geschehn ist, so ist theils ein bedauerlicher Rückschritt in einzelnen Ge¬
werben, theils in anderen ein bedenklicher Stillstand eingetreten, welcher
beim Fortbestehn der augenblicklichen Verhältnisse gleichfalls nur zu einem
Rückschritte führen kann. — Vielleicht würde es dem Lande zum Vortheil
gereichen, wenn sich größere, industrielle Unternehmungen in ihm eröffneten,
seien diese private oder öffentliche. Erstere sind aber bei dem herrschenden
Steuersystem fast unmöglich, letztere auch auf längere Dauer hinausgeschoben,
falls sich nicht für die Ausführung des Güstrow-Stettiner Eisenbahnprojectes
bald günstigere Aussichten eröffnen.
Auf das Tiefste greisen die bestehenden Verhältnisse mit ihrer hemmenden
und drückenden Einwirkung in alle Lebensrichtungen der Bevölkerung ein. Wie
aber die stritte Unteilbarkeit des Grundes und Bodens die Unterlage ersterer
ist, so geht aus ihr auch folgerichtig eine große Zahl von Uebelständen als
aus erster Quelle hervor. Durch sie wird die so wünschenswerthe wie noth¬
wendige Vermehrung des verhältnißmäßig äußerst geringfügigen, ländlichen
Mittelstandes theils gehemmt, theils unmöglich gemacht, und in Folge davon
wird durch sie ein unverhältnißmäßiges Anwachsen derjenigen Classen der Be¬
völkerung hervorgerufen, welche als Tagelöhner, Knechte u. s. w. in einer
höchst abhängigen Stellung leben, welche hinsichtlich ihrer Niederlassung und
Verehelichung an den Willen einzelner Weniger gebunden sind und bei ihrer
anwachsenden Zahl nothwendig in dieser Hinsicht einer immer größern Be¬
schränkung unterliegen müssen.
Muß man dies, wie wir nicht zweifeln, unbedingt zugeben, so muß man
auch andrerseits gern oder ungern zugestehn, daß die Folgen namentlich dieser
Niederlassungsbeschränkung, überhaupt aber der socialen Abhängigkeit in jeder
Beziehung, sich auf die Grundquelle der Ursachen zurückführen lassen. Als
solche haben sich in neuerer Zeit mit großer Evidenz herausgestellt: Die un¬
geheure Zahl der unehelichen Geburten und die ünverh ältniß-
mäßig große Auswanderung, Daß sich aber diese Folgen über das
ganze Land verbreitet haben, kann um so weniger auffallen, als es eine all¬
gemein bekannte Erscheinung ist. daß der ganze Körper leidet, wo ein Theil
desselben krank ist. Ueber die nothwendige Wechselwirkung der einzelnen Landes¬
theile untereinander ist schon oben gesprochen worden; man kann nicht behaup¬
ten, daß solche in einer Beziehung bestehe, in andrer nicht. So zeichnet sich
denn Mecklenburg unter allen deutschen Staaten durch die verhältnißmäßig
größte Zahl unehelicher Geburten aus; auch zur überseeischen Auswanderung
hat kein deutsches Land verhältmßmäßig so große Massen gestellt. In den
.acht Jahren von 1851 — 58. so weit die statistischen Erhebungen unsere
Nachweise sicher stellen, sind im Ganzen 31,700 Menschen aus Mecklenburg-
Schwerin überseeisch ausgewandert, durchschnittlich also jährlich 3962 Menschen,
d. i. 0,72 Procent der ganzen Bevölkerung oder«/^ des natürlichen Ueberschusscs
aller jährlich Geborenen über alle jährlich Gestorbenen. Dazu auch ist die Zahl
solcher, welche in andere deutsche Länder übergehn, zumal um in diesen Grund¬
besitz zu erwerben, also Capitalien aus dem Lande entführend, eine bedeutende,
während die Einwanderung aus gleichem Grunde bei der geringen Zahl dis¬
ponibler Landgüter weit geringer ist. — Es muß demnach wiederholt werden:
Die auf dem Principe der Untheilbarkeit beruhenden und durch die land¬
ständische Verfassung Mecklenburgs auf demselben erhaltenen großen Guts¬
besitzungen, welche die Bildung eines kräftigen Mittelstandes überall verhin¬
dern, sind die erste Ursache aller dieser Erscheinungen, welche das Land poli¬
tisch und social nicht nur nicht kräftigen können, sondern geradezu schwächen
müssen.
Diesen unseren Schlüssen scheint ein Umstand zu widersprechen, auf welchen
von Seiten der Freunde des Bestehenden immer wieder hingedeutet wird, und
welchen wir aus diesem Grunde schon nicht mit Stillschweigen übergehn dür¬
fen. Sie leugnen, daß der durchschnittliche, mittlere Wohlstand der Bevöl¬
kerung sinke oder sich nicht vermehre, indem sie darauf hinweisen, daß der
allgemeine Wohlstand des Landes sich jährlich mehre, wie vornehmlich der
niedrige Zinsfuß und die große Beliebtheit der Landgüterhypotheken Mecklen¬
burgs im Auslande beweisen. Sie sagen weiter: „Wäre das Land durch die
Gesetzgebung nicht vor der Theilung seiner großen Güter gesichert, wäre es
dem Jndustrialismus (wörtlich!) verfallen, so würde der Gesammtwerth seines
Bodens die jetzige Höhe nicht erreichen, namentlich der Zinfuß bedeutend steigen
und ebenso der allgemeine Wohlstand sinken." Es wird leicht sein, in
diesen Aeußerungen das Falsche vom Richtigen zu sondern. Das Falsche liegt
offenbar darin, daß der Wohlstand einzelner Weniger (der Gutsbesitzer ze.)
mit dem allgemeinen Wohlstande des Landes identificirt und hieraus sogar
der Begriff eines mittleren Wohlstandes auf den Kopf unsrer Bevölkerung ab¬
geleitet wird. In jedem andern Lande, wo wirklich ein Mittelstand besteht,
würde dies eher thunlich sein und es geschieht zum Zwecke statistischer Ueber-
sichtlichkeit und Vergleichung. Niemandem aber wird es mit Recht einfallen
dürfen, eine solche Mittelzahl, welche nichts anderes als die Darstellung eines
abstracten Begriffes ist, als eine die Wirklichkeit darstellende zu betrachten. Um
so weniger in Mecklenburg, wo die Mittelclasse sast ganz fehlt. Hier ist vielmehr
dasjenige Vermögen, welches als Nationalvermögen in diesem Falle betrachtet
werden soll, nichts weiter als das Vermögen vol, 623 Gutsbesitzern; der Zins¬
fuß, von welchem die Rede ist, ist derjenige, welcher eben jenen 623 Guts¬
besitzern als solchen zu Theil wird, während es mehr als bekannt ist, daß die
Industriellen des Landes nicht nur, sondern auch die Besitzer kleiner Landstellen,
namentlich die kleineren Erbpächter, selbst auf mittelgute Hypothek nur sehr
schwer und nur gegen hohen Zins Credit zu beschaffen vermögen. In der
Wirklichkeit stellt sich diese Sache nicht nur nicht so dar, wie man sie schildern
möchte, sondern grade umgekehrt: Je größer das Vermögen und der Credit
jener 623 Personen, desto geringer sind das Vermögen und der Credit aller
übrigen Landesbewohner. Vergegenwärtigen wir uns den wirklichen Zustand.
Jene 623 Gutsbesitzer sind im Besitze eines Areals, welches nach jetzigen
Preisen einen Werth von ca. 118 Mill. Thlrn, repräsentirt. Darauf ruhen
etwa (kaum!) 55 Mill. Thlr. hypothekarischer Schulden, so daß ihr gesäumtes
Neinvermögen ca. 63 Mill. Thlr, beträgt oder im Durchschnitte jeder Guts¬
besitzer ein Rcinvermögen von 100.000 Thlrn. repräsentirt. Daß solche Leute,
zumal bei der ausgezeichneten hiesigen Hypothekenverwaltung und ferner deshalb,
weil die Besitzungen augenscheinlich noch nicht die letzte Stufe ihres wahren Wer¬
thes erreicht haben — daß solche Leute Credit haben müssen und Geld gegen nied-
drigen Zinfuß reichlich erlangen können, ist eine selbstverständliche Sache. Ebenso
erkennbar ist aber auch, daß jener Credit und jener Zinsfuß nichts auf die All¬
gemeinheit Bezügliches sein können in einem Lande, wo 620 reichen Gutsbesitzer-
62,000 arme Tagelöhnerfamilien ohne alles und jedes Vermögen und ohne allen
Credit gegenüberstehn. Es ist sogar eine bekannte Erscheinung, daß bei
sinkendem Zinsfuß für Landgüterhypothek hier zu Lande der Zinfuß für städtische
Grundstücke zu steigen pflegt (ein Umstand, welcher jetzt grade stattfindet).
Was man zum Lobe der bestehenden Verhältnisse gern denjenigen, welche
die hiesigen' Verhältnisse nicht genauer kennen, plausibel machen möchte, ist
demnach nicht stichhaltig. Es geht in Mecklenburg grade wie in andern Län¬
dern, und es kann getrost behauptet werden: Wäre durch eine größere Thei¬
lung von Grund und Boden die Zahl mittelgroßer Besitzungen vermehrt, eine
größere Menge wohlhabender ländlicher Familien erschaffen und — was eine
sichere Folge davon sein würde — eine intensivere Bewirthschaftung des Are¬
als herbeigeführt; würde in Verbindung damit und in Folge zweckmäßiger
Staatsreformen die Industrie einen höheren Aufschwung nehmen, so würden
ohne Zweifel größere Capitalien auf die Landesproduction verwandt, die
Nachfrage nach solchen würde bedeutender sein, der Zinsfuß unbedingt stei¬
gen; aber — der Wohlstand würde trotzdem zunehmen, er würde allgemeiner
und größer werden.
So lange die ständische Verfassung Mecklenburgs im Bestände bleibt, ist
eine größere Zertheilung des Areals gar nicht'denkbar und möglich; die po¬
litische Stellung der Ritterschaft beruht auf dem großen Grundbesitze, steht
und fällt mit diesem. Mit der ständischen Verfassung im Zusammenhange
steht, wie oben gezeigt wurde, auch das Stehenbleiben resp. Rückwärtsschreitcn
in den verschiedenen andern ^Richtungen des politischen und socialen Lebens
des Landes. Andrerseits macht die Nothwendigkeit eines verständigen Fort-
schreitens, der Reform nach allen Seiten hin sich täglich mit größerem Ge¬
wichte fühlbar; die Kluft zwischen dem antiquirten Standpunkte des Landesgrund-
gesetzlichen Erbvergleichs und der Gegenwart öffnet sich immer weiter. Es entsteht
die Frage und ist dringend nahe getreten, wie diese widerstreitenden Verhält¬
nisse zu einem glücklichen und befriedigenden Austrage gebracht werden können.
Oder sollte das Bestehende auf die Dauer trotz alledem, dem Willen und
der Macht Weniger gemäß, noch zu erhalten sein? Ist es denkbar, daß eine
Vertretung bestehn bleiben könne, welche während ihrer ganzen Dauer nicht
einmal vermocht hat, ihr Verhältniß zur Landesverwaltung, noch auch das
Verhältniß der einzelnen Landstände unter sich und zu den ständischen Behör¬
den in genügender Weise festzustellen? Zwischen den Ständen und der Staats¬
gewalt sind eine Menge von Differenzen entstanden, die wahrlich nicht immer
unwichtig sind, die man aber nach dem Geschüftsausdrucke hat, „auf sich
beruhen lassen." vielleicht aus dem Grunde, damit weitere Nachforschungen
und richterliche Untersuchungen nicht zu einem unerwünschten Resultate füh¬
ren? Wie vertrüge sich das mit der Gerechtigkeit? Und nun die Differenzen
unter den Landständen selbst, nämlich unter dem ritterschaftlichen Theile der¬
selben! Ist doch das Verhältniß der adligen zu den bürgerlichen Ritten, ein
völlig abnormes, der Begriff einer Gleichberechtigung beider noch niemals ^zur
Geltung gekommen. Es herrscht eine förmliche Indignation auf Seiten des
Adels über die Anmaßung der bürgerlichen Gutsbesitzer, dieser Eindringlinge,
die sogar Miene machen, sich um speciell adlige Angelegenheiten (zu welchen
u. A. auch die Verwaltung der Lcmdesklöster gehört) zu bekümmern. Es wird
ihnen zwar auf jedem Landtage gesagt, daß sie mit diesen Sachen nichts zu
thun haben, aber sie lassen dennoch nicht ab, sich in dieselben zu mischen.
Es ist schier lächerlich, daß sie sich anmaßen können, mit hinein zu sprechen,
wenn z. B. der Adel die große That der Reception (auch diese gehört zu den
regelmäßigen Landtagsangelegenheiten) ausführt. Mehr als lächerlich aber
ist es, wenn von ihnen auf eine Untersuchung und Beseitigung der Adelsacte
gedrungen wird u, s. w. — Hinsichtlich der ständischen Behörden ist deren
Machtbefugnis^ und der Umfang ihrer Berechtigungen sehr oft dem Zweifel
unterworfen. Es fehlt durchaus eine bestimmte Geschäftsordnung, und es ge¬
schieht zuweilen, daß in einem Falle sehr Viele über das, was ordnungs¬
mäßig ist, zweifelhaft sind. Man hält sich alsdann an das „Herkömmliche";
der Modus, welcher sich aus früheren Zeiten gebildet hat. vertritt die Stelle
einer Geschäftsordnung, und er wird nach Grundsätzen gedeutet, deren Ur¬
sprung man um hundert Jahre zurück zu suchen hat.
Es konnte nicht fehlen, daß sich gegen alles dies abweichende Meinungen
auch im Schooße der Stände selbst erhoben. Dieselben gestalteten sich all-
mülig zu einer Art Opposition, die aber nur gegen die Vorrechte des Adels
gerichtet war und wesentlich den Zweck hatte, die Rechte aller Landstände
möglichst gleich zu stellen. Eine das Beste des Allgemeinen, die Reform des
Bestehenden, den Forschritt ins Auge fassende Opposition hat Mecklenburg bis
auf den heutigen Tag unter seinen Landständen, nicht gekannt. Deshalb
wurde den oppositionellen Landständen die sich freilich gern, ohne es zu sein,
„liberale" nennen ließen, von Seiten der Bevölkerung wenig Sympathie ent¬
gegengetragen; deshalb blieb ihre Zahl immer nur gering, denn was liegt
den bürgerlichen Gutsbesitzern ihrer Mehrzahl nach am Gewinn einiger Vor¬
rechte, daß sie zu deren Erringung Zeit und Geld opfern sollten? Die weit¬
aus meisten von ihnen besuchten den Landtag gar nicht, während das Volk
höchstens den „liberalen Rittern" sich nicht zu Dank verpflichtet fühlte.
Schon dies beweist, daß eine Opposition, welche Fortschritt und Reform
will, auch in Mecklenburg nothwendig ist. Aber dieselbe muß von dem Punkte
ausgehn, wo sie ihren Boden im Volke hat, wo das beginnt, was dem Lande
d. h. allen seinen Bewohnern nothwendig ist. Wir haben zu zeigen
versucht, daß dies einzig und allein eine gründliche Umgestaltung der Ver¬
fassungsverhältnisse sein kann, welche den Bedürfnissen des Staates und der
Neuzeit entspricht. Denn darüber darf man sich nicht täuschen, eine Beseiti¬
gung der landständischen Verfassung ist nothwendig. So lange sie besteht,
ist nicht die geringste Reform selbst der lästigsten Zustände, nicht der kleinste
Fortschritt aus der Bahn weder des politischen, noch des socialen, noch des
religiösen Lebens zu erwarten.
Im August d. I. ist von 82 landtagssähigen Gutsbesitzern, darunter 2
adligen, der Antrag an den nächsten, im November d. I. zusammentretender
Landtag gestellt:
„Stunde wollen beschließen, daß man die Landesherren ersuchen wolle,
die nothwendigen Schritte zu thun, um den mecklenburgischen Staaten eine
Repräsentativverfassung zu verleihen."
Damit ist der richtige Anfang zum wünschenswerten Ziele gemacht. Der
nächste Landtag wird diesen Antrag, welchem sich ohne Zweifel noch mehrere
Landstände anschließen werden, zu berathen haben. Ganz sicher wird derselbe
für diesmal und vielleicht noch auf längere Zeit eine Zurückweisung von Sei¬
ten seiner compacteren und besser geleiteten Gegner erfahren. Das schadet
aber nichts, wird vielmehr die Zahl seiner Anhänger stärken. — Möge die
obige Auseinandersetzung eine Mahnung zum kräftigen Znsammcnstehn und
Der Ausgang des peloponnesischen Krieges mag manchem Athener die
Augen geöffnet haben über das Ente menschlicher Berechnung; trotzdem konnte
man sich zur Rückkehr auf den Weg. der allein zum Heile führen konnte, nicht
entschließen. Oder sollte etwa das Volk der Geldspenden entsagen, um sie
zur Ausrüstung der Flotte oder eines Bürgcrhceres zu verwenden? Gab es
nicht Söldner, Banausen, die den Krieg recht eigentlich als Handwerk be¬
trieben? Sollte man gar auf den Genuß verzichten, sich im Theater amusiren
und den Pomp der Festzuge anstaunen zu können. Was war es auch um
den Verlust von Potidäa und Amphipolis und um die Ehre, die man preis¬
gegeben, so lange der Friede des Philokrales diesem souveränen Bolle die
Fortdauer der gewohnten Bequemlichkeiten verbürgte? Mochte doch Demo-
sthenes eifern und zum Anspannen aller Kräfte mahnen; hatte er recht schön
geeifert und sah man das ein, so belohnte man ihn mit einem goldnen
Kranze und war mit sich zufrieden, daß man großes Verdienst großartig an¬
erkannt hatte. Auf eine Aenderung der Lebensweise hatte dies keinen Ein¬
fluß. Die Anstrengungen von Chäroncia und von Krcmnon waren ver¬
geblich: sie kamen zu spät und ermangelten durchgreifender Energie und
Wachsamkeit. Für ein solches Geschlecht dünkt uns die makedonische Herr¬
schaft ein Segen.
Man konnte und man wollte nicht mehr arbeiten. Hatte, doch Socrates
gelehrt, daß die Schmiede, Zimmerleute, Schuster, wie großes Geschick in ihrem
Gewerbe sie auch besitzen möchten, nickts destoweniger Sklavenseclen hüllen
und nicht wüßten, was schön, gut und gerecht sei. Hochherzigkeit und edle
Gesinnung suche man bei ihnen vergeblich. Aehnlich urtheilt Plato über die
Handwerker: in seinem idealen Staate wird den Gewerbetreibenden eine sehr
gedrückte Stellung zugewiesen, und auch bei Aristoteles unterscheiden sich die
Techniker oder Banausen und Tagelöhner von den Sklaven nur dadurch, daß
diese Einem, jene hingegen Jedermann dienen. Denn durch die Handarbeit,
meint der gelehrte Stagirit, würden Geist und Körper abgestumpft und rohe
ungeschlachte Leute geschaffen: sie würdige den Freien herab, und daher dürfe
weder der gute Staatsmann noch der gute Bürger sich mit ihr befassen. Hät¬
ten die hellenischen Philosophen geahnt, daß etwa zweitausend Jahre später
grade unter denen, die sich der Fertigung von Schuhwerk befleißigen, einige
sehr bedeutende Geister aufstehen würden, von denen einer, ein Sohn der deut¬
schen Stadt Nürnberg, sich als Poet keinen kleinen Ruhm erwarb, während ein
andrer, der görlitzer Schuster, noch den bedeutendsten Weisheitslehrern unsers
Jahrhunderts Achtung abnöthigte; ich glaube, sie würden wenigstens von den
Schustern nicht gesagt haben, daß ihnen der Sinn für das Schöne, Gute und
Gerechte fehle. Doch jene Männer waren Hellenen, und wir können es nur
natürlich finden, daß sie ihre hellenische Denkart auch in ihren Philosophemen
nicht verleugneten, die Niedrigkeit des Handwerks gewissermaßen g, xrivi-i zu
construiren suchten. Gleichwol fragen wir verwundert, wie es kam, daß auch
diese Banausen ohne höhern Sinn sich nach den Theatern drängten, wie sie
Geschmack finden konnten an den tiefen und dunkeln Chorgesängen äschyleischer
Dramen oder an der moralisirenden Tragödie des Euripides, die selbst Leuten,
die man nicht grade roh und ungeschlacht nennen wird, mitunter langweilig
erschienen ist. Oder sollte etwa Sophokles nur für die drei obersten Schätzungs-
clnssen gedichtet haben, ähnlich wie jene Arbuscula des Horaz für ihre muni.
schen Darstellungskünste nur auf den Beifall der römische» Ritterschaft rechnete?
Wir glauben gern, daß Sokrates und seine Schüler ihre Zeitgenossen besser
zu beurtheilen verstanden, als wir es heute versteh», aber es will uns fast be-
dünken, daß ihr Urtheil härter war als billig.
Es ist leicht begreiflich, daß unter diesen Umständen es dem freien, ehren-
werthen Athener außerordentlich erschwert wurde, sich trotz der Vortheile, die
er als Bürger den Schutzverwandten und Sklaven gegenüber hatte, zur Be¬
treibung eines Handwerks zu entschließen. Allerdings war er von der nicht
eben sehr hohen Kopfsteuer, welche die Meester und Sklaven oder für letztere
deren Herrn an den Staat zu zahlen hatten, befreit; ebenso wurde von ihm
eine Gewerbesteuer, wie sie wenigstens die Schutzverwandten und vermuthlich
auch die nicht geringe Zahl der Freigelassenen entrichteten, nicht verlangt, und
von einer zunftmäßigen Gebundenheit des Handwerkerstandes endlich finden
wir in Griechenland nirgends sichre Spuren. Denn wenn Herr von Cassagnac
in seiner Geschichte der arbeitenden Classen die Existenz von Zünften mit be¬
stimmten Privilegien in ähnlicher Weise, wie sich im Mittelalter ein zünftiger
Gewerbebetrieb ausgebildet hatte, zu behaupten und auf die solonische Ver¬
fassung oder gar auf die mythische Zeit des Theseus zurückzuführen scheint,
so dürfte diese wie manche andre Behauptung des genannten Herrn sich schwer¬
lich tiefer begründen lassen, als auf eine lebhafte Einbildungskraft und eine
forcirte Auffassung der Verhältnisse des Alterthums. Die Hetärien sind ge-
schlossne Vereine ganz andrer Art: schon das Zusammenleben und Zusammen¬
arbeiten von Freien und Halbfreien, noch mehr aber die Beschäftigung einer
so großen Anzahl von Sklaven konnte der Entwicklung von Zünften, die be¬
kanntlich sich weder über Nacht bilden, noch auch über Nacht sich auflösen
lassen, günstig sein. Nicht einmal das Bestehn irgend welcher Handwerks-
genossenschaften, mag ihr Zusammenhang auch ein noch so loser gewesen sein,
läßt sich nachweisen; wenigstens muß, wenn in früherer Zeit solche wirklich exi-
stirten, der oft sehr großartige Fabrikbetrieb wohlhabender Sklavenbesitzer zer¬
störend auf sie gewirkt haben, wie in gleicher Weise die dreifache Gliederung
des modernen Handwerkerstandes in Meister, Gesellen und Lehrburschen durch
die Sklaverei von selbst ausgeschlossen ist.
Allein auch die ausgedehnteste Gewerbefreiheit konnte den ärmern Bürger
nicht in den Stand setzen, die Concurrenz der Schutzverwandten, die ihre ganze
Thätigkeit ihrem Handwerke widmen konnten, und der großen Fabrikherrn
auszuhalten. Sie mußte im Gegentheil, wie sie dem Interesse dieser förder¬
lich war, nachtheüige Folgen für jene haben, und wenn selbst in unsern Ta¬
gen die Vertreter deutschen Gewerbes auf einem deutschen Handwerkertage in
der Metropole deutscher Bildung mit unverholner Begeisterung von den Seg¬
nungen des Zunftzwangs gesprochen haben, so mochte dem kleinen griechischen
Bürger der Mangel innungsmäßiger Privilegien wol zuweilen einen Stoßseufzer
auspressen, wenn uns auch mit Ausnahme der obenerwähnten Klagen der
Phvker gegen Mnason weiter keine positiven Berichte hierüber erhalten sind.
Zugleich in der Werkstätte und für das Siaatswohl zu arbeiten ging nicht
gut an, und selbst wenn es ein betriebsamer Bürger ermöglicht hatte, so mußte
er erwarten, daß bei den nächsten Dionysien ihn ebenso der Spott eines Ko¬
mödiendichters traf, wie den Neiteroberst Diitrevhes, weil er früher Flaschen¬
körbe geflochten, oder den Kleon und dessen Genossen und Erben in der De¬
magogie Hyperbolos, trotzdem daß der erstere wol schwerlich jemals viel Häute
gegerbt und der letztere gewiß nicht oft bei der Fertigung von Lampen selbst
Hand angelegt hatte.
Und wasvon Athen galt, dürfen wir für ganz Griechenland im All¬
gemeinen als maßgebend ansehn. Die banause Thätigkeit ward von den freien
Bürgern möglichst gemieden. In Theben wurde durch ein Gesetz, nach welchem
jeder von Staatsämtern ausgeschlossen war, der sich nicht zehn Jahre aller
Gewerbe enthalten hatte, das Handwerk indirect den Unfreien und Fremden
überwiesen, und in Thespiä verlor der Freigeborne, der sich etwa damit be¬
schäftigte, die Achtung seiner Mitbürger. Die Argiver scheinen in der Stein¬
metz- und Zimmerarbeit so wenig Erfahrung besessen zu haben, daß sie zum
Bau ihrer langen Mauern Arbeiter von Athen beriefen; die weichlichen Sy-
bariten gingen sogar so weit, daß sie Schmiede und andre, deren Arbeit Ge¬
räusch verursachte, nicht innerhalb der Thore ihrer Stadt dulden wollten. In
Athen beantragte Diophantos, in Nachbildung, wie es scheint, der oben er¬
wähnten epidamnischen Einrichtung, daß der Staat zur Beschaffung aller Hand¬
werksarbeiten für öffentliche Zwecke nur Sklaven verwenden sollte, welcher
Antrag indeß als dem Geiste der solonischen Gesetzgebung gar zu sehr wider¬
strebend abgelehnt wurde, wie denn überhaupt der ätherische Fiocus, der
Sklaven genug besaß, dieselben wol als Gensdarmen oder Polizeisoldaten, als
Ausrufer, Schreiber, Büttel, Gefangenwärter, Nachrichter u. tgi., sowie im
Kriege und als Arbeiter in der Münze beschäftigte, niemals aber Handwerks¬
sklaven zu fabrikmäßigen Betriebe gehalten zu haben scheint.
Dem armen Bürger blieb nun zwar, wenn er trotz der Concurrenz in
Folge der Gewerbefreiheit und trotz des moralischen Druckes, der auf dem
Banausen ruhte, sich zu handwerksmäßiger Thätigkeit entschließen konnte, die
Möglichkeit sein Brod ehrlich zu verdienen, in den meisten Staaten offen, und
mancher, der es auf das Naserümpfen seiner Mitbürger ankommen lassen wollte
oder mußte, mag einen leidlichen Ewerb gehabt haben, zumal da freie Arbeit
in der Regel besser ist als Sklavenarbeit, der besonders, wenn sie fabrikmäßig
betrieben wird, feinere Geschicklichkeit und Erfindsamkeit. sowie Eifer und Inter¬
esse zunächst abgeht. Einem fleißigen Manne gelang es wol zuweilen, nach¬
dem er einige Zeit als Handwerker selbst thätig gewesen, sich so weit empor¬
zuarbeiten, daß er in seiner Werkstätte Sklaven beschäftigen und von jetzt an
seine Zeit dem Staatswohle widmen konnte. Allein im Allgemeinen werden
solche Fälle nicht häufige Ausnahmen gebildet haben, und auch da war, wie
aus dem Obigen erhellt, wol erst der Sohn oder Enkel eines solchen Empor¬
kömmlings vor den pikanten Witzen der Komödie sicher. Vielmehr scheinen
die freien Bürger, die ein Handwerk betrieben, den Unfreien immer näher ge¬
treten zu sein und das Proletariat in erschreckender Weise verstärkt zu haben,
bis AntiPater nach der Schlacht bei Krannon von den einundzwanzigtausend
athenischen Bürgern zwölftausend, die das erforderliche Minimum von zwei-
tausend Drachmen (500 Thaler) nicht besaßen, des Vollbürgerrechts für ver¬
lustig erklärte.
Was endlich die größere oder geringere Vollkommenheit der einzelnen Hand¬
werke, wie sie zum Theil von Freien, zum bei weitem größern Theil aber von
Halbfreien und Sklaven betrieben wurden, betrifft, so mag der Mangel des Zunft¬
zwanges und die früh eingeführte Fabrikarbeit anfangs wol nachtheilig auf ihre
Entwicklung eingewirkt haben. Die Güte der Waare, ihre Feinheit und Dauer¬
haftigkeit mag. da der ungebildete Sklave etwa von den Ufern des Don
so gut wie der feingebildete Korinther ohne vorhergegangene Prüfung sich in
der Bereitung von Thongefäßen versuchen durfte, wol manches zu wünschen
übrig gelassen haben; doch mußte sich dieser Nachtheil bald ausgleichen, wenn
man fand, daß für die korinthische Thonwaare ein viel besserer Absatz und ein
weit höherer Preis erzielt wurde als für das rohe Machwerk des ungeschickten
Sarmaten. Doch der Sarmate richtete sich sehr bald ein, und es wird im
Gegentheil das Zusammenarbeiten von Sklaven aus den verschiedensten Län¬
dern, deren jeder oder doch sehr viele d'as Verfahren bei dem Handwerk in
ihrer Heimath mit nach Hellas brachten, höchst vortheilhaft für die Ausbildung
der Gewerbsthätigkeit gewesen sein. Es bewahrte vor Einseitigkeit und vor
der Ansicht, die zunftmäßiger Betrieb zu fördern geneigt ist, daß, weil der Gro߬
vater dem Topfe diese Gestalt gegeben habe, der Enkel ihm nicht wol eine
andre geben dürfe. Wir können überzeugt sein, daß zu Perikles Zeiten der
Kerameikos in Athen bessere und geschmackvollere Arbeit lieferte als damals,
wo Solon die Verhältnisse der Athener ordnete, und als der Phalereer De-
metrius Gesetzmäßigkeit und Ordnung in dem öffentlichen und Privatleben der
Weltstadt wieder herzustellen suchte, hatten die Erzeugnisse des athenischen Topf-
markls ohne Zweifel einen noch höhern Grad von Trefflichkeit erlangt.
So ist es auch gekommen, daß trotz der an und für sich meist schlechten
Sklavenarbeit und der minder feinen Erzeugnisse des Fabrikbetriebs, welche Nach¬
theile indeß der kundige Grieche mit glücklichem Geschick zu beseitigen und zu Vor¬
theilen umzukehren wußte, fast jedes hellenische Land in dem einen oder andern Ge¬
werbe Vorzügliches leistete. Es kann natürlich nicht unsre Absicht sein, sämmt¬
liche Handwerke, wie sie der Grammatiker Pollux uns verzeichnet hat, hier in
Betracht zu ziehn. Wir heben nur Einiges von besondern: Interesse hervor.
Daß die ätherische Töpferwaare sehr geschätzt wurde, ist soeben bemerkt
worden; thönerne Gefäße, vermuthlich mit dem Bilde einer Eule als Kenn¬
zeichen versehn, um die Echtheit zu constatiren, wie der blaue Adler des ber¬
liner Fabricats und die gekreuzten Schwerter der noch höher geachteten Waare
Meißens, bildeten einen sehr bedeutenden Ausfuhrartikel des attischen Handels.
Ihre geschmackvolle Form und kunstreiche Verzierung mit allerhand Figuren
wurde besonders gerühmt. Dennoch fanden die athenischen Töpfer an den
Garniern nicht zu mißachtende Concurrenten: die Basa Sanna empfahlen sich
ebenfalls durch schöne Form und reiches Bildwerk. Auch Korinth, wo der
Sikyonier Dibutades die Töpferscheibe erfunden haben soll, die gewerbfleißige
Insel Regina, Sikyon, Knidos und mehrere sicilische und unteritalische Städte
lieferten vortreffliche Erzeugnisse der Thonbildnerei. Selbst Lakonien blieb
hierin nicht zurück. Berühmt waren die Becher, die man dorther bezog, wie
denn überhaupt die Penöken, in deren Familien gewisse Handwerke erblich
gewesen zu sein scheinen, obschon auch hier schwerlich an Zünftigkeit zu denken
ist, durch betriebsame Gewerbsthätigkeit sich auszeichneten: Wagen. Waffen,
Schuhzeug, Mantel und andre lakonische Fabncate waren auch im Auslande
wegen ihrer Güte beliebt. Ebenso thaten sich in den höhern Künsten der
Toreutik und Erzgießerei manche unter ihnen so hervor, daß die Kunstgeschichte
ihre Namen erhalten hat; denn daß Chartas, Syadras, Dontas und andre
Holzschneider oder Erzbildner nicht Spartiaten gewesen sein können, wie sogar
alte Schriftsteller gemeint haben, versteht sich von selbst.
Muttersiadt der Metallarbeiten war Sikyon. Aber auch die Korinther lieferten
vortreffliche Gefäße aus dem nach ihrer Stadt benannten Erze, zu dem die Materia¬
lien in den benachbarten Bezirken von Argolis zu Tage gefördert wurden. Nicht
minder berühmt durch die Fertigung eherner Geräthschaften war Delos. Leuch¬
ter, Spangen und andre Metallwaare erhielt man aus Aegina, Kessel und
Schilde von den Argivern. Die Waffenschmiede Athens, zu denen auch De-
mosthenes wenigstens als Fabrikherr zu zählen ist, mögen kundige Meister ge¬
wesen sein: eines besondern Rufes unter ihnen genossen die Panzerschmiede.
Die Schwerter, die auf der Insel Euböa gefertigt wurden, waren gesuchte Ar¬
tikel, gleicherweise die Schilde und Helme vöotischer, die Wurfspieße ätolischer.
die Schleudern akarnanischer. die Bogen kretischer^ Werkmeister. Daß Gold-
und Silberschmiede, sowie Juweliere im Alterthum womöglich noch mehr in
Anspruch genommen wurden als in der modernen Welt, da eine viel größre
Quantität edeln Metalles theils für die Heiligthümer der Götter, theils zum
Privatgebrauch Einzelner verarbeitet werden mochte, ist sehr wahrscheinlich;
welche Bedeutung die Genossen dieses löblichen Handwerks in Ephesus erlangt
hatten, ist allbekannt.
Als Wagner und Stellmacher werden uns Böotier und Sicilier genannt:
man unterschied den sicilischen Maulthierwagen von dem einfachen thebanischen.
Für Ledcrzubereitung hat Attika classischen Ruf erlangt. Einen thessalischen
Hut trägt die Sophokleische Jsmene, und der Scholiast bemerkt zu dieser Stelle,
daß derartige Kopfbedeckungen in jenem Lande von vorzüglicher Güte gefertigt
worden seien.
Wir könnten noch vieles Treffliche anführen, wovon wir durch meist zu¬
fällige Notizen alter Schriftsteller Kunde erhalten haben. Wir könnten von
den milesischen Zeugen reden, aus denen »och die spätern Römer sich kleidsame
Gewänder fertigen ließen, von den samischen und korinthischen Teppichen, von
den megarischen Mänteln oder dem amykläischen und sikyonischen Schuhwerk.
Selbst über das ehrsame Schneiderhandmerk in Athen sind uns Berichte zu¬
gekommen, sowie über die Bäcker von Athen, Samos und Cypern. Daß wir
über die wichtige Thätigkeit der Köche, unter denen die elischen und sicilischen
den ersten Nang einnahmen, genau unterrichtet sind, darf uns nicht Wunder
nehmen, da selbst Philosophen diese Kunst durch gastrologischc Schriften zu för¬
dern suchten. Die wissenschaftliche Kochkunst erhöhte das Selbstgefühl der aus¬
übenden Meister. Allein es bedarf dieser einzelnen Anführungen wenig. Von
einigen Handwerken, wie von dem der Steinmetzen, haben wir noch die sicher¬
sten Zeugnisse, bis zu welchem Grade der Vollkommenheit sie gediehen sein
müssen, in den bewunderten Bauwerken des griechischen Alterthums; andere
hingegen, wie etwa die Bereitung von Salben oder auch das ehrsame Barbier¬
handwerk können uns hier wenig interessiren. Jedenfalls leisteten auch sie in
ihrer Art Vorzügliches, und die Barbierläden waren obendrein wie die Werk¬
stätten mancher andern Banausen der Versammlungsort von Neugierigen, Fnul-
lcnzern und jungen Rvuüs aus vornehmen Familien, die hier über Tages¬
neuigkeiten plauderten, sich an der euromHUL se^na^Ieusö erbauten oder mit
Philosophen über die höchsten Probleme des Wissens oder der Moral dis-
putirten. Die Bedeutung dieser Läden oder Werkstätten als Leschen würden
mehr in einer Sittengeschichte des Alterthums am Platze sein.
Wie groß aber auch die Vorzüglichkeit der Erzeugnisse banauser Thätig¬
keit sein mochte, sie verschaffte den Schöpfern dieses Vorzüglichen, den Hand¬
werkern, nirgends höhere Achtung oder Geltung in der bürgerlichen Gesellschaft.
Etwas andres natürlich war es, sobald künstlerische Gestaltung an die Stelle
handwerksmäßiger Prod»all?n trat, obschon auch in diesem Falle, zumal wenn
die Kunst auf Erwerb ausging, bis in die letzten Zeiten des Griechenthums
zwischen Künstler und Banausen häusig nur ein geringer Unterschied gemacht
wurde. El» freier geachteter Handwerkerstand als solcher hat also unter den
Hellenen nie bestanden, wenn auch in Zeiten, wo das Bürgerthum entwerthet
war und die Noth zur Arbeit zwang, viele ^'genannte Bürger sich zu banau¬
ser Thätigkeit verstanden. Was zu den Zeiten des peloponnesischen Krieges
galt, das galt noch immer, das galt vielleicht erst recht kurz vor dem Ver¬
sinken Griechenlands in Pedanterie oder Barbarei. Wenn aber jemand sich
auf die Stelle in dem Evitaphios des Perikles berufen wollte, wo dieser große
Staatsmann sagt, daß in Athen nicht das Bekenntniß der Armuth für schimpf¬
lich gelte, wol aber, wenn man der Dürftigkeit durch Arbeit nicht zu entgehn
suche, so kann diese Berufung den sprechenden Thatsachen gegenüber nichts
beweisen, um so weniger da sie sich auf eine Leichenrede stützt. Daß mit einer
niedern Beschäftigung auch eine niedere Gesinnung verbunden sei, blieb Glaubens¬
satz des hellenischen Volkes, den sich auch die hellenische Welt nur zu sehr an¬
geeignet zu haben scheint.
Ein Schriftsteller des zweiten Jahrhunderts nach Christi Geburt gibt uns
an seiner eignen Person ein bemerkenswerthes Beispiel. Ein junger Mann von
geringer Herkunft, weder ätherischer Bürger noch Spartiat. auch nicht in Hellas
geboren, sondern fern a» den Ufern des Euphrat in Samosata, vermuthlich
nicht einmal von griechischer Abstammung, wird von seinen Freunden veran¬
laßt, das in der Familie heimische Gewerbe eines Bildhauers, vielleicht auch
nur eines Steinmetzen zu ergreifen. Der Jüngling aber fühlt einen ganz an¬
dern Beruf in sich, und in der Aufregung, in welche er gerät!) bei dem Zwie-
spalte zwischen kindlichem Gehorsam und höherer Pflicht, erscheint ihm ein
Traumbild. Es tritt die Bildhauerkunst auf in einer schmutzigen Gewandung,
mit Marmorstaub bedeckt und mit Schwielen an den Händen. Sie verspricht
ein reichliches Auskommen und einen starken Körper und erinnert an d?n Ruhm
des Phidias, Polyklet und andrer Meister. Ihr folgt die höhere Bildung
oder Wissenschaft auf dem Fuße, welche dem Jüngling, der ihr längst schon
geneigt ist, mit gar wenig Bescheidenheit zu Gemüthe führt, wie er als Bild--
Hauer immer nur ein Handwerker, ruhmlos. eiuer aus dem großen Haufen,
kurz ein Mensch von gemeiner Gesinnung sein werde. Selbst wenn er als ein
zweiter Phidias oder Polyklet Staunenswerthes schaffen sollte, so werde zwar
jeder seine Kunst bewundern, aber kein Vernünftiger wünschen an seiner Stelle
zu sein. Denn wie geschickt er auch sein möge, er werde immer nur ein Lohn¬
arbeiter, ein Banause sein.
Daß Lucian — denn er war dieser Jüngling — sich für die Nachfolge
der höhern Bildung entschied und größere Ehre darin suchte, die Thorheiten
seiner Zeit zu verspotten als in einer Erwerbsthätigkeit, die der damaligen
Zeit für gemein galt, ist bekannt. Er mochte es mit Recht thun, denn er
hatte in der That einen höhern Beruf. Aber Tausende, die diesen Beruf nicht
hatten, dachten wie er und hörten nicht eher auf durch Flucht vor der Arbeit
und in Folge davon durch Trägheit, durch Narrheit und durch wirkliche Gemein-
heit der Gesinnung den hellenischen Namen zu schänden als bis die Barbaren
Alarichs mit der griechischen Cultur auch die Gemeinheit Griechenlands nieder¬
traten und der Sultan der Osmanen endlich den Verkommenen die letzte Schmach
anthat durch die Erhöhung des Halbmonds in der letzten Metropole des
Griechenthums.
Der Entwicklungsproceß des griechischen Volksthums. wie wir ihn im
Vorhergehende» darzustellen versucht haben, zeigt uns zwei eigenthümliche
Erscheinungen, die wir in gleich scharf hervortretenden Zügen bei keinem Volke
älterer oder neuerer Zeit finden. Einmal nämlich ist die Schnelligkeit, wir
möchten fast sagen Hast, mit welcher sich die staatlichen und gesellschaftlichen
Verhältnisse des hellenischen Volkes oder vielmehr der einzelnen Völkerschaften
bilden und vollenden, ein auffälliger Zug in der Geschichte nationalen Lebens,
sodann aber gewahren wir fast durchgängig einen Mangel an Stetigkeit, eine
nachträgliche Opposition gegen das rasch und leicht Erreichte, überhaupt einen
Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, der das begabteste Volk des Alter¬
thums zu einen? ruhigen und dauernden Genusse des Errungenen nicht getan
gen läßt. Die Spartaner allein machen, wenigstens in früherer Zeit, hiervon
eine Ausnahme: bei ihnen entwickelte sich, begünstigt durch die Natur der
unterworfenen fruchtbaren und den Bedürfnissen eines einfachen Lebens genü¬
genden Landschaften, Lakonien und Messenien, der Charakter des dorischen
Stammes in einer Reinheit, die man nicht mit Unrecht Einseitigkeit genannt
hat. und diese spartanische Amathie, wie sehr sie auch den regsamen Korinthern
Grund zum Mißbehagen gab (man vergleiche Thucydid. 1, 68), wirkte in der
That als wohlthätiges Bleigewicht auf die geniale, aber maßlose Vielseitig¬
keit, die in Athen gipfelte und ohne diese Einwirkung ein Aufhören der grie¬
chischen Selbständigkeit vermuthlich noch früher herbeigeführt haben würde.
Thucydides läßt den Kleon in dieser Beziehung ein sehr wahres Wort sprechen
(Buch 3. 37), wenn es auch den gewaltsamen Demagogen zunächst am schärfsten
trifft. Allein selbst der scheinbar dauerhafte Bau der bedächtigen peloponnesischen
Großmacht konnte den nothwendigen Verlauf der Dinge nur um ein Weniges
aushalten oder alteriren; die rasche Beweglichkeit des griechischen Nationalcharak¬
ters überwand seit Lysander allmälig die stabile Schwerfälligkeit der Lacedämo-
nier: durch die lykurgische Gesetzgebung war ebenso wenig wie durch die Ver¬
fassungen der übrigen griechischen Republiken eine solide staatliche Grundlage
gegeben.
Daher der Umstand, daß Griechenland kaum zwei Jahrhunderte lang
eine Stellung einnimmt, in welcher es durch ein großes selbständiges Handeln
wesentlich in den Gang der Weltereignisse eingreift. Die Aufgabe des grie¬
chischen Volkes war weder eine politische, noch in der Hauptsache eine soci¬
ale: zu beiden fehlte den Hellenen die Basis. Schon die klimatischen und
Bodenverhältnisse des Landes, das sie zunächst inne hatten, waren einer gro¬
ßen compacten Machtentfaltung durchaus ungünstig und bedingten gegen¬
seitige Abschließung nach Innen neben unablässiger Erweiterung nach Außen,
wodurch wir abermals den Widerspruch erhalten zwischen der Prädestination
zu einem fortwährenden Particularismus der einzelnen Stämme und dem
centrifugalen Drange nach universaler Geltung, welcher dem Griechen sogar
die Heimath gleichgiltig werden ließ. Hauptsächlich aber ist die schroffe
Scheidung zwischen Freien und Unfreien, zwischen Vollberechtigten und Recht¬
losen, die sich allmälig aus dem Volkscharakter heraus entwickelte, und in
Folge davon das Nichtvorhandensein eines freien, starken und geachteten
Mittelstandes, dessen Kraft auf der Arbeit beruhte, als der Grund anzusehn,
weshalb der griechische Geist zu einer gedeihlichen und maßgebenden Wirksam
keit in socialen Fragen unfähig, dagegen auf eine Lösung der ästhetischen
Aufgabe des Menschengeschlechts hingewiesen und zu dieser ganz besonders
befähigt war. Wir haben schon früher bemerkt, wie die Hdee der Kaloka-
gaihie den leitenden Grundgedanken für die Bestrebungen des Hellenenthum
bildete.
Wesentlich verschieden hiervon treten uns sogleich in ihren Anfängen die
Bestrebungen des italienischen Schwestervolkes entgegen, welche zu ihrem
Mittelpunkte die Rechtsidee haben. Die Richtung des Nationalcharakters ist
hier eine centripetale: selbst als zur Zeit des zweiten finnischen Krieges die
Römer ansingen, ihre Macht über die Grenzen Italiens hinaus zu erweitern,
ja noch als ein halbes Jahrtausend später an den Ufern des Euphrat wie
an denen der Donau und am Isthmus zwischen Clyde und Forth von römi¬
schen Tribunalen herab römisches Recht gesprochen wurde, da >war Rom das
Centrum, wo alle Strahlen der Macht, des Gewinnes und des Glanzes
convcrgirten. Selbst der Name Italiens ging unter in dem Alles verzehren,
den, glorreichen Namen Roms, und erst Konstantin der Große brach durch Ver¬
legung der kaiserlichen Residenz nach Byzanz das centripetale Princip und
erleichterte dadurch die Auflösung des Weltreichs.
Ein Staat, der einer so großen Machtentfaltung sähig war wie der rö¬
mische, der trotz aller Entwicklung seiner Kraft nach Außen doch nur in lang¬
samer ruhiger Stetigkeit vorwärts schritt und dabei stets in seinen Mittelpunkt
zurückging, ein solcher Staat, sollte man meinen, müßte auf einer Grundlage
beruht haben, welche die Frucht harter Arbeit, unmüdlicher Ausdauer und
weißer Müßigung war. Und in der That mag es ein harter Kampf gewe¬
sen sein. den die alten patricischen Geschlechter um die Selbständigkeit und
Gleichberechtigung ihrer Stadt mit den übrigen ladinischen Städten gekämpft
haben. Sauer wird es den Plebejern geworden sein bei ihrem Ringen mit dem
alten Adel, als sie unverdrossen den fast zweihundertjährigen Rechtsstreit strit¬
ten und nicht eher davon ließen als bis das Licinische Gesetz die Vorrechte
der Aristokratie gebrochen hatte. Mühevoll war die Unterwerfung Italiens,
mühevoll der große Kampf mit Karthogo, mühevoll endlich die Besiegung der
celtischen Völker und das Zurückdrängen der germanischen und pannonischen
Nachbarn. Und als der Ehrgeiz über Blut und Gewalt, über Rechtsbruch und
Verrath hinwegschreitend sich den Weg bahnte vom curulischen Stuhle zum
Kaiserthrone, da erlagen Tausende von Bürgern den Anstrengungen, zu
denen das angestammte Rechtsgefühl oder der Glaube an die Nothwendig¬
keit einer neuen Ordnung der Dinge sie begeisterte. Die Macht Roms beruhte
allerdings auf einer soliden staatlichen Grundlage, wie sie für Griechenland
nicht vorhanden war, und diese Grundlage hatte sich gebildet durch die Rich¬
tung der Nation auf eine angestrengte Arbeitsthntigkeit und durch die Ach¬
tung vor der Arbeit.
Allein wir müssen diesen Satz sofort einschränken durch die Bemerkung,
daß nicht alle und jede Beschäftigung mit den Verrichtungen des täglichen
Lebens dem Volkscharakter der Römer entsprach und ihre Achtung genoß.
Aehnlich den dorischen Bewohnern des südlichen Peloponnes, mit welchen die
Jtaliker überhaupt wol nahe verwandt waren, hatten die Römer ihr Staats-
wesen auf einer Unterlage erbaut, welche stets eine nothwendige Bedingung
jeder großen Machtentwicklnng gewesen ist. Aus dem Grundbesitze erwuchs
ihnen, wie den Lacedämoniern ihre nationale Größe und Bedeutung: Vieh¬
zucht und besonders Ackerbau bildeten für Rom wie für Sparta die vorherr¬
schenden Lebensrichtungen, nur mit dem Unterschiede, daß der stolze Spartiat
den Heloten zur Bestellung seiner Aecker zwang, selbst aber zur Vertheidigung
seines Besitzthums ausschließlich dem Waffenhandwerk oblag, der ebenso stolze
Patricier Roms hingegen es nicht unter seiner Würde hielt, in dürftigem Ge¬
wand hinter den Stieren einherzugehn, bis die eilende Gattin dem fleißigen
Arbeiter die Toga reichte und der Lictor den Pflug nach Hause geleitete, den
der Dictator in der Furche gelassen, als ihn die Botschaft seines Volkes be¬
rief, die Pflugschar mit dem Schwerte zu vertauschen. Auch steht Quinctius Cin-
cinnalus nicht allein da: Cajus Fabricius, Curius Dentatus. Marcus Va-
lerius Corvus und Andre werde» neben ihm als thätige Landwirthe genannt,
weiche den Boden der Saturnia Terra mit eigner Hand bestellten, nicht un¬
ähnlich den griechischen Königen und Fürstensöhnen der Heroenzeit.
Die Beschäftigung mit diesen ländlichen Verrichtungen scheint das In¬
teresse der alten Römer in so hohem Grade absorbirt zu haben, daß sie von
ihrem Landgute wol meist nur zu den Senatssitzungen in 'die Stadt kamen
oder wenn der Staat sonst ihres Rathes, ihrer Stimme oder ihrer Hilfe be¬
dürfte. Die großen und die kleinen Grundbesitzer, mochten sie um selbst als
Ackerbauer und Hirten thätig sein oder nur die Bestellung der Felder und des
Viehes leiten und beaufsichtigen, waren ehrenwerthe und würdige Arbeiter,
nicht Banausen im Sinne der Griechen. Ihre Bedürfnisse waren ohne Zwei¬
fel gering und einfach: die Ackergeräthschaften werden sich die Landleute zum
größten Theil wol selbst verfertigt haben, für die Bekleidung sorgte die Haus¬
frau durch fleißiges Spinnen und Weben, und auch die Bereitung des Bro¬
des war ihre Ausgabe. Die Stätte, wo man sich zum genieinsamen Familien¬
mahle versammelte oder nach vollbrachter Arbeit sich zur Ruhe legte, war
sicherlich auch nicht von so schwieriger Construction, daß es dazu kundiger
Baumeister und eines zunftgerechten Maurerhandwerks bedurft hätte: das
Familienoberhaupt entwarf den Plan und nahm wol selbst das Richtscheit und
die Kelle zur Hand. Söhne, Clienten und Sklaven besorgten den übrigen
Bau. Wessen man sonst benöthigt war und wozu die mäßige Erfindungs¬
gabe des Ackerbauers nicht ausreichte, das lieferten die des Grundbesitzes
ermangelnden, auf ihrer Hände Arbeit und'den täglichen Verdienst angewie¬
senen dürftigen Bewohner Roms, deren Zahl indeß anfänglich nur gering ge«
wesen sein wird, und was endlich eine complicirte Kunstfertigkeit verlangte,
das bezog man aus den benachbarten, in der Cultur schon weiter vorgeschrit¬
tenen Ländern, mit denen Rom bereits seit den ältesten Zeiten in einem nicht
unbedeutenden Handelsverkehr gestanden zu haben scheint.
Unter dem Titel „die Insel der Heiligen" ist soeben (Berlin. 1860,
Verlag von Otto Zanke) ein neues Reisebuch von Julius Rodenberg erschienen,
welches die Beobachtungen und Erlebnisse einer Tour durch Irland mittheilt
und manche recht ansprechende Partien erhält. Wir werden zuerst zu alten
Freunden in Wales geführt, die der Verfasser uns in einem frühern Werke
schilderte, dann nach Dublin hinüber, auf die Wicklow-Berge, nach den Seen
von Killarney im „Paradies von Irland" , hierauf nach Limcrick und in die
Shannvngegend, nach Galway und der Seeküste, noch Connamara und in den
„wilden Westen", endlich nach dem protestantischen Norden und Belfast. Scheint
es bisweilen, als habe die Dichtung der Wahrheit ein wenig nachhelfen müs¬
sen, ist das eine und das andre Abenteuer, diese und jene Bekanntschaft in
einer Weise ausgesponnen, die an die Novelle erinnert (wir denken namentlich
an das ganze Kapitel, das an den Killarney-Seen spielt), so erhalten wir doch
auch viele dankenswerthe Bilder aus der Wirklichkeit. Der Verfasser sieht gut
und versteht lebendig, zu schildern, sowol die Landschaften als das Volk, dessen
Sitten und Zustände. Er hat mancherlei Studien gemacht und seine Ur¬
theile über die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den von ihm
besuchten Gegenden sind durchweg verständig.
Indem wir im Folgenden eine Probe seiner Art zu schildern geben, wüh¬
len wir einige Bilder aus dem Bereich, welches uns am heutigen Irland am
meisten interessirt. Wir meinen das Verhältniß der celiische» Bevölkerung zu
den Engländern. Man weiß, daß der Geist der Weißburschcn und Eichen¬
herzen noch nicht ganz ausgestorben, daß der Kampf des Celten mit dem
Sachsen noch nicht völlig zu Ende ist, daß der Sachse zwar immer gesiegt hat,
wenn er mit dem Celten um Leben, Eigenthum und Cultur rang, daß er Ir¬
land aber doch noch nicht ganz besiegt hat. Erst vor zwei Jahren wurde
eine Verschwörung entdeckt, die gegen die englische Herrschaft gerichtet wär,
und erst in diesen Tagen überreichten irische „Patrioten" dem französischen
General Macmahon einen Ehrendegen, mit dem er bei Gelegenheit sich sein
Königthum auf der Smaragdinscl zurückerobern sollte. Indeß auf solche Kund¬
gebungen hin eine mit Napoleons Hilfe zu bewirkende „Befreiung" Irlands
von der britischen Obmacht zu hoffen oder, wenn man will, zu fürchten, wäre
thöricht, und wenn jene Deputation an den zukünftigen König der Iren von
deutschen Regierungen als Hochverrath bestraft worden wäre, so konnte die
englische sich begnügen, sie als Lächerlichkeit zu behandeln.
Wir folgen jetzt dem Verfasser nach Limmat, um uns von ihm zunächst
durch die Stadt führen und uns dann ein Beispiel von irischen Patriotismus
zeigen zu lassen.
Limerick liegt am Shannon, dem König der irischen Ströme, der, breit
sich öffnend wie ein Meer, die großen Provinzen Leinster und Connaught
trennt und die großen Seen in Mittelirland mit dem atlantischen Ocean
verbindet. Einer von den Armen des Flusses, der SalmomNiver trennt es
in zwei noch immer scharf geschiedne Hälften: in die irische und in die eng¬
lische Stadt. Schon die letztere macht keinen wohlthuenden Eindruck, nament¬
lich wenn der Reisende aus dem Osten herkommt. Die Häuser sind unan¬
sehnlicher, die Straßen stiller und kahler als dort. Ueberall bemerkt man, daß
das Uebergangsstadium aus irischer Nachlässigkeit und Unsauberkeit zu englischer
Energie und Reinlichkeitsliebe hier noch nicht durchmessen ist, daß der frische,
freudige Arbeitstrieb, der England groß gemacht hat, noch großentheils mangelt.
Dennoch ist es ein Abstand wie von Tag und Nacht, wenn man mit dieser
englischen Hälfte die irische vergleicht. Der Verfasser sagt:
Die ganze Verkommenheit, den ganzen Schmutz, die ganze Fäulniß des
irischen Wesens sollte ich mit einem Blicke überschauen. Es war Sonnabend-
nachmittag und die irische Stadt war voll vom Marktgewühl des gemeinen Vol¬
les. Die Haupt- und Geschäftsstraße derselben. Irislr Iowa ^Vara, voll von
Menschen und Kleinhandel, trug mir sogleich das wüste Geschrei und den un¬
beschreiblichen Gestank entgegen, welche das krasse Elend zu verbreiten pflegt.
Die Häuser, die hier stehn, sind massige Höhlen, in deren Untergeschossen sich
Magazine voll ekelerregender Speisen befinden. Häringstonnen. mit schmutzi¬
ger Brühe übergössen, sind vor die Thüren gestellt; schimmlige Schinkenschnitte
liegen auf den Banken ausgebreitet, fettige Schaalen mit Kalbseingeweiden
und Thierfüßen stehn daneben, flockige Hasenfelle und Gänseflügcl hängen
rings umher. Eselkarren nehmen die Straßcnmitte ein, und halbnackte Men¬
schen umgeben sie. Die Grundflur fast aller Häuser haben Kleidtrtrödler inne,
— jedes dritte Haus wird von einem Pfandverleiher bewohnt. Und — als
ob sich selbst bis auf dieses kleinste Anzeichen die Armuth erstreckte — wäh¬
rend diese edelste Zunft der Gewerbetreibenden sich sonst durch drei Kugeln
über der Thür ankündigt: hier hängt nur eine Kugel aus. Und was für
Sachen erblickt man nnter derselben! Röcke, deren Aermel kaum noch an einem
Faden hängen, Uniformen, in denen ganze Soldatengenerationen schon ge¬
steckt zu haben scheinen, aufgeschlitzte Hosen. Stiefeln ohne Sohlen, Kappen
voll Koth, Hemden voll Unrath. Und dabei nun die Kunden, die diese Sa¬
chen kaufen: Männer mit eingedrückten Hüten und Lumpenfracks, — Frauen
mit nie gewaschenen Gesichtern und nie gekämmten Haaren. Die Straße
wimmelt von entsetzlichen Wesen; der ganze Jammer der Menschheit hat sich
in seinen grauenhaftesten Gestalten versammelt, und er wird noch grauenhaf¬
ter durch den Schmutz und jede denkbare Spur der Verwahrlosung, die er an
sich trägt. Hier ein Mann ohne Beine, der auf den Händen geht; dort ein
Weib, das auf Händen und Füßen, wie ein Thier, über die Straße kriecht.
Unter einem Thorweg saßen zwei Dudelsackmänner und machten wechselsweise
Musik. Eine Schaar von Lumpengesindel hatte sich versammelt und horchte
auf die bekannten Weisen; aber Niemand sang zu den Melodieen. die traurig
in der Dunkelheit des Thorbogens verhallten; und als ich mit den Uebrigen
stehn blieb, bespritzte mich ein altes Weib, das hinter einem Häringsfaß stand,
mit der unangenehmen Lauge. Ich zweifle nicht, daß sie mich für einen Eng¬
länder hielt. — Auf einem Stein in der Nähe saß ein Mann, der seine Stie¬
feln ausgezogen hatte, und neben ihm auf einem niedrigen Holzschemel ein
Schuster, der sie flickte. Alle zehn Schritte, auf der offenen Straße, sah man
einen Schuhflicker in voller Arbeit, und um ihn herum, an der Erde, standen
die „broßuss," jene eigenthümlichen Schuhe der irischen Bauern, die mit
Lcderstreifen über den Füßen wie Sandalen, zusammengeschnürt werden. Das
Geschüft ist hier vollständig aus den Häusern ins Freie hinausgetreten; es
gewinnt dadurch den Schein des südlichen Lebens, der aber mit dem nassen
Nebel, von dem die Steine tropften, und mit den erfrorenen, armseligen Ge¬
stalten die Straße sehr jämmerlich contrastirte. Nichtsdestoweniger aber wa¬
ren allesammt im höchsten Grade darauf erpicht, Geschäfte zu machen; ich
selber wurde im Gedränge hundert Mal angehalten. Da waren Mädchen,
welche die „berühmten Spitzen von Limerick" ausriefen, und Jungen, die mir
Bänder zu Schnürleibchen verkaufen wollten. Auch eine Frau kam, die mir
einen eben gefangenen Salm, ein kleines Meerungeheuer in seiner Art, an-
'
trug. Sie verfolgte mich straßenlang mit ihrem Korb und ihrem Geschrei.
Limericker Spitzen, Limericker Salme und Limericker Handschuhe sind die drei
Artikel dieser Stadt, namentlich die Handschuhe; sie sind von Ruf und Re¬
nommee durch ganz Jrrland.
Handschuhe waren aber auf dem Sonnabendmarkt der irischen Stadt nicht
Zu finden; man colportirt sie mir in den besseren Straßen der englischen Stadt,
wo die Dinge, die man anfaßt, ein Weniges reinlicher sind. Dagegen trieben
sich Knaben in ganzen Hausen herum, welche mit Liederbogen handelten. Hier
ist der Markt für die Straßenballade; hier ist das Volk, das sie kauft und
leidenschaftlich liebt. Ob sie diese Verse singen, weiß ich nicht; ich glaube es
nicht einmal. Aber kein Bauer kehrt vom Sonnabendmarkt in seine Lehm¬
hütte zurück, ohne ein neues Blatt zu den übrigen, die ihren Platz neben dem
Gesangbuch und dem Katechismus einnehmen, hinzuzufügen. Die Straßen-
ballade ist der letzte Nest und Ausläufer der irischen Volkspoesie in Irland;
sie ist, in ihrer rohen Form und in ihren gemeinen Wendungen, voll von den
letzten Ausbrüchen einer einst in ihrer Liebe und ihrem Haß leidenschaftlich schö¬
nen Natur, das Einzige, was der gemeine Mann des Westens liest, so weit
er überhaupt lesen kann. Eine traurige Literatur ist es, interessant für den
Forscher, aber von den schädlichsten Wirkungen für das Volk, dessen hoffnungs¬
losen Zorn sie nährt, anstatt zur Versöhnung hinüberzuleiten. Die Klänge von
Moore's sanften Melodieen berühren die Grenze dieses Gebietes nicht mehr;
sie leben nur in den Gegenden, wo englische Cultur im Uebergewicht ist, oder
wo englische Reisende sie durch häusigen Besuch verbreitet haben. Hier, im
ganzen Westen, durch Connaught bis nach Ulster hinauf, herrscht neben den
Ueb.erresten des süßen altirischen Volksgcsangs, welcher in manch' einer Hütte
der Haide noch lebt, und neben den Erzählungen von Fin Mac Cul und seinen
Helden, welche manch' ein Schäfer im einsamen Gebirg noch wiederholt, die
Straßenballade. Sie ist fast ausnahmslos von einem dunkeln, verwilderten
und rohen Charakter; aber auch in ihren schlechtesten Mustern lebt noch ein
schwacher Schlummer der ursprünglich so reich begabten Dichternatur dieses
Volkes, und nickt selten springt uns ein Funke entgegen, heiß und glänzend
genug, um das Herz auf einmal zu entzünden. Es wird ein sehr bedeutendes
Geschäft mit diesen Erzeugnissen der Strahcnmuse getrieben; es lebt eine Classe
von Menschen in den Städten Irlands davon, sie zu verfassen, zu drucken und
zu verbreite»; und es ist rührend genug zu sehn, wie dieses Volk, indem es
im großen Strome der englischen Uebermacht untergeht, sich zuletzt noch an
den äußersten Zweigen des Baumes festzuhalten sucht, dessen prächtige Krone
einst, in vergangenen Tagen, sein Stolz und seine Herrlichkeit gewesen. —
Die Balladenjungcn ließen sich durch das Gespräch, das ich mit dem Fisch-
wcibe gehabt, nicht abschrecken; und Dank ihrem Eifer habe ich eine ganze
Collectio» der damals gangbaren Straßengedichtc als Andenken an den Markt
von Limerick mit heimgebracht. Sie sind sämmtlich auf große, schmutzig-gelbe
Blatter gedruckt und verläugnen schon durch ihr bloßes Aeußere weder ihre
Abkunft noch ihre Bestimmung, Sie tragen in einer von den Ecken den Namen
ihres Druckers — von dem Dichter ist nirgends die Rede, so daß sich das Lied,
indem es aus dem Bewußtsein des Volkes hervorgeht und dahin zurückkehrt,
vollständig als Eigenthum desselben zu erkennen gibt. In einer andern Ecke
liest man Bemerkungen wie die folgenden: „Landverkäufer — merkt es
Euch, daß S. B. Goggin, der Drucker, fortwährend mit einem vollstän¬
digen Vorrath von Bildern und Balladen versehen ist, die allesammt
unter seiner eignen Aufsicht angefertigt werden." — Man kann über diese
Bemerkungen lächeln; man kann aber auch recht traurig darüber werden.
Es geht daraus hervor, daß das poetische Bedürfniß des Volkes geblieben
ist, wie es war; und es ist wol ein neues Zeichen seines Unglücks, aber kein
Tadel für dasselbe, daß man dieses Bedürfniß nur noch fabrikmäßig befriedigen
kann. Was nun die „Bilder" anbelangt, die Meister Goggin empfiehlt, so
stellen diese in der Mehrzahl die männlichen und weiblichen Heiligen dar. deren
die Insel mehrere Tausende zählt und die den einzigen Schmuck der irischen
Bauernhütte bilden. Der Vater, die Mutter, jedes von den Kindern hat seinen
eignen Patron, welcher an die Lehmwand oder über das ärmliche Strohlager
geheftet und in gewissen Zwischenräumen durch eine neue Abbildung ersetzt
wird. Der Rest der Bilder ist von sehr kunstloser Natur, und man sieht selten
ein Blatt mit Straßcnballaden, das nicht mit einem oder mehreren Beispielen
derselben verziert wäre. Da sehn wir „der treuen Liebhaberin Klage", mit
dem Sinnbild eines Elephanten darüber. Ueber dem „Fall des Unterrocks" —
einer bittren Satyre gegen die Frauen der englischen Städtebevölkerung —
sitzt ein Affe; und „der gute Arbeitsmann" ist mit einem Esel bedacht.
Was nun die irischen Straßenballadni anlangt, so bilden sie den hervor¬
ragendsten Bestand der sogenannte anglo-irischen Literatur, d. h. sie sind englisch
geschrieben und gedruckt, und circuliren nur unter der englisch redenden Be¬
völkerung Irlands; aber der Geist, den sie athmen, ist ächt irisch. Ihre
Gegenstände sind unveränderlich der Abschied von der Heimath, die Aus¬
wanderung nach Amerika, Verurtheilung und Hinrichtung von Missethätern,
wobei der Richter jedesmal grausam, der Vertheidiger stets „edel" und . kühn"
und der Verbrecher selbst ein Gegenstand der tiefsten Sympathie ist; die große
Masse der Straßenballaden von Irland aber vertheilt sich auf die Liebesbal¬
lade und die Parteiballade. ,,Jn der Liebesballade sind besonders zwei
Dinge bemerkbar,, welche den Charakter des Volkes treulich widerspiegeln;
erstens: Gesetzliche Verheirathung ist gleichmäßig das Ziel und Ende, zwei¬
tens: Davonlaufen ist sehr gebräuchlich und wird nicht im Mindesten für
anstößig gehalten. Die Eltern werden gewöhnlich als die natürlichen
Feinde treuer Liebhaber beschrieben; und als solche wird es nicht nur für
erlaubt, sondern im höchsten Grade für preisenswerth gehalten, sie zu
schmähen, betrügen und selbst gradeweg zu berauben. Aber das roman¬
tische Princip von Liebe in einer Hütte, welches unter den Nomeos und Ju¬
lien der feineren Poesie herrscht, findet hier keine Anwendung, denn es ist
immer dafür gesorgt, daß der eine oder andere Theil des verliebten Paares
mit ..reichen Mitteln" versorgt ist. und oftmals wird der genaue Betrag der
Mitgift nachdrücklich erwähnt. Beispiele von reichen Ladies, die sich in junge
Männer vom niedrigsten Rang verlieben, sind (in der Balladenwelt) außeror¬
dentlich zahlreich; Matrosen und Knechte oder Arbeitsmänner (ladourins doz^s)
scheinen die Würdigsten für solche Glücksfälle.
Beispiele genug für das hier Gesagte finden sich in unsrer eignen kleinen
Collection. So heißt es in ,,der treuen Liebhaberin Klage" — unter dem
Sinnbild und Zeichen, wie gesagt, des Elephanten:
Darauf erzählt die treue Libhaberin, wie ihre Mutter sie bei der Hand
genommen und ihr gesagt habe: ..Wenn Du in Reilly — (beiläufig heißen
u»ter zwölf Balladenliebhabern zehn stets Willy oder William Reilly, zur Er¬
innerung an einen jungen Katholiken gleichen Namens, der vor 65 Jahren
die Tochter eines reichen Protestanten triumphreich entführte) verliebt bist, so
laß ihn dieses Land verlassen; denn Dein Bater sagt, er will sein Leben
haben."
Die Liebhaberin nimmt das Geld, läuft zu Reilly, gibt es ihm und sagt,
er möge noch diese Nacht das Land verlassen, ihr Vater habe die Flinte
schon geladen, „segle nach Amerika und ich will folgen Dir." Er nimmt das
Geld, bricht seinen Ring entzwei, sagt: „habe mein Herz und meinen halben
Ring, bis zum Wiedersehn." und segelt ab; aber schon nach dreien Tagen
kommt er wieder, um sie zu holen. Das Schiff leidet Schiffbruch. Alle kom¬
men um. und ihr Vater findet sie mit ihrem Liebsten, Arm in Arm, todt an
der Küste. In ihrem Busen trägt sie einen Brief, der mit Blut geschrieben
war. des Inhalts: „grausam war mein Vater, der meinen Liebsten todt¬
schießen wollte;" und die Moral lautet:
„So laßt das Euch 'ne Warnung sein, o Mädchen, fern und nah,
Daß nie mit Eurem Liebsten Ihr geht nach Amerika/'
Bon ähnlicher Art, nur mit dem Unterschied, daß hier an die Stelle des
Seemanns der Landmann tritt und auch in seinem Ausgang idyllischer, ist
„elf dormz? ladourins do^." Es beginnt mit einer rührenden Beschreibung
des schönen Arbeitsmanns, ,,er ist wohlgestaltet, nett und weise," und mit der
Klage des Mädchens über die grausamen Eltern:
Sie erklärt es rund heraus: „in den Armen meines Arbeitsmannes ge¬
denk' ich zu leben und zu sterben." Worauf dann folgende Strophe gemein¬
nützigen Inhalts den Gesang schließt:
Die grausamste von allen Liebesballaden und die beliebteste dazu, sollten
wir denken. ist „der Pflugknecht an den Ufern des Dundee."
Da kam ein reicher „Sauire," der Mary — so heißt unsere Heldin —
zu sehen wünschte,
„Aber immer noch liebte den Pflugknecht sie an den Ufern des Dundee."
Eines Morgens, grad bei Tagesanbruch, kam ihr Onkel in ihre Kammer
und sagte:
Für diesen peremptorischen Bescheid wird William, der Pflugknecht, „ver-
bannt von den Ufern des Dundee." William läßt sich anwerben und ficht
„für die Freiheit, obgleich sie zehn gegen Einen standen." Eines Abends be¬
gegnet Mary dem Squire. der ihren Jungen in den Krieg geschickt hat.
Ihr Onkel hörte den Lärm — „weil Du den Squire erschossen hast, so
will ich Dir eine Todeswunde beibringen;" aber Mary nahm die zweite Pi¬
stole und schoß ihren Onkel ditto todt. Zuvor aber, auf dem Sterbebett, nach¬
dem ein geschickter Doctor und ein Advocat gekommen waren, vermachte er
testamentarisch all sein Geld der jungen Mary, „die so männlich gefochten
hatte." Nun ward nach William gesandt, und er kam eilig zurück.
Noch interessanter fast, in culturhistorischen Betracht, sind die Parteiballaden.
Bekanntlich kennt die große Masse des irischen Volks nur zwei Parteien; die
eine besteht aus Katholiken, Patrioten und schmachvoll Unterdrückten, die andre
aus Protestanten, Orangemännern, unrechtmäßigen Landeigenthümern und
Unterdrückern im Allgemeinen. Die Ballade nun stellt sich natürlich anf die
Seite der ersten Partei, ja sie ist das vorzüglichste Mittel, in welchem sich die
Leidenschaft und der Haß derselben gegen die andre Luft macht. Die prote¬
stantische Straßenballade, was man etwa so nennen könnte, hat ein verhält¬
nißmäßig kleines Gebiet in Ulster und dem Norden von Leinster. Die Partei¬
lieder unsrer Sammlung gehören durchaus der katholisch-patriotischen Richtung
an; und eins der faetiösesten, welches sich darin befindet, ist daS von „Cahlll
und Malone." Ueber Malone habe ich Näheres nicht erfahren können. Ea-
hill ist ein unruhiger, durch mehrere heftige politische Zeitungsartikel in Irland
populär gewordncr katholischer Priester, welcher vor einigen Jahren nach Ame¬
rika ausgewandert ist; so lange er aber in Irland war, nicht müde ward zu
predigen, zu lesen und zu schreiben, daß es in Frankreich nicht Mann, Weib
noch Kind gebe. die. bei der Aussicht auf eine günstige Gelegenheit, ein Mes¬
ser in den Leib eines Engländers zu stoßen, nicht vor Freude tanzen würden.
— Unser Lied beginnt mit einer offnen Aufforderung zur Rebellion:
Weiterhin heißt es, man solle gegen die lutherischen Nero's aufstehn,
um die Kirche von Rom zu beschützen. Es wird erzählt, daß die Bande Crom-
well's dreizehnhundert irische Priester „gcmetzgeit, gehängt, geschlagen, geröstet
und lebendig begraben" hätte; daß „die höllische Schaar von König Wilhelm"
mit Galgen und Beil gegen die Römischen Nacht und Tag gewüthet hätte und
unter der „blutigen Anna" alle Nonnenklöster aufgehoben, alle Mönche getöd-
tet worden wären.
Doch genug. Klarer kann sich der Haß, der Ingrimm, die Empörung
nicht aussprechen; und unerklärlich wär' es, daß die englische Regierung den
Verkauf solcher Schriften auf offnem Markte duldet, wenn man nicht zu gut
wüßte, was der Haß, der Ingrimm, die Empörung des irischen Volkes zu
bedeuten hat. Sein Schmerzensschrei ist ein Schrei der Ohnmacht, welcher
wirkungslos verhallt; sein Weheruf ist von traditioneller Natur und ohne Kon¬
sequenzen für die Gegenwart. Von dem feig gewordenen, verkommenen irischen
Volke hat die englische Regierung nichts mehr zu fürchten; und die kleinen
Aufstände der Hintersassen, und die bei Nacht versuchten Mordthaten gegen die
Grundbesitzer sind Dinge, die . vor die Nlchterbank und längst nicht mehr vor
das Forum der Politik gehören. —
(Schluß im nächsten Heft,>
Noch nie sind die deutschen Eisenbahnen so stark benutzt worden, den ver¬
schiedenartigsten Interessen der zusammenströmenden Reisenden zu dienen, als
in diesem Jahre. Zahlreich waren die Versammlungen, massenhaft der Be¬
such, eine eigenthümliche Geselligkeit mit neuer Ordnung und neuem Ceremo-
niell beginnt sich zu entwickeln, die wandernden Convente sind schnell ein wich¬
tiges Moment der deutschen Bildung geworden; sie sind, welches auch ihr
nächster Zweck sei, von großer politischer Bedeutung, denn sie fördern in Tau¬
senden das Gefühl der Zusammengehörigkeit und eine männliche Repräsenta¬
tion, sie popularisiren die Ideen, gewöhnen an Disciplin und geben durch das
gesellschaftliche Behagen und eine gehobene Stimmung in schöner Natur, in
froher Reiselaune unter hundert Gleichgesinnten auch dem Leben der Kleinen
eine Bereicherung, die gar nicht hoch genug anzuschlagen ist. — Noch länger
als das Volk benutzen die Monarchen Europas das späte Sonnenlicht dieses
Jahres zu Besuchen, bei denen die höchsten Interessen ihrer Völker wenigstens
zur Sprache kommen. Das Vierteljahr von Baden bis Warschau umfaßt
viele fürstliche Reisen, und die, welche zunächst bevorstehn, werden von den
Deutschen mit sehr verschiedenen Empfindungen betrachtet. Die officiösen Fe¬
dern werden nicht müde zu versichern, daß die Zusammenkunft in Warschau
nichts weniger beabsichtige, als eine Wiederherstellung der heiligen Allianz, daß
Preußen sich sorgfältig vor übereilten Engagements hüten werde, und daß die
Annahme thöricht sei, die Entrevue mit dem Kaiser von Nußland werde eine
Entfremdung mit England zur Folge haben.
Wir wissen, wie wenig solche Versicherungen bedeuten, welche im besten
Fall die Wünsche eines einzelnen Beamten oder einer Partei ausdrücken. Und
doch sind wir nicht abgeneigt, ihnen diesmal zu glauben, zunächst deshalb,
weil wir überzeugt sind, daß auch in Preußen die große Politik nicht mehr
durch die Regierung allein gemacht wird. Das Urtheil der hunderttausend
Gebildeten, welche zusammen die öffentliche Meinung darstellen, hat bereits so
großen Einfluß auf die Stimmungen der Regierung gewonnen, und wirkt schon
sa stark abhaltend und antreibend, daß auch die preußische Negierung schwer¬
lich wichtige Schritte nach einer Richtung thun wird, welcher die öffentliche
Meinung Preußens und Deutschlands entschieden widerstrebt. Ja, die Regie¬
renden werden im Stillen mehr, als sie selbst ahnen, und vor Allem, als sie
selbst zugeben mögen, durch die Strömungen der öffentlichen Meinung, soweit
sich diese in der Presse und den Kammern kund gibt, bestimmt. Und es ist
guter Grund dazu vorhanden. Denn wer die politischen Urtheile genauer an¬
sieht, welche aus den bessern Organen der deutschen Presse täglich auf Mil¬
lionen wirken, der darf sich mit Freude sagen, daß die deutsche Tagespresse,
soweit ihre Kenntniß des Details reicht, die politische Situation durchaus uicht
weniger einsichtsvoll, patriotisch und entschlossen würdigt, als die beste der
deutschen Regierungen. Und man darf behaupten, daß grade in den unab¬
hängigen Zeitungen der preußischen Partei — die Kreuzzeitung meinen wir
nicht — eine so mannhafte und entschloßne Politik verkündet wird, daß das
Ministerium des Auswärtigen große Ursache hat. dieselbe mit Achtung anzu¬
hören. Es hat trübe Jahre gegeben, und die Zeit ist noch nicht ganz ge¬
schwunden, in denen die politische Intelligenz, welche in der Presse zu Tage
kam, besser war, als die der Regierung selbst.*)
Der letzte Gruttd dieser Erscheinung liegt in den eigenthümlichen Bildungs¬
verhältnissen Deutschlands. Bei uns ist die beste Kraft der Nation, gesunde,
politische Intelligenz, Opferfähigkeit, Hingabe an die Idee des Staates, die
größte Tüchtigkeit in den gebildeten Mittelklassen zu finden. Die exclusiver
Kreise, deren geselliger Verkehr in den Salons der Residenzen vermittelt wird,
vertreten in Deutschland zuweilen die Eleganz und Grazie schöner Formen,
aber nicht die beste Bildung und die höchste politische Einsicht unseres Volkes,
Der Salon ist in Berlin wie in Wien, in München wie in Schwerin reactio-
när, östreichisch, oft frömmelnd^, voll von Antipathien gegen die Lebensbe¬
dürfnisse des eignen Volkes. Dies ist in der That ein Unglück, denn der
Parfüm dieser Kreise ist auch die Lust, in welcher die deutschen Fürsten ihr
Leben lang athmen. Es gehört für die Besten und Hochsinnigsten unter ihnen
kein geringer Aufwand von Kraft dazu, sich dauernd von diesem System ge¬
färbter Anschauungen frei zu machen. Unaufhörlich wirkt da, wo die eigene
Ansicht der Regierenden nicht grade fest steht, der oft unmerkliche, aber nie auf¬
hörende Einfluß einer Gesellschaft, welche umgibt und abschließt. Auch das
officielle Ausland beurtheilt die deutschen Verhältnisse in der Regel vom Stand¬
punkt des Salons, denn die Gesandten leben ausschließlich in seinen Stim¬
mungen, Anekdoten, Scherzen und feinen Malicen, und ihre Berichte spiegeln
nur zu gewöhnlich seine Farben ab.
So ist z, B. die Beurtheilung unserer Zustände in den englischen Mi¬
nisterien lange unsicher und verkehrt gewesen, und erst das jetzige Ministerium
gewinnt die Ueberzeugung, daß die Geschichte Deutschlands in letzter Instanz
nicht durch die Salons, auch nicht durch die Ministerien allein, sondern vor¬
zugsweise durch den Geist des gebildeten Mittelstandes gemacht wird. Und
die Ernennung von solchen Gesandten und politischen Agenten, welche litera¬
rische, zuweilen auch journalistische Bildung haben und durch ihre eigenen
Gcistesbcdürsnisse auf den Verkehr mit dem besten Leben der Nation ange¬
wiesen sind, hat bereits Früchte getragen und verspricht noch bessere. Man
hat in England endlich erkannt, woher es kam. daß man so gut über die
italienische Bewegung und ihre Berechtigung unterrichtet war — denn der
Salon Italiens war durchweg national und unitarisch — und so schlecht über
die deutsche, Der erste fremde Politiker aber, welcher das deutsche Volk besser
verstanden hat, als die Gesandtschaftsbcrichte, war Kaiser Napoleon.
Wir Deutsche also wissen sehr wohl, daß der Einfluß der Coterien ohn¬
mächtig wird, sobald sich die Ueberzeugungen der Nation laut und energisch
aussprechen. Aber wir erkennen auch sehr gut, daß ein unnnsgesetzter, leiser
und vorläufig unzerstörbarer Einfluß auch eine patriotische Negierung beständig
in Gefahr setzt, unrichtigen Gesichtspunkten zu verfallen. Und deshalb scheint
uns, hat die preußische Presse grübe jetzt die Aufgabe, mit höchster Energie
und preußischem Stolz die öffentliche Meinung auszusprechen. Denn am Ho¬
rizont steigt eine große Gefahr für Preußen herauf.
Ueber die Teplitzer Zusammenkunft ist in diesen Blättern zur >Genüge
berichtet. Auch die Stimmungen und Abreden derselben wurden angedeutet.
Für die damalige Weltlage war die Besprechung von Vortheil. Es war nö¬
thig, der Anncxvolitik des Kaisers Napoleon ein Halt zu gebieten und die
geheimen Projecte seines unruhigen Ehrgeizes zu kreuzen. Ties empfand er
den Stoß, welcher damals gegen ihn geführt wurde, und mit großem Geschick
wich er ihm aus. Was er seitdem in Italien gethan, war so klug als mög¬
lich. Die italienische Bewegung hatte Dimensionen erreicht, die ihm uner¬
wünscht waren; er mußte vorläufig darauf verzichten, für weitere Gefälligkeiten
Sardinien und Genna zu gewinnen, er mußte, in die Schuhe des englischen
Ministeriums tretend, ganz Italien, mit Ausnahme Benetiens und des Pa-
trimoniums Petri, den Sardiniern überlassen, er that es — um einen Lieblings-
ausdiuck der berliner Presse zu gebrauchen — durchaus correct, er rief seinen
Gesandten von Turin ab und hielt doch die schützende Hand über die Cavoursche
Partei; er hatte das Glück, daß einige falsche Züge Garibaldis seinen gefähr¬
lichsten Feind dämpften. Er steht jetzt in der italienischen Sache unantastbar
und lauernd. Zwei Fälle aber darf er voraussetzen.
Entweder die Großmächte Preußen und Rußland folgen dem Beispiele
Englands und lassen unter denselben Bedingungen die italienische Bewegung
gewähren. Dann ist auch ihm der Friede geboten, und er hat spätre Zeit
zu erwarten, wo der Auflösungsproceß in Oestreich größere Dimensionen an¬
nimmt und Sardiniens Selbstgefühl und Heereskraft so doch schwillt, daß es
eincy Angriff auf Venetien unternimmt. Diesen Ausgang scheint man in
Berlin im nächsten Frühjahr zu erwarten, und man scheint eine geheime Ver¬
abredung Napoleons mit Sardinien zu fürchten, derzufolge Napoleon gegen den
Rhein losbrechen werde. Aber falls solche Annahme besteht, sie hat sicher
nicht genügenden realen Grund. Man ist in Piemont nicht so sehr französisch,
um zu verkennen, daß bei solchem Angriffe vielleicht ein Vortheil für Frank¬
reich, keiner für Sardinien resultiren werde. Das piemontesische Heer ist noch
lange nicht dem östreichischen gewachsen; durch die neuen Organisationen und
seine Verdoppelung seit dem Frieden von Villafranca ist seine Tüchtigkeit zur
Zeit nicht gesteigert, sondern verringert; und es ist nicht anzunehmen, daß die
neuen Haufen, welche aus Mittelitalien und Neapel zuströmen, im Zeitraume
eines halben Jahres in feldtüchtige Truppen umgewandelt werden können.
In der That wird Neapel und Mittelitolicn die Kraft Victor Emanuels in
der nächsten Zeit so sehr in Anspruch nehmen, daß er einen neuen, großen
Krieg vermeiden wird, wenn nicht die letzte Nothwendigkeit dazu zwingt. Und
selbst gesetzt, daß ein Aufstand in Ungarn die östreichische Macht so beschäf¬
tigte, daß Sardinien der italienischen Armee Oestreichs überlegen wäre, selbst
in diesem Falle wäre ein großer Krieg mit französischem Bündniß noch be¬
denklich. Denn wenn der Bundesgenosse nicht am Rhein eine Entschädigung
für aufgewandte Mühe findet, so wird er seine Auslagen sicher dem italieni¬
schen Geschäftsfreund berechnen, und es wäre für Sardinien ein schlechter
moralischer Gewinn, seine Inseln aufzugeben, um Venetien zu behaupten.
So ist ein — nicht provocirter — Angriffskrieg Sardiniens auf Venetien
schwerlich zu besorgen.
Dagegen hat der Kaiser mehr Aussicht, daß Oestreich sich bestimmen läßt.
Sardinien anzugreifen. Ohne Zweifel ist dies geheimer Wunsch des Kaisers,
ja er hat in seiner officiellen Drohnote an Sardinien das wiener Cabinet fast
dazu eingeladen. Auch in diesem Falle sind seine Schachzüge mit einiger
Wahrscheinlichkeit vorauszusehn. Er wird, im Fall Preußen eine unangreif¬
bare Neutralität beobachten sollte, die Sardinier erst in Lebensgefahr kommen
lassen und dann den Flehenden seine Hilfe gegen gute Zahlung leisten.
Lieber aber wird er. wenn wir ihn recht beurtheilen, in solchem Falle ein
großes Spiel wagen und Preußens eigenthümliche Stellung zu Oestreich be¬
nutzen, um mit voller Gewalt einen Schlag am Rheine zu versuchen.
Für Oestreich aber ist zu einem zweiten italienischen Kriege seit Teplitz
starke Versuchung, Die innere Desorganisation, die Unmöglichkeit, das Heer
länger auf dem Kriegsfuß zu erhalten, beides treibt zum Losbruch. Durch
Wasserkuren den unruhigen Völkern imponiren, die Aufregung im Innern
übertäuben, die vollständige Rathlosigkeit durch einen verzweifelten Entschluß,
der den Schein der größten Männlichkeit hat, zu durchbrechen und vor Allem
das Heer durch Kontributionen in den reichen Städten Italiens zu erhalten,
das wäre eine Politik, der herrschenden Coterie zu Wien nicht unwürdig.
Dazu kommt die veränderte Stellung zu Frankreich und Preußen. Man weiß
in Wien sehr wohl, daß es dem Kaiser Napoleon eine stille Freude sein wird,
die Sardinier in der Enge zu sehn, daß Frankreich so wenig wie Oestreich
ein concentrirtes Italien wünschen kann. Man ist sicher, in Italien keinem
starken Feind zu begegnen, und auf der andern Seite hat man die größte
Hoffnung, durch solches Losbrechen Preußen mit Frankreich in einen Krieg zu
verwickeln. Denn die Bundesbeziehungen Preußens und der übrigen deutschen
Staaten zu Oestreich sind schon an sich so unheimlich und verworren, daß es
einem kriegslustiger Gegner in Frankreich schwerlich an Veranlassung fehlen
wird, Preußen einer Verletzung der Neutralität zu beschuldigen. Und sollte gar
die Tcplitzcr Zusammenkunft so weit wirken, daß Preußen sich dazu hergäbe,
irgendwelche partielle Unruhen im östreichischen Bundesgebiet durch seine Trup¬
pen zu unterdrücken, so wäre es für Frankreich vollends leicht, den Conflict
herbeizuführen, sobald und so schnell es ihm gelegen ist.
Nun soll Preußen keineswegs der Möglichkeit eines solchen Conflicts scheu
aus dem Wege gehn, aber es soll sich niemals dazu hergeben, einen großen
Krieg in fremdem Interesse zu führen, und soll ihn niemals führen ohne einen
großen Zweck. Preußen tst unüberwindlich, selbst wenn es in Schlachten ge¬
schlagen würde, sobald es zwei Bundesgenossen hat. Erstens die heißen
Wünsche des deutschen Volks, die gute Meinung der Intelligenz Europas, und
zweitens die Seemacht England. Nun aber hat das Vertrauen zu Preußen
seit den Tagen von Teplitz keine Vergrößerung erfahren. Im Gegentheil, die
Annäherung an Oestreich und Nußland und einzelne diplomatische Demon¬
strationen in Italien haben in Deutschland, in Belgien, Holland. England
und der Schweiz die stille Sorge wach gerufen, daß die preußische Regierung
in dem mannhaften Bestreben. Europa gegen die Uebergriffe der französischen
Politik zu coaliren, sich selbst verleiten lassen werde, auch eine Reaction in
Italien zu begünstigen, und daß es sich dazu hergeben werde, den Interessen
Rußlands und Oestreichs zu dienen, in der guten Meinung, Gesetzlichkeit und
Ordnung in Europa zu verfechten.
Was kann Preußen aus einer Verbindung mit Oestreich und Rußland
für Vortheil gewinnen? Nirgend einen. Beide Kolosse schwanken auf thöner-
nen Füßen, gefährlicher für ihre Alliirten, als für ihre Gegner, beide sind in
einem Auflösungsproceß begriffen, der so gründlich und kläglich ist, wie je eine
politische Zersetzung in einem lebensarmen Staate war. Wo ist in Nußland
ein Heer, welches große Politik unterstützen könnte? Seit vier Jahren konnten
keine Rekruten ausgehoben werden, weil es an Geld fehlte, die Soldaten zu
bezahlen, und an Fähigkeit und gutem Willen der Gutsherren, die Rekruten-
razzia unter den aufsässigen Bauern zu betreiben. Sogar die Garde hat den
Winter über leinen Sold erhalten. I» den Gouvernements aber gährt überall
eine Aufregung des Landvolks, die in nächster Zukunft Empörungen voraus¬
sehen läßt, die Mordanschläge gegen die Personen der Gutsherren werden im-
mer häusiger, die Felder sind in den meisten Gouvernements unvollständig
bebaut, weil die Nobotverweigerung allgemein geworden ist, mehreren derselben
droht nach >,so fruchtbarem Jahre im Winter eine Hungersnoth. Das baare
Geld ist wie in Oestreich aus dem Verkehr geschwunden, der Handel liegt elend
darnieder, Muthlosigkei't und Schrecken sind allgemein. Weiß man das nicht
in Berlin, oder will man es nicht wissen? hat man nur Berichte aus den Sa¬
lons von Petersburg, und keine aus den Provinzen? So klein geworden ist
das ungeheure Nußland, daß es im Fall eines Krieges schwerlich viel mehr
als 100000 Mann über seine Grenzen schicken konnte, auch diese nur mit star¬
ker Anspannung seiner Kräfte. Und welches Jntersse hat Rußland gemeinsam
mit Preußen? Kaum eins, als den Gegensatz gegen Oestreich. Aber aller¬
dings liegt es im höchsten Interesse des Petersburger Cabinets, Preuße» von
einem Bündniß mit England fern zu halten, einem Bündniß, welches mit
einem Mal die Germanen, die politischen Protestanten Europas, zur stärksten
Macht des Erdtheils vereinigen würde. —
Vor Warschau aber liegen die Tage von Coblenz. Dort empfängt der
Regent Preußens die Königin von England. Leider ist es ein kurzer Besuch,
zu kurz für große politische Verabredungen. Demungeachtet hängt viel an
diesen Tagen; die herzlichsten Wünsche der Preußen und Deutschen. die höch¬
sten Interessen der Engländer ersehnen, daß diese Zusammenkunft der beiden
verwandten Souveräne folgenreich sei, und daß sie der Zusammenkunft zu
Warschau ihre Gefahren nehme. Es ist Grund zu der Annahme, daß man
englifcherseits mit vollem Verständniß von der Wichtigkeit des Momentes dort
zusammentreffe. Wir wünschen und hoffen, daß die Preußen die Bedeutung
Die Verhandlungen des östreichischen Neichsraths waren ihrem Ende nahe
— da erinnerte Herr straffer, daß von dem Verhältnisse Oestreichs zu Deutsch¬
land nicht mit einer Sylbe die Rede gewesen; zwar gehöre dieses Verhältniß zur
auswärtigen Politik, allein man brauche doch im Kriege die Unterstützung Deutsch¬
lands mit Truppen und mit Geld, und es sei deshalb zu wünschen, daß an einer
angemessenen Stelle des Majoritätsantrags mit einigen Worten auf das Verhältniß
zu Deutschland hingewiesen würde. — Diesem bescheidenen Wunsche wurde nicht
einmal die Ehre einer Abstimmung erwiesen. — Wie bei der östreichischen Reichs-
verfassung von 1849, so bei den Ncichsrathsverhandlungcn von 1860, wird ohn«
Einrede angenommen, daß der Kaiserstaat sich lediglich nach seinen eigenen Bedürf¬
nissen zu constituiren und dabei auf seine Verbindung mit Deutschland keine Rück¬
sicht zu nehmen habe. Die nichtdeutsche Bevölkerung bildet die große Mehrheit, sie
will von Deutschland nichts wissen; schon deshalb scheut die Regierung jede An¬
deutung über „Bundcspflichten" oder über eine mögliche bestimmende Einwirkung
von Frankfurt auf Wien. Die deutsche Minorität, welche In Deutschland immer
noch einen Rückhalt gegen das Uebergewicht der Slaven und Magyaren sieht, mag
die Wahrnehmung beruhigen, daß die kaiserliche Regierung am Bundestage den Vor¬
sitz führt, und im Bunde nicht nur gegen geringe Matricularbeiträge große Rechte,
sondern auch einen Einfluß übt. der ihr, wenn auch nicht immer für leichtfertigen
Angriff, doch für die Vertheidigung, deutsche Hilfe sichert. Man kann daher in
Wien süglich die Redensarten sparen, welche den Deutschen gefallen, die Anderen
aber unangenehm berühren würden.
„Draußen im Reiche" liegen die Dinge anders, fast umgekehrt. Man denkt mehr
an Oestreich als an sich selbst. Wo immer von einer Reform des Bundes die Rede
ist, da spielt das Verhältniß zu Oestreich die Hauptrolle, spaltet die Meinungen
und vereitelt die Hoffnung aus Resultate. Die Selbstverleugnung ist um so rüh¬
render, da man sich gestehn muß, daß bei dem bisherigen Verhältnisse nicht die
Vortheile, wol aber die in Aussicht stehenden Leistungen auf deutscher Seite liegen.
Lassen wir uns durch den östreichischen Reichsrath belehren, daß das Verhältniß zu
Oestreich zur auswärtigen Politik gehört, d. h ein völkerrechtliches ist, und daß
wir die nothwendige Einigung zum Bundesstaate nach unseren eigenen Bedürfnissen
zu gestalten haben. Nur wenn Deutschland in die Lage kommt, sich selber helfen
zu können, wird es auch für Oestreich ein nützlicher Bundesgenosse werden. —
Manch Wort des Jubels wird in diesen Tagen in Berlin ertönen, wenn
man auf die fünfzig Jahre zurückblickt, die seit Gründung der Universität ver¬
flossen sind. Wol hat man Grund dazu, denn seit dieser Periode steht Ber¬
lin, das vorher in dem geistigen Leben der Nation fast nur eine negative
Stellung einnahm, entschieden in dem Mittelpunkt desselben. Nicht etwa in
dem Sinn, wie die Hauptstadt Frankreichs den Provinzen das geistige Lebens¬
blut aussaugt: so ist es nie bei uns gewesen und dahin soll es nie kommen.
Die Vertheidiger der Kleinstaaterei mögen darüber außer Sorge sein: auch
wenn es einmal dahin kommt, daß den heißen Wünschen des Rolls gemäß
Deutschland sich zu einem Einheitsstaat entwickelt, wird doch die centrifugale
Kraft des deutschen Lebens sich in der Wissenschaft und Literatur ebenso gel¬
tend machen, als in allen übrigen Gebieten. Nicht die Höfe sind die Träger
der individuellen Entwicklung Deutschlands gewesen, sondern die Universitäten,
die Pflanzstätten der Tradition sowol als die Tummelplätze aller großen geisti¬
gen Kämpfe. Preußen hat in seinem Gebiet eine Reihe tüchtiger Universitäten
ertragen; schon lange hatten Königsberg und Halle geblüht, ehe Berlin an die
Reihe kam, und nach der Gründung der berliner Universität haben nicht blos
jene beiden, sondern auch Bonn und Breslau ihre volle Selbständigkeit ge¬
wahrt. Das individuelle Leben der deutschen Hochschulen wird sich nicht ab¬
schwächen, sondern erhöhen, sobald ihre Beziehung zu den kleinen Residenzen
aufhört.
Nicht im Sinn der französischen Centralisation hat sich die berliner Ani>
persieae in die Mitte der deutschen Cultur gestellt, sondern in dem Sinn, daß
jedes Moment der deutschen Bildung in Berlin seinen würdigen Vertreter fand.
Bereits die erste Gründung der Universität ist durch eine Reihe glänzender
Namen aus allen Richtungen verherrlicht; Berlin war der Mittelpunkt der
historischen wie der philosophischen Schule, und dies dauerte fort bis in die
Mitte der dreißiger Jahre, wo die immer mehr um sich greifende Reaction
auch dem wissenschaftlichen Leben den Nerv abschnitt. Denn mit einer Aus¬
wahl auch noch so würdiger Gelehrten ist es nicht gethan: wo die wissen¬
schaftlichen Anstalten von dem allgemeinen geistigen Leben der Nation gelöst
werden, hört ihre höhere Bedeutung auf, Eine Stadt wie Berlin, wo in
jenen Jahren die Censur blinder und sinnloser wüthete als irgendwo anders,
konnte auch in Beziehung auf die Universität ihren Beruf nur sehr theilweise
erfüllen. Es ist jetzt in vieler Beziehung besser geworden, aber noch bleibt
sehr viel zu thun, damit Berlin die Stellung, zu der es berufen ist. und die
es in der ersten Hälfte der verfloßnen Periode wirklich eingenommen hat. in
dem gebührenden Maß wieder ausfülle.
Es werden in diesen Tagen so viel Worte des Jubels erschallen, daß
auch wol ein ernstes, mahnendes Wort dazwischen Raum finden mag. Preußen
hat vollkommen Recht, mit Stolz ans die Gründung der Universität hin zu
blicken, aber das ist nicht genug, es hat auch eine Lehre daraus zu ziehen,
die sehr ernst erwogen sein will.
Mit Stolz kann Preußen daran zurückdenken, daß es in einer Zeit, wo
es, von einem fürchterlichen Sturm erschüttert, mit einem Fuß bereits im Ab¬
grund stand und sich nur noch krampfhaft an den alten Stamm seines gesun¬
den Volksthums klammerte; in eurer Zeit, wo der übermüthige Eroberer noch
mit beständigem Raub und Plünderung den zerrütteten Staat heimsuchte, daß
es in dieser Zeit noch so viel Lebenskraft besaß, ein Werk zu Stande zu bringen,
welches nicht in unmittelbarer Beziehung zur augenblicklichen Noth stand und
doch weise darauf berechnet war, dem wahren Kern seines Lebens neue
Nahrung zu geben. Friedrich der Große baute nach dem siebenjährigen Kriege,
um seinen Feinden zu zeigen, daß er noch immer Geld in der Tasche habe,
das neue Palais von Sanssouci: ein prächtiges königliches Werk, aber doch
sehr klein und armselig gegen den stolzen Bau, den Preußen 1810 aufführte;
Preußen nicht siegreich wie im Jahr 1763, sondern schimpflich geschlagen,
gedemüthigt, auseinandergerissen, verrathen und verkauft, ein Spott seiner
Gegner, ein Gegenstand des Mitleids für seine angeblichen Freunde. Mit.
Erstaunen sah man, daß Preußen nicht blos aus windigen Diplomaten und
hochmüthigen Kamaschenhclden bestand: die Stein, die Humboldt, die Schön,
die Scharnhorst, die Niebuhr u. s. w. traten hervor, und noch unter dem
Fuße des Siegers erregte Preußen dem gesammten deutschen Volk das Gefühl,
daß in ihm und nicht in den abtrünnigen Rheinbuudsiaaten, auch nicht in
Oestreich der Kern der Zukunft liege.
Es ist eine stolze, glorreiche Erinnerung, aber sie soll uns zugleich warnen,
nicht zu sorglos auf die alten Namen, auf die alten Künste zu vertrauen, die
sich damals so schlecht bewährten, sondern heute wie damals mit der Zeit fort-
zuschreiten und die geistige Führung zu übernehmen, die uns zukommt. Nicht
unser Hochmuth und unsere Einbildung wird uns diese erringen, sondern nur
das energische Zusammenraffen aller unsrer Kräfte, die sich in der todten Ruhe
verzehren.
Blicken wir noch einmal auf diesen Wendepunkt zweier so entgegenge¬
setzter Perioden zurück.
Die Schlacht bei Jena war ein großes Unglück, aber sie war nicht das
schlimmste. Die Uebergabe von Magdeburg, die Proclamation des allmäch¬
tigen Schulenburg-Kehnert: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! das stille Behagen
der Berliner über die Demüthigung der hochmüthigen Junker, das waren
viel ärgere Zeichen für die Fäulnis des Staats. Die alte überweise Diplo¬
matie, die alten Exercitienmeister hatten den schmählichsten Bankrott gemacht;
wer damals im Ausland an Preußen verzweifelte, hatte wol Grund dazu.
Dennoch erkannte man nicht, daß die Fäulniß nur die Oberfläche des Staats
angefressen, das edle Mark des Volkslebens aber nicht berührt hatte. Die
Regierung war über alle Begriffe erbärmlich gewesen, aber der Staat an sich
war gesund. Die alten Diplomaten und Excrcitienmeister verschwanden, das
Heer wurde mit dem Boll versöhnt, das Bürgerthum, indem man ihm Frei¬
heit gab, dem Staatsleben wieder gewonnen, das Königthum durch einen
engen Bund mit der Nation gerettet. Den siebenjährigen Krieg hat der
eiserne Wille eines großen Mannes geführt, durch ihn erzogen und vorgebil¬
det schlug den Freiheitskrieg das preußische Volk.
Die Früchte der großen Zeit sind nicht so ausgefallen wie man es zu
hoffen berechtigt war. Daß Preußen 1814 und 1815 wie immer schwache Di¬
plomaten hatte, daß es im Frieden schlechter bedacht wurde als jeder andere
Staat, war noch der geringste Schade; aber die alten Diplomaten und Exer-
citienmcistcr stellten sich wieder an die Spitze, das schöne Selbstvertrauen, Deutsch¬
lands Führung zu übernehmen, schwand dahin, alle politische Idee schrumpfte
vor der einen, Angst vor der Revolution, zusammen, und so blieb der Staat
Friedrich des Großen in schmählicher Abbhängigkcit von dem großen wiener
Diplomaten, bis 1848 eine neue Probe kam, auch diese schlecht bestanden
wurde und die ganze Entwicklung mit einer Reaction schloß, die uns nahe
an östreichische Zustände brachte. Es gehörte ein starker Glaube an Preußens
Stern dazu, daß Deutschland den alten Führer nicht völlig aufgab.
Wem erzählen wir das Alles? Hundertmal ist es erzählt worden und
Jeder weiß es. — Es kommt aber nicht auf das Wissen an, sondern auf das
Handeln; und auch heute noch, da seit einigen Jahren der Weg allmälig ver¬
lassen ist, der uns zum Abgrund führen mußte, fehlt noch sehr viel daran,
daß Preußen seine Kraft und seine Schwäche richtig erkenne.
Man fordert von Preußen vielerlei: es soll die Hegemonie in Deutsch-
land erwerben, es soll den Vorjprung vor Oestreich gewinnen, es soll Schles¬
wig-Holstein befreien, es soll die Franzosen und Russen schlagen n, s, w. Das
alles sind Wünsche, die man zum Theil billigen kann und die auch nicht
außer dem Bereich der Möglichkeit liegen; aber ehe man irgend eins von
ihnen anfängt, muß vorher etwas anderes geschehn: — Preußen muß in
seinem eigenen Lande Herr sein, oder um eine gemeine Redensart zu brau¬
chen, man muß wissen, wer Koch und wer Kellner ist.
Man hat den Freiherr v. Stein vielfach gefeiert; es dürfte zweckmäßig
sein, an einen Zug seiner früheren politischen Wirksamkeit zu erinnern. Er
war Minister und machte mit mehrern seiner Kollegen eine Eingabe, in wel¬
cher er dem König auseinandersetzte, daß Preußen zu Grunde gehn müsse,
wenn die bisherige Doppelregierung fortbestände, die Regierung dnrch das
Ministerium einerseits, die Regierung durch das Cabinet andrerseits. Diese
Eingabe zog ihm die allerhöchste Ungnade zu, aber der Erfolg zeigte, daß er
recht gesehn. In der That, wie kann namentlich in einer Monarchie die
Staatsmaschine sich fortbewege», wenn ein Rad das andre hemmt? wenn
eine Partei im Namen des Königs handelt und die andere entgegengesetzte
dasselbe zu thun vorgibt? wenn beide sich gegenseitig als die Feinde des
Vaterlandes anklagen und beide das Königthum in ihre Parteikämpfe herein-
ziehn?
In ganz ruhigen Zeiten könnte man diesen Zustand, wo man sich dar¬
über streitet, was der höchste souveräne Wille eigentlich will, noch ertragen;
unerträglich aber wird er in einer Zeit, wo jeden Augenblick eine Katastrophe
eintreten kann, die den Staat zwingt, mit seiner ganzen Lebenskraft um Sieg
oder Untergang zu spielen.
Ist im gegenwärtigen Augenblick Preußen innerlich so geordnet, um einer
solchen Katastrophe mit Ruhe entgegen zu sehn? — Wir wollen einzelne Punkte
hervorheben.
Die neuen Ernennungen zum Herrenhause, die man seit einem halben
Jahr erwartete, sind erfolgt. Man hat sie von beiden Seiten mit Antheil,
hier mit Neigung, dort mit Abneigung besprochen; eine große Aufregung aber
haben sie unsers Wissen nicht hervorgebracht. Vor einem halben Jahr wären
sie ein ungeheures Ereigniß gewesen. Denn da sie nicht vom Ministerium,
sondern von der Krone ausgehn, so wäre durch sie die Insinuation der Junker¬
partei, als bestände zwischen der Krone und dem Ministerium Uneinigkeit,
schlagend widerlegt worden; die Krone hätte dem Herrenhaus gezeigt, daß sie
im Verein mit den Landesvertretern die Macht besitzt, seinen principiellen Wi¬
derstand zu brechen, und den Willen, von dieser Macht Gebrauch zu machen.
In diesem Augenblick dagegen hat man wenig an das Herrenhaus gedacht,
und wenn auch im ersten Unwillen von der Kreuzzeitungspartei manche our-
derliche Aeußerungen vernommen werden, z. B. daß durch einen Kampf zwi¬
schen der Krone und der Aristokratie nicht die letztere, sondern die erstere ge¬
fährdet werde, so wird man bei ruhiger Ueberlegung sich sagen, daß aller
Wahrscheinlichkeit nach die in diesem Augenblick erfolgte Ernennung nichts
anders bedeutet, als daß vorläufig keine weitern Ernennungen folgen sollen,
daß also für diese Saison die Majorität des Herrenhauses unverändert bleibt.
Wir hören, daß einige Männer, die recht eigentlich ins Herrenhaus gehörten,
ihre Ernennung abgelehnt haben, und wir können uns das vollkommen er¬
klären, da sie unter diesen Umständen eine unklare Stellung fürchten müssen.
Jedenfalls muß, wenn Preußen wirklich vorwärts schreiten will, eine viel durch¬
greifendere Reform des Herrenhauses erfolgen.
Wir lassen die Rechtsfrage, die mit vielen andern heiklen Fragen zusam¬
menhängt, vollständig bei Seite. Es genügt, daß die Krone die Macht besitzt,
auf verfassungsmäßigen Wege im Einverständniß mit der Landesvertretung
die Reform durchzusetzen. Der Grundsatz mancher Doctrinairs. daß der con-
stitutionelle Staat die Aufgabe habe, entgegengesetzte Kräfte gleichmäßig zur
Geltung zu bringen, um eine durch die ciudrc aufzuheben, ist zu sinnlos, als
daß wir uns bei demselben aushalten sollten. Der einzige Sinn des Zwei¬
kammersystems kann nur der sein, übereilten Beschlüssen der Abgeordneten einen
Hemmschuh anzulegen, ohne daß die Negierung immer in den Vordergrund
gestellt wird, und den Wünschen und Forderungen des Volks die gereifte Ein¬
sicht der traditionellen Staatsbildung entgegenzusetzen. Diese traditionelle
Bildung liegt bei uns nicht in der Aristokratie. Die höchste Aristokratie hat
durch ihr Nichterscheinen bereits ein befriedigendes Gutachten erstattet, und
was den Landadel betrifft, so gehört er nicht in die erste, sondern in die zweite
Kammer, d. h. er hat nur soweit Recht, seine Ansichten im Stnatsleben gel¬
tend zu machen, als es ihm durch seinen Stand, dnrch seinen Reichthum, durch
seine wohlthätigen Einflüsse auf die Umgebung gelingt, das Vertrauen des
Volks zu erwerben. Haben wir eine wirkliche Aristokratie, so wird dieselbe
durch einen naturgemäßen Proceß im Hause der Abgeordneten in gebührendem
Maaße vertreten sein.
Für Preußen kann die Vertretung der traditionellen Staatsbildung nur
einer Körperschaft anvertraut sein, die in der Weise des Staatsraths zu¬
sammengesetzt ist: diese Idee haben wir seit zwölf Jahren vertreten und sie
wird sich endlich durchsetzen.
Bei der gegenwärtigen Zusammensetzung des Herrnhauses ist das
Schlimmste, daß der Landadel noch durch Ernennungen verstärkt ist, die sich
aus der unglücklichsten Zeit unseres Staatslebens - herschreiben; einer Zeit, in
der es für die wahre Staatsweisheit galt, einen Ausrottungskrieg gegen die
Demokratie zu führen, und den bei weitem größern Theil des Bürgerstandes
für Demokraten auszugeben. Dies System hat völlig Bankerott gemacht;
läßt man ihm aber die Majorität des Herrnhauses, so heißt das entweder Ab¬
dankung der Krone zu Gunsten des Junterthums, oder gesetzlich fixirte
Anarchie.
Es dürfte aber bereits in dieser Saison nothwendig sein mit der Reform
zu beginnen. Wie man auch über die neue Heeresorganisation denken möge,
jedenfalls wird sie sehr vermehrte Kosten erfordern; diese wiederum in der
Weise decke» zu wollen, wie im laufenden Jahr, würde uns mit reißender
Schnelligkeit in die Bahn reißen, auf welcher die östreichischen Finanzen so
glänzende Erfahrungen gemacht haben. Das einzige Mittel aber in geord¬
neter Weise die Staatseinahmen zu erhöhen, verweigert die Aristokratie.
Der Auftritt, der neulich in Kostin stattgefunden hat, ist bekannt. In
einer Ungezwungenheit, wie man sie sonst nur den Demokraten beilegte, macht
in einem geselligen Fest der Landadel gegen das Ministerium Front und
spielt ihm gegenüber die höhere Classe der Büreaukratie aus. die anerkannter
Weise gegen das Ministerium in offener Opposition steht. Wir ehren das
schonende Verfahren des Ministeriums gegen seine alten Gegner; wir begrei¬
fen, daß es gern vermeiden möchte, dem Staat durch Pensionen neue Lasten
aufzubürden, aber nachgerade wird es Zeit, den Conflict zu heben, wenn sich
nicht in einer Krisis die Erfahrungen von I80ki wiederholen sollen. Das
Beamtenthum soll nicht nach Parteirücksichten constituirt werden, aber wo das
leider bereits geschehn ist, muß Remedur eintreten.
Wir haben auf die häusigen Conflicte zwischen Militär und Civil nicht
ganz das Gewicht gelegt, welches andere Blätter unserer Farbe darin finden
wollten; sehr bedenklich aber bleibt es immer, das; höhere Officiere jeden Sol¬
daten mit strenger Strafe bedrohn, der nicht in Conflicten mit dem Civil bis
aufs äußerste von seiner Waffe Gebrauch macht, wenn militärische Blätter
das Verhältniß des preußischen Militairs zum preußischen Civilstand ungefähr
so darstellen, wie der Feldmarschall Urban das Verhältniß des österreichischen
Militairs zu den Italienern, wenn die Kreuzzeitung sich als das öffentliche
Organ des Kricgsmimsteriums gerirt.
Vielleicht das allerbedenklichstc für den jetzigen Augenblick aber ist die Hal¬
tung unserer Diplomatie an den auswärtigen und an den deutschen Höfen,
die, zum großen Theil der alten Schule augehörig, die Quelle ihres Wissens
in den Salons findet, in dieser Weise ihre Berichte abstattet und durch ihre
Sympathie die Stellung der Würzburgischen Minister gegen die preußische,,
entschieden begünstigt. Es ist ganz unglaublich, wie wenig die preußische Re¬
gierung ihre eigene Stärke und Schwäche in Deutschland kennt.
Es sind in neuester Zeit einzelne Ereignisse eingetreten, die auf Besseres
hoffen lassen. Das „correcte" Verhalten des Grafen Perponch er in Gaöta wird
wenigstens eine Warnung für die Zukunft sein, und die Denkschrift eines er¬
lauchten Prinzen über die französischen Heereseinrichtungen — deren Veröffent¬
lichung und noch dazu mit politischen Nutzanwendungen freilich ungehörig sein
mag — wird manchem Militair die Augen öffnen. Unbequem ist uur, daß
Preußen nicht in der Lage ist zu warten. Napoleon soll den Piemontesen zu¬
gerufen haben: taitW, ins-is Kiws vite! — Möchte sich es doch auch Preußen
gesagt sein lassen.
Bis jetzt hat in letzter Zeit Preußen uur einen politischen Gedanken ent¬
wickelt, die Besorgnis; eines Angriffs der Franzosen auf den Rhein. Diese
Besorgniß ist nicht unbegründet und verdient unsere ernsthafteste Aufmerksam¬
keit; wenn man aber von ihr allein ausgeht, so bringt man sich in eine
schiefe Stellung-, man erscheint als Hilfe suchend, wo man doch der stärkere ist.
Das Schauspiel in Baden war schön und würdig, und doch hätten wir außer
dem, was geschehen ist und was nothwendig war. noch gern etwas anderes
gewünscht. Es sei fern von uns, den persönlichen Verkehr von Königen, Kai¬
sern unter einander einer Kritik unterziehn zu wollen; aber da man doch hört,
daß von anderer Seite der Wunsch ausgesprochen wurde, Preußen möge die
Richtung seiner Regierung ändern, so hätten wir einen ähnlichen Wunsch auch
von preußischer Seite erwartet. In der freundschaftlichen Unterredung der
souveraine läßt sich manches sagen, was sich in einer officiellen Note nicht
ziemen würde, und bei einer gemeinsam drohenden Gefahr hat der mäch¬
tigste uuter den Bedrohten doch wol nicht nur die Berechtigung, sondern im
gewissen Sinn die Verpflichtung, die Verbündeten darauf aufmerksam zu
machen, unter welchen Bedingungen einzig und allein ein gedeihliches
Zusammenwirken zu erwarten sein dürfte.
Manches hat sich nun freilich seitdem geklärt. Ueber die österreichischen
Zustande kann sich Niemand mehr täuschen; von dieser Seite wird man auf
Unterstützung antipreußischer Gelüste nicht mehr rechnen können, da von allen
in der österreichischen Monarchie befindlichen Individuen gelinde gesagt neun
Zehntel den Glauben an die Fortdauer derselben verloren haben. Eine Wahl
zwischen Oesterreich und Preußen ist nicht mehr statthaft: diejenigen dentschen
Staaten, die nicht etwa auf einen Rheinbund ausgehn, werden veranlaßt sein,
mit Preußen unter jeder Bedingung abzuschließen. Diese Einsicht wird frei¬
lich bei den Mittelstaaten nicht eher eintreten als bis sie Preußen selber hat:
aber sobald Preußen einmal klar erkannt hat, daß es die Situation beherrscht,
wird diese Erkenntniß sofort allgemein werden. Alle Unterhandlungen mit
den auswärtigen Mächten, mit Nußland und auch mit England, sühren zu
nichts, so lange Preußen nicht seine Situation mit Deutschland geordnet hat.
Es hat bisher versucht, diese Ordnung im Einverständnis^ mit Oestreich vor¬
zunehmen, es muß jetzt allein darin vorschreiten und sowohl um seiner eigc-
nen Erhaltung willen als zum Zweck der Erhaltung aller übrigen deutschen
Staaten, fordern, bestimmt fordern, daß für den Fall eines Reichskrieges die¬
jenige Kriegsordnung, die im vorigen Jahre beinahe zu Stande gekommen
wäre, jetzt im voraus festgestellt werde. Die Kriege werden jetzt sehr rasch ge¬
führt, und wenn wir uns über die Führung erst dann einigen wollen, wenn
die Franzosen in München stehn, so heißt das zu lange gewartet.
Glücklicherweise kommt jetzt die Zeit, wo die preußische Regierung durch
ihre Ehre verpflichtet ist, ihre oftmals ausgesprochene Ansicht über die
Grenzen der Bundesmacht zur Geltung zu bringen. Kurhessen ist der Ort,
wo sich die Frage, wer in Deutschland die erste Stelle hat, entscheiden muß.
Die preußische Landesvertretung hat ihre Stimme abgegeben, die hessische ist
im Begriff es zu thun. Hier ist die Sache ganz unzweideutig, und es darf in
ganz Deutschland wer den Namen der Freiheit und des Vaterlandes im Munde
führt keinen Anstand nehmen, sich so weit seine Stimme irgend reicht energisch
auszusprechen. Auf der friedlichen und gesetzlichen Erledigung dieser Ange¬
Alle Erwerbsthätigkeit, welche andre Erzeugnisse zum Gegenstande ihrer
Bestrebungen hatte als die Ackererzeugnisse und Heerden, konnte bei den
Römern ebenso wenig wie bei den Griechen, und bei ihnen vielleicht noch
weniger zur Geltung gelangen und sich Achtung erzwingen. Die Grund¬
lagen zur Bildung eines freien ehrenwerthen Handwerkerstandes waren
zwar auch hier schon seit alter Zeit vorhanden, denn sehen wir von den
unterworfenen italischen Ureinwohnern ab, welche nicht leicht ohne äußere
Unterstützung aus dem Zustande der Hörigkeit zur Selbständigkeit gelangen
konnten, da ihnen hierzu anfänglich alle Bedingungen abgingen, so konnte
sich doch ans der Plebs ein Geschlecht kräftiger wackrer Männer entwickeln,
welche im Gegensatze zu den Erwerbsquellen der mächtigen Grnndbauern und
ihrer ebengenannten Hörigen, der Clienten, das Handwerk zu einer Quelle von
Ehre, Ansehn und Wohlhabenheit machten. Allein die Richtung auf das
Landleben überwog auch bei den Plebejern. Sie hatten dieselbe vermuthlich in der
Periode der römischen Geschichte, die durch die Königsnamen Altens Marcius,
Tarquinius Priscus, Servius Tullius und Tarquinius Superbus bezeichnet
wird, aus ihrer ladinischen Heimat mit nach Rom gebracht, und sie war so
tief und innig mit ihrem ganzen Wesen verwachsen, daß sie kaum ihre Selb¬
ständigkeit und privatrechtliche Ebenbürtigkeit den alten Adelsgeschlechtern
gegenüber erlangt hatten, als sie auch die staatsrechtliche Gleichstellung mit
diesen zu erreichen suchten nicht wie die deutschen Städter durch Bildung von
geschlossenen Körperschaften, welche stark genug waren von den adligen Herren
und ritterbürtigem Patriciern die Anerkennung billiger Gemeinderechte zu er¬
zwingen, sondern vielmehr durch Erwerbung von Grundbesitz, welcher dem
der Altbürger Roms an Ausdehnung nicht nachstehn sollte. Bekanntlich wur¬
den ihre Bestrebungen von vollständigem Erfolge gekrönt: verstärkt durch neue
Zuflüsse aus den benachbarten Städten und Stadtgebieten erlangten die Ple¬
bejer, die anfangs wol schwerlich um Vieles besser gestellt waren als die
Schutzverwandten in den griechischen Staaten, schon im Jahre 388 nach Er¬
bauung der Stadt das Consulat und gewannen rasch und ohne bedeutende
legislative Kämpfe Zutritt zu den übrige» hohen Staatsämtern, welche das
überwundene Patriciat vergebens für sich zu retten gehofft hatte. Für den
ärmern Standesgenossen, der den Mangel von Grundbesitz etwa durch Fleiß
und Geschick auszugleichen suchte, hatte der vornehme Plebejer kein Herz und
kein Interesse: drückte ihn der Hunger, schmachtete seine Familie in Noth und
Dürftigkeit, so konnte er ja sich und den Seinen das tägliche Brod mit seiner
Selbständigkeit erkaufen und in die Clientel eines patricischen oder plebeji¬
schen Grundherrn treten. Zu darben brauchte er da nicht, und obendrein
bekam er wol noch ein kleines Stück Land angewiesen, von welchem er für
seinen Patron und für sich den Segen der Ceres erwarten konnte. Wie hart
es für den Freien sei, das Brod der Knechtschaft zu essen, daran dachte die
neue Nobilitüt nicht, woran sie vielmehr dachte, das beweist der Umstand,
daß der edelmüthige Borkämpfer der Plebs, Licinius Stolo, in die von ihm
selbst angeordnete Strafe verfiel, weil er mit hinterlistiger Umgehung seines
eigenen Gesetzes tausend Morgen Landes besaß und fünfhundert davon durch
einen Scheinvertrag an seinen zu diesem Zwecke emancipirten Sohn abge¬
treten hatte.
War es demnach den vornehmen Plebejern bei ihren scheinbar volks-
thümlichen Bestrebungen vielmehr um Erweiterung ihrer eigenen Standes¬
rechte eilf um die Verbesserung der gedrückten socialen Lage ihrer ärmern
Mitbürger zu thun, so können wir doch auch die letzteren von dem Vorwürfe
nicht frei sprechen, daß sie keine oder nur geringe Anstrengungen machten zur
Beseitigung des Druckes, der auf ihnen lastete. Frei von Steuern und vom
Kriegsdienst, wenigstens hohem sie nicht zu den fünf Censusclassen der servia-
nischen Verfassung gehörten, hätten sie durch die Betreibung einer nützlichen
Thätigkeit nicht nur sich und ihre Familien redlich ernähren können, sondern
es würde ihnen auch gelungen sein eine Stellung zu erreichen, in welcher
sie den Vorrechten des großen und kleinen Grundbesitzes gegenüber das Recht
der Arbeit zur Geltung brachten. Allein der Römer und Jtalikcr alter Zeit,
sofern er nicht Grundeigenthümer war, scheint von angestrengter Arbeit eben¬
so wenig gehalten zu haben, wie sein gegenwärtiger Nachkomme, der Italiener
südlich vom Arno und Nubico». Aus der Hand in den Mund leben, wenig
bedürfen und wenig arbeiten, das war der erste Glaubensartikel der Lnzzaroni
von ehedem wie der Lazzaroni von heute, und den Irrthum, daß dieses Ge¬
schlecht zu heben, daß ihm überhaupt zu helfen sei, haben von Spurius
Cassius an bis auf die Gracchen die edelsten Männer Roms mit ihrem Leben
gebüßt.
Werfen wir einen Blick auf den Lebensgang eines deutschen Hand¬
werkers, wie der junge Bursche, nachdem er das Elternhaus verlassen und
„vor offener Lade und versammeltem Handwerke" das feierliche Versprechen
des Gehorsams, der Treue und des Fleißes abgelegt, fünf oder sechs Jahre
lang von seinem Lehrmeister zu harter Arbeit sowie „zu einem christlichen und
wohlgesitteten Lebenswandel" angewiesen ward, bis er. „so er seine Zeit treu
und redlich ausgehalten und sein Handwerk gehörig erlernt" hatte, „von der
Lehre hinwiederum los und unter Anwünschung göttlichen Segens zu einem
ehrlichen Gesellen gesprochen wurde", wie dann dieser ehrliche Geselle hinaus¬
wanderte in die Welt, um frei von dem Zwange der Lehrjahre bei fremden
Meistern sein Geschick und seine Arbeitskraft zu erproben und von ihnen zu
lernen, was ihm daheim von Nutzen sein könnte, und wie er dann, als die
bestimmte Zahl von Wanderjahren um war, nach der Vaterstadt zurückkehrte,
nicht um auszuruhn, sondern um als braver Mann von Neuem die Hände
zu rühren und seine Fertigkeit in dem Handwerke zu bewähren, bis daß er
das Ziel erreichte und zum Meister gesprochen wurde. Aber auch jetzt war für ihn
nicht etwa das goldne Zeitalter des Nichtsthuns angebrochen: der echte deutsche Hand¬
werker hat die Süßigkeit des Äolee Kr nisirte, er hat aber auch den Müssig-
gang nie gekannt. Die Arbeit fing jetzt vielmehr erst recht an: der Meister
war zugleich Bürger geworden und hatte somit doppelte Pflichten übernommen.
Die Werkstunden gehörten wie vordem seinem Gewerbe, die Feierstunden aber
konnte er nur zum Theil wie bisher im Kreise treuer Freunde oder daheim
bei seiner Familie verleben. Die Sorge um das Wohl der Stadt, ein Amt
in der Gemeinde, das ihm Ehre brachte ohne Gewinn, die Uebung in den
Waffen endlich, wodurch sich seine Zunftgenossen zu einer streitbaren Bürger¬
macht heranbildeten, welche dem geharnischten Nitteradel der benachbarten
Schlösser nicht minder gewachsen sei wie dein aristokratischen Geschlechter¬
regiment in den Mauern der eigne» Stadt, dies alles und manches andre
obendrein gestatteten dem Meister keinen andern Genuß .als den, der aus dem
erhebenden Bewußtsein fließt, seine Pflicht gethan zu haben.
Keine Spur von einer solchen Erhebung des kleinen Bürgers, kein Ge¬
danke um eine solche Entwicklung und Forderung seines geistigen und mate¬
riellen Interesses fand sich im alten Nom. Genossenschaften, deren Erwerb
nach andern Gesetzen geregelt war als nach denen, welche im Bauernkniender
verzeichnet standen und die zwölf Zeichen des Thierkreises zur Grundlage
hatten, konnten nun einmal im alten römischen Gemeindewesen nicht zu ent-
schiedner Anerkennung gelangen, lind die Küne, die man von Alters her zu
entfalten und großzuziehn vernachlässigt hatte, verkümmerten und verdorrten
im Laufe der Zeit immer mehr. Daß der Grund dieser eigenthümlichen Er¬
scheinung nicht allein und auch nicht vorzugsweise in den klimatischen Ver¬
hältnissen Italiens, in der heißen Sonne des schönen Landes zu suchen ist,
ergibt sich schon daraus, daß der Ackerer hinter seinen Stieren und der
Schnitter zwischen den Schwaden denselben Gluthhauch und vielleicht noch
schutzloser ertragen mußte, der die Kraft des Schmiedes, des Schusters oder
des Färbers hätte lähmen können. Die wahren Gründe indeß nachzuweisen,
liegt jenseits der Grenze unsrer Aufgabe: die Thatsache mag genügen, daß
das Handwerk bei den Römern im allgemeinen einen goldnen Boden nicht
hatte.
So lange es indeß dem Quinten für rühmlich galt, bei der Bestellung
seiner Felder selbst Hand anzulegen, so lange die Lentulus, Piso, Tnurus/
Serranus durch ihre von der Landwirthschaft entlehnten Beinamen sich in
ähnlicher Weise geehrt fühlten, wie die Scipioncn, wenn man diesen als
Africanus, jenen als Asiaticus begrüßte, so lange konnten nachtheilige Folgen
aus dem Mangel eines Handwerkerstandes als solchen nicht leicht erwachsen.
Der römische, und späterhin der latinische, der italische Bauernstand war
eine so ergiebige Quelle von Bolkskrnft, wie sie die Geschichte mehrmals
wol in kleinen Gemeinwesen, wie etwa in dem der helvetischen Eidgenossen
oder der Dithmarsen. schwerlich jedoch in so großen Staatskörpern, wie der
römische war, aufzuweisen hat. Als aber nach den Eroberungen jenseits des
Meeres die Provinzen Getreide und Wein lieferten und das Kornfeld für den
Optimalen seinen Werth verloren hatte, als die neue Nobilität das Säen
und Pflanzen als ein erniedrigendes Geschäft, smcliäum nesotium. den Cli¬
enten und kleinen Grundbesitzern oder wol gar ausschließlich den Sklaven
überließ und mehr auf die Erweiterung der durch Kauf und Gewalt erwor¬
benen Latifundien, der villarum intwitg, spatia des erzürnten Tacitus, als
auf die Pflege der vaterländischen Scholle bedacht war. als die Schwielen
fleißiger Landwirthe den Säblern zum Gespött dienten, so daß Publius Scipio
Nasica es wagen durfte, an einen Ehrenmann, bei dem er sich auf die übliche
Art um die curulische Aedilität bewarb, die impertinente Frage zu richten, ob
er auf den Handen zu gehn pflege, als. um Raum zu gewinnen für Lust¬
garten und prächtige Landhäuser, sür Thierparks und Fischteiche. Berge durch-
graben und Meere abgedämmt wurden, als selbst der ältere Cato von andern
Unternehmungen höhere Einkünfte erwartete als von dem Landbau, über den
er schrieb, als Lucullus mit dem Grundbesitz und mit der Nobilität noch das
Capital verband, als Crassus zum Krösus wurde und kaum zweitausend Rö¬
mer im Staate zu finden waren, die über ein Eigenthum verfügten, als, um
es kurz zu bezeichnen, der Reichthum einer halben Welt nach Rom floß, als
aus allen Adern des großen Staatskörpers sich das Blut nach dem Herzen
drängte und, vom Gifthauch der Entartung angesteckt, zu der verderblichen
Eiterbeule zusammenzog, von welcher das gewaltige Reich nie genaß, da
war es zu spät auf die einfache Sitte der Väter hinzuweisen, und vergeblich
bemühte sich Augustus und mancher der nachfolgenden Kaiser, durch Hebung
der Erwerbsthätigkeit einen kräftigen, auf der Arbeit beruhenden Mittelstand
heranzubilden, an dein der Staat noch in der elften Stunde eine Stütze hätte
finden können, die ihn vor dem Zusammensturz bewahrte.
Wenn diese Auflösung nicht früher erfolgte, wenn der Abfall von der
Sitte der Väter und die Entartung, deren Anfang sich an die unheilvollen
Namen Karthago, Korinth, Numantia knüpft, sich nicht schneller rächte, so
zeugt dies eben sür den soliden Bau des römischen Staatswesens, das noch
ein halbes Jahrtausend von der Kraft zehren konnte, welche aus der Arbeits¬
thätigkeit der alten ehrenwerthen Grundbesitzer erwachsen war. Daß aber der
Bauernstand, der einen Staat gegründet und mit Lebenskraft ausgestattet,
auch im Stande sei, ohne Mitwirkung andrer Factoren, die sich im Laufe der
Zeit bilden müssen, diesen Staat dauernd zu erhalten, und daß das Grund¬
eigentum ohne die Dazwischenkunft des Mittelstandes, oder besser des Stan¬
des der Handwerker und Gewerbtreibenden, überhaupt davor bewahrt werden
Sonne, in den Besitz weniger großer Grundherren zu gelangen, während die
Mehrzahl der kleinen Bauern zu Hausiern wird und endlich zu Besitzlosen
oder Hörigen, das zu bezweifeln berechtigt uns die Geschichte Roms in höhere»,
Grade noch als das Beispiel Spartas.
Fragen wir nun, wer die Vertreter des Handwerks in Rom waren, und
wie diese es vertraten, so geben uns alte Schriftsteller hierüber nur dürftige
Andeutungen, eben weil es zu einer Constituirung der Handwerker als eines
geachteten in das Staats- und Culturleben wesentlich eingreifenden Standes
niemals kam. Manche Bedürfnisse des täglichen Lebens, deren Herstellung
trotz der Einfachheit der alten Sitte die schlichte Kunstfertigkeit des Landmanns
nicht zu erreichen vermochte, mögen schon frühe in Rom von einzelnen Classen
von Arbeitern beschafft worden sein, welche, nachdem sie sich ein gewisses Ge¬
schick und eine gewisse Stetigkeit und Gleichmäßigkeit in ihrer Arbeit ange¬
eignet hatten, es wenigstens eine Zeit lang dahin zu bringen wußten, daß
jedem andern, der zu ihrer Classe nicht gehörte, die Concurrenz mit ihnen
verschlossen war. Eine Art Zunftwesen scheint sich somit allerdings bereits
in den ältesten Zeiten Roms gebildet zu haben, obschon wir nicht recht ein¬
sehn, wie neben der ausgedehnten Gewerbefreiheit. die wir wenigstens in
den letzten beiden Jahrhunderten der Republik ganz entschieden vorfinden, ein
zunftmäßiger Handwerksbetrieb bestehn und bis in die Kaiserzeit sich erhalten
konnte. Den sagenhaften Berichten des Plutarch und Plinius zu Folge soll
Numa neun Körperschaften oder Zünfte, eolle^ikr opiüeum, gestiftet haben,
deren acht erste die Flötcnbläser oder Musikanten überhaupt, die Goldschmiede,
Zimmerleute, Färber, Schuster, Gerber, Schmiede und Töpfer umfaßten, wäh¬
rend die übrigen Handwerker sammt und sonders in der neunten Zunft ver¬
einigt gewesen sein sollen. Wenn Florus behauptet, die Stiftung der Zünfte
sei erst durch Servius Tullius erfolgt, vermuthlich weil in seiner Zeit der ge¬
sellschaftliche Zustand sich schon mehr entwickelt hatte, so streitet gegen diese
Annahme der Umstand, daß das wichtige Handwerk der Steinmetzen, waches
seit den großartigen Bauunternehmungen des ältern Tarquinius, der Grün¬
dung des Capitols, der Anlegung der Cloaken, des Circus Maximus und des
Forums, in Rom sehr bedeutend vertreten sein mußte, keine selbständige Zunft
bildete, während verhältnißmäßig minder wichtige Beschäftigungen, wie etwa
die der Färber, zu zünftiger Gestaltung erhoben worden wären. Dagegen
mag vor dem Eintritt des tuskischen Elementes in das römische Gemein¬
wesen, also bis auf Altens Marcius, die Gewerkschaft der Zimmerleute
wol im Stande gewesen sein, den Ansprüche», die man beim Häuserbau an
sie machte, in der Hauptsache zu genügen, und auch zur Anlegung der Stadt¬
mauern, des Tempels der Fides, der Thorhalle des Janus und andrer heili¬
ger und profaner Baulichkeiten größern Umfangs wird es eines kunstgerechten
Maurcrhandwcrks schwerlich bedurft haben. Übereinstimmend aber wird von
allen Schriftstellern die Aufnahme dreier der genannten Genossenschaften in
das Heer, zu welchem die Handwerker als unter den fünfSieuerclassen stehende
Proletarier in der frühern Zeit keinen Zutritt hatten, aus Servius Tullius
zurückgeführt. Dieser König soll nämlich die Schmiede, Zimmerleute und
Pfeifer, das heißt die Flötisten, Hornisten und Trompeter, welche alle für die
Zwecke des Krieges unentbehrlich waren, in vier Centurien seiner Heeresordnung
eingefügt und ihnen, trotzdem daß sie außerhalb der Censusclassen stan¬
den und an der Schlacht natürlich keinen thätigen Antheil nahmen, als Aequi-
valent für ihre Dienstleistungen im Kriege das Stimmrecht in den Centuriat-
comiticn verliehen haben, welches die übrigen sechs Zünfte, wie das Proletariat
überhaupt, anfänglich gar nicht besaßen und erst später in beschränktem Maße
erhielten. In wie geringem Ansehn übrigens das Handwerk schon damals
stand, geht aus dem Umstände hervor, daß der Steuerpflichtige und also zum
Kriegsdienste berechtigte Römer, da es nun einmal unumgänglich nothwendig
war, lieber in seiner Mitte eine Anzahl besitzloser Werkleute dulden als sich
selbst zur Erlernung handwerksmäßiger Verrichtungen herablassen wollte, durch
welche die Verwendung dieser Proletarier im Heere überflüssig geworden wäre.
Daß dieses Ansehn nie stieg, beweisen die Aeußerungen späterer Schriftsteller
zur Genüge. Ist mich die Angabe des Dionys von Halikarnaß irrig, daß
das Gesetz die Bürger vom Stande der Handwerker ausgeschlossen habe, so
werden doch gewiß nnr die ärmsten unter ihnen des Unterhalts wegen für
sich oder für andre gearbeitet und die Würde des Quinten „durch banause
Verrichtungen, die mit einer sitzenden Lebensmeise verbunden sind, schändliche
Begierden wecken und Leib und Seele zu Grnnde richten" um des Leibes
Nahrung und Nothdurft willen aufgeopfert haben. Daß man diesen Aermsten,
die ohnedies an der Staatsregierung so gut wie gar keinen Antheil hatten,
auch in Zunftsachen nur eine geringe Autonomie gestattet haben wird, die sich
wol schwerlich lU'er eine gewisse Regelung ihrer genossenschaftlichen Angelegen¬
heiten innerhalb der einzelnen Innungen erstreckte, ist durchaus wahrscheinlich,
ja es gewinnt den Anschein, daß die Eintheilung dieser besitzlosen, zu Neue¬
rungen leicht erregbaren niedern Bürgerschaft in Zünfte, an deren Spitze ein
Obermeister stand, mehr eine staatspolizeiliche Maßregel war, wodurch die
allen Könige den unruhigen Geist leichter in Schranken zu halten suchten.
An eine selbständige Gestaltung dieser Zünfte, wie wir eine solche in den oben be¬
zeichneten mittelalterlichen Handwerksgenossenschaften finden, ist wol nicht zu
denken, noch weniger aber daran, daß Numa die neun Kollegien gestiftet
habe, um die Verschmelzung von Römern und Sabinern, der sich anfänglich
Schwierigkeiten entgegenstellten, dadurch zu erleichtern.
Diese Körperschaften, welche in dem Zwölftafelgesetze bestätigt wurden,
hatten ihre eignen gottesdienstlichen Gebriwche und Schutzgötter; ihre Vorsteher,
denen die Sorge für das Gemeinsame oblag, waren mit der Anordnung von
Zusammenkünften und der Veranstaltung von Festlichkeiten, namentlich bei den
compitalicischen Spielen, betraut. Außer diesen gesetzlichen alten Zünften bil¬
deten sich im Laufe der Zeit mehrere neue: das Bäckerhandwerk, für welches
ehedem in Rom bei der einfachen und mäßigen Lebensweise der Bürger kein
Bedürfniß da war, scheint erst nach dem Kriege mit Perseus, also nicht viel
vor dem Jahre 600 der Stadt eine zünftige Gestaltung erlangt zu haben,
und wol in noch spätrer Zeit suchten die Schreiber und Kaufleute sich in Gil¬
den abzuschließen, was ihnen natürlich bei der Gewerbefreiheit nur bis zu
einem gewissen Grade gelingen konnte. Der Metzger, welche das Fleisch in
Buden seil boten, wird schon in der Geschichte der Virginia gedacht; da aber
die meisten und namentlich die größern Grundbesitzer ihren Bedarf an Fleisch
von ihrem Landgute erhielten, so werden die Schlächter anfänglich nur unter
dem geringen Volke ihre Kunden und wol selten einen glänzenden Verdienst
gehabt haben. Wenn trotzdem der Vater des Terentius Varro, desselben der
bei Cannä die Schlacht verlor und das Leben rettete, in dem genannten Ge¬
schäft em bedeutendes Vermögen erworben hatte, so war dies in jener Zeit
eben eine Ausnahme, ganz abgesehn davon, in wie weit der Vater wirklich
nur Schlächter war und nicht etwa Grund- und Heerdenbesitzer, der seinen
Viehstand vorzugsweise an der Metzgcrbank verwerthete. Denn daß der pa-
tricische Stolz auf den „Fleischersohn", der Prätor und Consul wurde, allen
möglichen Uuglimpf zu häufen suchte, dürfen wir mit Recht vermuthen, und
daß die plebejischen Standesgenossen des Terentius'Varro kein Interesse hatten,
für diesen irgendwie einzutreten, werden wir natürlich finden. Indessen mag
es in dem letzten Jahrhundert der Republik und namentlich in der Kaiserzeit
oft genug vorgekommen sein, daß Handwerker und Söhne von Handwerkern
zu Amt und Würden, zum Consulat und Triumph und zu solchem Vermögen
gelangten, daß sie dem Volke mit seinem Lieblingsvergnügen, mit Fechterspielcn
und sonstigen Spenden aufwarten konnten; auch würden wir Unrecht thun,
wollten wir leugnen, daß aus ihrer Mitte Männer Hütten hervorgehn können,
welche an Sittenreinheit vor Sallust und an Beherztheit vor Cicero den Vorrang
verdienten. Dennoch müssen wir annehmen, daß die Urtheile der genannten
Schriftsteller über das Gesinde!, xledes, das ohne Habe und Credit auf seine
Arme angewiesen war, im Allgemeinen richtig sind, daß in den Werkstätten,
wie sie damals waren, die Freisinnigkeit einer geringen, der größten Pflege
hingegen die Gemeinheit genoß.
Durch Livius erfahren wir, daß etwa um das Jahr 530 der Stadt ein
Gesetz an das Volk gebracht wurde, welches die Walker, tuUones, betraf und
vermuthlich den Preis und die Güte ihrer Arbeit bestimmte. Daß der Staat
sich veranlaßt fand, die Regelung dieses Handwerks selbst zu übernehmen, er¬
klärt sich wol ans der Wichtigkeit, welche grade der Walker für das Volk,
das in weißen wollnen Togen feierlich einherzuschreiten liebte, haben mußte.
Denn wenn auch der arme Handwerker bei seinem Geschäfte mit der Tunica
oder wol gar mit noch Wenigerem sich begnügte, so mag es doch dem tuni-
es-tus xorMus einen nicht geringen Genuß gewährt haben, wenn es an Fest¬
tagen das weiße Feierkleid in kunstgerechten Wurfe umthun und fühlen durfte,
welch' erhabner Unterschied doch eigentlich sei zwischen ihm und zwischen dem
Fremden und Sklaven. Wie wesentlich hierbei die Mitwirkung der Walker
war, liegt auf der Hand, und man möchte fast vermuthen, daß die alte Zunft
der Färber auch die Genossen jenes Handwerks umfaßte, ja durch sie erst ihre
Bedeutung gewann.
Besondrer Erwähnung haben wir noch zu thun der Bartscheerer und Haar¬
künstler. Zur Zeit des Lucius Quinctius, der von seinen Locken den Beinamen
Cincinnatus erhalten haben soll, fiel unter dem Scheermesser das Barthaar
wol nie, das Haupthaar wenigstens bei den Freien nur selten. Als aber etwa
um das Jahr 450 der Stadt Barbiere aus Sicilien nach Italien gebracht
wurden, ward die Sitte bald allgemein, das Kinn dem Messer preis zu geben,
wenn auch noch nicht jeder so sorgsam war wie Scipio Aemilianus, der sich
den Bart täglich scheeren ließ. Daß der Tag, an welchem der junge Römer
des kaum eutsproßnen Flaums von kunstgerechter Hand sich beraubt sah. in
spätrer Zeit die ganze Familie zu einem frohen Feste vereinigte, ist bekannt,
und Ccissius Dio berichtet uns, daß Octavian diesen Tag durch eine glänzende
Bemirthung des Volks weihte. Seitdem nun vollends galante Männer, wie
Hortensins, Gabinius, Dolabella und selbst Cäsar, ein wohlgeordnetes und
künstlich gelocktes Haupthaar für ein wesentliches Erfordernis) eines anständigen
Mannes ansahen, und Clodia, die Schwester des Publius Clodius, nebst an¬
dern Damen gleichen Schlags erklärt hatte, daß sie ein kleines zierliches Bärt¬
chen, oardulam, an den Männern liebe, da brach für die Genossenschaften der
Barbiere und Friseure eine goldne Zeit an. Und wenn auch die Vornehmen
eigne Bartscheerer und Haarkräusler unter ihren Sklaven hatten, so waren
doch die Tonstrincn oder Scheerstuben nicht nur von den minder Begüterten,
sondern gar häusig auch von jungen Leuten aus den höhern Ständen besucht,
die hier in ähnlicher Weise wie die Griechen Unterhaltung fanden, nur mit dem
Unterschiede, daß diese in den Barbierladcn wol auch über höhere Angelegen¬
heiten, selbst über philosophische Probleme verhandelten, während die hoff¬
nungsvolle Jugend Roms sich ausschließlich darauf beschränkt haben wird,
von den Tonsoren, die wegen ihrer Redseligkeit nicht minder verrufen waren
als heutzutage, sich allerhand Neuigkeiten und Skandalgeschichten aus der
Stadt zuführen zu lassen. Der Hinblick auf die Toilettenbedürfnissc der Da¬
men, in welche uns ein freundliches Geschick eine weit genauere und tiefere
Einsicht gestattet hat als in manche der wichtigsten Staatsactionen des alten
Rom, sowie die sichre Kunde, daß das entnervte Geschlecht den Schmuck des
Hauptes, den es vermuthlich frühe verlor, durch künstliche Mittel zu ersetzen
suchte, berechtigen uns zu der Annahme, daß die Perrückenmacher und deren
Zunftverwandte, überhaupt alle die sich auf falsches Haar, falsche Zähne,
Schminke, Schönheitspflästerchen und ähnliche Nachhilfen der Natur verstan¬
den, kurz vor und während der Kaiserzeit als höchst wichtige Persönlichkeiten,
als eine Art Retter der Gesellschaft, wenn auch nicht angesehn, so doch reich-
ich beschäftigt und bezahlt worden sind.
Die übrigen Handwerker von den Köchen, deren Garküchen in der spä¬
tern Zeit sehr besucht waren, herab bis zu den Schustern und Handschuh¬
machern einzeln zu erwähnen, würde eine weitläufige und zum Theil sehr
unerquickliche Aufgabe sein. Ihre Zahl war entsprechend der Entwicklung der
gesellschaftlichen Zustände sehr groß, und ihre Thätigkeit bei dem überladnen
Geschmacke der spätern Zeit sehr mannichfaltig. Hatten sie früher dem Be¬
dürfnisse gedient, so wandten sie sich, mochten sie nun in Holz, in Stein oder
Thon, in Metall, in Leder oder in sonst welchen Stoffen arbeiten, um ihre
Kunden oder Arbeitgeber zu befriedigen, dem Dienste des Luxus von Jahrzehnt
zu Jahrzehnt mehr zu. Zu wiederholten Malen versuchten die eilten oder
die andern zu einer zunftmäßigen Gestaltung, ähnlich derjenigen der neun
alten Körperschaften zu gelangen; da sie aber mit diesen Znnftbestrebungen
politische Umtriebe verbanden und einen meuterischen, ungesetzlichen Geist be¬
kundeten, so sah sich der Senat veranlaßt, mit Strenge gegen sie einzuschreiten.
Catilina und seine Genossen hatten auf ihre thätige Mitwirkung gerechnet:
der Tag von Pistoria verdarb die Rechnung, und die nicht auf altem Gesetz
beruhenden Körperschaften wurden ausgehoben. Der Volkstribun Publius
Clodius glaubte an ihnen vermuthlich eine starke Stütze seiner unruhigen
Pläne zu finden, weshalb er sie wiederherstellte und aus städtischem Gesindel
und Sklaven neue hinzufügte. Cäsar hingegen duldete nur die alten, und
auch Augustus sah sich genöthigt, den Zünften, die während der bürgerlichen
Unruhen ihr Haupt kühn erhoben hatten, mit scharfen Maßregeln entgegen¬
zutreten. Aehnliches wiederholte sich unter den spätern Kaisern.
War nach dem allen die Stellung der Handwerker von vornherein eine
sehr gedrückte, so wurde sie es noch weit mehr, als das Sklavenwese» in Rom
eine so weite Ausdehnung erhielt. Denn es machte nicht nur die Sklaven¬
arbeit der Gewerbsthätigkeit der freien Bürger eine sehr gefährliche Concurrenz
und raubte ihrer Beschäftigung den letzten Nest der Achtung, den sie in der
öffentlichen Meinung etwa noch besaß, sondern es gesellte sich ihnen auch in
den zahlreichen Freigelassenen, denen ihre Patrone häufig ein Capital zum
Betrieb eines Handwerks vorstreckten, ein sehr bedenkliches Element zu, welches
durch die Fremden, namentlich aus den asiatischen Provinzen und aus Afrika,
und durch die Graeculi, griechische Handwerksmeister, Künstler. Lehrer, Schön¬
geister und andres habgieriges, geschwätziges und eitles Volk, das nach der
Erstürmung von Korinth sich schaarenweise nach Rom übergesiedelt zu haben
scheint, noch wesentlich verstärkt wurde. Nehmen wir dies alles zusammen, be¬
denken wir, welcher Geist in diesen Freigelassenen lebte, die Jahre lang Kncchtes-
sinn gehegt und sich zuletzt ihre Freiheit um ein Stück Geld gekauft oder gar
hatten schenken lassen, erinnern wir uns, daß von den zehntausend Freigelassenen
des Sulla, dieser wilden Mörderhände. viele die nicht alsbald nach der Frei-
lassung erbärmlich verkamen, ebenfalls als Handwerker ein erträgliches Fort¬
kommen suchen mußten, fügen wir dazu die Härte und Grausamkeit, mit der
die Römer ihre Sklaven zu behandeln pflegten und vielleicht zu behandeln ge¬
nöthigt waren, vergessen wir endlich nicht, wie viel die Proscnptioncn, die
Bürgerkriege, die Militärkolonien zur Verarmung und Entsittlichung des Volks
beitrugen, und wie alle diese Uebel die untersten, die Arbeiterclassen, doch zuletzt
am härtesten trafen, so werden wir den gleichzeitigen Schriftstellern, wenn sie
von diesen Handwerkern nur in wegwerfenden Tone sprechen, beistimmen und
Shakespeare bewundern müssen, der uns in seinen Dramen aus der römischen
Geschichte mit so richtigem Tacte dieses Geschlecht gezeichnet, ganz so bornirt
und feige, so dreist, so wetterwendisch und so schäbig, wie es wirklich war.
nur vielleicht weniger verrucht und verkommen. Freilich ist es nicht die Plebs
aus der Zeit des Coriolan. es ist die Plebs überhaupt nicht, es ist vielmehr
der Handwerkerpöbel, der es zu einem Handwerkerstande nicht bringen konnte,
jener Pöbel aus der Zeit Cäsars, ohne Credit, ohne Hoffnung, ohne Heimat
und ohne Vermögen, der über Brod und Fechterspielen die Ehre verloren hatte,
das Gefühl der Pflicht und den Sinn für das Vaterland und für die Götter
der Ahnen. War er schon in alter Zeit durch die Ungunst der Verhältnisse
erniedrigt, so daß die Tochter eines Handwerkers ebenso wenig wie die eines
Sklaven Hüterin des heiligen Feuers der Vesta werden konnte, so war jetzt durch
eigne Schuld die Erniedrigung eine so tiefe und völlige geworden, daß an eine
Erhebung aus eigner Kraft nicht mehr zu denken war. Die Hilfe mußte von
Außen kommen.
Daß bei dem Drucke, der auf dem Handwerkerstande lastete, und bei der
nüchternen und aus das Praktische gerichteten Anschauungsweise der Quinten
die Kunst sich nicht selbständig aus dem Handwerke entwickeln und zu hoher
Geltung gelangen konnte, war natürlich. Der Römer erkannte in früherer
Zeit wol gar keinen, und auch später nur einen geringen Unterschied an zwi¬
schen banauser Thätigkeit und höherem künstlerischen Schaffen, was uns um
so weniger Wunder nehmen wird, wenn wir bedenken, daß selbst bis auf die
neueste Zeit „Künstler, Professionisten und Handwerkern" von der Gesetzgebung
wett intelligenterer Staaten oft genug zusammengeworfen worden sind, wie
dies unter andern in „Ihrer Churfürstlichen Durchlaucht zu Sachsen :c. Man¬
dat die Generalinnungsarticul der sächsischen Lande betreffend" geschehen ist,
das heißt in einem Statute, welches zwar im Januar 1780 ausgestellt wurde,
aber in der Hauptsache noch heute als maßgebend für Künstler- und Hand¬
werksgenossenschaften gilt. Wie schwer es das Vorurtheil der Römer dem
Fabius Pictor gemacht hat. seinem Drange zu künstlerischer Gestaltung zu ge¬
nügen, darüber haben wir hinreichende Andeutungen. Zu eigentlich römischen
Kunstschöpfungen kam es daher nie: Etrusker und Griechen waren wol die
ältesten Künstler in Rom, und die letztern wenigstens blieben es. so lange von
Kunst überhaupt die Rede war.
Diese Abneigung gegen das Handwerk und alles was damit irgend wie
im Zusammenhange stand, ging dann sogar so weit, daß Dichter und Denker
es nicht über sich vermochten und wol auch kaum fähig dazu waren, das Hand¬
werksmäßige, welches der Poesie und Wissenschaft die Wege bahnt, das Sam¬
meln des Stoffes und das emsige Herbeitragen von tausend einzelnen Fäden,
die sämmtlich in das neue Gewebe mit hineingewebt werden sollen, selbst zu
besorgen. Das Material zu seinem Gedicht vom Landbau, dem originalsten
Dichterwerke Virgils, lieferten dem mantuanischen Poeten griechische Freunde :
der Stoiker Diodotus aß sicherlich nicht umsonst das Gnadenbrod in Cicero's
Hause, und Tiro hatte seine Freilassung gewiß redlich verdient. Wenn trotz
dieser sehr wesentlichen Beihilfen es dem Cicero mehrmals begegnet ist, daß
er sich arge Begriffsverwechsclungen zu Schulden kommen läßt, so beweist dies
nur, wie schwer es dem Römer wurde, sich in ein fleißiges, strenges, straffes
Ais der Verfasser im Lauf seiner Wanderung durch die Stadt das be¬
rühmte alte Schloß suchte, wußte ihn niemand zu bescheiden. Erst als er nach
der Kaserne fragte, wurde er dahin gewiesen. „So sehr schon scheint das
Volk seiner eignen Vergangenheit zu vergessen. Ihre Unzufriedenheit kennt
den historischen Grund nicht mehr. Sie haben sich an die Veränderungen der
neuen Zeit zur Genüge gewöhnt, und ihr Groll ist der Groll eigensinniger,
unvernünftiger Kinder. Sie wissen selbst nicht, was sie wollen, und haben
nur das dunkle Gefühl, daß es zwei Parteien gebe, von denen die Engländer
die Unterdrücker, die Jrländer die Unterdrückten seien,"
Ein alter irischer Corporal von den Invaliden machte den Führer des
Reisenden bei einer Besichtigung des Schlosses. Er gab sich, offenherzig
geworden, als Patriot zu erkennen, der den Engländern ihre Grausamkeit bei
der Einnahme von Limerick und ihren Bruch des nach Sarssields Besiegung
hier unterzeichneten Vertrags nachtrug, welcher letztere den Jrländern das Recht
des Besitzes, des bürgerlichen Erwerbs und der freien Religionsübung versprach,
und brachte ihn, nachdem er ihn in der Ruine zurecht gewiesen, in eine Schenke,
wo der Reisende Gelegenheit fand, die Bekanntschaft andrer Patrioten zu
machen.
Ich stieg, erzählt der Verfasser auf die Schulter meines Corpvrnls ge¬
stützt, nieder, und selbande, veilies-en wir das alte Gemäuer. Wir gingen
über die Thonort-Brücke. Auf der andern Seite, nicht weit von dem letzten
Pfeiler, rechts, liegt ein großer, schwarzer Stein, lief in die Erde gesunken.
Die Zeit hat an seinen Ecken genagt, er ist vom Regen der Jahrhunderte
zerrissen. und zerklüftet. Aber wol erkennbar noch ist die obere Fläche, die
wie eine Tischplatte das Ganze bedeckt. „Dies ist der Stein des Vertrages/'
sagte der Corpornl. Ich blieb stehn, um mir die Umrisse desselben in mein
Tagebuch zu zeichnen. Wenige Schritte davon, gegenüber,, liegt M'Donalds
Whiskeyschnnk, ein kleines, stockirisches Haus, in dem es immer hoch und laut
herzugehn pflegt. M'Donald ist ein eifriger Patriot; und die Patrioten ver¬
sammeln sich bei ihm und trinken seinen Whiskey und machen in seinen vier
Wänden, wo sie Niemand hört, Lärm und fluchen gegen die Engländer. M'
Donald stand aus der Schwelle, während ich beim Stein verweilte; der Cor¬
pora! trat zu ihm. und bald ward ich gebeten, einzutreten. Der Raum war
eng, und viele Männer mit erhitzten Gesichtern saßen aus Fässern und Bän¬
ken umher, und die kleine niedliche Frau des Wirths stand hinter der Barre.
Sie kam hervor, um mich zu begrüßen. „Führe den fremden Herrn hinaus,"
sagte M'Donald, und gab dem Corporul ein Glas starken Whiskeys. Die
Frau ging und ich folgte ihr eine kleine, enge Treppe hinauf; dann traten
wir in ein helleres Gemach, das gegen den unteren Raum wie ein Staats¬
zimmer aussah. „Hier, lieber Herr," sagte sie, „könnt Jhrs lesen," dabei
wies sie aus ein mit großen Buchstaben bedrucktes Blatt, welches, unter Glas
und Rahmen gefaßt, auf dem Tische lag. Es waren die Artikel des Vertrags
von Limerick. Ich stand noch, über sie gebeugt, um zu lesen, da trat M'Do¬
nald wieder ein und sagte, „wir wollen hinuntergeh» und einen Vortrag
halten," und nahm die Artikel mit sich in den Schankladen und wir folgten
ihm dahin. Seine Kunden, die Männer mit den erhitzten Gesichtern, voran
der Korporal mit i>em Pfeifchen, der inzwischen auch schon mehr als ein Glas
auf meine Gesundheit und meine Kosten geleert hatte, stellten sich um den
Wirth und hörten zu, während er die Artikel, einen nach dem andern mit
lauter Stimme und rednerischen Pathos vorlas. Als ich ihn am Ende, da
ein tiefes Murren durch den Kreis ging, fragte, was denn nun diese Artikel
mit jenem Steui zu thun hätten, da erwiderte er: „diese Artikel sind auf je¬
ne!» Stein unterzeichnet worden, und der Engländer hat diesen Artikel hier
gebrochen, und diesen hier" — und dabei zeigte er auf den ersten, den drit¬
ten, den siebenten Artikel.
„Er hat sie Alle gebrochen, nicht Einen hat er gehalten!" rief ein Mann
mit dickem braunen Bart, ein herkulischer Mann, ziemlich anständig gekleidet
und nicht ohne Anschein von Bildung. „Ihr wollt wissen," sagte er, an die
Wand gelehnt, „was jener Stein bedeute? Er ist ein ewiges Denkmal für
englischen Treubruch und irische Tapferkeit!" Ein Mann mit weißem Haar
und blöden Augen, aber ein pfiffiger Mann und von großer Geltung unter
seinen Genossen, der auf einer umgestürzten Tonne saß, sagte, daß er die Eng¬
länder hasse und daß er die Franzosen liebe, und daß die Iren und die
Franzosen Verwandte und Brüder seien im Glauben und im Blute, und daß
die Franzosen noch einmal kommen würden, um ihnen ans dem Elend zu
helfen; und wenn sie kommen", schloß er, „so sollen sie die besten Salme
aus dem Shannon und den besten Whiskey aus M'Donalds Keller haben
— und weil Ihr ein französischer Mann seid, so heißt Euch O'Laery von
Limcrick willkommen und reicht Euch sein Glas, um mit ihm auf das Wohl
von Irland zu trinken!"
Ich wagte nicht zu widersprechen, noch den Trunk abzulehnen. Aber mir
ward bang zu Muthe. Denn es war eine schwüle Luft, zum Ersticken, in
dem aller Ausdünstungen vollen Raum, und die vom Spiritus entflammten
Gemüther der Männer fingen l an auf unheimliche Weise zu phosphores-
ciren.
„Heida! und wenn die Franzosen kommen, so will ich mit ihnen gegen
die Engländer stehn," rief mit einem plötzlichen Ansbach der kleine Corpo¬
ra! im rothen Rock der Königin, der bisher nur geraucht, zugehört und ge¬
schwiegen hatte. „Heida! ich bin auch kein schlechterer Jrishmann, als Ihr
Andern, und ich trinke mit Allen auf das Heil unseres Landes und unseres
Volkes!"
„Es wird blutige Arbeit in Irland noch geben," sprach ein steinalter
Mann, der in einem Winkel zusammengekauert auf einem niedrigen Schemel
saß. Sein Auge hatte den kalten Glanz des Alters, welches am Grabe steht,
und seine Stimme, indem er sich erhob, hatte etwas prophctenhaft Tiefes, das
mich erschütterte. „Blutige Arbeit," wiederholte er, „und Schlachten auf
Schlachten. Ein Weib wird stehn auf dem höchsten Graben im Lande, drei
Tage lang, ohne einen einzigen Mann noch erblicken zu können. Die Kühe
werden dastehn und niemand wird sie melken; der Herbst wird verloren sein,
weil niemand da ist. um zu erndten, und die Geister aller Ermordeten werden
durch das Land gehn, um die Mitte des Tages. Am Ende wird die letzte
Schlacht geschlagen werden an den Ufern des Loughail, welcher genannt ist
„See der Sorgen". Drei Tage lang wird eine Mühle rund gehn von dem
Blute der Erschlagenen, bis am Ende das Heer von Irland die Fremden in
den See getrieben haben wird, wo der letzte von ihnen ertrinken wird . . ."
In diesem Augenblicke, wo M'Donald, das Todtenschweigcn, welches den
ergreifenden Worten gefolgt war, unterbrechend, an eines der Fässer gegangen
war, um das Glas des Corporals noch einmal zu füllen, that sich die Thür
auf, und herein trat ein alter Bekannter — der Werbesoldat von heut Morgen.
Sein englisches Gesicht war ganz roth vor Kälte und die bunten Bänder an
seiner Mütze, feucht von Nebel und Regen, hingen in einem Bündel schlaff
hernieder. Aber er war nicht allein. Es umgaben ihn drei, vier junge Bursche
in zerrissenen Rocken, welche Handgeld genommen hatten. Auf die Schultern
waren ihnen einige bunte Bänder geheftet worden. Alles war stumm, da die
neue Gruppe eintrat; der herkulische Mann und der pfiffige Mann und der
Corpora! drückten sich in die Ecke um den Steinalten Propheten zusammen und
schwiegen, als ob sie nie ein Wort gesprochen hätten. Aber um so lauter
trumpfte der Werbesoldat aus. „Holla! Whiskey her für meine Jungen!" rief
er, als er noch nicht halb eingetreten war — „Whiskey her für die leichte
Fußgarde Ihrer Majestät — und ein Schuft, wer nicht einstimmt, wenn ich
rufe: Gott schütze die Königin und ihr Reich!"
Die drei oder vier Jungen besannen sich nicht viel; sie sahn aus, als
ob sie lange nichts gegessen und noch viel länger nichts getrunken hätten —
sie stürzten das ihnen gebotene Glas rasch hinunter und aßen die Bretzel dazu,
die ihnen gereicht ward, und schrien, den Mund ganz voll, zwischen dem Kauen:
„Gott schütze die Königin!" Die Andern aber schwiegen. „Warum sitzt Ihr
da so still?" rief der Werbesoldat, sich trotzig umkehrend. „Und Du, — Hund
von einem Corporal — warum rufst Du nicht mit. wenn wir das Wohl unsrer
allergnüdigsten Königin trinken?" „Mein theurer Herr." erwiderte der Corpo¬
ra!, dem vor Schreck das Pfeifchen ausgegangen war, „mein Glas ist leer
und . . ." „Und Du willst, daß der Diener Ihrer Majestät es fülle? Wolan,
im Namen der Königin! füllt ihm das Glas!" M'Donald, dessen Gesicht wäh¬
rend der ganzen Scene finster gewesen war. ging an's Faß und füllte; aber
er sagte kein Wort. Der Werbesoldat mit seinen Burschen und der Corpora!
stellten sich zusammen, stießen mit den frisch gefüllten Gläsern an und der
Ruf: „Gott schütze die Königin!" ging durch denselben Raum, der wenige
Minuten vorher noch der Zeuge des Begeisterungsrausches für Irlands Freiheit
und Irlands Glauben gewesen. — Ein neuer Lärm und von der grad ent¬
gegengesetzten Art als der. welcher mich empfangen hatte, setzte sich in McDo¬
nalds Whiskeyschank fest, die neuen Gäste ließen sich tumultirend auf den
Sitzen der früheren, die sich langsam und Einer nach dem Andern entfernten,
nieder, und heimlich trug man die Artikel von Limerick wieder hinauf in das
Staatszimmer vom ersten Stock. Auch ich ging und der Corpora! mit mir.
Aber schweigend und gesenkten Hauptes schritt er hinter mir her; ihm war
offenbar zu Muthe, wie nach einer Niederlage, und er wagte lange nicht, mich
anzusehn oder anzureden. Und also, ungestört von ihm, der wie das erbcn-
mungswerthe Schicksal von Irland selber hinter mir herwandelte, setzte ich
meinen Weg längs der Ufer des strömenden Shannon fort. —
Die Zahl der politischen Tageblätter Londons beläuft sich auf elf.
Morgenblätter sind: Times, Morning Chronicle, Morning Post, Morning He¬
rald. Morning Advertiser und Daily News; Abendblätter: Globe und Sun;
sogenannte Pennyblätter: Daily Telegraph, Star (Morning- und Evcning Star)
und Standard. Der Expreß ist eine bloße Abendausgabe der Daily News,
der Public Ledger und die Shipping and Merkantile Gazette sind zwar eben¬
falls Tageblätter, aber fast ausschließlich commerciellen Charakters.
Das älteste unter den großen Tagesblüttcrn ist das 1769 gegründete Mor-
ning Chronicle. Sein erster Herausgeber Mr. Woodstall war ein großes
Talent, dessen Nachfolger, James Perry ein noch bedeutenderes. Das Blatt
war damals ein Organ der Whigs, deren Sache es auch unter der Redaction
Blocks vertrat. Unter dessen Nachfolger. Mr. Doyle, ging es zu den Peeüteu
über, bei denen es bis :8S4 aushielt. Von da an geriet!) es in raschen Ver¬
fall, so daß die Zahl seiner Abonnenten, die damals sich auf dritthalbtausend
velief, jetzt kaum mehr als achthundert beträgt. Die jetzigen Herausgeber, zwei
Jrländer, versuchten eine Zeit lang den Glauben aufrecht zu erhalten, daß das
Chronicle noch zur Schule Peels gehöre. Sie machten nebenbei Opposition
gegen Palmerston und begannen erst ganz leise, dann deutlicher und lauter,
endlich ganz ungescheut die Partei des imperialistischen Frankreich zu nehmen.
Sind die Leitartikel, in denen dies geschieht, meist gut geschrieben, so sind die
telegraphischen Depeschen das Wunderbarste, was man lesen kann, oft nichts
als Auszüge aus Briefen, welche die Times Tags vorher gebracht hat. Im
Sprechsaal, welcher sich hinter denselben öffnet, kann Jeder gegen gutes En-
tree seine Stimme vernehmen lassen: ExPräsidenten südamerikanischer Frei¬
staaten, indische Fürsten, die für ihre unveräußerlichen Rechte plaidiren u. a: in.
Fast alle londoner Blätter müssen durch Zuschüsse erhalten werden, das Chro-
nicle lebt jetzt nur von Subventionen und Eintrittsgeldern und steht in Folge
dessen im übelsten Ruf.
Das Zweitälteste politische Blatt ist die Morning Post, die 1772 von
John Bell gegründet wurde. Anfangs unbedeutend, überflügelte sie von 1795
an, wo Daniel Stuarts an die Spitze der Redaction trat, selbst das damals
wichtigste Blatt, das Chronicle, dessen Grundsätze sie in dieser Zeit theilte.
Von 700 Abonnenten stieg sie in dieser Epoche auf 7000, und noch 1803, wo
Stuarts sie verkaufte, hatte sie einen Absatz von 4500 Exemplaren. Mit dem
Ausscheiden Stuarts aus der Redaction hörte das Blatt auf, liberal zu sein
und hielt von jetzt an unter verschiedenen Redacteuren, unter denen Macintosh
vorzüglich zu nennen ist, politisch zu den Tones, während es gesellschaftlich
alle Parteiunterschicde bei Seite ließ und der Aristokratie als einem ungetheil-
ten Ganzen diente. Die letztere Eigenschaft wurde schließlich sein charakteristi¬
scher Zug. während der Toryismus des Blattes immermehr verblaßte. Nahe
Beziehungen zu Palmerston machten später die Verwirrung noch vollständiger
und ließen das Blatt gelegentlich selbst whiggistische Maßregeln und Persönlich¬
keiten vertheidigen. „High life" ist lange Zeit das Steckenpferd und die mil¬
chende Kuh der Post gewesen und ist es noch jetzt. Außerdem aber hat das
Blatt seit etwa sechs Jahren auch eine bestimmte politische Farbe wiederge¬
wonnen. Es ist entschieden napoleonisches Organ. Die Actien desselben wur¬
den, als Persiguy nach London kam, größtentheils aufgekauft, und von jetzt
an diente die Post vollständig den Gedanken und Bestrebungen des Kaisers
der Franzosen. Der jetzige Hauptredacteur ist ein Mr. Borthwick, der Absatz
dürfte gegen 3000 Exemplare betragen.
Der Morning Herald, 1780 von dem Geistlichen Henry Bade gegrün¬
det, begann seine Laufbahn gleich dem vorigen als liberales Blatt. Erst nach
Verlauf von dreißig Jahren ging es durch Sheridans Vermittelung allmälig
in das Lager der Tones über. Bade hatte sich der Partei des Prinzen von
Wales angeschlossen und trat mit diesem zur Gegenpartei über. Der Herald
ist jetzt, ein alttoryistisches Blatt, das den Most seiner Jugend längst vergessen
gemacht hat. Es gibt wenige Personen in London, die nicht ungläubig den
Kopf schütteln würden, wenn man ihnen sagte, der Herald war einst whig-
ghistisch. Die äußern Verhältnisse des Blattes sind nicht glänzend, es hat zwi¬
schen 3- und 4000 Abonnenten, die Ausfälle deckt der Carlton-Club. Durch
das Ausscheide« der Peeliten verlor die Partei und mit ihr auch ihr Haupt-
organ an Talent. Der Herald wurde langweilig, seine Artikel, mittelmäßig,
ohne Geist und Witz, der Klarheit und publicistischen Routine entbehrend,
lasen sich, als ob sie von lauter graugewordener alten Herren geschrieben
wären. Seit dem vorigen Jahr indeß hat er eine gewisse Verjüngung er¬
fahren und in Folge dessen an Ansehn gewonnen. Er tritt wenigstens in
Bezug auf die auswärtige Politik consequent. ernst und ehrlich für die alten
Tory-Grundsätze auf, und auch sein Stil ist wieder jugendlicher und straffer
geworden. Eigenthümer und oberster Leiter des Unternehmens ist jetzt ein
Mr. Johnston.
Der Morning Advertiser. 1794 gegründet, ist ein Blatt eigenster
Art. Er ist das Organ der großen und wohlhabenden Classe der sogenann¬
ten „lieensecl viotuallei-s" oder „xublieaus", zu deutsch der Destillateure, die
das Unternehmen in sehr einfacher Weise aufrecht erhält und sogar ergiebig
macht, indem jeder pudlioan sich ein Exemplar des Blattes hält, wodurch
natürlich ein beträchtliches Kapital zusammenkommt. Der gegenwärtige Re¬
dacteur ist ein Mr. Grant, der zu den eifrigsten Anhängern Palinnstons ge¬
hört. Hnuptgrundsatz desselben scheint zu sein: nicht wesentlich klüger sein,
als die Leser. Logik und Consequenz sind verpönt, fast ebenso sehr als
Gelehrsamkeit. Ursprünglich gab es nur zwei Dinge, die der Advertiser aus¬
gesprochenermaßen verfocht: die Interessen der Destillateure und die Doctrinen
der Low-Church-Männer. Dazu kam 1848 ein drittes: die Grundsätze eines
großsprecherischer, im Grunde aber zahme», oft ziemlich abgeschmackten Ra-
dicalismus. Sein Einstehn für die Lehren der Low-Church und sein Kampf
gegen Rom und die Puseyitcn ist ehrlich und jedenfalls die respectabelstc Seite
des Blattes, es ist ein Rest aus Cromwells Tagen, der sich in den unteren
Schichten des englischen Bürgerstandes erhalten hat. In Betreff seiner aus¬
wärtigen Politik nimmt der Advertiser den Standpunkt eines liberalen faseln¬
den Kannengießers em, der seine Weisheit meist aus dem Munde von Flücht¬
lingen geschöpft »ut da bisweilen Wahres, in der Regel aber Unsinn erfährt.
Seine politischen Nachrichten sind zum guten Theil Enten, die für das Bier¬
haus berechnet sind. Wie gut er über Deutschland unterrichtet ist. zeigt die
Nummer vom 7. Juli 1858. wo es unter Anderen hieß: „Warum legt Deutsch¬
land die Hände in den Schooß? Warum keine Rührigkeit im Lager der Freien?
Wol ist es wahr, daß Säbel. Kutte und Gendarmenthum mit schnöder Omni-
potenz im Lande herrschen, aber zugleich wissen wir auch, daß noch ein paar
Oasen der Freiheit, Städte wie Hamburg (!) übrig geblieben sind, wo es
den Liberalen aller deutschen Länder möglich sein würde, sich zu vereinigen
und ihre Gedanken über nationale Freiheit und Einigkeit auszutauschen." Die
tägliche Auflage des Advertiser betrug 1855 beinahe ?ovo Exemplare, und es
ist wahrscheinlich, daß er diese Zahl jetzt überschritten hat.
Durchaus andern Charakters sind die 1846 von Radicalen wie Walmslcy
und Joseph Hume und Manchestermännern wie Cobden und Bright gegrün¬
deten Daily News. Doch war das Blatt niemals eigentliches Organ der
letzteren, sondern diente nur gelegentlich als solches' da es ihnen allerdings
näher stand, als irgend eine andere Zeitung. Der erste Redacteur war Dickens.
Er gewann die besten publicistischen Kräfte zu Mitarbeitern, und die erste
Nummer war vielleicht reicher, glänzender und talentvoller als irgend eine
vorher. Indeß erhielt sich der dadurch erzielte Absatz nicht lange auf seiner
Höhe. Man suchte ihn durch Herabsetzung des Preises zu heben, mußte in¬
deß davon wieder absehn. Dickens trat von der Redaction, die ihm viel
Mühe und wenig Freude gemacht, sehr bald zurück. Auch sein Nachfolger
Forster blieb nicht lange. 1850 trat an dessen Stelle F. K. Hunt, dem 1850
der Schotte Weir folgte, welcher, wenn er grade keine besondern Talente be¬
saß, es doch bis zu seinem im September d. I. erfolgten Tode verstand, dem
Blatt eine gesicherte Existenz zu erobern, ohne das Ansehn und die Unab¬
hängigkeit desselben irgendwie zu beeinträchtigen. Die Daily News gelten
unter allen londoner Zeitungen für die gewissenhafteste und anstündigste.
Form und Gesinnung sind respectabel. Die Geldverhältnisse so geordnet, daß
Einnahmen und Ausgaben sich decken. Die Grundsätze, für welche das Blatt
ficht, sind bekannt: Freihandel, parlamentarische, sinancielle und administra¬
tive Reform. Alle Persönlichkeiten, die sich im Lauf der letzten vierzehn Jahre
in Vertheidigung dieser Principien hervorgethan haben, sind mit wenigen Aus¬
nahmen Mitarbeiter der Daily News gewesen. Dennoch fehlt es dem Blatte
wenigstens in den letzten Jahren an Frische und Lebendigkeit. Ein einschlä¬
fernder, philisterhafter Zug, derselbe, welcher die „respectabeln" englischen Mit¬
telclassen charakterifirt, geht durch das Ganze und sieht selbst aus den am
besten geschriebenen Leitartikeln, wie eine Schlafmütze aus dem Mund einer
Kanone heraus. Der Absatz des Blattes betrug anfangs bei einzelnen Num¬
mern bis 23.000 Exemplare; jetzt, soll es etwas über 5000 absetzen.
Bon den Pennyblättern, die erst seit der Mitte 1855 erfolgten Aufhebung
des Zeitungsstempels existiren, ist das älteste der unmittelbar nach Erlaß des
neuen Gesetzes von Oberst Sleigh, einem etwas zweifelhaften Charakter ge¬
gründete, jetzt einem Mr. Lewy gehörige Daily Telegraph. Es ist ein
Morgenblatt, das in den ersten Nachmittagsstunden eine zweite Ausgabe pu-
blicirt und sich durch die stilistische Gewandheit, den Witz und die Leichtigkeit
seiner Leitartikel auszeichnet, deren es meist drei, oft vier bringt. Diese Ar¬
tikel, die dem Blatt einen sehr bedeutenden Absatz verschafft haben, rühren
zum größern Theil aus der Feder der „Se. Johns" her, einer aus mehrern
Brüdern bestehenden Literatensamilie, die sich aus Journalistik eben so gut
versteht, wie die bekannten drei Schwestern Bronte auf Novellistik. Die
Grundsätze, die der Daily Telegraph versieht, find im wesentlichen die des
Radikalismus. Ueberdies tritt er in allen Fragen für Palmerston ein, was
beiläufig von der Mehrzahl der mit Talent geschriebenen englischen Blät¬
ter gilt.
Der Star, der kurz nach dein Telegraph von der Manchesterschule und
einzelnen hervorragenden Mitgliedern der schottischen Kirche gegründet wurde,
ist das Blatt der Cobdeniten Mi- exoelllznes. Es vertritt die Grundsätze des
Freihandels, der Parlamentsrefvrm und des ewigen Friedens, welcher letztere
für Cobden nur der erste Paragraph eines Handelscodex. der Wunsch einer
nüchternen, vorwiegend nach dem Nutzen fragenden Seele, für Bright dagegen
Herzensangelegenheit ist. Diese Verschiedenheit der Ansichten ist auch unter
den Redacteuren, deren vier angestellt sind, von denen Mr. Hamilton. ein
strenger Puritaner, als der erste gilt, stark vertreten. Die einen sind Frei-
hcmdelslcute und weiter nichts, aller Kirchlichreit abhold, wenigstens gleich-
giltig dagegen, die andern Schotten aus der alten Knoxschcn Schule, feurig,
fast ascetisch, in der traditionellen Engherzigkeit ihrer Secte befangen, aber,
wohl oder übel, im ernsten Dienst einer Idee. Das ganze Blatt ist redigirt
von schwärmerischen Handelsleuten und nüchternen geschäftsstrengen Schwär¬
mern. Der Star setzte im ersten Jahre seines Bestehens bisweilen 30.000
Exemplare ab, jetzt, wo außer dem Telegraph auch der Standard mit ihm
concurrirt, ist er bedeutend herabgegangen. Letzterer war früher das Abend¬
blatt des Morning Herald, dessen Schwächen er in seinen alten Tagen theilte,
indem er ebenso grämlich, superklug und langweilig wie dieser war. Jetzt
ist er seit einigen Jahren das Organ der Jungtories, die in den verdorrten
Baum neues Leben brachten und damit bedeutende Erfolge erzielten. Der
Standard war für Zulassung der Juden ins Parlament, für Abschaffung der
Church Rates, er schlug die Brücke zwischen dem Cabinet Derby-Disraeli und
vertritt noch jetzt mancherlei neue Ideen mit Talent und Lebhaftigkeit. Er
setzte zu Zeiten an 40,000 Exemplare ab, was indeß nicht hinreichte, die Ko¬
sten zu decken.
Was die gegenwärtigen Abendblätter anbelangt, so hat jetzt jede
Morgenzeitung eine correspondirende Nachmittags- oder Abendausgabe, welche
sich entweder zweite Ausgabe nennt oder einen andern Titel führt. Die
Times veröffentlichen um Mittag, bisweilen erst um zwei Uhr eine „ssoonä
säition". Dasselbe gilt von der Post, dem Chronicle und dem Advertiser.
Der Morning Herald läßt um vier oder fünf Uhr einen Evening Herald fol¬
gen, und die Redaction der Daily News gibt etwa um dieselbe Zeit den Ex¬
preß heraus. Alle diese Ausgaben sind ihrem Inhalt nach nichts anderes,
als die entsprechenden Morgenblätter unter Hinzufügung jener Neuigkeiten,
welche die Continentalpost im Lauf des Bormittags gebracht hat.
Nur zwei Zeitungen sind ausschließlich Abendblätter: der Sun und
der Globe. beide Nachbarn am Strand, aber sehr verschieden an Werth und
Bedeutung. Der Sun ist ein sehr mittelmäßiges Blatt. Die Principien,
die er vertritt, sind die des Radicalismus. Die Art, wie er für diese kämpft,
verräth wenig Takt und Talent. Seine politischen Neuigkeiten sind von ge¬
ringem Belang. Seine Geldverhältnisse gelten für ungünstig. Als Besitzer
wird ein Mr. Murdo Uoung genannt.
Der Globe, ein whiggistisch-palmerstonschcs Blatt, besteht seit 1803.
Er ist fast immer knapp, witzig und ungezicrt, wenn auch stilistisch etwas zu
nonchalant geschrieben und gilt bei seinen Beziehungen zum Cabinet jetzt,
wie immer, wenn die Whigs das Ruder führen, als gutes politisches Neuig¬
keitsblatt.
Die Times erschienen unter diesem Namen zuerst 1788, nachdem sie vorher
drei Jahre lang unter dem Titel „The Daily Universal Register" herausgekom¬
men. Von dieser Zeit an bis jetzt ist dieses Blatt immer im Besitz derselben
Familie, oder wenn man will, derselben Dynastie geblieben. Diese ist das
Haus John Walter.^ und John Walter der Dritte ist der jetzt regierende Herr.
Was die drei John Walter in ihrem Verhältniß zu einander angeht, so be¬
merkt man an ihnen dieselbe Entwicklung, die man in der Geschickte junger
Staaten und Fürstengeschlechter so ost wahrnimmt. Der erste schafft eine Ar¬
mee, der zweite schlüge Schlachten, der dritte wird luxuriös und human und
freut sich an Kunst und Wissenschaft, während die Minister das Land regieren.
Unter dem Gründer der Dynastie waren die Times ein Journal zweiten Ranges.
Weltblatt wurden sie erst unter seinem Nachfolger,, der von 1803 bis 1847
regierte. Der erste Chefredacteur war Dr. Stoddart, ein gelehrter und gewissen¬
hafter Mann. Ihm folgte Thomas Barres, ein großes publicistisches Talent,
ebenso scharfsinnig als taktvoll, der länger als dreißig Jahre die Leitung des
Blattes in den Händen hatte. Jetzt ist John Dekane Chefredacteur, und neben
ihm steht Mowbray Morris als Betriebsdnecror. Wer die Neben- und Sub-
editoren sind, ist ebenso wenig bekannt, als welche Personen die Leitartikel schrei¬
ben. Man hört einige Namen: Gilbert. Robert Löwe. Dallas, Reverend
Marchmont. Man weiß, daß Albert Smith und William Russell bisweilen
eine Leadersvalte füllen, daß der Pseudonyme „Mercator" der Lord Overstone,
der Wcstendgeistliche der Reverend Mr. Mozley ist, daß der Musikkritiker Oxenford.
der Cityartikelschreiber Sampson. der pariser Korrespondent O'Meagher heißt.
Aber das Aufzählen dieser wenigen Namen zeigt den 1200 Leitartikeln gegen¬
über, die jährlich erscheinen, wie wenig man weiß.
Ueber den Inhalt des Blattes und seine oft getadelte Principlosigkeit lassen
wir den Verfasser des angeführten Buches ausführlicher sprechen. Er sagt:
„Die Sache selbst, in dem Sinne wenigstens, in dem sie getadelt wird,
ist ein Factum, über das es nutzlos wäre, hier weitere Worte verlieren zu
wollen. Ebenso wenig möchte ich hier den alten Streit aufnehmen, ob es für
eine Zeitung gerathener und ehrenhafter sei, ein Princip in aller Intaktheit
aufrecht zu erhalten, oder ob es sie besser kleide und ihr mehr zum Verdienst ge¬
reiche, sich den unerbittlichen Thatsachen gegenüber zu accommodiren. Diese
Frage mag immerhin in suspenso bleiben; ihre allgemeine Beantwortung, so
oder so. würde doch keinen Maßstab für die Beurtheilung der Times ab¬
geben. Die Times sind nun mal kein Blatt wie andere Blätter. Wie es
eine Zeit gab, wo man von „Ausnahmemenschen" zu sprechen liebte, so sind sie
das Ausnahmeblatt. Sie haben Anspruch darauf, mit ihrer eignen Elle gemessen
zu werden. Ob ihr Ruf und Ruhm ein künstlich unterhaltener ist. ist gleich-
giltig; so lange er da ist. ist er ein Factum und hat genau so viel Macht und
Stärke, wie der Glaube stark ist, der freiwillig eine räthselhafte Machtfülle auf
sie überträgt. Diese Machtfülle erhebt die Times nicht nur weit über andere
Blätter, sondern schafft einen andern Sittencodex für dieselben. Sie hat die
Macht, den Einfluß, die Bedeutung eines Staats, und jede Art freier Action.
die Staaten für sich in Anspruch nehmen, bildet ebenso ein natürliches Vor¬
recht der Times. Das Blatt fühlt seine Kraft und handelt danach. Einer
Redaction, um deren Gunst und Bündniß sich die größten Staaten beworben
haben, wie man sich seiner Zeit um die Gunst des ersten Napoleon bewarb,
ist kein Vorwurf daraus zu machen, wenn sie sich schließlich selber als Gro߬
macht fühlen lernt und Politik macht nicht nach einem Parteiprogramm, nicht
diesem oder jenem Princip zu Liebe, sondern mit alleiniger Rücksicht auf das.
was sie als ihr eignes und als das allgemeine Wohl zu erkennen glaubt.
Daher die immer wieder und wieder gerügten Inconsequenzen. daher das im
Stichelassen alter Freunde, um sich im selben Augenblicke mit denen zu ver¬
binden, die sie noch eben auf's Bielersee bekämpfte. Jeder, der die Times
liest, wird bemerkt haben, daß sich ihre Leitartikel nicht die geringste Mühe
geben, solche Uebergänge aus einem Lager in das andere zu vermitteln. Man
will nichts cachiren und operirt prunkhaft und rücksichtslos, weil man das
Recht in sich fühlt, so zu thun. ' Wer Anstoß daran nimmt, hat sich nie klar
gemacht, was die Times sind und nicht sind. Gemäß ihrer Machtstellung
schließen sie Allianzen und lösen sie; politische Raison ist ihr Gesetz und ihre
Moral. Wenn man diesem allem gegenüber hervorheben will, daß jeder Staat,
aller freien Wahl und Bewegung zum Trotz, doch schließlich instinctiv ein be¬
stimmtes Princip vertreten muß, wenn er nicht über kurz oder lang zu Grunde
gehn will, so darf man mit gutem Gewissen behaupten, daß es an einem sol¬
chen letzten unverrückbaren Fundament auch den Times nicht gebricht. Man
hat von ihnen gesagt: „sie glauben an gar nichts, als an die Macht des Geldes."
Das ist einfach nicht wahr, weil es nicht wahr sein kann. Jedermann weiß
es. daß es noch andere Mächte gibt. Die Times glauben an Freiheit und
Fortschritt. Wenn sie aus der Vertheidigung beider vor allem auch ein
Geschäft machen, so beweist das nicht das Geringste gegen die Aufrichtigkeit
ihrer Advocatnr. Wenn hundert und aberhundert Einzelfälle dagegen sprechen,
so vergesse man nicht, daß das Papstthum die Türken und Richelieu die Pro¬
testanten unterstützt hat. Daß Transactionen (nach außen hin) von bedenk¬
lichem Charakter vorkommen, ist möglich, aber kaum wahrscheinlich und jeden¬
falls nicht erwiesen. Sollte es aber der Fall sein, so würde das in das
Kapitel jener halben, schwankenden Beeinflussungen gehören, die zwar zu allen
Zeiten stattgefunden und dem Beeinflußten niemals Ehre gebracht haben, zu¬
gleich aber den Geschichtsforscher in Zweifel darüber lassen, ob nicht mehr eine
Dupirung des Einfluß Uebenden als ein Verrath des Beeinflußten an den
Interessen seines Landes vorliege.
Die Times, gleichviel was sie in alten Tagen gewesen sein mögen, sind
jetzt ein Aciienunternehmen. Darüber werden, so viel ich weiß, keine Zweifel
unterhalten. Aber über die Zahl und die Vertheilung der Actien weichen die
Meinungen wesentlich von einander ab. Die einen sprechen von nur zwölf,
die andern von sechszig und noch mehr Actien. Lassen wir indessen Zahl
und Vertheilung. wenigstens die exacte Feststellung beider, auf sich beruhn,
und begnügen wir uns mit der Notiznahme, daß, einer ziemlich allgemeinen
Ansicht nach, John Walter, die Orleans (der Herzog von Aumale) und Baron
Rothschild als die vorzüglichsten, wenn nicht als die alleinigen Actieninhaber
gelten. Einige nehmen dabei an. daß die Walters immer eine Actienmajorität,
wenn auch eine schwache nur, in ihren Händen festzuhalten suchten, um sich aus
die Weise leicht und natürlich den entscheidenden Einfluß zu sichern; andere hin¬
gegen sind der Meinung, daß seit Einführung und wachsender Verbreitung der
Pennyblätter der gegenwärtige John Walter selbst diese schwache Majorität auf¬
gegeben, aber Arrangements getroffen habe, um trotz alledem, frei und unbeein¬
flußt, den politischen Cours des Blattes bestimmen zu können. Man hat aus der
arti-imperialistischen Haltung der Times schließen wollen, daß sich dieselben
mit Rücksicht auf den starken Actientheil der Orleans haben verleiten lassen,
ihr selbständiges Urtheil, ihre freie Bewegung aufzugeben; man ist weiter ge¬
gangen und hat aus diesem falschen Zug auf dem politischen Schachbrett das
Erlöschen eines früheren richtigen Instincts beweisen und den unausbleiblichen
Sturz vorhersagen wollen. Gewiß mit Unrecht. Wenn es wirklich der Ein¬
fluß der Orleans oder mit anderen Worten eine bloße Geschäftsrücksicht
wäre, die den Times seit dem 2. December 18ti ihre politischen Züge und
insonderheit ihre Haltung gegen das imperialistische Frankreich vorgeschrieben
hat. so würden sich die Times bei diesem Einfluß aufrichtigst zu bedanken
haben. Meine Meinung von der Sache ist. daß die Times in ihrer Oppo-
sition gegen das kaiserliche Fräuleins, wenn nicht bona. Käs (was ich fast
bezweifle), so doch nach Klugheitsregeln handeln, die mit den zufälligen und
vielleicht vorübergehenden Beziehungen zu den Orleans herzlich wenig zu schas¬
sen haben."
Die Ursachen des Erfolges und der Herrschaft der Times wurzeln im Auf¬
rechthalten eines gewissen Mysteriums, in der Vermeidung geschäftlichen Sahle»-
drians, in dem klugen Belauschen der öffentlichen Meinung, endlich in dein
Stil und der Art ihrer Leitartikel. Die Leiter des Blattes haben das Ge¬
heimhalten förmlich in ein System gebracht, sie hüllen sich und ihre Maschi¬
nerie, ihre Mitarbeiter in eine undurchdringliche Wolke, es existirt ein gestalt-
und namenloser Editor der Times, an den unam schreibt, wie an sein Schicksal.
Alle Mittelglieder schien, eine unsichtbare oberste Gewalt ist da, die sich nie¬
mals selber, sondern nur in ihren Werken offenbart. Seit ihrem Bestehn
ferner zeigen die Times ein stetes Bestreben, besser zu werden, mehr zu leisten,
neuere Neuigkeiten zu bringen mit Benutzung der großen Erfindungen unserer
Tage. Sodann folgen die Times stets mehr der öffentlichen Meinung, als sie
dieselbe leiten und bestimmen. Es geschieht wol das letztere gelegentlich, aber
nur in Fragen, wo sich noch keine öffentliche Meinung stark herausgebildet
hat; ist eine solche vorhanden, so wird sie respectirt, und nach einigen vor¬
sichtig ausgestreckten Fühlern, die das Terrain nochmals recognosciren sollen,
zieht man sich in sein Haus zurück, um, wenn man sich im Gegensatz befand,
über kurz oder lang einzulenken. Man hat gesagt, ihre antinapoleonische Hal¬
tung sei unklug, aber sie dürften richtig gerechnet haben, und auf keinen Fall
haben sie dadurch viele von ihren 50.000 Abonnenten verloren. Der Stil
der Timesartitel endlich ist in seiner Art ein Musterstil. Er ist der vollstän¬
dige Sieg über den Kanzleistil. Lange Perioden sind verpönt, rasch hinter
einander, wie Revolverschüsse folgen sich die Satze. Der Schreiber, wenn er
überhaupt gründliche Kenntnisse besitzt, ist Stücke gebunden, seinen Schatz zu
vergraben und höchstens anzudeuten, daß er ihn Hut. Wissen und Details
dürfen sich nicht breit machen. Der gut geschriebene Timesartikel ist weniger
eine Lösung der betreffenden Frage, als eine graziöse Arabeske um dieselbe,
eine geistreiche Illustration, er will gefallen, fesseln, bezwingen. Er will nichis
erschöpfen, nur anregen, es fällt ihm nicht ein, auf alle Zeit hin überzeugen
zu wollen. Er wendet sich mehr an die leicht bestechliche Einbildungskraft,
als an den nüchternen Verstand. Witz und Pathos sind seine liebsten Waffen.
Wie Voltaire hält er nur eines für verpönt — die Langeweile.
Ueber die Wochenblätter müssen wir kurz sein. Der Verfasser des ange¬
führten Buchs theilt sie in neutrale, conservative. whiggistische, radicale und
illustrirte. Wirklich neutral sind die London Gazette, die wöchentlich
zweimal erscheint, ihrem Inhalt nach dem amtlichen Theil des Moniteur ent-
spricht und eine Auflage von 2200 Exemplaren hat, und das Court Jour'
mal, welches 588 Exemplare absetzt und nur Personalnotizen aus der Hofiphäre
und den Kreisen der Aristokratie gibt. Das Athenäum, 1828 gegründet und
in einer Auflage von 3200 erscheinend, ist ausschließlich kritisches Blatt und
vermeidet stark hervortretende Parteinahme. Die Civil Service Gazette
seit 1853 herauskommend, ist das Organ der Subalternbeamten, für deren
Interessen es ficht. Die Naval and Military Gazette kann als das sol¬
datische Seitenstück zum vorigen Blatt bezeichnet werden. Es nennt die Dinge
meist nicht nur beim rechten Namen, sondern sagt auch freimüthig, wie sie sein
sollten. Einige Spalten gehören den Vorgängen in den Kolonien, und auch
der Literatur und noch mehr dem Theater ist Raum gegönnt, da der Leutenant
aller Armeen wie viele andere Eigenschaften auch die Borliebe für das Theater
oder Ballet mit den Herren Kameraden gemein hat. Besser ist die 1833 ge¬
gründete United Service Gazette. Der Krieg, der hier geführt wird, hat einen
nobleren Charakter. Der Soldat über Alles. Die Frage, ob Roynlist oder
Republikaner steht erst in zweiter Linie.
Hochkirchliche Blätter sind die Sentinel und die Britannia, jenes hat
nur 300, dieses über 1200 Abonnenten. Den altenglischen Landedelmann
mit seiner Geradheit und Derbheit, seinen traditionellen Ansichten von Staat
und Kirche vertritt das in 1600 Exemplaren erscheinende Blatt John Bull.
Das Gegenstück davon war früher die Preß, die 1853 gegründet wurde und
gegen 3000 Abonnenten zählt. Sie hielt sich zu den Conservativen. nahm
aber innerhalb des Toryismus etwa den Standpunkt aufgeklärter Katholiken
zu ihrer Kirche ein. Der freiere vorurteilslosere Standpunkt bringt von selbst
einen freiern Ton mit sich. Das Blatt hatte etwas von dem Geist, der stets
verneint. Satire und Ironie waren seine liebsten Waffen. Die literarischen
Kritiken, die es brachte, waren elegant geschrieben. Seit 1857, wo der bis¬
herige Redacteur Coulton starb und das Blatt aufhörte, das Organ Disraelis
zu sein, ist es in den Händen der Alttones und damit hat es aufgehört, unter¬
haltend zu sein.
Bon den whiggistischen Wochenblättern ist zunächst der von Leigh Hunt
1808 gegründete, in 5000 Exemplaren verbreitete Examiner zu erwähnen.
Bis 1857 ein Organ Lord John Rüssels, jetzt mehr zu Palmerston hinneigend,
ist er mit Witz, Geist und Sachkenntniß geschrieben. Entschieden für Palmer¬
ston ist der ebenfalls sehr gut geschriebn?, in 8500 Exemplaren erscheinende
Observer, das älteste unter den Wochenblättern. Es besitzt alle Tugenden
seines Meisters, ohne seine Schwächen zu theilen, es besitzt vor allem viel
gesunden Menschenverstand, mit dem es durch alle Nebel hindurch die Sach¬
lage so erkennt, wie sie ist. Von derselben Firma, weiche den Observer er¬
scheinen läßt, wird auch Betts Life herausgegeben, welches im Wesentlichen
zwar ein Organ für Pferderennen, Boxerkämpse, Cricketspiel und andern Sport
ist, aber auch gutgeschriebne Leitartikel von liberaler Farbe bringt. 1820 ge¬
gründet hat das Blatt jetzt über 18.000 Abonnenten. Zu den besten liberalen
Wochenschriften ist ohne Zweifel der seit 1843 bestehende Economist zu zählen,
der jetzt eine Auflage von 4300 Exemplaren hat. Er ist ein mehr statistisches
und commercielles, als politisches Organ, aber wenn andre Blätter ihn als
„drei Viertel Preiscourant und ein Viertel Zeitung" bezeichneten, so ist zu
solcher Ueberhebung nicht der geringste Grund vorhanden. Der commercielle
Theil ist mit soviel Geschick redigirt. daß das Blatt nach dieser Seite hin
eine sast unbestrittne Autorität bildet. Und kaum weniger gut ist der poli¬
tische. Im Gegensatz zu ander» Handelszcitungen hat die Redaction, die zum
Ministerium in naher Beziehung steht, eine durchweg klare Einsicht davon,
daß der Handel einer Nation nicht ohne die Macht, die Ehre und die Selb¬
ständigkeit derselben blühen kann, und daß der alleräußerlichste Vortheil des
Individuums an die moralischen Eigenschaften des Ganzen geknüpft ist. Viele
von den Leitartikeln des Blattes sind Muster klarer, präciser Behandlung.
Weniger der Poliiik gewidmet ist der dem Economist verwandte Mark
Lane Expreß, der 1832 gegründet wurde und 5500 Abonnenten zählt.
Seine wöchentlichen Handelsübersichten sind allgemein geschätzt. Zwischen den
Tones und den Whigs schwankend, doch mehr zu den letztern hinneigend, ist
endlich das Saturday Review, dessen erste Nummer am 3. November
1855 erschien, und welches oft glänzend geschriebne Artikel brachte.
Von den radicalen Wochenblättern nennen wir zuerst den 1828 begrün¬
dete» spectator, der jetzt eine Auflage von 2600 Exemplaren hat. Der
hervortretendste Zug dieses Blattes ist sein Keifen gegen die Whigs, welches
Aehnlichkeit mit dem Verfahren der deutschen Radicalen hat, die früher auch
einen größeren Haß gegen die Gothaner als gegen die äußerste Rechte an
den Tag legten. Ferner gehört hierher der Leader, der 1850 auftauchte
und in etwa 1600 Exunplaren verbreitet ist. Er ist am Besten als ein
spectator charaktensirt. weicher seine Antipathien nicht auf die Whigs be¬
schränkt und seinen theoretisirender Radicalismus offen und mit Selbstbe¬
wußtsein an der Stirn trägt. Sein Hauptgrundsatz ist: „Es gibt nichts
Revolutionäreres, weil nichts Naturwidrigeres, als die Dinge fixiren zu wollen,
denn das Schöpsungsgesetz involvirt einen ewigen Fortschritt." Lewes, der
Biograph Goethes war bis 1854 Editor des Blattes, welches unter andern
Tbackeray zum Mitarbeiter hatte. EimOrgan der politischen Flüchtlinge war der
1826 gegründete Atlas, welcher 1620 Exemplare absetzte und an dem sich
lange Zeit Kossuth durch Beiträge betheiligte. Der hervorstechendste Zug des
Blattes war damals Haß gegen Oestreich; jetzt scheint die Beziehung zu den
Flüchtlingen aufgehoben, und der Inhalt hat sich wesentlich verändert.
Wenden sich die beiden vorsiehend charakterisirten radicalen Blätter an
die Aristokratie unter den Demokraten, so sind die übrigen vier radicalen Wo¬
chenschriften: Sunday Times mit 6200. Weekly Dispatch mit 40,000.
Weekly Times mit 76.000 und das eine Zeit lang von dein setzt verstor¬
benen Douglas Jerrold redigirte Lloyds Weekly Newspaper mit 96.000
Exemplaren an die große Masse des Volkes gewendet. -
Von den illustritten Wochenblättern hat die Illustrated London Ti¬
mes, die 1842 ihre erste Nummer ausgab, die enorme Auflage von 130,000
Exemplaren erreicht. Die mit ihr concurrirende, weniger gute Illustrated
Times hat es nur zu etwa 9000 gebracht. Der bekannte Punch, 1841 ent¬
standen, zählt zwischen 8- und 9000 Abonnenten.
Sehr verständig scheint uns, was Fontane über die radicalen Blätter
sagt. „Die persönliche Freiheit ist groß, und als Theil dieser Freiheit wird
das Recht betrachtet, klagen und schimpfen zu können. Das Klagen selbst ist
Zweck. Behaglich, wie das Volk sich fühlt, würde es unter allen Umständen
schwer sein, es aufzustacheln. Aber diese Absicht hat Niemand, am aller¬
wenigsten die radicale Presse. Im Volke fehlen die Pulverfässer, und in der
Presse die Blitze. Es liegt durchaus nichts Zündendes in diesen fulminan¬
ten Artikeln, es sind kalte Schläge, und es sollen kalte Schläge sein.
Mit einer unerbittlichen Logik und mit einer Schnelligkeit, die selbst eine
an Wunder gewöhnte Zeit in Erstaunen setzen kann, gehn die Ereignisse in
Italien ihren Gang: zu welchem lAusgang sie führen, steht in einer höheren
Hand, deren Rathschlüsse zu erforschen uns versagt ist. Eben so wenig kön¬
nen wir ihnen zu Hilfe kommen; uns bleibt nichts übrig als über das Ge¬
schehene unser Urtheil, über das zu Erwartende unsere Wünsche ins Klare
zu setzen.
König Victor Emanuel hat in seiner Proclamation vom 9. October sein
Ziel, seine Lage, die Geschichte seines Unternehmens mit einer antiken Klar¬
heit auseinander gesetzt, die nichts zu wünschen übrig läßt, wenn wir von
der nichtssagenden Phrase des allgemeinen Stimmrechts absehn, welches als
Rest diplomatischer Fügsamkeit unter die Stichwörter des Tages nicht zu um-
gehn war. Wenn die Gegner Italiens das ganze Unternehmen als eure
Usurpation bezeichnen, so haben wir gegen die „Correctheit" dieses Ausdrucks
nicht das mindeste einzuwenden! es ist in der That eine Usurpation, wie sie
je in der Geschichte vorgekommen ist. Das aber müssen wir bestreiten, daß
sie ohne Analogie dasteht: unter vielen andern Beispielen erwähnen wir nur
die Eroberung Englands durch Wilhelm von Oranien 1688, welche ja durch
Maculay einem weiteren Leserkreise bekannt geworden ist. Wir haben nicht
gehört, daß England durch den Sturz der verächtlichsten aller Dynastien an
Ansehn. Kraft und Wohlstand verloren habe.
Auch uns hat die Schnelligkeit der italienischen Bewegung peinlich über¬
rascht. Wir hatten gehofft, daß sie bei der Erwerbung von Toscana vor-
läufig still stehn werde. Die Aufgabe, das neue Königreich zu organisiren war
so groß, die Schwierigkeiten eines Unternehmens auf Süditalien in Rücksicht
auf die Besorgnis Europas so unübersehbar, der Gewinn, den man von dort¬
her ziehn konnte, so unbedeutend, daß wir es damals — und wir sind noch
heute derselben Ansicht — als ein Glück für Italien angesehn hätten, wenn
es möglich gewesen wäre, Garibaldi von seinem Zuge zurück zu halten. Ob
es möglich war, darüber haben wir kein entscheidendes Urtheil. Um das Ver¬
halten der piemontesischen Regierung begreiflich zu machen, erinnern wir nur
an zweierlei: daß keine Macht in Europa sich fand, den damaligen Lander¬
bestand des norditalienischen Königreichs zu garantiren, und daß England und
Frankreich aus allen Kräften sich beeiferten, durch ihre Darstellung der nea¬
politanischen Zustände die Revolution in Neapel herauf zu beschwören.
Was geschehn wäre, wenn das Unternehmen Garibaldis gleich zu An¬
fang mißlang, ist müßig zu untersuchen; nachdem es aber bis auf diesen
Punkt glückte, die Hauptstadt des Landes einzunehmen, ohne daß der König
das Land verließ, war die Einmischung Piemonts früher oder später eine lo¬
gische Nothwendigkeit.
Garibaldi ist ein Held und ein edler Mensch; daß er aber nicht den Be¬
ruf hat, einen Staat zu regieren, auch nur für Monate, hat er früher in der
Romagna. jetzt in Sicilien und Neapel auf das schlagendste bewährt. Trotz
seines Patriotismus und seiner persönlichen Liebe zum Könige war er ganz
in die Hände der Emeutiers von Profession, der Abenteurer. Schwindler und
Beutelschneider gefallen; er war ein willenloses Werkzeug in ihren Händen;
und wenn es uns menschlich betrachtet herzlich freut, daß ihm die italienische
Nationalversammlung einstimmig eine ehrenvolle Anerkennung hat zu Theil
werden lassen, so sind wir doch überzeugt, wir wiederholen es, daß seine po¬
litische Rolle zu Ende ist, Die Worte des Königs: „ich werde nie gestatten,
daß Italien ein Nest kosmopolitischer Secten wird, die sich dort ein Rendez¬
vous geben, um Plane einer allgemeinen Reaction oder Demagogie anzu-
zetteln!" verdienen die sehr ernste Erwägung des monarchischen Europa.
Aber noch ein zweiter Umstand ist in Erwägung zu zieh»: Garivnldi
war militärisch verloren, wenn ihm Victor Emanuel nicht zu Hilfe kam. Wer
diese Behauptung gewagt findet, der lese Rüstoms Briefe in der deutschen
allgemeinen Zeitung. Rüstow hat wahrhaftig keine Vorliebe für Uniformen
im allgemeinen und für die Piemontesen insbesondre, er denkt über die Mög¬
lichkeit, organisirte Armeen durch einen Aufstand zu schlagen, viel sanguinischer
als irgend ein Militär: aber er hat zugleich die Fähigkeit, die Augen aufzu¬
machen. Die Erfolge Ganbaldis, so weit sie nicht aus dem panischen Schreck
einer Regierung, die den Glauben an sich selbst verloren hatte, entsprangen,
sind einzig und allein den Norditalienern und den Fremden zu verdanken;
die Neapolitaner und Sicilianer haben recht laut geschrien, aber das Fechten
war ihre Sache nicht. Der Kern aber seines Heers war furchtbar decimirt
und an eine Ergänzung nicht zu denken. Es war ein großes, kühnes Wort,
daß er die Einheit Italiens vom Quirinal verkündigen wollte, daß er also
Frankreich und Oestreich, d. h. prachtvolle Armeen von ziemlich einer Million
gleichzeitig herausforderte; aber — vom Erhabnen zum Lächerlichen ist nur
ein Schritt.
Jetzt tritt eine geordnete und organisirte Macht ein, geführt von einem
kühnen König und von einem gewiegten Staatsmann aus der besten Schule
Macchiavells, getragen von der einmüthigen Gesinnung eines Volks, welche
sich in der neulichen Abstimmung (290:6!) glänzend bewährt hat. Wird es
dieser neuen Macht gelingen? Die Chancen stehn ungefähr so wie im Jahre
1756 für Preußen; wenn die Intervention eintritt, so ist die größte Wahr¬
scheinlichkeit vorhanden, daß Italien unterliegt; aber die Möglichkeit des Siegs
ist gegeben und das ganze cimlisirte Europa hat gerechte Veranlassung den
Sieg zu wünschen. — Denn was soll geschehn, wenn Victor Emanuel besiegt
wird? Sollen die Bourbons und die andern Regierungen, über deren Beschaffen¬
heit Europa jetzt doch vollständig unterrichtet ist. wiederhergestellt und Italien
damit verurtheilt werden, einerseits der Herd der Faulheit und Schlemmerei,
andrerseits der Herd der Revolution und Banditcnwirthschast zu bleiben? oder will
man dieses gesegnete Land einem französischen Prinzen überlassen?
Das schlimmste Vorurtheil, an welchem die öffentliche Meinung in Bezug
auf das neue Königreich Italien krankt, ist. daß sie es für einen stetigen Bun¬
desgenossen Frankreichs nimmt. Aber der Augenschein lehrt das Gegentheil.
Der bekannte Artikel des Constitutionnel weiß sehr wohl, was er will, wenn
er die von Garibaldi geleitete Revolution billigt, die von Victor Emanuel
geleitete Revolution verdammt. Denn jene arbeitete dem Mazzinismus, der
Anarchie und in weitrer Linie einer Unterwerfung Italiens unter Frankreich
in die Hände; diese dagegen, wenn sie gelingt, macht Italien von Frankreich
unabhängig Sehr richtig bemerkt Cavour, daß man einem organisirten Staat
von zwanzig Millionen Menschen keine Abtretungen mehr zumuthen wird.
Für Frankreich wird Italien der gefährlichste Nebenbuhler, denn es wird
im Lauf von zehn Jahren eine bedeutende Seemacht, welche nicht dulden wird,
daß das mittelländische Meer ein französischer See sei. Aber nicht allein die
natürliche Lage der Dinge bringt diesen Gegensatz hervor, der Kaiser der Fran¬
zosen hat auch alles Mögliche gethan, um in der Seele Victor Emanuels einen
gesunden und gründlichen Haß hervorzurufen. Die Art. wie er ihn seine Ab¬
hängigkeit hat fühlen lassen — noch heute bei Viterbo und Gaöta — wird
ihre Früchte tragen, und Cavour wird für die Jmmoralität eines zukünftigen
eclatanten Undanks zur Zeit die angemessene Phrase finden.
Warum läßt Napoleon also das ganze Unternehmen zu? — Erstens weil
in der That die Verkettung der Ereignisse so mächtig war, daß sie sich zum
Theil seiner Leitung entzog, zweitens weil er auf einen Krieg zwischen Italien
und Oestreich rechnet. In diesem Kriege tritt er, wenn Italien geschlagen ist.
als Vermittler auf und nimmt zur Entschädigung Neapel und Sicilien; oder
wenn Preußen sich einmischt, sucht er mit Hilfe der Italiener die Rheinprovinz
zu erobern, überzeugt, daß die Haltung der Mittelstaaten durch Beihilfe einiger
Ueberraschung einen Rheinbund herbeiführen muß.
Im Interesse der Menschheit liegt, daß Italien der Spielraum einiger
Jahre gegeben wird, um zu zeigen, ob dieser einst so edle Volksstamm fähig
ist, seine alte Stellung in der Cultur wieder einzunehmen. Diese Möglichkeit
geht, so weit Menschenaugen sehn können, für immer verloren, wenn Sar¬
dinien zertrümmert wird.
Im gemeinschaftlichen Interesse Preußens und Englands liegt, Oestreich
vom Kriege zurückzuhalten. Unter dieser Bedingung wird Frankreich jeder
Vorwand genommen, sich in die italienischen Händel einzumischen; denn Pie-
mont seinerseits wird die Oestreicher entschieden nicht angreifen. Gelingt es
dem italienischen Staat einige Jahre hindurch sich zu consolidiren, dann wird
von Seiten Europas die Frage an Frankreich zeitgemäß sein, was es in Rom
zu suchen hat? Bis dahin werden sich auch die östreichischen Verhältnisse auf¬
geklärt haben, und dann wird das natürliche Gleichgewicht Europas, auf die
Uebereinstimmung der Fürsten mit ihren Nationen gegründet, stark genug sein,
das kriegerische Gelüst des Bonapartismus in Schranken zu halten. Wir ge-
hören nicht zu den unbedingten Friedensaposteln, aber die Lage der Dinge
ist heute unzweifelhaft von der Art. daß es heißt: Zeit gewonnen, alles ge¬
Der „Economist" stellt aus Anlaß der Dazwischenkunft Victor Emanuels im
Kirchenstaate und Neapel über öffentliche Gerechtigkeit und öffentliches Recht
Betrachtungen an, deren Gedankengang in Kürze folgender ist:
Ein Machthaber, welcher seine Truppen in das Land eines Nachbarn, mit dem
er in Frieden lebt, führt, um revolutionäre Bewegungen zu unterstützen, gar wenn
diese zuletzt zu seinem eigenen Vortheil und seiner Vergrößerung ausschlagen sollen, be¬
geht ein schreiendes Unrecht und eine offene Verletzung des europäischen Völkerrechts.
Allein es gibt Fälle, wo der Bruch des öffentlichen Rechts den größten Dienst der
öffentlichen Gerechtigkeit leistet.
Wenn anzunehmen ist, daß in den Streit zwischen Herrscher und Unterthanen
Dritte sich nicht einmischen sollen, so muß dieser Grundsatz ganz und vollständig
gelten. In Italien hat die Einmischung auswärtiger Mächte von 1315 bis auf
die neueste Zeit stattgefunden, aber nur zu Gunsten der Herrscher gegen die unter¬
drückten Unterthanen, und es ist unbestreitbar, daß ohne fremde Hilfe die bekannten
Zustände in Italien nicht hätten besteh» können. — In diesem Jahre findet zum
erstenmale eine Dcizwischcnkunft statt zu Gunsten des Rechts, der Gesetzlichkeit, der
politischen Einigung, der Befreiung von einem unerträglichen Regiment, welches durch
fremde Söldner allein gestützt wurde. Die Dazwischenkunft geht auch nicht von
einem fremden Fürsten aus; denkt, was auch die Diplomatie dazu sagen mag,
die Italiener fühlen sich als Brüder, die Bewohner des Kirchenstaats und Neapels
halten Victor Emanuel und seine Truppen nicht für Fremdlinge.
Endlich darf das bestehende Recht nicht, wie in Rom und Neapel geschehen,
vorgeschützt werden, um die höher stehenden Gebote der Gerechtigkeit und Mensch¬
lichkeit mit Füßen zu treten. Die solches thun, verwirken den Anspruch auf ein
Recht, welches sie um alle Achtung bringen, und auf Beistand. Bevor man daher
das Einschreiten Victor Emanuels im Kirchenstaat und in Neapel als einen Bruch
des Völkerrechts und einen die Zukunft aller bestehenden Verhältnisse gefährdenden
Vorgang verdammt, möge man die Sünden der gestürzten Regierungen in die
Wagschale legen und angeben, wo ähnliche Sünden zu finden sind, welchen das
Einschreiten Piemonts ein gefährlicher Vorgang werden könnte.
Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern bearbeitet von
einem Kreise bayrischer Gelehrter. Erster Band. Erste Abtheilung: Ober- und
Niederbayern. München, 1860. Literarisch-artistische Anstalt der I. G. Cottaschen
Buchhandlung. —
Eine sehr werthvolle Arbeit, die wir allen Freunden detaillirter Schilderungen deut¬
schen Landes und Lebens angelegentlich empfehlen. Dieser Halbhart umfaßt das eigent¬
liche Baycrland und gibt zunächst eine Uebersicht der geognostischen Verhältnisse der bay¬
rischen Alpen und der Donau-Hochebne (von G. W, Guadet), dann die Grundzüge
der Klimatologie (von C. Wittwer), die Vegetationsverhältnisse (von O. Sendtner)
und die Thierwelt (von Dr. Fahrer). Hierauf schildert ein zweites Buch Oberbayern.
Wir werden zuerst mit dem Lande, insofern es Grundlage des Volkslebens ist, be¬
kannt gemacht, erhalten dann sehr genaue und ausführliche statistische Angaben, dann
ebenfalls ausführliche Mittheilungen über die verschiedenen Geschichts- und Ka-.st-
denkmale, hierauf eine vortreffliche Schilderung des Volks nach Haus und Wohnung,
Sitte und Sage. Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit der bayrischen Mund¬
art, wieder ein andrer mit der Nahrung des Volks, ein fernerer mit den verschiedenen
Zweigen der Betriebsamkeit (von G, May). Dann folgt eine Abhandlung über die
Geschichte der Volksbildung und des Unterrichts, und zum Schlüsse geht das Werk
zu einem Abriß der Ortsgcschichte über. Das Verfahren der Mitarbeiter ist allent¬
halben ein wissenschaftliches, ohne daß dadurch die Benutzung des Buchs in weitern
Kreisen ausgeschlossen wäre. Wir behalten uns vor, in einem der nächsten unsrer
Hefte einen Auszug aus dem zu geben, was es über Sitte und Brauch, Lebensweise,
Trachten und Aberglauben in den betreffenden Kreisen enthält. Der zweite Band soll
die Oberpfalz und Schwaben, der dritte Mittel- und Oberfranken, der vierte und letzte
Unterfranken und die Rheinpfalz beschreiben. Wir wünschen dem Unternehmen guten
Fortgang und werden demselben als einer bedeutenden Erscheinung seiner Art aufmerksam
folgen. Es wäre schön, wenn es in andern deutschen Ländern Nachahmung erweckte.
nach den Entdeckungen
von Burton, Speke, Krapf, Rebmann, Erhardt und Andern, bearbeitet von Karl
Andrea. Erster Band. Leipzig, H. Costenoble. 186 l.
Ein recht gutes Buch für die, welchen die Originalschristen nicht zugänglich
sind. Der erste Band enthält Burtons berühmte Reise über Kairo nach Medina
und Mekka und die 'ebenfalls sehr interessante Tour, welche denselben kühnen Rei¬
senden durch das Somaliland nach der bis jetzt noch von keinem Europäer besuchten
südostafrikcuüschen Sultausstadt Härrär führte. Die erste Abtheilung gibt uns ein
höchst anschauliches Bild der Freuden und Leiden einer Pilgerfahrt nach den heiligen
Stätten des Islam, des Rituals, welches während derselben zu beobachten ist, der
einzelnen verehrten Orte, Moscheen, Gräber, Berge, des Völkcrgewimmels, welches
sich dort versammelt und des jeßigcn Zustandes des Islam überhaupt. ' Der Ver¬
fasser des Originals hat vortrefflich beobachtet und besitzt eine Darstellungsgabe,
welche diesem Beobachtuugstalcnt vollkommen entspricht. Die Excerpte aus seinem
Buche sind gut gewählt und so verbunden, daß man fortwährend im Zusammen¬
hang bleibt. Angehängt ist dieser Abtheilung ein Kapitel über die Beduinen des
Hedschas. — Die zweite Abtheilung führt uns unter jene Araberstämme, welche
südlich vom Bab El Mandeb wohnen und von deren Verhältnissen bis jetzt nur
schwache Kunde vorhanden war. Härrär war in einen solchen Nebel von Fabeln
gehüllt, wie etwa im Westen Timbuktu. Burton erreichte es uuter großen Be¬
schwerden und Gefahren und hielt sich zehn volle Tage dort aus. Die Beschreibung
dessen, was er sah und erlebte, ist ebenso anschaulich und lebendig, als seine Berichte
über Mekka und Medina, wenn auch letztere natürlich von allgemeineren In¬
teresse sind.
—
Erzählung ihrer Reisen von Dr. E. Schauenburg, Erste Lieferung. Lahr, Verlag
von M. Schauenburg. 1859.
Die Fortsetzung der von uns bereits angezeigten „Reisen in Central-Af¬
rika". Wie dort hat der Herausgeber die betreffenden Quellen mit Geschick
ausgezogen und das Ausgczogne übersichtlich gruppirt. Was er mittheilt, kann
als das Wichtigste gelten, was die Reisenden erlebten und beobachteten. Seine
Art zu schildern und zu erzählen ist sehr gefällig und lebendig. Für das größere
Publikum ist das Buch jedenfalls anziehender als die trockne Tagebuchsform der
Originalschriften. Das erste Heft enthält die Untersuchungen und Abenteuer
Richardsons, Overwegh und Barths von ihrer Abreise von Tripolis bis zu ihrem
Eintreffen in den Marabutcndorfe Tintarhode, wo das Sudan beginnt. Wir
kommen nach der Stadt Murzuk im Fezzan, lernen die Oase Tibesti und ihre Be¬
wohner kennen, begleiten die Reisenden weiter in die Wüste hinein, besuchen mit
Barth die Gcistcrburg des Bergs Jndinen. wo derselbe nahezu den Tod gefunden
hätte, kommen zu den Tuaregs von Ghat, dann nach der schönen Berglandschaft
in der Nähe von Barakat, wohnen einem Gefecht bei, in dem die Karavane den
Angriff von fanatischen und raubgierigen Meharas abwehrt und sehen dieselbe end¬
lich durch Vermittlung und Ablauf aus drohender Todesgefahr gerettet. Das Ganze
liest sich leicht und bequem wie ein Roman, aber neben der Spannung, in der wir
fortwährend erhalten bleiben, findet sich auch reichliche Belehrung.
dargestellt von
Dr. G. Hartwig. Mit sechs Abbildungen. Wiesbaden, Krcidel und niedrer. 1860.—
Der Verfasser hat sich als geschickter Compilator populär gehaltner geographischer
Schriften schon durch seine Bücher über das Meer und den hohen Norden bekannt
gemacht. DaS vorliegende Werk ist ähnlicher Natur. Nach einer Einleitung über
die Tropenzone im Allgemeinen, die Bevölkerung und das Klima derselben folgen
einzelne Detailbilder: die Affen der alten und der neuen Welt, die Flederthicre, das
Faulthier, die Schuppenthiere, die katzenartigen Thiere, die verschiedenen Pachydermen,
Dromedar und Kameel, Giraffe und Zebra, Raubvögel, Strauße und Papageien,
Schildkröten, Eidechsen und Schlangen, Ameisen und andre Jnsecten. Dann geht
der Verfasser zum Pflanzenreich über, bespricht zunächst die Pflanzen, welche dem
Tropenmenschen seine Nahrung liefern, schildert dann das Zuckerrohr, seinen Anbau
und seine Feinde, dann nach einander den Kaffee, die Coca, Cacao und Vanille,
Baumwolle. Gewürze, Farbenstoffe und Harze der Tropen, Palmen und andere tro¬
pische Bäume. Hierauf werden die Geheimnisse des Urwalds beschrieben, dann tro¬
pische Wüsten und Steppen, endlich der Maranon, der Niescnstrom der Tropenwelt
mit seinen Armen und Nebenflüssen, seinen Ufern und Inseln. Der Stil ist lebhaft
und farbenreich, die Quellenliteratur gut benutzt, zahlreiche eingeführte Anekdoten
machen das Buch unterhaltend. Die beigegebnen sechs Abbildungen (Holzschnitte in
Jrisdruck) sind meist recht gut ausgeführt.
Oeuvres as I^ibinti?, xubliöss xour ta, xrsmiLrs lois ä'-rprös Iss mMusorits
origwinix avse notss se intracluotioirs >xar ^. ^ouclier as Oarsil.
?Aris, ?iriniu Diäöt krörss. 1. 2. —
Ueber die Art und Weise, wie diese neue Ausgabe der leibnitzischen
Werke eingerichtet ist. läßt sich soviel sagen, daß wir dies einem eignen Ar¬
tikel vorbehalten; für jetzt halten wir uns nur an die Sache. Die beiden
ersten Bände umfassen diejenigen Briefe und Denkschriften, welche sich auf die
Vereinigung der evangelischen mit der katholischen Kirche beziehn. Zum Ver¬
ständniß derselben einige einleitende Worte.
Im Laus des dreißigjährigen Krieges und mehr noch nach Beendigung
desselben war man in den höheren Kreisen der religiösen Zänkereien müde
geworden. Die Berührung zwischen den verschiedenen Völkern hatte freieren
Ansichten den Weg gebahnt, man fühlte schwer das Unglück,, welches die
Kirchenspaltung sowol in politischer als in wissenschaftlicher Beziehung über
Deutschland gebracht hatte; das gemüthliche Interesse an den religiösen For¬
men war in der allgemeinen Verwilderung mehr und mehr zu Grunde ge¬
gangen; die Fürsten und der Adel wurden durch eine immer tiefere Kluft
von dem sittlichen Leben des Volks getrennt. Aber die Theologen fuhren in
ihren Zänkereien unverändert fort, und die niedern Schichten der Gesellschaft
lauschten ihnen mit derselben Andacht wie vorher.
Nur eine von den protestantischen Universitäten schlug eine andre Rich¬
tung ein, die Helmstädter, geleitet durch den großen Theologen CaliMs.' Sie
gab sich ganz ernstlich dazu her, theils durch Schriften und Predigten, theils
im Verein mit den liberaler gesinnten Fürsten in öffentlichen und geheimen
Verhandlungen an der Wiederversöhnung der drei getrennten Kirchen zu ar¬
beiten: in Bezug auf die Dogmatik sollte man die streitigen Punkte dem Ge¬
wissen jedes Einzelnen überlassen, in Bezug auf die Kirchenverfassung sollte
man sich gegenseitig Zugeständnisse machen. Das Unternehmen war verfrüht,
denn noch war die Masse zu sehr an das tägliche Brod der Dogmen und an
die Würze der Bannflüche gegen alle Ketzer gewöhnt, und das politische Le¬
ben war noch zu wenig ausgebildet, um Ersatz für diese gemüthliche Be¬
schäftigung zu bieten. Die Helmstädter, auch Synkretisicn genannt (die Kre¬
ter, sagt der Apostel, sind allesammt Lügner und faule Bäuche), wurden als
eine neue ketzerische Sekte betrachtet, und ein berliner Prediger donnerte von
der Kanzel: „wir verdammen die Papisten, die Reformirten und auch die
Helmstädter; wer nicht lutherisch ist, ist verflucht!" — Aber aufgegeben war
das Unternehmen nicht, die Helmstädter blieben ihren Gesinnungen treu, und
die äußeren Umstände waren ganz darnach angethan, die Versuche von Zeit
zu Zeit wieder aufnehmen zu lassen.
Zunächst lag es im Interesse des Kaiser Leopold, was sein Ahn
mit theilweise glücklichem Erfolg durch brutale Gewalt angebahnt, auf dem
Wege friedlicher Verhandlungen fortzusetzen. Persönlich bigott und in seinen
Erbländer gegen die Protestanten gewaltthätig, sah er doch ein, daß er. um
ein so großes Werk durchzusetzen, sich zu Zugeständnissen werde bequemen
müssen. Die Fürsten, obgleich seit dem westphälischen Frieden so gut als
souverän, waren doch durch manche Bande des Vortheils an das Reichs¬
oberhaupt geknüpft: darunter vor allem die braunschweig-lüneburgischen Her¬
zöge, denen seit lange als Ziel des Ehrgeizes der Kurhut vorschwebte.
Unter diesen Umständen fand ein Mann, der aus reinem Eiser und mit
einer wirklich anerkennenswerther Aufopferung sich des schweren Werkes an¬
nahm, der Spanier Spinola, vielseitigen Anklang. Er war als spanischer
Gesandter und Beichtvater der Kaiserin nach Wien gekommen, und hatte schon
1660 eine kaiserliche Vollmacht erlangt; das Jahr darauf betraute ihn der
Kurfürst von Brandenburg mit der Negotiation mit der spanisch-deutschen
Handelsgesellschaft nach Indien; 1671 trat er in Verständniß mit dem Päpst¬
lichen Nuntius in Wien, eröffnete 1675 die Unterhandlungen mit dem kur¬
sächsischen Hofe, die aber durch die Erklärung des letztern, er könne ohne Ein¬
vernehmen mit den übrigen Protestanten sich auf ein so weitläufiges Werk
nicht einlassen, abgebrochen wurden, und nahm sie 1678 von Neuem in grö-
ßerm Maßstab wieder auf: diesmal betheiligten sich 14 regierende Fürsten
(Sachsen, Brandenburg, Pfalz, sämmtliche Braunschweiger u. s. w.) und einige
Reichsstädte daran. Hannover war der Mittelpunkt.
Herzog Johann Friedrich und seine Gemahlin Benedicte, eine
pfälzische Prinzessin,*) waren seit lange katholisch geworden, wie es scheint,
aus Ueberzeugung; er hatte eine große Zahl katholischer Gelehrten um sich
versammelt, mußte aber seinen protestantischen Unterthanen gegenüber doppelt
vorsichtig sein; die Unterhandlungen beschränkten sich zu seiner Zeit fast ganz
auf Gespräche zwischen Leibnitz und Spinola.
Auf der Höhe des Geistes und der Bildung, auf welcher Leibnitz stand,
erregten ihm die Zänkereien der Geistlichen, ungeschlacht und brutal, wie sie
in der Regel waren, nur Ekel. Freilich wußte er als geübter Metaphysiker
für jedes beliebige Dogma eine geistreiche Auslegung zu finden, und die rohen
Naturalisten dadurch in Verlegenheit zu setzen, aber eben darum war er geneigt,
zwischen allen Parteien zu vermitteln. Dem Volk stand er fern, er ging we¬
der in die Kirche noch in die Schenke, sein Haus war der Salon und die
Akademie. Er sah in dem Confefsionsleven nur Streit über nichtige Dinge,
Unheil für das Reich, Schaden für die Wissenschaft: statt über Gnade und
Werke zu disputiren, sollte man lieber eine Kette astronomischer Beobachtungen
durch Europa, Nußland, China einrichten; um das wissenschaftliche Leben zu
organisiren, mußte in der Kirche Friede sein: Friede und Ordnung um jeden
Preis! Wie vortrefflich war die Organisation der Jesuiten! wie schade, daß
sie dieselbe auf theologische Nullitäten wandten, statt auf ernsthafte, wissen¬
schaftliche Untersuchungen! Die Hierarchie konnte man sich wol gefallen lassen,
ja sie war der beste Ausdruck socialer Ordnung; nur mußte der Papst ver¬
nünftig sein, weder die Freiheit der Gewissen, noch die socialen Errungen¬
schaften der Protestanten durften angetastet werden. — Selbst in seinem kos-
mologischen System lag vieles, was ihn für Rom gewann: Einheit des Men¬
schengeschlechts, der Religion, der Wissenschaft, der Sprache u. f. w.! — Im
Princip war er entschieden für die Einigung; und darin blieb er unwandel¬
bar, er käm unter den wechselndsten Umständen darauf zurück; nur wenn
man ihn persönlich anging, wenn er seine individuelle Freiheit!, die Ueber¬
zeugungen seines Verstandes und seines Gemüths verleugnen sollte, trat er
schroff zurück. — Uevrigens eine conciliante. ja schmiegsame Natur, hatte er
bisher stets unter Katholiken gelebt: am Mainzer Hof, in Paris mit Arnauld.
bei Johann Friedrich; außerdem correspondirte er mit namhaften Kirchenlich¬
tern; aber jede Aufforderung, sich zu bekehren, lehnte er ab.
Spinola war ihm in mancher Hinsicht sehr bequem: auch ihm kam es
hauptsächlich auf die Einigung an; was man auf beiden Seiten nachgab, kam
erst in zweiter Linie. Ein eifriger Apostel, aber kein Kirchenlicht; in den For¬
men- sanft und zugänglich: „Der Laune nach, erzählt ein Prediger in Gotha,
Franzose; in den Manieren Italiener; Spanier, sobald er sich ärgert: aber
bei Tafel ein Vollblut-Deutscher!" — Von derselben Art war Molanus,
protestantischer Abt von Lottum. der erste Geistliche aller braunschweigischen
Lande: aus der Helmstädter Schule, friedliebend, nachgiebig gegen den Hof.
nicht ohne wissenschaftliche Bildung und zu kleinen diplomatischen Intriguen
sehr geneigt. Ganz wicLeibnitz: denn auch dieser, im Princip unerschütterlich,
wußte in der Anwendung desselben den Umständen außerordentlich Rechnung
zu tragen; seine Mittel gingen nicht aus dem Zweck hervor, sondern waren
für sich.
Nun starb Johann Friedrich 1679 und sein Nachfolger Ernst August
nahm sich mit größerm Eiser der Sache an. Im Gegensatz zu seinem ver¬
storbnen Bruder, der ganz von Ludwig dem Vierzehnten abhing, war er gut
kaiserlich gesinnt; in religiösen Dingen gleichgiltig, und dem Skandal eines
persönlichen Glaubenswcchsels abgeneigt, wollte er gern durch Union der Kir¬
chen den Kaiser verbinden, der ihn zum Kurfürsten machen sollte. Seine Ge¬
mahlin Sophie war eine der bedeutendsten Frauen der Zeit: nicht so gelehrt wie
ihre Schwester Elisabeth, die, um Cartesius ganz zu studiren, die Krone Polens
ausgeschlagen hatte; nicht so wild wie ihre Schwester Hollandine, katho¬
lische Aebtissin von Maubuisson. die kein Bedenken trug, Mr ce veutrs Mi
a xoi't6 yug.t!'ö vnd'eine.s! zu schwören, und die nur taube Nonnen um sich
duldete, um sich nicht mit ihnen zu langweilen (Bischof Bossuet pries sie noch
bei Lebzeiten als künftige Heilige!*): stolz wie die echte Enkelin eines Königs,
und doch im Stande, politischen Rücksichten ihren Ekel vor einer Mesalliance
zu opfern; von brennendem Ehrgeiz und doch sehr vorsichtig in Geschäften,
dem überlegenen Geist ihres kühlen Gemahls gegenüber; leidenschaftlich, und
doch duldsam gegen alle Maitressen Ernst Augusts, um ihren Einfluß nicht zu
beeinträchtigen; geistreich genug, um mit Leibnitz über alle mögliche Dinge zu
Philosophiren, und grade genug Weltdame, um nicht mitunter ihren Spaß
mit ihm zu haben; von sehr Hellem Verstand, ohne alles religiöse Vorurtheil:
sie wartete mit der Konfirmation ihrer Tochter bis zur Heirath, um den un¬
nützen Umständen einer etwa nöthigen zweiten Confirmation zu entgehn. So
war sie ganz für die Unterhandlungen gemacht; ihre Schwester Hollandine, ihre
Schwägerin Anna (die ihren Mann bekehrt hatte) und ihre Nichte Benedicte
nebst den andern Blaustrümpfen ihres Umgangs drangen oft in sie, sich
zu bekehren; sie antwortete artig und spöttisch; aber durch ein Kompromiß die
Zänkereien der Pfarrer zum Schweigen zu bringen: — „ist ja doch, sagte sie
einmal zu Leibnitz, das Christenthum durch ein Weib zur Welt gekommen, viel¬
leicht gelingt es mir, es wieder herzustellen."
Anfang 1683 kam Spinola mit neuen Vollmachten nach Hannover, und
brachte große Zugeständnisse mit. Nach seinen mündlichen Aeußerungen sollte
in der Säcularisation der geistlichen Güter (für die Fürsten die Hauptsache!)
und in der Priesterehc nichts geändert werden; an einem neu einzuberufenden
Concil sollten die „Ncukatholiken" als Beisitzer theilnehmen, bis dahin sollten
die tridentiner Beschlüsse suspendirt, dagegen die Oberherrlichkeit des Papstes
anerkannt werden. Für die dogmatischen Streitigkeiten worde Bossuet's
Lxxositiou cle 1a äoeti-ins as l'vglisg eattroliciucz zu Grunde gelegt, Spinola
selbst reichte eine eigne Denkschrift ein: Regulär eireo. Lürristianorum omnium
eee1ösiaLtieg.in reuuionom, welche der Herzog einer Conferenz, bestehend aus
Molanus, dein Hofprediger BarckHausen und den beiden helmstädtcr Theo¬
logen Meyer und Calixt, vorlegte. Leibnitz ging als Vermittler von einem
zum andern. Sie einigten sich, 30. Mürz'1683, zu einem Actenstück: Nvtiro-
clus rciZueericliiö uniauis eeelL«ig.Le.ioac! mehr liomaneusW et kroteLtautes,
welches in der Hauptsache Spinola's Bedingungen (z. B. Primat des Papstes)
annahm. Das lichtscheue Werk hätte schlimme Folgen haben können, wenn
es irgendwo einen festen Boden fand. So aber hatte es bei den wohlmei¬
nenden Ackerstücken sein Bewenden.
Während seines ganzen Lebens zeigt Leibnitz das fast krankhafte Streben
sich Ludwig dem Vierzehnten zu nähern und auf ihn Einfluß zu gewinnen:
aus einem Friedensstörer der Christenheit einen Eroberer der Türkei und einen
Beschützer der Wissenschaft zu machen. Zuweilen haßte er ihn — soeben schrieb
er anonym den N-un LüristiiMMnus, eine blutige Satire — aber bei dem
kleinsten Schimmer von Hoffnung eilte er ihm wieder zu. — Schon 1678
hatte er mit Bossuet correspondirt. aber über rein gelehrte Sachen, über eine
Ausgabe des Talmud; als die Lxxoöitiou ä<z la. äoctrine 4. Januar 1679
vom Papst bestätigt war, hatte er ihm Glück gewünscht, und ihn auf Spi¬
nola aufmerksam gemacht, ohne daß Bossuet darauf eingegangen wäre. Nun
wurden ihm durch Vermittlung der Frauen von Maubuisson die Reunions-
papiere in die Hände gespielt; er antwortete 22, August 1683 höflich, versicherte,
daß sein König die frommen Absichten des hannöverschen Hoff würdigte (dar¬
auf kam es Leibnitz am meisten an) legte dann aber die Verhandlungen, bei
denen er kein Ziel absah, bei Seite. Durch seine Unterzeichnung der berühm¬
ten Declaration von 1682 (über die Unabhängigkeit der französischen Bischöfe)
stand er mit dem Papst gespannt, und dem Franzosen konnte es auch nicht
einfallen, ein Project zu unterstützen, das vom wiener Hof ausging und dazu
bestimmt schien, den östreichischen Einfluß zu vermehren.
Im protestantischen Lager blieb die Sache lange verschwiegen; wo sie
verlautete, erregte sie heftigen Abscheu. Selbst Männer wie Spener und
Kunaus in Danzig. die von der strenggläubigen Partei weit entfernt wa¬
ren, äußerten sich mißbilligend; Val. Alberti, Professor in Leipzig, gemä¬
ßigter Orthodox, fragte 20. October 1683 bei Leibnitz an, was es mit Unter¬
zeichnung der Netlioäus durch zwei protestantische Theologen für eine Bewandniß
habe? die Sache sei so unerhört, daß er sie für eine schlechte Erfindung des
intriganten Spinola halte. I^tha Min sei-ibero yuomoäc) xossent viri eoe-
löstis vel'iwtiL stucliosissimi? Mvwoäo imxossibilig. xruäLntissimi? Eine
Anerkennung der päpstlichen Gewalt von Seiten der Protestanten sei ja ebenso
unmöglich als eine Nachgiebigkeit Roms! — Leibnitz antwortete ausweichend
oder vielmehr unwahr: er sei von jenen Unterhandlungen nur ganz im
Allgemeinen unterrichtet, die Denkschrift habe er gar nicht gelesen; übrigens
hatte man doch, schon der Höflichkeit wegen, der Aufforderung des Kaisers
folgen müssen; die fanatischen Katholiken seien darüber nicht minder besorgt;
und wenn auch nichts dabei herauskäme, so müsse man doch guten Willen
zeigen. — Offener sprach sich Ernst August (7. December 1683) gegen die Land¬
gräfin von Darmstadt aus, die ihn wegen jener verdächtigen Schritte zur Rede
gestellt: der Vorschlag wäre seines heilsamen Zwecks wegen nicht ohne wei¬
teres von der Hand zu weisen, die Denkschrift enthalte ganz unverfängliche
Dinge, könne aber vorerst nicht mitgetheilt werden, da dergleichen von vor-
urtheilsvoller Theologen nicht immer,, wie es gemeint, aufgenommen werde.
— Leibnitz selbst war bei der Sache nicht recht wohl; er forderte Molanus
5. Januar 1684 zur Vorsicht auf, und äußerte sich April 1684 gegen Secken-
dorf, sie würden wol beide das gewünschte Concil nicht erleben. Aber er
hatte den Vorschriften seines Herrn zu gehorchen.
Mit der hannöverischen Denkschrift begab sich Spinola Anfangs 1684
nach Rom, nachdem der Kaiser seine Genehmigung ertheilt; der Papst, meh¬
rere Cardinäle,"auch der General der Jesuiten (11. November 1684) sprachen sich
günstig aus: nur könne man wegen der Spannung mit der gallicanischen
Kirche und ihres Argwohns gegen Rom sich zu nichts Positivem verpflichten.
Mit diesem Bescheid kehrte Spinola Ende des Jahrs nach Wien zurück. —
Lichtscheu wie das ganze Unternehmen, war auch das Resultat unklar; die
Katholiken selbst, die davon wußten, hielten es für Lug und Trug. — Ein
eifriger Konvertit, der Landgraf Ernst von Hessen-Rh einsels, großer
Gönner von Leibnitz, spottete über die römischen Zugeständnisse. „Fast denke
ich, schreibt er 11. November 1684 an Leibnitz, daß manche Lutheraner, welche
glauben, daß man ihnen nur eine Falle stellt, um sie unter einander zu ver¬
uneinigen, um hinterher wenigstens mit einigen wohlfeilen Kauf zu haben,
nicht grade die einfältigsten sind, sondern eine gute Nase haben. Denn es
ist gewiß, daß man unsrerseits an wesentlichen Punkten nicht das Geringste
herunterlassen wird." — Ohnehin hatte Spinola, der 1685 das Bisthum
Wienerisch Neustadt erhielt, jetzt mit der Schlichtung der ungarischen Religi¬
onshändel zu thun, die ihn bis 1690 beschäftigten: so lange ruhten die
Unterhandlungen. — Da ein paar Fürsten und Theologen doch unmöglich im
Namen der evangelischen Kirche unterhandeln konnten, so war wol die ein¬
zige Tendenz, sie bei ihren Glaubensgenossen zu compromittiren und sie da¬
durch im Eifer des Gefechts zum partiellen Uebertritt zu verleiten. Auf diese
Wendung kamen auch die eifrigen Katholiken immer zurück.
November 1683 hatte der Landgraf Leibnitz auf das dringendste aufgefordert,
das Bekenntniß der katholischen Kirche abzulegen: nach Spener's Ansicht habe
er ohnehin den Sprung schon gethan. Die Verhandlungen darüber gaben
Leibnitz Gelegenheit, Neujahr 1684 sich ausführlich auszusprechen. „Ich glaube,
daß man in der innern Gemeinschaft der Kirche sein könne, ohne in der
äußern zu sein: z. B. wenn man ungerechterweise cxcommunicirt ist. Aller¬
dings muß derjenige, welcher durch innere Gemeinschaft ein Mitglied der Kirche
sein will, alle möglichen Anstrengungen machen, um auch in die äußere Ge¬
meinschaft der sichtbaren, an der ununterbrochnem Folge ihrer Hierarchie erkenn¬
baren katholischen Kirche einzutreten — teils <zms ^ crois etre ce pu'on
axpelle ig. lions-ins. Ich gebe zu. daß die Hierarchie zum gemeinen göttlichen
Recht gehört, weil es eine Leitung geben muß; und daß die sichtbare katho¬
lische Kirche in allen zur Seligkeit nothwendigen Glaubensartikeln durch den
ihr verheißenen Beistand des heiligen Geistes untrüglich ist. — Aber es kann-
kommen, daß in dieser Kirche sich Irrthümer und Mißbräuche in die Gemüther
einschleichen; und indem man für sie die Zustimmung derjenigen fordert, welche
einzutreten wünschen, aber von der Gewißheit des Gegentheils überzeugt zu
sein glauben, setzt man sie in die Unmöglichkeit, so lange sie aufrichtig sein
wollen, der äußern Gemeinschaft anzugehören. — Das findet nicht blos bei
Thatsachen statt, welche von den Sinnen abhängen, sondern auch bei Fragen,
welche durch Schlüsse der Vernunft ausgemacht werden (z. B. das Copenü-
canische System): weil die Ueberzeugung keine Sache ist, die von der Macht
des Willens abhängt und die man nach Belieben wechseln könnte. — Nun
werden aber einige philosophische Ueberzeugungen, welche ohne genügende
Gründe aufzugeben mir unmöglich wäre, von einigen Theologen noch immer
als dem Glauben widersprechend, gemißbilligt und mit der Censur belegt. —
Man wird sagen, daß ich sie verschweigen könnte. Aber das geht nicht an.
Denn sie sind in der Philosophie von großer Wichtigkeit, und wenn ich einst
über beträchtliche Entdeckungen der Wahrheit mich werde aussprechen wollen,
muß ich sie als Fundamentalsütze aufstellen. Wäre ich in der römischen Kirche
geboren, so würde ich nur dann austreten, wenn man mich ausstieße; da ich
aber außerhalb derselben geboren und erzogen bin, würde es weder aufrichtig
noch sicher sein, mich zum Eintritt zu melden." Vielleicht kann ihn der Land¬
graf aus dieser Ungewißheit befreien. „Denn ich bekenne gern, daß ick um
jeden Preis in der Gemeinschaft der Kirche sein möchte, wenn ich es nur mit
einer wahren Ruhe des Geistes und mit dem Frieden des Gewissens vermag,
dessen ich gegenwärtig genieße." Der Landgraf theilte das Schreiben dem
Jansenisten Arnauld mit. der (2. März 1684) nicht einsah, wie Leibnitz sein
Gewissen beruhigen könne, ohne diesen ersten Schritt zu thun, in der Hoffnung,
daß Gott ihn über seine philosophischen Ansichten aufklären werde, wenn sie
irgend einen der Religion nachtheiligen Irrthum enthielten. Sehe er aber
vorher, daß sein Vorhaben, die Menschen gelehrter aber nicht besser zu machen,
ihm ein Hinderniß sein könne, den Weg einzuschlagen, der nach seinem eignen
Bekenntniß wenigstens der sicherste zur Erlangung des ewigen Heils sei, so
müsse die wahre Liebe, die er sich selbst schuldig sei, ihn von diesem Vorhaben
zurückbringen. Leibnitz habe so schöne Einsichten in die Geometrie und Me¬
chanik, Dinge, die den Theologen keinen Anstoß geben würden, daß er die
andern Fragen wol bei Seite lassen könne. Er sprach sich zum Schluß sehr
gerührt über die Geistesqual des gelehrten Mannes aus, für dessen Seelenheil
er betete. — Die Meinungen, erwiderte Leibnitz, deren Anstößigkeit er voraus¬
sehe, gehörten zu den Grundlagen der natürlichen Theologie, und das „Einzig
Nothwendige", Gott über alle Dinge zu lieben, werde aus seiner Philosophie
mehr Kraft ziehn, als aus allem, was in den Schulen gelehrt werde. Sie
könnten also nicht unterdrückt werden, ohne den wichtigsten Wahrheiten zu
schaden. Weit entfernt, von Gewissensbissen beunruhigt zu werden, rühme er
sich vielmehr einer wahren Ruhe des Geistes, weil er lange reiflich überlegt
und seine Pflicht gethan zu haben glaube; und halte sich der innern Gemein¬
schaft der Kirche versichert, weil es nicht an ihm liege, auch der äußern zu
genießen.
Wol aber war Leibnitz noch immer bereit, den Gegensatz der Konfessionen
dadurch abzuschwächen, daß er ihn in das Gebiet der reinen Begriffe zog.
Schon März 1684 hatte er dem Landgrafen sein Vorhaben entdeckt, einmal
eine geheime Schrift über einige Controverspunkte der beiden Kirchen aufzu¬
setzen, um sie gemäßigten und einsichtigen Theologen zur Prüfung vorlegen
zu lassen. Nur dürfe man durchaus nicht wissen, daß der Verfasser kein Ka¬
tholik sei, sonst werde man gegen ihn eingenommen, und das mache die besten
Dinge verdächtig. Von dieser „unschuldigen List" versprach er sich großen
Erfolg. Dasselbe schlug er im Sommer 1686 seinem Herzog vor. Dieser
hatte sich stets gegen alle Controversen ausgesprochen: Hütte der Herr gewollt/
daß man über den geheimen Sinn mancher Bibelstellen ins Klare käme, so
würde er sich deutlicher ausgedrückt haben. — Leibnitz glaubte nun, gerade
auf diesem Wege mit Hilfe seiner neuen Metaphysik — durch welche ja selbst
der Cartefianer Arnauld in manchen Punkten überzeugt worden sei — zu einer
Ausgleichung der Gegensätze zu gelangen. Ein denkender, der Vereinigung
geneigter Mann, müsse eine Lxxositioll as I«. toi aufsetzen, in der er mit
Vermeidung aller zweideutigen und scholastischen Wendungen nur in natür¬
lichen Ausdrücken redete; diese durch die Autorität katholischer Gelehr¬
ten zu stützen suchen und sie dann dein Entscheid gemäßigter Bischöfe
unterwerfen; nicht, ob sie seiner Ansicht seien, sondern nnr, ob sie glaubten,
daß man seine Ansicht in der Kirche dulden werde. — Am ausführlichsten ist
dies im ?wjöt xour Kai- les eonti-overses ne religien si. S. i59—68) ent¬
wickelt, wo der Grund, warum gewöhnlich gelehrte Kontroversen in Nichts
auslaufen, geistvoll und erschöpfend dargelegt, und die Methode, unparteiisch
und geordnet zu verfahren. angegeben wird. — Die Schrift soll so abgefasst
sein, daß der Leser nicht errathen darf, welcher Partei der Verfasser angehört.
Alle Devalvationen und Sophismen, alle Bagatellen sollen wegfalle»: ouver-i-a
une rexreseutg-tioir si Kdels des riüscms ac Mi't et et'autre, <zue Wut lec-
teur n'aura. lzesoin ML als bon sens xoui' ^uZei-, ssurs ejue le i'-Pportsur soit
oblige als cleelcrrer fori xeuelrg.ut. Strenge Ordnung und Evidenz der ein¬
zelnen Schlußfolgerungen und energische Kürze sollen dann das klebrige thun.
— In diesem Sinne schrieb er bald darauf das LMema, Meologieum, wel¬
ches 1819 aufgefunden und für sein religiöses Testament gehalten wurde,
obgleich es nur eine Maske ist, die er aufsteckt. Er hat den Versuch, der so
recht nach seinem Herzen war (denn was kümmerten ihn im Grund diese
Kontroversen anders, als insofern sie sich begrifflich redigiren ließen!), später
noch einige Male wiederholt.
Wir übergehn die nächst folgenden Jahre (1687—1690), in denen Leib-
nitz im Auftrag seines H oss auf einer größern Reise in Wien und in Italien
abwesend war. Ganz hatten inzwischen die Verhandlungen nicht geruht;
Leibnitz. Molanus, Seckendorf u. a. blieben stets in schriftlichen Verkehr mit
Spinola. Molanus wünscht nur (15. Mai 1685), man solle vorläufig seinen
Namen aus dem Spiel lassen! nein czuocl auctoritatem inventionis exo cie-
l'ugiam, «zu-re ron xotest non hatten -rpucl heros nepotes milii esse xer-
Irouoriüelr, sondern um unnützen Skandal zu vermeiden. Leibnitz merkt (August
1688), daß Spinola darauf ausgeht, die Protestanten mit der Zeit zur An¬
erkennung des Tridentiner Concils zu bestimmen: mais it 7 of. xar des äe-
gies eouivinaes ö. l'Irumeur et s. I» xortes clef gens. Uebrigens. K bien oov-
siäerer co coueile, it u' a guere 6s psssagss <mi no reyoivent un ssns
ein'un xrotestiiut rÄisonnadle Misse -rcliuettre. Dies ist auch der Zuhält
einer ausführlichen, für den Kaiser bestimmten Denkschrift (I, 1—15), die um
diese Zeit abgefaßt sein muß, und einen Bericht über 'das bisher Geschehene
enthält: noch niemals hätten sich die Protestanten den römischen Ansichten so
genähert, als in dem hannöverschen Gutachten. Nach der katholischen Lehre
hat Gott, indem er der Kirche seine Offenbarung gab, ihr auch die Ausle¬
gung derselben anvertraut und ihr dazu den Beistand seines heiligen Geistes
bewilligt: ac sorte <zue xour etro eMoli^no, it kaut reeoimaltre ce xouyoir
vt s' 7 soumettre. Durch gründlicheres Studium der Augsburgischen Konfession
habe man sich nun überzeugt, daß die entgegengesetzten Grundsätze, qus les
protesta-of semblaient hauteur, venlüeut xlutöt ä'un rnesenteuclu, clef xaiti-
euliei-s eine als leurs livi-es autoris^s et s^mboliciues, denn die Augsburger
Confession bezieht sich ausdrücklich auf ein zukünftiges Concil on (loelaraut
<z^u' on ne äoit pA8 L'öloiAUör An sentiiueut als 1' I^life univorsellv äaus
es cui regÄräs los veritvs salutaires. Das sei also der von den Reforma¬
toren selbst vorgezeichnete Weg, und auf diesem könnten ihnen die aufrichtigen
Katholiken entgegen kommen: ohne weitere Formalitäten sollten diejenigen,
welche den Grundsatz der allgemeinen Kirche zugäben, wieder aufgenommen
werden; die scholastischen Spitzfindigkeiten möge man beseitigen, die wich-'
digerer unter ihnen dem zu erwartenden Concil vorbehalten. Was die Kirchen¬
verfassung betrifft, so solle man zwar den Protestanten gegenüber auf seinem
Recht bestehn und die Reformation nicht anerkennen: thatsächlich aber solle man
soviel als möglich zugestehn. — Nun kommt die Hauptsache. — 0u üira.
xsut-etre pus Iss bons Mutimsns ein'on vient ä'exvli<zu<zi' ne sont Ms
enoors Ä88L2 r-(M8, avou^s ni Äutori-z^s rM'mi les >ol'0es8es.it8. Lela est
biöir vrai, se en et'tot, si on los voulait xroxoser xuoliciueiueut ä<z dut
en blaue avant le loup8, ils 8or'g>nat redutes ä' adora, non xa8 taut a
cause as t'oucls', <in'a. can8L alö mille zMvvntions et ^js-IousiLS Mi eiuvZ-
eueraieut eneoie les mieux (UsovLvL cle 8'expliciuer mal a xrovos 8ur uns
luatiei-e si clelieate avant, ac voir l<Z8 ösvrits assezi prexarss. Wenn
man aber erst einige Fürsten und bedeutende Geistliche gewonnen habe, so
werde das übrige sich schon finden. So wenig verstand Leibnitz sein Volk!
Spinola nahm 1690 seine Unterhandlungen wieder aus; den 20. März
1691 erhielt er vom Kaiser eine neue Vollmacht, nachdem er sein ungarisches
Friedenswerk so weit zu Stande gebracht, daß die ungarischen Protestanten
sich nur noch vorbehieltcn, einige deutsche Universitäten und einige Geistliche,
z. B. Fabricius (damals in Basel) als Vermittler zu Rathe zu ziehn.
Leibnitz' Thätigkeit aber wurde nach einer ganz andern Seite gerichtet.
Die Bemühungen der lustigen Aebtissin von Maubuisson um das Seelen¬
heil ihrer Schwester Sophie hatten ununterbrochen fortgedauert; sie erhielten
einen neuen Schwung durch eine Vertraute, Schwester Marie de Brinou.
Diese Dame hatte früher, als Oberin des Fräuleiustifts von Se. Chr, die
biblische Tragödie ohne Liebe eingeführt; sie war aber, als ihr herrschsüchti¬
ges Wesen Frau von Maintcnon beleidigte, abgesetzt, und hatte sich nach Mau¬
buisson zurückgezogen, wo sie nun das Geschäft der Bekehrung ganz in ihre
Hände nahm. Ihr Eifer für das Christenthum war groß, ihre Rechtschreibung
nicht ganz so befriedigend. Hauptsächlich hatte sie es auf die Herzogin Sophie
abgesehn. Ihr schickte sie Pellissons lietloxions Lur 1ö8 ärMronees nig 1a
Iteligion. Pellissvn. geb. 1624, Protestant und Günstling des Münsters Fouquet,
hatte nach dem Sturz desselben fünf Jahre in der Bastille gesessen, war dann
begnadigt und durch seinen Uebertritt zur alleinseligmachenden Religion und
eine Lobrede auf den König (1670) zu hohen Würden gelangt und officieller
Geschichtsschreiber der glorreichen Regierung Sr. Majestät geworden. Mit
seiner Schrift hatte er es, wie Bossuet mit seiner Exposition aus die Bekeh¬
rung seiner ehemaligen Glaubensgenossen abgesehn. Sophie gab sie, wie alles,
Leibnitz zur Begutachtung. — Das erste Gutachten ist schon geschrieben und
enthält den Kern seiner Gesinnungen. — Leibnitz gibt zu, daß man, xonr
Lire et'une relixion, et surtout (setzt er hinzu) xour 1s. elranZer, erhebliche
Gründe finden muß: von diesen sind aber diejenigen, welche sich in die Form
einer Beweisführung redigiren lassen, keineswegs die wichtigsten; daneben be¬
steh» noch andere, die sich nicht erklären lassen, die in einer innern Wahrneh¬
mung und in einer Gesühlserfahrung beruhn, welche man andern, so wie
sie ist, gar nicht mittheilen kann. Ganz so ist es mit dem Geschmack an
einem Sonett, einer Person, einem Ragout. Dieses innere Licht, diesen gehei¬
men Rest der Wahrheit geben auch die Katholiken zu: denn außer den posi¬
tiven Gründen der Glaublichkeit, die einen verwirrten Haufen bilden und nur
,une toi Irumaine hervorbringen, verlangen sie zur vollständigen Ueberzeugung
noch ein Licht der Gnade vom Himmel. Sie können also von denen, die
sich auf das nämliche Licht berufen, nichts anderes fordern, als daß sie ehrlich
sind, daß sie wirklich das Licht zu empfinden glauben, dessen sie sich rühmen.
Da es aber mit der Untersuchung des individuellen Gewissens eine mißliche
Sache ist: — gibt es, Herr Pellisson, einen objectiven Prüfstein, das göttliche
Licht von der Illusion zu unterscheiden? — Pellisson vertheidigt die Unfehl¬
barkeit der Kirche damit, daß es nur wenig Menschen gibt, die ihren Glauben
vollständig mit Gründen belegen können: äono le peuxle g, befeilt ni'une
mar-Mo claire et iiMillibls <M gM ^ ig. Portes as tout le inonäs. Dage¬
gen bemerkt Leibnitz, es sei nicht nöthig, daß das Volk sich um alle Glau¬
bensartikel kümmere; ja er fragt, ob überhaupt irgend ein Artikel der Offen¬
barung unbedingt nöthig sei, und ob man nicht in allen Religionen selig
werden könne? vorausgesetzt, daß man Gott über alle Dinge l.lebt, xar un
-rmour et'amitie, t'vuae 8ur ses veikeetious intimes. Das ist zwar ein von
den Protestanten verworfenes Argument, das aber mehrere scholastische Kirchenleh¬
rer gelten lassen; auch manche Jesuiten gehn darauf ein. — Die Denkschrift wird
durch Schwester Marie an Pellisson geschickt, der sie 4. September 1V90 beant¬
wortet. — Er gibt ein individuelles Licht zu, dessen man aber vor dem Tode
niemals sicher sei; es könne daher nur ein mitwirkendes, nie ein bestimmendes
Motiv sein. Das von der Kirche bewahrte Licht dagegen ist untrüglich:
ZM'ce <zue Dien ne xeut ßtre contraire ü, Dien, in ig, KiÄce Z, la, Araee. —
Der untrügliche Prüfstein zur Unterscheidung der echten und falschen Gnade ist
folgender. Die falsche Gnade, nicht blos des Wiedertäufers, des Fanatikers,
sondern auch dessen, der vernünftiger oder furchtsamer, sich eine Privatreligion
für sich selbst ausmalt, kann alle Aeußerlichkeiten des Christenthums haben;
sie kann Sittenstrenge, keusch, gerecht, liebevoll, glühend sein: aber niemals
demüthig. Im Gegentheil wird sie stets kühn, stolz, hochmüthig, herausfor¬
dernd sein, denn wie kann man Demuth zeigen, wenn man in Folge der
guten Meinung, die man von sich selbst >hat, sich gegen die allgemeine Gnade
der Kirche auflehnt? Gibt es wol etwas unverschämteres, als der ganzen Erde
zu sagen: ich habe den Geist Gottes und ihr habt ihn nicht! Der, wahre
Gläubige glaubt wol auch den Geist Gottes zu haben, aber nur in Gemein¬
schaft mit der gesummten Kirche, nicht als besonderes Privilegium; er gibt
nicht das Gesetz, er empfängt es und gehorcht, zu glücklich, daß seine Unter¬
werfung statt des Verdienstes gilt. (Leibnitz bemerkte am Rand: ihr seid wol
demüthig, wenn ihr die Ketzer zu ewigen Flammen verdammt!) — D>e Kirche
macht allerdings einen Unterschied zwischen den Irrthümern des Glaubens;
aber jeder kann zur Holle führen, wenn er mit Aufruhr gepaart ist. Auch
gegen den König ist freilich nicht jedes Verbrechen gleich: ma-is it us L'ensuit
Ms <M0 (1c ä^oirirsr lo moinclrg cle so8 sans us soit un crins cligim av mort.
(Also auch, bemerkt Leibnitz am Rand, wenn ich aus Kurzsichtigkeit seine Livree
nicht erkenne und den Gruß versäume!) — Wie unglücklich ist der menschliche
Geist, wenn er sich einmal von der einzigen Regel des Glaubens entfernt hat!
(Die einzige Regel des Glaubens, sagt Leibnitz am Rand, ihr Herren von
der römischen Kirche! ist: nichts zu glauben, als was bewiesen ist.) Sobald
man zwischen Haupt- und Ncbenpunkten des Glaubens zu unterscheiden anfängt,
wird alles Willkür, denn jeder urtheilt dann nach Gutdünken. Endlich ist man
gar zu der Idee gekommen, man könne selig werden durch bloße Liebe zu
Gott! Wer sieht nicht in alledem die Unruhe und Unsicherheit bereit, die ein¬
mal vom rechten Wege abgeirrt, nicht mehr wissen wo sie sind! Es sind die
Socinianer, Deisten und Spmozisteu, welche das verwerfliche und neumodische
Wort Toleranz erfunden haben. 8i Mrmis 1ö8 xortos ä'enker xouvlütmt
xrövaloir eoutrv l'Lglisö, si Mwais 1a ivligion edrstisimv xouvs.it xvrir, es
serait xlu: not euclroit qu'vo lui xorterait ach dlössurvL moi'tsllvs. Denn
wenn man Jedem die Freiheit läßt zu glauben was er will (— nicht was er
will, bemerkt Leibnitz, sondern was er für werth hält geglaubt zu wer¬
den! —), avec cette xrcjwmluö union K, vivu alone cers,<zu6 xartieulmr fers,
lui-MLUm le Mgv vt I'iri'tiers, so gibt es keine Religion und keine Kirche mehr;
und wenn man selig wird, einerlei ob man viel oder wenig glaubt, so wird
jeder so wenig glauben als nur irgend möglich. — Ein König hat daher
ganz Recht, gegen verstockte Ketzer Gewalt zu brauchen, wenn es geschehn kann,
ohne den Staat zu zerstören. (Das Edict von Nantes war 1685 widerrufen.)
— Diesen Declamationen setzt Leibnitz eine große Mäßigung entgegen. Er
gesteht zu, daß man der Kirche uach dem Willen Gottes Gehorsam schulde;
aber keinen unbedingten. Ihre Rechtsansprüche sind nicht so sicher, daß man
mit ruhigem Gewissen allen ihren Geboten Folge leisten könnte. Die Mi߬
bräuche sind in der That arg; Leiblich geht zwar nicht so weit wie manche
Eiferer, die im Mittelpunkt dieser Mißbräuche den Antichrist suchen, aber ohne
ihre Abstellung wird man nicht zu einem dauerhaften Frieden kommen. —
Vossuet hat gezeigt, daß die Doctrin des Tridentiner Concils xeut avoir urr
sens toleradle; es wäre zu wünschen, daß die andern Gottesgelehrten seiner
Partei sich ähnlich aussprächen: aber was erträglich ist, ist deshalb noch nicht
wahr. — Freilich muß man, um seines Seelenheils willen, die wahre Kirche
suchen, und ihr gehorchen, wenn man sie gefunden hat. Aber wenn es nicht
gelingt? Nur der ist wirklich Ketzer (Irereticzue formee), der im Princip die
allgemeine Kirche nicht anerkennt; gegen den ehrlichen Willen, der nach dem
Glauben strebt, muß man nachsichtig sein: ig, toi est inerte sans 1a onarite
yui suvxlee an cletaut as la eovnaissanee. Unser Blick ist zu kurz, um die
Tiefen der göttlichen Gerechtigkeit zu ermessen; seien wir also nicht so voreilig
mit unserm Verdammen, und wehe denen, <mi entretivnnent 1s selüiZine xar
leur ebstiuatien a us vouloir eeouter raison, et a vouloir ein avoir touMirs. —
Wozu diese spitzfindigen Unterscheidungen! ruft Pcllisson. Es steht geschrieben:
wer glaubt, wird selig! nicht: wer alles thut, was er kann um zu glauben! —
Die Ausnahme für die oanti^all in volo kann nur für diejenigen gelten, die
zweifelhaft sind, ob sie sich in Hamburg oder Wien taufen lassen sollen; nicht
aber für die, die noch darüber zweifelhaft sind, ob sie sich überhaupt taufen
lassen sollen. — Die ganze Kirchentrennung ging aus spitzfindigen Fragen hervor,
deren man sich jetzt schämt, Rechtfertigung durch Glauben oder durch Werke
u. f. w. (elles ne sont xas si vaines am'on xense, bemerkt'Leibnitz am Rand).
Die Fürsten haben geglaubt, weltlichen Vortheil daraus zu ziehn, sie sehn
jetzt allgemein die Täuschung ein. (Zu-mal it nlaira an Naitre clef coeurs
ac touelrer celui ä'une granäe et ineoinxaradle princesse, en <^ni it a ac^ja
mis toutss les lunüeres ac l'esprit, et <zu'it g. peut-etre laissüe expres ins-
czsu'lei ä ig. töte ein parti protestirnt, eile rentrera en triomxlre clau8I'LgliLv
cle LL8 pores, avec une suite ac xeuxles et ac nations, et pourra naräiment
se promettre une couronne Ac Zloire, non seulsinevt äans le ciel, mais
aussi sur la terre.
Wol hatte Sophie schon damals eine Krone im Auge, aber diese konnte
ihr der Uebertritt nicht erwerben.
In seiner Antwort stattet Leibnitz Bericht über die bisherigen Verhand¬
lungen mit Spinola ab. Die Hauptschwierigkeit liegt in den Bestimmungen
des Tridentiner Concils; aber auch diese sind den Protestanten nicht so entgegen
als man glaubt. Les canons sont souvent eouenes ä'une maniere ä rees-
voir xlusieurs sens, et les vrotestans se xourraient croire en äroit ac rece-
voir celui am'ils ^UMut le xlus convenable, bis zur Entscheidung in einem
künftigen Concil, in welchem ihnen ebenso gut Sitz und Stimme zukommt als
den übrigen Sonderkirchcn. Die Italiener und Spanier, die ganz auss
Aeußere gerichtet sind, haben in der Kirche, und namentlich in Trident, zu viel
Einfluß erlangt; die Deutschen hat man ausgeschlossen, sie haben deswegen pro-
testirt: die Franzosen waren die geeigneten Vermittler. O möchte doch Gott
das Herz des Einzigen rühren, der das Glück oder Unglück der Menschen in
seiner Hand zu haben scheint! Dieser Monarch ist sür sich allein das Schicksal
seines Jahrhunderts (am Rand: it <in xeut eauser 1e in'en et 1e mal), und
aus einigen glücklichen Momenten seines Denkens könnte das Heil des Ge¬
schlechts erblühen. Er hat nur nöthig, die Fülle seiner Macht zu kennen:
si cette pruäönee reservee et sei'upulsuss qu'it lÄit xs.lAiti'6 g.u Milieu des
plus g'iÄircls Lueeös aoud un Iromme est eaxAblg, lui avait permis Ac croire
gu'it depeuclait ac lui seul no renäre le gczni'e Irumain Ireureux, sans
quo <zsui >iue e<z soit ait ete en 6tat as l'empeelrei' ot ac I'intsr-
romxre (das war Leibnitz'Aufrichtige Meinung!), tiens <in'it ir'aurait Ms
bäumen un seul moment. I.es gateut les xrinees t^idles: MN8 es ZiÄrul
roi a dsLoiir av eompreirärs toute I'^tenclue ach Äons xour kirire ce «zu'it xeut
et xour eoims-lere tout ce gu'it xsut fAire. Welche würdige Aufgabe sür die
unvergleichliche Beredtsamkeit des Herrn Pellisson! — Dieser Herr ist mit seinem
Latein vorläufig zu Ende: er schreibt an Schwester Marie, 23. April 1691,
diese Heilige möge sür den Theuern beten; Gründe können nichts helfen, denn
die wisse er ja alle besser. Der Schreiber kenne diese Lage: auch er habe in
dem nämlichen Wendepunkt dem Freunde, der ihm belehren wollte, zugerufen:
^lo us vous äsmanäe Ms ävL raisons, mai8 ach oraisons.
Das war nicht ganz, was Leibnitz wollte. Wichtiger war ihm die Notiz,
König Ludwig habe seine Lobrede gelesen, sich nicht ungnädig darüber aus¬
gesprochen, ja sogar erlaubt, sie drucken zu lassen: denn Pellisson wollte die
interessante Controverse dem Publikum nicht vorenthalten. Bis dahin war
der Briefwechsel durch Schwester Mariens Hände gegangen: Galanterien, Citate
aus Romanen, Witze hatten die trockne Theologie gewürzt; nun (Juni 1691)
wagt sich endlich Leibnitz, dem großen Manne persönlich zu nahen. Der
Deutsche thut es mit Bücklingen, die uns wehe thun, über die selbst der
französische Herausgeber die Achsel zuckt. Er legt ihm seine Personalien
vor, bekennt sich als Verfasser der Schrift as i'ure supremaws (Pellissons
Ansichten darüber sehe man I S. 284 und 296), und bittet um literarische
Beihilfe. Pellisson verspricht jede Art der Unterstützung, läßt der Herzogin
seine Devotion vermelden: es wäre wirklich gut, wenn sie sich bekehrte. Die
Korrespondenz wird gedruckt, Leibnitz ist außer sich über die Ehre, die
seinen schwachen Versuchen widerfährt, neben den glänzenden Reden des be¬
rühmten Mannes zu stehn: — „O mein Herr!" schreibt Pellisson (23. October
1691) „Sie dürfen nicht zu bescheiden sein: nos meilloui'8 «erivimis 8<me, etonnes
cis vous voir eerir<z si kran^ais; ja noch mehr, (6, Nov.) ich versichere Sie, <zu«z
les plus dadilvL vel'ivairis en notre languL 8vnd 6könne8 cle V0U8 ig, voir
xosLLÄör xresciue xlus c^ne iwus!" — Man sieht die stille Verklärung, die
sich über des deutschen Philosophen ausdrucksvolles Gesicht verbreitet. Ju
andern Dingen trägt er Selbstgefühl genug zur Schau, zuweilen mehr als man
wünscht; aber dies Lob ist doch zuviel! Ich weiß, schreibt er 19. Nov., daß
man in Frankreich gegen die Fremden sehr gütig ist, et. <zu«z ig. xroteetiou
qus vous avex äoimee u. mon ecrit, lo teront ton^ours eroirg xasizMe. Dies
Lob tröstet ihn auch darüber, daß Pellisson sich manche Aenderungen erlaubt
hat, z. B. die Ueberschrift: über die Mittel pour isunir uns dourrs xerrtio
ass MotWtÄiis! — Also nicht Kirche gegen Kirche, sondern Individuen, die
in den Schooß der alleinseligmachenden zurückkehren wollen!
Aber das große Geschäft darf doch nicht ganz stocken. — Zunächst han¬
delt es sich um die Frage, ob man das Tridentiner Concil angehn darf.
Leibnitz bekennt, seine Beschlüsse seien mit vieler Umsicht abgefaßt, aber
deshalb sei es noch nicht ein ökumenisches, allgemein giltiges. Ueberdies,
entschlüpft ihm (17. Juni 1691), kommen in der Geschichte der alten (auch
der ökumenischen!) Concile viele Dinge vor, die gar nicht erbaulich sind.
Schwester Marie kommt immer auf die persönliche Bekehrung zurück; sie führt
das Beispiel ihrer eignen Mutter an. Man muß gestehn, erwidert Leibnitz
16. Juli, das menschliche Herz hat viele Falten, los xersuasions sont eoinmv
los WÜts, NOUL-möMW 80NIM68 M8 wu^ours <Zg.Q8 Uno mont Ä88iLttc,
es <mi nous trappe äiML An temxs, ne IWU8 touoliö point clam8
II 7 entre ^not^us eiw8e c^ni nous xlr83L. Oft geschieht es, daß d,le besten
Beweise von der Welt uns nicht rühren, und daß, was uns rührt, nicht
eigentlich ein Beweis ist. Sie haben Recht, mich für im Herzen katholisch zu
halten; ich bin es sogar offen, denn nur die Verstocktheit macht den Ketzer,
und davon spricht »nein Gewissen mich frei. Die wahre und wesentliche Gemein¬
schaft, die uns zu Gliedern Christi macht, ist die Liebe (la, eliaritü): wer die¬
ser Liebe entgegen, der Wiedervereinigung Schwierigkeiten in den Weg legt,
das ist der wahre Schismatiker; wer dagegen bereit ist, alles zu thun, um
auch der äußern Gemeinschaft theilhaft zu werden, der ist in Wahrheit ka¬
tholisch. — Er theilt ihm die bisherigen Verhandlungen mit, und beschwört
noch einmal die Franzosen und ihren großen König, zwischen den Deutschen
und Italienern zu vermitteln. — Die Sachen werden an Bossuet geschickt,
Frankreichs erstes Kirchenlicht; inzwischen macht Sophie (damals 61 Jahre
alt) in einem Brief an ihre Schwester (10. Sept.) die äußerst zur Sache gehö¬
rige Bemerkung, daß es viele Protestanten gibt, die mit der Idee von Mo-
lauus nicht übereinstimmen; daß also, wenn man auf Molanus' Voraussetz-
ungen abschließe, zu fürchten sei, daß aus zwei Kirchen nicht eine, sondern
drei hervorgehn: — eine Bemerkung, die auf der Hand liegt, und die Leib¬
nitz' Scharfsinn doch ganz entgangen war!
Bossuet (29. Sept. 1691) stimmt sofort einen höheren Ton an: er ist
nicht, wie Peltisso», ein theologischer Dilettant, er vertritt sein Amt. seine
Kirche. Er ist ein offener und würdiger Gegner — „Derartige Unternehmungen
gelingen nicht auf einen Wurf; man macht sich nicht so rasch von seinen Bor-
urthcilen los. Indessen ist der Anfang immer gut. Aber, um sich nicht
zu täuschen, muß man mit Bestimmtheit vernehmen, daß die Kirche zwar,
nach Zeit und Gelegenheit, in Nebensachen und in der Disciplin^ etwas nach¬
geben kann, niemals aber in irgend einem Punkt der beschlossenen Doctrin;
nie in einem Punkt des Tridentiner Concils (das in Bezug auf die Doctrin
in Frankreich ebenso anerkannt ist wie anderwärts). — Sinais! Keine Ca-
pitulation, denn ohne Subordination wäre die Kirche nichts als un asLLmblagö
monLtruvux, wo Jeder thäte, was er Lust hatte und nach Gutdünken die
allgemeine Harmonie unterbräche." — Leibnitz ist betroffen, aber er gibt die
Hoffnung nicht auf: „die Frage ist (29. Sept.), ob man nicht unter folgen¬
den Bedingungen eine vorläufige Gemeinschaft der Kirchen herstellen kann:
1) den Protestanten werden einige Punkte der Disciplin nachgegeben, z. B.
Abendmahl in beiden Gestalten, Priesterehe, Gebrauch des Deutschen beim
Gottesdienst; 2) es werden ihnen über die streitigen Punkte, im Sinn der
Exposition von Bossuet, Erläuterungen gegeben, ani t'out voir, an moins ac
l'avizu as x1usi<mi'8 xrotsstiurs IrMlos et M0ä6i'6s, Huc clss äoetrwös xri-
SW alias 8vn8, <M0ihn'eUe8 us leur zMÄlsseut x^8 eneorö de>ues8
vvtiöremeut vöritMes (wie zart ausgedrückt!), »e leur Mraissvot xourtaut
xg.8 äamitiMW von Ms; 3) Abschaffung der schreiendsten, allgemein aner¬
kannten Mißbräuche; 4) Entscheidung eines künftigen Concils über die noch
streitigen Punkte; 5) bis dahin im Boraus Herstellung der Hierarchie und Ge¬
meinschaft der Sacramente. Von unserer Seite ist nun alles geschehn, wir
sind an der äußersten Grenze der Nachgiebigkeit angelangt, uscM g-räh,
und haben das Recht zu erwarten, daß man uns entgegenkomme; wo nicht,
so fällt der Tadel des Schisma ganz aus die andere Seite. — Um aber
Bossuet in Stand zu setzen, das Geschäft vollständig zu übersehn, arbeitet Mola¬
nus auf der Grundlage des Abkommens von 1683 die Logitatiouos xrivatae
aus, welche Leibnitz 17. Den. und 28. Dec. 1691 an Bossuet überschickt: die
obigem fünf Punkte bilden ihren wesentlichen Inhalt.
Der Briefwechsel mit Pellisson hatte inzwischen eine andere Wendung
genommen. Auf die Frage, welcher Ansicht er in Bezug auf das Abendmahl
sei, hatte Leibnitz (Juni 1691) sich für die Augsburgische Konfession erklärt,
welche die wahre Gegenwart des Leibes und Bluts annimmt, und im sacra-
neue etwas Geheimnißvolles findet. Das stimme am besten mit der Schrift,
und er könne es auch philosophisch rechtfertigen, dnrch eine neue Theorie, die
an Stelle der mechanischen Bewegung von Körpern (Ausdehnungen), wie sie
Cartesius lehrt, ein System der Wechselwirkung von Kräften (Substanzen) stelle.
(Dynamik). Er habe darüber einen Aufsatz an das Journal des Savans
eingeschickt, und hoffe, den so wichtigen Gegenstand noch weiter zu begründen,
der das Eigenthümliche hat, daß die abstracten Gedanken wunderbar durch
die Erfahrung bestätigt werden, «ze hu'ilz^Ig, un beau melÄNFsäsmets-xlr^si^ne,
cle geometi-le et as M^siyue, ganz abgesehn von dem Vortheil, die Mög¬
lichkeit des Mysteriums zu erweisen. Pellisson ist (23. Oct.) sehr begierig da¬
rauf; die meisten seiner Freunde sind Carlesi.mer, er selbst aber ist neutral:
„die Philosophie ist der Religion nicht wesentlich, die ganze menschliche Wis¬
senschaft kann falsch sein, und die Religion doch wahr bleiben. Meinetwegen
mag sich die Erde um die Sonne drehen, mit Josua ist doch irgend ein
Wunder vorgefallen! Gott hat nicht die Absicht gehabt, uns die Physik oder
Astronomie beizubringen; Substanz oder Ausdehnung, gleichviel, immer bleibt
es wahr, pu'eil 1'LueIiÄristie, vu Ah teils hörte on de «mei^ne autre
(man höre den Franzosen!) es <^ni xaratt etre eneors n'est xlus et es <mi
us xai-ait xlus eommenoe ü, etre. Ihm selber ist die aristotelische Theorie am
bequemsten: denn es wäre ja lächerlich, etwas für unmöglich auszugeben;
Mi s'a,<:L0!'ac!-g.ir. avec les Principes 6,'uns pliilosopdie commune et reyue
xar toute 1a terrs,^uti.na meme eile ne Serern xa.s1a. plusveri tadle!
(Bezaubernd!) Aber, fällt ihm ein, ich rede da wie der Blinde von den
Farben. — Leibnitz setzt ihm nun seine Dynamik und seine Abweichungen
von Cartesius näher auseinander (19. Nov.), nicht ganz zur Zufriedenheit
Pellissons: denn durch seine Erklärung hebt er ja das Wunder auf und
hält es daher am Ende doch nicht mit der Augsburgischen Confession
(30. Dec. I S. 220). Aber Leibnitz beruhigt ihn über dies Mißverständniß
(18. Jan. 1692): es ist ein Unterschied zwischen Substanz und Substanz (vgl.
S. 276); und daher möge sein Freund doch dafür sorgen, daß die Abhand¬
lung endlich gedruckt werde. Auch Bossuet liest sie mit Interesse (30. März):
„in der Religion hasse ich alle Neuerungen, in der Philosophie freue ich mich
darüber; und wenn ich aus dem Lande bin und etwas Muße habe, so widme
ich mit Vergnügen und Nutzen diesen angenehmen Speculationen ein wenig
Zeit. Uebngens bin ich in Bezug auf diese Dinge ziemlich gleichgültig. Frei-
lich habe ich meine kleine Meinung, aber ich lasse mich gern belehren. * —
Pellisson reicht das Manuscript P9. Juni) der Akademie der Wissenschaften
ein; „aber l.19. Octl».) sie wird sich fürchten, ein Urtheil abzugeben. Sie ist
uneinig: ein Theil verdammt alles, was er nicht versteht, die Andern, aus
lächerlichem Dünkel auf ihren Ruhm, nehmen es übel, wenn man sie etwas
lehren will, was sie iwch nicht wissen; eine kleine Zahl ehrlicher Leute sehn
dies Elend wol ein, wissen aber nicht abzuhelfen. Ich bin überzeugt, daß
bei neuen Entdeckungen von Gewicht nur das Publikum, das große und allge¬
meine Publikum, wahre Gerechtigkeit ausübt, weil in der allgemeinen freien
Discussion zuletzt die Stärksten, d. s. die Einsichtsvollsten den Sieg davon
tragen."*)
„Aber, mein Herr! (29. Juni 1692) Frau v. Brinon, eifrig für die Reli¬
gion und voll Liebe für Sie. tadelt mich fortwährend in Bezug aus unsre
Briefe. Sie sagt, und ich glaube mit Recht, daß wir beiden uns so in die
Dynamik vertieft haben, daß wir gar nicht mehr an Ihre Bekehrung denken, was
doch die Hauptsache ist." — In der That war es Zeit, wieder einmal daraus
zurückzukommen.
Mit der Antwort auf Molanus' Denkschrift ließ Bossuet lange warten;
in der Zwischenzeit bemühte sich Leibnitz, ihn für die Ansicht zu gewinnen,
daß die Reformation, wenn auch vom dogmatischen Standpunkt zu tadeln,
doch in praktischer Beziehung ein Fortschritt gewesen sei. — Gleichzeitig (1688)
hatten Bossuet von katholischer (IliLtoiis clos variations an-s «Mses pro-
tkstantös), Seckendorf von protestantischer Seite (Lomimzut^rü lutdera-
visim) eine Geschichte derselben geschrieben; auf die letztere, die auf einem tiefen
und gründlichen Quellenstudium beruhte, machte Leibnitz seinen Gegner auf¬
merksam, obgleich er einige Ausdrücke in derselben gemäßigt wünschte; Bossuet
erwiderte (10. Jan. 1692) mit Selbstgefühl: ist sie wahr, so muß sie mit
merner übereinstimmen, denn ich habe nur für ausgemacht angenommen, was
die Gegner selbst zugestehn; und als er sie gelesen hatte (26. Mai), fand er
die chronologische Ordnung sehr langweilig, das Durcheinander der Gesichts¬
punkte unerträglich: in der That, die französische Schrift liest sich viel glatter.
Einmal (30. März) fand er sich sogar gemüßigt, von den schamlosen Lügen
Luthers und seiner Schüler zu sprechen, eine Bemerkung, die Leibnitz leider
nicht rügte, obgleich er daran erinnerte, daß in der Histoiro äos vaiia-lions
zwar alles richtig, aber doch nnr das für die Protestanten Nachtheilige hervor-
gehoben sei. In den Unterhandlungen selbst kam man nicht weiter. — Zu¬
gegeben, die Kirche sei unfehlbar, fragt Leibnitz 18. Jan. 1692: wer ist der
Träger derselben? der Papst? das Concil? oder jener abstracte Begriff, den
man vorxus oeclesiae nennt? — Soll das Concil die Kirche binden, so muß
man doch erst darüber übereinkommen, was zu einem echten, allgemeinen Concil
gehört; sonst setzt man sich der Gefahr aus. die Wahrheit zu unterdrücken. —
Offenbar gefällt ihm der schneidende Ton nicht, den Bossuet im Gegensatz
zum höflichen Pellissvn angeschlagen hat. und wenn er damit anfängt, sich
zu freuen, daß man endlich die Ufer der Bidassoa überschritten hat. um sich
auf die Insel der Konferenz zu begeben, so klingt das folgende doch wie bittre
Ironie : 0n a, yuitte exxres toutes e<zö manieres <lui 3entend la, al8pute, et
ton8 ees airs as 8uxerisrit6 qne ekireun g. coutume ac äonner ^ sou x^rei;
oelle Kork« mei<zus.mes, ees exxressivn8 ac I'a88urirllos on elraeun K8t srr
etket, mais aoud it S8t imitile et meine Zexlaisant ac Kire xa.raäs auxres
ac ceux <mi n'en ont xas moins ac leur xart, Os8 k^vn8 8«rveut Z. a,tti-
rer ac l'^xplg-uäisssinent ach lecteurs endet^s; et ce fort es8 k^eus <lui Aktsnt
orätnairement les eolloques, on la vemite ac Mire aux auäiteurs et ac
Mrattre v^in^neur l'smxsrts 8ur l'^mour ac ig. paix: iri^is rien n'est xlus
eloiMö an verita-bis but ä'uns esnkerenee pireiüciue. Der Vorwurf, das
Schisma zu verlängern, falle nur aus diejenigen, die nicht alles thun, was
in ihren Kräften steht, um es zu heben! Jetzt, ihr Herren, erklärt euch rund
und nett über folgende Frage, von der alles abhängt: ist es den mit Rom
vereinigten Kirchen moralisch möglich, in eine kirchliche Union mit denjenigen
Kirchen zu treten, die im Princip die katholische Kirche anerkennen, und bereit
sind, in die römische einzutreten, so bald ihr Gewissen über einige Entschei¬
dungen, die sie nicht sür gesetzlich halten können, beruhigt ist, und die eine
Abschaffung der anerkannten Mißbräuche verlangen? — Schwer ist das Werk,
aber es handelt sich, den ganzen germanischen Norden zu gewinnen; und wie¬
viel hat man nicht ehemals den böhmischen Calixtincrn nachgegeben! —Selbst
Schwester Maria wird ängstlich; sie beschwört Bossuet (5. April) zu eilen und
zuzugestehn was irgend angeht, denn schon werde man in Deutschland schwie¬
rig. Aber Bossuet (2. Mai) will im Punkt des Concils nichts nachgeben,
an seinen dogmatischen Entscheidungen zu zweifeln, sei Ketzerei: darin tritt
ihm auch Pcllisson bei. — Nun verliert auch Leibnitz die Geduld. Bossuet
hatte die Nothwendigkeit der Reformation dadurch zu widerlegen gesucht, daß
gute Katholiken bereits die Fehler der Kirche gesehn hatten. Aber es gibt
ja nichts, ruft Leibnitz 13. Juli, was die Reformation mehr rechtfertigt, yue
les suküaZeZ ac taut as tous auteurs, gui eine g-xprouvs les sentimens <zM1s
opt tra.vaille' a tairs revivre, Je>rs<zu'it8 streut eomms etouM8 8vus les exi-
ns8 ä'une menn.6 as b^Mtelles, qui äewurnaient 1'ssxrit ach nah1e8 as 1a,
8vliäs vertu et ac la, veritMe tdeoloZie. Erasmus und Andere tadeln bei
Luther nur die Form, in der Sache waren sie mit ihm einig. Jetzt ist die
wahre Lehre von der Rechtfertigung in der römischen Kirche wieder hergestellt,
dafür sind andere Mißbräuche noch mehr angeschwollen, welche das Volk von
der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit abwenden: die Obern
der Kirche billigen sie nicht gradezu, lassen sie aber geschehn. — Soweit war
man gekommen, als Bossuet 2K. August 1692 seine ausführliche Gegenschrift
auf die Logitationek privates einsandte.
Diese Antwort mußte alle Illusionen niederschlagen, denn sie lehnte in
schneidender Weise alles ab. was Leibnitz, Molanus und Spinola unter einan¬
der ausgemacht hatten. Die Diplomatie trat vor der Dogmatik zurück. Was
soll, fragte Bossuet, eine vorläufige Kircheneinigung, wenn man über die
Hauptpunkte uneins ist? wie können die Protestanten den Papst als geistlichen
Richter anerkennen, so lange sie mit ihm über den Glauben im Streit liegen?
Mit der Union anfangen, um nachher die streitigen Punkte zu prüfen, heißt
Ordnung und Vernunft auf den Kopf stellen. In Bezug auf das Tridentiner
Concil könne die Kirche nicht nachgeben; wer also die Beschlüsse desselben nicht
anerkennt, ist nicht blos materieller Ketzer, wie Leibnitz meint, sondern formaler
d. h. halsstarriger Ketzer, und kann nicht zur Kirche gehören. Eine Einigung
mit gegenseitiger Nachgiebigkeit zerstöre den Zusammenhang des Ganzen! die
Lutheraner sollten sich über die dogmatischen Ideen von Molanus, die viel
Lobcnswcrthes enthalten, einigen, und dieselben baten zur weitern Entschei¬
dung dem Papst vorlegen. Alles Näsonniren helfe nichts, in Glaubenssachen
müsse man, um klar zu sehn, die Augen schließen. Diesmal werden Sie
nicht sagen, schreibt der Bischof etwas spöttisch an Leibnitz, daß der Dunst
der Beredtsamkeit die Sachen verhüllt. — Die Protestanten möchten unter dem
Vorwand der Einfachheit alle Geheimnisse aus dem Christenthum ausmerzen,
welche sie abstract und metaphysisch nennen, und es auf „populäre Wahrheiten"
zurückführen. Diese Geheimnisse sind aber die Hauptsache, und die Einfachheit
besteht nur darin, die apokryphischen von den authentischen zu sondern. Dies
geschieht nach einer unwandelbaren und untrüglichen Regel: Irisr on ero^it,
airisi; äoire aujoui'ä'uni it kg.ut eroii'ö Ac weine. Nach diesem Grundsatz hat
die Kirche stets entschieden; wer sich ihren Entscheidungen nicht sügt, sagt sich
vom Christenthum los. — Ist das einfach? ist das klar?
Rund und nett! antwortet Leibnitz 1. Oct.; aber anch richtig? haben
die Concilien immer nur das als giltig sanctionirt, was gestern galt? bestand
ihre Hauptthätigkeit nicht darin, neue Dogmen zu finden? Was gestern galt
soll heute gelten; aber wie ist es mit vorgestern? Darf man immer nur das
neueste canonisiren? Das ist ja der von Christus widerlegte Grundsatz der
Pharisäer! — Gegen Pellisson beklagte sich Leibnitz bitter über des Bischofs
UnHöflichkeit, da sie doch immer in so guten Formen verkehrt, — Es thut
mir herzlich leid, antwortet Bossuet 27. Den., ich schütze Leibnitz als Geometer.
Mediciner u. s. w. außerordentlich hoch; aber er hat-mir eine bestimmte Frage
vorgelegt, und ich mußte ihm eine bestimmte Antwort geben, nach Einsicht
und Gewissen: wenn er sich dem Concil nicht unterwirst, so ist er ein hals-
starriger Ketzer. Jede beschönigende Ausflucht wäre unser beider unwürdig
gewesen. — Uebrigens ist ja noch nichts verloren: eure Principien sind ganz
richtig; zieht die richtigen Folgerungen daraus, und ihr seid katholisch. —
Dem französischen Prälaten lag nichts daran, die theologische Frage aus
das politische Gebiet zu leiten, um die Einheit Deutschlands zu finden; andrer¬
seits hatte sich der Eiser Ernst August's merklich abgekühlt: die Einwilligung
des Kaisers für seine Kurwürde hatte er in der Tasche, der Widerstand ging
jetzt von den Fürsten aus, und diesen hätte er sich durch katholische Neigungen
nicht empfohlen; das Friedenswerk konnte gelassener getrieben werden. Bos-
sucts schneidender Ton hatte Leibnitz ernstlich aufgebracht; der Vermittler Pellis-
son starb 7. Febr. 1693, wie seine Feinde aussprengten, ungläubig:
Eine Verleumdung, die Bossuet nach Kräften abwehrte, und ^der auch
Leibnitz keinen Glauben zu schenken versicherte. — Leibnitz! Lope-Nix
(Glaube nichts!) nannten ihn die Hannoveraner, weil er nicht das Abendmahl
besuchte. — Er fand jetzt einen dritten Gegner/den Abbs Piro t von der
Sorbonne, der schon November 1691 entschlossen war, mit ihm über das Tri-
dentiner Concil anzubinden, und diesen Vorsatz Juni 1692 in einem umfang¬
reichen Werk ausführte '(ein Auszug daraus I. S. 369—373), welches sich
hauptsächlich deu Zweck setzte, nachzuweisen, daß die dogmatischen Beschlüsse
dieses Concils auch von der gallicanischen Kirche einstimmig anerkannt seien.
Leibnitz schickte seine Entgegnung (I. 380—410) 5. Juni 1693 an Bossuet;
sie enthielt vortreffliche kirchenhistorische Studien, deren praktisches Resultat
folgendes ist: das Concil hat eine Reihe von Lehrsätzen festgestellt, die vor
ihm im Westen (diese Unterscheidung der römischen Kirche als einer Sonder¬
kirche im Gegensatz zur alten allgemeinen, die auch den Osten umfaßt, wird von
Leibnitz auch später stets hervorgehoben) zwar angenommen waren, aber doch
nicht als Glciubensnorm galten! grade deshalb sollten beide Parteien Anstand
nehmen, ihnen beizutreten. Apus n' s-vous psut-vers pus tiop as prstsn-
äuss ästmitions su matisrs as toi, on dsvg.it hö tsnir a, la tra,äition et ä.
I' antiquits, sans pretenclre Ah s-lvoir se ä' su^joinäi's a.ux audi-Sö, sous psins
<is äamnatiou, as» artiolss aoud I'sgliss s'Stall xa-Lgss äexuis taut as
sisdss. ?our<in0i rsnärs Is M,g' clss Käslss plus pesant, et 1a. rsesnei-
liatimr avse les pi-vtsstans plus äiKeils? — Pirol, sagt Bossuet in einer
langen Auseinandersetzung (I. 414 — 431) hat viel unnütze Gelehrsamkeit ent¬
wickelt; ob man das Concil annehmen soll oder nicht, das kommt gar nicht
in Frage: es ist von der katholischen Kirche bereits angenommen. Macht
man das zweifelhaft, so wird der ganze Grund der katholische» Kirche zweifele
haft. „Aber wie könnt ihr voraussetzen, daß ihr allein die katholische Kirche
seid?" Allerdings setzen wir es voraus; anderwärts haben wir es bewiesen;
hier genügt aber die Voraussetzung: denn wir haben es mit Leuten zu thun,
die zu uns kommen wollen, denen wir also die Bedingungen mittheilen, un¬
ter welchen ihnen der Eintritt verstattet ist. Es ist absurd, sich einigen zu wol¬
len, ohne ein Princip festzustellen; das einzige solide Princip aber ist, daß die
Kirche nicht irren kann, daß sie also auch in Trient nicht geirrt hat. — Ab¬
stellung von Mißbräuchen. Besserung der Disciplin, das alles ist recht gut,
aber es kann nur auf Grundlage des anerkannten Concils geschehn. Sein
Sie versichert, mein Herr; (15. Aug. 1693), daß man davon niemals abgehn
wird; ich könnte auf die Briefe, die Sie Sich die Mühe gegeben haben, mir
zu schreiben, noch manches sagen, in^is it kaut cloimer ä«zö Kornes a ce8 clis-
Mtes, <zug,na los enoses en sont omnes s, un certain xoint et^elaireissv-
Möllt.'
Das war denn doch auch für Leibnitz Geduld zu viel. In seiner Ant¬
wort bemühte er sich nicht mehr, seine Verstimmung zu verhehlen (23. Octbr.).
„Solche Voraussetzungen sind stark! Man ist ja von eurer Seite (Spinola)
zuerst zu' uns gekommen; wir konnten nur so weit gehn als unser Gewissen
verstattet. Wenn ihr die Mißbräuche für gleichgültig haltet, so sind wir ganz
und gar nicht dieser Ansicht; und man kann einer Kirche nicht beitreten, in
welcher verderbliche, dem Wesen der Frömmigkeit nachtheilige Mißbräuche zum
öffentlichen Aergerniß gestattet sind. — Noch stärker spricht er sich gegen Schwester
Maria aus: vos NWsieurs exi^eut as nous la, xrokessiou cle eertainvs oxi-
nions <zu<z non8 ug trouvoirs in et5wL ig. raison, ni 6s.ki8 l'Leriturö gg-mes. I-Sö
Lsntiwkns ii<z foire xoint Ärditi-g-irss: c^nana ^j« le vouclrais, ^je us Laurais
Äonrisi' uno tsllo ciselaiÄtioir SÄirs mentir. Er versichert, daß man nur für
sich Freiheit verlange; die Altkatholiken möchten ruhig bei ihren Mißbräuchen
bleiben; gehe man aber auch darauf nicht ein. so gebe es keinen andern Weg.
Bossuet war der Sache schon lange überdrüssig; aber die Frauen ließen
ihn nicht so leicht los. Schwester Maria forderte ihn 5. August 1693 auf,
sich unmittelbar an die Herzogin zu wenden, denn sie werde an Leibnitz' Auf¬
richtigkeit irre; dann (5. Nov.) schöpft sie wieder neue Hoffnung: der edle Prälat
solle doch sein Leben mit einem so großen Werk krönen; der Papst wolle es,
die lustige Aebtissin habe ihr ganzes Gemüth daran gesetzt. Vos ßranäss
prime<Z8W8 in'exeussront! schreibt er einmal ungeduldig. Leibnitz versucht
noch einigemale anzuknüpfen, hauptsächlich in Bezug auf seine Dynamik und
deren Verbreitung in Frankreich (3. u. 12. Juli 1694); Molanus schickt ihm
(18. Juli) eine neue, sehr ausführliche Entgegnung; aber mit Ausnahme eines
kurzen Zettels (12. Aug. 1694), der nur auf die Dynamik eingeht (in diesem
Punkt war er, obgleich angeblicher Cartesianer, ganz gleichgiltig), läßt Bossuet
nichts von sich hören. Leibnitz legt seine alten Ueberzeugungen, die mit Spi¬
nola übereinkommen, in einer neuen Denkschrift nieder (II S. 1—2i);,da-
mit ist der erste Theil der Verhandlungen geschlossen, und eine mehrjährige
Pause tritt ein. Die Wiederaufnahme und den Schluß derselben berichten wir
Wenn wir uns die Frage vorlegen, was es ist, daß uns norddeutsche
der Charakter des Altbayern kroß vielfacher achtungswerther Züge eher ab¬
stößt als anzieht, so finden wir bei genauerem Zusehn den Hauptgrund da¬
rin, daß hier der sociale Schwerpunkt mehr im Bauernthum als im Bürger-
thum liegt, während in den Gegenden, welche für Norddeutschland den Ton
angeben, und ebenso in vielen Strichen des übrigbleibenden Südens, nament¬
lich in dem fränkischen und alemannischen, das Umgekehrte der Fall ist.
Der Bayer im engeren Sinne ist vorwiegend ein Lauer in der guten wie in
der Übeln Bedeutung des Wortes, und er hat so. abgesehn von seinem Ka¬
tholicismus und dem, was seine Heimath als ein Hochland bedingt, weit
mehr Aehnlichkeit mit dem Schleswig-Holsteiner, dem Mecklenburger und dem
Pommern als mit andern süddeutschen Verwandten von uns.
Im Uebrigen gilt, was schon vor dreihundert Jahren Vater Aventin
von den Bayern sagte: „Das bayerische Volk — gemeiniglich davon zu reden
— ist schlecht' und gerecht, läuft gern Kirchfahrten, hat auch viel Kirchfahrt
legt sich mehr auf den Ackerbau und das Vieh denn auf die Kriege, bleibt
gern daheim, reist nicht viel aus in fremde Lande, trinkt sehr, hat viel Kin¬
der, ist etwas unfreundlich und einmüthig (geradezu), treibt wenig Hanthierung
Es achtet nicht der Kaufmannschaft und kommen auch die Kaufleute nicht viel
zu ihm. Große und überflüssige Hochzeiten, Todtenmahle und Kirchtage haben
ist ehrlich und unsträflich, gereicht keinem zum Nachtheil" u. s. w.
Das Volk auf dein Lande und in den Kleinstädter ist schlicht und gerecht;
Es weiß wenig von der großen Welt und ihren Tücken, aber freilich auch
— namentlich im Unterland — manches andere nicht, was es wissen sollte.
Es fehlt ihm „meist jede Anmuth und der Neiz gewinnender Menschlichkeit".
„Unfreundlich und einmüthig. wie zu Aventins Zeiten sieht sich der Stamm
noch heutzutage an." (So Staub, der dies als Nachwirkung der vielen Kriege
erklärt, welche das Land verwüstet — eine nicht sehr glückliche Vertheidigung.
Sachsen hat mindestens zehnmal so viele große Schlachtfelder aufzuweisen, als
Südbaycrn, und doch gilt der Sachse für den artigsten der Deutschen.) Die
Gabe der Rede ist selten; wer einen einfachen Rechtshändel halbwegs ver¬
ständlich darzustellen weiß, gilt schon für einen Sprecher. An Sinn für Ge¬
rechtigkeit mangelt es nicht; obwol man mitunter gern streitet, hört man doch
auf vernünftiges Zureden, doch scheinen die Beamten in den Kanzleien zur
Oeffnung etwaiger blöder Augen diesem milden Mittel häufiger als billig das
Brecheisen der Grobheit vorzuziehn. Wo der Bauer nicht geradezu und derb
sein kann, ist er schüchtern und unbehilflich; doch läßt er sich zwar sudeln und
hunzen. wenn es sein muß, aber er kriecht und heuchelt nicht. Schmeichler,
Schwätzer und Aufschneider kommen sehr sparsam vor. In Geldsachen ist der
bayerische Bauer anständig: er gibt zwar nicht gern, hebt aber auch nicht, wie
der Schweizer, nach jedem mühelosem Dienstchen bettelnd die Hand auf. Bereit¬
willig leistet er Hilfe bei Unglücksfällen der Nachbarn. Der häusliche Umgang
zeigt selten Zartsinn, das Alter genießt wenig Achtung, es „ist ja zu nichts
mehr nütze".
Daß das bayerische Volk einst nicht viel vom Kriege hielt, war damals,
in der Zeit der gemietheten Landsknechte, ein gutes Zeichen. Was es jetzt
nach Rom und Neapel lieferte, ist wol nur Kehricht der Städtebevölkerung.
An kriegerischer Tüchtigkeit fehlt es ihm nicht. Die Altbayern zeigten sich mit
Ehren auf manchem Schlachtfeld, und die jungen Bursche sind jetzt noch durch¬
weg gern „bei der Militär". Namentlich im Oberland gibt sich die Freude
am Soldatenhandwerk vielfach durch Veteranenvereine kund, die sich jährlich
eine Messe lesen lassen und dann ein fröhliches Mahl begehn am „Soldaten¬
tisch", über welchem in gläsernen Kästchen das Handwerkszeichen, eine in
Ammergau geschnitzte Gruppe von Hauptmann, Fahnenjunker, Tambour und
Gemeinen schwebt. Leider nur, daß die Sehnsucht nach kriegerischen Lorbeern
gelegentlich am unrechten Orte, im Heimathsdörfchen ausbricht und mit Schlag¬
ring und Messer blutige Striche durch diese grüne Idylle zieht. Ist anzuer¬
kennen, daß die Wirthshausraufereien an vielen Orten außer Gebrauch gekom¬
men sind und an allen abnehmen, so ist doch nicht zu leugnen, daß der Stamm,
oder vielmehr dessen Nachtseite zur Zeit noch einen Hang zu rohen und wil¬
den Verbrechen an den Tag legt.
„Alles zusammengenommen,« sagt Steub sehr richtig-, „scheint es sich zu
bestätigen, daß die ländlichen Tugenden, mit denen uns die Poeten so lange
Zeit am Narrenseil herumgeführt, sich eigentlich in den Städten finden. Es
ist fast zu vermuthen, und in manchen lebt schon jetzt die Ueberzeugung, daß
man am Ende, wenn die Studien geschlossen sind, den verhältnißmäßig besten
Menschen im Mittelstände auffinden wird, im gebildeten Mittelstande, wo,
wenn nicht überflüssiger Reichthum zu Müssiggang und Ueppigkeit führt, eine
würdige Arbeit die Kräfte stählt, ein feiner Sinn für Sitte und Ehre sich
ausbildet und die Tugenden des Hauses.blühen, das die Muse gerne ver¬
schönert."
Das Schulwesen in Altbayern ist äußerlich gut organisirt, aber die Früchte
wollen nicht recht gedeihen. Die jungen Bajuvaren lernen etwas schreiben
und rechnen, aber die Hauptsache ist der Religionsunterricht. Man lehrt sie
in sieben Tempo die heiligen Sacramente und die Todsünden hersagen und
alle Fragen des Katechismus fertig beantworten. Als Pnradepferd werden
bei den Prüfungen auch etliche Seiten bayerische Geschichte vorgeführt. Das
Rädchen schnurrt lustig ab, wie es im Buche steht, aber vou dem Sinn ha¬
ben die Kinder keine Ahnung. Freude an den erworbenen Kentnissen zu erregen,
Einsicht in deren Bedeutung zu schaffen, wird weder erstrebt noch auch ver.
standen. Sowie die Schuljahre daher vorüber, sind ist das erste Geschäft sich
das Gelernte aus dem Kopfe zu schlagen. Es gibt viele Landleute, die nur
noch ihren Namen schreiben und nur zur Noth noch lesen können. Indeß
haben die letzten Jahre und namentlich das Jahr achtundvierzig auch hier
anregend gewirkt. Der verständige Landmann hat eingesehn, daß ihm Wich¬
tiges mangelt. Er kümmert sich um die Fragen der Zeit, liest hie und da
selbst die Zeitung und wird zusehends gescheidter. Bei den Wahlen zum
letzten Landtag, wo es den Sturz des Ministeriums Pfordten-Reigersberg galt,
trat er plötzlich in einer Vollzähligkeit auf den Kampfplatz wie nie zuvor.
Die meisten wußten anch, worum es sich handelte oder trafen doch sonst in
ihres Gefühls dunklem Drange die rechten Männer. Im letzten Frühling
waren sie auch plötzlich alle in die Höhe, als die Oestreicher nach Italien
durchmarschirten. „Ihrem kurzsichtigen Auge war der ganze Streit nichts an¬
deres als ein Kampf der Deutschen gegen die Welschen. Darum alle Liebe
und jedes Opfer für die Gladiatoren, die vorüberzogen mit einem moritui'i
r,v Ls-kulant. Nachher schüttelten sie freilich die Köpfe." Früher spendete der
Bauer manchen Kreuzer sogar für das ferne Schleswig-Holstein. Jetzt denkt
man nicht mehr an die Sache der Herzogtümer, um sich nicht schämen zu
müssen, und insofern war es sehr überflüssig, daß später die bayerische Poli-
zei alle Sammlungen für die unglücklichen Brüder verbot.
Einige Beispiele der Art. wie man hier zu Lande politisire, gibt Steub,
wo er eines Abends im Herrenstübchen des Wirthshauses zu Gmünd gedenkt.
„Man will wissen, daß sich unter den Bauern schon Parteien bilden, und
daß sie ihre Journale genau nach ihrer Farbe auswählen." „Es soll sich
um Gebirge kaun, eine Poster.pedition finden, die nicht ihre dreißig Nununern
und oft wehr an bäuerliche Abonnenten spedirt, Vor dein Jahre achtund¬
vierzig, sagte der Wirth zu H., hab' ich gar nicht gewußt, daß wir einen
Staat haben. Hab' immer gemeint, was nur Bauern zahlen, schiebt der
Konig in seine Truhe und zahlt wieder aus davon was sein muß. Damals aber
haben sie mich in den Prüfungsausschuß für die Steuern genommen, und da
hab' ich öfter nachdenken müssen, und der Rentbeamte hat mir auch ein Licht
anfgezündct, so daß ich jetzt allmälig mich durchfinde." — Für die in den ita-
lienischen Krieg ziehenden Oestreicher interessirte man sich lebhaft. Das praktische
Wohlwollen der Städte ist bekannt, was aber manches stille Durchzugsdörf-
lein an Eiern und Schmalznudeln, Käse, Wurst und Bier geopfert, ruht für
die große Welt noch in tiefem Dunkel, welches erst die bayerische Geschichte
ausheilen wird. Weitaus die meisten Männer brannten im Namen des deut¬
schen Vaterlandes (welches beiläufig mit der östreichischen Politik nichts ge¬
mein hat) für einen titanischen Sturm mit Oestreich gegen den Bonaparte.
Die Stimmung der Frauen dagegen hatte mehr eine preußische Lasur. „Wenn
diese zwei Kaiser," sagte die Wirthin von S., „etwas mit einander haben,
so sollen sie es selbst ausmachen — zu zweien mit dem Schlagring oder mit
dem Messer oder wie sie wollen. Aber daß wir unsre Kinder dazu hergeben
sollen und unser Geld, und zuletzt das Gewerbe stillsteht und der Bettel zu
allen Fenstern hereinschaut, das ist doch ein Unsinn." Im Herrenstübchen zu
Gmünd aber trauerte fast jedermann über den jetzigen Zustand des deutschen
Baterlandes, und daß eigentlich gar niemand wisse, wie ihm ohne „National¬
unglück" zu helsen sei.
„Mit Deutschland, sagte eine Stimme, geht es grade wie mit den Losch¬
anstalten in den deutschen Reichshauptstädten. So lange es brennt und der
Himmel feuerrot!) ist, lärmt das Publikum wie besessen und schreit: das Ding
muß morgen schon besser werden. Sobald aber die Brandstätte zu rauche»
aufHort, sprechen die Weisen: Seht ihr denn nicht, daß die Wasserkästen leck,
daß die Schläuche zerrisse» sind, daß die Gewinde nicht in einander passen
und den Spritze» die nöthige Triebkraft fehlt? Wer wird jetzt die namenlosen
Opfer bringen wollen, um dies Alles zurecht zu machen? Warten wir lieber
auf ein größeres Unglück — möglich, daß es dann etwas leichter geht." —
„Das ist (sagt Steub dazu) alles sehr tief gedacht, und nur zu befürchten, es
könnten, wenn die Vernünftigen nichts vermögen, am Ende gar die Unver¬
nünftigen die Sache in die Hand nehmen wollen."
Die Meinungen über Oestreich waren an jenem Abend im Herrenstübchen
zu Gmünd nicht günstig, und sie werden jetzt schwerlich günstiger sein. Im
Allgemeinen stellte man die kurze, aber populäre Behauptung aus: „In
Oestreich se—les!" — „Ob man aber damit den Grafen Grünne, die schlechte
Führung im letzten Kriege, die nachlässige Verpflegung des Heeres, den Un-
kummer um die Verwundeten, die furchtbaren Unterschleife, die traurige Fi¬
nanzlage, den bedauerlichen Stand der nationalen, die große Steuerlast, das
Concordat, die Klagen der Protestanten, den unzureichenden Zustand der
Schulen, den Mangel an Pres;- und andern Freiheiten, den Abgang der Volks¬
vertretung, das verunglückte Genieindegesetz, die sehr unzulängliche Bureau¬
kratie, die Seltenheit genialer Kopfe, die weitverbreitete Verstimmung und
Hoffnungslosigkeit, die ungarischen Verhältnisse, die slawischen Zustände, die
italienischen Wirren — oder was man immer mit jener Phrase ausdrücken
null, meint, ich weis; es nicht, Preußen dagegen scheint stellenweise an Ansehn
zu gewinnen. Ein Landkaplan sprach hier das auffallende Wort: wir müssen
jetzt mit Preußen gehn! — Ja aber, versetzte der Wirth, wenn einer stehn
bleibt, kannst ja nicht mit ihm gehn!"
Steub meint, „wenn Preußen den Wink, den ihm der Wirth von Gmünd
gegeben, beachten wollte, würde ihm wol noch manches desperate deutsche
Seelchen zufliegen. Sein Manteuffel - Westphalen würden wir am Ende
noch ebenso leicht vergessen, als wir die Pfordten-Reigersberg ans unsern
constitutionellen Erinnerungen streichen; aber nach so laugen Lehrjahren erwar¬
ten wir von der norddeutschen Großmacht allmälig anch ein Meisterstück,
welches uns möglichst hinreißen, wenn nicht bezaubern soll."
Wir meinen, der Herr Wirth hätte nicht ganz Unrecht, wenn nun, in
Verum wüßte, daß man allenthalben im deutschen Volk, statt sich der Despe-
ration zu überlassen, die Hände zu rühren geneigt wäre, nur den Bundestag
zu überzeuge», daß es Zeit sei, sich die Meinung des Landkaplans im Her
renstübchen zu Gmünd anzueignen.
„Bleibt gern daheim und achtet nicht der Kaufmannschaft," sagt Aventin
ferner, und das ist anch sehr wahr, Während der Tiroler mit Kanarienvö-
geln, Handschuhen, Teppichen und Alpenliedern hausirend die Welt durchzieht,
ist der altgermanische Wandertrieb in Bayern uur dnrch die Flosser u>,d Schiffer
einiger Dörfer vertreten, welche den Jnn und die Donau befahren. Dazu
kommen, durch das wachsende Verlangen der Völker nach bayerischem Gersten¬
saft weggelockt, einige Braumeister, und in den letzten Jahrzehnten hat auch
Amerika seine Anziehungskraft hier geltend gemacht.
„Trinkt sehr" ist eine Aussage, die jetzt nur vom altbayerischen Städter
fast allgemein gilt. Der Landmann lebt in der Woche mäßig, von Mehl¬
speisen und Pflanzenkost, Milch und Wasser. In den »leisten Strichen kommt
nur in den fünf heilige!, Zeiten: Fastnacht, Ostern. Pfingsten, Kirchweih und
Weihnachten und sonst nur bei besondern Gelegenheiten, Hochzeitsschmäusen
und Kindelmahlen, Fleisch und Bier auf den Tisch. Doch ist es nicht unge¬
bräuchlich, sich des Sonntags in der Schenke ein Räuschchen zu holen. Manche
Charaktere gibt es auch, die sich absichtlich mehre Wochen des Nationalge-
tränkes ganz enthalten, dann aber einmal von Weib und Kind Abschied neh¬
men, um etliche Tage ohne Unterbrechung im Wirthshaus zu verleben: Sie
bleiben da auch die Nächte hindurch, thun am Schlüsse einen langen tiefen
Schlaf und kehren, wie von einer Badekur, neugestärkt wieder in den Schooß
ihrer Familien zurück. Der Genuß des Branntweins ist nnr im Jnnthal. wo
auch am meisten Fleisch genossen wird, in verderblicher Weise verbreitet; an¬
derwärts kennt ihn der Bauer nur als besonderes Labsal und als eine Art von
Arznei. Der Kaffee ist fast nur im Lechrain regelmäßiges Morgcngericht. In
den übrigen Strichen gibt es früh auf dem Tisch eine Milch- oder Brodsuppe
oder ein Hafermus. Dann folgt gegen 9 Uhr, in manchen Gegenden nur in
den Zeiten schwerer Arbeit, ein zweiter Imbiß aus Brot und Milch oder Kar¬
toffeln, wozu einige gekochtes Dürrobst, andere einen Trunk Halbbier, „Hainzl"
genannt, reichen. Die Mittagskost, am einfachsten im Lechrain und im Amper-
gau. am fettesten und reichsten im Jnnthal und im Iscnlcind, besteht aus
einer dicken Suppe, grünen und trocknen Gemüsen, Erdäpfeln, „Schlotter"
(gestockter Milch) und einer Auswahl von gebacknen und geschmorten Knebeln,
Nudeln, Knödeln und Krapfen, welche, meist im Winter aufgezogen, im Som¬
mer gebacken, den Stolz der Küche inffganz Altbayern ausmachen.
Die Vorliebe für Wallfahrten, Hochzeiten und Todtenmahle ist noch die¬
selbe wie zu Aventins Zeiten — ist doch in Betreff der ersten die Religion
noch dieselbe. Der Bauer liebt den Schall und die Pracht: Processionen mit
goldgestickten Fahnen, schönen Chorgesang und Böllerkrachen, Hochämter
mit Trompeten und Pauken. Die Kirche bietet ihm Oper und Ballet, in
Oberammergau auch das Nührdrama. Er kennt nur kirchliche Festlichkeiten;
selbst die mitunter unmäßigen Tafelfreuden bei Hochzeiten und Taufen sind
nnr eine Fortsetzung des Gottesdienstes, und auf der Kirchweih tanzt er eben
auch nnr im Dienst und zu Ehren der Kirche. Um Dogmatik kümmert er sich
weniger als man im Allgemeinen annimmt. Die Wonne, welche die Ge¬
bildeten zu München an den Tag legten, als der Schöpfer durch die Kirche
seine Ansicht von der unbefleckten Empfängnis; kund gegeben, hat er schwerlich
verstanden.
Große und überflüssige Hochzeiten zu halten gilt noch heute für ehrlich
und unsträflich. Im wohlhabenden Innthale kommen bisweilen (beiläufig
ganz wie in Ostschleswig) zu solchen Ehrentagen an dritthalbhundert Gäste.
Dies gereicht, wie Aventin richtig bemerkt, keinem zu besonderem Nachtheil,
da jeder Gast seine Zeche zu bezahlen hat.
Uebrigens herrscht in den meisten Beziehungen ein großer Unterschied zwi¬
schen dem Altbayer des Gebirgs und dem der Ebne, Ersterer hat, was die
allgemeine Physiognomie des Volks betrifft, vor letzterem mancherlei voraus.
Schon seine Gestalt ist größer und schlanker. Das Landgericht Tvlz liefert
dem Heere die größten Rekruten, und auch die andern gebirgischen Bezirke
des Osterlandes haben in dieser Hinsicht einen weiten Vorsprung vor den
nördlichen Landgerichten. Die Gesichtsfarbe ist bei den meisten jungen Leuten
kräftig und blühend. Das unschöne Geschlecht stellt sich aber durchschnittlich
wohlgebildeter dar, als das sogenannte schöne. Ein weniger erfreulicher
Gegensatz des Gebirgs zum Flachland ist, daß Kröpfe und Blödsinn dort
häufiger als hier sind.
Ferner hat der Hochländer mehr Geschmack und Phantasie als sein Nach¬
bar in der Ebne. Seine Tracht ist malerischer, sein Haus hübscher, er ist ein
Liebhaber der Musik, Dichter von Schnadahüpfln und sogar Schauspieler.
Er ist sodann im Vergleich mit jenem freundlich und umgänglich. Noch gibt
es Wirthe und Großbauern, die ihrer Grobheit halber berühmt sind, aber die
jungen Leute sind so ziemlich aus dem Rohesten herausgearbeitet. Der Schul¬
unterricht schlüge besser an als in der Fläche drunten, und in mehr als einer
Gemeinde finden sich jetzt Leute, die das Gemeindegesetz und Aehnliches im
Kops und etliche Bücher auf dem Sims haben, ja sogar eine Zeitung halten.
Wo Ackerbau getrieben wird, kennt man Dreschmaschinen und Drams, und
selbst die Wunderkraft, die in der Gülle waltet, ist hier kein Geheimniß mehr,
während sie dem Bauer des Flachlandes meist noch verborgen blieb. Die
Bereitung des Käse geht, durch fernher aus der Schweiz verschriebene Künst-
ler dieses Fachs gefördert, mit großen Schritten der Vollendung entgegen, und
in manchem Stall trifft man Rinder edler Racen.
Auch die Sitten sind im Oberland besser als im Flachland. Diebstahl
und Betrug kommen sehr selten, Processe nicht häufig vor. In andrer Rich¬
tung, namentlich was geschlechtliche Genüsse betrifft, wird der Moralist man-
ches nicht in der Ordnung finden. Indeß wird, was hier mit dem heißen
Blut der Jugend entschuldigt zu werden pflegt, auch anderwärts auf dem
Lande nicht eben allzu hart verurtheilt.
Von der Volkstracht und dem Häuserbau wollen wir etwas ausführlicher
handeln. In Betreff der Männertrachten ist zu bemerken, daß eine den Aus¬
schlag gibt und alle andern zu verschlingen droht. Dies ist die graue oder
graubraune Joppe mit dem grünen Spitzhut. Ihr Geburtsland ist die Ge¬
gend um Mießbach und Tegernsee. Doch ist sie auch dorthin erst seit Men-
schengedenken gekommen, und zwar aris dem tiroler Zillerthal oder aus den
Kreisen der Duxer Hirten. Wegen ihrer Einfachheit, die ein gewisses flottes
Aussehn nicht ausschließt, verschaffte sie sich bei Reich u,rd Arm schnell
Anerkennung, so das; sie jetzt nickt allein die Landleute, sondern auch die sei¬
nen Städter, Maler, Kupferstecher, Staatsdienstaspiranten und andere Wür¬
denträger, ja selbst norddeutsche Reisende von Distinction. berliner Geheim-
räthe und Hamburger Bankiers zu bekleiden die Ehre hat. Wenn wir die
Joppe als bayerisches Gewächs bezeichneten, so geschah es, weil sie aus bay¬
erischem Boden erst mit den Knöpfen und dem grünen Kragen ihre volle
menschenwürdige Ausbildung erhielt. Kochlerjoppe aber heißt sie erst seit we¬
nigen Jahren von einem Schneider zu Kochel, der sie besonders billig fertigt
und in grosen Ladungen nach München verkauft. Außer dieser Tracht gab
es in den einzelnen Thalschaften noch manche andere hübsche Gewandung,
wie sich denn z. B. die Iacheuauer in grüne, etwas altväterlich geschnittne
Röcke mit gelbansgenähten Knopflöchern kleideten und dazu einen niedrigen
grünen Hut mit breiter Krempe und grünen Seidenbändern aufsetzten. Jetzt
ist diese Tracht ganz verschwunden und neben ihr fast alles Aehnliche. Immer
noch hält sich dagegen der alte Brauch, die Westen mit Silbermünzen statt
der Knöpfe zu besetzen, eine landesthümliche Art, die Sparpfennige unverzins¬
lich anzulegen, die als europäisches Seitenstück zu dem Brauch der arabischen
Frauen im gelobten Lande gelten mag, sich die Stirn mit einer wurstartigen
Wulst von Silberstücken einzurahmen.
Die weibliche Tracht war bis vor Kurzem im Hauptland, um Tegernsee
und Miesbach, ungewöhnlich garstig. Sie hatte in den zwanziger Jahren
Griffe in die städtischen Moden gethan, die von sehr wenig Geschmack zeug¬
ten. Sehr richtig bemerkt Steub, daß die Tracht des Landvolkes in der Regel
nichts anderes als eine veraltete städtische ist. „Die Bauerntracht ist wie die
Alvö, die nur alle hundert Jahre blüht, der Bauer und die Bäuerin häuten
sich selten früher als nach der dritten oder vierten Generation. Vieles Schöne,
was die wechselnde Mode den Städtern bringt, geht wieder dahin, ohne daß
vom Lande her ein Auge darauf geworfen wird — manche Erscheinung aber,
die grade in die Zeit fällt, wo das Boll der Dörfer nach einem neuen
Schnitte lechzt, hält sich wieder mehre Menschenalter." So hatten denn auch
die Frauen und Mädchen von Tegernsee und Umgegend vermuthlich von der
höchstseligen Königin Caroline und ihren Hofdamen vor vier Jahrzehnten
die kurze Taille und den knappen Rock angenommen, welcher letztere, von
ihrem Geschmack »och verengert, sie wie eine dünne Röhre einschloß. Dazu
kamen später die weitbauschigen Armpluderhosen der sogenannten Gigotärmel
und ein schmalgekremptes grünes Hütchen, welches letztere aber wegen der ihm
einwohnenden Ueppigkeit aus der Kirche verbannt war und sür den Gang
dahin mit der „Pechhaube", einer schwarzwollnen, dicht über den Kopf ge-
gossnen Halbkugel von sehr sittsamer Gemüthsverfassung, aber sehr abscheu¬
licher Gestalt vertauscht wurde. Damit war die vollständige Libellenform ge-
geben. Es sah für Menschenkinder sehr plump ans, aber dennoch dachte man
bei dem engen magern Leibstück und den ungeheuern flügelartigen Aermeln
unwillkürlich, daß das Ding eigentlich zum Fliegen bestimmt sei. Jetzt hat
sich das wesentlich gebessert: die Röcke sind weiter, kürzer und faltenreicher ge¬
worden, das bürgerliche Mieder eingeführt, die Pluderärmel auf ein beschei¬
deneres Maß von Weite beschränkt, und auf dein Kopfe prangt — sogar in
der Kirche — unbehelligt der grüne früher excommunicirte Spitzhut mit seiner
Goldschnur und seinem Blumenstrauß. Zieht mau hier zu den Kleidern helle
Farben vor, so finden wir unten im Jnnthal eine starke Vorliebe für dunkle,
und der schlanke lustig grüne Spitzhut macht hier einem niedrigen, breitkrem¬
pigen, schwarzlackirten Hut, das grelle Roth und Weiß. Gelb und Himmelblau
der Rocke matronenhaft ernsten Schätzungen und der schwarzen Seideuschürze
der Städterinnen Platz.
Das altbayerischc Haus erinnert mit seinen bunten Farben und seinen,
mannichfachen Schnörkelwerk stark an den Rococogeschmack des siebzehn¬
ten Jahrhunderts, der sich auch in den Kirchen sehr deutlich ausprägt, sich
aber nach dem Gegensatz von Gebirg und Ebne in verschiedenen Forme»
kundgibt. Das Hans des Flachlandes ist vorwiegend ein Stein-, Ziegel -
oder Lehmbau, in der Regel einstöckig und mit einem hohen Giebeldach ver¬
sehn. Das Haus des Gebirges dagegen ist dasselbe, wie es allenthalben
in den rhätischen Alpen vorkommt: ursprünglich ein bloßer Holzbau, jetzt sast
überall unten von Stein, hat es mehre Stockwerke und el» nur wenig ge¬
neigtes Dach, welches mit schweren Steinen belegt ist, um die Bretter, welche
die Ziegel ersetzen, vor der fortreißenden Gewalt der Winterstürme zu bewah¬
ren. Bon dem Roßkopf (der beiläufig auch die Firstenden des holsteinische»
und westfälischen Bauernhnuses schmückt), oder dem Posaunenengel am ober¬
sten Bret des Giebels bis zu dem ausgeschnittenen Herz und Kelch der Scheu¬
nenwand ist allerwärts viel zimmermäuuische Kunst daran verwendet, und in
Betreff der Borliebe für schreiende Farben übertrifft der Altbayer des Gebirgs
selbst den hierin besonders starken Bruderstamm zwischen Elbe und Schlei.
Das charakteristische Merkmal des Berghauses aber ist die Laube oder der So¬
ter (Söller), eine Galerie, die mit ihrem malerischen Geländer im oberen Stock
um das ganze Gebäude herumläuft. Natürlich trifft man auch Uebergänge
und Vermischungen beider Baustilartcn, und von selbst versteht sich, daß Brände
und hohe Kornpreise Neubauten herbeiführen, bei denen städtische Muster
nachgeahmt werden. Indeß sind das doch nur Ausnahmen, und selbst wo
der reich gewordene Bauer sich ein schönes Steinhaus hinstellt mit vielen
spiegelnden Fenstern und grünen Laden, läßt er in der Regel wenigstens die
alte Laube anbringe».
Das Erdgeschoß eines Berghauses alter Art besteht aus Küche. Stube und
Stall, etwa mit noch einem Seitenstübchen. Der obere Stock enthält die „Kam¬
mer", d. ki. das Prunk- und Schlafgemach des Hausvaters und seines Weibes,
und die Nebenkammern für Kinder und Gesinde. Der Hintere Theil des Ge¬
bäudes umfaßt unten die Tenne und die Ställe, oben die Raume für den Ernte¬
segen. Die Stube ist meist ganz getafelt, die Decke von Fachwerk. Um die
Wände wie um den Ofen laufen Holzbänke, über denen sich eingemauerte
Schränke befinden. In der einen Ecke steht der Tisch. Darüber hängt an der
Wand, umgeben von zahlreichen Heiligenbildern. Täfelchen und Blumensträußen
ein Crucifix. Nicht selten auch schwebt ein „heiliger Geist", eine aus gefal¬
tetem Papier gebrochne Taube, an einer Schnur über der Mitte des Tisches.
Vielfach schmückt eine schwarzwälder Kukuksuhr die Stube. Neben der Thür,
an welcher das Handtuch auf Rollen ausgespannt ist, und über der man das
Zeichen der drei Könige 1- L. 5 N. t L. und die Jahreszahl mit Kreide an¬
geschrieben findet, ist der Weihbrunnkessel angebracht. Um den Tisch stehn
altväterliche dreibeinige Stühle. Neben dem Ofen bietet die „Ofenbruck"
Kranken für die Winterszeit ein Lager. Der Raum unter diesem Möbel ist
gewöhnlich dem Hühnervolk angewiesen. Unter der Ofenbank- wird das Pfan-
nenbret aufbewahrt, auch hängt dort an einer Kette der eiserne Schuhlöffel.
Auf dem Fcnsterbret steht die „Bütsche", eine hölzerne Wasserkanne, an einem
der Wandschränke ist der Kalender aufgehangen. Vielmals findet sich in einer
der Stubenccken eine schmale Treppe, die nach der „Kammer" hinaufführt. Letztere
enthält das Beste, was man von Hausgeräth besitzt. Das Hauptstück bildet
die Doppelbettlade der Eheleute, ein mächtiges Gebäude, gefüllt mit den schwer¬
sten Federn, oft noch mit Säulen und Dach versehn und mit Gardinen ver¬
hangen. Geistliche Schildereien: ein Auge Gottes an der Decke, die Herzen
Jesu und Maria am Fußende, fehlen daran niemals. Das nächst wichtige
Möbel ist der Kleiderschrank der Hausfrau, den meist zur Hälfte „hauswirchne"
Leinwand füllt. Die gerollten Stücke tragen in der Mitte eine hochrothe Feder¬
rose oder sind mit Heiligenbildchen besteckt. Hier bewahrt die Bäuerin ihre
besten Kleider, ihren Silberschmuck und die allenfallsigen Schatzgelder. Ferner
steht i» der Kammer oft die Schaukelwiege und manche alte massive Truhe.
Auf dem „Schnbladenkasten", d. h. der Commode. endlich glänzen Krüge. be¬
malte Gläser und Tassen, rothbäckige Aepfel und in der Mitte in einem Glas¬
gehäuse ein puppenartig angeputztes Christuskind von Wachs.
Eine eigenthümliche Abart dieses Gebirgshauses ist im Salzburgischen zu
finden. Die meist zur Hälfte aus Holz erbauten Häuser dieser Gegend haben
das Charakteristische, daß die beiden Giebel des hier etwas steilern Daches
an der Spitze zurückgelegt sind und daß sich unter ihnen, gleichlaufend mit der
untern Laube, eine zweite, an der Seite mit Brettern verschlagne Galerie be¬
findet. Die Ornamente in dem Laubcngeländer sind von ältester Form', Be-
malungen selten oder sehr einfach roth und schwarz. Lentner, dessen Untersuchungen
die„Bavaria" hier folgt, erkennt in deu Ansiedlungen dieses Gaues die ältesteForm
des deutschen Bauernhofes. In dem Geviert, das die einzelnen Gebäude bil¬
den, steht mit der Breitseite gegen Norden das Wohnhaus, gegen Westen, fast
immer ein breiterer Flügel als das Wohnhaus selbst, der Kuhstall, gegen Osten,
von gleicher Lange, der Stall sür das Kleinvieh und darüber der Kornboden,
gegen Süden der Stadel mit zwei Tennen. Links neben dem Wohnhaus und
rechts neben dem Stadel öffnet sich el» breites Thor, die beiden andern Ecken
des Quadrats sind geschlossen. In der Mitte des Hofraum'-' befindet sich die
Düngerstätte, dicht dabei der Brunnen mit großem Trog, häusig auch ein
Taubenschlag. Unfern des Wohnhauses, im Obstgarten, steht das kleine Back¬
haus. Die Häuser sind alle sehr reinlich, die der Wohlhabenden groß und
stattlich. Die Fenster der Stuben gehn sämmtlich in den Hof, auf welchen
sich auch die Hausthür öffnet. Der Baustil ist schlicht, doch fehlen nicht die
Wetterkreuze an den Giebeln und über den Wohngebäuden die Thürmchen
mit der „Maierglocke". Dadurch, daß dieses Gehöft nach Außen hin wenig
Fenster hat. gewinnt das Ganze den Anblick eines geschlossnen Castells, was
zwar nicht freundlich aussieht, aber doch den Eindruck gesicherten reichlichen
Besitzes macht.
Das ebenerdige hochgiebeiige Haus des Flachlandes findet sich in seiner
alten Art noch am häufigsten an der untern Amper und Giou.' Es bestand
früher nur aus Holz und Lehm, und oft blieben die Balken sichtbar. Das
hohe Dach, dessen Flügel häufig fast bis auf den Boden reichten, war stets von
Stroh, wie noch jetzt das Haus des holsteiner Sachsen und hatte gleich die¬
sem keinen Rauchfang. Die größern Höfe bestanden aus Wohnhaus und
Pferdestall, Stadel mit Tenne und Kuhstall, Schuppen mit Schweine- und
Hühnerstall. Diese Eintheilung ist bis jetzt beibehalten, während die Bauart
vielfach verbessert worden ist. Man baut jetzt die Wände des Hauptgebäudes
überall von Feld- oder Backsteinen und deckt es mit Ziegeln. Dagegen wird
auch heute noch sehr selten und fast nur bei Wirths- und Müllerhäusern ein
zweites Gestock aufgesetzt. An den niedrigen Thüren, den kleinen Fenstern, den
Zäunen und sonst am Holzwerk der alten Gebäude bemerkt man die beliebte
Malerei in Roth mit weißem oder grünem Ornament; die meisten Mauern
der neuern werden ebenfalls durch allerlei bunte Architektonik sowie durch
grünen oder blauen Anstrich der Thüren und Laden verziert. An der Giou
trifft man fast an allen Häusern das sogenannte „Scheyrerkrcuz", einen per-
pendicularen Strich, der auf einen Fuß geht und von zwei Querstrichen, ei¬
nem kürzern und einem längern durchschnitten wird. Daneben befinden sich
die Namenschiffern von Bauer und Bäuerin und die Jahrzahl der Erbauung
des Hauses. Auch Heiligenbilder im Giebel, gewöhnlich die der nächsten
Wallfahrt und der üblichen Bauernpatrone, kann man häufig bemerken. Die
ärmlichsten und unsaubersten Dörfer finden wir im westlichen Strich der Ebne
gegen die Jsar, wo auch das Strohdach noch vorherrscht, während am Er-
dingerboden, sowie an der Jsar selbst, wo sich die Bauart verbessert, nur auf
-Scheunen und Ställen noch Strohbedachung zu sehn ist.
Wir fügen nach Dahns Beschreibung noch Einiges über die Bauart der
Märkte und Städte Aitbaycrns hinzu. Während die Dörfer des Gebirges
in der Regel zerstreute Häuser zeigen, sind die Märkte selbst im Hochgebirge,
z. B. in PartenArchen und Mittenwald, wenigstens ihrem Kerne nach straßen¬
mäßig geschlossene Häuserreihen. Nur in ihrer Peripherie verlaufen sie sich in
zerstreute Gruppen echter Bauernhäuser, so daß auch hierin der Markt sich als
Uebergangsgebilde zwischen Dorf und Stadt bekundet. Die geschlossene An¬
lage bedingt Aenderungen im Stil des Hochgebirgshauses. Dasselbe kehrt hier
die Giebelseite als Schauseite der Straße zu, an welcher die Galerie entweder
ganz verschwindet oder zu einem kleinen Balkon zusammenschrumpft. Ferner
herrscht hier mehr als in den Dörfern der Steinbau vor. wenn auch das Dach
meist noch mit Holzschindeln gedeckt ist. Damit mindern sich die an den Bauern¬
häusern so vielgestaltigen Holzornamente, und so tritt das Gebirgshaus in
den Marktflecken meist nüchterner auf als in den Dörfern. Dagegen Snell
man durch blendende Tünchung und Freskomalereien an den Giebelsronten den
plastischen Schmuck zu ersetzen, wovon sich namentlich in Tölz, Mittenwald
und Wolfratshausen Beispiele finden. An einzelnen alten Gebäuden findet
sich wol auch noch eine widerspruchsvolle Vermischung von Bautheilcn des
städtischen und des ländlichen Hauses, wie etwa eine gothische Steingewandung
der Hausthür, Erker, gewölbte Gänge und Hallen. Eine solche Verbindung
von Gothik und Rococo, die vorzüglich bei ehemaligen Kaufmannshäusern
in Mittenwald und Partenkirchen vorkommt, erinnert lebhast an jene alten
Tage, wo der Handelszug aus Italien nach Augsburg sich noch auf dieser
Straße bewegte.
Die Märkte der Flache lehnen sich im Bau ihrer Häuser weit mehr an
den Stil der benachbarten Städte an, als an den des Bauernhauses. Ueber¬
haupt ist das hochgiebligc Haus dieses Landstrichs mehr durch den städtischen
Stil gefährdet als das des Gebirgs. Der Gebirgsstil beherrscht nicht nur
die Märkte der Berglandschaft, sondern dringt auch erobernd in die Flüche
rend selbst in die Städte derselben ein. In München z. B., wo die Altstadt
sicher kein historisches Exempel eines Gcbirgshauses zeigt, hat dieser Stil nicht
nur in allerlei neuen Kunstbauten Anwendung und Erweiterung gefunden,
sondern auch das neue Quartier am Türkengraben, das aus lauter kleinen
Familienwohnungen besteht, ist vorwiegend nach gebirgischen Muster gebaut,
und ebenso wurde das Haus des Bergbewohners typisch für die Villen der
Städter an den bayrischen Seen. Wo die Marktflecken des Flachlandes den
Stil des Bauernhauses zeigen, da findet sich dasselbe meist in seiner einfach¬
sten Farm, oft nur einstöckig; denn wer Geld hatte, baute lieber städtisch. Die
größern Gewerbs- und Handelsleute bedurften ohnedies für ihre Zwecke eines
mehr städtischen Hausplanes, und so blieb der bäuerliche Stil lediglich für
die kleinen Leute übrig.
Für das städtische Haus ist in Altbayern zunächst die Altstadt München
entscheidend. Sodann aber wirkte auch das Vorbild der Nachbarstädte Augs¬
burg, Passau und Landshut maßgebend auf die kleinen Orte an den Grenzen
des Kreises. So ist Friedberg in seiner Häuseranlage und in seinen Mauer¬
thürmen eine getreue Copie im verkleinerten Maßstab des nahen Augsburg.
So zeigen Moosburg und Freising Anklänge an Landshut. Und so erinnern
die Landstädtchen am Jnn durch ihre Hauptstraßen an Passau und Insbruck.
Die im deutschen Stil der Gasse zugekehrte Giebclfront ist nämlich hier mit
der breiten Fa^abe vertauscht, deren Fläche in einem hohen gradlinig abge-
schnittnen Maueraufsatze das Schindeldach der Art überragt, daß man Häuser
mit dem flachen italienischen Dach vor sich zu haben glaubt. Nicht weniger
mahnen die Zugänglichkeit des Dachs durch sogenannte „Feuergänge", welche
über die Schindeln hinüber zugleich zum Nachbargebüude führen, und die Ar-
caden des Erdgeschosses bei den Häusern des Marktplatzes an italienische Vor¬
bilder.
München unterscheidet sich von den drei großen monumentalen Städten
Ostbayerns: Augsburg, Regensburg und Nürnberg dadurch, daß es keine abge¬
schlossene Epoche darstellt, sondern sich fort und fort als eine werdende Stadt
auch architektonisch entwickelt hat. So wurde in der Altstadt die Gothik bei
Privathäusern bis auf einige spärliche Reste von den Rococobauten des sechs-
zehnten und siebzehnten Jahrhunderts verdrängt. Aber auch diese beherrschen
kein einziges Quartier mehr, sondern das nächstfolgende Süculum schob überall
seine breiten kahlen Fanden dazwischen. Die Epoche König Ludwigs stellte
in ganzen Stadtvierteln eine regelmäßige Neustadt neben die unregelmäßige
alte, und die neue Bauweise des jetzigen Königs zieht nun ihre imposante
Straßenlinie quer durch die wirre Anlage kleiner vorstädtischer Häuser an den
Thurm- und Mauerrcsten Altmünchens. An der Peripherie der Stadt breiten sich
Arbeiterwohnungen bald im Stil des Flachlandes, bald im modernisirten Ge-
birgsstil aus. Merkwürdig sind in den Vorstädten rechts von der Jsar die soge¬
nannten „Herbergen", Häuserantheüe, Stockwerke, ja bloße Zimmer, die als
Eigenthum besessen und als solches verkauft werden. Der Kern der alten
Stadt gehört in seiner äußern Erscheinung überwiegend den letzten drei Jahr¬
hunderten an und ist massiv, aber im Vergleich mit Augsburg, Nürnberg und
Regensburg sehr schmucklos gebaut. Dagegen erinnert die innere Einrichtung
der größeren alten Häuser mit der Thorfahrt in der Mitte, den Verkaussge-
wölben und Werkstätten zu beiden Seiten des Erdgeschosses, den engen, aber
traulichen Binnenhöfen, den breiten, mit Steinplatten belegten Hausfluren,
den Erkern, den Galerien und Umgängen an den Wänden des Hofes an das
bürgerliche Leben vor dem dreißigjährigen Kriege, welches den modernen Kom¬
fort zuerst in zweckmäßiger und sinniger Weise zur Geltung brachte.
Viel Gutes ist von der Wirkung der Eisenbahnen und der dadurch bewirkten
Mischung der Norddeutschen mit den südlichen Verwandten auch für Altbayern
zu erwarten. Die letztern reisen nicht, am wenigsten zum Vergnügen nach
der Streusandbüchse des heiligen römischen Reiches. Wol aber ergießt sich
der Strom der norddeutschen Touristen jeden Sommer in stärkern Massen in
die schönen Thäler Oberbayerns, und das muß über kurz oder lang seinen
Segen äußern. Nicht daß wir meinten, daß der Märker oder der Sachse dem
Bayern zu höherer Civilisation zu verhelfen bestimmt sei, und daß dieser von
jenem überhaupt viel zu lernen habe. Wol aber sollen und werden beide bei
näherer Bekanntschaft, zu der auch diese Auszüge verhelfen mögen, Störendes
vergessen: der Preuße, daß jeder Altbayer ein ungehobelter Bierlümmel ist.
der Altbayer, daß jeder Preuße so abgeschmackt hochnäsige Manieren hat. wie
manche seiner berliner Gardeleutnants und Judendandies.
Manches dürfte in dieser Beziehung sich schon wesentlich gebessert haben,
wenn auch der Fremdenstrom sür Münchner Naturfreunde, die für ihre länd¬
lichen Genüsse nicht gern zu viel zahlen, und die in den nördlichen Gästen
lauter steinreiche Leute zu sehn scheinen, vorläufig weniger Angenehmes als
Unangenehmes haben mag.
In Betreff dieser Verhältnisse bringt Steub mancherlei anziehende Noti¬
zen, die wir unsern Freunden für die künftige Saison zu beherzigen geben.
„Daß wir Münchner, ehemals Tonangeber und Herrscher im Oberland, jetzt
eigentlich expropriirt sind, daß uns die Gäste mit ihrer freigebigen Hand allent¬
halben zuvorkommen, daß wir statt der erwünschten Einsamkeit, in der wir
xroeul iivgotiis zu dämmern, und Bureaustunden, üble Launen der Vorge¬
setzten. Parteien und Klienten zu .vergessen pflegten, jetzt allenthalben feine
Geselligkeit, Gespräche über Literatur, hochschottisch aufgeputzte Kinder, zeich¬
nende Fräulein mit grünen Augengläsern, fischende Jungen im Shawl, ge¬
lehrte Theetrinker und viele andere fremdartige Erscheinungen antreffen, daß
wir, statt wie früher unsre alten Röcke sparsam auszutrngen, jetzt mit eleganter
neuer Gebirgstoilette erscheinen müssen, um nur noch gezählt zu werden, alles
das sehn wir nun, ergeben uns ins Unvermeidliche und trösten uns damit,
daß wir unsre Alpen auch noch in ihrer Reinheit und Jungfräulichkeit, in
ihrer Stille und in ihrem Frieden gesehn haben."
Sonst urtheilt man über die „Fremden" verschieden, doch meist günstig.
Sind auch solche darunter, welche die Gemüthlichkeit der Eingebornen keines¬
wegs erhöht haben, so „vernimmt man doch wieder sehr lobende Urtheile
über die Herren und Frauen aus Norddeutschland, über ihre zierlichen Manie¬
ren, über ihre gute Art, sich in dies und jenes zu schicken, auch über ihre
Dankbarkeit gegen alle, die sich um sie angenommen. Man erinnert sich
gern an die Dagewesenen und freut sich, wenn sie wiederkommen. Man hat
sich mit ihnen selbst in politischen Fragen verstündigen können und Grund zu
der Annahme gefunden, daß bald durch ganz Deutschland nur eine Meinung gehn
wird, nämlich, daß die jetzigen Zustände erbärmlich seien." Daß die Be¬
sucher so vergnügt sind, konnte manchen Wunder nehmen. In den Städten
gibt es gute Gasthöfe, aber auf dem Lande geht es doch noch sehr einfach
zu. Die Altbayern sind ein Wintervolk. Der Sommer gilt ihnen nur als
Nebensache, alle ihre Thatkraft ist darauf gerichtet, der rauhen Jahreszeit ge¬
hörig zu begegnen. Der Kachelofen steht wie ein Blockhaus in der Stube,
die Thüren sind niedrig, die Fenster klein. Ueberdies hat der Altbayer bei
seinen sonstigen Tugenden einen fatalen Hang zur Unbequemlichkeit. Man
hält viel aus Bänke, die zu schmal, auf Bettstellen, die zu kurz, auf Betten,
die centnerschwer sind. „Reinlichkeit gilt noch immer sür eine nicht ganz werth¬
lose, jedoch mehr facultative Tugend, die man allenfalls auch durch Treue und
Redlichkeit ersetzen könne." Bei den Leistungen der Küche muß man mehr auf
die Fülle, als auf die Zierlichkeit der Anrichtung und die feinere Kunst des
Werkes sehn. Nicht selten wird man in der Bratenbrühe eine geschmorte
Fliege, noch häusiger im Salat jenes Würmlein finden, „welches uns
bedeutsam an unsre Vergänglichkeit erinnert und auf das Jenseits hin¬
weist".
„Ein oft bemerkter Charakterzug" (den man übrigens bis Meran hin¬
ein verfolgen kann), „ist eine moralische Abneigung gegen schöne Aussichten."
Merkt so ein Wirth, daß eines seiner Fenster derartiges bietet, so setzt er rasch
einen Schuppen, einen Stall oder wenigstens ein paar Bäume davor. Die
Höflichkeit der Bedienung muß nach landesüblichem Maßstab gemessen werden.
„Auf unsrer Hochebne." sagt Steub, „versteht jedermann grob zu sein; nicht
blos Landgerichtspraeticanten, Eisenbahnconducteure. Hypothekenschreiber. Thea-
tercassirer, Truhenladcr und Postillone, sondern selbst graduirte Personen be¬
dienen sich zur Sicherung und Erhöhung ihrer Bedeutsamkeit oft mit Geschick
der derberen Landesmanier." — „Sollte des Guten mitunter zu viel gesche¬
hen, so ist dagegen der Pilger befreit von jener Aufdringlichkeit (der Lohn¬
bedienten, Führer, Schnittwaarenhändler, Blumenmädchen u. a.), die in der
Schweiz so lästig fällt." Die früheren Kellnerinnen, jene schlanken neckischen
Elfen Altbayerns, haben sich nahezu verloren. Die schönen kann man nicht
länger als drei Vierteljahr im Hause behalten, und so wählt man lieber gar-
feige. die über Furcht wie über Hoffnung hinaus sind. Sie thun's auch,
jedenfalls sind sie besser als der windige Kellnertroß des Hotels.
So weit im Urtheil über die neue Verfassung die Interessen und Wünsche der
einzelnen Provinzen von einander abweichen mögen, in einem Punkt werben sie einig
sein, daß durch das kaiserliche Diplom vom 21. October die Zukunft Oestreichs ent¬
scheidend und unabänderlich festgestellt ist. Es ist ein Schritt, durch den in unum¬
wundenster Weise mit dem System der letzten zwölf Jahre gebrochen wird; ein
Schritt, der, welches auch die Folgen sein mögen, nicht mehr zurückgethan werden
kann.
Unser eignes Urtheil haben wir bereits im Voraus bestimmt, als wir uns für
das Majoritätsvotum des verstärkten Neichsraths aussprachen, welches in der That
die Grundlage der neuen Verfassung geworden ist. Zwei wiener Blätter haben
darüber gestritten, ob wir es ernst oder ironisch meinten. Wir haben es vollkommen
ernst gemeint. Nach unsrer Ueberzeugung ging Oestreich aus dem bisherigen Wege un¬
rettbar einem schleunigen Untergang entgegen- gerettet konnte es nur werden, wenn
es das Unternehmen aufgab, gegen die Nationen, aus denen der Staat zusammen¬
gesetzt ist, zu regieren, und statt dessen den Versuch machte, durch diese Nationen zu
regieren. Oestreich ist durch seine Lage wie durch seine Geschichte zu,einem Fvdcrativ-
staat bestimmt: daß diese Staatsform keineswegs mit Nothwendigkeit eine Schwächung
der Monarchie in sich schließt, zeigt die glorreiche Periode Maria Theresias.
Freilich sind im gegenwärtigen Augenblick in Bezug auf eine solche Staatsform
die Ungarn in einer ungleich günstigern Lage als die übrigen Kronländer; sie haben
eine alte Verfassung, aus der man weiter bauen kann, die andern nicht. Wir be¬
greisen vollkommen, daß die Deutschen in Oestreich diesen Nachtheil ihrer Stellung
mit Verdruß empfinden; aber sie thun Unrecht, diesen Verdruß zum Maßstab ihrer
politischen Haltung zu machen. Die liberalen Oestreicher oder vielmehr die Wiener
gerathen dadurch in die größte Gefahr, überall den Feinden der Freiheit in die Hand
zu arbeiten. Als wir uns 1849 in Deutschland constituiren wollten, schrien sie uns
zu: ihr dürft nicht! denn wir können an eurer neuen Freiheit keinen Theil nehmen.
Als die Italiener nach Gründung eines nationalen Staats strebten, schrien sie ihnen
wieder zu-, ihr dürft nicht, denn Wien leidet darunter. Dasselbe Argument wird jetz
gegen die Ungarn gewandt. Wäre es freilich ein unerschütterliches Dogma, daß der
alte Refrain: „s'gibt nur a Kaiserstadt, s'gibt nur a Wien!" die Politik bestimmen
soll, dann müßten Deutsche, Ungarn, Italiener sich bequemen, diesem Dogma zum
Opfer zu fallen. Aber die Geschichte wird über dieses wie über manches andere Lied
zur Tagesordnung übergehn.
Unsere Beistimmung knüpft sich allerdings an zwei Voraussetzungen.
Gcschchnes Unrecht ist nicht durch einen plötzlichen Schritt wieder aufzuheben ; es
wirkt in seinen Folgen nach. Wenn die Ungarn nur ihrer Vernunft und nicht ihren
Leidenschaften folgen, so können sie die neue Verfassung unbedingt acceptiren, denn auf
dieser Grundlage kommt es nur auf den guten Wille», die politische Bildung und
die unverdrossene Thätigkeit des Volks an, sich den unabhängigsten Völkern En-'
ropas an die Seite zu stellen, ob das aber der Fall sein, ob Ungarn seine Leiden¬
schaften der kühlen Ueberlegung wird unterordnen können, das ist eine Frage, zu
deren Beantwortung uns die Daten fehlen. Der Galgen, an den man Bathyani
hing, wird schwer aus der Erinnerung zu verwischen sein. Der Hauptzweck der
Regierung bei der neuen Verfassung war, sich mit den Ungarn zu versöhnen: ge¬
lingt ihr das nicht, dann freilich hat sie ihren Feinden eine furchtbare Waffe in die
Hand gegeben. Aber einmal hängt der Erfolg jund vielleicht zum größten Theil
von ihrer eigenen Haltung ab; sie kann sehr viel dafür thun, durch rückhaltlose
Offenheit das verscherzte Vertrauen wieder zu gewinnen. Freilich hat Oestreich schon
einmal eine Verfassung gehabt, die man eben ohne Weiteres cscamotirte. Für
Ungarn liegt diesmal der hauptsächlichste Grund besserer Hoffnungen in der Persön¬
lichkeit der leitenden Männer. Der neue Hofkanzler ist mit einer fast discretionüren
Gewalt ausgestattet, und seine Persönlichkeit bürgt dafür, daß er sie zum Nutze»
seines Vaterlandes anwenden wird — Endlich aber: — mit welcher Gefahr auch das
neue Experiment verbunden sein »eng, es »rußte um jeden Preis gewagt werden,
denn auf der andern Seite stand der sichere Untergang.
Die Ausführung — und das ist unser zweites Bedenken — steht durchaus
nicht auf der Höhe des Princips. Wir wollen nicht verkennen, daß im Drang der
Umstände, bei der Hast, die vielleicht nöthig war, manches übereilt werden mußte,
was bei gründlicherer Ueberlegung vielleicht eine reifere Form gefunden hätte; aber
die Edicte lassen noch gar zu viel zu wünschen übrig.
Man wird uns in folgenden Grundsätzen Recht geben: 1) die Negierung muß
so wenig als möglich versprechen und vertrösten, sie muß, was sie bewilligen will,
aus einen Schlag bewilligen; 2) sie muß so viel als möglich, wenigstens was die
Form betrifft, restauriren, und, wo nichts da ist, octroyiren. Notabeln und constituireude
Versammlungen dienen nur dazu, einerseits die Hilflosigkeit der Regierung an den Tag
zu legen, andererseits dem leidenschaftlichen Gefühl der Menge über die politische
Bildung das Uebergewicht zu verschaffen. Aus constituirenden Versammlungen ist
nur selten etwas Kluges herausgekommen, und wenn wir an die Masse von gro¬
ßen und kleinen constituirenden Versammlungen, Vertrauensmännern und Notabeln
denken, die im nächsten Vierteljahr den noch ganz ungeübten Boden Oestreichs durch¬
wühlen werden, so wird uns ziemlich bedenklich zu Muth. Man konnte in Ungarn,
in Böhmen, allenfalls auch in Kroatien, einfach auf die alte Verfassung zurück¬
gehn, mit. Vorbehalt einer Reform derselben durch die Uebereinstimmung der beiden
gesetzgebenden Gewalten , für die deutschen Erdtaube konnte man unter demselben
Borbehalt eine Verfassung octroyiren. Wenn den letzter» etwas Positives" und Soli¬
des geboten wurde, so war einige Hoffnung vorhanden, ihren Verdruß zu beschwich¬
tigen: die gegenwärtigen Verheißungen sehn gar zu lustig aus. Eins aber mußte
man von vornherein bewilligen, was unzweifelhaft alle Landtage fordern und zuletzt
auch durchsetzen werden, nämlich Preßfreiheit. Statt dessen verkümmert man noch
in diesem Augenblick der so überaus loyalen Presse ihr ohnehin schon schwaches
Dasein. Die Preßfreiheit ist vielleicht für einzelne hochgestellte Persönlichkeiten, aber
nie für einen Staat zu fürchten, der feine Schuldigkeit thut. Man blicke doch nur
auf Preußen! seit zwei Jahren hat es wirklich Preßfreiheit, und noch nie gab es
eine loyalere, patriotischere Presse als die gegenwärtige.
Zu den zahlreichen Unbestimmtheiten in der neuen Verfassung gehört die Zu¬
sammensetzung des Ncichsraths. Es ist ein Fortschritt, daß er durch Deputirte der
Landtage verstärkt werden soll, aber dieser Fortschritt genügt nicht. Wenn er wirk¬
lich über die allgemeinen Reichsangelegenheiten Eontrole ausüben und durch seine
Beistimmung den Handlungen der Regierung größeres Gewicht verleihen soll, so muß
er ganz unabhängig, d. h. er muß aus Abgeordneten der Landtage zusammengesetzt
sein. Ein Staatsrath kann diesem Ccntralorgan als erste Kammer zur Seite stehn.
Die wiener Börse hat die neue Einrichtung mit einer Baisse begrüßt, d. h. sie
fürchtet, man werde die Versöhnung mit Ungarn zu einem Kriege gegen Italien
benutzen. Wir theilen diese Furcht nicht. Die ohnehin sehr schwachen Aussichten
der Regierung, Geld zu bekommen, werden wenigstens für den Augenblick durch die
neue Einrichtung nicht erleichtert. Der Reichsrath, der neue Schulden bewilligen
soll, kann es nicht eher thun, als bis er vollständig ist; vollständig wird er aber
erst dnrch die Wahlen der Landtage: d. h. die Einberufung der Landtage muß der
Geldbewilligung vvrausgchn. Diese Einberufung hat aber noch so viele Instanzen
durchzumachen, daß es mit dem Krieg vorläufig seine guten Wege hat. Auch die
preußische Note nach Turin sieht nicht sehr kriegerisch aus.
Zum Schluß dieser Betrachtung noch eine Mahnung vom deutschen Standpunkt. Es
genügt nicht, daß Oestreich seine innern Angelegenheiten ordnet, es muß auch seine Verhält¬
nisse zum deutschen Bunde ins Klare setzen. Dies kann zum Vortheil für beide Theile
nur auf eine Art geschehn: daß sich Oestreich mit Preußen über den Hauptpunkt, über
die Bundcskriegsverfassung verständige. Dazu hat es jetzt die beste Gelegenheit.
Denn die Würzburger Vorschläge sind so unannehmbar, daß selbst die bescheidensten
Erwartungen getäuscht werden und daß Preußen klar einsehn muß, auf dem bis¬
herigen Wege komme es keinen Schritt weiter. Wir glauben aber nicht, daß Preußen
auf seinem alten Vorschlag bestehn wird, sondern daß es in seinem und im deut¬
schen Interesse, das in diesem mit dein östreichischen ganz zusammenfällt mehr
1' t
Ehe wir in unserm Bericht weitergehn, wird es zweckmäßig sein, den all¬
gemeinen Eindruck des Bisherigen zu vergegenwärtigen.
Die Jahre, in welche die Unionsverhandlungen fallen, waren überreich
an theologischen Streitigkeiten. Auf den Kampf der Orthodoxie gegen die
Helmstädter folgte der noch wüthendere geg/n die Pietisten, dessen Blüten¬
zeit die Jahre 1689—1722 umfaßt, dessen Nachwirkungen zwar noch länger
dauern, der aber durch den Krieg gegen die Rationalisten, d. h. gegen die
Schule Leibnitz', in den Hintergrund gedrängt wird, bis endlich, nach dem
Auftreten von Klopstock, die ganze Theologie den poetischen Kontroversen Platz
macht. — Wer in der traurigen Lage war. die ungeheuern Actenstücke der
pietistischen Händel durchblättern zu müssen, wird ungefähr das Gefühl haben,
als wenn er sich in einer Schenke befand, wo schlechter Tabak geraucht wurde,
durch den Geruch von Bier und Branntwein gewürzt. Ganze „Mistkarren
von Schimpfwörtern" fallen von links und von rechts, und der Eifer der
wuthentbrannten Kämpen ist bei weitem größer als ihre Vernunft; nur selten
trifft man auf ein Wort von tieferer Einsicht, auf höhere, wahrhaft menschliche
Gesichtspunkte. Beide Parteien poltern heraus, was sie gelernt; und man
erinnert sich an die gleichzeitigen akademischen Sitten, an die wüsten Unflä-
tereien des Pennalismus: wie die Jungen so die Alten; nur daß die Letzte¬
ren sich auf die Druckerschwärze beschränken. Ganz anders wird die At¬
mosphäre, wenn man Leibnitz' Briefwechsel ausschlägt. In Ausdrücken und
Gedanken das feinste Parfum; die Gegner eröffnen das Duck! mit den zier¬
lichsten Complimenten; hin und wieder sitzt ein Stoß, aber das Fleuret ist
ohne Spitze, man will nur seine Fechterkünste zeigen, nach den strengsten Re¬
geln der edlen Kunst; hat man dem Gegner einmal die Klinge aus der Hand
geschlagen, so beeilt man sich, sie bei der Spitze aufzuheben und mit einer
Verbeugung ihm wieder zu überreichen. Nur selten ein hitziger Ausdruck; nie
gemeine Roheit, man glaubt sich in eine andere Zeit versetzt. — Aber die
Sache hat noch eine andere Seite. — Dort in der Schenke, so wüst es zu¬
geht, hat man das Gefühl der Realität; es ist deutsches Leben, das ver¬
worren und unschön, aber doch mit Wärme, mit völliger Betheiligung des
Gemüths, sich regt: hier im Salon wissen wir nicht, um was es sich
eigentlich handelt. Dieser Aufwand von Geist und Scharfsinn und doch kein
eigentlicher Zweck! — Damit hat man zugleich 5as Verhältniß Leibnitz' zu
Spener, Thomasius u. s. w.: durch seine Bildung stand er über, d. h. auch
außer seiner Zeit; seine Wirksamkeit konnte nur der Zukunft gelten. Und
diese erfolgte in der That erst durch Wolf, dann durch Lessing: und wäre
Goethe nicht zufällig auf Spinoza gerathen, so wäre er der unmittelbarste
Nachfolger von Leibnitz geworden. Denn an Talent sehr verschieden, zeigt
der Geist dieser Männer eine ganz wunderbare Verwandtschaft: es läßt sich das
im Einzelnen begründen.
Leibnitz hatte nicht immer, aber von Zeit zu Zeit ein Bewußtsein dieser
Stellung: viel deutlicher als in den Verhandlungen mit Bossuet tritt das in
den Briefen' an den Landgrafen Ernst hervor. — Der alte Herr zählte jetzt
(1691) 68 Jahr; nach einem wilden abenteuerlichen Leben hatte er sich auf seiner
Beste Rheinfels zur Ruhe gesetzt, sammelte eine große Bibliothek, die leider
kurz vor seinem Tode verbrannte, und führte eine Korrespondenz von unglaub¬
licher Ausdehnung, über politische und religiöse Angelegenheiten, in einem
Französisch, wie es weder vorher noch nachher je geschrieben ist. und von
dem aus einem Brief an Leibnitz, 18. December 1691, hier eine Stelle stehn
mag. Vorher macht er den Leibnitzischcn Unterschied zwischen formellen und
materiellen Ketzern lächerlich. 5tous autres OiMoIiczues, e'est ii. ein-e ceux
<mi L'sntsmleut g. 1» reliZlon et Z. son int^red, teirovs uns tout hintre eon-
cluite; Z. skvoir cle us vouloir avoir l'erunt xartage ni t'euclu on tue; ^je
veux all-e, it vaut et taut dieir mieux, yue tous Je8 sie non8 devoz^s (die
von uns Abgeirrten) aillent je us Lg.is c>ü (d. h. zum Teufel), yue non, yue
xvur une Mix xlktree, xour ne dirs ^e ne sg.is hum, xrejuäieier an re8te
et an xriueiMl ä'auxres Ac nous (wie Spinola); ltÜLsons, xour le eure
kranedemeut, plutot aller les ?i'oteswus (puisqu' g.U88i Kien ils le veulent
ainsi et <zue 8'vu est <Mr kalt) la on ils veulent (d. h. wieder zum Teufel),
yue xar un ^e ne sais c^uel plus mal yue 1'Ker^8le nome mauclit s^irore-
tisme inkeeter ce qui vous reste an äewis et uautraAe ac ig. moitie
M^si 6e I'Luioxe. Bossuet hatte sich höflicher ausgedrückt, aber im Ganzen
hatte er dasselbe gesagt. Gleichzeitig schrieb der Landgraf gegen Leibnitz.
Seckendorf und Ludolf eine Satire, ac trMIio Lutderauo, in welcher er es von
Leibnitz dahingestellt sein ließ, „ob solcher Gott weiß auf was für einen Trieb
und Respect über das und soviel Raffiniren nicht in Jndifferentismum ge¬
rathen sei, daß man nicht eben wie der h. Hieronymus vormals von Rnffino
gesagt, gleichfalls von ihm billig sagen könne: (Zuisyuis est, irostvi- non oft".
Seinen Korrespondenten gegenüber hatte der alte Herr mit seinen Bekeh¬
rungsversuchen, so eifrig er sie fortsetzt, kein Glück: er hat keinen Einzigen zu
seiner Kirche herübergezogen. Ein größerer Erfolg wurde ihm bei einer an¬
dern Classe: junge Mädchen von 14—18 Jahren, die er seit 1671 aus seinem
Schloß hielt und zuweilen auch mit nach Venedig nahm. Er wünschte von
ihnen caressirt zu sein, aber durchaus in Ehren, wie er sehr ernsthaft ver¬
sichert; gewöhnlich entließ er sie, bekehrt und mit einer reichen Aussteuer ver¬
sehn, in ihre Heimath. Im Februar 1692 heirathete er, 09 Jahr alt, ein sieb¬
zehnjähriges Fräulein zur linken Hand. Ueber die Ehe dachte Leibnitz noch
freier; was er den Katholiken am heftigsten vorwarf, war das Dogma von
der Unauflöslichkeir der Ehe: er wies mit vollem Recht auf die unsittlichen
Folgen hin, die daraus entsprangen, (z. B. Rommel II. S. 391—92) und kam
mehrmals auf die Berechtigung der Vielweiberei zurück, wenigstens in Aus¬
nahmefällen: schon weil man dadurch die Asiaten viel leichter werde zum
Christenthum bekehren. Der Landgraf fand die Ansicht theologisch nicht correct,
aber im Ganzen war er auch dafür.
Leibnitz machte ihn (December 1691) darauf aufmerksam, daß die Vereinigung
zwischen Rom und Augsburg um so denkbarer sei, da die Kirche in ihrem
Schooß doch auch die Jansenisten und Molinisten ertrüge, die weit mehr von
einander abwichen: denn die (theoretischen) Streitigkeiten zwischen Jenen seien
nur speculativer Art; während diese sich auf das Wesen der Frömmigkeit be¬
zögen. Denn ob die Liebe Gottes zur Seligkeit nothwendig sei, das zu wissen
sei viel wichtiger, als die Frage, ob und wieviel Brod sich in Fleisch ver¬
wandle. Ueber solche Ausdrücke wurde der Landgraf etwas wild: „es ist nichts
so absurd, schreibt er 18. Januar 1692, als zu glauben, daß die von einigen
Lutheranern Spinola gemachten Anerbietungen nur im kleinsten Punkt haltbar
seien; man sollte sich schämen daran zu denken, als könnten wir in einem
Concil verheirateten Superintendenten den Zutritt verstatten: g, ciuoi songes-
vous, noir von Ur. I^öidmtü, ac eroirs «M'co. csls. sois ne votre sentt-
mont et. äösir? — Desto schlimmer! antwortet Leibnitz (30. Januar), wenn man
um solcher Spitzfindigkeiten willen die Einigung verzögert, durch bloße Macht¬
sprüche ohne Gründe. Freilich ist es von den Protestanten unhöflich, den
Papst den Antichrist zu nennen: soviel aber ist gewiß, daß es in der Kirche
nichts Schlimmeres gibt, als einen schlimmen Papst. Freilich ist die Union
zwischen Augsburg und Genf leichter als die zwischen Augsburg und Rom:
denn dort handelt es sich nur um speculative Fragen, hier um praktische (jetzt end-
lich sieht es Leibnitz ein!), und das will viel mehr sagen. Auf Chimären ist die
römische Praxis gegründet, aber aus diesen Chimären sind wirkliche Uebel
hervorgegangen, denen die Reformation wenigstens zum Theil abgeholfen hat,
indem sie sich der alten Kirche wieder näherte. Rom ist nicht blos gegen die
„Ketzer" hart, ich wollte z. B. Arnauld nicht rathen, nach Rom zu gehn; die
Luft ändert sich dort zu rasch je nach der Laune der Päpste. — Die Katho¬
liken, Lutheraner und Socinianer folgen jede zu einseitig einem Princip:
der Tradition, der Schrift, der Philosophie; alle diese Principien sind gut,
aber man kann sie mißbrauchen, und daher kommen die Irrthümer. — Das
ist stark! antwortet der Landgraf 29. Febr.: mai8 no doutW gue ^ ne vous
ig. xg-7<z g.pee usurs eir son temxs, clara es ssincl droekön ä^rirme, ^« veux
airs cle xillulss d'uns un xsu trop aure äiZskition xour moi, csuoiMe
votre bon ami. — Da man seine Verhandlungen mit Spinola noch immer
mißversteht, antwortet Leibnitz diesmal deutsch, 31. März: „Ob ich schon zweifle,
daß die Sache gestalten jetzigen Umständen nach vollkommen thunlich, ja
vielmehr das Gegentheil glauben müsse, so hielte ich sie doch dessen ohngeachtet
vor nützlich und wichtig, weil damit ein Grund gelegt würde, darauf
vielleicht die Nachwelt bauen könnte; und sei die Frage demnach nicht
cle xi'kxi sondern as tlrsoris.: wenn nämlich die Gemüther der Menschen dazu
geneigt wären, ob alsdann eine solche Art der Vereinigung mit gutem Ge¬
wissen geschehn könnte, und folglich (positis xcmenäis) den Gesetzen der christ¬
lichen Liebe nach geschehn sollte. Ohngeachtet ich mich nun zum öftern er¬
klärt, daß dies die eigentliche Frage sei, so hilft doch alles nichts, man fällt
immer wieder aus Motria und will mir mit Gewalt aufbürden, ich hielte
die Sache anjetzo für practicabel und hoffbar; und disputirt angeblich dagegen,
anstatt mit Ja oder Nein auf den Hauptpunkt zu antworten. — Wenn man
sagt: „daß einige vornehme Doctores ganz milde Interpretationen des Triden-
tiner Concils gegeben, sei nicht dahin angesehn, als wollten sie solches alteriren,
sondern allein um den Protestirenden den Weg zu erleichtern, damit sie sich
demselben unterwerfen mögen," so finde ich solche Worte etwas dunkel und
mißlich. Entweder die mildere Erklärung seynd dem wahren Verstand des
Concils euLgegen oder nicht: seynd sie dagegen, so folgt eins von beiden,
entweder diese Doctores wollen das Concil alteriren, oder sie wollen die Pro¬
testirenden betrügen; seynd sie nicht entgegen, so muß man nicht sagen, sie
gelten nur solang bis man den Zweck erreichte, sondern man muß sie unter
deu römisch-katholischen selbst ausbreiten und dadurch den Weg zur Einigkeit
bahnen." —Der Gegensatz war zu stark geworden; die Briefe werden kühler
und kürzer, doch dauern sie fort bis unmittelbar an den Tod des Landgrafen,
12. Mai 1693.
Zwischen Spinola, Molanus, Leibnitz, der Herzogin Benedicte (z. B.
30, Mai, 2. Juli 1694) dauerten die Unterhandlungen immer fort. Leibnitz
kam wieder auf den Gedanken, den er schon einmal vor acht Jahren aus¬
geführt: er schrieb unter der Maske eines Katholiken das ^uäieiuin cloetoris
eg-tnoliei trerotatu reumonis (II. S. 46—64), das er nach vorhergehender
Berathung mit Molanus 5. Juli 1694 an Spinola überschickte, mit der Auf¬
forderung, seinerseits unter der Maske eines der Union geneigten Lutheraners
eine ähnliche Schrift zu verfertigen, so daß die Rollen sich tauschten : je mehr
sich nun in beiden die Ideen näherten, desto leichter würde für die Zukunft
die Einigung werden. Das Project fand bei Spinola (22. November) großen
Beifall; aber er starb darüber 12. März 1695. Nach dem, was wir oben
erfahren, war das Ganze doch nur ein geistreiches Spiel. Ein humoristischer
Brief an Sophie (6. December 1694) läßt über die Stimmung des Philosophen
keinen Zweifel, wie denn überhaupt, wo die beiden sich vertraulich unterreden,
die heiligen Dinge ziemlich frivol behandelt werden; mitunter möchte man
sagen, faunisch.
Unter diesen Umständen hatten die wohlgemeinten Bemühungen Schwester
Mariens wenig Aussicht auf Erfolg. „Wenn Sie zu uns träten," ruft sie ihm
11. Febr. 1694 zu, „so würden Sie durch die Kraft Ihres Geistes, von Gott
geleitet, ganz Deutschland bekehren." Leibnitz lehnt (30. Mai) die persönliche
Wendung entschieden ab, und fordert sie auf, Bossuet zur Antwort auf seine
Frage zu bestimmen: dann würde für die künftige Einigung der Kirchen ein
solider Grund gelegt sein. — Sie ist, fährt er 28. Februar 1695 fort, nur
unter zwei Bedingungen möglich: 1) daß man uns nicht die Annahme von
Glaubenssätzen zumuthet, die durch eine Kabale im vorigen Jahrhundert und
wie zum Hohne der Deutschen eingeführt sind; 2) daß man die Mißbräuche
abschafft, die dem Christenthum Schande machen. — Wenn Bossuet verlangt,
man solle sich vom philosophischen Geist frei machen, so heißt das nichts an¬
ders, als man solle sich von der Wahrheitsliebe frei machen. Wenn ich Lust
gehabt, mich zu bekehren, so würde es geschehn sein, als ich katholischen Herren
diente; aber ich hielt es für gefährlich für das Seelenheil. — Sie selbst, Ma¬
dame! denken Sie an die Gefahr Ihres Zustands! Ihre Gaben gehn weit
über das Maß Ihres Geschlechts; ich habe Sie abergläubische Dinge oft mi߬
billigen hören. Aber das genügt nicht: man muß dafür sorgen, den Irrthum
abzuschaffen, oder wenn man die Hoffnung aufgibt, muß man offen mit denen
brechen, welche die Kirche Gottes entstellen, sonst nimmt man an ihrer Ver-
dammniß Theil. — Im Gegentheil fügt man zu den alten Narrheiten noch
neue: lesen Sie, Madame, selbst im Journal des Savants die abenteuerlichen
Wundergeschichten, die ein Mensch von gesunden Sinnen sich schämen würde,
in Gegenwart eines Protestanten zu erzählen! Spricht sich aber ein aufgeklär¬
ter Katholik über diese Fabeln aus. so verfällt er der Inquisition. ?out
^ soutenir la hÄMtöllö, et A. ötoutler los lumiöres <lui L0ut Kireore restlos
xaimi vous: ^us hors-it-es s'it n'z^ irvs.it xlus as prot^stans aoud
l'axxr^Iiensioll vbliZö eireore un xsv. vos gsns ä'aller driäs <zu
mairr! Die Andacht des katholischen Volks ist ganz sinnlich; Geist und Wahr¬
heit sind erdrückt, Wenn man bei euch vom lieben Gott spricht, so meint der
Pöbel damit ein kleines weißes rundes Gebäck, welches ein Priester trägt und
der Anbetung ausstellt. Um Gotteswillen. Madame! ist das etwa das höchste
Wesen, das allein Anbetung verdient, und das unsere ganze Seele fordert?
ist es nicht eine Schmach für dieses Wesen, sich es auf eine so unwürdige
Weise vorzustellen? Solche Dinge erklären die Verachtung der Mohammedaner
gegen das Christenthum. — Bossuet irrt sich, fährt er 18. April fort, wenn
er glaubt, bei uns überwiege der Jndifferentismus; im Gegentheil, die Eiferer
herrschen bei uns. — Nicht wir sind die Schismatiker, sondern ihr! denn ihr
hindert die Einigung. Der Sektengeist ist es, der eure Flüche gegen die Ketzer
hervorruft. Das ist nicht die wahre Liebe zu Gott, wenn man seinen Nächsten
nicht liebt; und man liebt ihn nicht, wenn man mit vorschnellen Urtheil ihn
zum Teufel in die Hölle schickt, um dort ewig auf Gott zu lästern! Es ist ein
Greuel und eine Schande, wenn man diese Lieblosigkeit erwägt! — So hat
Leibnitz endlich die Sprache gefunden, die ihm ziemt, und Schwester Marie
bleibt nichts übrig, als an Bossuet (5. Juni 1695) einen klagenden Brief zu
schreiben, und ihn zu beschwören, ihr zur Hilfe zu kommen.
Aber Bossuet bleibt taub, und einige Jahre fallen die Versuche ganz weg.
Es ist Schwester Marie, die sich 22. Febr., 2. Juli 1697 zuerst wieder an
Sophie wendet/) Sie macht es dringender als je, begeht aber dabei die Un¬
geschicklichkeit, den vertriebenen König von England als einen Heiligen und
Märtyrer zu feiern, was gar nicht im Geschmack der Kurfürstin lag, die ihre
Ansprüche aus England grade aus die Vertreibung jenes Heiligen gründete.
Diesmal erfolgte eine ganz spöttische Antwort. „Man muß leider," schreibt
Sophie, „aus dem Weg zum Paradies bleiben, den uns die Vorsehung an¬
gewiesen, wenn man weder Geist zu einer bessern Wahl noch Muße hat, alles
was für und wider geschrieben ist, zu lesen. Und ich denke, daß die Geistes¬
ruhe, die mir der liebe Gott gegeben, eine zu große Segnung ist, als daß ich
mich unter die Zahl der Verstoßenen rechnen sollte. Auch David wollte ja
nur Thürsteher im Hause Gottes sein; wie käme es mir zu, größere Ansprüche
zu machen? Diejenigen, die reifer sind als ich, werden ohne Zweifel glän¬
zendere Stellen einnehmen, denn Christus sagt, daß in seines Vaters Hause
mehrere Wohnungen sind. Wenn Sie nun Ihr Gemach einnehmen und ich
das meinige, werde ich nicht verfehlen. Ihnen die erste Aufwartung zu machen,
und hoffe, daß es dann ohne religiöse Dispute abgehn wird. Ich glaube
nicht, daß der liebe Gott dem Teufel den Ruhm lassen wird, den größer» und
schönern Hof zu haben, und das geschähe doch augenscheinlich, wenn blos die
Anhänger des Papstes selig werden sollten, unter denen, wie ich höre, auch
nicht lauter Heilige sind. Uebrigens haben Sie eine bewundernswürdige Art,
sich auszudrücken, und ich freue mich, daß Ihr Glaube Ihnen Trost gibt."
Noch einmal, bei Gelegenheit einer Kondolenz und einer Gratulation (22. Febr.
18. Dec. 1698) wiederholt Schwester Marie ihren Versuch. „Liebste!" ant¬
wortet die alte Dame 2. Jan. 1699, „es handelt sich um den Glauben, und
da hat die Vernunft keinen Theil: was Sie glauben, das wissen Sie nicht;
wie wollen Sie denn andere davon überzeugen? Wenn Se. Paulus, wie Sie
erwähnen, nach allen seinen guten Werken noch nicht wußte, ob er Liebe oder
Haß verdiene, so ist das nicht sehr tröstlich; wenn man über dergleichen zuviel
grübelt, so wird man unklug. Gott sei Dank, ich traue auf Gottes Güte!
es ist mir nie eingefallen, daß er mich geschaffen haben könne, um mir Böses
zuzufügen; und wie würden wir ihn den lieben Gott nennen, wenn er uns
gemacht hätte, um auf ewig verdammt zu werden! Ich habe grenzenloses
Zutrauen zu ihm; und da ich mich bemüht habe, nach besten Kräften zu han¬
deln, so glaube ich, daß wenn er mich anders gewollt, er mich auch anders
geschaffen hätte. Was mir von den Katholiken eine ziemlich schlechte Meinung
gibt, ist die Art, wie man jetzt in Frankreich gegen unsre Glaubensgenossen
verfährt. Das muß eine schlechte Religion sein, die so schlechte Handlungen
veranlaßt wie die Bartholomäusnacht, die Pulvcrverschwörung, die Ermordung
von Heinrich dem Dritten und Heinrich dem Vierten. Sind das etwa die
guten Werke, die aus dem rechten Glauben entspringen? steht nicht geschrieben,
daß der Glaube todt ist ohne die guten Werke? Ganz Deutschland, England
und Holland, die von Flüchtlingen wimmeln, sind Zeugen dieser schönen Re¬
ligion! Der Himmel fragt nach unsern Werken, nicht nach unsern Worten."
— Leibnitz hatte den Brief gelesen und gebilligt, und fuhr doch grade in
dieser Zeit in seinen Unterhandlungen fort.
Zwei jüngere Söhne Sophiens, Maximilian und Christian, durch die
von Ernst August errichtete Primogenitur von der Thronfolge ane-geschlossen,
und im Einverständnis; mit dem Herzog Anton Ulrich in beständiger Oppo¬
sition gegen ihren Vater, standen in kaiserlichen Diensten; man meldete schon
im März 1695. Maximilian sei in Italien katholisch geworden. In einem
Schreiben an seine Schwester, die Kurfürstin von Brandenburg, 5. Sept. 1697.
stellt er es in Abrede. II est vrai «zus Mime-tort Is euanMment, mais es
n'czst xas as-us ig. rsliZion on ^ ig drsieliö. L'it 7 n-uralt, <lW coul'oimW
as röste, on czmelqus gravä g.og.uta>M g. tÄire, xeut-fers hu'on aurs.it raison
ä'avoir ac semblables soux^vns, xuis<in'i1 ne serait xs.8 dlamabls qus js
soo^s Z. ass Moires is misux qms je xuis, et que je onsrelie les moz^eus
pour nie bien etadlir. Nais ce bruit n'a xour but que 1a seule religion,
et je ne suis xg.s asss^ äövot xour äonner aan>8 ce panusau sans savoir
xourquoi ni xour quelle den. Li vous in's.uris? an que js Zagnerais par
is, 50,000 sens as revenu, je veus aurais äomi6 toute 1a raiso» an nouae
ac ereire ess sortes as bruns, mais, cela it'etant point, je us sais ce czus
je vouL zr Ms rsxvnärs. U'e sg-ve^-vous xs.3 que 1'iutöret et 1a re-
liAion vnd tsujours ete ac si kiäeles eomxg.guon8 qu'on ne psut
xg.8 los ssxarsr? . . Nais, xour unir mon äiseours, js veus assurs et
vous xromets que js vivrai autant xauvre lutliöiisu ju8<zu'a ce czms je
xuisse äsveiiir riede eatnoligue. Das Jnteressanteste an diesem Brief ist,
daß — Maximilian wirklich übergetreten war!! (Vgl. Havemamn's Ge¬
schichte von Braunschweig und Lüneburg III. S. 317. 364. 336. 314: der
Verfasser scheint diesen Brief nicht gekannt zu haben). — Ehrbarer drückt sich
der jüngere Sohn (12. Oct. 1697) gegen seine Mutter Sophie aus, die ihn
scheint zur Rede gestellt zu haben: ce us ssraient Mmais les biens ni Iss
eeuronusL qui ins teraieut eatlivlique, s. moins que js us tusss bisn psr-
8uaäe ac Kire xlutot mon salut sri cette reli^ion qu'su eslle on je suis.
Le n'si-t xas que je ne eroie qu'en xeut aussi aisement cers sauvs äaus
uns reliZiou qu'co 1'g.nere, mais e'est que j'olkenssrais 1e den vieu su
<ma,RA6g.ire, ass mameres as 1'g.äerer purement xour 1'argsut.
Kronen thaten viel bei den Fürsten in jener Zeit, wo das Volk so sehr theo-
logisch war. Eben war um der Krone Polens willen der erste protestantische
Fürst Deutschlands August der Starke, Kurfürst von Sachsen, übergetreten.
„Ihr großer Kurfürst, schreibt Leibnitz 4. Juni 1697 an einen Vertrauten des
brandenburgischen Ministers Danckelmann, ist jetzt das Haupt der Protestanten
im Reich. Ich zweifle nicht, daß man mit Ernst bei Ihnen an das denkt, was zur
Erhaltung der Protestanten wesentlich. Man muß unter anderen daran arbeiten,
jene^s eitle Phantom der Trennung zwischen den beiden protestantischen Parteien
zu zerstören." „Die Sache, seht er 7. Oct. hinzu, ist nothwendiger als je, und
auch ausführbarer als je." Zunächst käme es auf eine politische Einigung an,
unter der Direction Brandenburgs; in kirchlicher Beziehung dürfe man nur
gegenseitige Toleranz empfehlen; zu diesem Zweck habe er soeben die Berufung
zweier Theologen aus der caliztinischen Schule, Andr. Schmidt aus Jena
und I. Fabricius aus Altdorf durchgesetzt. Die völlige Einheit dagegen
sei kaum durchzuführen. „Gewiß ist. daß man sich über das Abendmahl nicht
leicht einigen wird, weil eine wahre Meinungsverschiedenheit stattfindet; und
obgleich der Streit über die Prädestination nur von Mißverständnissen herrührt,
so gibt es doch Unzählige, die man niemals davon überzeugen wird. Ich
glaube aber, daß diese Verschiedenheit in den Meinungen diejenige Einheit,
welche man wünscht, nicht hindert. Doch soll man den aufgeklärtesten Geist¬
lichen zu verstehn geben, daß der Unterschied im Wesen nicht so groß ist, als
er in den Formen äußerlich erscheint. Die Politiker müssen den Anstoß geben,
aber man braucht der Theologen, um auf das Volk zu wirken und auf die
Vorurtheilsvollen, die auch in den höhern Kreisen nicht selten sind." Aber in
Berlin wollte man weiter gehn. Hier, wo der Hof reformirt und das Volk
lutherisch war, hatte man ein lebendigeres Interesse an der Union, und
der Kurfürst beauftragte seinen Hofprediger Jablonski, sofort die Prälimi¬
narien einer vollständigen Union aufzusetzen. Jablonski's Gutachten ging da¬
hin, daß in den wichtigsten und nöthigsten Grundwahrheiten der christlichen
Religion zwischen beiden Kirchen kein Unterschied und keine Ursache zur Tren¬
nung sei; dies Gutachten brachte der große Gelehrte Ezechiel von Span¬
heim, der als brandenburgischer Gesandter nach Paris ging, noch im
Dec. 1697 nach Hannover. „Ich glaube nicht, schreibt Leibnitz 17. Dec. nach
Berlin, daß man auf diese Art anfangen müsse, die Sache in Gang zu brin¬
gen." Doch übernahm er, mit Molanus, Fabricius und Schmidt, die berliner
Denkschrift zu überlegen und sich darüber vernehmen zu lassen. Die Helm¬
städter theologische Fucultät erklärte sie in einem Gutachten 16. März 1699
für eine „fromme, orthodoxe, genaue, gründliche, müßige und für den Zweck
des Kirchenfriedens geeignete Schrift".
Inzwischen hatte Leibnitz schon 26. Nov. 1697 im Auftrag des Kur¬
fürsten Ernst August und des Herzogs Anton Ulrich den helmstädter Abt
Calixt aufgefordert, die Abhandlung seines Vaters as tolsi-artig, rötorina»
eorum ecelesiastioa mit einer Vorrede in gleichem Sinn neu herauszugeben,
und brachte diese Schrift 10. Dec. fertig aus Wolfenbüttel mit. Molanus,
dem er sie mittheilte, war ebensowenig damit zufrieden als Leibnitz, beiden
lag im Stillen noch immer die allgemeine Union vor Augen. Er trieb
fortwährend die Helmstädter an, ausführlicher einzugehn, und beschwichtigte
jeden theologischen Zweifel durch die Autorität des Hofes oder vielmehr der
beiden Höfe, denen er diente.*) Denn seit 1691 hatte er auch die Bibliothek
in Wolfenbüttel erhalten. Seine Stellung war nicht ganz klar: Anton
Ulrich intriguirte mit den jüngeren Söhnen Ernst August's gegen die hannö-
versche Primogenitur, und mit andern Fürsten gegen die Kurwürde des jün-
gern Hauses. Es war so weit gekommen, daß Ernst August, der, wo es
ernst war, sehr ernst zu sein verstand, den Vertrauten der Prinzen und Anton
Ulrichs, den Jägermeister Moltke 5, Den, 1691 verhaften und 15. Juli 1692
hinrichten lieh: ein Ereigniß, das Leibnitz in seinen Briefen an den Land¬
grafen Ernst zum großen Verdruß dieses Herrn, der gegen ihn immer offen
war. nur ganz leise berührt. Nun starb Ernst August 23. Jan. 1698, 69
Jahre alt; zu seinem Nachfolger, dem mürrischen und mißtrauischen Georg
(damals 38 Jahr alt und seit neun Jahren von seiner Gemahlin nach dem
bekannten Königsmarkschen Vorfall geschieden), hatte Leibnitz gar kein Verhält¬
niß; es ist natürlich, daß vorläufig der Einfluß Anton Ulrichs überwog. Im
besondern Auftrage dieses Fürsten verlangt er von Fabricius 22. Februar 1698,
„eng,M'is edaritatis osusa" in die Helmstädter Denkschrift folgenden Passus
einzuschieben: „Da Gott ein Gott der Ordnung und die Einheit der Leitung
und Hierarchie der Einen katholisch-apostolischen Kirche göttlichen Rechtes ist,
so folgt daraus, daß ebenfalls göttlichen Rechts ein geistliches Oberhaupt sei,
innerhalb gerechter Schranken, äireotorig. xotöstÄte virmia<zue iiseizssaris. aä
explonclum munus xro Kiüute LedWiae agencli tacultate instructus, du-metsi
locus et Loach lrujus xotöLwtis in mstropoli Llrristiimi oren's Koma ex Iru-
manis eonsiclelAtionidus Mousrit. Sollte Calixt sich sträuben, so soll er
dem Herzog ausführliche Gründe vorlegen (31. März); dafür wird der Herzog
auch allen Theologen den Besuch seiner Landesuniversität vorschreiben
(t4 April); auch Molanus billigt ganz seine Distinction zwischen dem göttlichen
Recht der Sache und dem menschlichen Recht der Localität. In dieser ganzen
Corrspondenz beträgt sich Leibnitz als Bevollmächtigter des Herzogs.
Der Kaiser mahnt wieder wegen der Kircheneinigung; er hat einen Nach¬
folger Spinolas, einen Grafen Buchheim, bevollmächtigt. Leibnitz schreibt
eine neue französische Denkschrift (II. 168— 189), von Molanns unterzeichnet,
27. August 1698 aus Lottum datirt, über die Bedingungen des Friedenswerks.
Sie geht vom alten Standpunkt aus, ist systematischer ausgearbeitet als die
frühern, und bietet große Zugeständnisse, denen sich die Helmstädter Theologen
unbedingt anschließen, wie wir aus einem Brief von Fabricius, 21. December
1699 ersehn, der nicht blos das Zustandekommen der Einigung für möglich
hält, sondern nicht einmal verlangt, daß der Papst seine Jnfnllibilität ausgebe.
Auch mit einem römischen Cardinal (December 1698) verhandelt Leibnih da¬
rüber. Was aber am meisten befremdet, ist eine lateinische Denkschrift (Ire-
nies, II S. 546 — 559) von Leibnitz' Hand, wieder unter der Maske eines
Katholiken, wo hauptsächlich hervorgehoben wird, daß den protestantischen
Pfarrern die Priesterweihe durch Haudauflegen fehle, die in der ersten Kirche
seit der Apostelzeit in ununterbrochner Folge sich fortpflanze, und daß sie daher
keine echten Priester seien. Der beständige Refrain dieser fast lyrisch gehaltenen
Apotheose des Friedenswerks ist das apokryphische Wort des si. Johannes:
„Kindlein, liebet einander!" das bekanntlich auch Lessing Gelegenheit zu
einer seiner interessantesten kleinen Schriften gegeben hat.
Es ist schwer diesen Proteus zu fassen: er tastet nach allen Seiten hin,
und scheint über das Ziel seiner Experimente selber nicht klar geworden zu
sein. In einem Brief an Fabricius, 1698, erklärt er seine Ueberzeugung, es
sei ein eitles Unternehmen, die Doctrinen vermitteln zu wollen. Er habe
nur für die bürgerliche Duldung gearbeitet, denn das werde man nie erreichen,
daß sich die Doctoren der beiden Parteien nicht gegenseitig verdammen. „Wenn
es nur ohne Beleidigungen geschähe! Ich selber kümmere mich wenig um die
Doctrinen; ich habe immer geglaubt, das Werk sei von den Politikern, nicht
von den Theologen auszuführen: man lasse diesen ihre Sitten und Gebrauche,
aber zwinge sie zum Frieden." — An Hiob Ludolf schreibt er, 26. Juni
1698: „unsre Hoffnungen sind gering; und doch, wenn 5 — 6 Menschen es
wollten: Ludwig der Vierzehnte, der Kaiser, der Papst, ein paar protestantische
Fürsten, so wäre es geschehn! Vielleicht geschieht es im folgenden Jahrhun¬
dert."
Sehr übel war eS für die Unionisten, daß im Frieden von Ryßwik die
Clausel aufgenommen war, die von Frankreich an den Kaiser zurückgegebenen
Stücke vom Elsaß und Breisgau sollten ihre neuen katholischen Einrichtungen
behalten. Diese offenbare Beeinträchtigung der Protestanten hatte gerechten
Zorn erregt; mit dem Urheber der Dragonaden in Unterhandlung zu treten
war gefährlich. Und doch geschah es von Leibnip.
Nach langer Unterbrechung finden wir 16. Oct. 1698 wieder einen Brief
an Bossuet, vermittelt durch den französischen Gesandten am braunschweiger
Hof, Du H6ron. Er knüpft an die alten Verhandlungen an, und lobt Bos¬
suet wegen seines Kampfs gegen die falsche Mystik: es ist zeitgemäß, denn
die Krankheit greift immer mehr um sich; unsere Pietisten erregen ebensoviel
Lärm als eure Quietisten. Freilich darf man der wahren Andacht nicht zu
nahe treten, wol aber ihren Ausschweifungen.") — Dieser Brief soll nur
eine Einleitung sein; es ist mehr im Werke.
Leibnitz setzt, 8. Nov. 1698, dem Herzog Anton Ulrich einen Brief für
Ludwig den Vierzehnten auf, in welchem dieser König von den bisherigen
Unterhandlungen unterrichtet und um die Wiederaufnahme derselben ersucht
werden sollte. Doch wäre es zweckmäßig, die Sache nicht blos den Geist¬
lichen zu überlassen, da Bossuet vor vier Jahren ohne Grund abgebrochen
habe; man möge ihm einen Staatsmann, einen von den Vorkämpfern der
gallicanischen Kirche zugesellen. Die Herren von der Kirche — allen Respect
vor ihnen! — seien zu sehr an das Predigen gewöhnt. — Frankreich, gleich¬
falls durch ultramontane Intriguen bedroht, habe die Aufgabe, zwischen
Deutschland und Italien zu vermitteln. — Der Brief wurde durch Du H6ron
an den französischen Minister Torcy geschickt, und dieser gab ihn an einen,
für den er am wenigsten geschrieben war, an Bossuet, — Der Prälat bewahrte
eine sehr gute Haltung (11. Jan. 1699): die Verhandlungen seien 1694 nur
durch den Krieg unterbrochen, er sei bereit, sie unter den von Leibnitz gestellten
Bedingungen, die er ganz zweckmäßig finde, wieder aufzunehmen. Anton Ul¬
rich sprach sich (25. Jan.) sehr glücklich darüber aus; Leibnitz selbst war nicht
ganz ohne Verlegenheit.
— Um keinen Umstand auszulassen — grade in dieser Periode fragte
Leibnitz, zum Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften ernannt,
nach allen Seiten darüber an, ob diese Stellung nicht mit einem Gehalt ver¬
bunden werden könne? — (II. 239—40. 250.) —
Die Verlegenheit lag zum Theil darin, daß der französische Gesandte bei¬
läufig bemerkte, König Ludwig behalte sich vor, in die Papiere der zu er¬
öffnenden Verhandlungen selbst Einsicht zu nehmen: — also eine Korrespon¬
denz mit Ludwig dem Vierzehnten! — Molanus selbst fand doch für nöthig,
den Freund zu erinnern, ob er nicht erst bei seinem Landesherrn um Erlaub¬
niß einkommen wolle? — Und in diesem Sinn beschied denn Leibnitz in der
That den französischen Prälaten, indem er hinzusetzte, es sei ihm übrigens
eine große Ehre, den Briefwechsel wieder aufzunehmen, und noch dazu unter
den Augen eines Monarchen, „der fast alles kann, was Menschen überhaupt
können". LumNrum xaueis vivit genus: zur pfeil noinbrs as ArarM xriness
eontisnt 6millöinm6ut pour ainsi airs tout 1s rssts du gsurs Kuman. —
Aber er zögerte, ehe er es wagte, sich an den Kurfürsten zu wenden: es sind
mehrere Brouillons da, eines französisch, das andere deutsch; die Gründe stim¬
men in beiden nicht überein. In dem einen (datirt 28. Febr. 1699) will
Leibnitz „nur dieses anführen, daß ob zwar wenig Hoffnung zur Wieder¬
vereinigung zu unserer Zeit, dennoch dienlich sein würde, zuvörderst seine gute
Neigung zu zeigen und alle Schuld der ferner anhaltenden Trennung von sich
zu wälzen . . . auch zu verhüten, daß die römische Partei künftig solche un¬
bedingte Ksumones, wie anjetzo geschieht, erhalten möge;" in dem andern
wird auf die Nothwendigkeit hingewiesen, dem Herzog Anton Ulrich den Vor¬
sprung bei Ludwig dem Vierzehnten abzugewinnen. Beide Schreiben enthal¬
ten die unrichtige Behauptung, die Unterhandlung sei von französischer Seite
aufgenommen. An den französischen Gesandten schreibt Leibnitz 24. März
1699: „ich darf die Erlaubniß, von Zeit zu Zeit dem Herzog Anton Ulrich
aufzuwarten, nicht mißbrauchen, weil man sie mir sonst ganz und gar ent¬
zieht. Mnnem Kurfürsten gegenüber bedarf es der größten Vorsicht. Schon
habe ich mir einen scharfen Verweis wegen einer ähnlichen Uebereilung zu¬
gezogen."
Es spielte noch etwas anderes hinter den Coulissen, was dem gegen¬
wärtigen Herausgeber der Werke Leibnitz' nicht bekannt ist. — Unmittelbar
nach dem Tode Ernst August's hatten die jüngeren Söhne, der lustige Maxi¬
milian voran, hauptsächlich auf das Anstiften Anton Ulrichs, gegen die Thron¬
folge ihres Bruders protestirt, sich beim Kaiser beschwert und September 1698
ein Bündniß mit Dänemark geschlossen, dem Anton Ulrich 23. Mai 1699 seine
Unterschrift gab. Derselbe Anton Ulrich war die Seele der „correspondirenden
Fürsten", welche die Kurwürde Hannovers rückgängig zu machen suchten; er
hatte unter Vermittlung Du Hvron's, 28. September 1698, mit Ludwig
dem Vierzehnten ein Bündniß auf drei Jahre abgeschlossen, das ganz deutlich
gegen Hannover gerichtet war, und dem 4. April 1699 auch August der Starke
für Sachsen und Polen beitrat. Wenn man erwägt, daß wegen derselben
Zweideutigkeiten vor sieben Jahren der Jägermeister Moltke hingerichtet war,
so wird man begreifen, daß Leibnitz auf einem sehr schlüpfrigen Boden stand;
um so mehr, da seine Beschützerin Sophie im Stillen die Wünsche ihrer
jüngeren Söhne begünstigte.
An diesen Intriguen war es noch nicht genug. Mit dem Tode ihres
Gemahls Ernst August war der Einfluß Sophiens auf die hannöverschen Ge¬
schäfte geringer, dagegen die Beziehung zu ihrer Tochter Sophie Charlotte,
der Kurfürstin von Brandenburg, inniger geworden. Unter der Vermittlung
dieser beiden Frauen hatte Leibnitz seine Bemühungen um Gründung einer
Akademie in Berlin begonnen; zugleich hatte er sich an den Unionsplünen
zwischen den beiden protestantischen Kirchen wieder betheiligt. Er hatte mit
Molanus (Anfang 1698) eine Via aÄ xs-ven abgefaßt, und, um den einflu߬
reichen Spener zu gewinnen, für diesen ein lonwiriön ireiricum aufgesetzt,
ohne ihn jedoch von der Zweckmäßigkeit des ganzen Unternehmens zu über¬
zeugen. 5. März 1698 hatte der Hofprediger Jablonski an Leibnitz ge¬
schrieben, er sei ganz der Mann, das Geschäft zu leiten, und war im Auf¬
trag seines Kurfürsten im Sommer nach Hannover gekommen, um mit ihm
und Molanus persönlich zu conferiren. Sie hatten ausgemacht, daß die Irr¬
thümer, welche ein Theil dem andern vorzuwerfen pflege, den Glaubenspunkt
nicht berührten, und daher geduldet werden könnten; die Ceremonien sollten
freigestellt werden, und die beiden protestantischen Kirchen im Gegensatz zur
katholischen zusammen die evangelische heißen. Die Verhandlungen wurden
zwischen beiden schriftlich fortgesetzt. — In diesem Augenblick erfolgte der
Sturz des bisher allmächtigen Oberpräsidenten Danckelmann (noch 1698).
Sofort setzte Leibnitz eine Denkschrift auf, es sei von der größten Wichtigkeit,
zwischen Mutter und Tochter einen dauernden Zusammenhang herzustellen.
pour maintenir un xou?vir äans les äeux oours ^ni soit äiZns Ä'elles et
qui heros Z. emxlo^el' leur gianü esxrit et leurs wlents extraarclinaires
Z.U bien ach äeux maisons u. s, w. Freilich müßte das Geschäft mit der
größten Delicatesse geleitet werden, um nicht die Eifersucht des Kurfürsten zu
erregen: denn auch Danckelmann sei wol aus keinem andern Grunde gefallen,
als weil er demselben zu mächtig geworden sei. Eine Person, die keinen
Verdacht errege, müsse zwischen beiden Damen hin und hergehn. ?our cet
en'et ^'e us saurius neminsr un autre yue moi. Er zählt seine wissenschaft¬
lichen Verdienste auf. und setzt hinzu, die Errichtung einer Akademie in Ber¬
lin sei für ihn das unverdächtigste Mittel, sich in Berlin aufzuhalten und
dort im Sinne Sophiens zu wirken. In der That suchte Jablonski (Sep¬
tember 1699) ihm die Stelle Pufendorfs zu verschaffen; aber Sophie Char¬
lotte hatte nicht den Ehrgeiz, sich politischen Einfluß zu erwerben; es war ihr
interessanter, sich mit Leibnitz über die beste Welt, die Monaden und die
prästabilirte Harmonie zu unterhalten, womit dieser dann endlich auch zu¬
frieden war. Die Unterhandlungen über die Union dauerten fort, doch be¬
merkte der brandenburgische Minister Fuchs (19. September 1699). es wal-
teten besondere Hinderungen ob, als die Kaltsinnigkeit zwischen den beiden
Höfen, der Geist des hannoverschen Hofes, und sonderlich die Härtigkeit des
lutherischen Klerus, welche fast unüberwindlich schien. — Wie dem auch sei.
wenn es Leibnitz um etwas mehr zu thun war. als um ein speculcitives Spiel
mit Ideen, so konnte er nicht gleichzeitig die Union mit den Katholiken und
mit den Reformirten betreiben; denn praktisch schloß sich beides einander aus;
im System seiner prästabilirten Harmonie freilich gehörte beides zusammen.
Der Briefwechsel mit Bossuet nahm auch bald einen rein theoretischen Cha¬
rakter an. Leibnitz, von Anton Ulrich zur Fortsetzung desselben gedrängt, fragte
11. December 1699. ob die Offenbarung zu einem bestimmten Zeitpunkt ab¬
geschlossen sei oder immer fortdauere? durch wen der Umfang dessen, was zur
Offenbarung gehöre, bestimmt werde? durch Concilien oder durch den Papst?
das Tridentiner Concil habe mehrere biblische Schriften für kanonisch erklärt,
die früher nicht dafür gegolten. — Bossuet gibt 9. Januar. 30. Januar eine
sehr ausführliche Antwort. — Die Offenbarung ist abgeschlossen: in der Schrift
und in der mündlich aufbewahrten Tradition dessen, was der heilige Geist den
Aposteln unmittelbar überliefert hat. Die zweite Frage ist gleichgiltig; ent¬
schieden wird nur : sicut Leelesia semper intsllexit. Die vom Tridentiner Con¬
cil für authentisch erklärten Bücher haben immer in der Kirche gegolten; da¬
für werden 24 Thatsachen angeführt. — Die Schrift ist nicht das höchste; es
gibt christliche Völker, welche sie in ihre barbarische Sprache gar nicht übersetzen
konnten, und der si. Augustin sagt selbst: der Mensch, welcher in Glaube, Liebe
und Hoffnung lebt, bedarf der Schrift nur, um andere zu unterweisen. Die
christlichen Symbole waren nöthig, um uns eine deutliche Erkenntniß unserer
Erlösung zu geben, da Gott uns dieselbe durch das Wissen vermitteln wollte,
nicht durch einen blinden Instinct, wie bei den Thieren. Zu dieser umfassen¬
den Kenntniß gehört die ganze Dogmatik; die Kirche kann nicht zugeben, daß
irgend ein Punkt derselben angetastet werde. Sie ist nachsichtig gegen die
Irrthümer, so lange sie sich nicht bestimmt darüber ausgesprochen hat; dann
aber tritt unbedingte Verdammniß ein. Cyprian bleibt ein Heiliger trotz seiner
Irrlehre, weil damals die Kirche darüber noch nicht entschieden hatte; seine
Schule dagegen, die Donatisten, als verstockt, sind verdammt. ?srenäus est
error, von usyue s-cleo MvAieili äöbet, ut turMmentum ipsum IZedösiae
«MÄtei'ö moliawr. Die Ordnung der Kirche ist die Hauptsache. — Auf Be¬
trieb Anton Ulrichs antwortet Leibnitz (Mai 1700) noch ausführlicher: den
24 Thatsachen werden 122 Thatsachen entgegengestellt. Es ist eine tiefe geist¬
reiche und für die Wissenschaft höchst bedeutende kirchengeschichtliche Abhand¬
lung (II. S. 314—369), welche hauptsächlich die orientalische Kirche der la¬
teinischen entgegenstellt, und der letzeren vorwirft, alle wissenschaftliche Strenge
der bloßen Beredsamkeit geopfert zu haben. Der Begriff der Ueberlieferung
wird einer kritischen Untersuchung unterzogen und nachgewiesen, daß ohne un¬
aufhörliches Wunder dieselbe sich nicht rein erhalten konnte; daß der Begriff
der allgemeinen Kirche, ohne bestimmtes Organ, bei dem man ihn fassen könne,
ein viel zu vager sei; daß man eine Übersetzung wie die Vulgata nicht für
infallibel erklären könne, wenn das Original noch vorhanden sei; über die
ersten Jahrhunderte des Christenthums werden Enthüllungen gemacht, die sehr
viel Menschlichkeiten darin nachweisen; daß endlich die Neuerungen desTriden-
tiner Concils unannehmbar seien. II v'og, yue ig. doree on bleu une inüiM-
reneiz xeu vloign^s ä'unz iiiÄigion et^elaies <M se lÄit <zus trox re-
MÄiMör äans ig moiräe, <mi xulsse Ik tail'ö trioilixlier. ^'eL^ol-s guo Ölen
pröserveiÄ son ^glise ä'un si Ziairä mal. — Bossuet, dem es jetzt haupt¬
sächlich darauf ankommt, Anton Ulrich den Uebertritt zu erleichtern (der 1710
wirklich erfolgte), fordert Leibnitz I.Juni 1700, noch einmal auf: sich ernsthaft
vor Gott zu prüfen , ob es ein Mittel gebe, ä'eivMner l'egliss 6s äöVLmi-
öternLllsmeut variable, wenn man voraussetzt, daß sie irren kann. Kann sie
aber nicht irren, so dürfen wir auch ihre Beschlüsse uicht abändern, in der
übrigens löblichen Absicht, ein Schisma zu endigen. — Für das Volk, ant¬
wortet Leibnitz 3. September, sind dergleichen Argumente recht gut. Na-is
yuancl it s'agit, ä'^xprotductir les ekosss et as Mrveiüi' a 1a vern6, ris vau-
äiÄit-it pas iniöux conveirir ä'une autrs mötlwäö, Wi ki-xproeliö un xeu 6ö
evils ass ALvmvti'es, et xrenärs xour aeeorä^ c^us co <zus I'aävLrsürii'e
aeeoräe olkLetivemsut, on ein'on xout airs ä^M prouvö par un raisonnö-
msut exact? L'est ac estte in<^tdoäs yue D souliaitsrais cle me xouvoir
servil-. Llls retranetie ä'adora tout es c^ni est eüoczuant; eile Zissixe Iss
nugZes ein bsau tour et fg.it eessLi' les suxöiiorites <zue l'sloguenes se 1'g.u-
torit« äonnont g.ux Zi-g-als Iwmmks (immer höflich, auch wenn er grob wird!),
xour ire tairs triompliei- sjue ig. perils. Freilich ist die Kirche unfehlbar; aber
stellt denn jede beliebige Versammlung, die sich Concil nennt, die Kirche dar?
Hundertmal habe ich gefragt: wodurch legitimirt sich ein echtes Organ der
Kirche? Und Sie antworten mir nur mit Allgemeinheiten. Derjenige untergräbt
am meisten die Autorität der Kirche, der sie zu leichtfertigen Entscheidungen
veranlaßt; der ewige Wechsel wird am besten verhindert, wenn man darin vor-
sichtig und besonnen ist. Wir sind die wahren Katholiken, die wir nicht zu¬
geben, daß durch unbesonnene Entscheidungen der heilige Name der katholischen
Kirche beeinträchtigt werde."
Bossuet hatte gewünscht, daß zu den Unterhandlungen auch ein protestan¬
tischer Geistlicher gezogen werde; Leibnitz (21. Juni 1701) versteht das so,
als ob ihm Molanus nicht genüge; dagegen protestirt der Bischof 12. August
sehr entschieden: Molanus' LioKitgtioiros privat«« wären der beste Weg ge¬
wesen, eine Verständigung anzubahnen, aber dieser scheine sich ganz zurückge¬
zogen zu haben. — Entgegenkommen können wir euch nur in Fragen der
Disciplin; in den Dogmen ist es unmöglich. I>hö gMüros as ig. rsligion ire
se trällert xg.8 eommo los gMires temporslles, «Me l'on eoinxosö souvsnt
M hö relg.elrg.ut Ah xg.re et ä'g.nere, xareeiiue es sont ach gMires aoud les
Irommes sont 168 eng-itres. Ug.is les Mgires ac ig. loi äexeiräent <Ze ig. re-
velation. Es würde zu nichts führen, wenn ich hier sehr zu unrechter Zeit
den Gemäßigten spielen wollte. Die wahre Mäßigung besteht darin, daß man
sich klar und bestimmt ausdrückt, um keine Zeit zu verlieren. Ihr schlagt uns,
um dcrj Kirchenvereinigung willen, Mittel vor, die uns in ein viel schlimmeres
und unheilbareres Schisma treiben würden, als das, welches wir heilen wol¬
len. Wir sollen die Beschlüsse des Tridentiner Concils suspendiren; wie kön¬
nen wir das? Wir haben sie alle unterschrieben, und sie sind die Regeln, nach
denen wir urtheilen. Ihr gebt die Unfehlbarkeit der Kirche zu. aber ihr be¬
streitet uns jedes Mittel, sie kenntlich zu machen. Das neue Concil, das ihr
vorschlägt, würde damit anfangen, alle bisherigen Lehren der Kirche in Frage
zu stellen. Ibisses »vus Äoire en xls.ce eomme veus nous v avei? trouves,
et us toresiz xg,s tout 1<z monäs 5, parler iri K raettre tout en äisxute;
Igisse?: sur 1a terre ^uel^ues diretiens <^ni ne renäent pas impos8it)l6s les
äöeisions inviolables 8ur los -zuWtions cle ig loi, gui osent assurer ig.
religion, et gttenärs ac ^e8U8-LKrist, selon 8g. xs.ro1e, uns as8i8tgnee in-
fg-nutzte 8ur co8 mgtiere8. <ü'e8t 15 l'uni^ne esperanes an edristiairisme.
— Soll eine Annäherung stattfinden, so gebt ihr nach, prüft eure Dogmen
von Neuem;~ ihr könnt es, wir können es nicht. Das ist ein Vortheil auf
unserer Seite, aber dieser Vortheil liegt in der Natur der Sache; warum seid
ihr abgefallen? — Daran schließt sich eine neue Darstellung der Kirchenge¬
schichte in 62 Artikeln vom katholischen Standpunkt, damit Leibnitz nicht be¬
haupten könne, er habe ihn widerlegt (II. 396—426).
Nun wirft auch Leibnitz alle Rücksichten bei Seite. — Gut declamirt!
ruft er aus; aber wir unsrerseits müssen euch bitten, <Ze laisser Zur la, terre
ach Heus <mi s'oxxoseirt g-u torrent des abus, qui ne xermetteut xoint
<^us 1'autorite as 1'eglise soit avilie xg,r as msuvaiseL xr^edle^usf et <M
ne soutkrent xoiut <in'c>u aduss clef xromesses dö ^schuf - Llrrist xour
etsblir 1'iilole ach erreurs: autrement e'est reuäre l'sssistauee 6e ^68U8-
(ÜKrist, unicjue eLpers-nec ach ekretieus, trof obscure et trof iueertame.
Also ihr konnt nichts zurücknehmen? — vergebens schmeichelt ihr euch, daß
ihr darin einen Vortheil habt, eomme s'it elf.it xermis a. une danae ac
xetits evehues italieus, eourtisg,us et nourrissous as Roms, xeu
iustruits et xeu soiMeux an or^i elrristianisme, as Mriizuer alö-us un
coin clef ^Ixes, ä'une maniere äesg-ppreu^ce lurutement par les Irommes
les plus graves ac leur temps, des cleeiKioirs c^ni ckoiveirt odliZer toute
I'eglise si nous les voulons croire. Mu, NonseiMeur, un tel eoueile ne
Mssera ^jams-is. — Auf Bossuets kirchengeschichtliche Darstellung sendet er
5. Febr. 1702 eine Entgegnung ein (II S. 429—43), die ein ausführliches
Studium verdient, die wir aber hier übergehn müssen. Er kommt zu dem
Resultat: auch auf die heil. Schrift sind die Gesetze der gewöhnlichen Kritik
anzuwenden; er sagt von Luther, daß ihm das Menschengeschlecht Hoffnung
und Freiheit verdankt; er wird einige Male sogar recht spöttisch. Nicht mit
Unrecht ^bezeichnet der Herausgeber diese Denkschrift als die Grundlage der
modernen Exegese.
In Rom war man mit Bossuet nicht ganz zufrieden (vgl. Introd. I
S. 62—66); man wollte die Unterhandlungen nicht aufgeben. In einem
Brief an den Cardinal Davia, 1702, schreibt Leibnitz, ein neuer Versuch
könne nicht sud ausxieiis Karmeverimis, weil nunmehr England im
Wege steht, sondern Se. hochfürstl. Durchlaucht zu Wolfenbüttel geschehn-
Der sächsische und preußische Hos — vielleicht auch der russische — könnten
nützlich concurriren. Vor allem müßte der Papst einem gelehrten und 'ge¬
mäßigten Mann unbedingte Vollmacht ertheilen. — Die Sache war die: im
Sommer 1701 war eine englische Gesandtschaft in Hannover angekommen, um
Sophie als Nachfolgerin der Königin Anna zu erklären: eine Thronfolge¬
ordnung, die auf den Protestantismus gegründet war. — Die berliner Ver¬
suche 1703, die evangelische Kirche zu constituiren und die helmstädter In¬
triguen 1708, die mit dem Uebertritt Anton Ulrichs endeten, übergehn wir
hier. — Ueber die Ausgabe im Allgemeinen behalten wir uns weitere Be¬
Sehr hübsch ist. was Steub über einen Gegenstand sagt, der dem
Lande nächst der Luft das Wichtigste und auch dem Fremden nächst Berg,
Wald und See von besonderstem Interesse schon deshalb ist, weil er ihn in
Bayern zu jeder Zeit und aller Orten wie ein fünftes Element umgibt. Der fröh¬
liche Klang klappernder Bierkrügeldeckel begrüßt ihn, wenn er das Bett verlassen,
und ein milder Schlaftrunk labt ihn, ehe er sich zu Raste legt. Wie anderwärts
das Gespräch vom Wetter oft Fremde zusammenführt und bisweilen der Anfang
lebenslang dauernder Freundschaften wird, so leitet hier häufig die Frage:
Ist's frisch angestochen? die angenehmsten Bekanntschaften ein. Beklagenswert!)
ist, daß wir noch keine Geschichte des biedern Nationalgetränks der Bayern
besitzen. Indeß weiß man, daß der freundliche Saft bis in die grauen Zei¬
ten des neunten Jahrhunderts hinauf bajuvarische Herzen erquickte. In einer
Urkunde von 816 wird eine „car-riräa Ah eerevisis." als Abgabe von der
Kirche zu Vöring erwähnt. 1293 geschah das jetzt Undenkbare und noch
lange nicht genügend Erklärte, daß die Herzöge Ludwig und Otto geboten,
es solle in ihrem Lande zu Bayern ein ganzes Jahr hindurch kein Bier mehr
gebraut werden. Erfreulicher dagegen ließ sich das Jahr 1542 an, wo der
Landtag das Sommerbier auf zwei Pfennige und das Winterbier auf drei
Heller die Maß festsetzte.
Ein sprechendes Zeichen edler bayerischer Einfalt ist, daß das Land zu
allen Zeiten nur Ein Bier braute — eins, aber einen Löwen. „Nicht ohne
großes Selbstbewußtsein blickt der Bayer auf die bunte Musterkarte norddeut¬
scher Gebräue mit ihren lächerlichen Titeln, auf den Brausegut am Harz, den
Beißdenkerl zu Boitzenburg, den Hund zu Bremen, den Stürzdenkerl zu Dorn¬
burg, die Caccabulla zu Duisburg, den Krabbelanderwand zu Eisleben, den
Maulesel zu Jena>, den Mordundtod zu Köpenik, das Lumpenbier zu Werni-
gerode und so viele andre, die sich alle nach seiner Meinung nur in so fern
unterscheiden, als sie sämmtlich mehr oder weniger ungenießbar sind."
Viel Ungerechtes und Verletzendes ist den Altbayern nachgerufen und nach,
geschrieben worden wegen ihres Nationalgetränks, „Besonders haben sich die
Schnapslander stets am meisten moquirt über diese Stammeseigenthümlichkeit,
obgleich sie selber, wenn sie einmal über Donau und Lech hereingebro¬
chen, an diesem flüssigen Lotos ein tiefes Gefallen zu finden beginnen und
selbst zur Polizeistunde oft nur mit sanfter Gewalt aus den Wirthshäusern
hinauszuschaffen sind. In der That ist es auch, mäßig genossen, ein lieblicher
Trank, gesellig und friedlich, weil es viel langsamer als der Wein zur Be¬
rauschung, zu Lärm und Streit verführt, billig und vor allem republicanisch,
da es der Fürst, der König nicht anders erhält als der Bettler. Wenn die
Altbayern aus der leipziger Messe weniger literarische Kleinodien auslegen als
die meisten andern Deutschen, so ist dies, wenn nicht ihrer Bescheidenheit, so
sicher auch nicht ihrem Nationaltrank zuzuschreiben, sondern eher ihrer Vorliebe
für Ackerbau und Viehzucht, wie ja auch die Arkadier im alten Griechenland
keinen Homer und keine Tragiker erzeugten und auch heute noch die Pommern,
die Märker, die Mecklenburger dasselbe thun oder vielmehr unterlassen. Daß
man manchen Schoppen Bier zu trinken und dabei doch geistreich zu sein ver¬
möge, hat unter Andern Jean Paul nachahmungswürdig dnrgelebt."
Steub erinnert dann daran, daß Schiller, nach Gustav Schwabs Leben
des Dichters, als er mit Don Carlos umging und schon vorher viel lieber
Bier als Wein getrunken habe, und zieht daraus den patriotisch-bayerischen
Schluß: „Wenn nun schon das Mannheimer Bier der ihm einwohnenden
Muse so gedeihlich war, was würde er erst gedichtet haben, wenn er mit un¬
serm Münchner Nektar vertraut geworden wäre!"
Unser Humorist meint trauernd, seitdem der Gerstenwein aus dem dresdner
Waldschlößchen und andern Mittel- und norddeutschen Sudstätten in dem mit¬
ternächtlichen Deutschland alle südliche Concurrenz zu ertödten drohe, scheine
die Weltherrschaft des bayerischen Arccmums gebrochen. Dies ist ein schwerer
Irrthum, den ein Gang durch die berliner und leipziger Trinkanstalten in sein
heiterstes siegfreudigstcs Gegentheil ausheilen würde. Einverstanden dagegen
erklären wir uns mit Folgenden: „Wie manchen Volksstämmen gewisse uni-
versalhistorische Ideen zur Bewahrung anvertraut waren, bis die andern Na¬
tionen herangerefft, so auch den Bayern das einzige wahre welthistorische
Bierrecept, das jetzt auszugehn anfängt unter die herangebildeten Völker, unter
Christen und Heiden, sogar unter die Amerikaner, die von dem bayerischen
Lagerbier demnächst eine Wiederherstellung ihrer öffentlichen Mäßigkeit »er¬
hoffen und so auch hier, wie in Allem, zu den verkehrtesten Konsequenzen ge¬
langen."
Wie in Hellas sich sieben Städte um die Heimath Homers stritten, so streiten
sich hier sieben und noch mehr brave Landstädtchen um den Ruhm, das beste
''
Nationalgetränke zu brauen. Steub, allem Anschein nach ein Kenner, legt „seinen
Lorbeerkranz auf das ehrenreiche Brauhaus zu Tegernsee, wo der uneigen¬
nützige Königssohn (Prinz Karl) eine lautere Quelle strömen läßt, an der sich
im Sommer alle deutschen Völker vom Aus- und Niedergang, alle politischen
Parteien mit Dank und Verehrung laben, Großdcutsche und Gothaer, wie
die zukunftsvollen Anhänger der Trias, ja selbst die Demokraten, insofern man
bei der letzten Volkszählung überhaupt noch Anhänger dieser widerwärtigen
Sekte gesunden haben sollte."
Das frischeste und tüchtigste Volk im gebirgigen Theil Altbayerns findet
Steub in dem Lande zwischen Jnn und Jsar. nördlich bis an die Mangfall,
namentlich aber in dem Landgericht Miesbach und im Tcgernseer Gebiet.
Die Leute dieser Gegenden sind groß, schlank, ost von sprechenden Gesichts¬
ausdruck, ihr Auge hell und keck, ihre Sprache rasch, häusig begegnet man
unter ihnen gesundem Mutterwitz. Sie sind fleißig und anstellig, begreifen
leicht und behalten fest. Im Allgemeinen friedlicher Natur, sind sie doch nicht
frei von Leidenschaftlichkeit, die mitunter heftig losbricht, sich aber auch schnell
wieder begütigen läßt. Meist wohlhabend, genießen sie ein bequemes Dasein,
was ihnen allenfalls auch einen leicht zu ertragenden Bauernstolz einflößt.
Wie aller Unfug hier am fleißigsten cultivirt wird (das später zu erwähnende
„Haberfeldtreiben" hat hauptsächlich hier seinen Sitz, und gehaltne Mädchen
sind in diesen Gegenden keine Ausnahmen, eher die Regel), so auch jede
schöne Seite des Berglerlebens, namentlich Zitherspiel, Dichtkunst und Gesang.
Aehnliches berichtet Steub von den Bewohnern der schönen Landschaft
am Miesenbach, vorzüglich von den Dörfern Eisenarzt, Rupolding und Zell.
„Das Volk ist schön und groß, die Weiber namentlich hochgebaut und voll,
tüchtige, fruchtbare Mütter. Sie sind meist mit guten Talenten ausgestattet,
lernen leicht in der Schule, lesen sogar die Zeitungen mit Verstand, sind gut¬
müthig, frisch, munter und liederreich, nicht ohne Sinn für unabhängiges,
selbständiges Wesen."
Ebenfalls zu dein reinsten Md besterhaltenen Schlag der Bajuvaren ge¬
hören die an schwäbische Landschaften grenzenden Jachenauer. Sie sind schön
und zierlich gebaut, kräftig und beweglich. Auch die Mädchen zeigen sich in
den Jahren der ersten Jugendblüte hübsch und einnehmend. Es> herrscht
unter ihnen viel Wohlstand, Die Häuser werden sauber gehalten. Friedlicher
Sinn und Uneigennützigkeit sind allgemeine Tugenden. Man hält auf den
Schulunterricht. Geschlechtliche Vergebungen sind selten. Man beweist nicht
nur den Kindern, sondern auch den Eltern Liebe. Die altersschwachen „Aus-
träglcr" werden mit Milde und Achtung behandelt, nicht wie anderwärts nur
zu oft mit Härte und Rohheit.
Bei Weitem weniger Erfreuliches ist von den Berchtesgadnern und dem
Menschenschlag im Amte Werdensels zu berichten. Es ist eigenthümlich, daß
grade an diesen beiden Enden des bayerischen Gebirgs die Zeichen einer ge¬
wissen Verwelktheit sich kundgeben, während in dem weiten Alpenlande zwi¬
schen diesen Ecken der Mensch noch ganz frisch und grün ist. Aber es erklärt
sich, wenn man sich erinnert, daß diese Gebiete einst unter dem Krummstab
standen und daß die Bewohner derselben wie der ganze Typus, die dunkle
Hautfarbe, das schwarze Haar und Auge und der kurze Wuchs zeigen, sehr
wahrscheinlich romanischer Abstammung sind. Namentlich die Verchtesgadner
sind ein verkommnes Völkchen. Mit Bedauern betrachtet man diese dürftigen
Schnitzer und Bergleute, die vielen kropfigen Männer, die furchtbar häßlichen
Weiber, die kümmerlich fahlen Jungen, die gelben abgestandenen Mädchen.
Mit Wehmuth blickt man auf ihre Armuth, ihren Hang zur Frömmelei und
auf das gedrückte schlaffe Wesen der Leute, die den Forderungen des Tages wie
einem Verhängnisse nur deu alten Glauben entgegenzusetzen wissen. Mit
Niedergeschlagenheit und Mißbehagen vergleicht der Wandrer die Genüsse, die
das Land dem Auge bietet, mit denen, welche seine Wirthshäuser ihm ge¬
währen.
Während in ganz Oberbayern auf 63. im nördlichen Theile des Kreises
erst auf 123 Conscribirte ein Kropfiger kommt, findet sich im Bezirk Berchtes-
gaden schon einer auf 14; und während im ganzen Kreise auf 1466, in den
nördlichen Districten auf 1986 und sonst im Gebirge auf 652 Einwohner ein
Blödsinniger (volksthümlich Fex) trifft, zählt man im Bcrchtesgadenschen einen
solchen Unglücklichen ans 152 Seelen.
Volkskrankheiten außer Mops und Cretinismus sind in Altbayern das
Wechselfieber und der Typhus, und zwar kommen die letzteren vorzüglich im
Flachlande vor. Die Bewohner des Dachauer und Erdinger Mooses (im Osten
und Westen der Jsar) und der benachbarten Dorfschaften, die nur wenig über
dem Niveau der Moosgründe liegen, sowie die der flachen Landstriche, die
an das Donaumoos grenzen, werden jedes Frühjahr vom Wechselfieber heim¬
gesucht. Als kleinere Entwicklungsheerde dieser Krankheit bezeichnet Wolfstci-
ner in der „Bavaria" die Filze und Moore gegen das Hochland hin, auch
Seen, deren Ufer flach und von denen ein Theil ihres frühern Spiegels ver¬
sumpft ist. So glaubt der Filzler bei Weilheim die Gesundheit seiner Natur
in.Zweifel ziehn zu. müssen, wenn er aufwächst, ohne einmal vom „Frörcr"
geschüttelt worden zu sein. Diese Wechselfieber sind jetzt nur in seltnen Fäl¬
len gefährlich, während sie noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts in und
bei Ingolstadt häufig nach wenigen Anfällen den Tod zur Folge hatten. Der
Typhus haftet namentlich in dem sonst ziemlich gut gelegenen München wie
eine endemische Krankheit. Es ist wahrscheinlich seit Jahrzehnten kein Tag
vergangen, an dem hier nicht ein Typhuskranker lag, und kein Monat, in dem
dieses Uebel nicht ein Opfer hinraffte. Diese Krankheit „bringt dem Kreise
Oberbayern jährlich einen Verlust an Menschenleben bei wie eine verlorene
Schlacht, es unterliegen ihr drei bis vierhundert Menschen und zwar gewöhn¬
lich nicht kränkliche, sondern kerngesunde Naturen."
In Betreff der Gebräuche und Sitten des Volkes geben wir das Wich¬
tigste aus den Abhandlungen, die Dahn nach den Lcntncrschen Aufzeichnungen,
von Leoprechtings „Aus dem Lechrain", Panzers und Steubs Mittheilungen
und Schmellers Idiotikon für die „Bavaria" zusammengestellt hat.
Das altbayerische Landvolk hält noch fast allenthalben an den von Al¬
ters her überlieferten Sitten fest, die sich einestheils an bestimmte Tage des
Jahres, anderntheils an wichtige Vorkommnisse des Lebens, Taufen. Heirathen
und Todesfälle knüpfen.
Das Jahr beginnt für den Bauer erst mit dem Dreikönigstag; der erste
Januar ist ihm nur insofern bedeutsam, als die Kirche an ihm die Beschnei¬
dung Christi feiert und als die ihm vorhergehende Sylvesternacht eine der
vier ,,Rauchnächte" ist. (Tie andern drei sind die Thomasnacht, die auf den
21. December füllt, die Christnacht und die Dreikönigsnacht.) Der Drei¬
königstag heißt in Altbayern auch der „oberste Tag" oder das „große Neu¬
jahr" und wird an vielen Orten sehr hoch gehalten. Am Vorabend schon
wird in der Kirche Wasser, Salz und Kreide geweiht. Aus den beiden ersten
bildet man den zu allerhand Aberglauben dienenden Salzstein, der ^im vorigen
Abschnitt erwähnt wurde, und von dem man besonders beim Antritt einer
Wanderung zu genießen pflegt. Mit der Kreide bezeichnet der Bauer seine
Haus-, Stuben- und Stallthür mit den Anfangsbuchstaben der heiligen drei
Könige und der Jahreszahl, was den Eingang böser Geister verhütet. Der
Hausvater, häusig von zwei Personen begleitet, die ihm Licht und Schlüssel
nachtragen, schreitet dabei, nach dem Abendländer, mit Büscheln von heiligen
Kräutern und vorzüglich mit Kranewit-, d. h. Wachholderbeeren räuchernd
dnrch alle Räume seines Unwesens.
Diese Nacht bildet auch den Schluß der sogenannten Klöpfels- oder An¬
rollernächte, die mit dem ersten Donnerstag im Advent beginnen und in denen
Kinder und arme Leute in den Dörfern von Haus zu Haus ziehen, um mit
Sprüchen und Liedern Brot, Aepfel und Nüsse zu erbitten. Die alten ein¬
fältig schönen Lieder, die vor Weihnachten die freudige Erwartung, zur Christ¬
nacht die Geburt des göttlichen Kindes und später die Anbetung der drei
Weisen aus Morgenland und der Hirten von Bethlehem schilderten, sind jetzt
an den meisten Orten verklungen, und der Spruch der Anziehenden ist sehr
prosaisch geworden. Er lautet jetzt fast überall nur: heut ist Klöpfelsnacht
- i bitt um e Klopft."
Neben diesen Gestalten der christlichen Legende geht 'aber zugleich eine
Erinnerung aus der Heidenzeit des Volkes um. die Pcrchtfrau, einst eine
hohe lichte Göttin, die Personification hausmütterlichen Waltens, die Schütz¬
erin und Lohnerin fleißiger treuer Arbeit, später eine Unhvldin, die gespen¬
stisch umherschleichend faulen Spinnerinnen den nicht abgesponnenen Flachs am
Rocken verdarb, ihnen die saumseligen Finger verbrannte, ihnen des Nachts
den Bauch ausschnitt und Häckerling und Werg hineinstopfte, jetzt nur noch ein
Spuk für uugezogne Kinder, in welcher Gestalt sie gleich dem norddeutschen
Ruprecht häufig schon am Nikolaustag erscheint.
Endlich macht die Dreikönigsnacht auch den Schluß der offenen Zeit für
das „wilde Gejaid", das „wüthige Heer", welches vom Advent an und zu¬
meist in den zwölf Nächten auch hier neben den biblischen Hirten, Königen
und Weisen seinen unheimlich dahinbrausendcn Zug durch, die Lüfte hält. Un¬
vorsichtige mit fortführt, Spöttern die blutende Lende eines Menschen oder
Pferdes zuwirft. Von dem ursprünglichen Zusammenhang mit Wuotan, dem
göttlichen Führer des Todtenheeres, haben sich nur schwache Spuren erhalten.
Dagegen sagt man hier, daß der Teufel zu Weihnachten die Holzweiblein
jage.
Ein zweiter wichtiger Tag im Bauernkalender Altbayerns ist Mariä Licht¬
meß oder Kerzenweihe — der 2. Februar. An diesem Tag wird überall das
Wachs geweiht, dessen die Kirche und das Vauernhaus im Lauf des Jahres
bedarf. „Die Kirche insbesondre weiht die Osterkerze, welche bei Taufen, zu
Ostern, zu Frohnleichnam angezündet wird, und die Wetterkerze, die man wäh¬
rend des Sommers bei den sogenannten Schauermessen anzündet, um Hagel¬
schlag und Wolkenbruch fern zu halten. Jeder Hausvater kauft von der
Kirche eine geweihte weiße Kerze für sich, für die Frau den rothen Machsstock.
Die Hauskerze wird das Jahr hindurch sorgsam aufbewahrt und nur bei
schwerem Unwetter in der Nacht angebrannt; ebenso wird sie am Sterbebett
angezündet, um den Teufel von der scheidenden armen Seele fern zu halten;
das rothe Wachs des Frauenwachsstocks pflegt besonders um Hand, Fuß und
Geräth der Wöchnerin gewunden zu werden, um allen Zauber von Mutter
und Kind abzuwehren. Ferner werden diese rothen Wachsstöcke von den Wei¬
bern in der Kirche angezündet, wenn sie um einen Verstorbenen in der Klage
sind, „zum Heil der armen Seele im Fegefeuer." Endlich macht man aus
diesem Wachs auch den Trudenfuß, der zum Schutz gegen die im Glauben
des Landvolks noch immer lebendigen Hexen und Trüben gebraucht wird.
Am 5. Februar, dem /Tage der heiligen Agathe, wird namentlich im
Jsarland das Brot geweiht, was jedoch in einigen Gegenden am grünen
Donnerstag geschieht, wieder in andern am Benedictcntag vorgenommen wird.
Der Fasching, der auf dem Lande mit dem letzten Donnerstag vor den
Fasten gipfelt, wird vorzüglich mit Maskcnlausen gefeiert, indeß ist die Ver-
kleidung meist sehr einfach: man kehrt die Kleider um und schwärzt sich die
Gesichter, In solchem Aufzug besuchen die jungen Leute die Nachbardörfer
und ziehe» deren Bewohner mit den allerwärts vorkommenden neckischen Be¬
schuldigungen auf, die eine Gemeinde gegen die andere nach dem Muster der
Erzählungen von den Lalenburgeru zu erfinden pflegt. Der Fastnachtsschim¬
mel, ein kleines Drama, bei welchem ein Bursch auf künstlichem Rößlein, be¬
gleitet von maskirten Genossen, von Haus zu Haus zog und die Bewohner
in schnurrigen Versen verspottete, ist nur selten noch zu sehn. Dagegen wird
hier und dn noch die Fastnacht in scherzhafter Procession durch das Dorf ge¬
führt und schließlich im größten Dunghaufen desselben begraben. Das Ende
dieser Scherze macht die Aschermittwoch, der „äscherige Mitla" wo sich Vor¬
mittags die ganze Gemeinde in der Kirche feierlich einäschert und des Abends
die geweihte Asche aus die Felder gestreut wird, „was der Saat ersprießlicher
ist als drei Tage Regen und drei Tage Sonnenschein".
Im Lauf des Februar wird das Ausdreschen des geernteten Getreides
vollendet. Wer dabei auf die letzte Garbe den letzten Schlag mit der Drischel
führt, wird mit allerhand Scherzen gefeiert. „Im Lechrain (vergl. unsre Mit¬
theilungen über deutsche Erutegcbräuche in Ur. 34 dieses Jahrganges) heißt
es von ihm „er hat die Los", d. h. die Sau; er muß den letzten Stroh¬
büschel heimlich in die Tenne des nächsten Bauern zu werfen suchen, der mit
dem Ausdreschen noch im Rückstände ist, und der nun, wenn es gelang, ihm
jenen greifbaren Beweis, daß man ihm zuvorgekommen, heimlich zuzustecken,
ob seiner Saumsal schwer verhöhnt wird. Deshalb stehn aber die Knechte
dessen, der ein solches Zustecken der Los zu fürchten hat, auf scharfer Lauer,
und wird der Loswerfer beim Anschleichen entdeckt, so geht es ihm schlecht:
er wird gebunden, im Gesicht mit Ruß beschmiert, in den Brunnen getaucht
und endlich in Stricken seinem Herrn zugeführt." Den Beschluß der „Drischl-
hent" macht eine fröhliche Mahlzeit, bei welcher der Ehrenknecht, der den
letzten Schlag gethan, das „Losküchel" bekommt, das oft 2 bis 3 Schuh breit,
mit Wachslichtern besteckt und mit kleinen dreschenden Bauern von Wachs
verziert ist.
Am Sonntag Lätare, dem „Rosensonntag" kommt hier und da noch der
Umzug von Sommer und Winter vor, wobei der erstere in alles Grün, das
die Jahreszeit gewährt, gekleidet, mit Bändern geschmückt, und ein Blütenreis
oder einen mit Aepfeln behangenen Baum in der Hand auftritt, während der
Winter in Pelzrock und Pelzmütze, mit der Schnecschaufel oder dem Dresch¬
flegel erscheint. Eine Gesellschaft in entsprechender Tracht durchzieht mit den
beiden Parteiführern das Dorf, man singt alte Lieder ab, sammelt Geschenke
an Brot, Eiern und Obst für den „luschtinge Sommer" und führt ein kleines
Gefecht auf, wobei der Winter vom Sommer besiegt und nun entweder in
den Dorfbrunnen getaucht oder unter Jubel und Lachen in den Wald hin¬
ausgejagt wird.
Der 24. April, das Fest des heiligen Georg, wird im Chiemgau, wo
man viel Pferdezucht treibt, mit einer großen berittenen Procession gefeiert,
zu der sich die Theilnehmer, jeder mit zwei Pferden, im Schloßhof zu stair
sammeln. Früh sieben Uhr bricht der Zug auf, geführt von Postillonen und
blasenden Trompetern sowie sechs „Engeln", Baucrnbuben in weißen Jacken,
fleischfarbenen Strümpfen und rothen Schuhen auf schneeweißen Rossen. In ihrer
Mitte befindet sich der heilige Georg selbst in Helm und Harnisch, einem
rothen Mantel und hohen Stulpenstiefeln. Er reitet ebenfalls einen Schimmel
und hält in der Linken eine roth und weiße Kreuzfahne, in der Rechten ein
Schwert. Diesem Vortrab folgt, in Vertretung der Gutsherrschaft, ein Mit¬
glied des Landgerichts, dann kommen die Zechpröpste, Vorsteher der Gcorgi-
bruderschast mit großen kranzgeschmückten Kerzen und nun endlich die Reiter
paarweise, nach Pfarreien geordnet, vor jeder Schaar ein Fähndrich. Der Zug
geht auf der alten Saizburgcrsiraße nach der Se. Georgenkirchc zu Wei߬
brunn, deren Pfarrer den Pilgern mit dem Allerheiligsten und begleitet von
Mitgliedern der Georgibruderschaft, die weiße Talare mit rothen Kragen und
Stäbe mit dem Bilde des Patrons tragen, entgegenzieht. Dieser Zug von
Fußgängern macht vor einer alten Linde bei der Kirche Halt, wo dann der
Pfarrer zuerst allen Versammelten den Segen ertheilt und hierauf die einzeln
an ihm vorübergalvppirenden Reiter mit Weihwasser besprengt. Nach einer
Predigt und nach einem Hochamte in der Kirche zecht man und treibt Ro߬
handel. Die Gcorginacht geHort in vielen Gegenden als Freinacht den ledi¬
gen Burschen, die in ihr allerlei Schabernack treiben, den Nachbarn das
Ackergerät!) verschleppen, ja wenn es das niedrige Dach eines Hauses gestattet,
wol gar einen Leiterwagen auf den First setzen.
Am Palmsonntag bindet und weiht man die „Palmbüschei". Das Heft
derselben bildet ein .Haselzweig, daran befestigt man Blütenkätzchen von
Weiden, die allheilige Mistel und den Sayiing, dessen Geruch die Hexen
vertreibt. Für jedes Gemach wird, ein Palmbusch geweiht und das Jahr
hindurch sorgfältig bewahrt. Naht sich ein Gewitter, so verbrennt man
einen Theil davon auf dem Heerde, dann schlägt der Blitz nicht ein. Am
Charsamstag wird häusig noch vor der Kirchthür ein mächtiges Feuer
angezündet, wozu jedes Haus im Dorfe ein Scheit liefert. Darin ver¬
brennt man eine hölzerne Figur, Judas den Verräther. Die halbverkohl¬
ter Scheite nimmt man mit heim, da sie bei Gewittern auf dem Heerde in
Brand gesetzt die Blitze abwehren. Anderwärts zündet man nur ein Stück
Schwamm an dem Scheiterhaufen an und bringt damit neues Feuer für das
Jahr nach Hause, was entschieden auf heidnischen Ursprung der ganzen Cere¬
monie deutet.
Auch an Ostern knüpfen sich heidnische Sitten, so die rothen Ostereier
und der Glaube an die geheimnißvollen Segenswirkungen des Osterwassers.
Sehr eigenthümlich war ein erst seit sechs Jahren in der Jachenau außer
Uebung gekommener Gebrauch, nach welchem in jedem Jahre von einem der
36 Hofbesitzer der Reihe nach ein Widder zum Besten gegeben wurde, den
man in Vierteln briet, dann wieder in einen Korb ganz znsammenrichtete,
am Kops mit einem Kranz von Buchsbaum und Bändern zierte und, gleich
den Opferthieren des germanischen Heidenthums an den Hörnern vergoldete.
Der Erbe des Hauses oder der Oberknecht trug dann den Widder zur Weihe
in die Kirche und von da ins Wirthshaus, wo ihn der Wirth zerhackte und
an die Hirten der einzelnen Höfe und andere arme Leute vertheilte.
Bon den vielen Feiergebräuchen, mit denen noch das späte Mittelalter
den ersten Maitag begrüßte, hat sich nur das Setzen von Maibäumen
erhalten, und zwar zunächst solcher, die, von den Burschen in feierlichem Zug
aus dem Walde geholt und festlich vor dem Wirthshaus aufgepflanzt, dem
ganzen Dorfe gelten. Namentlich im Ampergrund, aber auch im Jnnthal
und im Chiemgau sieht man die Maibäume reich verziert und alle drei bis
fünf Jahre erneut. Neben bloßen Zierrathen, Fahnen, Wappen, Kränzen haben
sie auch unerläßliche Bestandtheile, oben einen grünen Tannenwipfel, dann
das „Leiden Christi", d. h. alle bei demselben gebrauchten Instrumente, als
Geißel, Ruthe, Leiter, Würfel, Nägel. Hammer, Schwamm und Speer, dann
Kirche und Bauernhaus, Bauer'und Bäuerin, die Zeichen der Gewerke und
zu unterst vier Armbrüste, gegen alle vier Winde gerichtet und wol aus der
Zeit stammend, wo die hergebrachte Waffe des Bauern im Heerbann Pfeil
und Bogen war. Außer diesem allgemeinen Baum pflanzt man im Jnnthal
besonders braven Mädchen, tüchtigen Pfarrern, freigebigen Wirthen und an¬
deren wohlbeliebten Personen, sowie in einigen Dörfern des linken Ufers auch
dem jüngst verheiratheten Ehepaare solche Maien von geringerer Größe vor
das Fenster oder aus das Dach.
Am 24. Juni, dem Tag Johannis des Täufers, stammen noch immer
in Altbayern, namentlich auf den Bergen, aber anch hin und wieder in der
Ebene die alten Sunwendfeuer. Den Sinn derselben hat das Volk wie
überall vergessen, indeß hat sich noch nicht völlig die Empfindung verloren,
daß es sich hier um kein gewöhnliches, sondern um ein heiliges Feuer handle.
An manchen Orten nährt man die Flamme nur mit geweihtem Holz, z. B.
mit Bäumen, an denen die Frohnleichnainsprocession vorübergegangen. An¬
derwärts sammeln die Kinder am Borabend von Haus zu Haus ziehend mit
Gesang den Brennstoff zu dem Scheiterhaufen ein, so daß es scheint, als
solle jede Familie an dem Gebrauch und seinem Segen Antheil haben. Auch
hat die einst heilige Flamme noch nicht ganz ihre Wirkung eingebüßt. Noch
immer treibt man hin und wieder krankes Vieh durch, daß es gesund werde,
gesundes, daß es das Jahr über vor Seuche bewahrt sei. Wer über die
Sunwendflamme springt, dein thut beim Kornschneiden das Kreuz nicht weh;
so hoch wie sie lodert, wächst in diesem Jahre der Flachs. An den meisten
Orten ist der Brauch zum bloßen Kinderspiel geworden, an manchen aber tanzt
noch Jung und Alt u>n das Feuer selbst oder einen daneben aufgerichteten
Balken mit einem Querholz, das oben dicht mit Stroh umflochten und an¬
gezündet wird, bis der Balken erlischt. Im Garmischgau ist dabei auch das
schwäbische „Scheibcntreiben" üblich, wobei die Burschen ihrer Liebsten zu
Ehren Holzscheiben. die in der Mitte durchlöchert und um den Rändern roth-
glühend gemacht sind, an Stocken in die dunkle Luft emporschleudern.
Die drei Juninächte von Se. Veit, Sunwend und Peter und Paul sind
Freinächte für die Vollbringung jenes bösen Zaubers, den habsüchtige
Bauern an dem Saatfeld ihrer Nachbarn üben und der unter dem Namen
Bockschnitt oder Bilwisschnitt bekannt ist. Während des Bctläulens setzen
sich ein solcher Uebelthäter, am linken Fuße eine Sichel angeschnallt, auf einen
schwarzen Bock, der eigentlich der Teufel ist und reiten so quer durch von
einer Ecke des Ackers zur andern. Das abgeschnittene Getreide fällt ganz
oder theilweise ihnen statt dem Eigenthümer zu. Um die auf diese Art fort¬
gezauberten Garben wieder zu gewinnen, besprengt man die erste Garbe,
welche bei der Ernte eingebracht wird, mit dem am Dreikönigstag geweihten
Wasser und Salz und schiebt den ersten Erntewagen verkehrt in die Scheune.
An das Kirchenfest der Pfingsten schließt sich im Jsarland, dann an der
Sempt und Ihm, aber auch am Paar und am untern Lech das noch eifrig geübte
ebenfalls heidnische Volksfest des Psingstlümmels oder Wasservogels. Am
Pfingstmontag nach der Vesper besteigt ein Bursche ein geschmücktes Pferd.
Er selbst ist wunderlich vermummt, in Laub und Stroh eingeflochten. Ihm
folgt ein berittenes Geleit von 10 bis 20 Kameraden, die mit ihm von Haus
zu Haus ziehn, um unter Absingung alter Lieder Gaben von Brot, Butter,
Eiern und Mehl einzusammeln, was Santrigel heißt. Die Santrigelbuben
begeben sich dann nach einem benachbarten Bach oder Teich, wo sie den
Wasservogel vom Pferde herab ins Wasser werfen. An vielen Orten geschieht
dies nicht mit dem Reiter selbst, sondern mit einem vogelartiger Ungethüm,
das er trägt und dessen Leib, aus Stroh und Schilf zusammengeflochten,
in einen langen Schwanenhals mit hölzernem Schnabel ausläuft. Um den
Hals hat diese Strohgestalt ein seidnes Tuch. Nach der Wassertauche zieht
die Gesellschaft ins Wirthshaus, wo sie aus iurcr Sammlung gebackne
Küchel verzehrt und den Vogclhals sammt dem Seidentuch ausspielt.' Der
Gewinner ist Festkönig, das Tuch bekommt sein Schatz, den Vogelkopf aber,
den Santrigel, nagelt er aus den First seiner Scheuer, die derselbe das Jahr
über vor Wetter- und Feuersgefahr schützt. In manchen Gegenden ist die
Begleitung des Wasservogels sehr bunt und wunderlich zusammengesetzt, ein
vollkommner Maskenzug. Man sieht darunter den alten Bachus auf seinem
Faß, den Doctor Luther mit seiner Käthe, mit den Bratwürsten, die er bei
seiner eiligen Flucht aus Augsburg (einer katholischen Sage nach) unbezahlt
gelassen, mit der Taube, die er aus der Bibel lesen läßt, den Wundcrdoctor
in der Tracht des welschen Cavaliers aus dem achtzehnten Jahrhundert, den
bayerischen Hiesel, Schäfer, Jäger, Scherenschleifer und Schornsteinfeger und
zum Schluß als Bedeckung den Nachtwächter mit Spieß und Laterne.
Die Lust an solchen Aufzügen ist überhaupt so lebendig im altbayerischen
Landvolk, daß die Pfarrer Mühe haben, sie von den reinkirchlichen Proces¬
sionen fern zu halten. sowol bei den Feldumgängen mit Kreuz und Fahne,
welche man in ganz Oberbayern während des Sommers mit der Bitte um
Gedeihen der Saat hält (sie finden gemeiniglich alle Sonnabende statt), als
bei den zahlreichen Processionen an den Tagen besonders gefeierter Heiligen
gibt sich die Neigung kund, allerlei unchristliche Dinge, freilich im besten
Glauben, einzumischen. Dies geschieht namentlich im Vorland, wo es die
jungen Leute lieben, bei jenen Feldumzügen und anderen Processionen hohe
Tannenstangen, oben mit einem Fähnchen geziert, umherzutragen und in der
Kunst des Fahnenschlängelns, d. h. geschickten Balancirens zu wetteifern. Diese
„Palmstangen" verscheuchen Hagel- und Wetterschlag von den Feldern, und
die Herren Pfarrer gerathen oft in schwere Bedrängnis, da man von ihnen
nicht blos Zulassung, sondern obendrein Einweihung der Stangen fordert
und es ihnen (wir meinen mit gutem Recht) schwer verdenke, daß sie sich hier
weigern, während sie doch in Betreff von Salz, Wasser und Wachs am
Dreikönigstage immer bereit sind, in den Schatz zu greifen, der die Segnun¬
gen der kirchlichen Weihe bewahrt.
Die glänzendsten Processionen sind die am Frohnleichnamsfest oder
Antlaß. Hier entfaltet jede Kirche ihren kleinen Reichthum, thut jede Ge¬
meinde an Schmuck und Pracht ihr Bestes. Aber auch hier mischte noch
vor nicht langer Zeit der Volksgeschmack manchen seltsamen Zusatz aus dem
Weltleben in die kirchliche Schaustellung. Ein Beispiel davon führt die
„Bavaria" aus dem Jsarwinkel an, wo in dem Orte Längries neben den
Bruderschaften mit ihren Tragbildern und Fahnen, neben den frommen Jung¬
frauen in ihrer weißen Tracht, neben dem Engel mit dem Helm und den
Flügeln von Gold ganz ungenirt eine Schaar von Jägern im Rocococostüme
mit Flinten und Hunden und ein Zug von zwanzig berittenen Burschen in
Husarentracht einhermarschirte.
Mit den sorgfältig aufbewahrten Kränzen, mit denen man am Frohn
leichnamsfeste und dem darauf folgenden Donnerstag und Sonntag alle
Heiligenbilder und Kreuze, alle Leuchter und Kruge schmückt, wird vielfacher
Aberglaube getrieben. Aber der echte Tag für die Sammlung heilbringen¬
der Kräuter ist der 15. August, Maria Himmelfahrt, „unserer lieben Frauen
Tag der Ehren", mit dem der „Frauendreißigst" beginnt. Zu dieser Zeit ist
die ganze Natur nach dem Volksglauben dem Menschen am meisten hold, die
giftigen Thiere und Pflanzen verlieren während derselben ihre schädlichen
Eigenschaften, die wohlthätigen Kräuter und Wurzeln haben ihre vollste Heil¬
kraft erlangt, und so werden an diesem Tage auch in der Kirche die
„Sangen". Büschel solcher Kräuter geweiht, welche, auf dem Dachboden der
Häuser bewahrt, den Blitzstrahl abhalten.
Zu Ende August fällt das Erntefest, hier zu Lande Schnitthahn oder
Sichclhenk genannt. Es unterscheidet sich von den Mittel- und norddeutschen
Ernteschmäusen in nichts Wesentlichen. Dasselbe gilt von der in den meisten
altbayerischen Gegenden in den letzten Wochen des September gefeierten
Kirchweihe. Wie bei uns ist sie der Glanzpunkt bäuerlichen Lebens, wie bei
uns 'ladet der Bauer dazu die gesammte Verwandtschaft und Bekanntschaft
ein, und wie bei uns bestehn die Hauptfreuden dieses Festes in Schmaus und
Tanz. Während die Erlaubniß zum Tanz sonst eine sehr beschränkte ist, darf
am „Kirta" das Volk nach Herzenslust vom Schluß der Vesper bis zum
frühen Morgen sich drehen. , Dabei konimcn nur noch hin und wieder die
alten volksthümlichen Tänze vor, und fast überall drängen sich die modernen
Touren städtischer Bälle ein. Interessante alte Tänze sind der im Salz¬
burgischen noch übliche „Aufundab", wobei jedes tanzende Paar ein be¬
stimmtes Bret nicht verlassen darf, der im Land an der Sempt und Ihm
noch gebräuchliche „Huttanz", bei welchem ein Hut als Gewinn ausgewürfelt
wird, und der schwäbische „Langaus", ein Ländler für ein Paar, wobei das
Mädchen sich mit sittig gesenkten Augen still fortdrcht, indeß ihr Bursch sie
umkreisend auf alle Weise seine Freude und Liebe pantomimisch ausdrückt.
Am Häufigsten werden der sehr langsam getanzte Dreischrittwalzer und
der bayerische Ländler executire) welcher letztere besonders von dem lebhaften
Gebirgsvolk an der Mangfall und der Loisach mit einem Stampfen. Pfeifen.
Jauchzen und Singen getanzt wird, das selbst 'das Gellen der Klarinetten und
das Schmettern der Trompeten übertäubt. Auch auf dem linken Ufer des
Innthals ist die Tanzlust sehr groß. Im Jahr 1846 mußte das Landgericht
Rosenheim das sogenannte Austanzen der Mädchen aus Gesundheitsrücksichten
verbitten, da gute Tänzerinnen selten ein paar Augenblicke Ruhe hatten,
sondern unausgesetzt Nächte hindurch Extratonren tanzten. „Einen auffallen¬
den Gegensatz hierzu bildet die Ramsau, wo an den drei einzigen Tanztagen:
Kirchweih, Fastnacht und Kathrey oft alle Buben nur 3 bis 4 Tänzerinnen
haben, da die meisten Mädchen gar nicht tanzen können. Man
tanzt gewöhnlich nach Schaaren, d. h. je vier Paare, die für eine Schanze,
d. h. drei Touren 1 Gulden 12 Kreuzer bezahlen. Einzeltänzer werden ungern
gesehn. Der prahlerische Bursche, der den Spielleuten das Tanzgeld zu¬
werfend und den Andern die Zeit wegnehmend mit seinem Schatz allein oder
höchstens mit einigen Freunden, denen er die Theilnahme gestattet, den
Andern vor der Nase herumtanzen will, wird gar bald mit Trutzliedern ge¬
straft, deren unausbleibliche Folge zuletzt eine erfreuliche Rauferei ist, welche
in vielen Gegenden so nothwendig an den Schluß einer rechten Kirchweih
gehört wie Messe und Vesper an den Anfang."
Der 28. October, der Tag Simonis und Judä, ist der Tag einer großen
Gilde: der „Sicmannlbruderschaft", d. h. der Ehemänner, die unter dem Pan¬
toffel ihrer Weiber stehn.
Am Allerseelentag werden die Gräber vom Unkraut gesäubert und mit
der rothen Vogelbeere, die einst dem Donar heilig war, allerlei Figuren da¬
rauf ausgelegt, das Grabkreuz mit einem Kranz geschmückt und der Weih-
brunn frisch gefüllt. Festgebäcke des Tages sind der Seelenzopf und der Seelen¬
wecken, letzterer für Kinder und Arme bestimmt, die darum bettelnd von Haus
zu Haus gehn. Uebrigens gibt die Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen
den Geistern Erlaubniß zu erscheinen und zu walten bis zum Dreikönigstag. Das
wilde Gejaid, die Holzweiblein, Kobolde und Zwerge, verwünschte Seelen und
allerhand andrer Gespenstertroß haben dann gute Zeit.
Der 6. November, der Tag des heiligen Leonhard wird in vielen Gegen¬
den durch große berittne Wallfahrten, „Leonhardsritte," gefeiert. Sanct Leon¬
hard ist der Hanptpatron der Pferdezucht, man opfert ihn, die Eisen von den
Hufen der kranken Rosse, die er heilen soll in Natura oder in Wachs, und
seine Kapellen hängen voll von,derartigen Spenden. Durch ganz Oberbayern findet
man solche Kapellen, oft mitten im Walde und stundenweit von den Menschen¬
wohnungen. Häusig sind diese Waldkirchlein von eisernen Ketten umspannt,
die aus den Stnllkettcn der kranken, dem Heiligen verlobten Thiere zusammen¬
geschmiedet sind. Die berühmtesten Wallsahrtskapelien dieser Art sind im Jsar-
land die zu Rhöneck, zu Harmating und Strauchhartiug, dann die in Kreuch,
in Fischhauscn am Schliersee, in Höpping zwischen Giou und In», zu Flints¬
bach. Waging. Neukirchen und Jnchenhofcn.
Die Leonhardsritte, werden oft durch die Menge der Theilnehmer zu großen
Volksfesten. Dann kommen die Bauern schon am Vorabend zur Vesper, jeder
mit zwei Pferden, reiten drei Mal um die Kapelle, binden die Rosse im Walde
um. beten einen Rosenkranz und ziehn nach einem nochmaligen Umritt wieder
heim. „Am Festtag selbst kommen die Leute schon in aller Frühe viele Meilen
weit auf Leiterwagen gefahren, die mit Kränzen, Fahnen, Bändern, Bogen
und Gewinden von Laub und Tannen aufs Festlichste geschmückt sind. Auch
die vorgespannten vier schönen Pferde prangen im besten Geschirr, Mähnen
und Schweif mit Bändern durchflochten, und ihre Lenker haben Hut und Geißel
mit Strauß und Schleife geschmückt. Wohlhäbige Bauern besitzen für diese
Fahrt besonders gebaute Wagen, sogenannte „Leonhnrdsiruhcn/' bunt und
zierlich, meist blau, bemalt mit den Herzen Jesu und Maria, mit den Bildern
des heiligen Leonhard und seiner Wunder. Diese Leonhnrdstruhen, deren man
oft über 50 bei solchen Festen zählt, fassen zwanzig bis dreißig Personen und
werden von Vorreitern geleitet. Alle diese Gespanne umfahren nun hinter
einander in raschem Trabe die Kapelle, die Mädchen singen fromme Lieder,
die Burschen machen mit ihren Instrumenten in kurzem Anhalten vor der off¬
nen Kirchenthür Musik. Nach der letzten Messe um 12 Uhr fahren die ehr¬
samen Bauern mit Weib und Kind nach Hause, das lustige junge Volk aber
beginnt jetzt die zweite, weltliche Hälfte des Festes zu feiern; denn bei dem
einsamen Kirchlein stehn für diesen Tag flüchtig erbaute Krambuden, Bier«
Hütten, Kochheerde, Tanzboden und hier wird nun fröhlich wie am „Kirta"
gelebt, und die Lustbarkeit, unter grünem Waldesschatten im Freien begonnen
wird am Abend im nächsten Wirthshaus mit allem Fleiß fortgesetzt. Bei
diesem Fest versammeln sich oft über tausend Menschen, und so tief liegt die
Feier dem Volk im Sinn, daß es ebenso oft nach Leonhard als nach Georgi
und Michaeli die Zeit berechnet und ebenso herzlich einen guten Leonhard
wünscht, als gute Weihnachten oder Ostern."
Mit dem ersten Donnerstag im Advent beginnen die schon erwähnten
Klöpfels- oder Gennächtc. Am 6. December erscheint der heilige Nikolaus,
die braven Kinder zu beschenken und die bösen seinem Knecht Klaubauf oder
Buttenmann, wie er im Berchtcsgadnerlnnd heißt, zur Bestrafung zu übergeben.
Letzterer ist dieselbe Person wie der sächsische Knecht Ruprecht und verbreitet wie
dieser mit seinem Pelzrock, seiner Ruthe und seinem Zwerchsack unter dem
kleinen Volk großen Schrecken. Oft wird der wilde Herr und der wilde Knecht
in eine Person zusammengezogen, bisweilen aber tritt mit ihnen auch die
Perche auf.
In der Thomasnacht, am 21. December, treiben die Weiber allerlei Lie¬
beszauber, Schuhwerfcn, Bettschcmmeltreten und Aehnliches. In manchen
Gegenden geht für böse Buben, die der Furcht vor dem Klaubauf entwach¬
sen sind, die vermummte Schrcckensgestalt des „ungläubigen Thoma" um und
schüttelt sie tüchtig bei den Ohren, wobei es freilich mehr auf wirkliche Straft
als aus bloßen Schreck abgesehn ist.
In der Christnacht gießt man in eine während des Avemaria gefüllte
Wasserschüssel Blei oder Eidotter und weissagt aus den daraus entstehenden
Gebilden die Schicksale des nächsten Jahres: aus einem Thurm eine Heirath
in die Stadt, aus einem Kreuz den Tod, aus geflammten Zacken einen Haus¬
brand. In der Christnacht redet das Vieh unter sich von der Zukunft, und
ein Sonntagskind möchte es verstehn. Der Christbaum und die Weihnachts-
bescheerung sind auf dem Lande vollkommen unbekannt, wogegen sie in Mün¬
chen, namentlich in den höheren Ständen, seit den Tagen der Königin Karo-
line eingeführt worden sind. Eine Weihnachtsspcise ist das aus Brodteig und
gedörrten Obst gebackene Kictzenbrod, welches die Mädchen am Stcphanstag
ihren Liebhabern verehren, wenn sie des Abends zu ihnen „fensterln" kom¬
men, und welches hier die Stelle des sächsischen Weihnachtsstollen vertritt.
Wahrscheinlich liegt hier ein Zusammenhang mit altheiliger Festbroden vor;
denn mißrüth das Kictzenbrod, so bangt die Hausfrau für ihr Leben.'
Am dritten Weihnachtsfeiertag, der dem Evangelisten Johannes gewidmet
ist, wird in der Kirche in einem besonders dazu bestimmten Becher der gan¬
zen Gemeinde der Johannessegen zu trinken gereicht, auch wird an diesem
Tage der Wein für die Johannesminne gereicht, welche bei den Trauungen
die Brautleute zu trinken Pflegen, und viele Bauern lassen sich noch zum Pri¬
vatgebrauch Wein weihen, den sie dann während des Jahres bei Erkrankun¬
gen als Arznei und vor dem Antritt von Reisen als inneres Schutzmittel ge¬
gen Gefahr genießen.
Den 28. December, den Tag der unschuldigen Kindlein, bezeichnet in den
an Schwaben grenzenden Strichen eine eigenthümliche Sitte alemannischen
Ursprungs. Da ziehn die Bursche zu Dutzenden und Zwanziger im Dorfe
umher, um ihre Mädchen zu „kindeln", d. h. sie mit langen Ruthen zärtlich
zu peitschen, wobei sie fragen: „Ist der Lebzelten raß?" Für diese seltsame
Zärtlichkeit erhalten sie von den Gegenständen derselben Lebkuchen, Klctzen-
brot und einen Schluck Branntwein. Auch Kinder gehn umher, um sich von
den Erwachsenen solche Gaben zu erpeitschen. Die Sitte ist übrigens alt und
mag mit dem Gebrauch in der Umgegend von Leipzig verglichen werden,
nach welchem die Kinder am Aschermittwoch mit Tannenzweigen durch die
Dörfer laufen, um Bekannte und Unbekannte damit zu peitschen, ihnen „die
Asche abzukehren," wofür sie ein kleines Geldgeschenk erhalten.
Wir schließen diese Auszüge aus dem altbayerischen Bauernkalendcr mit
den fünf bösen Tagen des Jahres. Der 30. Juli und der 29. August sind
„Schwendtage," an denen man zur Vermeidung von Schaden nichts Neues
und Wichtiges beginnen darf. Der erste April.und ebenso der erste August
und December gelten für Unglückstnge. Wer an diesen Tagen geboren ist,
stirbt früh eines bösen Todes, wer an ihnen zur Ader lassen wollte, würde
binnen Wochensrist sterben. Und das ist ganz natürlich; denn am ersten April
ist Judas, der Berräther geboren, am ersten August der Teufel vom Himmel
gestoßen, am ersten December aber sind Sodom und Gomorrha untergegangen.
Saxievti sat! Und überdies hat der altgläubige Bauer in ganz Deutschland,
ja selbst der Türke und Araber seine Schwert- und Unglückstage.
In Tirol kennt man nicht weniger als 28 Schwendtage, und außerdem
sind noch unglücklich der 17. und 18, Januar, der 8. und 16. Februar, der
3. 12. 13. und 25. März, der 1. 3. 15. und 18. April, der 10. 17. und
30. Mai. der 1. und 7. Juni, der 1. 5. und 6. Juli, der 1. 7. und 17.
August, der 1. 2. 15. und 30. September, der 11. und 17. November und
der 1. und 7. December.
Fast allenthalben in Nord- und Süddeutschland galten und gelten unter
den Abergläubischen noch jetzt Montag, Mittwoch und Sonnabend, ganz be¬
sonders aber die Donnerstage für Unheilstage, an denen keine Hochzeit ge¬
feiert, keine Reise unternommen. Kinder nicht zum ersten Mal in die Schule
geschickt, kein Holz gehauen, kein Dünger aufs Feld gebracht und überhaupt
nichts von Bedeutung unternommen werden darf.
Unter den ägyptischen Arabern hält man den Sonntag für unglücklich,
weil in einer Sonntagsnacht der Prophet gestorben ist, den Dienstag, weil an
ihm mehre große Märtyrer getödtet worden sind; der unheilvollste aller Wo¬
chentage aber ist der Sonnabend, an dem kein Verständiger eine Reise anzu¬
treten, sich zu rasiren. die Nägel zu verschneiden oder eine gerichtliche Klage
anzubringen wagt. Vor allen Tagen des Jahres verhnngnißvoll endlich ist
die letzte Mittwoch im Monat Ssasar. an welcher viele nicht einmal gern das
Haus verlassen, da an diesem Tage allerlei Unglück die Menschen befalle.
Die letzte Meinung ist sehr alt, da sie schon von Muhammed verdammt
wurde. Auch die deutschen Schwendtage stammen wol aus alter, zum Theil
selbst aus vorchristlicher Zeit, wenn sich auch nicht mehr finden läßt, weshalb
sie ursprünglich geächtet wurden.
Mehr als die eigentliche Politik beschäftigt die Presse in diesem Augenblick das
Wuthgeschrei, welches von jenseit des Canals zu uns herüberschallt. Wir dürfen
nicht erst sagen, daß wir die stärksten Ausdrücke, welche man gegen „Times" und
Konsorten anwendet, vollständig unterschreiben. Wenn man sagt, die englischen
Zeitungen in ihrem Ton gegen Deutschland und Preußen gleichen einer Rotte von
Gassenbuben, die sich durch unmäßigen Genuß von Branntwein und durch Geheul
auf den Straßen in einen Zustand halber Verrücktheit versetzt haben, so ist das noch
gelinde ausgedrückt. —
Aber dabei dürfen wir nicht stehn bleiben; wir müssen fragen: wer hat den
Lärm eigentlich angestiftet? und was hat er zu bedeuten? denn daß Capitain Mac¬
donald nur der Vorwand ist, das merkt doch auch am Ende ein deutscher Doctrinär.
Der Lärm will folgendes sagen: Ihr Preußen! wenn ihr durch Begünstigung
der östreichischen Politik in Italien euch die Franzosen auf den Hals hetzt, so seid
ihr in einem ganz ungeheuern Irrthum, wenn ihr glaubt, von uns auch nur einen
Schilling zu erhalten.
Und warum macht man deshalb solchen Lärm statt es einfach zu sagen? —
Weil man in Berlin zuweilen zwar das Gras wachsen hört, aber taub bleibt, wenn
in der Entfernung einer Stunde die Kanonen los gehn.
Die Politik des jetzigen englischen Ministeriums in Bezug auf Italien liegt
wahrlich Jedem klar am Tage, der, anstatt auf das Wachsen des Grases zu lauschen,
die Augen aufmacht. Offner kann man nicht die Politik eines Staats begünstigen,
ohne grcidezu Krieg anzufangen, als England die Politik Victor Emcinucls begün¬
stigt hat, Wenn der Kaiser der Franzosen die Italiener gewähren läßt, so ist der
englische Einfluß dabei nicht das unbedeutendste Moment gewesen. Dem Kaiser ist
ein starker italienischer Staat an feiner Grenze äußerst unbequem, aber er sieht die
heilige Allianz sich gegenüber, und zieht es vor, mit den Italienern und Engländern
derselben zu begegnen, als ohne sie. Die letzte Note Lord Russell's nach Turin wider¬
spricht nicht dieser Ansicht, sondern bestätigt sie: denn die Warnung an die Piemon-
tesen, im gegenwärtigen Augenblick Venedig nicht anzugreifen, ist die Warnung eines
Freundes.
Nun erfolgt die Tcplitzer Zusammenkunft, und die Preußische Zeitung beeifert
sich zu erklären, daß zwischen den Ansichten der beiden Monarchen sich eine ganz
wunderbare stauncnswürdigc Uebereinstimmung gefunden habe. Ueber diese Erklärung
ist niemand so verwundert gewesen, als die östreichische Presse selbst, die eine Zeitlang
ganz sprachlos dasaß. Der Coblenzer Zusammenkunft folgte eine zwar nicht so
warme Erklärung, aber es wird doch auch von einer bedeutenden Uebereinstimmung
geredet, und unmittelbar darauf wird die bekannte Note nach Turin geschickt, mit
einem noch stärkern Kommentar der preußischen Zeitung. — Kann man es nun
im Grunde dem englischen Volke verargen, wenn es wild wird? Wie! fragt es ^ich,
Preußen findet sich mit Oestreich in einer stauncnswürdigen Uebereinstimmung, und
unser Ministerium soll an dieser Uebereinstimmung mitschuldig sein? Werden wir
denn von Verräthern regiert? — Wenn aber nicht, so —
Wie gesagt! die Ungezogenheit der englischen Presse muß uns empören, aber
begreifen können wir sie vollständig. — Freilich wird man feine Distinctionen ma¬
chen, wie weit, und wie weit nicht u. f. w. — Aber Engländer, Oestreicher, Ita¬
liener verstehn sich auf solche Spitzfindigkeiten nicht.
„Wenn ein armer Neffe den reichen Onkel streichelt, sagt die Times, so knöpft
dieser seine Taschen zu." Das ist grob und paßt nicht für unsern Fall; aber wir
möchten einen andern Satz aufstellen. — Wenn ein Deutscher sagt: ein.? Nation
muß ihre Politik nicht nach ihren Sympathien, sondern nach ihren Interessen be¬
stimmen, so ist es Zeit den Arzt zu rufen und ihm den Puls zu fühlen, denn man
kann zehn gegen eins wetten, daß er im Begriff steht, aus irgend einer transcen¬
dentalen Doctrin das für das Interesse der Nation auszugeben, was ihrer Sym¬
pathie widerspricht. — Eine Nation hat aber nur dann eine wirkliche Politik, wenn
ihre Sympathien mit ihren Interessen übereinstimmen.
Preußen sucht mit einer unruhigen Hast nach allen Seiten Bundesgenossen.
In Nußland ist leider die Conferenz rasch abgebrochen; was auch dort gesprochen
sein mag, jedenfalls hat man nicht Zeit gehabt, eins festzustellen: die Zahl der
Armeecorps, welche Rußland Preußen zur Verfügung stellt, und die Zahl der Tage,
innerhalb deren sie nach dem Rhein befördert werden sollen. — Oestreich würde
gern die Bundesgenossenschaft annehmen, unter der Bedingung, daß Preußen den
ganzen Stoß der Waffen allein aus sich nimmt und nichts dafür verlangt. Es ist
jetzt in einem großen Experiment begriffen das, wenn die neuen Einrichtungen in
Ungarn Zeit haben, sich ruhig einzuleben, sehr segensreich wirken kann; wenn man
aber die Wirkung für den Augenblick erwartet, so wäre das ein sehr gefährlicher
Irrthum. Denn noch wissen die Ungarn sehr gut, daß nicht die Liebe, sondern
die Furcht ihnen diese Zugeständnisse verschafft hat, und bereitet Oestreich den Itali¬
enern einen Krieg auf Leben und Tod, so werden ihn diese nicht mit Paragraphen
des Völkerrechts fuhren, trotz aller Doctrinen, die man ihnen vorträgt.
Unter allen natürlichen Bundesgenossen, welche die preußische Regierung zu su¬
chen hat, scheint uns der natürlichste das preußische Volk zu sein. Wohin die Sym¬
pathien des preußischen Volks gehen, das wird auch der Kurzsichtige Gelegenheit ha¬
ben wahrzunehmen; und seine Interessen liegen nicht weit davon entfernt. Das
Volk ist jetzt der Regierung geneigt: das ist ein Gewinn, aber es gnügt noch lange
nicht; das Volk muß für die Regierung begeistert sein. Das wird aber nicht eher
geschehn, als bis die Regierung ihr bisheriges Schaukelsystem zwischen zwei feind¬
lichen Parteien aufgibt, bis das Volk sich überzeugt, daß ihr Gefühl nicht ander¬
wärts ist als ihr Verstand. Man hat Victor Emanuel scharf getadelt, aber man
kann ja auch vom Feinde lernen. Gewiß wird dieser König lieber eine Armee
commandiren als sich mit den Kammern in langweilige Debatten einlassen. Und^
doch gibt es seit elf Jahren keinen konstitutionelleren König als Victor Emanuel.
Die Folge davon ist, daß er unbedingter als je ein absoluter Monarch sein Volk
beherrscht. Absolut herrscht nicht derjenige, der wie Jakob I. beständig von seinen ab¬
soluten Rechten redet, sondern derjenige, der, was er will, ganz will, und dessen
Willen sich mit der Natur der Dinge in Uebereinstimmung befindet. Das deutsche
Volk ist nur darum noch immer so uneinig und unentschlossen, weil keiner da ist,
der es beherrschen will.
Was die übrigen natürlichen Bundesgenossen betrifft, so hat Preußen freilich
alles Mögliche gethan, sie zu gewinnen. Baden! Teplitz! jetzt die auf dem Umwege
von Turin nach Frankfurt adressirte Note! — Die Erfolge sind nicht glänzend. Die
natürlichen Bundesgenossen haben eine Bundcskriegsverfassung vorgeschlagen, in
welcher unter andern sür den Fall, daß Oestreich an einem Bundeskrieg gar nicht,
Preußen dagegen mit allen seinen Streitkräften theilnimmt, die Wahl des Bundes-
fcldherrn dem Bundestag vorbehalten bleibt. — Kurhessen bereitet sich vor, die land-
ständische Frage dadurch zu entledigen, daß, weil es mit seiner eignen octroyirten
Verfassung nicht regieren kann, es ohne alle Verfassung zu regieren versucht, trotz
der starken Ausdrücke des Herrn v. Schlcinitz.
Woher dieser mangelhafte Erfolg? — Weil die deutschen Regierungen zur preu¬
ßischen Regierung sagen (und auch so denken): ihr wollt ja gar nicht, was ihr zu
wollen glaubt! es ist ein bloßer Irrthum, ein Vorurtheil! im Grunde des Herzens
seid ihr mit uns einig. — Ihr wolltet für Hessen das Einkammersystem, da doch
eure Stärke im Herrenhaus liegt? Ihr wolltet eine straffere Einigung Deutschlands,
da doch Niemand heftiger dagegen arbeitet als das Organ, welches in der Lage ist,
eure Armee zu vertreten? — Nicht möglich! Ihr werdet uns einst danken, wie zu
Olmütz, daß wir, indem wir euern vermeintlichen Willen bekämpften, euern wahren
Willen zur Geltung brachten.
Eine große Politik kann Preußen nicht treiben, so lange die Lage der Dinge
so bleibt, wie sie ist. — Aber der Tag ist.nahe, wo nicht von einer großen Politik
die Rede ist, sondern vom Aufrechthalten der preußischen Ehre. — „Wir haben die
Folgen unsers Protcsts gegen den Bundcsbeschluß in der kurhcsfischen Sache nach
allen Seiten reiflich überlegt." — Kurhessen ist der Punkt, in dem Preußen 1850
gefallen ist; hat man wirtlich nach allen Seiten reiflich überlegt, wie das zum zwei¬
tenmal zu vermeiden ist? — Das preußische Volk hat sich durch seinen Landtag
deutlich genug ausgesprochen, nicht an ihm liegt es, wenn jetzt versäumt wird was
-j- -f
ist in der Rsvus äos 6eux monäsg eine neue Novelle
erschienene Is Marquis as Villkmer, welche zwar nur die alten Charakterprobleme
und Situationen wiederholt, in der Ausführung aber die zunächst vorhergegangenen
Versuche der Dichterin bei weitem übertrifft. — Ueber des Amerikaners Hawthorne
RdwanLs ok North Lein gibt dieselbe Zeitschrift, 1. August 1860, eine anziehende
Analyse.
deutscher Volkskalender (Leipzig, Keil) enthält von
dem Herausgeber selbst zwei Erzählungen: die eine über das Verhalten Goethes
bei Feuergefahr, die andere ..der Blitzschlosser von Wittenberg" den Sieg eines ent¬
schlossenen Willens über den Widerstand der Routine. Als aufrichtige Freunde des
Dichters sprechen wir den herzlichen Wunsch aus, er möchte seine Kräfte bald wie¬
der zu einem größeren Werk zusammenraffen, und die Literaturnovellcttcn andern über-
lassen. Sehr hübsch ist die humoristische Erzählung von Gottfried Keller: „da«
Fähnlein der sieben Aufrechten." Auch sonst enthält der Kalender lesenswerthe Bei¬
träge von namhaften Mitarbeitern, Einer davon, von Karl Andres, hat uns
überrascht; die Franzoscnfrcsscrei wollen wir hingehn lassen, denn diese liegt in der
Strömung der Zeit, auch Sätze wie der folgende: „der Sympathiemichcl ist der wider¬
wärtigste von allen. Für ein Volk gibt es nur eine einzige Politik," nämlich die
Interessen des eignen Landes u. s. w, (Wenn man nur die wirklichen Interessen
kennt!) Aber weniger duldsam können wir sein, wenn wir hören (S. 131): „Bis zu
den heillosen und wahnwitzigen Kriegen um kirchliche Lehrmeinungen war Deutsch-
land die vorwaltende Macht in Europa. Als die innern Kämpfe um Glaubenssätze
begannen, über deren Richtigkeit oder Falschheit endgiltig abzuurtheilen keinem Men¬
schen gegeben ist, begann der Verfall," „Heillos und wahnwitzig" war das Unter¬
fangen Kaiser Ferdinands des Zweiten, die Glaubensfreiheit zu unterdrücken und
Deutschland wieder dem Joch der Jesuiten zu unterwerfen; aber nicht heillos und
wahnwitzig, sondern sehr vernünftig und'gerecht war der Widerstand der Protestanten,
dem wir die ganze Blüte unsres geistigen Lebens von 1750—1805 verdanken, dem
wir verdanken, daß wenigstens ein Theil unsres Vaterlandes von dem dumpfen Druck
gerettet wurde, dem der andere unterlag, — Der Kampf galt gar nicht blos den
Glaubenssätzen, sondern hauptsächlich dem sittlichen Leben. — In welchem Compen-
dium hat denn der Verfasser gelernt, daß Deutschland im vierzehnten und fünfzehn¬
ten Jahrhundert die „vorwaltende Macht in Europa" war? Wenn Auerbach wirklich
mit seinem Kalender das Volk bilden will, so sollte er dafür sorgen, daß dergleichen
nicht wieder vorkommt.
Siebzehnter Jahrgang (Breslau, Trewendt)
entspricht seinem alten guten Ruf; besonders angesprochen hat uns eine Skizze
von Höfer und ein schlesisches Gedicht von Holtei. — Ein historischer
Roman: Angelika Kaufmann, 2 Bd. (Frankfurt ni. M., Sauerländcr) beruht
auf tüchtigen Studien und ist sehr gut geschrieben; der Geniecultus hätte ein wenig
gemäßigt werden können. — Diana und Endymion von Natalis Victor
(Frankfurt a. M., literarische Anstalt), Salonstück, aber mit gesunder Tendenz; einiges
sogar recht fein charakterisirt. — Von Ziegler's Nondum (Erzählungen im Sinn
deS politischen Fortschritts) ist der zweite Theil erschienen (Berlin, David). —
Golo Raimund's Novellen, von uns theilweise schon besprochen, erscheinen in
zweiter sehr wohlfeiler Ausgabe (4 Bd., Hannover, Nümpler: Zwei Bräute; der Tauf¬
schein; ein Familicnschmuck; Liebesfrcud und Liebesleid; Gebrüder Spalding; aus
dem Bauernleben; ein deutsches Weib; bürgerlich Blut; kein Vertrauen). — Noch
sind zu erwähnen: Religion und Liebe, Roman aus dem Tagebuch eines Ano¬
nymen (Hamburg, Hoffmann und Comp.) und der letzte Mönch, eine Schwarz¬
waldsage vom Verfasser des Eckmann (Tübingen, Riecker). —
Unter dem Titel „Protest an Statt eines Antrags in der holsteini¬
schen Frage" hat ein „Publicist a. D." an die Generalversammlung eine ziemlich
wunderlich stilisirte Abhandlung veröffentlicht (Harburg, Eilau), in welcher er, stark
gegen Hauffer, Gervinus und die Wochenschrift des Nativnalvereins polemisircnd.
eine Art Ehrenrettung der Dänen unternimmt und, auf den alten, pathetischen Lorn-
sen zurückgreifend, dem Gesammtstaat das Wort redet. Wie er sich diesen vorstellt,
ist nicht zu ersehn.
Von dem Sammelwerk „Unsere Tage" (Braunschweig, G. Westermann) lie¬
gen uns wieder einige Hefte (14. — 16.) vor, die verschiedene interessante Artikel
enthalten. Wir nennen nur: Griechenland gegenüber der orientalischen Frage —
— die Westgrenzcn Deutschlands militärisch betrachtet — England seit dem Krim-
kriege — Syrien in seinen militärischen und politischen Beziehungen — das Tur¬
nen nach seiner gegenwärtigen Entwickelung und nach seinen wichtigsten Beziehungen
zum Staats- und Volksleben, und wiederholen unsre frühere Empfehlung des Unter¬
nehmens als eines vielfach brauchbaren.
Die neueste Nummer der Wochenschrift des Nationalvereins enthält folgende
Aufforderung!
„Zehn Jahre sind vergangen, seitdem Schleswig-Holstein von deutscher Diplo¬
matie und deutscher Militärgewalt an die Dänen ausgeliefert ist. Seit zehn Jahren
schwelgt dänische Rache und dänische Niedertracht in dem Triumph, welcher ihr die
Politik und die Waffen deutscher Cabinete bereitet. Und noch hat die Stunde nicht
geschlagen, wo wir das Brandmal hinwegwaschcn könnten, welches man der deut¬
schen Nationalehre auf die Stirn gebrannt. So sei es denn einstweilen unsre
Sorge, wenigstens die persönliche Schuld zu zahlen, welche hundert wackere schlcs-
wigholsteinische Männer, die durch die Dänen von Amt und Gewerbe, von Haus
und Hof vertrieben sind, von Deutschland zu fordern haben. Wir eröffnen hiermit
in Gemäßheit des Beschlusses der Generalversammlung des Nationalvereins vom
4. September die Unterzeichnung für die Unterstützung bedürftiger Schleswig-
Holsteiner.
Der Vorstand des deutschen Nationalvcreins.
v. Benningsen. Fries. Dr. Reyscher, Dr. insä. Rückert, F. Streit.
Wir bemerken hierzu, daß für Leipzig die Herren Harkort, Lorenz und Gustav-
Mayer einen Ausruf zu gleichem Zweck erlassen haben, und daß letzterer als Cas-
sirer des Hilfscomitös Beiträge annimmt.
Leipzig hat als das allezeit hilfreiche in den Jahren 1857—1859 an den Al
tonaer Hauptuntcrstützungsverein nicht weniger als 3438 Thaler abgesandt. Noch im¬
mer aber bleibt eine Zahl von 96 Familien zu unterstützen gegenüber einem Cas-
senbcstand von mir 8614 Thlr. 23'/- Ngr.
Diese Familien sind sehr bedürftig der Hilfe, ihre Häupter alt, gebrechlich, ar¬
beitsunfähig. Sie sind Opfer sür die. gerechteste Sache, Märtyrer für Deutschland.
Handeln wir darnach!
In den mir so eben zugegangenen Nummern 36 und 37 der „Grenz boten" vom
31. August und 7. September finde ich unter andern zwei Artikel: „Die Krisis
in den Vereinigten Staaten",.die, im Ganzen etwa 29 Seiten enthaltend, mit
Ausnahme von ungefähr sechs Seiten ein wörtlicher Auszug aus meiner im Jahre 1854
bei G. H. Wigand in Göttingen erschienenen Broschüre: „Die Sklavcnfrage in
den Vereinigten Staaten" sind. Indem ersten der beiden Artikel ist nur der
dritte Absatz S. 383. Eigenthum des Plagiarius; alles Andere ist wörtlich von
mir abgeschrieben (S. 1 — 73 meiner Broschüre); im zweiten Artikel sind blos
einige Ereignisse und Thatsachen eingeschaltet, die sich nach 1854 ereignet haben.
Es sind hier nicht nur Worte und Sätze, um die es sich handelt, nein, die ganze
Beweisführung und meine ganze damalige Ansicht sind mit meinen eignen Worten
abgedruckt, ohne daß ich selbst nur vorübergehend erwähnt bin.
Ich bin loyal genug, um einzusehn, daß einem Redacteur von gewissenlosen
Mitarbeitern derartige Streiche sehr leicht gespielt werden können, um so mehr,
wenn es sich um amerikanische Verhältnisse handelt, die ihrer Natur nach den
deutschen Politikern ziemlich fern liegen; allein ich erwarte andrer Seits von Ihrer
Loyalität, daß Sie durch sofortige Aufnahme dieses Protestes in Ihr Blatt das an
mir begangene Unrecht brandmarken und mir dadurch die in diesem Falle einzig
mögliche Satisfaction geben.
Ich bin besonders aus dem Grunde nickt gleichartig gegen dieses Verfahren,
weil ich so eben die in Ihrer Zeitschrift geplünderte Arbeit neu umgearbeitet und
zu einer „Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten" erweitert, nach
Deutschland zu schicken im Begriffe stehe und nicht Lust habe, dem deutschen Pu-
likum gegenüber als Plagiarius an den Grenzboten dazustehn.
Wir Deutsche im Auslande, die wir nur lose durch einen gelegentlichen litera¬
rischen Verkehr mit der Heimat verknüpft find, haben ohnehin schon genug mit der
Ungunst der äußern Verhältnisse zu kämpfen ; Wind und Sonne sind immer gegen
uns. Wir können also wol erwarten, daß geachtete literarische Organe, wie das
Ihrige, uns freundlich entgegenkommen; nicht aber unsere Stellung erschweren oder
uns gar um die Früchte unserer Arbeiten bringen.
Die Redaction der Grenzboten hat zu dem Obigen Folgendes hinzuzufügen- Als
uns der Artikel „die Krisis in den Vereinigten Staaten" vom Herrn Oberbürger-
me ihter a. D. v. Carnap in Düsseldorf eingesandt wurde, war uns die ge¬
nannte Broschüre des Herrn Kapp unbekannt, und wir hatten daher natürlich keine
Ahnung von dem Verhältniß jenes Aufsatzes zu derselben. In Folge der obigen
Reclamation haben wir beide verglichen und leider gefunden, daß sich die Sache in
der That so verhält, wie Herr Kapp sie darstellt. Es bleibt uns also nichts übrig,
als über das Geschehene unser Bedauern auszudrücken.
Herr v. Carnap, den wir von der Reclamation des Herrn Kapp in Kenntniß
gesetzt haben, erklärt, in seinem Manuscript könne vielleicht eine Anmerkung gestan¬
den haben i „entnommen aus dem Werke über die Sklavcnfragc von Herrn Kapp". Das
Manuscript ist noch in unsern Händen, und es findet sich durchaus keine Anmerkung
darin. Herr v. Carnap setzt in seinem Briefe hinzu, er pflege in seinen Arbeiten
stets eine solche Anmerkung zu machen. Dieser Umstand nöthigt uns' um so mehr,
anderer Redactionen wegen« die Sache zu veröffentlichen, da es ihm öfters begegnen
könnte, die Anmerkung „das Ganzeist da oder dorther abgeschrieben" bei der Rein¬
schrift zu vergessen.
Die Diplomatie, nicht die Wissenschaft, sondern die besonders vor¬
nehme Klasse von Staatsbeamten, dem Militär ebenbürtig, äußerlich eben so
durch Uniformen und Orden gekennzeichnet, deshalb auch dem strebsamen
Theile der adligen Jugend ein wünschenswerther Beruf, ist, was sie jetzt ist,
seit dem westphälischen Frieden geworden. Früher waren die ständigen
Agenten, welche die Höfe, einer bei dem andern, beglaubigten, nicht in sol¬
cher Zahl und Gliederung üblich. Hatte ein Fürst einem andern etwas zu
sagen, so schickte er einen Botschafter; zu Unterhandlungen über wichtige An¬
gelegenheiten, wie Bündnisse, Friedensschlüsse und andere Verträge, traten Be¬
vollmächtigte zusammen, und diese wurden aus der Zahl der höheren Geist¬
lichen, Militärs. Rechtsgelehrten, Finanzbeamten, je nach dein Gegenstand,
um den es sich handelte, gewählt. Erzbischöfe. Bischöfe und Prälaten boten
sich im Mittelalter schon darum als die zu diplomatischen Geschäften am be¬
sten geeigneten Persönlichkeiten dar, weil der geistliche Stand der Träger der
Bildung fast ausschließlich war. Galt es, Glanz zu entfalten, zu imponiren,
hinter der Feder das Schwert zu zeigen, dann lieferte' die hohe Aristokratie
die tauglichsten Vertreter, und ihre Zierden waren ja alle auch Krieger, Ge¬
nerale, Feldherren. Noch heut zu Tage fühlt die Diplomatie, sobald ihr außer¬
gewöhnliche Leistungen zugemuthet werden, das Bedürfniß, Kräfte, welche in
dem geistlichen oder in dem Kriegerstande sich ausgebildet haben, heranzuziehen
und in sich aufzunehmen. Jedem Leser fällt dabei, ohne daß es nöthig wäre,
besonders darauf aufmerksam zu machen, der Bischof von Antun ein, das
Muster eines modernen Diplomaten; anch die Führer der Truppen werden
häufig mit diplomatischen Functionen betraut, die Führer der Flotten sind es
regelmäßig, und nicht selten sieht man Militärs als Inhaber von Gesandt-
schaftsposten, wie z. B. sogar Marschall Pelissier eine Zeit lang am Hofe zu
London. So himmelweit auch die Bildung und der Beruf eines Geistlichen
und eines Kriegers äußerlich verschieden erscheinen, so muß doch eine innere
Wahlverwandtschaft zwischen ihnen bestehn. Die Menschen kennen eine strei-
tende Kirche, nicht allein figürlich, sondern Päpste und Propheten mit dem
Schwerte in der Hand, und Macchiavell bemerkt, daß »ur die unbewaffneten
Propheten unterliegen. Ebenso erzählt die Geschichte von Kriegern, welche
dos Schwert mit dem Rosenkranze vertauscht habe», von Ignaz von Loyola
bis auf den Erzbischof Ketteler von Mainz. Nicht allein in Religions- son¬
dern anch in Bürgerkriegen wie im Kampfe gegen Fremdherrschaft greife»
Priester und Mönche zu den Waffen; mancher Soldat dagegen hat seine blu¬
tige Laufbahn in der Stille eines Klosters abgeschlossen. Glieder beider
Stände wechseln nicht allein ihre Rollen, sondern treffen einander auch auf
dem Felde der Diplomatie und sind dort in der Regel nicht die am wenig¬
sten befähigten Männer. Außer den geistlich und militärisch geschulten Köpfen
bedient sich die Diplomatie noch andrer Kräfte, deren Leistungen nicht etwa
darum gering geachtet werden dürfen, weil ihnen keine äußere, amtliche Stel¬
lung entspricht; wir »reinen die Juden und die Damen. Die Namen der
Fürstin Lieven, der Herzogin von Dino sind bekannt, und andre ließen sich
ihnen zur Seite stellen; der Einfluß, den ein Gesandter an dem Hofe übt,
bei welchem er accreditirt ist. die Dienste, welche er dort seine»: Souverän
leistet, sind nicht immer sein eigenes Werk; die Orden, mit denen er decorirt
wird, müßten, wenn sie das wahre Verdienst belohnen sollten, zuweilen die
Brust seiner schönern Hälfte schmücken. Die feinen, zähe», rührigen Welt¬
bürger jüdischen Stammes, wenn auch nicht mehr im Glauben ihrer Vä¬
ter, haben vermöge ihrer Begabung ein besondres Geschick für manche Dienst¬
leistungen un diplomatischen Fache; sie sind häusig mehr als die vertrauten
und vermittelnden Personen, als welche sie erscheinen, oder verborgen bleiben;
ihr Rath, ihre stille Thätigkeit üben zuweilen entscheidenden Einfluß, aber sel¬
ten bringe» sie es zu einem Gesandtschaftsposten, wie jener ausgezeichnete
Vertreter einer nordischen Macht a» einem westlichen Hofe, welcher Lieferant
gewesen und in dieser Sphäre als diplomatisches Genie erkannt worden
war. —
In,der That, wenn »ran wahrnimmt, daß die geschickteste» Diplomaten
Männer waren, welche sich vorher auf einem andern Felde des Wissens und
der Thätigkeit bewegt und bewährt hatten, so liegt der Gedanke nahe, daß
ein besonderes Talent, ein hoher Grad von Anlage und ernstem Streben da¬
zu gehört, wenn ein junger Mann, der nur die diplomatische Schule durch¬
gemacht, nachdem er das Examen bestanden hat, sich in seinem Fache aus¬
zeichnet. Diese besondere Anlage, welche schließlich die Schule überwindet,
scheint unter den edeln Sprossen der romanischen und slavischen Stämme häu¬
figer zu sein als unter den biedern Deutschen; vielleicht ist dies mit ein Grund,
warum manche deutsche Gesandte französische Namen tragen. Auf der andern
Seite ist auch nicht zu verkennen, daß die Anforderungen an den deutschen
Adel, nicht allein Offiziere, sondern auch Hofleute und Diplomaten zu liefern,
— beide Klassen werben ja so ziemlich aus dem nämlichen Holze geschnitzt,
— stärker sind als in andern Ländern; das Contingent ist so zahlreich, daß
man nicht zu wählerisch sein darf. Dennoch sind die angesehenen Familien,
welche diese Posten für ihre jeweiligen Söhne brauchen, entschieden gegen jede
Verminderung derselben, und aus dem nämlichen Grunde sind die gleichartigen
Familien in den europäischen Großstaaten die entschiedensten Gegner der Ein¬
heit Deutschlands. Wie mancher angenehme Ruheposten würde ihnen entge¬
hen, wo sollten sie ihre jungen Leute hinschicken, um ihnen die ersten Hand¬
griffe beizubringen, bevor sie an die eigentlichen Geschäfte gehn, wenn die
Stelle» an den kleinen, liebenswürdigen deutschen Höfen hinwegsielcn? Ja,
es spricht gar manches gegen den deutsche» Bundesstaat mit seiner einheit¬
lichen Vertretung nach außen, was wenig beachtet wird und doch schwer ins
Gewicht sällt! Ist es doch schon schlimm genng, daß es jetzt überall Consti-
tutionen gibt und Kammer», welche nichts von den auswärtigen Angelegen¬
heiten verstehn und daher die Ausgabe» für dieselben bis zur Unerträglichkeit
beschneiden. Jede Regung, ja eine bloße Meinungsäußerung zu Gunsten einer
Bundesreform odcr einer constitutionellen Verfassung heftet deshalb einem
Diplomaten eine schwarze Note an in den Kreisen, in welchen er leben muß;
hatte er dagegen Gelegenheit, ein dem Umsturze oder an der Unschädlichma¬
chung einer Konstitution mitzuarbeiten, dann ist sein Glück gemacht, er ist
der Held der Salons.
Unter den jungen Herren, welche von der Universität unmittelbar zu einer
Gesandtschaft oder in die Bureaus der auswärtigen Angelegenheiten übergehn,
sind diejenigen in der günstigsten Lage, denen die französische Sprache von
Kindheit auf angelernt und in unausgesetztem Gebrauche erhalten worden ist.
Hat ein solcher gar das Glück in Paris geboren oder erzogen worden und
der deutschen Sprache nur. mangelhaft mächtig zu sein, dann müßten ihm alle
übrigen Eigenschaften vollständig fehlen, wenn es ihm nicht gelingen sollte,
Carnöre zu machen. Das Französische wird nicht allein im mündlichen und
schriftlichen Verkehr mit dem Auslande gebraucht, es ist auch das unentbehr¬
liche Vehikel 6e 1'g.re ac cirusvi-, der Kunst, angenehm zu sprechen, ohne etwas
zu sagen. Schon im Examen wird vorzugsweise auf den französischen Stil
gesehn, in welchem die Denkschrift des künftigen Metternich odcr Talleyrand
über irgend eine schwierige Frage geschrieben ist. Wird ihm z. B. ausgegeben,
sich über die wahren Gründe zu äußern, welche Preußen zu dem Abschlüsse
des baseler Friedens bestimmt haben, so darf er auf eine gute Note hoffen,
wenn es ihm gelingt, in zierlichem Französisch Momente hervorzuheben, an
welche noch kein Mensch gedacht hat. und kein Geschichtschreiber jemals denken
wird.
In eine Ansangsstelle bei dein Ministerium oder bei einer Gesandtschaft
eingetreten, lernt der junge Diplomat bald die beiden Hauptrichtungen kennen,
nach denen sich seine Thätigkeit zu manifestiren hat, die persönliche und die
geschäftliche, den Salon und das Cabinet. Jeder von den Alten ist ein¬
mal jung gewesen und erinnert sich, nach welcher Seite es ihn und die meisten
seiner Gefährten am mächtigsten hinzog, nachdem sie das Examen hinter sich
und die Welt vor sich hatten. Man ist gezwungen, und wie gern läßt man
sich zwingen, alle Sorgfalt auf ein möglichst vorteilhaftes äußeres Erscheinen
zu verwenden, der Aufwand für die Toilette darf von dem Vater oder dem
Vormund nicht angezweifelt werden, denn er ist av ig. xlus stricte neeessitö.
Man kömmt nach Hose, man dinirt, soupirt, tanzt, spielt, besucht den Club,
der allerdings mit dem Jakobinerclub nicht zu verwechseln ist, man thut dies
nicht etwa aus Vergnügen, es ist reines Pflichtgebot. Vor allem muß man
sich orientiren und bekannt machen; man muß die Personen und die Verhält¬
nisse des Hofes, der Ministerien, des diplomatischen Corps genau kennen lernen,
und sorgen, daß man selbst bekannt, geschätzt und ausgezeichnet wird. Wie
und wo ließe sich diese erste Aufgabe lösen, wenn nicht durch fleißige Benutzung
der eigens hierzu bestimmten Einrichtungen und Gelegenheiten? Dagegen ist
nichts einzuwenden, allein es erklärt, daß die Mehrzahl der in die praktische
Laufbahn eintretenden jungen Herren der anziehender» Seite ihrer Berufsthätig¬
keit ihre Aufmerksamkeit und Neigung vorzugsweise zuwenden. Dieser Umstand
aber wirkt bestimmend auf die Behandlung und Auffassung ein, welche sie sich
sür die eigentlichen Geschäfte aneignen. Sie lernen im Umgang, nament¬
lich mit ihren Kollegen vom diplomatischen Corps, an pikanten Anekdoten,
gewürzt mit Dichtung und mehr oder weniger seiner M6disancc, Wohlgefallen
finden, jede Artigkeit den anwesenden Gegnern, die spitzen Pfeile der mocMei'le
den abwesenden Freunden zutheilen, als Waffe, mit der allein der Sieg zu
erringen, die Intrigue handhaben. Kurz sie werden gar bald moralische, nicht
selten auch physische Non6s und als solche behandeln sie denn auch die Geschäfte.
Gilt es z. B., die Negierung zu veranlassen, ihre Stimme mit jener der eig¬
nen Regierung in einer gewissen Angelegenheit bei einer dritten Macht — wir
meinen nicht den Bundestag — zu vereinigen, und ist die Unterhandlung
mittelst einer Depesche oder Verbalnote, in einer Conferenz zwischen dem Chef
der'Legation und des Ministeriums eingeleitet, dann beginnt erst die Thätig¬
keit, welche für die allein wirksame angesehn wird, bei welcher Talent und
Geschick sich zeigen können. Ein unlängst verstorbener unter Cvngreßverhand-
lungcn ergrauter Diplomat pflegte zu sagen, daß er manche und nicht die un-
bedeutendem Erfolge seinem trefflichen Koche zu verdanken habe. Dies,will
sagen, daß die persönliche Einwirkung, welche die Menschen bei ihren schwachen
Seiten zu fassen versteht, in der Regel mehr ausrichtet als die besten Gründe
des Rechts und des öffentlichen Wohls. Wir glauben zwar nicht, daß solche
Leistungen, die zuletzt auf gute Benutzung der Hebel von Lohn und Strafe
hinauslaufen, die großen Angelegenheiten entscheiden, welche von den leiten¬
den Persönlichkeiten selbst behandelt werden. Aber es sind die Mittel der
untergeordneten, der ergänzenden, der Hilfsarbeit. Dabei handelt es sich nicht
mehr um Recht, um öffentliches Wohl, um allgemeine Interessen. Diese
Phrasen gehören in die Schriftstücke, welche aus dem Cabinet des Ministers
oder des Gesandten hervorgehn, aber zu dem Geflüster der persönlichen Unter¬
haltung sind sie nicht zu brauchen; man würde sich in der „Gesellschaft" damit
nur lächerlich machen, man würde bald als Schwachkopf erkannt und vernachläs¬
sigt sein, wenn man dergleichen Argumente gegen einen andern Menschen als gegen
einen notorischen, aber doch noch zu berücksichtigenden Schwachkopf geltend machen
wollte. Es handelt sich darum, die Anhänger anzufeuern, ihre Zahl zu verstär¬
ken, die Gegner zu gewinnen oder unschädlich zu machen, und dies ist das Feld,
auf welchem Orden, Stellen und üble Nachrede neben Küche, Keller und andern
Herrlichkeiten ihre Rolle spielen, die Aussichten aus persönliche Bordseite je nach
Umständen in die Nähe oder in die Ferne gerückt werden. Die Sache selbst
und ihre Bedeutung wird im heiligen Eifer aus dem Auge verloren; man
sieht nur noch Personen, die man zu benutzen, zu gewinnen, oder denen man
ein Bein zu stellen hat; die Nebenarbeit wird zur Hauptsache und diese
Hauptsache ist das Jntriguenspiel. Hier liegt die gefährliche Klippe für die
Ausbildung unserer jungen Diplomaten, und zugleich die Erklärung, warum
so manche von den älteren, welche nur durch diese und durch keine andere
Schule gegangen, der Behandlung der wichtigern Angelegenheiten und Aus¬
gaben, mit denen die Diplomatie betraut werden muß, nicht gewachsen sind.
Ueber dem äußern Schein geht ihnen das innere Wesen verloren; indem sie
zu ködern suchen, laufen sie Gefahr geködert zu werden; was sie bei Andern
als vorzugsweise begehrenswert!) vorauszusetzen angewiesen werden, das muß
ihnen am Ende auch für die eigene Person als das Höchste erscheinen. Wie
die genaue Kenntniß sämmtlicher auf dem Erdenrunde bestehender Orden un¬
erläßlich, so soll es Beispiele geben, daß das Dichten und Trachten Einzelner
vor Allem der Erwerb dieser oder jener Decoration ist. und ihr ganzes Ver¬
halten auf die Anwendung der geeigneten Mittel zu diesem Zwecke sich richtet.
Dieses Streben wird zur Leidenschaft, die nie vollständige Befriedigung findet.
Die Engländer wissen recht gut, warum sie mit ihren Orden haushalten.
Wenn gegenwärtig die Cabinetc so wenig geneigt sind, einen Congreß wegen
der italienischen Frage zu berufen, so darf man darin ja nicht die Hand
ihrer Agenten erblicken. Wer von diesen auch nur eine entfernte Aussicht
hat, in irgend welcher Weise zu einem Congresse entsendet oder mitgenommen
zu werden, der wird alles thun, um diese Himmelspforte offen zu halten,
damit er durch sie eingehen Sonne. Gleichgültig, was dabei vor- oder heraus¬
komme, das Dabeigewesenscin kann nur nützen, niemals schaden. Wie in
so vielen Zweigen des öffentlichen Lebens und Dienstes, so ist in den letzten
vierzig Jahren auch in der Diplomatie, namentlich in Deutschland, d. h. in
den deutschen Staaten, manches faul geworden, und die schlimmen Folgen
werden erst zu Tage treten,-wenn die vorbeugende, beschränkende, ordnende
Thätigkeit der Diplomatie sich wieder an großen, in das Völkerleben und die
Staatenbildung tief eingreifenden Vorwürfen zu üben haben wird. Diese
Phase beginnt einzutreten, ist aber noch nicht zu ihrer vollen Entwicklung
gelangt; es ist hohe Zeit, daß die Diplomatie sich regenerire. Dazu gehört
aber vor Allem, daß neben dem Salon das Cabinet wieder zu Ehren ge¬
bracht wird in der Anschauung der Angehörigen des Faches.
Sieht man ab von einigen Spitzen der Diplomatie der Großmächte,
welche bei Welt- und staatsmännischer wie streng wissenschaftlicher Bildung
durch alle Verlockungen auf ihrer Lebensbahn sittlichen Ernst und patriotische
Gesinnung bewahrt haben, so findet man unter dem seit einem Menschenalter
herangezogenen Nachwuchs nur eine Minderzahl solchen Vorbildern nach¬
strebend. Diese Wenigen tragen die Last der Geschäfte und sind nicht die
Lieblinge der Gunst. Ihnen fehlen die Connexionen, ihre Arbeitskraft wird
daher benutzt, aber sie arbeiten Andere, nicht sich selbst, empor. Sie eignen
sich in der Regel nicht zum Repräsentiren und Jntriguiren, häusig fehlen ihnen
auch eigne Mittel oder es fehlt ihnen eine gewisse Virtuosität im Schulden¬
machen, und sie müssen schon deshalb auf Stellungen verzichten, die einen
die Bezüge überschreitenden Aufwand erfordern. Grade diesen Personen ober
sollten die Minister und die Chefs der Gesandtschaften ihre Aufmerksamkeit
zuwenden, weil unter ihnen die tüchtigsten und bildungsfähigsten Kräfte vor¬
handen sind, weil man ihnen die wichtigsten Arbeiten übertragen muß, ihr
Charakter nicht selten auf schwere Proben gestellt wird, und weil eine größere
Zahl begabter, junger Männer von der Frivolität ab, dem Studium und
der strengen Arbeit zugeführt werden, wenn nicht die Erstere gehätschelt, die
Letzteren als Stiefkinder behandelt werden. Wir sind darauf gefaßt, daß ein
richtig geschulter junger Salon-Diplomat, falls ein eigener Zufall ihm diese
Zeilen vor die Augen bringen sollte, ausrufen wird: „Wer Teufel Hai das
Ding soufflirt; gewiß der Legationssekretär X., das . . Packroß!"
Sehr weit verbreitet, aber sehr irrig ist die Meinung, es sei die Di¬
plomatie, welche die Politik mache. Es sollte dieser bedeutenden Klasse
von Staatsdienern selbst daran gelegen sein, daß diesem Irrthum begegnet
werde, denn er bringt ihr mehr Verdruß als Annehmlichkeit. Wenn wir
nicht fürchten müßten, in den vornehme» Cirkeln anzustoßen, so möchten wir
den Antheil der Diplomatie an der Politik mit der Rolle des Reisenden
im gewöhnlichen Handel vergleichen. Der Reisende macht nicht das Tuch,
er macht in Tuch. Seine Geschicklichkeit ist schätzbar und von nicht geringem
Einfluß auf den Absatz der Waare; sie bethätigt sich auch nicht allein da¬
durch, daß er die Waare an den Mann bringt, sondern ebensowohl darin,
daß er den Geschmack und die Wünsche der Abnehmer kennen lernt und nütz¬
liche Winke für die Fabrikation seinem Hause berichtet. Alle seine Geschick-
lichkeit aber wird wenig fruchten, wenn die Waare schlecht oder der Preis zu
hoch ist. Man kann übrigens leichter behaupten, daß die Diplomatie nicht
die, sondern in Politik mache, daß mithin die Vorwürfe, als verderbe sie,
was in ihre Hände kommt, besonders aber, was das Schwert gut gemacht
habe, gröstentheils unverdient sind, — man kann diese Behauptung leichter
begründen, als nachweisen, wer denn eigentlich die Politik mache. Die In¬
teressen der Staaten, wie sie sich ausprägen in dem Willen ihrer Oberhäupter,
in den Räthen ihrer Kronen, beeinflußt durch eine bestimmt auftretende
öffentliche Meinung, durch die Ereignisse, das Alles sind Kräfte von ungleicher
Stärke und Richtung, die am Ende, den Naturgesetzen folgend, ihre Diago¬
nale finden müssen, aber nicht ohne geistige'und physische Erschütterung. Je
ausgedehnter, vielfältiger und häufiger die internationalen Beziehungen sich
gestalten, desto schwieriger wird der Ueber- und Vorauöblick, welcher ihre Be¬
handlung beherrschen und leiten soll. Haben es doch selbst die Häupter
»nichtiger Staaten, umgeben von ihren Ministern und herbeigerufenen Ge¬
sandten unlängst in Warschau aufgegeben, über ihr Verhalten bei Eventua-
litäten der nächsten Zukunft eine Abrede zu treffen. Vorbereitet sein und
abwarten, das war schließlich die Losung.
Die Umgestaltung einer jeden Art von Verkehr durch die Schiene und
den Draht, verbunden mit der Vermehrung der Angelegenheiten, welche über¬
haupt die Regierungen in den Kreis ihrer Geschäfte gezogen haben, sind für
das in ruhigen Zeiten angenehme und behagliche Leben der Diplomatie sehr
störend gewesen. Sonst saß der Attache oder Sekretair in den Stunden, die
er nicht umhin konnte, der angenehmem Seite seiner Obliegenheiten zu ent¬
ziehen, ruhig an seinem Kanzleitische, ein Nanuöl, einen Suiäs, ein Kseuml
und den unentbehrlichen ^1eng,ng.e as (Zottig, auf dem Pulte, in dem halb¬
geöffneten Schubfache einen wunderschönen Roman, bei dessen Lectüre er nur
selten durch das Erscheine» des Chefs oder durch das currente Geschäft gestört
wurde. Jetzt bleiben ihm nicht einmal mehr diese Mußestunden zur verbor¬
genen Bildung des Geistes und des Herzens. Die Eismbah» bringt so viele
Angehörigen des Staates, an dessen Vertretung er mitzuarbeiten hat, die
Leute stellen sich vor, die Gesandtschaft sei um ihretwillen da, Jeder hat
ein oder mehrere Anliegen, wobei er die Mithülfe „seines" Gesandten an¬
spricht. Manche haben einen Rang oder eine Stellung, welche zu besonders
aufmerksamer und artiger Behandlung nöthigen, obgleich sie niemals einen
Gegendienst leisten werden, kurz . . man wird überlaufen. Sonst zeigte
die Liste der höheren Geschäfte fast ein fürstliches und hochadliges
Seitenstück zu den bürgerlichen Standesbüchern; es waren meist No-
tisicationen von Geburten, Hochzeiten und Sterbefällen, die man empfing
und weither beförderte. Jetzt gibt es fast keinen Zweig des Staatslebens,
worüber nicht berichtet und verhandelt werden soll: Schulwesen, Besteuerung,
Post, Gewerbcgeselze, über Alles soll die unglückliche Gesandtschaft berichten;
wegen Telegraphenlinien und der Richtung von Eisenbahnen soll sie unter¬
handeln. Sind größere Dinge im Werke, so eilt den Depeschen eine Unzahl
von chiffnrten Telegrammen voraus, welche nicht fehlerfrei und deshalb un¬
endlich schwer zu entziffern sind, dessen ungeachtet aber noch am nämlichen
Tage beantwortet werden sollen. Ohne weitere Ausführung wird Jedermann
zugeben, daß unter die Menschenklassen, welche gegenwärtig, um vorwärts zu
kommen und nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu sein, mehr lernen und
arbeiten müssen, als früher, auch das Personal der Gesandtschaften gehört.
Daraus folgt, daß man bei der Auswahl desselben mehr als früher auf Geist,
Fähigkeit und Kenntnisse sehn, und weniger als früher in Bezug auf Geburt
und Familicnverbindungen exclusiv sein sollte. Die Zeitungsleser werden ge¬
genwärtig fast täglich mit Depeschen und Noten aus allen europäischen Cabi-
netcn gespeist; daneben lesen sie Leitartikel über die nämlichen Gegenstände.
Ist dabei nicht schon Manche»! der Gedanke gekommen, wie der Minister wohl
daran thun würde, den Verfasser seiner Noten — vorausgesetzt, daß er selbst
nicht der Verfasser ist — gegen den Verfasser der Leitartikel auszutauschen?
Ist aber das Personal der Gesandtschaften, vom Wirbel bis zur Zehe,
noch so gut bestellt, so kann es dem entsprechend, doch nur unter der Voraus¬
setzung functioniren, wenn der Chef weiß, was er thun soll. Die Instruc-
tion der Agenten ist Sache des Ministers, und es ist wesentlich, ja es ist eine
Lebensfrage für den ganzen Werth der Vertretung des Regenten bei den aus¬
wärtigen Höfen und Cabincten, daß ihre Mitglieder stets genau von Hen Ab¬
sichten des eignen Cabinets unterrichtet, und mit bestimmten Weisungen über
ihr Verhalten bei den grade vorliegenden Fragen versehen sind. Um ihren
Agenten sagen zu können, wie sie sprechen und handeln sollen, muß eine Re¬
gierung allerdings erst selbst wissen, was sie will, sie muß eine feste, er¬
kennbare und verständliche Politik haben. Fehlt es hier, dann wäre
selbst für einen großen Staat die kleinstaatliche Praxis zu empfehlen, so we¬
nig als möglich auf seine Vertretung nach außen zu verwenden, und zwar
nicht allein aus finanziellen, sondern auch aus Gründen des Anstandes. Man
darf seine Repräsentanten im Auslande nicht in die Lage setzen, durch unbe¬
greifliche Antworten auf höchst einfache Fragen sich — und nicht sich allein
zu blamiren. In einem Staate, der groß ist oder sein will, bilden sich aus
dem Geiste seiner Institutionen, aus dem Nationalgefülile, aus traditionellen
Auffassungen der Bedingungen Sumer Machtstellung gewisse Principien heraus,
die zwar veränderten Verhältnissen in der Anwendung Rechnung tragen, mit
denen aber nicht zu transigiren ist. Einen solchen politischen Katechismus
trägt jeder Gebildete, geschweige denn jeder Diplomat, in seiner Brust, und
er kann hiernach jede darauf bezügliche Frage ohne Instruction beantworten.
Würde z. B. in einem Wiener Salon ein Mitglied der britischen Legation
gefragt worden sein, ob die Nachricht richtig sei, daß England sein intimes
Verhältniß zu Frankreich benutzt habe, um sich zur Bekämpfung eines Auf-
standes in Indien ein französisches Hilfscorps zu erbitten, so würde der Brite,
ohne vorerst in London anzufragen, sofort erwidern können: „nein, die Nach¬
richt ist falsch, denn was sie enthält, ist unmöglich". Eben so würde ein Fran¬
zose auf die Frage geantwortet haben, ob Frankreich seinen Schützling Me-
hemed Ali im Stiche lassen und einem von andern Mächten ohne seine
Mitwirkung zu dessen Ungunsten getroffenen Arrangement sich fügen würde?
Der Franzose würde Unrecht behalten haben, aber die Politik, welche ihn
Lügen strafte, war der erste Schritt zum Sturze Louis Philipps. Ein solches
politisches Credo, welches unter allen Umständen maßgebend ist, leistet der
Diplomatie treffliche Dienste, aber es ist in manchen Staaten nicht zu finden,
oder doch nur in schwachen, undeutlichen Spuren. — Dann dient zuweilen
als Ersatz ein Programm, welches der Kastengeist aufgestellt und angenommen
hat, falls die leitenden Persönlichkeiten lind ihre Organe im auswärtigen
Amte aus einer Kaste oder einer geschlossenen Partei genommen werden. Je¬
der von ihnen kennt genau die in den höchsten Kreisen wie unter den
Ministern und andern einflußreichen Personen herrschende Auffassung der po¬
litischen Verhältnisse und die Richtung des ihre Behandlung leitenden Wil¬
lens. Jeder theilt selbst diese Auffassung und Willensrichtung, und wenn
dann auch die Politik den wirtlichen nationalen Interessen nicht entsprechen
sollte, so ist es doch eine Politik und die Diplomatie ist ihr brauchbares Werk¬
zeug. Der Zweig des öffentlichen Dienstes, welcher die Beziehungen zu den
auswärtige» Staaten regelt, bedarf mehr als jeder andre Zweig des Civil¬
dienstes der strengen Unterordnung der Glieder unter das Haupt, der Ueber¬
einstimmung in allen Aeußerungen ihrer Thätigkeit. Ergeben sich Unzuträglick-
keiten unter den Organen der innern Verwaltung, so werden sie bemerkt, von
dem Publikum überwacht, und man kann die schmutzige Wäsche in der Fami¬
lie waschen. Spaltungen unter den Organen des auswärtigen Dienstes un¬
tergraben das Ansehen der Negierung bei allen Cabineten, schwächen sie an
den empfindlichsten Stellen, und können in kritischen Momenten ihre Existenz
in Frage stellen. Es ist daher auch eine allgemeine Norm, ohne Unterschied
der Staatsforme» und der Parteifärbuug. daß mit dem Minister der auswär¬
tigen Angelegenheiten auch die Chefs der Missionen wechseln, vorausgesetzt,
daß es sich nicht blos um eine Personen-Aenderung, sondern um eine Modi¬
fikation des politischen Systems oder der bisherigen Richtung handelt. Die
Bureauchcfs und ihre Untergebenen sind in der Regel keine Parteimcnschen,
sondern Geschäftsleute, welche die Arbeiten, die ihnen aufgetragen werden,
nach bestem Vermögen erledigen. Sie bescheiden sich mit dem Bewußtsein,
daß sie die Politik nicht zu machen, ihre Richtung nicht zu bestimmen, sondern
in dieser Branche ihre Schuldigkeit zu thun haben, und daß sie damit ihrem
Fürsten und ihrem Vaterlande am besten dienen. Angenommen, ein neuer
Minister des Auswärtigen habe die Ausgabe, von dem System seines Vor¬
gängers ungefähr das gerade Gegentheil zu befolge». Er findet aber bei sei¬
nem Ministerium wie bei den Missionen von oben bis unten nicht nur die
ergebenen Diener seines Vorgängers, sondern die eifrigen Anhänger nett Ge¬
nossen der geschlossenen Partei, welcher die Dienste des letztern gewidmet
waren. Diese nämlichen Organe der Vertretung unsers Staates finden an
dem Orte, wo sie wirken sollen, ihre Gesinnungsgenossen auch in den Ministe¬
rien und unter denjenigen Mitgliedern des diplomatischen Corps, welche die
entschiedenen Gegner der von unserm Ministerium zu iunugurirendcn neue»
Politik si»d. Was wird nun geschehen? Werde» »icht die Organe unsers
Ministeriums im Verkehr mit den: andern die eingetretene Wendung beklagen,
sie als eine vorübergehende darstellen, auf eine baldige Wiederkehr des früher»
Systems hindeuten, der Politik der Gegner dienen und die ihres Ministers
untergraben? Als 1805 Oestreich den Bruch mit Napoleon vorbereitete, da
klagte Gentz, daß nicht auch die entsprechenden Aenderungen in den Personen
vorgenommen, daß die Träger der schleckten Politik an ihren Stellen gelassen
würden, <zue risn n'sse altfr^, in et^us 1s oadinst, ni ä^us Iss Conseils,
»i äans los bureaux. Er geht so weit, ans diesem Umstand auf ge¬
heime Einverständnisse mit Napoleon hinter dem Rücken der Verbündeten (Russen)
und selbst der höchsten Staatsbeamte» zu schließen. . . it ost trss xossidls
sjUL Lonavs-res convaisss inisux 1os äisxositions intimes as es gouvsrns-
mvut que tous les uimistrss as 1a Russio se guf 1a Mpart moins ass
vriimixa-ux ohl'sonnagss (Is I'g.clministrg,lion. Es ist zwar kaum denkbar, daß
eine solche Unbotmäßigkeit. vor welcher die Anarchie noch den Vorzug hat.
daß sie nicht lange andauern kann, je irgendwo wieder vorkommen, daß sie
nicht im. Keim, in ihren ersten Regungen erstickt werden würde. Aber gewiß
wäre dies auch nothwendig, und es würde der bestimmtesten Jnstructionen
und ernsten Einschreitens bedürfen; schwächliche halbe Maßregeln würden nicht
genügen, um solchem Unfuge ein Ziel zu setzen. Eine besorg anisirte Di¬
plomatie- kann nicht anders als sehr schädlich sein, und müßte daher um
jeden Preis in Ordnung gebracht werden, grade wie eine desorganifirte Ar¬
mee; die eine wie die andre soll das Vaterland gegen auswärtige Feinde
vertheidigen, oder, was zuweilen noch schlimmer oder noch schwieriger ist,
Zwischen den altheidnischen Todtenopfern, welche dem Andenken der Ver¬
storbenen dargebracht wurden, und dem christlichen Allerseelentage läßt sich ein
Zusammenhang und Uebergang kaum verkennen und es dürfte die Behaup¬
tung nicht unstatthaft erscheinen, daß das Allerseelenfest, wie auch andere
christliche Feste und kirchliche Institutionen, zunächst aus heidnischen Gebräu¬
chen und Anschauungen hervorgegangen ist, gleichsam als eine verständige
Concession der christlichen Kirche an das alte, zähe Heidenthum.
Wem der hartnäckige Kampf zwischen der christlichen Kirche und dem
germanischen Heidenthum nicht- unbekannt ist, — der wird natürlich finden,
daß auch in dem Todtencultus, welcher dem Heidenthum ebenfalls ein Be¬
dürfniß des menschlichen Herzens war, die alte Gewohnheit noch lange le¬
bendig blieb und daß sich die zum Christenthum bekehrten Völker nicht so¬
fort trennen konnten von dem Glauben und den Gebräuchen, unter denen
ihre Väter und Urväter selige Ruhe gefunden hatten. Noch heute sind unter
dem Volke bei den Begräbnissen und der Sorge für die Verstorbenen uralte
Sitten und uralter Glaube lebendig, welche ohne Zusammenhang mit kirch¬
lichen Einrichtungen und christlichen Anschauungen ihre Wurzel nur in der
heidnischen Vorzeit haben.
Der Todtencultus unserer ältesten Vorfahren, der heidnischen Germanen,
forderte neben andern Pflichten auch Opfer und Mahlzeiten an den Gräbern
der Verstorbenen und es beruhte die Nothwendigkeit dieser Opfer auf dem
Glauben an die persönliche Fortdauer der abgeschiednen Seelen, welche beim
Tode den Körper verlassend als Lufthauch zur Höhe emporstiegen. Fast in
jeder hervorragenden Aeußerung schädlicher oder segensreicher Naturkräfte
wurde das Wirken der geisterhaften Gewalten wahrgenommen, in den Phä-
nommer des Himmels, im Sonnenschein und Sternenlicht, in Wind, Regen
und Gewitter, wie überhaupt in allem Leben und Wachsthum der Natur.
Als solche Naturkräfte und Elementargeister heißen sie Elbe, gehen aber auch
in gutmüthige Hausgeister und Kobolde über, welche den Menschen bei ih¬
rer Arbeit behilflich sind, noch öfter aber lasst sich ihr Uebergang in Quäl¬
geister und Gespenster nachweisen.
Diese Anschauungen und Glaubenssätze hier näher zu erörtern würde zu
weit führen; nur das sei noch bemerkt, daß der Volksglaube seit den ältesten
Zeiten eben diesen zwischen Himmel und Erde schwebenden und webenden
Seelen zuweilen auch die Rückkehr zur Stätte ihrer alten Heimath gestattete.
.Julnacht und Neujahrsabcnd gelten unter dem Volke in Skandinavien
noch heute als die Fahrtage der Alsen. In jedem Winkel des Hauses brennt
dann ein Licht, das Haus ist gekehrt und gereinigt und alle Thüren stehen
offen für die etwa cinkchrenoen Alsen. Die Speise wird nicht vom Tisch
genommen, jondern bleibt die ganze Nacht stehen, auch ein Krug mit Bier
wird hingestellt. Auch die Esthen glauben, daß um Weihnachten die Unter¬
irdischen aus der Erde wandern und selbst in menschlicher Gestalt sichtbar
werden. Daher deckt man am Weihnachtsabende die Brunnen vorsichtig zu.
damit kein Unterirdischer hineinfalle und nimmt in der Neujahrs- und Weih¬
nachtsnacht jeden Unbekannten gastlich auf. Der Tisch ist mit Speisen ver¬
sehn und die Hausfrau verschließt ihre Speisekammer nicht, damit ein solcher
Gast keinen Hunger leide, wenn er etwa spät, sichtbar oder unsichtbar eintreffe.
In der Normandie wird ebenfalls am ö». December oder 1. Januar der
Tisch für die Feen gedeckt, und bei den Walachen ladet man am Namens¬
tage des Hansheiligen die verstorbenen Ahnen zu Gast und läßt ihnen bei
Tische Plätze leer. Gradeso stellte man in der Perchtnacht der Perchta und
den Schrätlem Speise hin, und für die Bergmännlein wurde ein Tischchen ge¬
deckt, Milch und Honig darauf gesetzt und in diese Speise das Blut einer
schwarzen Henne getropft. Zu diesem Male wurden nenn Messer aufgelegt.
Im Odcnwcüde kochen viele Leute Tags vor Fastnachtsonntag „für die lieben
Engelein" das Beste und Leckerste, was sie im Hause haben, setzen es Abends
auf einen Tisch, öffnen den Engeln die Fenster und legen sich dann schlafen.
In diesen Mahlzeiten lassen sich Ueberreste heidnischer Opfer für die Ma¬
nen nicht verkennen, und mit diesem Verfahren stimmen auch die Volksge-
bräuche, denen wir hier und da am Seelentage begegnen, vollkommen über¬
ein. So ?se es im Innthale und vielen andern Gegenden Tirols üblich, an
diesem Tage Lampen zum Troste der armen Seelen anzuzünden und dieselben
die Nacht hindurch brennen zu lassen. Die armen Seelen sollen kommen und
mit dem heilsamen Lampenöle ihre Brandmale bestreichen. Sobald es näm¬
lich am Allerseelentage zu läuten anfängt, dürfen diese das Fegefeuer verlas-
sen und auf der Erde umgehen, ein Glaube, den als heidnische Superstition
schon Hermann von Fritzlar in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in
seinen Predigten bekämpfte. Derselbe heidnische Glaube birgt sich auch in
der ebenfalls in Tirol bestehenden Meinung, daß in der Allerseelennacht die
armen Seelen um die Mitternachtsstunde zum Opfer gehen. Wenn Jemand
den Muth hat sich um diese Zeit an dem Altar so niederzulegen, daß jede
hinschreitende Seele mit dem einen Fuße auf ihn treten muß und er in¬
zwischen keinen Laut von sich igibt, so muß ihm der letzte Geist eine Nebel¬
kappe geben. Mit dieser kann er sich unsichtbar machen, wo und wann er
will. Ebendort ist es am Allerseelentage und am Sylvestertage geboten keine
Kröten zu todten, weil arme Seelen darin verborgen sind. Man heizt ferner
in der Allerseelennacht die Stuben, damit die Seelen, welche sonst die kalte
Pein leiden, sich wärmen können, und stellt eine Bank um den Ofen mit
Asche bestreut, um am andern Morgen die Spuren der Todten M sehen,
die sich gewärmt haben. Auch werden am Tage alle Gräber mit Herbstblu¬
men bekränzt und ein dreimaliger Umzug mit brennenden Kerzen gehalten.
Den in Tirol wahrgenommenen Sitten stellt sich der schwäbische Bote's-
brauch zur Seite. Es bekränzen an diesem Tage die Frauen die Gräber ihrer
Verwandten; der Pfarrer besprengt dieselben mit Weihwasser und die Frauen
stellen während des Gottesdienstes ein brennendes Wachslicht darauf. Dies
Nervrennen des Wachses wird als eine Art von Opfer, das dem Todten zu
Gute kommt, angesehn. In Schwaben, Tirol und in Baiern im Lechrain
bäckt man zum Nachtmahl ein eigenthümliches Backwerk, Seelen oder Seel¬
zöpfe, auch Seelstücke genannt. Der Seelenzopf du Lechrain ist ein Gebäck
aus Semmelteig, in Form eines Zopfes geflochten und von allen Größen.
Es gibt Zöpfe, welche bis drei Schuh lang sind. In Schwaben haben die
„Seelen" eine länglichrunde Form und an den Enden zwei kleine Zipfel. Die
Ueberreste von diesem Backwerk ließ man in Tirol noch vor wenigen Jahren
die Nacht hindurch für die armen Seelen auf dem Tische stehen, damit diese
des Nachts kommen und sich laben könnten. Im Lechrain werden auch auf
den Altären der Kirche den Verstorbenen Teller mit Mußmehl, Hafer und Korn
hingestellt und auf den Seitenaltären jene Seelenzöpfe geopfert. Der Auftrag
des Mehles und die Seelenzöpse gehören dem Meßner, und die letztern wer¬
den auch den Taus- uiid Firmpathen als Geschenk an diesem Tage gegeben.
Auf dem berühmten Berge an der Wurmlinger Kapelle bei Tübingen wurden,
als die Todten nicht mehr kamen, die Siechen stellvertretend an diesem Tage
mit Speise und Trank erquickt. Man zog von Tubingen und Rottenburg zu
Pferde auf den Berg, hörte in der Kapelle am Grabe des Stifters, eines
Grafen von Calw, die Messe und hielt dann ein großes Essen mit dreierlei
Brod und dreierlei Wein, wobei drei Schweinsköpfe nicht fehlen durften, für
die Herrn, für die Diener und für die Siechen.
Diese Seelcnspeisung lebt als Brauch und Glaube auch bei andern Völ¬
kern außerhalb Deutschland. So wird bei den Esthen an demselben Tage
Abends in geheizter Bndestube ein Gastmahl angerichtet. Der Hausherr ruft
die Verstorbenen, seine Eltern, Kinder und Verwandten bei ihren Namen und
ladet sie förmlich zum Essen ein. Haben sie nach seiner Meinung genug ge¬
gessen, so befiehlt er ihnen sich wieder an ihren Ort zu begeben. Bei den
alten Litthauern hieß das jährliche Todtenmcchl „die Todtengabe". Dabei
glaubte man an die persönliche Anwesenheit der Seelen. Man warf ihnen
stillschweigend kleine Stücke Nahrung unter den Tisch, meinte auch sie rauschen
zu hören und sich vom Duft und Dampf der Speisen nähren zu sehn. Nach der
Mahlzeit werden sie mit folgenden Worten entlassen: „Vergebet, Seelen der
Verstorbenen, erhaltet uns Lebenden den Segen und gehet Ruhe diesem Hause!
Gehet, wohin euch das Geschick ruft, aber richtet über unsre Schwellen, Haus¬
fluren. Wiesen und Felder fliegend keinen Schaden an." Auch in Frankreich
geschieht ähnliches.
In Perigord wird am Allcrscelcnabende ein Familienmahl gehalten. Man
ißt und trinkt auf das Wohl der gestorbenen Verwandten und Vorältern und
läßt von jedem Gerichte einen Nest die Nacht über auf dem Tische stehen.
In der Dauphins werden den ausziehenden Todten Speisen hingesetzt, um sie
zur Weiterreise zu stärken.
Ein Ueberblick über diese Volksgebräuche läßt in denselben altheidnische
Erinnerungen nicht verkennen, und zwar Erinnerungen an jene Todtenopfer,
welche noch im achten Jahrhundert in kirchlichen und weltlichen Verboten alö
Ueberreste des Heidenthums bekämpft und verfolgt wurden. Allein mit Ver¬
boten richtete die Kirche gegen das Heidenthum nur wenig aus. Der alte
lieh gewordene Brauch und Glaube hatte im Volksglauben zu tiefe Wurzeln
geschlagen, als daß er durch Concilicnbeschlüsse unterdrückt und beseitigt werden
konnte; ja es ist anzunehmen und in einzelnen Fällen nachzuweisen, daß er
um so hartnäckiger widerstand, je nachdrucksvoller, schroffer und feindseliger
man ihm begegnete. Man schlug daher noch einen andern Weg ein, der siche¬
rer, wenn auch langsamer zum Ziele zu führen versprach, und trat mit Scho¬
nung, Nachsicht und Milde dem heidnischen Leben entgegen, indem man die
alten Sitten und Bräuche, den Ritus des Heidenthums, in seiner äußern Form
möglichst bestehn ließ und wenig antastete, dagegen ihren Sinn und Zweck
christlich zu wenden und mit den Lehren der Kirche in Einklang zu bringen
suchte. Wie die alten Götter mit der Zeit in Heilige übergingen und ihre
Functionen in deren Thaten, so traten auch die alten Jnhresfeste, volksthüm-
lichen Gebräuche und heidnischen Ideen nach und nach in eine Beziehung zu
den christlichen Festen, Lehren und Glaubenssätzen, ja viele derselben wuchsen
aus einem rein heidnischen Grund und Boden hervor. Zwischen Christenthum
und Heidenthum gewahrt man daher bald nach der Bekehrung einen wechsel¬
seitigen Einfluß. Die Kirche ging darauf aus, das heidnische Leben durch
Christianisirung in Abgang und Vergessenheit zu bringen, dieses dagegen suchte
sich wiederum unter christlichen Formen zu bergen und gleichsam mitten im
feindlichen Heer die geflüchtete Habe zu sichern.
Einer solchen Wechselwirkung verdankt sicher auch der Allerseelentag mit
den daran haftenden Gebräuchen und Aberglauben sein Dasein und Bestes».
Bekanntlich kam er erst am Ende des zehnten Jahrhunderts durch den Abt
Odilo von Clugny in die lateinische Kirche. Die Veranlassung zu seiner
Stiftung wird freilich von den alten Kirchenhistorikern anders und verschie¬
dentlich erzählt, doch blickt auch durch ihre Erzählungen noch der Heidnische
Ursprung hindurch.
Es ist mehr als wahrscheinlich, daß beim Beginn und Eintritt des Win¬
ters, wo der liebe Sommer Abschied genommen hat und die Blätter fallen,
die Vögel weggezogen sind und alle Vegetation erstorben ist, die alten Heiden
dem erstorbenen Sommer gleichsam ein Abschiedsfest gefeiert und dabei auch
ihrer Todten gedacht haben, denen an diesem Jahresfeste eine Rückkehr aus der
Unterwelt zur Stätte ihrer alten Heimat gegönnt war. Denn nur auf einer
solchen Vorstellung beruht der uralte und sicher vorchristliche Brauch, den um¬
ziehenden Seelen den Tisch zu decken und eine Mahlzeit hinzustellen. Dazu
kommt, daß von dieser Anschauung auch sonst noch Spuren im Volksglauben
zurückgeblieben sind. So ist im Lechrain die Nacht von Allerheiligen aus Aller¬
seelen gar sehr verschrie» und gefürchtet; in ihr zeigt sich allerlei Art von Weiz
und Spuk sonderlich gerne. „Ueberhaupt kommt jetzt tue Zeit, da die Geister
offen walten und schalten, das wilde Gejag, die Holzwciblein, die Hvjemänn-
lein, die verwünschten und wcizenden Seelen, sie alle haben nun bis Dreikönig
eine sonderbare Erlaubniß zu Weizen und zu spuken nach Herzenslust." Solcher
Glaube läßt sich auch außer dem Lechrain noch vielfach unter dem Volke auf¬
finden.
Doch wir wollen demselben nicht weiter nachgehn, da aus den bereits
angeführten, am AUerseelentage üblichen Volksgebräuchen genügend erhellt, daß
sowol dieser Tag als sicher auch der vorhergehende, das Fest Allerheiligen, in
die christliche Kirche eingeführt und eingebracht worden sind, um heidnischen
Festen einen christlichen Anstrich zu geben, an welche aber dennoch — dies
vermochte weder die kirchliche noch die weltliche Macht zu verhindern — alte
Bräuche und Gewohnheiten aus der heidnischen Vorzeit gleich Krystallen an¬
schössen und daran haften blieben.
Dem Allerseelentage in der römisch-katholischen Kirche entspricht bei den
Russen der.zweite Montag nach Ostern, der „Erinnerungsmontag" genannt,
weil er dem Andenken an die Verstorbenen gewidmet ist. Nach einer uns vor¬
liegenden Beschreibung sieht man schon am frühen Morgen die Leute zu Fuß
und zu Wagen und mit Tüchern bepackt, in denen sie Speisen tragen, hinaus
aus die Friedhöfe ziehn, um dort in den Kapellen einem Gottesdienste beizu-
wohnen und zum Andenken an die Heimgcschieduen auf deren Gräbern eine
Mahlzeit zu halten. Die Speisen tragen sie zuerst in die Kirchen und setzen
sie dort auf eine große, in der Mitte der Kirche errichtete Tafel. Gewöhnlich
haben sie auf einen Teller el» großes, hohes, rundes Brod gelegt und herum
rothe Ostereier, Salz, Kringel, Apfelsinen, Citronen und Honigkuchen. In
dem runden Brode steckt ein brennendes Licht und auf jedem Brode liegt el»
kleines Büchelchen „des Andenkens", auf dessen erster Seite stets geschrieben
steht: „dieses Buch ist geschrieben zum Andenken um N. N." Die Priester
halten nun zunächst die gewöhnliche Messe ab, alsdann treten sie zu den mit
Speise beladenen Tischen und singen dort unter beständigen Nüuchcrungen
Gebere für die Gestorbenen. Sie blättern dabei in jenen kleinen Büchern herum
und flechten die Namen, die sie darin finden, in ihre Gebete ein. Wenn dies
allgemeine Gebet für die Todten beendigt ist, zerstreuen sich die Leute auf dem
Kirchhofe und ein jeder sucht die Gräber der Seinigen auf, um dort seinen
Schmerz um die Hingeschiedenen auszuweinen. Inzwischen haben sich die
Priester mit brennenden Kerzen und Crucifixen auf dem Kirchhofe eingefunden
und halten nun bei jedem Grabe auf Verlangen noch einen besondern Gottes¬
dienst, wobei ihnen jene kleinen Gedächlnißbüchcr dargereicht werde». Den
Priestern folge» Schaaren von Bettlern und Krüppeln und bitten um eine e߬
bare Gabe. Viele willfahren ihre» Bitten, die »leisten aber holen ein Tuch,
eine Serviette hervor, bedecke» .damit den Grabhügel und setzen ihre mit¬
gebrachten Speisen und Flaschen darauf, lagern sich um den Grabhügel und
beginnen zu schmausen und zu trinken. Die Priester bekommen auch ihren An¬
theil und nehmen bei jedem Grabe einen Imbiß. Erst bei einbrechender Nacht
findet diese Schmauserei, von der man nicht selten angetrunken nach Hause geht.
Im hohen Grade interessant sind die ausführlichen Mittheilungen der
„Vavaria" über die Gebräuche, welche sich unter dem altbayerischen Land¬
volk an Verheirathungen. Taufen und Todesfälle knüpfen. Wie überall un¬
ter Bauern sind die Heirathen auch hier in der Regel nicht Herzens- sondern
Geschäftssache, und zwar eine solche, die wie ein Proceß oder, wenn man
will, wie ein Drama, verschiedene vom Herkommen genau vorgeschriebene
Stadien zu durchlaufen hat. Der Ehekandidat wendet sich an einen „Heiraths-
macher". etwa mit den einfachen Worten: „Dreitausend Gulden brauch' ich
— weiht Du mir Keine?" Hat der Gefragte eine Person wie gewünscht auf¬
gefunden, so erscheint er eines Tages mit dem Vater derselben im Hause des
Suchenden, um „die B'schau" zu halten, d. h. sich durch gründliche Besichtig¬
ung von Haus, Scheune und Stall ein Urtheil über die Vermögensumstände
des Bewerbers zu bilden. Ist man damit zufrieden, so beginnen unter
Beistand von Verwandten die Verhandlungen über die Geld- und Ausstattungs-
frage. Ist auch diese erledigt, so geht der Freier zum „Richtigmachen" in
das Haus seiner Zukünftigen und zahlt ihr ein Drangcld, welches „Arrha"
heißt und in einigen Thalern besteht, wogegen das Mädchen ihm einen Eier¬
kuchen, den sogenannten „Jaschmarren" vorsetzt, den beide zum Zeichen künf¬
tiger Tischgemeinschaft zusammen verzehren.
Nun verwandelt sich der Heirathsmacher, der überall aus der Vermittlung
von Ehen ein festes Gewerbe macht und für seine Bemühungen entweder mit
Geld oder Naturalgeschenken entschädigt wird, in einen „Hochzeitslader".
Einen Rosmarinzweig am Hut. ein rothes Band im Knopfloch, ein langes
spanisches Rohr in der Hand, wenn die Parteien wohlhabend sind, auf bän¬
dergeschmücktem Gaul, sonst bescheiden zu Fuße, zieht er aus. um die Ver¬
wandten und Freunde zum Trauungsfest zu bitten. In manchen Gauen ist
er bei dieser Fahrt von einem Bruder oder Vetter des Bräutigams, dem
„Kranzlhcrrn", und einem Verwandten der Braut, dem „Hundewehrer" oder
„Hennenklemmer" begleitet, welcher letztere stets einen am Griff mit rothen
und blauen Bändern umwundenen Säbel an der Seite hat und bei der Hoch¬
zeit den Hanswurst spielt. Sein Name kommt davon, daß er in jedem Ge-
Höft, wo man vorspricht, eine Henne zu stehlen sucht, welche von den drei
Reisegefährten bei passender Gelegenheit verspeist wird.
Höchst eigenthümlich ist die Art, in welcher der Hochzeitsbote seine La¬
dung vorzubringen und andrerseits der Geladne sie aufzunehmen hat. Im
Traungau, wo zuerst die Braut geladen wird, versteckt sich dieselbe, sobald sie
die Abgesandten kommen siebt, in einen Winkel, in die Gewandtruhe, ja ins
Krautfnß. Der Hochzeitslader sucht sie, in der Weise eines Hühnerhundes
schnobernd, unter oftmaliger Wiederholung der Worte: „Mir scheint, hier ist
eine Braut!" in Küche und Keller, Hof und Stall, entdeckt sie endlich und
zieht sie ans Tageslicht. Sie sträubt sich nach Kräften, antwortet auf seine
Anrede mit allerhand Ausflüchten, wie, daß sie nicht gut höre, daß sie die
Sprache des Ladenden nicht verstehe und wird nur durch langes Parlamentiren
bewogen, sich durch Jawort und Handschlag zum Erscheinen bei der Hochzeit
zu verpflichten. Aehnlich wie das Mädchen aus jungfräulicher Sittsamkeit
haben sich alle andern Gäste aus Bescheidenheit gegen die ihnen zugedachte
Ehre zu wehren. Auch sie verstecken sich vor dem Hochzeitslader, zeigen sich,
wenn es diesem endlich gelingt, seine Rede anzubringen, von der beabsichtigten
Verbindung höchlich überrascht, obwol sie von derselben in der Regel schon
Monate vorher unterrichtet sind, und nehmen die Einladung zur Hochzeit erst
nach möglichst lange fortgesetzter Weigerung an. Dann wird der Hochzcits-
lader mit einer Ehrcnmahlzeit bewirthet, die nach Sitte und Vermögen ver¬
schieden, bei Reichern aber immer sehr reichlich und dann, da an einem Tage
oft gegen zwanzig Einladungen abgethan werden und Hochzeitslader keine
Kostverächter sein dürfen, eine gute Vorübung für das Hochzeitsmahl ist.
Hat der Hochzeitsladcr seinen Umzug beendigt, so gehen die Brautleute
mit ihren nächsten Verwandten „zum Schreiben", d. h. vor Gericht, um dort
ihr Verehelichungsgesuch anzubringen, den Heirathsvertrag aufsetzen und Aehn-
liches vornehmen zu lassen, wobei ihnen der redegewandte Hochzeitslader als
Rechtsfreund oder doch als Mundstück dient. Vom Gericht begibt sich die Ge¬
sellschaft häufig zum Pfarrer, um „das Stuhlfest" zu feiern, d. h. die öffent¬
liche Verlobung vollziehen zu lassen, welchem Akt die Aufsagung der Glau¬
bensartikel und des Vaterunsers vorher zu gehen und ein tüchtiger Schmaus
im Wirthshaus, „das Krautessen" zu folgen pflegt.
Am letzten Sonnabend vor der Hochzeit findet die Absenkung des „Fedel-
wagens", „Kammerwagens" oder „Watsaums", d. h. des Fuhrwerks statt,
welches die Aussteuer der Braut aus dem Hause ihrer Eltern nach dem des
Bräutigams schafft. Der Wagen wird von vier, ja bisweilen von sechs Pfer¬
den oder Ochsen gezogen, die gleich dem Fuhrmann stattlich mit Rosmarin
und Bandschleifen herausgeputzt sind. Aus ihm befinden sich ein Kruzifix, eine
Kommode, zwei Stühle, ein Hängekasten, ein Schrank, in dem Wüsche, Lein¬
wand und Tuch liegen, ein großes zweischläfriges Bett, eine Schaukelwiege
und in einigen Gegenden der Zimmeraltar. Die Spitze des Ganzen bildet
ein Spinnrad, das mit Flachs bedeckt und reichlich mit bunten Bändern, Tä¬
felchen und Amuleten geziert ist. Die Braut sitzt entweder auf den Betten
oder sie geht, den Röcken im Arm oder ein Milchfaß mit reinem Flachs auf
dem Kopfe neben dem Wagen her, hinter welchem eine Schwester oder Magd
die stattliche Kuh hertreibt, die der wohlhäbige Bauer seiner Tochter gern
mitgibt. Häufig folgt dem Wagen auch ein Zimmermann, der, gegen An¬
theil am Hvchzeitsschmaus, das Brautbett aufzuschlagen hat. Kinder und
Dorfarme pflegen dem Wagen den Weg zu sperren, „die Braut zu vermachen,"
die sich mit Nudeln yder kleiner Münze auflösen muß, was sie um so lieber
thut, als alles, was mau im Brautstand gibt, sich im Ehestand siebenfach ver¬
gilt. Punkt zwölf Uhr Mittags muß der Fedelmagen im Dorfe des Bräu¬
tigams eintreffen. Letzterer geht demselben ein Stück entgegen oder empfängt
die Braut an der Hausthür mit dem Bierkrug, wofür sie ihm die Schlüssel
zu den mitgebrachten Kasten und Truhen übergibt. Im Innern des Hau¬
ses läßt sie ihn? dann durch die Näherin ein selbstgesponnenes Hemd und ein
Paar Schuhe überreichen, während die übrigen Hausgenossen für ihre Hilfe
beim Abladen des Wagens mit Tüchern, Bändern u. a. belohnt werden.
Den Strohsack des Ehebettes muß der Hochzeiter selbst in die Kammer schaf¬
fen. Ist alles eingebracht, so spricht der Pfarrer darüber den Segen. Hier¬
auf wird ein Mahl eingenommen, und am Abend fährt die Braut auf dem
leeren Wagen wieder heim. Heirathet ein Bursch aus den Hof eines Mäd¬
chens, so schickt er ebenfalls einen Fedelmagen.
Die Hochzeit selbst wird regelmäßig an einem Dienstag, bisweilen auch
um einem Montag gefeiert. Die meisten Hochzeiten fallen in die Fastnachts¬
und die Adventszeit. Die Freuden des Festes werden mit der ,.Morgensuppe"
eröffnet, einem sehr crgibigen Frühstück, das sowol im Elternhaus der Braut
als in dem des Bräutigams eingenommen wird, und bei dein in den Ort¬
schaften des Isarwinkels der Bräutigam den ersten Laib Brod anzuschneiden
hat, während die unverheirateten Verwandten und Bekannten des Brautpaars
in weißen Schürzen die Bedienung besorgen. Nach Beendigung des Essens
wird die Braut „ausgednnkt", d. h. der Hochzeitlader nimmt für sie von den
Eltern in pathetischer Rede Abschied, worauf sie vom Kranzlherrcn in einem
buntgeschmückten Wagen, dem in andern Fuhrwerken die übrigen Gäste folgen,
unter Peitschenknallen, Pistolenschüssen und lautem Jauchzen nach der Woh¬
nung des Bräutigams gebracht wird. Wo, wie im Traungau, die Morgen¬
suppe im Wirthshaus genossen wird, läßt der Hochzeitslader vor dem Auf¬
bruch der Gäste „nach dem Ehrenzeichen langen", indem er ihnen ein Bündel
bunter Bänder reicht, aus denen jeder Mann sich eins am Hut, jede Frau
eins am Schürzenband befestigt. Zwischen Lech und Jsar geht die Braut
vor der Abfahrt auf den Hof. um die Pferde zu füttern. Sie trägt auf einem''-°-^>
Teller für jeden Gaul ein Stück Brot, das mit geweihtem Salz und soge¬
nannten Palmkätzchen bestreut ist. Haben die Thiere das Brot verzehrt, so
schreitet sie dreimal um den Wagen und zerschlägt endlich an einem der
Hinterräder den Teller, worauf sofort eingestiegen und unter Pfeifen- und
Trompetenschall abgefahren wird.
Im Hochzeitsdorf angelangt, wird der Zug mit Musik und Böllerschüssen
empfangen, und der Kranzlhcn hat die Braut zierlich vom Wagen zu schwin¬
gen. Dann setzt sich der Hochzeitszug vom Hause des Bräutigams nach der
Kirche in Bewegung.
„Die Ordnung, die hierbei eingehalten wird, ist durch die Ortssitte über¬
all genau vorgezeichnet und der Hochzcitlader hat über die Einhaltung der¬
selben zu wachen. In der Regel eröffnen die Männer, voran die Ehrenper¬
sonen des Tages, häufig mit dem Favor, d. h. weiß und rothen Arm¬
schleifen*), geziert, der Bräutigam — am Hut den Rosmarin mit violettem
Band. — Kranzhcrr, Ehrvater und Hochzeitladcr (die häufig in eine Person
zusammengezogen werden) und Hennenklemmcr — den Zug, dessen Schluß die
Weiber bilden, geführt von der Braut und ihren Kranzljungfern (früher ge¬
nügte immer Eine, jetzt sieht man oft 4—6 Kranzljungfern) und den Ehren¬
müttern und sämmtlichen weiblichen Verwandten und Gästen nach strenger
Etiquette in umgekehrter Folge der Anciennität geordnet. Manchmal wird
die Braut von einem besonderen, degenbewaffnetcn Brautführer geleitet. Al¬
len voraus zieht die Musik, Hüte und Instrumente mit langen Bändern ge¬
ziert, mit schallendem Spiel bis zur Kirche, an deren Eingang sie die Voll¬
ziehung des Sakramentes abwartet, um dann vom Kirchhof aus den Zug
wieder zurück in's Wirthshaus zu geleiten."
Schmuck und Tracht der Brautleute sind von der „Bavaria"
in dem Kapitel „Volks-Tracht" geschildert; hier möge nur bemerkt wer¬
den, „daß in den Gegenden, in welchem der breite Gürtel um die Hüften
zum Ehrenschinuck der Braut gehört, die in geschlechtlichen Dingen jonst
ziemlich laxe Moral des Landvolks dieses Ehrenzeichen jeder unjung¬
fräulichen Braut mit großer Strenge verweigert. Neben dem Rosmarin-
zweig ist besonders die gelbe Citrone in der linken Hand das meist ver¬
breitete Abzeichen hochzeitlicher Feier, von jedem Gast mit höchster Gravität
getragen. Meist hat die erste Kranzjungfer all diese Zier von Rosmarin,
Kränzchen, Schleifen und Citronen herbeizuschaffen; neben dem Rosmarin wird
besonders das sogenannte Kranzlkraut — seäum 8exa.vMlg,rö — als wesent¬
licher Theil des Hochzeitskranzes verwendet.
In der Kirche hat der Hochzeitslader den Kavalier der Braut zu machen
und derselben bei jedem Schritt an den Altar und an ihren Platz zurück so-
wol während der Trauung als der gleich darauf folgenden übrigen Vornah¬
men mit zierlicher Verneigung das Geleit zu geben. Anderwärts darf nur
Brautführer und Ehreninutter das Paar bis vorn an den Altar begleiten.
Nach der Trauung erfolgt ein Opfergang mit Niederlegung von kleinen Spen¬
den auf die Stufen des Altars, dessen Schluß die Ausspendung des vom
Priester geweihten Johannisweines an das Brautpaar, vielfach auch an alle
Gäste, bildet. Dabei geht das Brautpaar voran und trinkt dreimal, ihm
folgen das Kranz- und Ehrenpaar, dann die Uebrigen; am unteren Jnn wird
nur dem Brautpaar vom Pfarrer, den andern Gästen vom Hochzcitlader der
Kelch gereicht. Häufig wird auch nach der Trauung ein Dankamt gehalten,
wobei der Organist seine heitersten Künste zum Besten gibt. Darauf geht
man in manchen Gegenden still aus der Kirche auf den daran liegenden
Kirchhof und betet vereinzelt an den Gräbern der Verwandten ein Paar
Vaterunser.
Nach Vollzug dieser kirchlichen und ernsten Handlungen aber tritt die
weltliche Fröhlichkeit des Festes sofort wieder lebhaft in ihr Recht; aus der
Kirche oder vom Kirchhof hinweg wird mit lautem Jubel in das Wirthshaus
marschirt, häusig in derselben, hie und da in umgekehrter Ordnung des ersten
Zuges. Unter der Thüre des Gasthauses steht in bestem Putz der freundliche
Herr Wirth, welcher das Brautpaar und alle Geladenen mit deutschem Hand¬
schlag und freudigem „Grüßgott" empfängt. Gewöhnlich bei Gelegenheit des
Zuges von der Kirche nach dem Gotteshaus — hie und da auch später —
wird der sogenannte „Brautlauf" oder „Schlüssellauf" gehalten. Vom
Gemcindediener oder vom Hochzeitlader wird das Ziel abgesteckt und die Bahn
für die Läufer bezeichnet und nun beginnen die rüstigsten und flinksten Bursche
unter den Gästen, schon von der Kirchthüre an in grotesken Sprüngen Vor
dem Brautpaare hertanzend, und nun bis auf Hemd und Hose entkleidet und
unbeschuht, den Wettlauf. Die Ziele — 300 und 400 Schritte weit — werden
gebildet durch zwei Lagen Streu; wer das ferner gelegte zuerst erreicht, hat
den höchsten Preis und so abwärts; im Berchtesgadnerland wird statt oder
neben diesem Wettlauf ein Sacklausen oder Eiertreten vor der Thür des Wirths¬
hauses aufgeführt. Die Preise sind verschieden bestimmt; regelmäßig erhält
der Erste einen vergoldeten Holzschlüssel, der ihm an den Hut gebunden wird,
nebst dem höchsten Geldbetrag, die niedern Preise bestehen in Befreiung von
den Mahlkosten, in kleinen Geldbeträgen oder Geschenken von Putz und Zier¬
rath. Von dem letzten Läufer heißt es: „er hat die Sau"*) und er wird
demgemäß an Hut und Rücken mit Schweineschweifchen verziert."
Dieser Gebrauch des Brautlaufs, der sich bei allen deutschen Stämmen
bis hinauf zu den Nordfriesen an der Westseite Schleswigs einst vorfand, war
ursprünglich wol ein symbolischer Wettlauf nach dem Schlüssel zur Brautkam-
mer, wobei der Bräutigam mit rennen und, kam ihm ein Anderer zuvor,
demselben das Recht des eroberten Schlüssels alt einer herkömmlich festgesetzten
Buße abkaufen mußte.
Auf diese symbolische Handlung folgt sofort eine andre. Sobald die
Braut die Schwelle des Wirthshauses überschritten, naht sich ihr die Köchin,
um sie in die Küche „zum Kraut- oder Snppesalzen" zu führen, d. h. die junge
Frau, jetzt Vorsteherin eines eignen Heerdes, wird durch die Bitte geehrt, zum
ersten Mal ihre Erfahrenheit in diesem Beruf zu bewähren. Sie kostet das
ihr vorgesetzte Gericht, gibt ihr Urtheil darüber ab, wirft etwas geweihtes
Salz in den Topf, gießt einige Tropfen Johanniswcin hinzu und entfernt sich
wieder, nachdem sie ein Trinkgeld für die Köchin in das Salzfaß gelegt.
Unterdeß haben die übrigen Weiber ihren kirchlichen Festputz mit ihrem
gewöhnlichen Sonntagsstaat vertauscht, um sich unbehindert den Freuden des
Mahls und des Tanzes hingeben zu können. Die Zahl der Gäste bei dem
min beginnenden Schmause ist je nach der Gegend und den Vermögens-
umständen der Bethnligten verschieden. Man kennt schlechte, mittlere und
große Hochzeiten. Zu einer großen gehören im Jsarwinkel 200, im linken
Innthal 100 bis 250 Personen. Die Verheilung der Gäste hat der
Hochzeitlader zu besorgen, wobei verschiedne Regeln gelten. Ueberall rech¬
net man nach Tischen zu je zwölf Personen. Am Brauttisch pflegen im Land
an der Paar nur d>e Braut, zwei Jungfern und der Brautführer zu sitzen.
Bräutigam und Hochzeitlader dürfen erst nach allen andern an einer beschei¬
denen Ecke Platz nehmen. Der Geistliche erscheint gewöhnlich erst Nachmittags
auf eine Stunde. Die Gerichte eines Hochzeitschmauses bilden den Superlativ
und das Meisterstück dessen, was bäuerlicher Gcldstolz und bäuerliche Kochkunst
zu leisten vermögen. So führt die„Bavaria" den „Kuchelbrief" einer Hoch¬
zeit wohlhabender Leute aus der Gegend am untern Jnn an. Derselbe ent¬
hält drei Abtheilungen oder „Nichten."
„1. Richt! Nudelsuppe. Würste, saures Voressen. Kraut mit 2—3 Stück
Rindfleisch landerwärts heißen diese Speisen zusammen die ersten vier Richt),
Brodknödel und Braten.
2. Richt: Reissuppe. Kalbfleisch, das „große Stück", d. h. IV- Pi>
Rindfleisch für den Kopf, geselchte Würste. Kalbsbraten, Kraut. Hirnpavesen.
3. Nicht: Fleisch in der Sauce, Schweinsbraten mit Salat, gebackne
Krapfen, eine Torte und schließlich eine Gerstensuppe. Dazu hat jeder Gast
drei kr. Brod und Bier frei. Diesem Mittagsmahl ist nun oft schon eine
„Morgensuppe" vorausgegangen, bestehend aus Fleischknödel, Haubenküchel.
Rindfleisch, Bachnudel, Bier und Schnaps. Andere sehr übliche Hochzeitsge¬
richte sind: Kalbfleisch in gelber Brühe, Blutwurst, gebackne Leber, Speckknödel,
bvLut' Ä nous, Buttcrnudeln, Aepfelküchel, Knödelsuppe, Rindsbraten, Sträu¬
ben , Scmmclküchel, Kalbsbraten mit Salat, Reismus. gebackne Kalbsfüße,
Knoblauchwürste mit Zwetschgen, Semmelschmarren und Zwetschgenpavesen."
Uralte Hochzeitsspeisen der Bauern sind: im Jsarwinkel „der Brein", ein
Hirsenmus in Milch gekocht, am linken Ufer des Innthals der „Hornaff", ein
Gebäck, das schon in den Vocabnlnrien des vierzehnten Jahrhundert als Hoch¬
zeitszubehör erwähnt wird, endlich, als Schluß des Mahls, eine dicke Gersten¬
suppe, die namentlich im Oberland nicht fehlen darf. Niemals kommen vor
Wildpret und Fisch; denn die „sind für des Edelmanns Tisch". In sehr ho¬
hes Alter hinauf reicht die in manchen Gegenden, z. B. bei Tegernsee noch
übliche Sitte, daß die Hauptgerichte des Schmauses in besondern Aufsätzen
hereingetragen und von der Musik „eingeblasen" werden, was beiläufig wie
vieles andre von den Hochzeitgebräuchen der Altbayern im höchsten Norden
Deutschlands, in Ostschleswig, namentlich in Angeln, ganz ebenso gehalten
wird.
Eine Verdauungskraft, die ein Essen, wie d,as angeführte bewältigte, würde
unbegreiflich sein, wenn man nicht wüßte, daß die Gäste von den meisten
Fleischgerichten nur die Brühe sofort verzehren, die festen Stücke aber als „Be-
scheidesscn" in ein Tuch geschlagen für die Daheimgebliebenen mit nach Hause
nehmen, und wenn dazu nicht wiederholte Pausen in der Vertilgung der Spei¬
sen kamen.
Zu diesen Unterbrechungen des Schmauses gehört zunächst das sogenannte
Stehlen der Braut. Bei einem bestimmten Abschnitt des Mahles wird ent¬
weder die Braut selbst oder doch ein Stück ihrer Kleidung, ihr Kranz oder
ein Schuh von einem listigen Burschen entwendet und in das Herrenstübchen
des Gasthauses gebracht, wo der Räuber sich mit einigen Genossen seiner
Missethat einige Stunden in süßem Wein gütlich thut, wofür der nachlässige
Bräutigam oder der Kranzlherr. der die Braut zu hüten hatte, die Zeche zahlen
muß. Die Gäste schmausen inzwischen fort, auch der Bräutigam sucht seinen
Gram über den Verlust durch fleißiges Essen zu ersticken, bis ihm endlich ge¬
stattet wird, die Entführte durch den Hochzeitlader mit brennender Laterne und
einer mit Schellen, Besen und Stangen bewaffneten Executiousmannschaft
aufsuchen und gegen Berichtigung der oft über S0 Gulden betragenden Wein-
Seche und eines Bußgelds obendrein zurückbringen zu lassen. War nur der
Schuh der jungen Frau geraubt worden, so wird ihr aus ihre Reclamation
Zuerst ein Haufen alter Filz- oder Holzschuhe zur Auswahl vorgelegt und nur
ein Trinkgeld lockt ihren echten zierlich mit Schleifen geschmückten Brautschuh
wieder aus seiner Verborgenheit.
In einer andern Pause des Mahls wrrd zum Krämer gegangen, wo die
Mädchen den Burschen ein Tuch oder eine Rolle Rauchtabak kaufen. Hier
und da werden die letztern mit solchen Geschenken überrascht, indem ihnen
jene die Hüte entwenden und mit-den heimlich gekauften Tüchern geschmückt
zurück bringen.
Die größten Unterbrechungen des Schmauses aber werden durch die oft
stundenlang währenden Hochzeitstänze gebildet. Zu diesen gehört zunächst der
Brandkauz, der zwischen Jsar und Giou „Hungcrtanz heißt, weil er der Mahl¬
zeit vorangeht und vor Beendigung derselben kein Bier eingeschenkt und kein
Bissen gegessen werden darf. Ferner der vor dem Auftragen des Krautes
executirtc „Krauttanz", wahrend dessen gewöhnlich die Braut gestohlen wird.
Bei dem ersten Tanz nach dem Schmause, dem „Ehrtanz", den die Braut mit
dein Kranzlherrn oder dem Hochzeitslader zu beginnen pflegt, spielen die Mu¬
sikanten auf einmal lauter falsche Noten, und zu gleicher Zeit kommt die Braut
aus dem Takt und fängt an zu hinken, was sich nicht eher gibt, als bis sie
sich an die Musikanten um „eine Salbe" wendet. Sie legt ihnen zuerst einen
Pfennig, dann als es noch immer nicht recht gehen will, einen Kreuzer, end¬
lich gar einen blanken Gulden, den ihr der Hochzeitlader mit den Worten:
„Schau, bei Euch ist ein Nagel durchgegangen!" aus dem Schuh genommen,
als Trinkgeld hin.
Ein poesievollcr Tanz ist der im Lechrain noch hierund da übliche „Kun¬
keltanz". Gegen die Mitte des Mahls, vor dem Braten, ziehen alle Gäste
unter Vortritt der.Musik aus dem Wirthshaus in das Hochzeitshaus zurück.
Dort stellt man sich auf der Tenne auf, die stärkste Kranzjungfer bringt die
Kunkel herbei mit einem zierlich geflochtenen, reichbebänderten und mit der
Spindel besteckten Rocken. Andere Mädchen fassen die Enden der nieder-
hängenden Bänder, und unter dem Gitter der straffgespannten Bänder hin¬
durch tanzt, das Brautpaar voran, die ganze Gesellschaft, worauf die Kunkel
in festlichem Zuge nach dem Wirthshaus gebracht und dort an der Seite
der Braut aufgestellt wird. Zwischen Lech und Ammersee kommt ein scherz¬
hafter Tanz vor, den man „das Wickele holen" nennt. Gegen das Ende
des Schmauses tanzt der Bräutigam mit der Ehrmutter, der Hochzeitlader mit der
Braut. Der Bräutigam muß sich allerlei Neckereien wegen seiner alten Tänzerin ge¬
fallen lassen, endlich aber tritt ihm der Hochzcitlader die Braut gegen ein Lösegeld
ab. und letzterer tanzt mit der ehrwürdigen Partnerin ein Weilchen weiter, plötzlich
aber setzt er sie auf einen Schubkarren und fährt sie eiligst zur Thür hinaus.
Beim letzten Festtanz der Braut mit dem Kranzherrn endlich nimmt dieser ihr
am Schluß den Kranz vom Kopfe und überreicht ihn auf einem Teller
dem Bräutumm mit den leider nickt sehr poetischen Worten: „Nun wünsch'
ich besten Appetit, Herr Hochzeiter."
Andere Tänze und Ceremonien altbayerischer Hochzeiten bitten wir in
der „Bavaria" nachzulesen, die sehr gründlich in alle Details eingeht.
Ter schon wiederholt erwähnte Zug der Volkssitte, das Geben und
Empfangen von Trinkgeldern in humoristische Verhüllungen zu kleiden, kehrt
wahrend des Schmauses in verschiedenen Formen wieder. Die Musikanten
kommen, um am Brauttisch ein Stück zu blasen, da zeigt sich, das, die In¬
strumente zerbrochen sind, und nicht eher will es gehen, als bis sie auf
einen Teller, auf dein zum Wahrzeichen das Mundstück eines Hornes liegt,
„Flickgeld" eingesammelt haben. Häufig auch erbitten sie sich Kraut auf
einem Teller, wobei es auf die Sechs- oder Zwölftreuzerstückc abgesehen ist,
die man zur Würze dazwischen legt. Dann erscheint die Köchin und sammelt,
indem sie einen zerbrochenen Löffel oder Tiegel vorzeigt, das Macherlohn für
diesen Schaden ein. Endlich werden auch die Spenden, welche die Gäste am
Schluß des Schmauses für denselben zu entrichten haben, bisweilen durch
eine solche heitere Fiction verschleiert, indem der Hochzeitlader in einer Rede
das Mißgeschick beklagt, welches die Einrichtung der Jungfer Braut dadurch
betroffen, daß eine Gluckhenne mit dreißig Küchlein zum Fenster hereingeflogen
und alles Geschirr zerschlagen habe! die Gäste möchten der betrübicn jungen
Braut zur Erneuerung ihrer Einrichtung ihre Spende nicht versagen.
In der Regel aber bleibt diese Verhüllung aus. Mit einem Bückling
tritt der Hochzeitlader in die Mitte der Gäste und hält seinen zierlichen, meist
ganz oder theilweise gereimten ^,Äbdantspruch", was meist sechs Uhr Abends
geschieht. Nach der Rede setzen sich Wirth, Brautpaar und zwei Ehrmütter
zusammen an den Brauttisch, über den ein Teppich gebreitet wird. Auf die¬
sen stellt man eine Zinnschüssel, über die man einen Teller als Deckel stürzt.
Der Hochzeitlader ruft nun sämmtliche Gäste vom Herrn Pfarrer. bis zur
entferntesten Base mit vollem Titulatur zum Schenken auf. Ein schallender
Tusch der Musik begleitet die Schritte jedes Einzelnen an den Tisch, wo ihm
der Bräutigam, Ehrvater oder Hochzeitlader einen Becher Wein, den „Ehr¬
wein", in ärmern Gegenden einen Krug Bier reicht und er seine Spende auf
den Teller legt. Die Summe wird genau von jedem Schenkenden notrrt,
damit man sich bei Gelegenheit gebührend dafür abfinden kann. Sie beträgt
stets das „Mahlgeld", d. h. das Couvert, und noch einen oder einige Gul¬
den oder Thaler darüber. Verwandte entrichten mehr als bloße Bekannte,
Pathen und Geschwister das Drei- und Vierfache. Mancher fügt noch ein
Scherzhaftes Geschenk, ein Muspfännchen, eine Puppe u. a. hinzu. Zulcht
wird für die Armen gesammelt. Wenn endlich aufgebrochen wird, so blasen
die Musikanten das Brautpaar, das oft heimlich zu entwischen versucht, über
die Straße, wobei der Hochzeitlader unter allerhand Späßen mit der Laterne
voraus zu leuchten hat.
Hinsichtlich der Taufgebräuche erwähnen wir nur die wichtige Stellung,
welche der „Gött", d. h. der Gevatter, dem Kinde gegenüber einnimmt. Er
"
ist eine dem Vater an Ansehen fast gleichstehende Respcctsperson, die nicht
blos für das Kind selbst, sondern auch für die Eltern und alle andern Ange¬
hörigen des Hauses der Mann des Raths und der Ehre bei allen wichtigen
Ereignissen ist. In ganz Oberbayern pflegt man auf dein Lande immer die¬
selbe Person zum Pathen für olle Kinder zu nehmen. Derselbe bezahlt das
Kindelmahl im Wirthshaus, häufig auch die Hebamme und das Taufgeld.
Er bindet alte Geldstücke ein, sendet zu Festzeiten die üblichen Geschenke, zu
Niklas Aepfel und Birnen, zu Ostern rothe Eier, zu Allerseelen den „Seelen-
zopf", im zweiten oder dritten Jahr des Kindes das „Gott-G'wand", d. h.
einen vollständigen Anzug und, wenn das Pathchen stirbt, Todtenhemd und
Krone. Der Endtermin jener Jahresgaben ist bald kürzer bald länger gesteckt;
während in der einen Gegend die Pathengeschcnke mit dem Austritt des Kin¬
des aus der Schule aufhören, werden sie in andern bis zur Verheiratung
fortgereicht.
Auch von den Sitten, die sich an Todsfälle knüpfen, können wir nur Eini¬
ges mittheilen. Die Leichen von Unverheirateten werden fast überall mit
einer Krone von Wintergrün, Bandschleifen und Flittergold geziert, die man
nach gemachtem Gebrauch in der Kirche aufbewahrt, um sie bei festlichen Ge¬
legenheiten hervorzuholen und auf die Gräber zu legen. In manchen Gegen¬
den begräbt man nur Kinder und Jungfrauen in weißen, alle andern in
schwarzen Todtenhemden. In der Jachenau werden die Leichen in einem offnen
Sarge zu Grabe getragen. Die Träger sind überall bei verheiratheten Man¬
nern Männer, bei Jungfrauen Jungfrauen, bei Kindern bisweilen Kinder. Auch
verheirathete Frauen bestattet an einigen Orten eine Schaar von ihresgleichen.
Hin und wieder trifft man die Sitte, daß die im ersten Kindbett verstorbne
Wöchnerin mit den Ehren einer Jungfrau beerdigt wird. Man legt ihr das
todte Neugeborene in die Arme, und vor Mutter und Kind „thut sich dann die
Himmelsthür mit beiden Flügeln auf". Fast durch ganz Oberbayern herrscht
der Gebrauch, die Bieter, auf welchen die Leiche getragen worden, aus Fu߬
stegen, besonders Kirchwegen, an Bäume zu heften oder über kleine Gräben zu
legen; man liest darauf den Namen des Verstorbnen und den frommen Wunsch
K. ^. ?. — i-<ZMi«Z8es.t in xg.ce!
Ist die Leiche in die Erde gebracht, so finden sich die Leidtragenden im
Wirths- oder Sterbehause zum Todtenmahl oder der Todtensuppe zusammen —
ein Gebrauch, der ebenfalls bis hoch nach Norden, ja bis über die Schlei
hinausgeht. Im Salzburgischen nennt man dies „das Gsturia valuula", das
Gestorbene vertrinken. In manchen Gegenden des Innthals sind die Begräbniß-
schmäuse so reichlich wie die Hochzeitsessen und werden in den Austragsstipu-
lationcn und Uebergabsbriefen von den Eltern ebenso wie die hochzeitlichen
Morgenessen vertragsweise bedungen.
Wir schließen unsre Auszüge mit einigen Mittheilungen aus dem, was
die „Bavaria" nach Abhandlungen Lentners über die Volksschauspiele Ober¬
bayerns und die in dem sagenannten „Haberscldtrciben" sich äußernde Volks¬
justiz bemerkt.
Das Volk der bayerischen Hochlande bat sich aus alter Zeit bis auf unsre
Tage sein Theater erhalten, auf welchem von Bauern gedichtete Stücke von
Bauern für Bauern aufgeführt werden. Der Ursprung des Volksschauspiels
in diesen Strichen ist theils in der dramatischen Thätigkeit der städtischen
Sängerzünfte des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts, theils in den viel
älteren Mysterien, und wol auch in den noch weiter in die Vorzeit hinauf¬
reichenden Schaustellungen. Liedern und Sprüchen zu suchen, welche, wie die
Kämpfe zwischen Sommer und Winter zu Lötnrc und die Umzüge des Wasser-
vogels. sich an bestimmte Jahreszeiten knüpfen. Wann zuerst weltliche Schau¬
spiele auf bayerischen Dorfbühnen aufgeführt worden sind, läßt sich nicht sagen.
Gewiß dagegen ist, daß geistliche Komödien schon im fünfzehnten Jahrhundert
unter den Bauern am Inn und Lech zur Darstellung kamen. Während im
übrigen katholische» Deutschland sich nach der Reformation die Jesuiten der
Volksbühne bemächtigten und durch ihre Schüler und Novizen sowol weltliche
als geistliche Stücke aufführen ließe», machte sich in den bayerischen Alpen das
Volk im vorigen Jahrhundert wenigstens was die weltlichen Dramen betrifft,
von der durch jene Eindringlinge eingeführte» Manier wieder los, und so ge¬
langte das Bauerndrama hier zu einer Art Nachblüte. Nicht blos in dem
bekannten Oberammergau, sondern auch in andern Dörfern und Märkten, z. B.
zu Aibling, Tölz. Mittenwuld und Garmisch gab es noch in Verletzten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts Bauerntheater, Die Aufklärungsperiode ließ wie
gegen manches andere Gute und Erhaltenswenhe auch gegen diesen Zug der
Sitte und Neigung die Polizei los. Sie brachte es damit aber nur so weit,
daß das Volk einen Theil seiner Bühnenstoffe aufgab. Man führte fortan
keine der Legende entnommenen Heiligenkomödien auf. Das weltliche Schau¬
spie! wurde eifrig fortgesetzt, und es wird noch jetzt vou den Ammergauern und
den Bewohnern einiger andern Dörfer im Osten des Gebirgs unermüdlich
neben dem bekannten Passionsdrama cultivirt.
Das Ammergauer Passionsspiel ist durch Devrient und Andere, manchen
unsrer Leser wol auch durch eigne Anschauung mit seinen Acteuren, seiner
Bühneneinrichtung u. a. bekannt geworden. Die übrigen Bühnen des Ober¬
landes gleichen genau der dortigen, nur daß sie kleiner und weniger ausgebil-
det sind. Das Proscenium prunkt gewöhnlich in der Architektur der Rokoko¬
zeit, mit gewundenen Säulen, aus scheckigstem Hvlzmarmor, goldnen Kapitalen,
Festons, Schilden. Vasen und allegorischen Statuen. Unter den Decorationen
für die weltlichen Stücke darf ein goldstrahlender Rittersaal, ein wilder Wald
ein hehre.ckcnvollcr Kerker nicht fehlen. Die Costüme sind dem Mittelalter. wie
der Bauer sichs vorstellt, entnommen, und es bestehen dafür gewisse stereotype
Formen- Bösewichter und Tyrannen dürfen sich nur roth oder schwarz kleiden,
unschuldig Verfolgte nur in zartem Weiß oder Himmelblau umherwandeln,
Könige, und Prinzen schleppen sich mühselig mit schweren Hermelin- und Purpur-
münteln, gewaltigen Kronen. Federbüsche» und Ordenssternen herum, zu einem
Helden gehört vor Allem eine klappernde Blechrüstung.
Das Repertoire dieser Bühnen besteht aus älteren und neueren Stücken, von
denen die ersteren gewöhnlich besser als letztere sind. Die Stoffe jener älteren
Dramen sind den alten Volksbüchern entnommen, die mit aller Naivetät ihres
Ursprungs und mancher glücklichen Zuthat für die Zwecke der Bühne umgeschaffen
wurden. Sie sind es, die in ihren gesunden Grundgedanken dem Geschmack
und Gemüth des Bauer» am meisten zusagen. Dahin gehören die Geschichten
von der heiligen Genovefn. der Herzogin Hirlanda. der frommen Dulderin
Griseldis. dem armen Heinrich, dem edlen Möhringer und ähnlichen Helden
mittelalterlicher Poesie. Ihnen zur Seite standen die Sagen vom Kaiser Oc-
tavian und vom Doctor Faust, so wie die ältern schlichter gehaltnen Schau¬
spiele aus der Heiligenlegende.
Die durch die Jesuiten in Aufnahme gebrachte Heiligenkomödie im Ro¬
kokostil wollte nicht recht gefallen, da ihr frommer Schwulst den Landleuten
zum guten Theil unverständlich blieb. Dagegen fanden spätere Bauerndichtcr,
welche die Legenden einheimischer, beliebter Heiligen, z. B. der tirolischen Not-
burga, der frommen Magd zu Rottenburg, des Sanct Romcdius von Taur
mit seinem Bären, des kleinen Märtyrers Ander! von Rinn sür die Bühne be¬
arbeiteten, bessere Anerkennung, und so geschah es zugleich, daß das sich im
vorigen Jahrhundert einnistende Schäferspiel sehr bald vom Bauerntheatcr
wieder verdrängt wurde.
Nach Erschöpfung der alten Sagen- und Legcndenstoffe griffen die Dorf-
pocten zu den Ritterromanen der Fabriken von Spieß, Kramer und Delarosa.
und es wurden eine große Menge derselben in der Weise zu Dramen um-
gelchaffen. daß man durch Weglassung aller Verfänglichsten, aller Liebes- und
Verführungsgeschichten, die Romantik des Stoffs zu moralisiren suchte. Als
anch diese Quelle versiechte, waren die Bauerndichter cioe Zeit lang in Ver¬
legenheit, woher neues Material zu nehmen sei. Da erstand zu ihrer Rettung
Christoph Schmid mit seinen Erzählungen für die reifere Jugend. Man ver¬
wendete sehr bald seine Bücher für die Dorfbühne und dieselbe zieht uoch jetzt
aus diesen gesunden, einfachen Stoffe» den größten Theil ihrer Nahrung.
Die Dichter gehöre» fast ohne Ausnahme dem Landvolk an wie die
Schauspieler. Gewöhnlich werden die Autoren der Stücke zu Leitern der Auf¬
führung derselben berufen. An Honorar erhalte» sie im günstigsten Fall fünf
Gulden, oft viel weniger. Die Schauspielergesellschaften treten beinahe immer
freiwillig zusammen. Dre Leute besitzen verhältnismäßig gute Anlage zur De¬
klamation und Mimik, doch gilt dies mehr von den Männern, da die Frauen
sich meist in einer gewissen Weinerlichfeit des Vmtrags gefallen. Das Talent
für das Schauspiel und die Neigung dazu dehnt sich häufig über ganze Fa¬
milien aus. so daß bisweilen Großvater, Vater, Sohn und Enkel, Tochter
und Enkelin in demselben Stück nutwirken. Die Bevölkerung der Gegenden,
wo solche Schauspiele oft vorkommen, zeigt sich durchgehends gebildeter und
geneigter, auf die Aeußerungen des höhern Culturlebens einzugehn, als das
Volk andrer Striche. Der Antheil, den sie an den Vorstellungen nehmen, ist
ein äußerst lebhafter: sie können viele Stunden lang sitzen und sehen und hören,
was aus der Bühne vorgeht, und sie vermögen demselben Stück sechs bis sieben
Mal mit der gleichen Rührung und Ergötzung beizuwohnen. „Jedenfalls," so
schließt die „Bavaria" dieses Kapitel, „ist das Volksschauspiel ein schöner
Ausdruck und noch mehr ein wichtiges Förderungsmittel des poetischen, sitt¬
lichen und religiösen Lebens des begabtesten Theiles der altbayerischen Be¬
völkerung."
Das „Haberfeldtreiben'" ist eine der eigenthümlichsten Erscheinungen des
Volkslebens im bayerischen Gebirge. Wie und wo es entstanden, ist bis jetzt
trotz mannigfacher dagegen eingeleiteter gerichtlicher Untersuchungen bloße Ver¬
muthung geblieben. Man glaubt, daß die Grafschaft Hohenwaldegg der
Boden sei, wo diese Sitte zuerst zur Ausübung gekommen, und von wo sie
sich allmälig über die Nachbargaue verbreitet, und man nimmt ferner an. der
Gebrauch sei die ins Bäuerische übertragene Fortsetzung des von Karl dem
Großen in den einzelnen Grafschaften eingesetzten Rügengerichts. Wie viel
daran ist, lassen wir dahin gestellt. Sicher ist, daß die Haberfeldtrciber den alten
Kaiser bei ihrem Verfahren erwähnen. Er wird beim Verlesen der Anwesen¬
den stets zuerst aufgerufen, auch gibt sich die Schaar der Theilnehmer immer
als vom Kaiser im Untersberg (derselbe, sitzt dort nach den Sagen, die Staub
mittheilt, ganz wie Kaiser Rothbart im Kiffhäuser) abgesandt an, und beim
Schluß wird Kaiser Karl aufgefordert, das Protokoll zu unterschreiben. Seit
dem Verfall des altdeutschen Rechtsverfahrens und Verdrängung der Bauern
von der Theilnahme an der Justiz, besonders seit dem dreißigjährigen Kriege
soll das eigenthümliche Institut wieder in Flor gekommen sein. Man griff,
in Ermangelung andrer Mittel zu einem Verfahren, das sich damit begnügte,
die von der öffentlichen Meinung für schuldig Erklärten, welche die Schreibstube
entweder mit Verletzung des Gesetzes oder weil die Gesetze nicht auf den Schul¬
digen Anwendung litten, mit Strafen verschonte, wenigstens öffentlich als Uebel¬
thäter zu brandmarken. Doch soll es früher üblich gewesen sein, die Betreffen¬
den, besonders wenn sie an Feldmarken gefrevelt oder Wucher getrieben, durch
Verheerung ihrer Felder zu züchtigen, und da im Gebirge viel Hafer gebaut
wird, so hätte man den Namen Haberfeld auf das ganze Verfahren übertragen..
Wieder andere wollten wissen, es seien damals die Schuldigen, vorzüglich
gefallene Mädchen, von den heimlichen Teilnehmern des Gerichts mit Ruthen-
streicken durch ein Haferfeld getrieben worden.
Ueber den gegenwärtigen Stand des Haberfeldtreibcns lassen wir zunächst
die „Bavaria" sprechen, dann mag Steub Einiges aus seiner Erfahrung hin¬
zufügen.
In dem Gebiet der Landgerichte Tegernsee und Miesbach besteht oder be¬
stand wenigstens bis 1850 ein Geheimbund unter den Bauern, welche für Ver¬
gehen, die außer des gerichtlichen und polizeilichen Ttrasrechts liegen, beson¬
ders an Sündern gegen die Volksmoral ein öffentliches Rügengericht übt. Am
häufigsten sind es geschlechtliche Sünden, gegen die sich das Verfahren richtet.
Dasselbe kennt kein Ansehen der Person. Vor seiner Anwendung schützt weder
die geistliche Weilic des Seelenhirten. noch die mächtige Herrseherwürde des
Landgerichtsbeamtcn. noch die gefährliche Tapferkeit des Forstmanns. Alle
erfahren, wenn es dem Bunde erforderlich scheint, wie das Volk über sie denkt.
Die Verbindung erstreckt sich nur über den Bezirk, den die Mangsall umgrenzt,
niemals wurde jenseits des Jnn oder gar jenseits der Isar getrieben, ja die
Treiber kamen noch in keinem Fall bis an letztern Fluß.
So viel sich aus einzelnen Angaben über die Organisation dieser Vehme
erkennen läßt, gibt es im Gebirge zwölf Haberfeldmeister, von denen jeder nur
in seinem Bezirk die ihm Untergebnen kennt und sie nach einer Verabredung
mit seinen Mitmeistcrn in größter Heimlichkeit von einem beschloßnen Trieb in
Kenntniß zu setzen pflegt. Jeder in den Bund Eintretende leistet einen Bei¬
trag von drei Gulden und verpflichtet sich durch einen Eid zum tiefsten Still¬
schweigen, welches bis setzt, da der Verrüther vermuthlich hart bedroht ist, noch
nie gebrochen wurde. Wenigstens hat noch keiner von den zur Verantwor¬
tung Gezognen einen Mitschuldigen genannt oder mehr als schon längst Be¬
kanntes über die Organisation des Bundes gestanden.
Dem Gerichte über einen Uebelthäter gehen stets Warnungen voran. Auch
briefliche Ermahnungen kommen vor. Fruchtet das nicht, so tritt plötzlich von
keiner Seele geahnt, die Strafe in Vollzug. Dabei erscheinen vor oder doch
ipcht fern von dem Hause des Heimgesuchten, die Treiber in der Zahl von
hundert bis zweihundert Mann. Sie tauchen, da zu Trieben besonders finstre
Nächte gewählt werden, so unversehens auf, daß sie, wie es in den Protokollen
heißt, gleichsam aus dem Byden gestiegen zu sein scheinen. Die Schaar schließt
sofort ein Viereck und stellt in etwas größrer Entfernung, namentlich an
Straßen und Wegen. Vorposten auf, die mit Gewehren bewaffnet sind, so
daß es nicht leicht jemand wagt, auch nur von Weitem in ihr Bereich zu
kommen. Zufällig sich Nahende werden angehalten und müssen entweder um
kehren »der ruhig den Verlauf der Execution mit abwarten. Die Theilnehmer
am Gericht sind alle mehr oder minder vermummt und haben die Gesichter
mit Nuß geschwärzt.
Glaubt man sich gegen einen Ueberfall gesichert, so beginnt das Gericht.
Der Schuldige wird geweckt. Man ruft ihm zu, sich anzukleiden, das Viel)
im Stall anzubinden und ans Fenster zu kommen, bei Lebensstrafe aber nicht
vor die Thür zu treten. Dann werden die Versammelten von einem der Meister
verlesen und zwar stets unter falschen Namen und Würden, als z. B. „der
gestrenge Herr Landrichter von Tegernsee, der hochwürdige Herr Pfarrer von
Gmünd" und so meist solche Personen, deren Anwesenheit ihrer Stellung oder
ihrer Entfernung vom Orte wegen am wenigsten vorauszusetzen ist. Auch der
bayerische Hiesel (der Schinderhamms des bajuvarischen Stammes) wird ge¬
wöhnlich mit ausgerufen. Fehlt auch nur eine der verlesenen Personen oder
antwortet sie nicht sofort mit einem lauten „Hier!" so entweichen alle unver-
richteter Dinge. Nach dem Volksglauben ist stets Einer mehr am Platz, als
verlesen werden, und zwar ist dies niemand geringeres als der böse Feind.
Ist die Verlesung zu Ende, so tritt in die Mitte des Vierecks, von
einem Andern mit einer Laterne begleitet, einer der Theilnehmer des
Gerichts, um so laut als er irgend vermag ein in Knittelreune gebrachtes
Register vorzutragen, welches die einzelnen Schandthaten des Delinquenten
enthält. Nach jeder Strophe erhebt die ganze Versammlung, je nach dem
Inhalt derselben, ein furchtbares Geheul oder Gelächter und begleitet dies
mit einer Katzenmusik der entsetzlichsten Art, bei der Handmühlen, Kuhschellen,
Trommeln, Ketten und sogenannte Carsreitags-Ratschen als Instrumente dienen.
Mit der Absingung des gereimten Sündenregisters ist dem Volksunwillen ge¬
nügt und das Gericht beendigt. Ein Pfiff des Anführers, die Laternen
erlöschen und die Schaar zertheilt sich »ach allen vier Winden, ohne eine
Spur von sich zurückzulassen.
Bis jetzt haben noch alle Untersuchungen ergeben, daß die Handhabung
dieses Volksgerichts immer ohne Schädigung des betreffenden armen Sünders
an Leib und Gut abging. Wird an letzterem durch Zufall etwas zerstört,
so leisten die Haberfeldtreiber auf heimlichen Wege vollen Ersatz dafür. Für
mitgenommene Bretter und Pfähle legten sie Geld an Ort und Stelle, für
eine zerbrochene Scheibe warfen sie einen in Papier gewickelten Zwanziger zum
Fenster hinein. Der Bund sorgt aber auch dafür, daß seine Mitglieder kei¬
nen Schaden leiden, und als die Gemeinden Sachsenkam und Gmünd von
der Behörde mit 50 Gulden belegt wurden, weil in ihnen getrieben worden,
erhielten sie die Summe von unbekannter Hand noch vor Erlegung derselben
zugestellt.
Nach Steub fügen wir dem hinzu, daß bei den schwarzen Schöffen die¬
ses Vvlksgerichts nicht nur das Sprichwort: kleine Diebe hängt man, große
läst man laufen, nichts gilt, sondern daß die Haberscldtreiber mit Vorliebe
auf die Reichen, die Vornehmen und die Amtsehrwürdigen losgehen. Ferner,
daß im Jahre 1852 noch zweimal, dann noch einmal 1 857 getrieben wurde.
Sodann, daß die Geistlichkeit früher für das Institut schwärmte und es für eine
wahre Tugendschule erklärte, jetzt aber, seit es auch ihresgleichen, z. B. den
hochmürdigen Nachfolger Sanct Mnrins und Anlauf zu Jrschenberg betroffen,
sich eine ganz andere Meinung beigelegt hat.
Ein Landmann endlich, der einer der Wissenden zu sein schien und mit
dem Steub erst vor Kurzem über die Sache sprach, wollte sich an die phan¬
tastischen Züge von Kaiser Karl nicht erinnern. Er meinte, das Treiben werde
in der Regel auf dem Jahrmarkt zu Miesbach ausgemacht, wo sich die Ver¬
trauten im Wirthshaus zusammensetzten und nach t'urzcr Berathung das Er¬
forderliche beschlossen. Die Namen der Hauptleute und Theilnehmer seien
übrigens unter den Bauern durchaus kein Geheimniß. Schade sei, daß man
in den Bund, der früher nur verheirathete Ehrenmänner zugelassen, in letzter
Zeit auch junge Bursche aufgenommen, denen selber ein Treiben gesund wäre.
Da bis jetzt keiner heimgesucht worden, der es nicht in die'Haut hinein ver¬
dient, so wäre es barbarisch, die Gemeinden art so schwerer und langer Ein¬
quartierung zu strafen (sie kriegten jede, als Geldbußen nicht verfingen, ein
Fähnlein Strafbayern in die Häuser), wie die hohe Obrigkeit beliebt habe.
Der Mann schloß mit den seltsamen Worten: „Die Treiber halten bei alle-
dem doch noch immer zusammen, und wenn es einmal das Vaterland gilt,
wird man schon sehen, daß sie die rechten Leute sind."
Die Haberscldtreiber hätten also auch eine gewisse politische Farbe, und
Pfarrer Grassinger von Aibling hätte vielleicht nicht ganz Unrecht, wenn er
den Bauernaufstand von 1705 als ein Werk „des seit uralten Zeiten bestehen¬
den Haberfeldbundes" betrachtet.
Da die spanischen Angelegenheiten in der Regel von den Zeitungslesern
überschlagen werden, so ist es vielleicht nicht unangemessen, hier die Aufmerk¬
samkeit auf eine Aeußerung des Marschall O'Donnell zu lenken, eines der
vernünftigsten Männer, welche die neuere Geschichte Spaniens ans Licht ge¬
zogen hat. Die Ultramontanen haben ihn nümlich heftig angegriffen, weil er
nicht zu Gunsten des heiligen Vaters energischer gegen die piemontesische Re¬
gierung auftritt. Darauf hat der Marschall bemerkt, Spanien habe geschwiegen,
weil man bei der jetzigen Lage Europas nicht wissen könne, ob die Freunde
von heute nicht die Feinde von morgen sein könnten.
Diese Aeußerung verdient auch von andern Staatsmännern sorgfältig er¬
wogen zu werden. Die Art und Weise, wie die piemontesische Regierung
ihre Zwecke durchsetzt, hat mehrfachen Tadel gefunden, und auch wir sind keines¬
wegs gemeint, für die Correctheit derselben einzutreten; es hätte Vieles ar¬
tiger und schicklicher gethan werden können. Aber einen Tadel, den man auch
häusig vernimmt, finden wir bodenlos lächerlich: den Tadel nämlich, daß Sar¬
dinien sich der französischen Politik in die Arme wirft. Wem soll es sich denn
in die Arme werfen? Die Unterwürfigkeit Sardiniens gegen Frankreich wird
einzig und allein durch die Haltung der übrigen Mächte mit Ausnahme
Englands veranlaßt, und Niemand kann sie mit größerer Bitterkeit empfinden,
als die piemontesische Regierung selbst. Nach den Vorfällen vor Gaeta kann
Niemand daran zweifeln, daß wenn es einmal zu einer ernsthaften Koalition
gegen Frankreich kommen soll, das Königreich Italien in derselben eine nicht
unbedeutende Rolle spielen wird.
Ganz Europa hat das dringende Bedürfniß, daß die bisherigen faulen
Zustände in Italien aufhören: denn durch sie wurde Italien ein Heerd der
Revolution und ein Schauplatz der Rivalität zwischen Oestreich und Frankreich.
Ein starkes Königreich Italien ist im mittelländischen Meer der natürliche
Gegner Frankreichs und der natürliche Bundesgenosse Deutschlands; denn
sobald Italien den Umfang erreicht hat, den es wenigstens zu wünschen be¬
rechtigt ist. gibt es keine Veranlassung mehr, welche euren Conflict zwischen
beiden Nationen herbeiführen könnte.
Wo aber ein allgemeines Bedürfniß vorliegt, muß man schon über die
Jncorrectheit des Weges, der zu der Befriedigung derselben führt, ein Auge zu¬
drücken. Wenn diejenigen, welche den lebhaften Wunsch hegen, daß Italien
ein Morast bleibt, um im Trüben fischen zu können, Victor Emanuel tadeln,
so finden wir das ganz natürlich; wenn aber diejenigen ihn tadeln, welche
für Italien eine bessere Gesinnung hegen, so mögen sie doch einmal sagen,
was er denn eigentlich hätte thun sollen. Es ist freilich viel schöner und
großartiger, immer offen und grade zu handeln; aber diese Politik kann nur
der Starke befolgen; der Schwache muß die Umstände und die Gelegenheit
benutzen, die sich ihm bietet. Die bisherige» Regierungen Italiens sind durch
fremde Bajonette erhalten; wer wollte es dem König Victor Emanuel ver¬
argen, wenn er fremde Bajonette gleichfalls nicht verschmäht! Sein ganzer
Charakter bürgt dafür, daß er sie nur so lange gebrauchen wird, als es un¬
umgänglich nöthig ist. Ader Soldaten braucht er in der That, um „Italien
zu machen".
Dies ist der Standpunkt, auf welchen sich Lord John Russel in seiner
neusten Note stellt. Um dies Aktenstück richtig zu würdigen, muß man in
Anschlag bringen, an wen es gerichtet ist. Erstens ist es an die englische
Nation gerichtet, um ihr zu sagen, daß die Negierung sich mit ihr in Ueber¬
einstimmung befindet und nicht, wie die preußische Zeitung nach Koblenz ver¬
muthen ließ, mit den Gegnern Italiens. Zweitens ist es an die Königin
Victoria gerichtet, die es darauf aufmerksam macht, daß die Krone, welche sie
trägt, einem glücklichen Attentat ihren Ursprung verdankt. Wilhelm von Dra¬
men fiel mitten im Frieden in England ein, veranlaßte die Unterthanen seines
Schwiegervaters zur Empörung und usurpirte den Thron, der ihm nicht gebührte,
theils durch seine Waffen, theils durch einen Parlamentsbeschluß. Das war nicht
sein; aber es war nöthig, um England ans dem Morast zu retten, in welchen es
die legitime Familie der Stuarts immer tiefer versinken ließ. Drittens ist die
Note an den Kaiser Napoleon gerichtet, um ihm vor den Augen aller Welt zu er¬
klären, wie England den Brief an Persigny auffaßt, ihm die Bedingungen
festzustellen, unter denen er auf Englands Freundschaft rechnen kann. Es ist
neuerdings Mode geworden, diese Freundschaft gering anzuschlagen; ob mit
Recht oder Unrecht, das mag hier unerörtert bleiben: jedenfalls schlüge sie der
.Kaiser Napoleon nicht gering an, und darum ist die Note mehr als ein blo¬
ßes Schriftstück, welches als schätzbares Material zu den Acten gelegt wird.
Viertens endlich gilt die Note uns. Wir haben uns gemüßigt gesehn,
der Turiner Regierung in einer Note, die viel correcter und eleganter geschrie¬
ben ist als die des Lord John, eine Vorlesung über das höhere Staatsrecht
zu halten. Lord John, in seiner Art ein Humorist, erzählt uns, daß er auch
de» Vattel gelesen hat, und theilt uns einige närrische Fragmente daraus
mit; dann aber fügt er hinzu, er habe eigentlich keine Zeit sich auf solche
Vorlesungen einzulassen, und erinnere sich nur aus den Erfahrungen des ge¬
meinen Lebens an den alten Spruch: daß, wer den Zweck wolle, auch dieje-
nigen Mittel wollen müsse, die allein dazu führen. Das ist ein Satz, den
unsers Wissens bisher noch Niemand bestritten hat, als Herr von Radowitz;
aber die trivialsten Satze sind grade die, auf welche man einen Deutschen
am meisten aufmerksam machen muß.
Wenn man diese Voraussetzungen erwägt, so wird man finden, daß das
Actenstück nicht leer ist. sondern wirklich etwas sagt. Die Engländer haben
in ihren Stnatsschristen eine andere Logik als wir. Es kommt ihnen gar
nicht darauf an, eine strenge Folgerichtigkeit zu beobachten, wenn nur im Ein¬
zelnen alles das gesagt wird, was gesagt sein soll.
Unzweifelhaft ist die Abfassung dieses Actenstücks durch die lächerliche
Geschichte mit dem Capitän Macdonald wenigstens beschleunigt worden. Das
wäre die eine gute Seite dieser Geschichte; sie bat aber noch einige andre.
Wie wir über den Lärm der englischen Presse denken, haben wir im vorigen
Heft gesagt, es wird uns verstattet sein, andererseits der preußischen Regie¬
rung gegenüber folgende bescheidne Bemerkung zu machen. Gesetze sind nicht
blos dazu dn, um auf dem Papier zu stehn, sondern um ausgeführt zu wer¬
den. Wenn ein Gesetz besteht, daß jeder Verhaftete innerhalb 24 Stunden
verhört werden soll, und daneben eine Praxis, die diesem Gesetz widerspricht,
so ist das nicht gut, und ein solcher Zustand bedarf dringend einer Abhilfe.
Schlimm genug, daß erst ein Fremder uns darauf aufmerksam machen muh.
Dann ist es auch zweckmäßig, daß der preußischen Regierung einmal un¬
umwunden gesagt wird, ihre europäische Politik errege nicht ungetheilten Bei¬
fall. Wir sind oft in der Stimmung, sie gegen unsere liberalen Freunde zu
vertheidigen, denn diese muthen ihr nicht selten Dinge zu, die sich widersprechen.
Es ist unter anderm ein thörichtes Verlangen, die preußische Regierung solle
alles was sie vorhat, auf dem Markt austrommeln lassen. Zuweilen ist Reden
gut und zuweilen Schweigen. Aber die preußische Regierung ist in ihrer Wahl
in letzter Zeit nicht immer glücklich gewesen: oft hat sie geredet, wo es besser
gewesen zu schweigen, und oft hat sie geschwiegen, wo ein lautes Wort nöthig
gewesen wäre.
Das Schweigen ist ein wichtiges Mittel der Überraschung. Man soll dem
Gegner nicht sagen was man vorhat, um nicht seinen Widerstand heraus¬
zufordern. Aber wenn man immerfort schweigt, so erregt man allmälig den
Verdacht, mau habe nichts zu sagen, und dieser Verdacht, gleichviel ob gegrün¬
det oder ungegründet, schadet dem moralischen Ansehn des Staats. Wir
wollen ein Beispiel anführen.
In der kurhessischen Sache hat Herr von Schlcinitz gegen den Bundes¬
beschluß Protest eingelegt; er hat den, Landtag gegenüber erklärt, er habe die
Folgen dieses Protestes nach allen Eventualitäten hin reiflich überlegt. Das
war ein großes Wort und würde unter andern Umständen völlig genügt haben.
Denn es wäre eine unsinnige Zumuthung. er solle angeben, durch welche
Mittel er seinem Protest Geltung zu verschaffen gedenke. Jenes Wort wäre
völlig genügend gewesen, wenn Preußen in dem Credit stände, daß dem Wort
die That folgt. Aber unter dem vorigen Ministerium war der einzig leitende
Gesichtspunft der preußischen Politik, bei allen Conflicten durchzuschlüpfen, um
keine Soldaten und kein Geld zu verlieren, und das neue Ministerium hat nicht
nur noch keine Gelegenheit gehabt, den Eindruck dieser Politik zu verwischen,
es hat nicht nur. grade in der kmhcssischen Sache, durch überlanges Schweigen
vor dem Publicum die Wirkung seiner übrigens gut geschriebenen Note an den
Bundestag abgestumpft, sondern es hat auch die Besorgniß erregt, als ob die
Note und der Protest nicht Mittel, sondern Zweck wären. Eigentlich schreibt
man eine Note doch nicht, um seinem Herzen Lust zu machen und damit einen
lustigen Gedanken von feiner Seele abzuschütteln, sondern man schreibt sie.
um . etwas damit zu erreichen. Nun hat aber die preußische Regierung so
häusig und so angelegentlich betheuert, sie wolle sich unter allen Umständen,
es möge kommen was da wolle, streng in den Schranken der Bundes¬
praxis halten, daß es ihr wirklich gelungen ist, nach allen Seiten hin die
Ueberzeugung von ihrer Aufrichtigkeit zu verbreiten. Nach allen Seiten
hin! Alle Welt sagt sich, — nicht blos das Publicum, sondern auch die Re¬
gierungen — Preußen wird sich streng an die bundesgcsetzlichen Schranken halten;
nun gibt es aber keinen bundesrechtlichen Weg, dem Kurfürsten von Hessen
gegen einen Bundesbeschluß zur Wiederherstellung der Verfassung von 1831
zu veranlassen; es gibt keinen bundesrechtlichen Weg, gegen den Bundesbeschluß
eine neue Bundeskriegsordnung durchzusetzen. — Es gehört keine übertriebene
Einsicht dazu, zu begreifen, daß diese allgemeine Ueberzeugung von der bundes¬
rechtlichen Gesinnung Preußens nicht sehr geeignet ist, die Wirkung seiner
Noten und Proteste zu verstärken, und daß es für den Zweck viel besser ge¬
wesen wäre, auch bei der loyalsten bundesrechtlichen Gesinnung, diese Gesin¬
nung wenigstens nicht an die große Glocke zu hängen.
Ein andrer Punkt. Seit dem vorigen Jahr hat sich, ursprünglich im
östreichischen Interesse, im Publicum die Ansicht verbreitet, der italienische
Feldzug sei nur das Borspiel zu einem Rheinfeldzug. Diese Ansicht des Publi-
cums hat sich dann der preußischen Regierung bemächtigt, und sie ist es noch
heute, welche ihre Politik bestimmt. Wir wollen nicht etwa den Glauben
aussprechen, diese Besorgniß sei ungegründet; wir finden es vielmehr ganz in
der Ordnung, daß Preußen die Gefahr scharf ins Auge faßt und auf die
Mittel bedacht ist, sie abzuwenden. Aber wir glauben nur. daß es kein sicher¬
eres Mittel gibt, das Eintreten dieser Gefahr und zwar unter den ungünstig¬
sten Umständen zu beschleunigen als die gegenwärtige Haltung Preußens.
Deal so laut, daß es fast wie Ostentation aussieht, drückt die Negierung
ihre Besorgnis und ihren Wunsch aus, eine Coalition gegen Frankreich zu
Stande zu bringen. Leidenschaften sind dock, immer mächtige Triebfedern
der Politik, und wenn der Kaiser Napoleon jetzt eine Leidenschaft hegt, so ist
diese wohl gegen Preußen gerichtet wegen seiner Haltung in den letzten
Monaten.
Man verzeihe uns noch eine triviale Bemerkung,
Eine Bundesgenossenschaft ist nur unter zwei Umständen denkbar. Ent¬
weder wollen beide Theile dasselbe, oder der eine leistet dem andern etwas,
um von ihm eine Gegenleistung zu empfangen. Ein drittes gibt es nicht.
Was Preußen von den andern Mächten zu begehren hat, liegt auf der
Hand: Fernhaltung des Auslandes in allen inner» Angelegenheiten Deutsch¬
lands und freies Spiel gegen Dänemark in den Herzogthümern. Es giebt
keine auswärtige Macht, welche dieselbe« Zwecke hätte: aus die erste Art der
Bundesgenossenschaft kann Preußen also unter keinen Umständen rechnen.
Weder Rußland, noch Oestreich, noch Frankreich, noch England ist etwas da¬
ran gelegen, Deutschland und in ihm Preuße» erstarken zu lassen, denn sie
finden ihre Rechnung weit mehr dabei, wenn Deutschland und i» ihm Preußen
schwach bleibt.
Es ist also für Preußen keine andere Bundesgenossenschaft denkbar als
diejenige, in welcher es den Beistand oder die Neutralität andrer Mächte
durch eine Gegenleistung erkauft. Ja erkauft! Das Wort ist sehr kaufmän¬
nisch, sehr wenig heroisch, noch viel weniger romantisch; aber die Kaufleute
haben den Vorzug der Nüchternheit, und neben der Fähigkeit, kühne und
durchgreifende Einschlüsse zu fassen, die freilich auch sehr wesentlich zur Sache
gehört, ist Nüchternheit in der Wahl der Mittel eine der wesentlichsten Be¬
dingungen einer gesunden Politik.
Bon diesem Standpunkt aus ergibt sich auch, was man von der zuwei¬
len auftauchenden Idee eines Bündnisses mit den mittleren Staate» z. B. mit
Schweden zu urtheilen hat. Preußen könnte sein Hab und Gut bis auf den
kleinsten Heller mustern, und es würde nichts finden, was es Schweden als
Gegenleistung bieten könnte.
Ganz anders steht es den Großmächten gegenüber. Es gibt große euro¬
päische oder vielmehr Weltfrage», i» denen Nußland, Frankreich. England,
Oestreich sehr wesentlich betheiligt sind, in denen Preußen selbst nicht das ge¬
ringste Interesse hat. bei deren Entscheidung es aber doch nicht umgangen
werden kann. Die gesunde Politik Preußens scheint uns nun folgende zu
sein: in diesen Fragen sichern wir demjenigen unsern Beistand, der uns sei¬
nen' Beistand oder seine Neutralität in unsern Angelegenheiten zusichert.
Entsetzlich nüchtern! und doch hat diese Politik in frühern Zeiten Preußen
groß gemacht. — Mit wahrem Leichtsinn hat Preußen 1854 die große oricn-
täusche Krisis versäumt; eine Conjunctur, die sie so günstig nicht leicht wieder
kommt. In der italienischen Krisis hat es den Fehler begangen, von vorn¬
herein jede Möglichkeit einer Alternative abzuschneiden. Freilich darf man
gegen das jetzige Ministerium nicht ungerecht sein. Denn die italienische Krisis
war schon seit mehren Jahren vorbereitet, und Bündnisse der obigen Art
lassen sich nicht improvisiren. Victor Emanuel hat das sehr gut verstanden;
aber noch immer herrscht in Preußen der Grundsatz der „freien Hand" d. h.
des AbWartens, bis der Conflict losgegangen ist. um dann gewissermaßen als
Schiedsrichter aufzutreten. Diese Politik hätte nur dann einen Sinn, wenn
Preußen stärker wäre als beide Betheiligten zusammen, da dieser Schiedsrichter
sich darauf gefaßt machen muß, daß sich beide zusammen gegen ihn wenden.
Und daß sie auch für den Starken bedenklich ist, wird Napoleon noch einmal
zu seinem Schaden erfahren.
Manche von unsern Erinnerungen wird man auch in den Blättern finden,
welche gegen Preußen feindlich sind, oder man wird es wenigstens zwischen
den Zeilen lesen; ausgeplaudert haben wir nichts, denn was wir gesagt,
weiß alle Welt; nur die preußische Regierung vergißt es zuweilen. Darum
halten wir es grade für nöthig, den Staat, dem wir mit Leib und Seele an¬
gehören, unsrerseits fortwährend daran zu erinnern, daß es nur von ihm ab¬
hängt, stark zu sein. Gesinnungen, wie diejenigen, die wir ausgesprochen, be¬
seelen unser ganzes Volk. Wir predigen keine sogenannte Verstandcspvlitit:
der Verstand allein kann niemals große Zwecke setzen, nur dem Verein von
Verstand und Gefühl ist es möglich. Was wir für uns, was wir für Deutsch¬
land erstreben, erfüllt unser ganzes Herz und wir sind jedes Opfers dafür
fähig. Aber der Verstand, unfähig, den Zweck zu setzen, muß die Mittel fin¬
den, und hier darf das Gefühl keine Stimme haben. Der beste Politiker ist
der Mann der vollen und großen Leidenschaft, der aber diese Leidenschaft be¬
herrscht und die Augen offen behält; der schlechteste Politiker ist derjenige,
dessen Gefühl sich nicht in einer Sache concentrirt, sondern das sich allent¬
halben vordrängt, wo es nicht hingehört.
Und von dieser Art sind manche von unsern wohlmeinenden deutschen
Freunden, die gleich uns Preußen im Grunde lieben, aber keine Gelegenheit
versäumen, es zu tadeln. Preußen wegen der Mittel, die es anwendet, zu
tadeln, hat aber nach unsrer Meinung nur derjenige das Recht, der sich sei¬
nes Zieles klar bewußt ist und mit seinem Herzen wie mit seinem Verstand
daran festhält. Nie oder fast nie wird der Angehörige eines andern deutsche»
Staats, auch wenn er zu unsrer Partei gehört, so empfinden wie wir Preu¬
ßen; er muß verschiedne Gefühle gegen einander abwägen, um endlich zu
einem Resultat zu kommen. Aber kommen muß er dazu, sonst hat er kein
Recht in der Politik mitzusprechen. Diejenigen unsrer deutschen Brüder, die
ihre Zusammengehörigkeit mit dem. deutschen Oestreich so stark empfinden, daß
sie dieser Rücksicht jede andre opfern, tadeln wir deshalb nicht; wir ehren
jede echte Ueberzeugung; nur müssen sie nicht dies zugleich wollen und das
Entgegengesetzte, sie müssen nicht, um eine alte Reminiscenz von 1848 anzuwen¬
den, die Republik wollen mit dem verstorbenen Großherzog an der Spitze.
Wenn Preußens Freunde oft Gelegenheit finden, sich über den Staat
ihrer Liebe zu beklagen, so hat Preußen nicht weniger gerechten Grund, sich
über seine Freunde zu beklagen. Es hat manches versäumt, aber es hat
auch einiges gethan, und sür dieses nicht die ausreichende Unterstützung ge¬
funden. Wir wollen hier die Bundeskriegsverfassuug nicht erwähnen, weil
wir uns denken können, daß der preußische Ausweg das Gefühl nicht überall
befriedigt. Aber es gibt eine andre Frage, in der das Gefühl jedes ehrliche»
Deutschen nicht irren kann.
Wir haben oben die Besorgnis; ausgesprochen, daß es in der kurhessischcn
Frage dem preußischen Ministerium schwer werden dürfte, seine verschiedenen Rück¬
sichten mit einander zu vereinbaren. Es liegt aber in der Hand des deutschen
Volks, ihm diese Lage zu erleichtern. Der Widerstand der deutschen Regie¬
rungen geht nicht aus einem Mangel an Sympathie für das hessische Volk,
sondern nur aus der Besorgniß hervor, Preußen werde diese Frage zu seinen
Sonderzwecken ausbeuten. Die meisten unsrer deutscheu Staaten werden so
gut regiert, daß sie keine Vergleichung zu scheuen haben. Wir führen nur
Sachsen an. In Bezug auf das höhere Versassungsleben läßt es sehr viel zu
wünschen übrig; im übrigen leben die Einwohner zufrieden und glücklich.
Gern würde die sächsische Regierung den Kurhessen, deren Haltung über alles
Lob erhaben ist, dasselbe Glück zu Theil werden lassen, das diese nach den
Erfahrungen dieses Jahres nur in der Rückkehr zum alten Rechtssystem finden
können, wenn nicht die vorhererwähntc Rücksicht sie hinderte. An der sächsi¬
schen Kammer ist es nun, die Regierung daran z» erinnern, daß diese Frage
keine preußische, sondern eine deutsche ist; daß es sich gar nicht darum han¬
delt. Preußen irgend einen Vorsprung zu lassen, sondern an einem wunden
Fleck Deutschlands eine Heilung herbeizuführen, deren längere? Ausbleiben
unsrer allgemeinem deutschen Zustände in Gefahr setzt. Wenn alle Landtage
der deutscheu Staaten sich in diesem Sinn aussprechen, so roird auf ganz fried¬
lichem und ganz gesetzlichem Weg eine Versöhnung angebahnt, deren Folgen
sich viel weiter ausdehnen als über die engen Grenzen des Kurfürstenthums. —
So wüßten wir denn nun, worauf man mit den Untersuchungen wegen der Adres¬
sen an die Stände eigentlich abzielte. Es war den Dänen nicht so wohl, um eine Be¬
strafung mißliebiger Manifestationen der Volkswünsche, als darum zu thun, eine pas¬
sende Gelegenheit zur Verminderung der Zahl patriotischer Wühler zu finden. Die
Untersuchungen haben diese Gelegenheit gegeben, man hat sie mit Absicht so weit hinaus¬
gezogen, damit keine Freisprechung erfolge, bevor die Wahlen vorüber sind; aber das
kleinliche Mittel wird schwerlich von Bedeutung für das schließliche Ergebniß der Wahlen
sein. Man hat unter Andern in Schleswig gegen 200 Bürger, die bei der Adressenan-
gelegenhcit betheiligt sind, von den Wählerlisten gestrichen, obwol wider sie noch gar
kein Erkenntniß ergangen ist. In Eckernförde sind durch die Willkür der Dänen etwa
100 Bürger ihres Wahlrechts verlustig gegangen. In dem seiner patriotischen Haltung wegen
im ganzen Herzogthum bekannten Flecken Hoher an der friesischen Westküste, dessen Vertreter
Brantweinbrenner Mathießen in allen Fragen mit der deutschen Majorität der Stände
stimmte, hat man noch radicaler durchgegriffen und alle Wähler ihres Rechts beraubt.
Wie wenig man sich dabei an die öffentliche Meinung kehrt, oder wie sehr man
sichs vielmehr angelegen sein läßt, sie zu reizen, ersieht man daraus, daß auch Thomsen
von dem Wahlcollegium seines activen und passiven Wahlrechts verlustig erklärt wor¬
den ist. Rathmann Thomsen von Oldcnswort in Eiderstedt war bekanntlich einer der
drei Führer der Deutschen im flensburger Ständesaale, er galt für den tüchtigsten
Charakter und das beste parlamentarische Talent unter sämmtlichen Abgeordneten, er
hat im Reichsrath zu Kopenhagen energisch das Landesrecht Schleswigs vertreten und
noch voriges Jahr erklärt, daß er den Reichsrath seit dem Austritt der Vertreter Hol¬
steins und Laucnburgs nicht mehr für zu Recht bestehend betrachte. Die Dänen wollten
ihn damals hinaus maßregeln, indeß scheiterte die Absicht an den Resten von Rechts-
sinn, die sich die Versammlung bewahrt hatte. In Schleswig kennt man diesen An¬
stand nicht. Der Mann wird für unfähig zu wählen und gewühlt zu werden erklärt,
weil er — im Jahre 1849 eine Adresse an die Landesverfassung unterschrieben hat.
Daß inzwischen eine Amnestie ergangen ist, daß Thomsen bisher durch jenes Vergeh»
nicht verhindert wurde, seine staatsbürgerlichen Rechte auszuüben, daß er sechs Jahre
als Abgeordneter wirkte und zugleich Reichsrath war, kümmert die dänische Logik nicht.
Die Ordre des Mufti, das von Mihir als Rechtsgrund ist hier an der Tagesordnung.
Uebrigens wird den Dänen alles nichts helfen. Die nächste Ständeversammlung
wird so deutsch wie die vorige sein und sehr wahrscheinlich einen bessern Präsidenten haben.
Ihre Schilderung des Betragens unscrsPolizeimcisters beim Bcgrübniß Gcrkcs ist noch viel
zu glimpflich, indeß ist es besser, zu wenig als zu viel zu sagen. Reinste doch schon die
Hälfte dessen, was hier geschieht, anderwärts aus, das Volk zur Verzweiflung zutreiben.
Heiberg hat noch keine Resolution ans seine seit dem 23. Juni beim Ministerium
eingereichte Beschwerdeschrift über die Entscheidung des gvttorfer Amthauses. daß seine
Buchhandlung ungeachtet der entgegenstehenden Verfügung des Appellationsgerichts vom
6. März d. I. geschlossen bleibe, bis die endliche gerichtliche Entscheidung erfolgt sei, ob er
sein Geschäft fortsetzen dürfe. Diese Sache ruht nun schon vier volle Monate, und nie¬
mand wird jetzt noch in Abrede stellen wollen, daß es von vornherein aus den Ruin Hei¬
bergs abgesehn war. Es heißt, ein dünischer Buchhändler werde sich jetzt hier niederlassen
und zwar solle derselbe jährlich tausend Reichsthaler Subvention von der Regierung
erhalten, da er es ohne diese Beihilfe nicht wagen wolle. (Vielleicht thäte es auch ein dü-
nischgesinnter deutscher Bibliopole, z.B. einer von den Herrn der Firma Adler u. Dietze in
Dresden, die, nachdem sie sich durch die dünenfreundliche ungewittcrschc Geographie einen
wenig beneidenswerther Ruf erworben, im vorigen Sommer die Stirn hatte, nicht blos
Heiberg, dem schwerbedrüngten Patrioten den weitern Kredit zu verweigern, sondern da¬
ran auch ihr Bedauern zu knüpfen, „daß eine neue Handlung, statt sich mit ganzer Seele
Daß die orientalische Frage mit dem pariser Frieden nicht gelöst wor¬
den, ist eine Wahrheit, die wol schon beim Abschluß jenes Vertrags Wenige
leugnen mochten. Wer absichtlich dagegen die Augen verschloß, mußte durch
das wiederholte Wetterleuchten des Alttürkenthums in Dschiddah und Stam-
bul, durch das laute Grollen des Hcllcnenvolks auf Kandia und den Mi¬
schen Inseln und durch das unablässige Zucken und Aufflackern der Slaven-
stännne von den schwarzen Bergen der Tschernagorzen durch Bosnien bis über
die Donau hinaus aufmerksam gemacht werden, daß die Luft hier noch mit
denselben Gewitterdünsten, der Boden mit denselben vulkanischen Gewalten
schwanger ist, die vor dem letzten Kriege dem Reiche des Sultans den Unter¬
gang drohten. Wer auch über diese Erscheinungen wieder Beruhigung fand,
den mußten die Ereignisse in Syrien und die gleichzeitig erfolgenden Anträge
Fürst Gortschakoffs wecken, welche letzteren eine Untersuchung der Zustände
unter den christlichen Unterthanen Abdulmedschids verlangten. Wessen Be¬
fürchtungen endlich durch die Maßregeln, welche auf jene Ereignisse und diese
Anträge hin getroffen wurden, beschwichtigt wären, der würde sich ebenfalls
schwerer Täuschung hingeben.
Es ist wahr, die Uebelthäter in Damaskus sind mit einer seit dem Re¬
gierungsantritt des jetzigen Sultans beispiellosen Energie, einer unerhörten
Rücksichtslosigkeit bestraft worden, und in Rumelien hat man den Grvßwessir
umherreisen lassen, um die verlangte Untersuchung vorzunehmen und die Mi߬
bräuche, über die geklagt wurde, abzustellen. Der Papst des Türkenthums ist,
wie immer, gegen die Forderungen der Mächte nachgiebiger gewesen, als der
Sultan des Ultramontanismus. Er hat nicht geantwortet! non poskmrm»,
Aber das Resultat des guten Willens in Stambul wird ganz dasselbe sein,
wie das. welches in Rom und an andern italienischen Höfen der üble Wille
der Fürsten hatte: es wird bis auf. Weiteres im Wesentlichen beim Alten
bleiben. Hier wie dort sind es eben nicht die Personen mehr, welche die
Dinge, sondern die Dinge, welche die Personen beherrschen. Hier so wenig
wie dort ist noch mit bloßen Reformen zu helfen. Hier aus der illpnschen
'
Halbinsel kreuzen sich noch weit mehr, wie dort auf der italischen, die Inte¬
ressen und Tendenzen der auswärtigen Mächte.
Was Oestreich bis 1859 in Bezug auf Italien war, das ist in gewissem
Sinn Rußland für das Gebiet zwischen der Donau und dem Schwarzen und
Asiatischen Meer, nur daß es sich nicht so sehr an den Fürsten, als an die
Völker wendet und so die Rolle Sardiniens zu spielen scheint. Was letzteres
für die westliche Halbinsel gewesen ist. das sollte und das könnte unter gün¬
stigern Umständen das Königreich Hellas für die östliche sein. Die Pforte
ist im Voraus gerichtet, wie einst Rom und Neapel, und sie wäre schon ver¬
loren, wenn die Dinge ganz so einfach lägen, wie in den italienischen
Staaten.
Unser Vergleich trifft, wie angedeutet, nur bis zu einem gewissen Grade
das Thatsächliche. Sardinien war, als es den Krieg für die Einheit Italiens
begann, eine starke Mittclmacht mit einem energischen König, einem kühnen
und klugen Minister und mächtigen Gönnern. Es hatte Staaten vor sich,
deren Volker durch die Sprache bereits geeinigt waren, und in deren Leben
der Geist der Städte überwog, der für höhere Ideen immer empfänglicher ist,
als der des platten Landes. Hellas ist ein Kleinstaat, der zwar, wie schon
der byzantinische Adler auf seinen Kanzeln zeigt, ähnliche Wünsche und Hoff¬
nungen wie Sardinien seit 1848, aber keinen Cavour und keinen Victor Ema-
nuel hat. Ein Revolutionskrieg ferner würde hier, wenn er zum Siege führte,
aller Wahrscheinlichkeit nach trotz des Einigungsmittcls, welches in dem ge¬
meinsamen Glauben der Stämme auf der illyrischen Halbinsel gegeben ist, kein
großes einiges Reich, sondern mindestens zwei, ein hellenisches und ein sla¬
visches, zur Folge haben. Der größte Theil jener Stämme sodann besieht
aus Bauern, die sich zwar gern für Abschaffung drückender Steuern und für
eine Beute von Türkenköpfen schlagen würden, nicht aber für die Idee der
Wiederherstellung des Byzantinerreichs. Während endlich zur italienischen
Frage die Westmächte bisher im ganzen dieselbe Stellung einnahmen, Eng¬
land, wie es scheint, in dem sichern Glauben, seine Interessen dadurch zu för¬
dern, Frankreich zuletzt, wie man denken sollte, nothgedrungen, gehen ihre
Wege in Bezug auf die türkische von vornherein anseinander. War England
dort gegen Oestreich und für ein starkes Italien, das ihm in Zukunft als
Gegengewicht und Bundesgenosse gegen ein etwaiges Uebergreifen Frankreichs
im Mittelmeer dienen kann, so verfolgt es hier — ob mit Recht, lassen wir
dahingestellt — dieselbe Politik wie Oestreich. Wie dieses in erster Linie
überhaupt ,keine Umgestaltung der Karte Europas, dann keine russischen Er¬
werbungen an seiner Südgrenze und ebenso wenig ein starkes Serbenreich
wollen kann, dem mit der Zeit ein Theil seiner Besitzungen zufallen
würde, so sieht England lieber eine schwache Türkei, als irgend eine po-
litische Neuschöpfung, welche im Verlauf der Jahre soweit erstarken konnte,
daß sie der britischen Flotte die Herrschaft in der Osthälfte des Mittelmeers
und im Schwarzen streitig zu machen vermochte, und noch weniger gern na¬
türlich eine Ausbreitung der russischen Macht über die Küsten dieser Gewässer
und deren Hinterkante. Daher sein Auftreten nicht blos gegen die Russen,
sondern auch gegen die Griechen, die nächsten Erbberechtigten bei einem Ver¬
scheiden der Türkei.
Ganz anders liegen die Dinge für Frankreich. Frankreichs Interesse hat
mit der Erhaltung der Türtcnherrschaft in Europa nichts zu thun, und wäh¬
rend es in Italien gegen Oestreichs Weitergreifen kämpfte, scheint es sich den
Bestrebungen Rußlands auf der illyrischen Halbinsel nur deshalb nicht offen
beizugesellen, weil es vorläufig noch nicht mit England brechen will. Seine
Tendenz ist, am Mittelmeer immer mehr Fuß zu fassen, so wie bisher im
Westen von Aegypten, der Straße nach Indien, auch im Norden. Es hat
sich Freunde in den Schwarzen Bergen an der Adria wie in den Maroniten
des Libanon erworben, wo seine Fahne, wie uns soeben berichtet wurde, statt
der stipulirten sechs Monate, zwei Jahre und sehr wahrscheinlich länger, viel¬
leicht so lange wie einst in Ancona und jetzt in Rom wehen wird. Es ist
in Alexandrien und Kairo von Mehemed Alis Zeit her besser angesehen als
England. Es hat einen Borposten in Tunis. Es gilt allen Katholiken des
Orients als ihre oberste Schutzmacht. Es kann, wenn es sich hütet, durch
fernern Eigennutz gegen den Nationalwillen der Italiener zu verstoßen, ver¬
mittelst seiner neu gewonnenen Stellung in den Alpen und seiner Garnison
in Rom bei einem etwaigen Zusammenstoß der Interessen in nächster Zukunft
den Engländern die Freundschaft Italiens streitig machen. Nicht undenkbar
ist, daß Kaiser Napoleon nach gebührendem Studium der griechischen Frage
den Versuch unternimmt, den Russen die Freundschaft der fünf Millionen in
Hellas und der Türkei lebenden Griechen abzugewinnen, seine Rolle als Be¬
freier der Nationalitäten auch auf diese rührige und intelligente Rasse auszu¬
dehnen, und ein starkes Königreich Hellas zu schaffen, das ihm bei Ver¬
folgung weiterer Pläne zu Diensten stünde. Der Freund Italiens und
Griechenlands, der Inhaber von politischen Commanditen in Montenegro,
Syrien, Aegypten und Tunis, der Schutzherr der Römisch-Katholischen im
Orient dürste es dann recht wol wagen, vor England die Maske abzuwerfen
und, Rußland mit der Osthälfte der europäischen Türkei und dem Schwarzen
Meer abkaufend, sich des arabisch redenden Theils des Reichs der Pforte
vom Nil bis an den Euphrat und den Taurus zu bemächtigen.
Preußen, die fünfte Großmacht, hat, seit die Pforte in Marasmus ver¬
sallen ist. kein directes Interesse an der orientalischen Frage. Sein Handel
wird von ihr so gut wie nicht berührt. Seine Stellung in Jerusalem ist
eine Spieleroi. ein romantisches Kunstproduct. Es hat lediglich dahin zu scheu,
daß, wen» einmal die Türkei getheilt ivird, das europäische Gleichgewicht nicht
Störung leide, daß ihm also für diesen Fall eine passende Entschädigung,
die uicht fern zu liegen braucht, zugestanden werde. Durchaus nicht
unbedingt nothwendig wäre dabei, mit England und Oestreich zu gehen.
Auch mit Frankreich und Rußland würde sich hier ein gutes Uebereinkommen
erzielen lassen, und wenn — was zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber immer¬
hin möglich ist — im Cabinet der Tuilerien beschlossen sein sollte, nach der
italienischen statt der Rheinfrage die orientalische wieder auf die Tagesordnung
zu bringen, so ließe sich vielleicht durch bloße Neutralität schon, sicher aber durch
thätige Parteinahme jene für immer aus den Gedanken des Kaisers verbannen
und außerdem nützlicheres und Annehmbareres gewinnen, als von dem reichen
Onkel der „Times", der jetzt gegen uns den hochmüthigen Geldprotzen spielt.
Lassen wir indeß die Zukunft und die Conjecturen, und halten wir uns
einfach an die Gegenwart und die Thatsachen. Hier stehen zwei Dinge im
Vordergrund: die Ereignisse in Syrien und die Untersuchungsleise des Groß-
wessirs in Rumelien. Betrachten wir dieselben nach einander.
Der Libanon ist von zwei verschiedenen Völkerschaften bewohnt, den Ma-
roniten, einer Seele, die in den Hauptglaubenspuukteu zu der rönnsch - katho¬
lischen Kirche gehört, und den Drusen, welche als eine Sekte des Islam be¬
zeichnet werden können. Von Anfang dieses Jahrhunderts bis 1832 wurde
der Libanon von der christlichen Familie schabab regiert, die zum Sultan im
Verhältniß eines Vasallen stand. Im genannten Jahre eroberte Mehemed Ali
ganz Syrien und behielt es bis 1839. Unter seiner Herrschaft blühte das
Land, die Streitigkeiten der Stämme und Sekten ruhten, die Eliristen genossen
sichern Schutz, die Moslemin wie die Drusen, die Naubsucht der Beduinen wie
der Fanatismus der Städtebewohner wurden mit starker Hand im Zaum ge¬
halten. Hauptsächlich durch Englands Bemühen, welchem die Erhaltung des otto¬
manischen Reiches allem Andern voranging, kam Syrien wieder uuter die Herrschaft
des Sultans. Indeß war die neue Anordnung der Dinge im Libanon uicht
uach den Wünschen der Pforte. Dieselbe verlangte hier direct zu herrschen,
man zog es aber vor, die Drusen und die Maroniten unter eingeborne Häupt¬
linge zu stellen, die den Titel Kaimakam führen und dem Pascha von Beirut
untergeordnet sein sollten. So waren von vornherein zwei rivalisircnde Par¬
teien geschaffen, die nicht verfehlten, ihre Nebenbuhlerschaft dnrch unablässige
Friedensbrüchc und Gcwaltthätigkeitenzu^äußern, undvondenen die einevorzüglich
von England, die andere von Frankreich unterstützt wurde, während die Politik der
türkischen Regierung darauf gerichtet war, auf die eine oder die andere Weise ihre
Absicht, das Land unter ihre trente Autorität zu bekommen, doch noch zu er¬
reichen. Ob Churschid Pascha, der letzte Gouverneur von Beirut, dahin zia-
lente Weisungen hatte, wissen wir nicht. Sicher ist, das, er so handelte. Es
gelang ihm. die Stämme gegen einander zu Hetzen. Unter den Christen schürte
er Unzufriedenheit mit ihren Häuptern an, während er diese doch schließlich
aufrecht hielt. Dir Drusen regte er durch seine Unterbeamten gegen ihre ma-
rvnitischen Nachbarn auf. Nach den neuesten Berichten ist kein Zweisel, dnß
die türkischen Behörden im Libanon Mitschuldige bei der Verfolgung der Christen
waren. Achwed Pascha in Damaskus, Osman Bey und manche andere haben
zu offen gehandelt, als daß ihr böser Wille hätte verkannt werden können, und
so sind sie zum großen Theil schon bestraft worden. Mit Churschid Pascha,
dem Hauptschuldigen, stand es anders, da er vorsichtiger verfahren war.
Die Schritte, welche zu thun sind, um das Geschehene gut zu machen,
sind nur zum Theil klar vorgezeichnet. Man hat Massen von christlichen Frauen
entführt, Städte niedergebrannt, ganze Dörfer zur Annahme des Islam ge¬
zwungen, Kirchen geschändet und weite Pflanzungen verwüstet. Die Frauen
müssen zurückgeschafft, die Städte auf Kosten der Mordbrenner wieder aufge¬
baut, die zum Islam gcnöthigtcu Dörfer dem Christenthum wiedergegeben,
alles geraubte Eigenthum muß den Betreffenden zurückerstattet werden. Man
kaun die Todten nicht aufwecken, aber man muß die Ueberlebenden vor einer
ähnlichen Katastrophe schützen, ihnen Bürgschaften für ihr Leben und ihren
Besitz ertheilen. In letzterer Beziehung wirb die Pforte ihren alten Plan einer
directen Herrschaft über Drüsen und Maroniten wieder geltend machen. Aber
darein wird Frankreich niemals willigen. Französisches Geld setzte die Ma¬
roniten in den Stand, sich den Grad von Cultur und Wohlstand anzueignen,
dem der Ueberfall dieses Jahres plötzlich ein Ende nackte. Ais Tausch für
das französische Kapital, das ihnen vorgestreckt worden, verkauften sie ihre
Seide, das Hauptproduet des Libanon, zu festgesetzten Preisen um die Kaufleute
von Marseille und Lyon. Jetzt ist die Mehrzahl ihrer Döcfer und ihrer Maul-
beerbäume zerstört, und wenigstens vierzig Millionen Francs französischen Ka¬
pitals, die auf diese Weise' angelegt waren, sind verloren gegangen. Kaiser
Napoleon wird sorgen, daß eine stärkere Hand und ein besserer Wille, als bis¬
her eine Wiederkehr dieses Bandalismus unmöglich macht. Wir glauben nicht,
daß er Abdelkader dazu ersehen hat. Wahrscheinlicher ist, daß er zuletzt den
Antrag stellen wird, den Vicekönig von Aegypten mit dem Paschalik von Sy¬
rien wieder zu belehren, so daß vorläufig die Hauptläuder der arabisch reden¬
den Hälfte des ottomanischen Reichs unter dessen Botmäßigkeit kämen, womit
einerseits ein Freund Frankreichs, ein künftiger Basalt gestärkt, andrerseits der
Anfang mit der Anwendung des Nationalitätsprincips auf den Orient gemacht
wäre. Später ließe sich dann das Werk vollenden, die Türkenherrschaft aus
Kleinasien beschränken, die Grenzen des Königreichs Hellas erweitern und in,
Norden der europäischen Türkei die Entstehung eines serbischen Reichs begün-
feigen. welches ein brauchbarer Bundesgenosse gegen Oestreich sein würde.
Läßt man die Herrschaft der Psorte in Syrien bestehen, so wird man anch
das Verbleiben der Franzosen im Libanon gestatten müssen, gegen das Rußland
nichts einwenden wird, Oestreich nichts einwenden kann. Es würde, dünkt uns,
gut gewesen sein, wenn auch England Truppen nach Beirut oder Akko gesandt
hätte, aber es scheint, daß die britische Regierung wie die britischen Kaufleute
diesen Theil des ottomanischen Reiches gänzlich dem französischen Unterneh¬
mungsgeist überlassen wollen.
Wir kommen zu der Reise des Großwessirs in der europäischen Türkei,
wobei wir einem Artikel in „Macmillcms Magazine" (Oktobcrheft d. I.) aus¬
zugsweise folgen. Die Lage der christlichen Unterthanen des Sultans hat sich
in den letzten Jahren in manchen Beziehungen verbessert. Die Kopfsteuer ist
abgeschafft worden. Sie sind nicht mehr genöthigt, gleich den Juden des deutschen
Mittelalters zum Unterschied von den Rechtgläubigen eine besondre Tracht: schwarze
oder dunkelblaue Turbane zu tragen. Wie der fränkische Hut nicht mehr dem türki¬
schen und arabischen Städtcpöbcl als Zielscheibe von Kothwürfen dient, den Christen
nicht mehr nur auf Eseln, sondern auch aus Pferden zu reiten gestattet ist, so sind
auch andere Beschränkungen, Herabwürdigungen und Plackereien dieser Art außer
Gebrauch gekommen. Die officiellen Schriftstücke belegen die Ungläubigen nicht
mehr mit Schimpfname» wie Gjaur und Kasir. Die Behörden erheben mahl mehr
Schwierigkeiten, wenn es die Erbauung einer Kirche gilt. Noch viel größere
Vortheile stehen auf dem Papier der verschiedenen Hattischeriss und Hattihu-
mayums, welche die Noth der Gegenwart dem Padischah und seinen Räthen
abdrang. Würden alle diese Proklamationen buchstäblich, würden sie in dem
Geist, der sie dictirte, befolgt, so wäre die Reform eine ungeheure zu nennen.
In der Theorie find alle Classen der Unterthanen Abdulmedschids fast ganz
gleich vor dem Gesetz, gleich berechtigt und gleich verpflichtet. Daß sie es auch
in der Praxis seien, wird selbst der eifrigste Vertheidiger türkischer Verwaltung
nicht zu behaupten wagen. An den Küstenorten und in einigen Hauptstädten,
wo Europa den Behörden in die Karte sieht, sind die Christen wohl geschützt,
ja wenn sie die Protection der Konsuln nachsuchten, oft besser als die Gläu¬
bigen. Im Innern dagegen herrscht allerwärts noch die alte Willkür und der
alte Druck, und in vielen Bezirken hat man noch nicht einmal gewagt, jene
Proklamationen zu Gunsten der Ungläubigen zu verlesen.
Das türkische Reich bedürfte vor Allem eines guten Gesetzbuches. Der
Koran, nach dem alle Prozesse entschieden werden, paßt auf die veränderten
Verhältnisse nicht mehr, die Halts, welche seine Bestimmungen in Bezug auf
die Christen mäßigen, sie mit den Ansprüchen Europas ausgleichen sollten, sind
in den Provinzen entweder nicht bekannt oder von der Praxis der Richter nicht
gebührend anerkannt. Dazu kommt die unvollkommene Einrichtung der Gerichts-
Höfe. In der Türkei werden alle öffentlichen Geschäfte durch Kollegien oder
Rathsversammlungen (Medschlis) abgemacht. Es gibt Medschlis für die ein¬
zelnen Städte und Dörfer, für die einzelnen Bezirke, für die einzelnen Pro¬
vinzenMedschlis für die verschiedenen Geschäftszweige, für Criminal- und'
Handelssachen u. s. w. Nun aber sind diese Kollegien in allen Orten, wo
Moslemin und Christen zusammen wohnen, immer so zusammengesetzt, daß
die Mehrheit der Mitglieder aus Mohammedanern besteht, die ihre Vorurtheile
und Vortheile vertreten und ihren privaten Neigungen gemäß Recht sprechen,
ohne persönlich dafür verantwortlich zu sein. Die christlichen Beisitzer sind in
der Regel bloße Ziffern. Sie lassen sich entweder gleich den übrigen bestechen
oder werden von diesen überstimmt.
Ein anderer Grund zur Klage liegt in der Art der Besteuerung. Bedarf
der Finanzminister eine Summe, dre nicht in der Kasse ist, so ersucht er einen
der Kapitalisten in Konstantinopel darum, indem er ihm als Mittel der Rück¬
zahlung die Erhebung der Steuern in der oder jener Provinz auf einige Zeit
zugesteht. Der Kapitalist will aber nicht blos sein Geld, sondern zugleich die
höchsten Zinsen, bis zu zwanzig, ja dreißig Procent, die Gehalte für seine
Einnehmer und die Geschenke erstattet haben, welche er den Paschas und den
Vaschchatibs für die Hülfe zu entrichten hat, die er bei dem Geschäft bedarf.
Zöge die Regierung des Sultans die Steuern auf die in civilistrten Ländern
übliche Weise ein, so würden sich die Kosten im schlimmsten Fall auf ein
Drittel der zu erhebenden Summe belaufen (in England betragen sie nur 8,
in Frankreich 14, selbst in dem nachlässig und nach Gunst verwalteten Kirchen¬
staat nicht mehr als 31 Procent); bei dem in der Türkei beliebten System
dagegen müssen, um eine Million Piaster in den Staatsschatz zu bekommen,
den Steuerpflichtigen mindestens zwei, bisweilen drei Millionen abgepreßt
werden. Läge diese Last auf allen in gleicher Vertheilung, so gehörte die
Thatsache nicht in unsern Zusammenhang. So aber ist das Eigenthum der
Christen gewöhnlich um ein Drittel höher geschätzt, als das der Moslemin,
und bei der Zusammensetzung der Medschlis ist um eine Abhülfe dieses Mi߬
standes nicht zu denken. Beklage man sich, wie in den letzten Jahren von
Bosnien aus wiederholt geschah, in Konstantinopel, so läuft man Gefahr,
von den Unterbehörden dafür gestraft zu werden. Gerechtigkeit wird dadurch
nicht erlangt.
Ferner begünstigen in mehrern Districten, namentlich in den ackerbauenden
die Medschlis eine Art Trucksystem in Bezug auf das Verhältniß mohamme¬
danischer Landeigenthümer zu der christlichen Bauernschaft, welche letztere da-,
durch in Zustände gerathen ist, die sich von der Sclaverei nicht mehr unter¬
scheiden, als die Leibeigenschaft in Rußland. Wenigstens kommt es ganz wie
hier auch in der Türkei in manchen Gegenden vor, daß der Preis der Land-
guter nicht durch deren Ausdehnung und nicht durch die Güte des Bodens,
sondern durch die Zahl der auf denselben lebenden Bauern bestimmt wird.
Ungemein viel sodann haben die Christen in der Provinz von der primi¬
tiven Praxis zu leiden, nach welcher die Soldaten des Sultans da, wo keine
Kasernen sind, durchaus auf Kosten der Gegenden leben, welche sie durchziehen.
Das Militär ist unregelmäßig besoldet, die Verpflcgnngsanstalten sind, die in den
Hauptstädten ausgenommen, schlecht. Die Bataillone und Schwadronen müs¬
sen in der Regel selbst sehen, wie sie zu Nahrung und Kleidung kommen, und
gleicht unter so bewandten Umständen ein Heereszug gewöhnlich einer feind¬
lichen Invasion, so leiden natürlich die Christen in den betreffenden Strichen
am meisten, da von mohammedanischen Soldaten nicht erwartet werden kann,
daß sie sich in gleicher Weise an ihre Glaubensgenossen wie an die Gjaurs
halten. Christliche Häuser und Dörfer sehen nach solchen Zügen Trümmcr-
stättcn ähnlicher als bewohnten Orten. Damit hängt zusammen, daß die
Baschibosnks, die als Landgendarmerie dienen, ausschließlich zu Christen ins
Quartier gelegt werden, und daß Couriere, fremde Reisende, die ein Teskcreh
oder einen Fernau haben, und Regierungsbeamte, wenn sie auf ihren Sen¬
dungen auf dem platten Lande übernachten müssen, stets auf Kosten von
Christen untergebracht werden. Von einer Entschädigung dafür ist selbst¬
verständlich niemals die Rede..
Der mächtige Schutz, dessen sich die römisch-katholischen und die Gemeinden
der orthodoxen Kirche erfreuen, hält die Unduldsamkeit der Moslemin von
Verletzungen und Schändungen der gottesdienstlichen Gebäude ihrer christlichen
Nachbarn ab. Aber die Ereignisse in Damaskus und dem Libanon haben
gezeigt, wie wenig dieser Schutz für das Innere ausreicht. Nur die religiöse
Unduldsamkeit des Volkes nöthigt die Negierung, von einer Einreihung der
Christen in das Heer abzusehen. Die Pforte legt den christlichen Missionären
nichts in den Weg, sie sieht es gern, daß die katholische wie die protestantische
Kirche unter Griechen und Armeniern Seelen zu erobern sucht, da die Neben¬
buhlerschaft der christlichen Secten eine Ursache der Schwäche für diese und
der Stärke für die Negierung ist. Mohammedaner werden selten bekehrt,
hanptsiichlich deshalb, weil der Koran auf Abtrünnigkeit den Tod setzte, eine
Strafe, die noch 1853 in Adrianopel an einem zum Christenthum über¬
getretenen Türken vollzogen wurde, jetzt aber der Praxis gewichen zu sei»
scheint, die Schuldigen einznkerkern oder zu verbannen. Fast ebenso selten
kommen gewaltsame Bekehrungen christlicher Männer zum Islam vor, da sie zu
viel Aufsehen machen und die Einsprache der Gesandtschaften hervorrufen
würden. Sehr häusig dagegen sind Entführungen christlicher Mädchen, ja
dieselben werden von den Behörden vieler Districte sogar dnrch allerlei Mittel
begünstigt. In Albanien pflegt man die Entführer bei der Besetzung von
Regierungsposten besonders zu berücksichtigen. In Bulgarien beschwichtigt
man die Einsprüche der Eltern von christlichen Mädchen, die durch Entführung
für den Islam gewonnen werden, dadurch, daß man ihnen bei der Be¬
steuerung gleiche Rechte mit den Moslemin einräumt. In Monastir werden
Türken, welche Christinnen entführen und zur Annahme des mohammedanischen
Glaubens überreden, von der Militärpflicht befreit.
Während des Krimkriegs ließ Sales Paschas, der Gouverneur von Varna,
die Tochter eines vornehmen Christen in Tultscha in seinen Harem schleppen,
und als der Vater des Mädchens dessen Rückgabe verlangte, wurde er ins
Gefängniß geworfen und sein Vermögen eingezogen. Die Sache machte Auf¬
sehen, die englischen Behörden mischten sich ein, aber das nächste Ergebniß
war, daß nach einigen Tagen die Leiche der Verschwundenen aufgefunden wurde.
Sales Pascha wurde nun abgesetzt und zur Untersuchung nach Konstantinopel
abgeführt, der Vater seiner Haft entlassen. Sein Vermögen erhielt er nicht
wieder, und der Pascha lebt noch jetzt ruhig in der Hauptstadt, ohne auch nur
zum Schein einer Untersuchung unterworfen worden zu sein.
Aehnliche Fälle kommen im Innern Rumeliens oft vor, und die Behörden
benehmen sich dabei auf die unverantwortlichste Weise. Das Gesetz will, daß,
wenn ein solcher Fall zur Anzeige gelangt, das entführte Mädchen bis zur
Entscheidung der Sache unter die Obhut des Oberhaupts der Secte gestellt
werde, zu welcher die Eltern gehören. Dies geschieht aber nur, wo europäische
Konsuln über die Befolgung des Gesetzes wachen. Im Innern bringt man
das Mädchen vor das Medschlis, wo sie über ihre Religion befragt wird.
Sagt sie: Mohammedanerin, so ist der Proceß sofort geschlossen. Antwortet
sie: Christin, so ist das Ergebniß dasselbe. Das Medschlis bezieht sich auf
den Hattihumayum von 1KK6, nach welchem das Zeugniß von Christen nur
in commerziellen, polizeilichen und criminellen Fällen anzunehmen ist, erklärt
den vorliegenden Fall sür einen blos civilen und lehnt in Folge dessen die
Annahme des Zeugnisses des Mädchens oder ihrer Verwandten als unstatthaft
ab, womit die Kläger sich zufrieden zu geben haben, wenn es ihnen nicht
etwa gelingt, einen Türken zum Zeugniß für sie zu vermögen. Da sich diese
Nothwendigkeit moslemischer Zeugen auf alle Fälle des Civilrechts erstreckt,
so hat sich in der Türkei eine förmliche Zunft falscher Zeugen entwickelt, die
für ein Stück Geld jeden beliebigen Meineid zu schwören bereit ist und aus
diesem schmachvollen Geschüft ihren hauptsächlichsten Lebenserwcrb zieht. Die
Christen sind durch diesen Mißbrauch in ihrem Eigenthum etwas sicherer ge¬
stellt, als nach dem Gesetz; aber die falschen Zeugen sind auch gegen sie zu
haben, und da die Medschlis mündliche Zeugnisse stets dem Beweis durch
Documente vorziehen, so geschieht es häufig, daß Christen von reichen Mosle¬
min aus dem Besitz ihrer Grundstücke verdrängt werden.
Wir haben hiermit die hauptsächlichsten Beschwerden der Christen in der
Türkei aufgeführt. Mögen Fürst Gortschntoffs Beweggründe zu seinem An¬
trag im letzten Frühling gewesen sein, welche sie wollen, die Thatsachen, auf
welche er hinwies, waren wahlbegründet. Man fühlte das in Konstantinopel.
Es folgte ein Ministerwechscl, und Kibrisli Pascha — einer der wenigen ehr¬
lichen Staatsmänner der Pforte — erhielt wieder den Posten des Grvßwessirs.
von dem ihn die üble Laune seines Gebieters ein Jahr vorher verwiesen,
weil Kibrisli zu Ersparnissen im kaiserlichen Haushalt gerathen hatte. Der
neue Großwessir wurde sofort mit einer Mission zur Vereisung der europäischen
Provinzen und zur Untersuchung der Mißbräuche betraut, über welche Rußland
geklagt hatte. Der Antrag, ihn von Delegaten der fremden Gesandtschaften
begleiten zu lassen, wurde von der Pforte nicht angenommen. Kibrisli ist,
wie bemerkt, ein rechtschaffner Charakter. Er hat verschiedene Beamte ab¬
gesetzt, manchen Willküract rückgängig gemacht. Er ist jetzt zurückgekehrt, und
sein Bericht wird vermuthlich dasselbe enthalten, was wir im Vorigen zu
schildern versuchten. Die Version jedoch, in welcher derselbe in die Oeffentlich-
' keit gelangen wird, dürfte beträchtlich günstiger lauten. Sehr viele Christen
werden aus Furcht, nach der Abreise des Wessirs von den Beamten gestraft
oder von ihren mohammedanischen Nachbarn gemißhandelt zu werden, mit
ihrem Zeugniß und ihren Klagen zurückgehalten haben. Man wird das be¬
nutzen, wird auf die vorgenommenen Absetzungen hinweisen und den Zustand
der Provinzen für vollkommen zufriedenstellend erklären. Rußland wird dadurch
nicht getäuscht werden, es wird — da es trotz des üblen Standes seiner
Finanzen und der jetzigen Schwäche seines Heeres für Demonstrationen gegen
die Pforte stets Geld und Soldaten haben wird — über kurz oder lang die
Gelegenheit ergreifen, das Beispiel der Franzosen im Libanon in Rumelien
nachzuahmen.
Wir glauben aber zugleich, daß Nußland sehr wohl davon unterrichtet
ist, wie weit es auf die Griechen rechnen kann. Nichts kann unrichtiger sein,
als die Meinung, daß alle Angehörigen der morgenländischen Kirche in Betreff
der orientalischen Frage derselben Ansicht huldigen und den gleichen Zielen
zustreben. Es ist wahr, der gemeinsame Glaube zeigt Russen und Griechen
hier einen gemeinsamen Feind, aber über die zu verhoffende Beute ist man
durchaus verschiedener Meinung, und man würde noch weiter auseinnnder-
gehen, wenn nicht Rußland von allen Großmächten am meisten bestrebt ge¬
wesen wäre, sich die Hellenen zu Dank zu verpflichten. Die Masse des nie¬
dern Volkes mag dasür dankbar sein, die Gebildeten wissen, daß der Gönner
zu seinen Gnnstbezeigungen nicht durch Sympathien, sondern durch sein In¬
teresse bewogen wurde, und daß mit einer Ausbreitung der russischen Herrschaft
.bis an das ägäische und adriatische Meer das Ende der griechischen Freiheit
nahe gerückt wäre und der nationale Gedanke, der sich seit Gründung des
Königreichs Hellas immer mehr Bekenner und Förderer warb, unter der Wucht
des Slaventhums sehr bald erstickt werden würde. Die Griechen sind zu
gute Kaufleute, um ihre Freundschaft nicht dahin zu vergeben, wo sie ihnen
bessere Zinsen trägt als in Sanct Petersburg. England hat sie bisher
verschmäht, indem es kurzsichtig nur an den regen Handelsgeist und den küh¬
nen Seemannscharakter dachte, der den britischen Interessen im Mittelmeer
Eintrag thun konnte. Frankreich wird, glauben wir, besser zu rechnen verstehen.
Das jetzige Königreich Hellas ist eine Schöpfung, die als Halbheit nicht
leben und nicht sterben kann. Grade die am günstigsten gelegenen und die
reichsten Inseln, die fruchtbarsten Striche der altgriechischen Welt blieben in
den Händen der Türken, viele Hunderttausende des Volkes sahen sich vom
Anschluß an ihre Brüder abgehalten. Die Sehnsucht, sich dennoch mit ihnen
zu vereinigen, ist allenthalben groß und wird durch die Zöglinge der Hoch¬
schule in Athen, die von allen hellenischen Niederlassungen beschickt wird, von
Jahr zu Jahr mehr angeregt. Die Bewohner der jonischen Inseln können
ihre fast unabhängige nationale Existenz unter britischer Schutzherrlichkeit ge¬
trost mit der griechischen Regierungsweise vergleichen, und doch werden sich
unter ihnen wenige finden, die es nicht vorziehen würden, sich dem hellenischen
Königreich einverleibt zu sehen. Wie muß dann erst die Stimmung der Grie¬
chen sein, die noch unter dem Joch der Türken seufzen! Sollte in Folge von
Uebergriffen des türkischen Fanatismus eine insurrectionelle Bewegung in
Thessalien oder sonst in einer Gegend des türkischen Reiches, wo die Griechen
dicht angesiedelt sind, ausörechen, so wird die Regierung in Athen durch den
Druck der öffentlichen Meinung genöthigt werden, sich einzumischen. Sie wird
dann dem Drängen der letzteren gegenüber so ohnmächtig sein, wie Sardinien
war, die Abfahrt der Freiwilligen nach Sicilien zu hindern. Die Westmächte
haben — freilich, wie bemerkt, aus sehr verschiedenen Motiven — den Fortschritt
der unitarischen Partei in Italien ermuthigt; können !sie weniger thun im
Osten, wo sicher noch weit mehr Grund zur Vertreibung unvolksrhümlicher
Regierungen vorhanden ist?
Rußland, wir wiederholen es. ist sich völlig klar über die Stellung,
welche die Griechen seinen Prätensionen gegenüber einnehmen. Türkische Unter¬
drückung veranlaßte sie, den Schutz des Czaren nachzusuchen, aber niemals
herrschte zwischen beiden ein herzliches Einverständnis), am wenigsten in der
letzten Zeit. Was könnte auch der russische Despotismus gemein haben mit
der Liebe zu persönlicher Freiheit, die dem griechischen Volke von Alters her
eingepflanzt ist und sich in den Jahren seit dem Unabhängigkeitskriege mehr
und mehr entwickelt hat? Wie vertrüge sich eine Regierungsform, die nicht
einmal einen den Ansichten der Oberbehörde entgegengesetzten Meinnngsaus-
druck gestattet, mit der Leidenschaft 'für politische Intriguen und parlamenta¬
rische Kämpfe, die in Athen so oft sich bis zu demokratischen Ausschweifungen
verstieg? Der gleiche religiöse Glaube bildete allerdings einst ein Verbindungs¬
glied zwischen den Russen und den Griechen, aber nur so lange, als diese die
Verfolgten, jene die Vertheidiger waren. Seit es ein Königreich Hellas gibt,
hat er diese Eigenschaft nicht mehr. Mit der Kette, die Hellas an das Ban¬
ner mit dem Halbmond fesselte, riß auch die, welche die Griechen unter der
Standarte des Czaren festhielt, und das ist einer der Gründe, aus denen in
den letztverflossenen Jahrzehnten Rußland mit solchem Eifer und solcher Aus¬
dauer bestrebt gewesen ist, die slavische Bevölkerung im Norden der europäi¬
schen Türkei und die Bulgaren sich zu verbinden.
Die Türkei wird an dem Nationalitätsprinzip in Trümmer gehn, wie
Italien durch dasselbe zu einer Einheit verschmolzen wurde. Ohne dieses hier
verbindend, dort zersetzend wirkende Element wäre selbst in Betreff der euro¬
päischen Hälfte des ottomanischen Reichs der Verfall sehr wohl aufzuhalten.
Die Türkei wird schlecht regiert, aber nicht schlechter, als noch vor hundert
Jahren die meisten deutschen Staaten. Die Spannung zwischen den Religionspar¬
teien ist groß, aber die Ungerechtigkeit der herrschenden gegen die übrigen ist nicht
größer als die, welche im achtzehnten, ja im neunzehnten Jahrhundert noch
von vielen katholischen Staaten gegen die Protestanten ausgeübt wurde. Der
Widerspruch, daß der Beherrscher des Reiches einem andern Glauben huldigt,
als die große Mehrzahl seiner Unterthanen in Europa, findet sein Seitenstück
noch heute in einem deutschen Lande, ohne daß die Interessen des letzteren
darunter wesentlich litten. Der Charakter der Türken ist in den höheren
Ständen der Nation sehr wenig werth, aber die Mittelklasse ist einer Regene¬
ration so wol fähig, wie anderwärts; und selbst jene höher Gestellten sind
nicht schlechter, als unsere Vornehmen zwischen dem dreißigjährigen und dem
siebenjährigen Kriege. Ein reformatorischer Geist von der Energie Mehemed
Ali's, durch europäische Einwirkung gezügelt und geleitet, könnte, wenn jenes
Haupthinderniß nicht wäre, noch jetzt viel erreichen.
Man spricht viel von dem verzweifelten Zustand der türkischen Finanzen.
Wir sehe» keinen Grund zu solcher Bezeichnung. Die Staatsschuld ist ver-
hältnißmäßig gering, sie beträgt nicht viel über 300 Millionen Thaler. Ein¬
künfte und Ausgaben kommen sich beinahe gleich und belaufen sich auf unge¬
fähr 60 Millionen Thaler. Die erstem ließen sich durch vernunftgemäße Er¬
schließung der ungeheuern Hülfsquellen des Reiches binnen wenigen Jahren ver¬
doppeln, die letztern sich durch Ermäßigung der auf den Hofhalt des Sultans ver¬
wendeten Summen und ähnliche Maßregeln mindestens um ein Drittel vermindern.
Die Staatsschuld könnte auf solche Weise noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts
bis auf den letzten Piaster getilgt werden. Fast die Hälfte aller Ländereien
in der Türkei ist Wakuf, d. h. Eigenthum frommer Stiftungen. Diese Grund¬
stücke werden jetzt von der Regierung verwaltet, die sie in Zeitpacht gibt und
daraus beträchtliche Summen zieht. Mau sollte dieselben aber mit Ausnahme
derjenigen, die zu wohlthätigen Zwecken dienen, zu denen ein Zehntel des
Ganzen hinreichen würde, in freie Landgüter verwandeln und die Hälfte des
Erlosch zur Abzahlung der Schuld, die andere zum Bau von Straßen und
Eisenbahnen verwenden.
Das nächst Nothwendige wäre eine passende Besetzung der Gouverneurs¬
stellen. Fast jeder Pascha ist verschuldet. Drängen ihn seine Gläubiger, so
sagt er ihnen, daß er sie nicht eher befriedigen könne, als bis ihm die Stelle
eines Provinzialgouverneurs zu Theil geworden sei, und da die Regierung
die Hülfe derselben Kapitalisten bedarf, so ist die Stelle gewöhnlich schon bei
der nächsten Gelegenheit ausgewirkt, wo die Pforte sich um Vorschüsse an
jene wenden muß. Was von solchen StiMhaltern des Sultans zu erwarten
ist. bedarf keiner Andeutung.
Vor allem Andern wäre sodann zu sorgen, daß die Intoleranz der tür¬
kischen Minorität gegen die Christen und die oben bezeichneten Mißbräuche
ein Ende hätten. Wo die christliche Bevölkerung überwiegt, wie z. B, auf
den meisten Sporaden, müßten christliche Pascha's als Gouverneure eingesetzt
werden. Die Medschlis müßten, wo Türken und Christen gleich dicht ange¬
siedelt sind, eben so viele christliche als türkische, wo die Christen überwiegen,
überwiegend christliche Mitglieder erhalten. Die Regierung hätte ferner die
Einholung der Steuern selbst in die Hand zu nehmen und die Lasten auf
alle Religionsparteien gleich zu vertheilen, das Trucksystem überall abzuschaffen,
die Armee und die Polizei nach dem Muster civilisirter Staaten zu verpflegen
und auch die Christen zum Militärdienst heranzuziehen. Gewaltsame Bekeh¬
rungen christlicher Mädchen und Frauen sollten fernerhin als Criminnlfülle be¬
handelt, christliche Zeugen in allen Processen und vor jedem Gerichtshof die¬
selbe Geltung haben wie mohammedanische. Endlich wären die Behörden an¬
zuweisen und mit allen Mitteln anzuhalten, daß sie jeden Angriff muselmän-
nischcr Bigotterie ohne Verzug und mit der äußersten Strenge bestraften.
Mit solchen Maßregeln ließe sich der Fall der Türkei vielleicht noch einige
Zeit aufhalten. Aber die Menschen fehlen, die dazu erforderlich wären. Der
Sultan ist ein kläglicher Schwächling, ausschweifend, verschwenderisch, zu kei¬
nem ernsten Entschluß fähig. Die höhere Beamtenwelt, zum Theil aus den
Knabenharems Padischah Mahmud II. hervorgegangen, gleicht mit wenigen
Ausnahmen ihrem Gebieter. Wenige haben Vertrauen aus die Zukunft, jeder
denkt auf möglichste Ausbeutung der Gegenwart. Der Schatz ist leer, die
Armee unbezahlt, allenthalben herrscht Unzufriedenheit und Gährung, unter
den Moslemin, weil den Christen schon zu viel zugestanden worden, unter
den Christen, weil man zu wenig gegeben. Unter solchen Umständen ist ein
allgemeiner Aufstand nur noch eine Frage der Zeit, und es bedarf lediglich
eines weithin wirkenden Anstoßes und eines energischen Führers, um die Re¬
Die Boltserzielnmg in Preußen, soweit dieselbe durch die Schulen geför¬
dert wird, ist durch die neuerdings über den Turnunterricht Seitens des
Unterrichts-Ministeriums um die königlichen Regierungen, an die königlichen
Provinzial-Schul-Collegien und die Universitätsbehörde erlassenen Verordnungen
in ein ganz neues Stadium der Entwicklung eingetreten. Aus der einfachen
Thatsache, daß die leiblichen Uebungen als integrirender Theil des ganzen
Unterrichts anerkannt werden, und daß von der höchsten Stelle des Staa¬
tes geboten worden, wie die Ausbildung des Körpers und Geistes in den
Unterrichtsanstalten in einen innigen Zusammenhang zu bringen sei, werden
sich erhebliche Umgestaltungen im ganzen Erziehungswesen mit der Zeit
ergeben. Gingen die Verordnungen bloß von der!'Unterrichtsbehörde aus,
so dürfte denselben eine so bedeutende Tragweite, als wir voraussetzen, noch
nicht beizumessen sein, zumal uus die Erfahrung durch eine lange Reihe
von Jahren gelehrt hat. daß eine consequente Durchführung beabsichtigter Re¬
formen nicht selten an lokalen Schwierigkeiten, die sich hier und da in den
Weg stellen, gehemmt wird. Da aber die neuen Verfügungen den Stempel
eines ausdrückliche» Gebots des Staatsoberhauptes tragen und der Umgestal¬
tung des Schulwesens die Erledigung einer in das Staatsleben, so wie in
alle geselligen Verhältnisse tief eingehenden Frage zu Grunde liegt, so darf
man wol annehmen, daß Alles aufgeboten werden wird, hier das todte Wort
des Buchstabens zu einer belebenden That zu machen. Allerdings haben
nicht die mit Nachdruck wiederholten Aeußerungen erfahrener Schulmänner zu
dem neuesten Edict Veranlassung gegeben, sondern die militärische Rücksicht
auf Mehrung der Streitkräfte. Die neuen Erlasse sind ergangen an die Pro-
vinzialbehörden. unter deren Leitung das niedere Volksschulwesen steht, man-
lich die königlichen Regierungen, ferner an die Provinzialschulcollegien, welche
die Oberaufsicht über die Gymnasien und die Realschulen erster Klasse führen,
endlich an die Rectoren und den Senat der Universitäten.
Für die Volksschulen ist seither verhältnißmäßig am Wenigsten in Be¬
treff der Turnübungen geschehen, wenn gleich schon seit einer Reihe von Jah¬
ren in den Seminarien, den Bildungsanstalten der Volksschullehrer, die küns¬
tigen Pädagogen die nöthigen Jnstructionen erhielten. Da aber bisher kein
ausdrückliches Gebot dafür bestanden, daß die Leibesübungen einen integriren-
den Theil des Volksunterrichts bilden sollten und die Einrichtungen, welche für
die Ausführung eines derartigen Zweckes erforderlich sind, immer einige Ko¬
sten verursachen, so ist, weil ein großer Theil der Communen, welche für die
Unterhaltung dieser Art Schulen auszukommen haben, zur Bewilligung eines
höheren Etats nur durch die äußerste Noth gezwungen werden kann, der
Unterricht in den Leibesübungen in den meisten Anstalten unterblieben. Jeld
werden die Geldmittel für die erste Einrichtung aufgebracht werden müssen,
und es wird sich dies um so eher ermöglichen lassen, da das Tur¬
nen an den Gerathen Nebensache, die Freiübungen die Hauptsache bilden sol¬
len. Es kommt nun darauf an, die Lehrer zu dieser pädagogischen Aufgabe
geschickt zu machen. Es werden demgemäß in der Verfügung verschiedne
Wege angegeben. Es wird die Frage aufgeworfen, ob nicht in der Central-
turnanstalt für im Amt befindliche Lehrer, welche besonders qualificirt er¬
scheinen, ein kürzerer Cursus von sechs Wochen eingerichtet werden könne,
oder ob nicht bereits angestellte Lehrer einen kürzeren Cursus behufs der
leiblichen Ausbildung in den Volksseminarien durchmachen können. So
vorgebildete Lehrer'sollen dann wieder einen Kreis anderer Lehrer ihrer näch¬
sten Umgebung unterrichten. Auch denkt die Verfügung an die vorläufige
Aushilfe durch Wanderlehrer, welche, für das Turnen vorgebildet, von Ort
zu Ort ziehen sollen, um ihre Kunst andern mitzutheilen. Man will, indem
man stets den militärischen Zweck im Auge hat, die Uebungen auf das Nö¬
thigste beschränken. Dieselben, heißt es in der gedachten Verfügung, sollen
überall in den einfachsten Formen und in aussüllbarer Begründung geHallen
werden, wozu sich namentlich die sogenannten Frei- und Ordnungsübungen
empfehlen, und wobei es Sache des Lehrers sein wird, durch richtige äußer¬
liche Gestaltung und durch Verbindung der Uebungen mit den Spielen der
Jugend dieser die nöthige Frische und die Lust zu körperlicher Anstrengung zu
ertheilen.
Mehr qls in den Volksschulen war für das Turnen bisher in den Gym¬
nasien und'Volksschulen geschehn. Bald nach Antritt seiner Regierung hatte
König Friedrich Wilhelm der Vierte die Wiederbelebung der Turnübungen ins
Auge gefaßt. Ein Bericht, welchen nach geschehner'Aufforderung die Minister
des Kriegs, des Unterrichts und des Innern im Jahre 1842 dem Könige er¬
statteten, hatte sich dahin ausgesprochen, daß man vor der Hand mit Wieder¬
einführung der Turnübungen an den frühern Anstalten der Städte beginnen
müsse, da der allgemeinen Einführung der körperlichen Ausbildung der Jugend
sich kaum zu bewältigende Hindernisse für den Anfang entgegenstellten. So ge¬
schah es. Das Turnen kam an den erwähnten Anstalten in Gang, und Professor
Maßmann aus Berlin, bekannt als alter Turner, wurde einige Jahre später
im Auftrag der Regierung abgesandt, um den Fortschritt des Turnwesens in
Augenschein zu nehmen und dem Ministerium davon Bericht zu erstatten.
Es wurden in Folge dieser Revision auch manche Anordnungen getroffen, wo¬
durch dem Unterricht in den Leibesübungen an den genannten Anstalten auf¬
geholfen werden sollte, indeß kam man doch nicht dahin, den Grundsatz
auszusprechen, daß das Turnen als integrirender Theil des ganzen Schul¬
unterrichts angesehen werde.
Daher waren die Directionen der Gymnasien und Realschulen auch nicht
in der Lage, in Bezug aus die Theilnahme an jenen Uebungen, die zumal oft
auf entlegenen Plätzen und zu unpassenden, den Schülern unbequemen Stunden
vorgenommen wurden, einen Zwang auszuüben. Kam.nun dazu, daß in manchen
Anstalten der Unterricht nicht ganz zweckmäßig, oft von Lehrern, welche dem Kolle¬
gium der Anstalt nicht angehörten, ertheilt wurde, so war das Vorurtheil der El¬
tern, das sogar durch Gutachten mancher Aerzte eine Begründung erhielt, schwer
zu beseitigen. Man machte daher im Allgemeinen die Erfahrung, daß nach
den höhern Klassen hinauf die Theilnahme der Zöglinge am Turnunterrichte
immer lauer wurde, und daß die Lehrer der Gymnastik nicht selten bei der
Auswahl qualisicirter Borkumer in einiger Berlegenheit waren. Das Mini-
sterien-Circular legt nun den Lehrern der Anstalt ans Herz, sich der Beaufsich¬
tigung des Turnunterrichts mit Eifer anzunehmen und droht denselben sogar
mit Zwangsmaßregeln; zugleich macht es auf Mängel aufmerksam, an denen
nach der Meinung des Ministeriums der Unterricht bisher laborirt habe. Es
sollen die Turnlehrer nun durch Einführung eines rationellen Systems den¬
selben Abhilfe schaffen und den Frei-, Ordnungs- und tactogymnastischen
Uebungen.theils zur Erwerbung des Gemeingefühls, theils zur Vorbereitung
auf den künftigen Militärdienst die erforderliche Berücksichtigung zu Theil wer¬
den lassen. Es sollen die Turnspiele so eingerichtet werden, daß die wünschens-
werthe Fertigkeit im Abmessen der Distanzen, im Auskunden und Durchforschen
coupirter Terrains u. f. w. im Auge behalte» werde. Bei den Turnübungen
und Spielen sei aber immer darauf zu sehen, daß sie nicht in militärische
Spielereien ausarten, daß dem Knaben nicht geboten werde, was von dem
Manne gefordert wird, weshalb auch der Gebrauch von Gewehren aufzu-
schließen sei. Merkwürdigerweise hat ein junger Director aus Westphalen bei
der letzten Versammlung der Philologen und Schulmänner, welche gegen Ende
des Monats September in Braunschweig abgehalten wurde, sich dahin aus¬
gesprochen, daß man der Jugend die Feuerwaffe in die Hand gebe. — Die
gedachte Circularversügung will auch die Schwimmübungcn und das Schlitt¬
schuhlaufen der Jugend an den genannten Schulanstalten unter die leitende
Obhut des Turnlehrers gestellt wissen.
Ueber ein Moment lassen uns die gedachten Verordnungen im Unklaren.
Es wird darauf hingewiesen, daß die Leibesübungen in eine so enge Ver¬
bindung mit dem ganzen Unterrichte gebracht werden sollen, daß selbst die
Pausen, wenn auch nur in einzelnen Abtheilungen, durch leichte gymnastische
Uebungen ausgefüllt werden sollen. Wenn man darunter nicht etwa die große
Pause zwischen Vor- und Nachmittag damit verstehen soll, was wol schwerlich
der Fall sein kann, so bestehen bis jetzt größere Pausen zwischen den einzelnen
Lectionen nicht. Wenn man also der Verfügung pünktlich nachkommen will,
so wird man natürlich erst darüber unterrichtet sein müssen, ob in der Organi¬
sation des Stundenplans jetzt eine Aenderung eintreten soll.
Das Turnwesen soll — und darauf ist ein besonderer Nachdruck zu legen
— überall den Geist der Gemeinsamkeit tragen und als solches in die Aeußerlich-
keit treten. Für diesen Zweck sollen dienen gemeinsame Kleidung, Fahnen und
andere mit der geschichtlichen Entwicklung der betreffenden Anstalt in Verbin¬
dung stehende Abzeichen, gemeinsamer Zug zum Turnplatz unter Trommelschlag
oder Absingung patriotischer Lieder, Gesang während des Turnens, jährliche
Turnfeste, wobei mit dem Probeturnen gemeinsame Spiele, Vorträge und Ge¬
sänge abwechseln, so wie gemeinsame Turnerfahrten.
Die Universitäten werden von den neuen Verordnungen in so sern berührt,
als auf denselben den Studirenden Gelegenheit geboten werden soll, die be¬
gonnene gymnastische Ausbildung fortzusetzen. Die diesen Zweck betreffen¬
den Einrichtungen sollen insbesondere den künftigen Schulmännern als Lehrer
der Gymnastik und den Theologen in ihrer Stellung als Schulrevisoren zu gut
kommen.
Wir begrüßen diese neue Einrichtung als einen Fortschritt in der Päda¬
gogik und wünschen eben deshalb, daß die Verordnungen bald zur That werde».
Die Erfahrung hat oft gelehrt, daß von der Verordnung zur Ausführung
ein weiter Raum liegt. Was das Motiv betrifft, durch welches das königliche
Ministerium zu jenen Verordnungen bestimmt worden, so sind die Freunde des
Turnwesens damit nicht ganz einverstanden. Die militärischen Zwecke, welche
man dabei im Auge gehabt, werden als die Hauptaufgabe des Turnwesens
uicht entsprechend bezeichnet. Der Turnrath in Berlin hat als Vertreter der
dortigen Männerturnvcreine eine darauf zielende öffentliche Erklärung erlassen
und fordert andere Turnvereine aus, sich derselben anzuschließen.
Sind Wien, Berlin, Dresden, Köln und die meisten andern Großstädte
Deutschlands organische Gebilde, die in Folge eines natürlichen Wachsthums
und geschichtlichen Verlaufes das geworden sind, was sie sind: so gilt von der
Hauptstadt Bayerns das gerade Gegentheil: sie ist nicht geworden, sondern
gemacht. Es gibt zwar neben dem neuen München, das fast allein die Auf¬
merksamkeit des Fremden auf sich zieht, auch ein altes München, das er um
irgend eines alten Gebäudes willen, oder weil ihn sein Weg hindurch führt,
nebenher in Augenschein nimmt: enge Straßen mit hohen Häusern und leb¬
haftem Verkehr, dichtgedrängt um die ehrwürdige Mctropolitankirche des Erz-
bisthums München-Freisina. zu unsrer lieben Frau, einem gothischen, aus dem
fünfzehnten Jahrhundert stammenden Backsteinbau, dessen zwei abgestumpfte
Thürme weithin sichtbar sind. Dieses alte München steht im richtigen Ver¬
hältniß zu der Größe und den Mitteln des Landes: es ist die bescheidene Haupt¬
stadt eines Königreichs von bescheidner Größe. Natürlich wurden, wie in an¬
dern Städten, auch hier Erweiterungen nothwendig; aber jene neuen Quartiere,
die. wie mit Dampf getrieben, sich plötzlich erhoben haben, gehen weit über
das vorhandene Bedürfniß hinaus. Das seit den dreißiger Jahren entstan¬
dene Neumünchen, wodurch die Altstadt ganz in Schatten gestellt worden und
dem Krämer und Handwerker anheim gefallen ist, hat eine sehr vornehme
Miene angenommen, als wollte es sagen: Seht die Hauptstadt des Großstaates
Bayern! Leider aber haben seine Straßen kein Pflaster, und man wird unwill¬
kürlich an einen Kavalier in reichgestickten Rock erinnert, der zerrissene Stiefel
trägt. Ueberdies herrscht dort wenig Leben, und die sechzig Schritt breite
Ludwigsstraße mit ihrem geringen Verkehr läßt sich ganz wohl mit dem breiten
Bett eines Stroms vergleichen, durch das ein dünnes Bächlein sickert. Welch
ein Unterschied gegen die menschenwimmelnde Kaiserstadt an der" Donau, von
der wir unten handeln werden! Wien ist ein Mann, dem es zu eng in seiner
Jacke geworden ist, das neue München ein Junge im Consirmandenkleid, das
der Schneider nach weisem Dorfgebrauch so lang und breit gemacht hat, das;
es bis zur Hochzeit als Feiertracht dienen kann.
Dies unläugbare Mißverhältniß der Stadt zum Staate berührt natürlich
die Masse der Fremden, welche Jahr ein Jahr aus nach München kommen,
um in dem Reiche des Schönen zu schwelgen, wenig, und es hieße in der
That pedantisch sein, wollte man dem Fürsten seine Bewunderung versagen,
der mit seltener Energie diese Prachtthore, Kirchen, Paläste und Denkmäler
als ein Medicäer des neunzehnten Jahrhunderts hervorrief und im Lauf von
nicht mehr als zwei Jahrzehnten wie durch Zauber eine Fülle von Meister¬
werken erstehen ließ. Es ist nicht der Zweck dieses Aufsatzes, auf die vielen
Sehenswürdigkeiten Münchens einzugehen; es soll nur, so weit als nöthig,
auf sie hingedeutet werden.
Die alte Pinakothek steht der hochberühmten dresdner Bildergallerie an
Zahl und Trefflichkeit der Gemälde wenig nach, und hat dabei den Vorzug,
daß sie durch Aufnahme der Boisseröe'sche Sammlung die altdeutsche Maler-
schule würdig vertritt. Eine öffentliche Gallerie neuer Gemälde, wie die Pina¬
kothek sie bietet, findet sich, so viel ich weiß, in keiner Mdern Stadt Deutsch¬
lands.*) Was aber dieser Sammlung einen besondern Werth verleiht, das
sind die unvergleichlichen griechischen Landschaften Nottmann's, eines Malers,
der hauptsächlich sür München gearbeitet hat, und daher dort nur gewürdigt
werden kann. Wenn auch die Glyptothek keine sehr große Zahl von Bildhauer¬
werken enthält, so ist doch durch sie — im Gegensatz zu den Sammlungen in
Berlin und Dresden — die griechische Kunst besonders vertreten, während jene
meist Arbeiten aus der römischen Kaiserzeit in sich schließen. Jedenfalls sind
die nginetischen Slawen ein sehr interessantes Unicum. und der barbcrinische
Faun zählt mit vollem Recht zu den besten Skulpturen, die uns das Alterthum
hinterlassen hat. Bon den neuen Bildhauern sind Canova und Thorwaldsen
durch, die Statuen des Paris und Adonis sehr würdig repräsentirt. Aber
nicht allein die in den genannten Gebäuden aufgestellten Werke der bildenden
Künste, sondern auch die Gebäude selber — natürlich mit Ausnahme der alten
Pinakothek — so wie die Fresken berühmter Meister, womit sie außen und innen
geziert sind, gereichen der Stadt zu hohem Schmucke. Die in ionischer Tempel-
form erbaute Glyptothek trägt außerdem in ihrem Giebelfeld und in den Nischen
der äußern Mauerflächen Marmorbildwerke von Schwanthaler und Andern.
Ihr gegenüber steigt ein korinthischer Tempel empor: es ist das Kunstaus¬
stellungsgebäude, ebenfalls mit einer Mnrmorstatuengruppe im Giebelfeld, und
zwischen beiden erheben sich die Propyläen, ein Prachtthvr im dorischen Stil,
das noch durch Gerüste verdeckt ist. Dazu kommen die neuen, zum Theil mit
den Fresken großer Meister reich ausgestatteten Gotteshäuser: die Maricchilf-
firche in der Vorstadt An im gothischen Stile, die ebenfalls gothische Johannis-
kirche in der Vorstadt Haidhausen, die Allerheiligcnkirche oder Hofkapelle i>n
romanisch-byzantinischen, die Ludwigskirche im mittelalterlich italienischen Stile,
die Kirche des heiligen Bonifacius, nach ihrer Bauart gewöhnlich Basilica
genannt, vielleicht das vollendetste Werk der neuen Architektur in München.
Dazu treten die Erweiterungen der „Residenz" durch den im Charakter des
Palazzo Pitti in Florenz aufgeführten Königsbau und den dem späteren Re¬
naissancestil angehörenden Fcstsaalbnu, zwei ebenso geräumige als prachtvolle
Theile des königlichen Schlosses mit Marmortreppen, Oelgemälden, großartigen
Fresken und vergoldeten Statuen; ferner das dritthalbtausend Zuschauer fassende
Hoftheater mit korinthischer Tempelfa^abe, die Arcaden mit historischen Bildern
und Frcscolandschastcn. die Feldherrnhullc, eine Nachahmung der Loggia dei
Lcmzi in Florenz, das Kriegsministerium. die Bibliothek, das Priestcrseminar.
das Maximilians-Erziehungsinstitut und die Universität, alle fünf palastartige
Gebäude in der Ludwigsstraße, zum Theil mit prachtvoller Einrichtung, und
am Schluß der genannten Straße das Siegesthor im Stil des Triumphbogens
Konstantins in Rom; sodann das Jsarthor mit Fresken aus der bayerischen
Geschichte, das zur Aufführung von Concerten bestimmte Odcon mit Fresken
von Kaulbach und Andern, der im mittelalterlichen Palaststil ausgeführte,
gegenwärtig vom König Ludwig bewohnte wittelsbacher Palast. Rechnen wir
dazu öffentliche Denkmäler verschiedener Art, wie den hundert Fuß hohen
Bronzcobelisken, errichtet auf dem Karolincnplatz zum Gedächtniß der 30,000
in Rußland geopferten Bayern, mit der seltsamen Inschrift: „Auch sie starben
für des Vaterlandes Befreiung"; die treffliche Reiterstatue des Kurfürsten Maxi¬
milian des Ersten auf dem wittelsbacher Platze, das Denkmal des Königs
Max, die Standbilder der Tondichter Gluck und Orlando ti Lasso, die des
Staatskanzlers Kreitmnyr und des bayrischen Geschichtsschreibers Westenrieder;
rechnen wir endlich noch die riesige Bavaria und die Nnhmeshalle mit ihren
75 Büsten berühmter Bayern dazu, so haben wir einen Reichthum von Kunst-
schöpfungen vor uns, der sich fast dem der Hauptstädte des hellenischen Alter¬
thums an die Seite stellen läßt. Und dabei hat der Schöpfer dieser Schön¬
heiten das Füllhorn seiner Kunstspenden nicht allein über seine Hauptstadt
ausgegossen: ich erinnere nur beispielsweise an das Pompcjanum in Aschaffen¬
burg, an die Villa bei Edenkoben in der Rheinpfalz, an die Restauration der
Dome zu Regensburg. Bcunberg und Speier, welcher letztgenannte den
reichsten Bilderschmuck erhielt, und vor Allem an die Walhalla bei Regensburg,
die allein über acht Millionen Gulden gekostet haben soll.
Die Bewunderung für König Ludwig hat indessen einen bittern Beigeschmack
für jeden, der nicht ausschließlich Kunstfreund ist. Gegenüber einem Aufwand,
der selbst für den Herrscher eines großen Reiches übermäßig heißen würde, ist
es erlaubt zu fragen, woher die Ströme Goldes geflossen sind, welche diese
Bauten und Bildwerke möglich gemacht haben, und ob die ungeheuern Opfer,
welche gebracht werden mühten, sich rechtfertigen lassen. Der Aufwand wurde theils
aus der Privatkasse des Königs, theils aus den Mitteln der betreffenden Städte,
Gemeinden, Genossenschaften u. s. w., theils auch, und wahrscheinlich zumeist,
. aus den Einnahmen des Staats bestritten. Daß Ludwig dem verschwenderischen
Hofhalte, wie er unter seinem Vater eingerissen war, ein Ziel feste und seine
sehr beträchtlichen Privatmittel lieber für Werke des künstlerischen Geistes,
als für Schmarotzer ausgab, kann ihm nur zum Lob gereichen; daß er aber
in der brennenden Begier, recht viel Schönes unter seinem Zepter entstehen
zu sehen, seine Unterthanen zu Ausgaben drängte, die sehr oft über ihre
Kräfte gingen, läßt sich nicht vertheidigen. So sollte z. B. die Ludwigs¬
straße, nachdem einmal der Plan zu derselben entworfen war, in möglichst
kurzer Zeit vollendet und mit möglichst stattlichen Häusern geschmückt werden.
Der König verlangte zu diesem Ende von der Universität, sie solle aus eig¬
nen Mitteln einen Palast an dem Ende der genannten Straße, wo eine Lücke
auszufüllen war. errichten, weil das bisherige Universitätsgebäude (das ehe¬
malige Jesuiten-Collegium. jetzt Akademie) den Bedürfnissen nicht mehr ent¬
spreche. Der Prorektor und der Senat widersetzten sich diesem Ansinnen aus
sehr triftigen Gründen. Sie machten geltend, daß das Jesuiten-Collegium
vollkommen genüge, daß es durch seine Lage im Herzen der Stadt den Stu¬
denten zur Hand sei, während der Besuch des beabsichtigten Universitätsge-
bäudes am Ende der Ludwigsstrnße, d. h. am Stadtausgang, leicht eine
Stunde Wegs kosten und auch schon deshalb große Zeitvergeudung herbei¬
führen würde, weil es nicht zugleich die chemischen, anatomischen und andere
Anstalten der Hochschule in sich schließen sollte. Waruni. fügten sie hinzu,
eine Ausgabe machen, welche das Vermögen der Universität und mehr als
das verschlingen wird, um ein Lokal einzutauschen, welches viel weniger zweck¬
entsprechend ist, als das, in dessen Besitz wir uns befinden? Allein der Kö¬
nig, der vor allen Dingen eine schöne Universität wollte, beharrte auf seinem
Willen, und drängte die Herrn und besonders den Prorektor so lange, bis sie
ihren Widerstand aufgaben. Aehnlichen Widerstand fand er bei den Kloster¬
frauen des Maxirmlians-Erziehungsinstitutes, denen er, der neuen Universität
gegenüber, neben dem Priesterseminnr, eine Baustelle anwies; aber auch diese
mußten, wie sehr sie sich sträubten, nachgeben, damit die Ludwigsstraße ein
großes Gebäude mehr erhielte.
König Ludwig soll gesagt haben: „Ich sorge für das Schöne; mögen
meine Nachfolger das Nützliche betreiben." Ein bedenkliches Wort in eines
Fürsten Munde. Auch ist es bekannt, daß unter der Negierung dieses Königs
für die dringendsten Staalsbedürfnisse nur sehr unzulänglich gesorgt wurde,
und daß namentlich das Militärwcsen — trotz der Bundcsinspcktion — in
den vierziger Jahren in den kläglichsten Verfall gerathen war.
Uebrigens ist diese einseitige und willkürliche Verwendung der Staats¬
mittel durch den Landesfürsten ein Beweis, wie wenig tiefe Wurzeln das
constitutionelle System, das eine aufrichtige und ernste Controle der Finanzen
von Seiten der Stände voraussetzt, damals noch in Bayern geschlagen hatte.
Die Münchner freilich haben bis zu einem gewissen Grade Ursache, ihren
Fürsten zu preisen, ,daß er ihre Stadt so schön und groß, daß er sie zum
Sammelpunkt der kunstliebenden Welt gemacht hat, und daß sie, die früher
im Ruf standen, zwar eine seine Zunge für die Gabe des Gambrinus, aber
wenig Sinn für Kunst und Wissenschaft zu besitzen, in dem täglichen Verkehr
mit dem Schönen ein gutes Stück ihrer böotischen Natur ablegten. Dies
zeigt schon ein bloßer Gang auf den Münchner Gottesacker. Hier, auf dem
Felde des Todes, wo Jeder die Grabstätte der Seinen nach eigenem Gefallen
schmückt, findet sich so viel sinniges und Geschmackvolles, daß man kaum
einen zweiten Ort dieser Art so befriedigt verlassen wird.
Ich habe im Eingange dieses Aufsatzes gesagt, daß München gemacht
und nicht geworden erscheine. Der Charakter des Künstlicher, der nicht
wenigen der neuen Bau- und Kunstwerke anklebt, läßt uns dieselben nicht rein
genießen. Diese neuen Kirchen, die fast mehr von kunstliebenden Fremden
als von den Andächtigen der Gemeinde besucht scheinen, die überdies nur ganz
schmale Reihen Bänke an den Wänden haben, als ob hier das Verweilen im
Gottesdienste Nebensache sei, machen mehr den Eindruck von Schaustücken der
Architektur und Heiligenbildergallcrien, als von Gotteshäusern.
Den Charakter des Künstlicher trägt auch die neue Maximiliansstraße
an sich, welche der jetzt regierende König als Gegenstück zur Ludwigsstraße
baut, und zwar nicht blos in Folge des seltsamen Stils, der eigens für sie
erfunden und den Bauenden vorgeschrieben ist, sondern auch hinsichtlich der
Gebäude selber, die sie schmücken. Den Schluß derselben bildet das sogenannte
Maximilianeum, ein Palast, worin besonders befähigte Schüler für den höheren
Staatsdienst ausgebildet werden sollen — eine Brüteanstalt für bayrische
Diplomaten, wie man spottweise gesagt hat.
Bei der Betrachtung der Münchner Bau- und Kunstwerke muß dem un¬
befangenen Fremden noch Eins auffallen: nämlich die Sucht Bayerns, eine
Großmacht vorzustellen, auf die ich schon oben deutete. Wenn ein Staat von
so geringem Umfang Siegesthore, Feldherrn- und Ruhmeshallen und Pro¬
pyläen baut; wenn er Männern, deren Ruf nicht über die Grenzen des kleinen
Landes hinausgeht, kolossale Standbilder setzt: so macht dies geradezu eine
komische Wirkung. In der Feldherrnhalle^) befinden sich nur zwei Figuren:
der Niederländer Tilly, der Magdeburg verbrannte, und Wrede, der die
Schlacht bei Hanau verlor, und aus dem Wiener Congreß antideutsche Politik
machte. Wie ganz anders sind doch die Empfindungen, welche durch die
öffentlichen Denkmäler Berlins hervorgerufen werden! Dieser Kurfürst Friedrich
Wilhelm und da der alte Fritz, welche Deutschlands Waffenehre gegen Schweden
und Frankreich wiederhergestellt und in den morschen Baum des heiligen rö¬
mischen Reichs deutscher Nation das neue gesunde Pfropfreis Preußen einge¬
pflanzt haben; diese Helden Friedrichs des Großen, die mit halb Europa den
Kampf bestanden; diese von der edelsten Begeisterung getragenen Generale der
Freiheitskriege, von denen jeder zwölf Wredes aufwog, es sind Männer, welche
Geschichte gemacht haben und von ganz Deutschland verstanden werden. Wenn
die Victoria auf dem brandenburger Thore ihre feurigen Rosse spornt, so wissen
wir, was das zu bedeuten hat; die Bavaria auf dem Siegesthor mit ihren
vier Löwen ist ein Bild ohne Inhalt.
Große Heiterkeit erregte es bei uns Fremden, als der Schlohdiener, der
uns durch den Festsaalbau geleitete, die Fresken, welche die Thaten Karl des
Großen, Barbarossas und Rudolfs von Habsburg darstellen, im Allgemeinen
als „bayrische Geschichte" charakterisirte. Ich erlaube mir, dies hier zu notiren;
denn in dem Festsaalbau selber Noten zu nehmen, war laut einer Notiz auf
unserer Eintrittskarte untersagt.
Unter solchen Eindrücken erschien uns freilich die kolossale Bavaria auf
der Theresienwicse als der Frosch Bayern, der sich aufbläst.
Zum Schluß noch ein Wort über die Stimmung und politische Entwick¬
lung in Altbayern. Ich habe mich in München längere Zeit aufgehalten
und das Land in verschiedenen Richtungen durchstreift. Der Menschenschlag
ist im Allgemeinen kräftig, von derber Naivetät, gesundem Verstand, gemüth¬
lich, offen und heiter. Bei sehr beschränkten Religionsansichten ist das Volk
doch nicht pfäffisch; es lebt aus dem besten Fuße mit seinen Geistlichen, die
sich ihrerseits dem geselligen Verkehr durchaus nicht entziehen und gar keinen
Anstand nehmen, auch in München sich im Theater und in den Concerten zu
zeigen und den heidnischen Göttern der Glyptothek ihren Besuch abzustatten.
Mit seinen Zuständen ist der Bayer im Allgemeinen zufrieden, besonders seit
die Schwurgerichte Ordnung im Lande schaffen und seit in Folge der letzten
Umgestaltung des Ministeriums etwas mehr Ernst mit dem Constitutionalismus ge¬
macht wird. Im Uebrigen würde sich, wenn die Zeitungen den Maßstab der
Politischen Bildung eines Volkes abgeben, in Bezug auf diesen Punkt das
Urtheil über die Bewohner der alten Provinzen sehr niedrig stellen. Die Münch¬
ner Blätter stehen unter pfäffischen Einfluß und sind ebenso bornirt in ihrem
Urtheil als gemein in ihrer Sprache. Sehr stark verbreitet ist der Punsch,
ein wohlfeiles Witzblatt, das stets auf das eifrigste bestrebt ist, die Vorurtheile
gegen Preußen wach zu erhalten und die nationalen Bestrebungen der Gegen¬
wart zu verunglimpfen. Auch die fliegenden Blatter, die noch immer gern
gelesen werden, wirken in dieser Richtung nicht gerade erfreulich. Wer ein
höher gehaltenes Journal in Altbayern haben will, hält sich die Augsburger
Allgemeine Zeitung, die in ihrer jetzigen Verfassung wenig besser ist als jene
Münchner Blätter, wenn sie auch in hellen Glacehandschuhen einhergeht und sehr
vornehm auf jene unmanierlichen Kollegen herabsieht. Die Ansichten der Augs-
burgerin, die leider noch immer Deutschland im Auslande vorzugsweise vertritt,
sind in München sehr verbreitet. Aus dem Munde von sonst ganz verständigen
und achtbaren'Männern hört man dort noch heute die Politik Preußens verdam¬
men, mit der es im vorigen Jahre die Theilnahme Deutschlands am italieni¬
schen Kriege zu Gunsten Oestreichs verhindert habe. Preußen, so lautet die
thörichte Rede, sei Schuld, daß Habsburg nicht neu gekräftigt, daß Frankreich
nicht gründlich gedemüthigt und daß — man höre! — Elsaß mit Strasburg
nicht zurückerobert worden sei. Man gibt auch die Hoffnung nicht auf, daß
es gelingen werde, Preußen zu der östreichischen Politik hinüber zu ziehen,
was um so leichter geschehen könne, da in Wien jetzt ernstlich die liberale
Bahn betreten werde. In den Italienern sehen sie natürlich Rebellen, in
Victor Emmanuel einen schnöden Usurpator, in Garibaldi einen rothen Frei-
schärler, dessen wüstem Treiben ein Ziel zu stecken heilige Pflicht sei, in Franz II.
einen unglücklichen Fürsten, an dem sein geblendetes Volk schmählichen Verrath
geübt habe.
Auch die Bayern wollen gute Deutsche sein; leider verwerfen die meisten
nur die Mittel, welche allein unsrer Zerrissenheit ein Ende machen können.
Daß eine Neugestaltung des Bundes noth thue, wird nicht in Abrede gestellt,
aber jeder Vorschlag hartnäckig verworfen, bei dem nicht ihnen selbst eine
Hauptrolle zugedacht ist. Sehr beliebt ist daher noch immer die unglückliche
Trias-Idee. Eine Unterordnung der deutschen Staaten unter Preußen ist ih¬
nen natürlich verhaßt; viele würden, glaub' ich, eher bei Frankreich Hilfe su¬
chen, ehe sie sich in dies entsetzliche Loos fügten. Ist es ja doch nicht lange
her, daß man auch in andern Rheinbundstaaten Offiziere in unbegreiflicher
Verblendung konnte sagen hören: „Lieber französischer als preußischer Ober¬
befehl".
Indessen haben die östreichischen Angelegenheiten, trotz aller Reform-
Demonstrationen, einen so bedenklichen Gang genommen, daß die Zahl der
Männer, welche eine Anlehnung Deutschlands an Habsburg empfehlen. ziem¬
lich kleinlaut und still geworden ist. In demselben Maße ist Preußen gestie¬
gen. Vielleicht hat dieser Staat i» keinem Lande so wenig Freunde, wie in
Altbayern; aber auch hier ist der Anfang einer Besserung vorhanden. Dies
läßt sich ganz deutlich in München spüren. Eine kleine Partei, welche Bra-
ter's treffliche Süddeutsche Zeitung liest — ein Blatt, von welcher in der
bayerischen Hauptstadt allerdings wol kaum 600 Exemplare in Umlauf sind, das
aber in Franken weit mehr Verbreitung hat — darf nicht unterschätzt werden,
wenn sie auch nicht durch ihre Zahl schwer ins Gewicht fällt. Zu ihr gehört
namentlich auch die Mehrzahl der in neuerer Zeit berufenen Professoren.
Franken und die Pfalz, welche Altbayern an politischem Urtheil weit über¬
treffen, üben begreiflicherweise auch durch beständigen Wechselverkehr erheblichen
Einfluß. In Ludwigshafen erscheint seit zwei Jahren der Pfälzer Kurier, der,
Hand in Hand gehend mit unsern liberalen Blättern in Südwestdeutschland,
sich schnell im Publikum Bahn gebrochen hat.
So fehlt es auch in Altbayern nicht an Erscheinungen, die uns zu der
Hoffnung berechtigen, es werde auch in diesem Winkel politischer Finsterniß
nllmälig Tag werden.
Einen Vorgeschmack der Wiener Herrlichkeiten empfängt man schon in
Linz, wenn man, wie ich, vom Westen kommt. Ein ebenso geräumiges als
stattliches Schiff, die Gisela, nahm uns hier auf. und war bald mit Reisenden
so angefüllt, daß man froh sein konnte, einen Platz auf einer Bank oder „ein
Stvckerl" zu erobern. Die muntern, gewandten Linzer und Wiener, beson¬
ders die Frauen in ihrer kleidsamen, etwas coquetten Tracht, welche mit
einem Mal über das breite Verdeck unsers Dampfers ausgegossen waren, sta¬
chen gegen die schwerfälligere Reisegesellschaft, die wir durch Bayern gehabt,
vortheilhaft ab. Der in der hellsten Morgensonne glänzende Fluß. das
herrlich gelegene Linz am Fuße seiner mit Festungswerken gekrönten Höhen,
die in Aussicht stehende genußreiche Fahrt auf der schönsten Strecke der Do¬
nau und endlich, die Erwartung der alt berühmten Kaiserstadt an der Südost¬
grenze Deutschlands, dies Alles versetzte uns, die Fremdlinge aus weiter
Ferne, in die heiterste, aufgeregteste Stimmung. Wenn uns auch der außer¬
ordentlich geringe Verkehr auf der schwer zu befahrenden Donau im Vergleich
zu dem Mittel- und Unterrhein auffiel, so vergaßen wir doch bald über der
fortgesetzt reichen Ausstattung der Ufer die Einsamkeit der Fahrt. Die wohl-
häbigen Dörfer und Städtchen, welche zu beiden Seiten des Flusses in gro¬
ßer Anzahl kamen und gingen; die in schönen Linien geschwungenen Berge,
deren Abhänge zum Theil weit ausgedehnte Weinberge von anerkannter Güte
tragen; die großartigen Häupter der steierischen Alpen, die häufig zur Rechten
auftauchten. Orte von mythisch-historischer oder geschichtlicher Bedeutung, wie
Pechlarn, wo Held Rüdigers Burg stand; Schloß Dürrenstein, in dessen Mau¬
ern der gefangene Richard Löwenherz schmachtete; der Kahlenberg, von wel¬
chem 1683 das christliche Heer herabstieg, um das von den Türken bedrängte
Wien zu entsetzen, hielten uns in beständiger Spannung. Zahlreiche Wall¬
fahrtskirchen mit wunderthätigen Bildern, zu denen hier und da Pilger in
laugen Zügen hinausliegen, waren uns ein charakteristisches Zeichen des Lan¬
des, Die stolzen Schlösser des Adels, Abteien, wie Meil und Klosterneuburg,
mit weitausgedehnter palastühnlichcn Gebäuden in schönster Lage, gereichten
den Ufern zu großer Zierde und zeigten zu gleicher Zeit, welchen Ständen
vorzugsweise der Reichthum des Landes in den Schooß fällt. Endlich erhob
sich ans einem Meer von Vorstädten der Stephansthurm — leider mit einem
Gerüst umgeben, weil ein Drittheil desselben wegen Baufälligkeit erneuert wer¬
den muß. In Nußdorf, um Fuße des Kahlenbergs, eine gute Stunde von
Wien, stiegen wir auf ein kleineres Boot, um den Donankanal, welcher Wien
durchfließt, hinaufzufahren, und bald waren wir, an der Brigittenan traurigen
Angedenkens, an den Vorstädten Nassau und Leopoldstadt vorbei, zu der
Mauth gelangt, von wo ein kurzer Weg über das Glacis in die unendlich
bewegte innere Stadt führt.
Bekanntlich ist das alte Wien oder die innere Stadt dnrch einen weiten,
tiefen Graben und das „Glacis", einen grünen Gürtel von Baumreihen und
Rasenflächen, der K00 bis 1500 Fuß breit ist, von den ansehnlichen, weit
ausgedehnten Vorstädten getrennt. Dieser Kern der Stadt hat noch seine
alten Straßen und Plätze, die zu einer Zeit, wo man in und außer dem
Hause mit sehr bescheidenen Räumen fürlieb nahm, genügend waren, gegen¬
wärtig aber zu den fünf- und sechsstöckig ausgewachsenen Häusern in keinem
Verhältnisse mehr stehen. So hat man denn damit begonnen, Graben und
Glacis zu neuen Stadtanlagen zu verwenden. Der gewonnene Raum soll
theils von prächtigen Straßen nach Art der Pariser Boulevards, theils von
geometrisch abgegrenzten Plätzen, Baumpflanzungen und Rasenfcldern einge¬
nommen werden. Das alte, ich möchte sagen bürgerliche Glacis, wo die Bu¬
ben sich balgen und Drachen steigen lassen; wo das Volk lagert, und der
Handwerksbursche nach verzehrter Wurst seinen Mittagsschlaf hält; wo be¬
sonders die Kindermädchen mit ihren Kleinen sich herumtummeln, wird ein
nobles, polizeilich überwachtes Quartier werden.
Vor dem Schottenthor, auf der Nordwestseite des Glacis, erhebt sich
jetzt — an der Stelle, wo vor sieben Jahren ein Mordversuch gegen Franz
Joseph unternommen wurde, die von ihm gelobte Heilandskirche, ein sehr an¬
sehnlicher gothischer Bau mit zwei Thürmen, der sich noch in den Händen
der Steinmetzen und Maurer befindet.
Wie in einem Flusse, dessen Bett für die Wassermasse kaum genug Raum
hat, findet die Menge in den Hauptstraßen der innern Stadt hin und her,
und oft ist es längere Zeit nicht möglich, diese schmalen Gassen zu über¬
schreiten, weil die Equipagen, Omnibus, Salonwagen, Fiaker, Comsvrtnbles
und sonstigen Fuhrweite den ganzen Weg bis zu einem schmalen Rande zu
beiden Seiten füllen. Nirgends findet man deshalb auch geschicktere Kutscher,
wie in Wien; denn ein Fahren ohne haarscharfes Abzielen des Wegs ist dort
unmöglich. Auch die Plätze der innern Stadt, die zum Theil als Märkte
dienen müssen, gewähren entfernt nicht den Raum, wie er dem Bedürfnis? ent¬
spricht. Fast kann man es bedauern, daß der Stephansplatz, der Graben,
der Kohlmarkt, am Hof und Freiung so prachtvolle Bauten besitzen, und in
den Schaufenstern ihrer Kaufläden und Gewölbe einen Luxus entfalten, wie
in wenig andern Städten Europas, da ihre Herrlichkeiten in dieser Enge
großentheils der rechten Wirkung entbehren. Aber nicht blos auf diesen
Plätzen und in den Hauptstraßen, anch in ganz dunkeln Nebengassen trifft man
die größten Paläste, welche in die Häuserreihen eingezwängt stehen, als ob
sie ersticken müßten. Die Verwendung des Glacis zu neuen, behaglich aus¬
gedehnten Stadtquarticrcn ist daher sicher ein sehr zeitgemäßes Unternehmen.
Tritt uns in den Bauten und öffentlichen Denkmälern Berlins eine be¬
deutende Geschichte entgegen, so daß wir uns in den breiten Straßen jener
wahrhaft königlichen Stadt gleichsam von den Helden der Borzeit begleitet
wähnen; fühlen wir uns in München unter Palästen, Kirchen und Tempeln
der Kunst von dem Hauche der Schönheit angeweht: so verspüren wir in
Wien nur wenig von diesen beiden höheren Mächten. Daß man der Ge¬
schichte geflissentlich ans dem Wege geht, beweisen die öffentlichen Denkmäler,
welche allein die Madonna und die Heiligen zum Gegenstande haben, oder
harmlos langweilige Allegorien darstellen. Indessen hat man seit 180K an¬
gefangen, neben den Heiligen auch der Kaiser zu gedenken. Den auf der
Nordostseite der Burg gelegenen Platz schmückt seit jenem Jahre die/schöne,
ihres Gegenstandes vollkommen würdige Reiterstatue Josephs II. Dann er¬
hebt sich auf dem Burghof ein Denkmal Franzens — ein gut gearbeiteter
Kopf aus einer lächerlich breiten Gestalt, die mit dein schmächtigen Kör¬
per, den jener Fürst bekanntlich hatte, in schreienden Widerspruche steht —
mit der aus dem Testament des Kaisers genommenen Inschrift: l'oMis moi»
»moioiu mLum. Weder Rudolf I.. der hochverdiente Stammvater der Habs¬
burger, noch Maria Theresia, die vielgeliebte, vielgeprüfte Landesmutter,
haben öfftiuliche Denkmäler! Vergebens sucht man nach den Standbildern
eines Prinzen Eugen. Laudvn, Rudctzky und so manches andern ruhmgekrön-
ten Feldherrn des Kaiserreichs, vergebens nach den Statuen Haydn's, Gluck's,
Mozart's. Beethoven's, welche Oesterreichs und Deutschlands Ruf durch alle
Welt tragen — hat doch der Schöpfer des „Don Juan" kaum ein Grab!
Personen, welche nicht das Glück besitzen, Heilige oder Kaiser zu sein,
scheinen demnach in Wien von der Ehre ausgeschlossen. Denkmäler zu erhal¬
ten, so tief ihre Namen auch in die Herzen der Völker eingegraben sein mögen.
Nur mit dem Erzherzog Karl, freilich einem Prinzen aus dem Kaiserhause,
hat man — nach langem Widerstreben, wie mir ein Wiener sagte — ganz
neuerdings eine Ausnahme gemacht. Sein Standbild auf dem äußern Burg¬
platze, das die Jahrszahl 1359 trägt, zeigt den Sieger von Aspern auf einem
wild empor sich bäumenden Rosse, eine Standarte zum Angriff erhebend.
Der Kühnheit des in die Feinde stürmenden Feldherrn steht die Kühnheit des
Künstlers zur Seite, welcher die Last der kolossalen Neiterfigur einzig und
allein den Hinterfüßen des Pferdes anvertraute.
Ist Wien keine Stadt der Geschichte, wie Berlin, so ist es ebenso wenig
eine Stadt der Kunst, wie das neuere München. Während kunstliebende Für¬
sten in Berlin, München, Dresden — ja sogar in kleineren Residenzen, wie
Karlsruhe — würdige Gebäude aufgeführt haben, um ihren Sculpttu- und
Malerwerken eine passende Aufstellung zu geben, beherbergt in Wien das alte
Rococo-Lustschloß des Prinzen Eugen nach wie vor die Gemälde und Bild¬
hauerwerke der kaiserlichen Sammlungen in Sälen, die zu ganz andern
Zwecken erbaut wurden, und der Genuß so manches Bildes wird dem Kunst¬
freunde verkümmert, weil er durch vergitterte Fenster ohne Oberlicht sehen
muß. und oft gar keinen Standpunkt findet, um es in seinem Werthe zu er¬
kennen. Was die Sculpturen insbesondere angeht, so stehen dieselben, wie
in dem Gewölbe eines Alterthümlers, zusammengedrängt. Man fühlt überall
durch, daß die bildenden Künste unter dem Doppeladler nur geduldet, nicht
gepflegt werden. Gleichwohl findet der Freund derselben Ausbeute genug in
einer Stadt von über 600.000 Einwohnern, zu denen Geschlechter und Fa¬
milien von unermeßlichen Reichthum gehören. So besitzt der Fürst Liechten¬
stein in der Vorstadt Nossau einen großen Palast, der von unten bis oben
mit zum Theil sehr werthvollen Bildern angefüllt ist. welche freilich weder
gut gehalten sind, noch günstiges Licht haben. Treffliche Gallerten sind ferner
die des Fürsten Esterhazy in der Borstadt Maria-Hilf, die des Grafen Harrach
in der innern Stadt an der Freiung mit sehr zweckmäßiger Einrichtung, und
des Grafen Czerny in der Josephstadt. woran sich noch eine kleinere Samm¬
lung von Bildern neuer, aber vorzüglicher Maler zu Ober-Döbling, im Be¬
sitze des Kaufmanns Arthaber, würdig anschließt.
Die Italiener haben ein altes Sprichwort: ^ Roms, si og. per s^nent,
g. Aaxoli per iillegria. Wendet man dasselbe auf Deutschland an, so würde
die Rolle Roms etwa Berlin, die Rolle Neapels jedenfalls Wien zufallen.
Der Fremde, welcher die preußische Hauptstadt aufsucht, verbindet leicht damit
einen ernstern, tiefern Zweck, in Wien dagegen gefällt sich vorzugsweise,
wer Lebensgenuß sucht. Gefällige, liebenswürdige, gemüthlich heitere, mit
natürlichem Witz begabte, freilich selten tiefer gehende Menschen, die von
Freude zu Freude flattern, wie Schmetterlinge von Blume zu Blume; gute
Tafel und trefflicher Wein zu mäßigen Preisen; Theater und Concerte in allen
Abstufungen der Güte und tausend andere Vergnügungen Tag für Tag, dabei
die leichteste Verbindung mit den nähern Orten durch die Salonwagen, welche
in allen Hauptrichtungen fahren, mit den fernern Orten durch die Eisenbahn:
dies Alles sind wie früher so noch heute sehr starke Magnete für Lebemenschen.
Einen eigenthümlichen Reiz erhält Wien durch seine bunte Musterkarte
von Völkerschaften — ganz abgesehen von der bekannten Mischung der Na¬
tionalitäten in der Garnison, die unter der gleichen Uniform verschwindet.
Nicht allein, daß man in gewissen Vorstädten ganze Scharren von Tagelöh¬
nern und Arbeitern trifft, deren Gesichtsbildung, Gestalt, Haltung und Kleid
den Böhmen, Mähren, Ungarn oder Slovaken verrathen. Auf der Straße,
im Kaffee- oder Speisehause, im Theater, kurz überall und in allen Schichten
der Gesellschaft sieht man sich inmitten einer Völkerausstellung; überall kreu¬
zen sich die verschiedenen Sprachen und Dialekte slavischer, romanischer, ma¬
gyarischer und griechischer Zunge mit dem Deutschen, wozu noch die Sprachen der
Fremden kommen, die wir auch am Rhein zu vernehmen gewohnt sind. Es ver¬
steht sich, daß die verschiedenen Völker Oesterreichs in Wien auch ihre Kirchen
besitzen; so wird theils sonntäglich, theils blos in der Fastenzeit in Maria-
Stiegen böhmisch, in der Salvatorkirche polnisch, in der Johanniskirche un¬
garisch, in der — in diesem Augenblick zümlich verlassenen — Mmoriten-
kirche italienisch und außerdem noch in der Sankt Annenkirche französisch ge¬
predigt. Die unirten und nichtunirten Griechen haben ebenfalls ihre Gottes¬
häuser, von denen besonders das zweite ungemein prächtig mit Gemälden
und Vergoldungen ausgeschmückt ist. Eben so stattlich ist die neue, im by¬
zantinischen Styl aufgeführte Synagoge in der Leopoldstadt. Wir empfinden
dabei sehr deutlich, daß wir in einer Großstadt ersten Ranges, aber weniger
wie in Berlin, daß wir in einer deutschen Stadt sind.
Von jeher hat das Theater bei den lebenslustigen Wienern eine große
Rolle gespielt, und der Hof hat wenigstens für die Kunst des Schauspielers
stets eine offene Hand gehabt, wenn auch, bei der bekannten Engherzigkeit
des althergebrachten Systems, das Drama als solches unmöglich gefördert
werden konnte. Mag Dresden jetzt unter den deutschen Bühnen den ersten
Rang behaupten, und mag die preußische Hauptstadt in der Oper mit Wien
gleichen Schritt halten und im Ballet sogar — seit der Zeit Friedrich Wil¬
helms III., der bekanntlich eine große Vorliebe für diesen niedrigsten Zweig
der Kunst hatte — den Vorrang behaupten: bis auf die letzten Jahre ist das
kaiserliche Theater die erste redende Bühne Deutschlands gewesen, und noch
heut zu Tage kennen unsere Schauspieler keinen größeren Triumph, als in der
Burg mit Beifall zu spielen. Da dieselbe die höchsten Gehalte zahlt, stehen
ihr natürlich die besten Kräfte zu Gebote; die Hauptrollen sind mit Meistern
besetzt; die Nebenrollen werden, bis auf den geringsten Bedienten hinab, gut
gegeben, und das Zusammenspiel ist trefflich. Zugleich wird der Eifer der
Mitwirkenden durch ein volles Haus und ein theilnehmendes, dankbares Pu¬
blikum warm erhalten.
Charakteristisch für Wien ist das Carlstheater in der Leopoldstadt, wo
der alte Nestroy noch immer seine Triumphe feiert. Eins der Stücke, die ich
daselbst sah, führt den Namen: Orpheus in der Unterwelt. Der Inhalt ist'
ungefähr folgender: Orpheus oder. Orphe-us, wie er gewohnlich genannt
wurde — ist Violinspieler mit dem Titel Concertmeister; er gibt Musikstunden
in Arkadien und ist erster Geiger im Orchester daselbst. Er componirt auch;
aber seine Tondichtungen sind so langweilig, daß Euridice, seine Gattin, in
Verzweiflung geräth, wenn er ihr dieselben vorträgt. E-uridice — denn so
wurde der Name meist ausgesprochen — ist ihrem Gemahl durchaus nicht
treu, wie denn überhaupt sämmtliche Personen des Stücks die Treue
nur vom Hörensagen kennen; sie hat ihr^Herz einem fremden Schäfer zuge¬
wendet, der seit einiger Zeit seine Heerde in der Gegend weidet. Dieser,
welcher niemand Anders ist, als der verkappte Pluto, wurde von Treumann,
dem zweiten Liebling des Publikums im Cnrlstheatcr, einem jüngeren Manne
von großer kölnischer Kraft und Gewandtheit, gegeben. Dem travestirenden
Charakter dieser Stücke gemäß, tritt er in einem höchst seltsamen Kostüm auf,
mit einem Strohhute von fabelhafter Breite, dessen in hohen Bogen sich nei¬
gende Blumen der Donna E-uridice, wenn er sich mit ihr unterhielt, fort¬
während ins Gesicht schlugen.
Die Handlung nimmt ihren weitem Lauf dahin, daß der Schäfer unter
Donner und Blitz sich als Gott der Unterwelt denmskirt, und die erschrockene
Frau Coucertmeisteriu mit hinunter in den Hades nimmt.
In dem zweiten Akt werden wir in den Olymp geführt. Die Götter
halten in Gruppen, pyramidal geordnet, so daß Jupiter und Juno die Spitze
bilden, ihre Siesta, und singen mit geschlossenen Augen eine Art Schnarchlied.
Jupiter-Nestroy lehnt, in geblümtem Schlafrock Rücken an Rücken an der
mit einem feuerrothen Shawl geschmückten Juno, sodaß er einen Doppeladler
mit ihr bildet. Mars, ein feister, plumper Geselle in bayrischer Chevauleger-
Uniform mit dicken Wollepauletten, hat den Arm um Venus, die wie eine
Tänzerin gekleidet ist, geschlungen, während Bullen zur Seite in Schlaf be¬
graben liegt. Endlich erwachen die Himmlischen; die Gruppen kommen in
Bewegung, und es entspinnt sich ein heftiger Zank zwischen Jupiter, der seine
ganze Rolle im Wiener Dialekt spricht, und seiner Gattin, zwischen Bullau,
Venus und Mars, welcher frech genug ist, den Göttervatcr, als er sich in den
Handel mischt, einen Esel zu heißen. Darüber erscheint Orpheus und klagt
wegen Euridices Entführung, worauf Jupiter den strengsten Befehl an
Pluto erläßt, die geraubte Schöne auf der Stelle herauszugeben. Zugleich
hält er den Göttern eine Moralpredigt mit dem Refrain: „Wer soll denn
moralisch sei», wenn wir es nicht sind?" — worin mein eine Anspielung
auf gewisse sehr hohe Sphären finden wollte.
Ter dritte Akt versetzt uns in Plutos Palast und die Unterwelt. Euri-
dice hat von ihrem Geliebten und Herrn einen seltsamen sauertöpfischen
Wächter erhalten, einen schmalen, laugen Menschen, hochroth von Kopf bis
zu Fuße — wie eine Stange Siegellack. Dieser Kerl benutzt sein Zusammen¬
sein mit Frau Orpheus, um ihr Liebesanträge zu machen, wird aber von
einem schwirrenden Insekt unterbrochen, welches menschengrofi in stahlblauem,
schillerndem Panzer wie eine riesige Libelle hereinschwebt. Die Wasserjungfer
— von Nestroy ganz meisterhaft gespielt — ist der verkappte Jupiter, der
die Abwesenheit Plutos benutzen will, um Euridice für sich zu gewinnen. Er
ist auch nicht weit vom Ziel, als der Bruder unverhoffter Weise sich einstellt,
und den grauen Sünder in seinem Libellen-Habit zum Rückzüge nöthigt.
Der letzte Akt führt uns wieder in den Olymp zurück. Vulkan wirft
Jupiter, der wieder Moral predigt, seine bekannten hundert Liebeshandel und
Verwandlungen vor, und berichtet den Göttern zum Schlüsse dessen jüngste
Metamorphose. Diese lachen den alten Herrn, der zuletzt ganz kleinlaut wird,
im Chorus aus. Euridice wird Herrn Orpheus zurückgegeben, und Jupiter
sagt zuletzt: „Kinder, ein Jeder hat seine schwache Stunde. Wichtig ist es
nur, sich den guten Schein zu erhalten. Den Nimbus — Nestroy sprach das
Wort ungefähr Randes aus — den Randes muß man sich bewahren, wenn
man ein Gott ist; denn was ist ein Gott ohne Randes?"
Ich habe dies durchaus frivole, übrigens sehr komische Stück, soweit ich
mich dessen noch erinnere, hier erzählt, um einen Begriff von der Kost zu
geben, wie sie den Wienern vorgesetzt wird und der Mehrzahl von ihnen trefflich
mundet, und bemerke nur noch, daß auch die Stelle mit dem Nimbus offen¬
bar mit Beziehungen gesagt wurde, die sich hier nicht näher bezeichnen lassen.
Wer den Wiener Bürger in Behagen und Heiterkeit sehen will, der muß
den Wurstel-Prater durchwandern, oder die Gartenconcerte und Tanzmusiken
besuchen, wie sie beim spert in der Leopoldstndt, in Neu-Lerchenfeld aus
der Westseite Wiens, jenseits der Josephstadt, und an vielen andern Orten
stattfinden.
In Neu-Lerchenfeld, wo fast jedes Haus eine Wirthschaft ist, brachte, ich
ein paar Abendstunden zu. Fünf- bis sechshundert Menschen, meist dem
Bürgerstande angehörig — doch war auch ein Tisch mit Offizieren besetzt —
speisten hier in einem großen Saale nach der Karte zu Nacht. Drum begann,
auf einer Bühne im Hintergründe, eine Reihe von Vorstellungen, bei denen
vier Personen in Thätigkeit waren, welche — bald einzeln, bald zusammen¬
wirkend und theilweise unter Klavierbegleitung — Lieder, Erzählungen und
dramatische Scenen meist komischen Inhalts und stark gewürzt mit lokalen
Beziehungen vortrugen. Ein gewisser Madras. dessen Name wochenlang
in großen Lettern mit Fettschrift als Lockvogel ans den Anschlagszetteln
stand, zeichnete sich in der That dnrch gewandtes Spiel und schlagen¬
den Witz aus. Die Unterhaltung währte bis Mitternacht, und die Gesell¬
schaft, die nicht müde ward, Beifall zu spenden, befand sich in der heitersten
Stimmung.
Uebrigens versichern alle, welche Wien vor zwanzig Jahren gekannt und
jetzt wiedergesehen haben, daß der Prater und ähnliche Orte damals weit be¬
suchter und lustiger gewesen seien. Fragt man nach dem Grunde, so sagen
die Wiener durch die Vermehrung und Verbesserung der Fahrgelegenheiten
seien jetzt die Leute über eine größere Zahl von Orten ausgestreut. „Und
dann, fügen sie seufzend hinzu, sind die Zeiten nicht mehr darnach angethan.
Die Walzer werden noch ebenso schön gespielt; aber die Füße und — das
Herz sind nicht mehr so leicht."
Nichts ist natürlicher, als daß in einer so großen Stadt Tausende wie
Kinder nur im Augenblicke leben, zumal da der Wiener und der Oestreicher
im allgemeinen erst in der letzten Zeit angefangen hat, über das Regiment,
unter dem er steht, und über die Lage, in welcher er sich in Folge dieses
Regiments befindet, nachzudenken. Trotzdem kann es dem Schärferblickenden
keinen Augenblick verborgen bleiben, daß das sonst so glatte Gesicht der guten
Stadt Wien angefangen hat, recht tiefe Furchen zu bekommen. Was zu
Metternichs Zeiten höchstens von Ohr zu Ohr geflüstert wurde, um den über¬
all aufhorchenden „Spitzeln" nicht ins Garn zu fallen, das wird jetzt laut und
ungestraft, mitunter mit beißendem Spott, in den öffentlichen Lokalen be¬
sprochen. Die Presse, so hart sie auch noch gebunden sein mag, beginnt doch
sich in ihren Fesseln zu regen und die wachsende Gährung zu steigern. Es
fallen laute Demonstrationen vor. wie z. B. neulich, als der deutsche sieben¬
bürger Maager. der Vertheidiger der Nationalvertretung im Reichsrath, in
einem Kaffeehaus von den Gästen durch Aufstehen und dreimaliges Hoch be¬
grüßt wurde. Eine Demonstration ist auch das kecke Auftreten der Ungarn,
die zu Hunderten in ihrem kleidsamen Nationalcostüm erscheinen. Selbst er¬
graute Herrn sieht man in dem aufgeschlagenen Hlitchen, in der schwarzen
Schnürjacke mit Husarenstieseln und Sporen.
Tritt man gebildeten Oestreichern, die ein Herz und einen Blick für die
Zustände ihres Vaterlandes haben, naher, wie dies auf der Reise, wo man
oft Tage lang in derselben Gesellschaft verweilt, sich leicht ereignet, so kommen
bisweilen recht heftige Empfindungen und stürmende Gedanken zum Vorschein.
Eines ,se Allen gemeinsam, daß sie tief verstimmt sind und daß die politische
Lage Oestreichs ihnen als verzweifelt erscheint. Diese Stimmung findet sich
nicht nur in Wien, sondern auch in allen deutschen Provinzen, das „treue
Tyrol" mit eingeschlossen, wo man die Leute ganz laut sagen hört, Hofer
und die anderen Märtyrer und Helden von 1809 seien Narren gewesen; unter
bayrischen Regiment hätte man jetzt Volksvertretung, Friede und Silbergeld.
Ebenso denken viele Gnlizier, sehr viele Böhmen, ebenso die kräftigen Ungarn,
von dein allbekannten grimmigen Haß der Venetianer gar nicht zu reden.
Von einer deutsch-nationalen Gesinnung bei den Deutsch-'Oestreichern
kann, wie die Sachen jetzt liegen, nicht die Rede sein. Jeder Staat ist sich
selbst der nächste, und da Oestreichs Größe und Herrlichkeit auf das bunte
Völkergemisch, das dem Doppeladler untergeordnet ist, sich gründet: so sinnt
man nur auf Mittel, dies wunderliche Konglomerat, das sich zu lösen beginnt
und sich zum Theil schon gelöst hat, so weit als möglich zusammenzuhalten.
Es ist am Ende nur natürlich, daß Oestreich östreichische Politik macht
und Deutschland nur als Mittel braucht, um sich selbst vor dem Sturze zu
bewahren; allein es ist ebenso natürlich und vernünftig, daß Deutschland
endlich deutsche Politik mache und sich hüte, in thörichter Dienstfertigkeit
sich von Habsburg mit in den Abgrund reißen zu lassen.
Aus den Oestreichern. denen ich auf meiner Reise näher trat, hebe ich
drei heraus: eine» Gutsbesitzer, einen Touristen und einen Studente».*) Der
Gutsbesitzer, ein sehr wohlhabender Mann in reiferen Jahren und von durch¬
aus gediegnem Wesen, äußerte sich in den bittersten Klagen über die Geld-
verhältnisse. über den Ruin der Finanzen, die Monopolisirung der wichtigsten
Produkte, den Mangel an Abfluß werthvoller Landeserzeugnisse, die hundert¬
fältige Hemmung der Industrie, kurz: über eine Verwaltung, die nicht das
Wohl des Ganzen, sonder» den Vortheil Einzelner auf Kosten des Landes
vor Augen habe. „Was brauche ich, sagte er, Ihnen, einem Ausländer, viel
von diesen Dingen zu reden? Ihre Zeitungen draußen im Reich sind ja voll
davon. Elende Finanzen, wachsende Schuld, werthloses Papier, Zwangscurs
und Staatsbankrott sind bekanntlich hergebrachte Erscheinungen dei uns. Daß
un» aber diese Krankheit sich in Oestreich chronisch fortschleppt und, während
andre Staaten ihren durch Unfälle gestörte» Haushalt geordnet haben, immer
bösartiger wird, beweist die gänzliche Zerrüttung des Organismus. Sie könn¬
ten mir sagen: Papier ist Geld, wenn Vertrauen darauf ruht. Ja wohl!
Auch andre Staaten haben Papiergeld in Menge geschaffen, aber nur so weil
U,r Credit es ihnen gestattete. Sie sind offen und redlich dabei verfahre»;
die Finanzbehördt» haben den Kammern die schuldige Rechenschaft abgelegt
und ihnen genügende Einsicht in das Soll und Haben des Staats gewährt.
Bei uns dagegen trägt die Finanzwirthschaft das Gepräge der Heimlichkeit
und Unlauterkeit und das allgemeine Mißtrauen ist so groß, daß viele Leute
ihr Silbergeld, wie in Kriegszeiten, verstecken. Unsre Vereinsthaler, Gulden-
stücke und Viertelguldenstücke sieht man, wie Sie selbst erfahren haben werden,
nur außerhalb des Landes. Läßt ein Fremder dergleichen im Kaiserstaate
blicken, so starrt der Oestreicher nicht selten die Münze mit seines eignen Für¬
sten Bildniß wie ein seltnes Schaustück an. Selbst die Sechser, die letzten
Mohikaner unsers Silbergeldes, verschwinden in erschreckender Weise. Trotz
der strengsten Verbote gehen sie zu Tausenden über die Grenze, weil man
dort vortheilhaft östreichisches Papiergeld dafür einkauft. So sind wir auf
Kupfer und Guldenscheine beschränkt, welche letzter» man zu zerstückeln genö¬
thigt ist, um Halbe- und Vlertelguldeu zu erzeugen. Geschäftsleute suchen sich
auch mit beliebigen Surrogaten der Münze zu behelfen, die nur Werth für
sie und ihre Kunden haben. Brief- und Stempelmarken cursiren als Scheide¬
münze. Bald werden wir in den Tauschhandel barbarischer Zeiten zurück¬
fallen, und man wird dem Schneider einen Rock mit so und so viel Säcken
Kartoffeln bezahlen. Daß wir Oestreicher uns scheuen, gegenwärtig eine Reise
ins Ausland zu machen, ist ganz natürlich, weil wir an unsern Guldenschei¬
nen enorme Verluste erleiden. Was will das aber sagen gegen die Verluste
des Geschäftsverkehrs überhaupt? In Folge dieser ungünstigen Sachlage du^t
der Staat jährlich viele Millionen ein."
Auch von Veruntreuungen sprach der Gutsbesitzer, wie man sie sonst nur
in Rußland erwartet. Jener General, meinte er, welcher die braven östrei¬
chischen Truppen im vorjährigen Feldzuge habe verschmachten lassen, indeß
die für den Soldaten bestimmten Ochsen andre Wege gegangen seien, stehe
durchaus nicht allein; er sei nur Einer von denen, die man ertappt und zur
Rechenschaft gezogen habe.
Als der Gutsbesitzer diese und ähnliche Klagen vor mir laut werden ließ,
bebten seine Lippen, und sein Gesicht glühte vor Zorn. „Sehen Sie, rief er,
diese von Gott gesegnete Gegend, diese rührigen, gutwilligen und auch kluge»
Menschen. Sind wir nicht ein Volk, das ebenso glücklich sein konnte, wie
viele andere Völker, ja glücklicher als manche, die jetzt voll Mißachtung auf
uns niedersehn?"
Auch die Industrie, fügte er hinzu, kann in unserm Staate, der noch
einer unendlichen Entwicklung in dieser Beziehung fähig ist, nicht recht auf¬
kommen, weil von oben her alles nach Laune angeordnet und gehandhabt
wird, cihne Consequenz, ohne Einsicht überhaupt, ohne Gerechtigkeit, ohne
guten Willen." „Ja, fügte er bitter hinzu, wenn sie sich besonderer Protec-
tion erfreuen, und am rechten Orte die rechten Federn springen lassen: dann
mag Ihnen wol etwas gelingen. Ob dem Lande damit Schaden geschieht
oder nicht, gilt den Herren gleichviel."
Hatte der Gutsbesitzer sich über die Verwaltung des Landes in Klagen
ergangen, so schlug der Tourist, ein welterfahrener Mann, der durch die SteU
in»g seiner nächsten Verwandten Gelegenheit gehabt, Einblicke in das Trieb¬
werk der Staatsmaschine zu thun, einen Ton des Spottes an, der mich nicht
wenig überraschte. Mit der Gleichgiltigkeit, womit ein Professor der Anatomie
über einen vor ihm liegenden Cadaver spricht, ließ er sich in merkwürdiger
Offenheit über das zerrüttete Kaiserreich aus. „Mag es lieber heute als mor¬
gen in Stücke gehen!" sagte er. seine Cigarre ruhig dampfend; „nur aus sei¬
nen Trümmern wird neues Leben für uns erstes«, und auch Ihr Deutschland
wird dabei gut fahren. Sagen Sie selbst: kann dies Ministerium helfen?
will es helfen? kann irgend ein Ministerium helfen bei dein herrschenden,
tief eingewurzelten System? Ist mit diesem Reichstag etwas anderes gemeint,
als Menschen und Geld zu einem neuen Krieg, Wiedergewinn der Stellung
Habsburgs in Italien, Niederwerfung Sardiniens?"
„Es ist ein altes Gesetz", fuhr er fort, „wer nicht mit der Zeit geht, den
tritt sie unter ihre Füße. Der Absolutismus der Throne, wie auch der Kirche,
hat sich überlebt. Die Völker sind reif geworden, um ihre Angelegenheiten
mit zu berathen. Oestreich kann wirkliche constitutionelle Freiheit nicht ge¬
währen, weil es damit die Kraft der verschiedenen Nationalitäten, die seinem
Scepter unterworfen sind, entwickeln und so seine eigene Auflösung betreiben
würde. Es kann aber auch die Freiheit nicht verwehren; denn flügge Vögel
bleiben nicht mehr auf dem Neste."
„Wenn mich nicht Alles trügt", fuhr er in merkwürdiger Vorahnung der
Dinge, die wir in diesen Tagen (Ende Oktober) erlebten, fort, „wenn mich
nicht Alles trügt, so wird unser Rechberg einen Mittelweg gehen: er wird
eine Scheinconstitution geben, einen Theatergeist der Freiheit, der plötzlich aus
dem Versen! nngsloche auf die Bühne steigt, um. wenn er seine Wirkung ge¬
than hat. wieder in die Nacht zu verschwinden."
Mit großer Energie blies er aus seinem Cigarrenhalter den abgerauchtcn
Stummel über den Gartentisch, an dem wir saßen, und steckte gemüthsruhig
einen andern Glimmstengel hinein. „Wie sagt doch Shylock?" fuhr er fort.
„Er seh' sich vor mit seinem Schein!" — „Mit der Freiheit spielen ist heut zu
Tage gefährlich; das Bewußtsein der Nationen ist durch die Vorgänge in
Italien wunderbar geweckt, und nicht alle Völker lassen sich mehr einreden,
daß Fünf eine grade Zahl ist."
„Ich muß lachen", sagte er nach einer Weile, „wenn ich der hundert
Oestreicher gedenke, mit denen ich diesen Sommer über den Semmering nach
Italien reiste. Diese Schelme — es waren fast lauter wiener Kinder —
hatten sich für den Papst anwerben lassen. So kommen wir, sagten sie mir
in liebenswürdiger Offenheit, umsonst bis Rom — und gehen dann zu Ga-
ribaldi. — Finden Sie das nicht lustig: Oestreicher, die auf Staatskosten dem
Reichsfeind in die Arme laufen?"
Füge ich nun dieser extremen Stimme aus Oestreich noch die eines
Wiener Studenten, „im letzten Semester" hinzu, so könnte man meinen, daß
es unter der östreichischen Jugend eine Partei gibt, welche von einem un¬
ter Preußen geeinigten Deutschland eine Rettung Oestreichs er¬
wartet.
An dem letzen Tage meines Aufenthalts in der Kaiserstadt bestieg ich den
nahen Kahlenberg. Unterwegs gesellte sich ein Musensohn zu mir, ein geist¬
voller junger Mann von edler Gestalt mit großen, feurigen Augen. Als der¬
selbe hörte, daß ich ein Rheinländer sei, forschte er mit Begier nach unsern
Zuständen und besonders — nach den Bestrebungen des Nationalvereins. Mit
großer Anerkennung ließ er sich über Gervinus und Hauffer aus, deren Schrif¬
ten er mit seinen Gesinnungsgenossen las. „O!" rief er, „wollte Gott, daß
man endlich bei uns lernte, sich vor dem Geiste zu beugen, statt ihn zu be¬
kämpfen. Mit dem Strome schwimmend würde Oestreich stark sein; gegen den¬
selben ringend, erschöpft es seine Kraft. Ließe man doch endlich den Kampf
um die Herrschaft über Italien fahren, und schlüge selbst Venedig lieber um
ein gutes Stück Geld los. das doch nur immer unser Stiefkind sein wird.
Was vielen großen Kaisern trotz der angespanntesten Kraft nicht gelang, das
ist wol kaum der Gegenwart beschicken. Sardinien ist die treibende Kraft jen¬
seits der Alpen; es hat ganz Italien durchsäuert, und eine neue freiheitliche
Großmacht ist in dem Lande, das der Po durchströmt und der Appenin durch¬
schneidet, erstanden, die auf das Gefühl des gemeinsamen Baterlandes gebaut
ist und einer schönen Zukunft entgegensieht. Die treibende Kraft diesseits der
Alpen aber ist. so scheint es mir. Preußen, das wir nur immer Jungdeutsch¬
land nennen. Möchten doch die vereinigten Fürsten und Völker draußen im
Reich erkennen, daß nur die Unterordnung unter diese Macht ihre Zukunft
sichert, da sie allein ihnen die ausreichende Kraft zwischen zwei eroberungs¬
süchtigen Großstaaten zu schaffen im Stande ist. Möchte auch Oestreich nicht
länger versuchen, aus Selbstsucht und Kurzsichtigkeit die Entwicklung Deutsch¬
lands zu hemmen. Deutschlands Stärke ist auch Oestreichs Stärke. Mit ihn,
verbündet und mit seinen eignen Völkern durch das Geschenk voller Freiheit
ausgesöhnt, braucht es vor keinem Feinde zu beben."
„Oestreichs Aufgabe," fuhr er fort und wies die vor uns ausgebreitete Donau
hinab gen Osten, wo die Gebirge von Mähren und Ungarn den Gesichtskreis
schlössen, „Oestreichs Aufgabe ist die Verbreitung deutscher Bildung und deut¬
scher Gesittung in den Donauländern. Im Osten Deutschlands liegt, wie
schon unser Name sagt, unser Reich fernhin bis zu den Grenzen Rußlands und
der Türkei, welche letztere wir, wenn sie zerfällt, mit zu beerben Anspruch haben
und in der That mit beerben werden, wenn wir erst Ordnung im eignen Hause
geschafft haben. Schaffen wir diese Ordnung nicht, dann freilich erben wir
nicht, sondern werden beerbt."
Wir standen auf der Leopoldshöhe, dem schönsten Punkte des Kahlenbergs.
neben der Kirche, in welcher einst der Polenkönig Sobieski, Markgraf Ludwig
von Baden und Herzog Karl von Lothringen des Himmels Beistand angerufen
hatten, bevor sie niederstiegen zur berühmten Türkenschlacht. Begrenzt von
der Donau, welche die große Insel Lobau und viele kleinere Auen wie grüne
Schilde in silberner Umfassung hält, dehnte sich die ungeheure Fläche des
Marchscldes aus, wo einst Rudolf von Habsburg durch den Sieg über den
Böhmenkönig Ottokar den Grundstein zu der Macht seines Hauses legte. Wir
sahe» ganz deutlich den weißen Kirchthurm von Aspern glänzen; daneben lag
Eslingen — die denkwürdigen Zeugen des östreichischen Ruhms aus dein Jahre
l809. Die aus der Ebene aufsteigenden Dünste des Abends' verdeckten das
etwas fernere Wagram. Diesseits der Donau zeigte sich das qualmende Häuser-
Meer der Kaiserstadt mit ihren Palästen und Thürmen, aus deren Mitte der
Stephan wie ein Niese emporstieg. Im Osten erschienen die kleinen Karpathen,
die Grenzwächter zwischen Mähren und Ungarn, im Süden die steirischen Alpe»,
>oth angehaucht vou der Glut des Abendhimmels. Allmälig erblaßten Wolken
und Berge; Nebelgebilde erhoben sich gespensterhaft; inmitten derselben stand
rothglühend der Vollmond und schaute wie zürnend auf das östreichische Land
Da die Berliner Lust die Eigenthümlichkeit hat, alle, die in ihr leben, mit
der stillen wonnigen Ueberzeugung zu durchdringen, daß Alles, was in Bcrliw ge¬
schieht, vortrefflich sei, so wird es nöthig sein, von Zeit zu Zeit daran zu erinnern,
daß man anderwärts diese Zufriedenheit nicht ganz theilt.
Um sich ein Urtheil über die Berliner Politik zu bilden, muß man sich auf
den Standpunkt versetzen, den das preußische Cabinet einnimmt. Auch wenn man
diesen Standpunkt nicht für den richtigen hält, fo muß man doch zugeben, daß
das Cabinet nur nach seinen eignen Perspectiven seine Dispositionen treffen kann
und nicht nach denen Andrer. Der Standpunkt des preußischen Cabinets ist aber
folgender:
Im nächsten Frühjahr wird Victor Emanuel so weit gerüstet sein, um Venedig
anzugreifen; diesen Angriff wird man durch Erregung eines Ansstnndcs in Ungarn
zu unterstützen suchen und gleichzeitig wird der Kaiser Napoleon die Gelegenheit zu
einem Nheinfeldzug benutzen.
Wie gesagt, dieser Standpunkt ist nicht der unsrige. Wenn man zur Offen¬
sive entschlossen ist, so ist es allerdings zweckmäßig, einem einzig leitenden Gedanken
alle übrigen unterzuordnen. Will man aber in der Dcfcnsjvc verharren, d. h.
will man die eintretenden Ereignisse abwarten, so ist es nicht weise, auf eine einzige
Eventualität ausschließlich sein Augenmerk zu richten, weil dann leicht eine andre
eintritt, die alle Voraussetzungen über den Haufen wirft, uns überrascht und uns
ungcrüstet findet. Es ist ferner nicht weise, die Rüstungen gegen diese Eventualität
mit einer so großen Ostentation zu treiben, daß dadurch die Gefahr, der man be¬
gegnen will, förmlich herauf beschworen wird. Die Handlungsweise der preußischen
Negierung in den letzten Monaten können wir also nur unter der Voraussetzung
begreifen, daß sie das Eintreten jener Eventualität wünscht.
Preußen wünscht, im Verein mit seinen deutschen Bundesgenossen und mit -
Oestreich einen Krieg gegen Frankreich und Italien zu führen'. Wir halten den
Wunsch nicht für weise, aber wenn er einmal da ist, so muß nothwendigerweise
auch der zweite Wunsch damit verbunden sein: den Krieg glücklich zu führen.
Was hat Preußen zur Erfüllung dieses zweiten Wunsches gethan?
Abgesehn von seiner Armeeorganisation hat Preußen erstens sich bemüht,
außcrdeutschc Bündnisse zu schließen; es hat zweitens an der Reform der Bundcs-
kricgsvcrfassung gearbeitet; es hat drittens die Volksstimmung in Deutschland,
hauptsächlich durch sein Verhalten in der kurhessischen Frage, zu gewinnen gesucht.
— Es ist nach allen drei Seiten hin nicht glücklich gewesen.
Was die auswärtigen Allianzen betrifft, so hat zunächst England erklärt, sich
darauf nicht einlassen zu wollen. Die britische Volksstimmung ist so entschieden
sür Italien und der britische Handel würde unter einem Kriege mit Frankreich so
leiden, daß für jeden unbefangenen Beobachter dieses Resultat im Voraus feststand.
Rußland will Preußen sehr gern benutzen, um Frankreich zu drohen, und ihm in
Bezug auf den Orient Zugeständnisse zu erpressen/ aber es fällt ihm um so weniger
ein, Krieg gegen Frankreich zu unternehmen, da es nicht die Mittel besitzt, denselben
zu führen. Ja wenn wir einen Krieg gegen Frankreich unternehmen, so müßten
wir uns darauf gefaßt machen, daß im Fall eines unglücklichen Ausgangs Rußland
auf der einen Seite, Dänemark auf der andern, sich beeifern werden, ihr bescheiden
Theil an den Erfolgen gleichfalls zu begehren. Oestreich endlich will sich gern ge¬
fallen lassen, daß Preußen ihm gegen Frankreich den Rücken deckt, aber da Preußen
eine so lebhafte Begierde nach dieser Rolle entfaltet, so scheint die Freude, die
es daran empfindet, ein hinreichender Lohn für die etwaigen Mühen und Opfer
zu sein.
So steht es mit dem Ausland; was nun die deutschen Bundesgenossen betrifft
so geht die preußische Regierung, die zu ihrer Information wol ausschließlich die
Augsburger Zeitung benutzt, von der ganz irrigen Voraussetzung, aus, dieselben
brennten vor Begierde sich mit Frankreich zu messen. Die Zeiten haben sich seit
dem vorigen Jahre außerordentlich verändert:' mit Ausnahme von Berlin weiß man
überall wie es mit Oestreich steht; mit Ausnahme von Berlin hat man überall den
Glauben an Oestreich aufgegeben. Allerdings werden die Würzburger Staatsmänner
von einem bestimmten politischen Gedanken geleitet, aber nicht von demjenigen, den
man in Berlin voraussetzt. Ihr Gedanke ist vielmehr: in dem bevorstehenden Kriege
zwischen Preußen und Frankreich diejenige Rolle zu spielen, von der sie im vorigen
Jahr voraussetzten, daß Preußen sie im Kriege zwischen Oestreich und Frankreich
spielen wolle.
In seinem Vorschlage einer Reform der Bundeskricgsverfassung ist Preußen
von der Voraussetzung ausgegangen, daß Oestreich, wenn auch in Italien beschäf¬
tigt, doch sein Bundcscontingent, d. h. drei Armeecorps für den Nhcinkrieg werde
mobil machen können. Unter dieser Voraussetzung war der preußische Vorschlag
militärisch vollkommen gerechtfertigt. Die einzelnen Bundescorps können nur dann
die zum Erfolg nothwendige Massenwirkung ausüben, wenn sie einem schon orga-
nisirten Ganzen angegliedert werden. Preußens Streitkraft muß sich an der nörd¬
lichen Hälfte des Rheins concentriren; die Bundescontingcnte der süddeutschen Staaten
müssen sich also an Oestreich lehnen, d. h. sich mit dem östreichischen Bundcscontin¬
gent vereinen. Der Krieg wird dann freilich von zwei Seiten selbständig geführt,
aber auf jeder Seite ist ein natürlich geschlossenes Ganze vorhanden, und wenn
diese Form nicht die beste ist, so ist sie doch unter den gegebenen Umständen die
einzig mögliche.
Man widersetzte sich diesem Plan^ weil er in die Hände Preußens eine zu große
militärische Macht zu legen schien, und weil man trotz dem Glauben an Preußens
Ehrlichkeit doch immer den (höchst überflüssigen!) Argwohn hegte: mit der Macht
könne auch der Wille kommen. —
Im gegenwärtigen Augenblick sieht man wol ein, daß der Plan auf einer fal¬
schen Voraussetzung beruhte. , Oestreich kann und wird zu einem Nheinkrieg nicht
sein Bundcscontingent stellen, sondern es wird höchstens die italienischen und unga¬
rischen Truppen, denen es mißtraut, an den Rhein werfen, wozu es bereits einen
höchst erfreulichen Anfang gemacht hat. Das weiß man in Deutschland überall,
nur in Berlin scheint man es nicht zu wissen.
Die Würzburger sind nun mit einem Gegenantrag hervorgetreten, dessen cha¬
rakteristische Momente in 4—12 enthalten sind. In diesen Paragraphen wird
»unlieb der Fall gesetzt, auf den es ganz allein ankommt: der Fall, daß Preu¬
ßen am Bundeskrieg mit seiner ganzen Armee, Oestreich gar nicht Theil nimmt.
Für diesen Fall wird 1) die Wahl des Oberfeldherrn des gescnnmtcn Bundes den
am Krieg theilnehmenden Regierungen anheim gegeben, 2) für die nichtprcußischcn
Truppen ein zweiter Oberfcldhcrr bestimmt, unter dessen Leitung Bayern, Würten-
berger, Hessen, Hannoveraner, Mecklenburger u. s. w. vereinigt und organisirt wer¬
den sollen (wie es scheint, noch vor Beginn des Kriegs). —
Wenn also die Würzburger gegen den preußischen Entwurf eiferten, weil er
einen militärischen Dualismus herstellt, so begehren sie jetzt einen noch viel cntschied-
nern Dualismus ; nur daß im ersten Fall der Dualismus auf den gegebenen ge¬
ographischen und militärischen Zustände» beruhte, während er im zweiten künstlich
organisirt werden soll. Denn natürlich ist es doch nicht, daß die Mecklenburger
unter einem bayrischen Commandanten stehen.
Es ist möglich, aber keineswegs ausgemacht, daß man zum Oberbefehlshaber
der Gesammtarmce einen preußischen General wählt; es ist ebenso möglich, daß
sämmtliche nicht preußische Armeen z. B. unter einen hannöverischen, und die ge-
sammte Bundesarmce mit Inbegriff der preußischen unter einen bayerschen Oberbe¬
fehlshaber gestellt wird.
Wenn die preußischen Minister geneigt sein sollten, nnter dem Einfluß der ber¬
liner Luft ihren politischen Einfluß zu hoch anzuschlagen, so mögen sie Folgendes
erwägen: — so etwas ist Preußen unter dem Ministerium Manteuffel nicht geboten
worden!
Nun wird freilich der Vorschlag von Preuße» abgelehnt werden und demnach
nicht in Wirksamkeit treten. Aber er genügt doch, um den politischen Gedanken
kenntlich zu machen, welcher die Würzburger Verhandlung geleitet hat. Vom mili¬
tärischen Standpunkt wird es gewiß keiner vertheidigen, daß die Armcctheilung auf
die eine Seite die Truppen des östliche» und westlichen Preußen wirft, welche geo¬
graphisch von einander getrennt sind, auf die andre Seite Bundestruppen aus weit
von einander liegenden Ländern, von denen jedes sein eignes Selbstgefühl hat! —
wenn es schon dem preußischen Oberbefehlshaber nicht leicht werden wird, gegen die
Hannoveraner das nöthige Ansehn zu behaupten, so wird es einem bayerschen Ober¬
befehlshaber noch schwerer fallen. Militärisch betrachtet, enthält also der Würzburger
Entwurf nicht eine Organisation, sondern eine Desorganisation.
Aber politisch liegt ein wirklicher Gedanke zu Grunde. Der Würzburger Verein
will in dem zu erwartenden Kriege durch Trennung seiner Macht von der preußischen
zwischen den hauptsächlich kriegführenden Parteien militärisch eine unabhängige mitt¬
lere Stellung einnehmen und dieselbe unter dem Eintritt gewisser Eventualitäten
geltend machen.
In Berlin ist man sehr geneigt, über alles was komisch klingt zu lachen, und
sich dadurch den lästigen Gedanken vom Hals zu schaffen. Man wird auch über den
Würzburger Entwurf lachen. Es liegt aber ein sehr tiefer Ernst dahinter, über den
man gründlich nachdenken sollte, ehe man in den französischen Krieg taumelt.
Diese Erwägung kann auch den Entschluß erleichtern, den man früher zu fassen
hat, ehe das Frühjahr uns den Krieg bringt. Nicht morgen, sondern heute hat die
preußische Regierung sich darüber zu entscheide», wie sie sich in den kurhcssischen
Händeln zu verhalten gedenkt. Zeit genug hat sie gehabt, sich die Sache zu über¬
legen ', zu unserm tiefen Bedauern hat der Herr Minister der auswärtigen Angelegen¬
heiten eine Zeit lang das Bette hüten müssen, aber in dieser Periode wird doch wol
der Eine oder der Andre gewesen sein, der sich der Geschäfte angenommen hat. Wenn
wir den inspirirter Federn trauen dürfen, so fängt man schon an, die Sache sehr un¬
bequem und unbehaglich zu finden: man möchte wünschen, daß sie gar nicht da wäre,
oder wenigstens auf die eine oder andre Weise hinausgeschoben werden könnte. Unan¬
genehm ist sie, verdrießlich ist sie, aber sie ist da und hinauszuschieben ist sie auch
nicht. Die Vcrurcheilung der vlmützer Politik war das Schibolet, welches die
verschiedenen Fractionen der gegenwärtigen Regierungen zusammenbrachte: möge das
Ministerium nicht vergessen, daß Olmütz kein lokaler Begriff ist, daß die Niederlage
Preußens in Kurhessen stattfand, und daß ein zweites Brandmal von der preußischen
Als nach dem Fehlschlagen der auf die nationale Einigung gerichteten
Bestrebungen des deutschen Volkes die Reaction auch über die Verfassungen
der Einzelstaaten hereinbrach und niederriß, was die Jahre 1848 und 49 ge¬
baut hatte», da zeigte sich in manchen Staaten eine Gleichartigkeit der Be¬
völkerung gegen die verfassungsmäßigen Errungenschaften jener beiden Jahre,
welche in merkwürdigem Widerspruche zu der politischen Regsamkeit in der
diesen Jahren vorausgehenden Periode stand. Und doch lag dieser jedenfalls
nicht zu rechtfertigenden Gleichgiltigkeit zum Theil ein richtiges Gefühl zu
Grunde. Wenn man zurückging auf die Ursachen des Scheiterns der nationalen
Bestrebungen, so mühte man sich mit Beschämung sagen, daß diese zum guten
Theile auf die vormärzlichen liberalen Ständekannnern sich zurückführe» ließen.
Diese hatten dazu gedient, die politische Bildung lediglich auf Frage» »ach der Form
der einzelnen Staatsverfassungen zu beschränke», sie hatten die Aufmerksamkeit
des deutschen Volkes von seinen nationalen Aufgaben abgelenkt auf die unwesent¬
licheren Forderungen eines oft flachen Liberalismus, sie hatten jene politischen
Schlagwörter groß ziehen helfen, unter denen die nationale Sache verkümmerte.
Man fühlte klar, daß man das Mittel zum Zwecke gemacht hatte, und als
daher die Reaction jene liberalen Gesetze, die das Jahr 1848 so reichlich hervor¬
gebracht hatte. Stück für Stück zerriß, da machte wol mancher seinem Zorne
über diese Verletzungen des bisherigen Rechtszustandes in kräftigen Ausdrücken
Luft, aber eine besondre Wichtigkeit maß er der Sache nicht bei. Dazu kam
die tiefgehende Zersetzung der bisherigen Parteien. Die alten Liberalen der
frühern Ständekammern insbesondre waren in den Fragen der Verfassungs¬
politik von dem jüngern Geschlechte weit überholt worden; und die Verfassungs¬
politik war der Boden gewesen, auf dem sie gewachsen waren. Gegen die na¬
tionalen Frage» hatten sie sich zumeist mißtrauisch verhalten, und so auch auf
diesem Terrain nicht an Einfluß gewinnen to»»e», was sie aus jenem verloren
hatten. So war es denn der Reaction leicht gemacht, ihren Triumph zu feiern;
und sie hielt ihn mit keckem Uebermuthe, bis ihr der November 1858 ein Halt
zurief.
Es charakterisiert die Lage in Deutschland, daß die Vorgänge in Preu-
ßer, die zunächst lediglich die Fragen der Verfassung eines einzelnen Staates
berührten, von dem übrigen Deutschland als ein Ereigniß von nationaler
Bedeutung begrüßt und daß die nationalen Fragen dadurch unmittelbar
wieder in den Lordergrund gerückt wurden. Die Parteien knüpften unmittel¬
bar an diese letzteren wieder an und brachten sich durch ihren vorläufigen Ver¬
zicht auf die Stellung und Lösung der Fragen der Freiheit in arge Gefahren,
indem sie ohne Weiters sich um das nationale Banner scharten, gleichviel
von wessen Hand es getragen wurde. Und auch vielen von denen, welche eine
Ahnung davon hatten, was es bedeute, das liberale preußische Ministerium
in diesen Krieg zu treiben, kam es doch sast wie eine Abirrung von den Haupt¬
zielen vor, wenn dieses Ministerium gegenüber den Mahnrufen zum nationalen
Vorschreiten vorerst auf den Weg zur Reform in den Einzelstnaten hinwies,
und zuvörderst eine Bethätigung der Thatkraft und Anbahnung der Mittel auf
diesem Gebiete forderte. Es ist als ein erfreuliches Zeichen des Zurückkom¬
mens von einer neuen Einseitigkeit und der wachsenden Einsicht in die politi¬
sche Lage Deutschlands zu begrüßen, wenn man nun diese Forderung immer
mehr zu würdigen versteht und wieder beginnt, dem Verfassungsleben der
einzelnen Staaten mit erneuter Aufmerksamkeit und Energie sich zuzuwenden.
Es soll und darf dem deutschen Volke nicht wieder begegnen, daß es die Ein¬
heit über der Freiheit versäumt, aber es würde ebenso bedauerlich sein, wenn
man nur auf die endlich durch irgendwelche wichtige Ereignisse herbeizuführende
Lösung der Einheit speculiren und darüber die Wirksamkeit für jene Ideen im
Verfassungsleben der einzelnen Staaten vernachlässigen wollte.
Das Gesagte gilt ganz besonders auch von den sächsischen Zuständen, und
daß auch hier jene erfreuliche Wendung eingetreten ist, das beweist uns die
ganz besondre Aufmerksamkeit, die man bei dem Zusammentreten der sächsischen
Stände dem sächsischen Wahlgesetze zuwendet. Eine Reform des sächsischen
Wahlgesetzes berührt nicht blos untergeordnete Fragen der activen und passiven
Wahlfühigkeit, sie bedeutet eine Reform des ganzen Charakters der ständischen
Vertretung, sie involvirt nothwendige Abänderungen der Verfassung selbst; eine
Geschichte des sächsischen Wahlgesetzes ist fast eine Geschichte der consiitutio-
nellcn Entwicklung Sachsens überhaupt.
Das Königreich Sachsen ist sehr spät erst in die Reihe der constitutionellen
Staaten eingetreten. Bis zum Jahre 1831 hatte es nur eine aus den alten
Volksversammlungen der freigebornen Gutsbesitzer hervorgegangene und durch
das Lehnswesen weiter ausgebildete ständische Vertretung, bet der seit dem
vierzehnten Jahrhundert auch die Städte erschienen und seit der Einführung
der Territorialsteuern eine größere Bedeutung erhielten, die zu einer Vereinigung
ihres Körpers mit dem der Ritterschaft führte. Die erste Curie, bestehend aus
den Prälaten. Grafen und Herrn, wurde durch die Theilung Sachsens außer-
ordentlich geschwächt und bestand nach dieser nur noch aus dem Hochstift Meißen,
Solms-Wildenfels und Schönburg, zu denen die Universität Leipzig hinzugefügt
wurde. Die Ritterschaft war gebildet durch die persönlich zum Erscheinen berechtig¬
ten altadeligen Besitzer landtagsfähiger Güter, 40 Erwählte der wegen ihres
Standes nicht zum Erscheinen berechtigten Besitzer schriftsüssiger Güter, und
durch erwählte Deputirte der amtsässigen Rittergüter. Zum Beschicken des
Landtages waren vor dem wiener Frieden 128. nach demselben 85 Städte
berechtigt, von denen jede in der Regel nur einen durch die städtischen Depu¬
taten aus der Mitte des Stadtraths gewählten Abgeordneten, Leipzig und
Dresden zwei schickten. Die Berathschlagungen bezogen sich vorzüglich aus
folgende Gegenstände: Allgemeine Landesangelegenheit (Prüliminarschrist):
einzelne landesherrliche Decrete und Resolutionen, einzelne Beschwerden und
Jntercessionalien für andre Unterthanen, und die landesherrliche Proposition
(Haupt- und Bewilligungsschrift). Ergab sich nach den durch Deputationen,
engere und weitere Ausschüsse u. s. f. gepflogenen Verhandlungen eine Ver¬
schiedenheit der Meinung zwischen Ritterschaft und Städten, die sich durch Commu-
nicntion nicht heben ließ, so wurde diese in der ständischen Schrift angezeigt.
Es ist nicht unwichtig, sich jener früheren Gestaltungen zu erinnern, weil
sich daraus die Beurtheilung für das Wahlgesetz vom 24. September 1831
und die damit in Verbindung stehenden Paragraphen der Verfassung von selbst
ergibt. Man kann dieses Urtheil kaum kürzer und richtiger geben, als es im
Jahre 1848 in der ersten Kammer der Abgeordnete von Thielau ausgesprochen
hat, der das Wahlgesetz einen Vergleich zwischen der alten und neuen Gestal¬
tung nannte, den Zeitbedürfnissen Rechnung tragend, indem dem kleinen Besitze
eine Vertretung gewährt sei. aber für die Dauer unhaltbar wegen der über¬
wiegenden Vertretung des Grundbesitzes. Die Neigung zu Kompromissen,
zu Halbheiten liegt vielleicht in der sächsischen Natur, wenigstens ist kaum
ein größeres organisches Gesetz seit der Einführung der Verfassung entstanden,
das nicht den Charakter der Halbheit, des Kompromisses trüge, wie denn noch
neuerdings zwar die Patnmonialgerichte aufgehoben, aber Justiz und Verwal¬
tung nicht getrennt worden sind, wie man zwar Oeffentlichkeit und Mündlichkeit
im Strafverfahren eingeführt hat, aber unter Beseitigung des Geschworncn-
institutes. Jedenfalls trägt aber an diesen Halbheiten auch jene erste Halbheit
in den Gesetzen von 1831 einen wesentlichen Theil der Schuld, und das ist
namentlich bei den letztgedachten Gesetzen sehr offenbar.
Die Verfassung von 1831 schuf nämlich zwei Kammern, die in Folge von
Ereignissen, deren wir später zu gedenken haben, noch heute ihre damalige Zu¬
sammensetzung haben und beziehentlich nach dem Wahlgesetze von 1831 gewählt
werden, und auf die wir daher näher eingehn müssen. Die erste Kammer besteht
nach § gZ der Verfassung: aus den volljährigen Prinzen, den Vertretern des Hoch-
Stifts Meißen und des Collegiatstiftes Würzen, Korporationen, die weder eine
politische, noch eine kirchliche Wichtigkeit haben, fünf Vertretern von Standes¬
und sogenannten Rcceßhcrrschaftcn, zwölf auf Lebenszeit gewählten, zehn vom
Könige ernannten Rittergutsbesitzern, den ersten Magistratspersonen von acht
Städten, dem Abgeordneten der Universität Leipzig, dem Oberhofprediger, dem
katholischen Decan des Domstifts Bautzen, dem Superintendenten zu Leipzig.
Die zweite Kammer dagegen besteht nach § 08: aus zwanzig Abgeordneten
der Rittergutsbesitzer, fünfundzwanzig Abgeordneten der Städte, fünfundzwan¬
zig Abgeordneten des Bauernstandes, und fünf Vertretern des Fabrik- und
Handclsstandes.
(5s ist in den Staatswissenschaften durch eine Theorie, welche zwischen
Staat und Staatsbürger als organisches Glied des Ganzen die gesellschaft¬
lichen Kreise einschickt, die Theorie der ständischen Vertretung dieser Kreise
gegenüber der reinen repräsentativen Vertretung mit blos numerischer oder
geographischer Eintheilung der Staatsbürger wieder sehr zu Ansehen gekom¬
men. Wie aber diese Gesellschaststhcorie vom rein wissenschaftlichen Stand¬
punkte aus viele Gegner gefunden hat, so ist ihr auch vom praktischen
Standpunkte aus entgegen zu halten, daß es schwer gelingen wird, alle
die gesellschaftlichen Kreise und Beziehungen, die den Staat bilden, so sicht¬
bar anatomisch zu präpanren und nach ihrem Gewichte so gegen einander abzu¬
wägen, um darauf ein System der ständischen Vertretung zu gründen, das
nicht jeden Augenblick durch Willtmlichkeit sich behelfen müßte. Man braucht
indessen nicht in diese Streitfrage einzugehn, um die ständische Vertretung
der sächsischen Verfassung zu verurtheilen. Denn es handelt sich in
der That hier nicht nur um ein willkürliches rohes Gefüge von in ihrem Ver¬
hältniß zu einander und zum Staatsganzen gar nicht bemessenen Factoren,
es handelt sich vielmehr darum, daß die Eintheilung des Staats in drei
Hauptklafse», Rittergutsbesitzer, Städte und Bauern das Staatsganze zerreißen
und einen Kampf unter diesen drei Factoren erzeugen muß, der nicht nur dem
Wesen einer repräsentativen, sondern dem Wesen einer constitutionellen Ver¬
tretung überhaupt völlig fremd ist. Zwar heißt es in § 78 der V. U: die
Stände sind das gesetzmäßige Organ der Gesammtheit der Staatsbürger und
Unterthanen :c. allein der ganze geschichtliche Ursprung der Stände aus den frü¬
heren, denen man eben nur noch eine Vertretung des bäuerlichen Besitzes bei¬
gefügt hat, und sodann namentlich auch die Bestimmungen des Wahlgesetzes,
wonach die einen Wahlbezirk ausmachenden Rittergutsbesitzer, Städte oder
Bauern in der Wahl eines Abgeordneten auf Personen ihres Bezirkes, be¬
ziehentlich Standes beschränkt sind, haben in die neue Verfassung eine Classcn-
trennung herübergetragen, wie sie eigentlich nur früheren ständischen Vertretun¬
gen eigen ist, und wie sie z. B. jetzt noch in Schweden besteht, nur mit dem
wichtigen Unterschiede, daß die Einfügung der einzelnen Stände in zwei
Kammern ein Majorisiren des einen Standes durch den andern möglich
macht. Auf welcher Seite nun dieses ungeheuere Uebergewicht liege, ist oben
angedeutet worden, und kann nach der auch nur oberflächlichen Uebersicht
der Bestandtheile beider Kammern allerdings keinen Augenblick zweifelhaft sein.
Der Grundbesitz ist so bevorzugt, daß ihm gegenüber die., Vertretung der
Städte zu einer kleinen Minorität zusammenschwindet. Es hat zu keiner Zeit
an Klagen über dieses Mißverhältnis gefehlt, und es ist dasselbe gewiß ein
sehr bedauerliches, allein noch entschieden nachtheiliger ist das ganze System
jener Classentheilung, die Geschichte unserer Ständeversammlungen gibt dazu
den Beleg. Die Vertretung einzelner Stände hat eigentlich eine nothwen¬
dige Consequenz, nämlich die Mitwirkung dieser Stände auf die den einzel¬
nen Ständen angesonnenen Leistungen zu beschränken. Hieran hauptsächlich
knüpfen die Landstände historisch an, und wo eine solche Interessenvertretung
in der ständischen Vertretung erhalten ist, da drückt dies ihrer Wirksamkeit
unvermeidlich den Charakter auf. Alles, was über das specifische Interesse
des einzelnen Standes hinausgeht, erscheint eigentlich als eine Anomalie,
wen» die Stände darüber gehört werden. Es braucht einer Kammer an und
für sich noch nicht zum Schaden zu gereichen, daß sie überwiegend Ritter¬
gutsbesitzer und Bauern zählt, der Schade liegt darin, daß sie als solche, als
Vertreter ihres Standes darin fitzen, ihr Mandat vorwiegend auf ihren Stand
lind ihren Bezirk zurückführen und in der Erfüllung der diesen gegenüber auf
sich habenden Verpflichtungen die Hauptaufgabe ihrer Wirksamkeit erblicken.
So kommt es denn, daß solche Kammern weder getragen werden von dem
Geiste der öffentlichen Theilnahme, noch auf das Volk eine anregende, erziehende
Wirkung ausüben. Wo aber diese Wirkung fehlt, da ist eine der wesentlich¬
sten Aufgaben des Constitutionnlismus verfehlt; denn nicht darin blos hat die¬
ser seine Ausgabe zu suchen, daß er das Volk schützt gegen Willkür, sondern
darin hauptsächlich, daß er die geistige Ausgleichung zwischen Regierung und
Regierten übernimmt, daß er den Unterthan zum Staatsbürger macht, ihn
heranzieht zur lebendigen Betheiligung nur Staate durch geistige wie materi¬
elle Leistungen, daß er den Patrimonialstaat umgestaltet in den Rechtsstaat.
Daß die Ausübung dieser Wirkung dem ständischen Wesen in Sachsen nicht
entfernt geglückt ist, das fühlt jeder, welcher in Sachsen auch nur acht Wochen
l"ng gelebt hat.
Zum Theil aus diesem Gefühle, zum Theile aus der Rivalität der Städte
liegen den bevorzugtesten Stand, gegen die Rittergutsbesitzer, ging dann die
Agitation auf eine Umgestaltung der ständischen Vertretung hervor, die im
Jahre 1848 vor Allem betont wurde, so daß eine Reform des Wahlgesetzes
eine der ersten Verheißungen der Negierung bilden mußte.
Es ist nicht nur für die Beurtheilung des damaligen Rechtszustandes,
sondern auch für die Orientirung in den vcrschiedenseitigen Wünschen und
Bestrebungen interessant, Borgängen, die sich an jene Agitation anknüpfen,
etwas naher zu folgen.
Die am 21. Mai 1848 zusammentretender Stande waren hauptsachlich
zur Abänderung des Wahlgesetzes und der damit in Verbindung stehenden
Paragraphen der Verfassung zusammenberufen, und sie erklärten sich in ihren
Adressen an den König bereit, hieraus einzugehen. Namentlich sagte die erste
.Kammer in §. 12 ihrer Adresse: „Nicht minder werden wir bei der Berathung
eines neuen Wahlgesetzes bethätigen, daß die erste Kammer bereit ist. fern
von allen Standes- oder Sonderintercssen der Rittergüter, lediglich das wahre
Wohl der Gesammtheit des Volkes sich hierbei zum Zielpunkte dienen zu las¬
sen, getragen von der Idee, daß die Vorrechte der zeither bevorzugten Klas¬
sen fallen müssen, und nur durch Kräftigung des sittlichen Elements in allen
Schichten der Bevölkerung die Nationen der wahren Freiheit entgegengeführt
werden können."
Der Entwurf eines Wahlgesetzes, den die Regierung den Ständen vor¬
legte, hatte zunächst nur die Umgestaltung der zweiten Kaminer im Auge,
indem man mit der nach dem neuen Wahlgesetze gewählten Kammer so¬
dann wegen der Umgestaltung der ersten Kammer berathen und beschlie¬
ßen wollte. Nach diesem Entwürfe sollte die zweite Kammer bestehen
aus 57 Abgeordneten der städtischen Bezirke, und 38 der ländlichen Bezirke,
in welchen letzteren alle Stimmberechtigten solcher Grundstücke Theil nehmen
sollten, welche einem städtischen Gcmeindebezirke nicht angehörten, also
namentlich auch die Rittergutsbesitzer. Daneben enthielt der Entwurf
auch Bestürmungen wegen der Wahl von Rittergutsbesitzern in die erste
Kammer, welche von Rittergutsbesitzern mit einem gewissen Census gewählt
werden sollten. — Allein die Woge des Unwillens gegen die erste Kammer
ging zu hoch, als daß man nicht sofort energischer Hand an deren Umgestal¬
tung hätte legen sollen. Diesem Unmuthe lieh Worte der Abg. Haase, der¬
selbe, welcher später den reactivirten Landtag als Präsident der zweiten Kam¬
iner inaugurirte. Er wünschte, daß die 22 Plätze der Rittergüter in der ersten
Kammer durch Kapacitäten des Fabriks- und Handelsstandcs, oder auch durch
Grundbesitzer, aus der Wahl des Volkes hervorgegangen, besetzt würden, und
stellte daher den Antrag, die Vorlage, insoweit sie die Wahlen der Ritterguts¬
besitzer in die erste Kammer, betreffe, abzulehnen. In Folge dieses Antrags,
der mit 41 gegen 32 Stimmen angenommen wurde, nahm die Regierung frei¬
willig ihren ganzen Entwurf zurück, nachdem derselbe zuvor jedoch auf ihren
Wunsch von der zweiten Kammer im Detail berathen worden war. Die
Majorität der Deputation (Referent Tzschirner) hatte ihren Bericht in acht
Glaubensartikel gebracht; 1. Einkammersystem; 2. directe Wahlen; 3. hin¬
sichtlich des Alters genügt Volljährigkeit (d. i, 21 Jahre) zur Stimmberech-
tigung und Wählbarkeit; Almosenpcrcipienten sind nicht ausgeschlossen; 4.
Staatsdiener und Hofbeamte nicht wählbar; 5. kein Zwnngsrecht für An¬
nahme der Wahl; 6. die Regierung hat sich aller Betheiligung bei der Wahl
zu enthalten; 7. Wahl für nur je einen Landtag; 8. alljährlich ein Land¬
tag. Dem Majoritätsgutachten stand das einer Minorität gegenüber (Schäffer
und Oehnngeii); dasselbe beantragte g,, die Bildung von 25 städtischen Wahlbe¬
zirken außer Dresden, Leipzig und Chemnitz und 45 ländlichen mit je einem
Abgeordneten; b. Beschränkung der ländlichen Bezirke in der Wahl von Ab¬
geordneten aus Personen ihres Bezirkes. — Die Debatte entbrannte zunächst
heftig über das damals sehr beliebte Thema des Einkammersystems, die
Kammer entschied sich nach mehrtägiger Debatte für das Zweikammer¬
system, dagegen sprach sie sich mit sehr großer Majorität für directe Wahlen,
und mit 53 gegen 18 Stimmen gegen die Abgrenzung in städtische und
ländliche Bezirke aus. schwankender verhielt sich die Kammer gegenüber
dem von der Regierung angenommenen und von der Majorität der Deputa¬
tion bevorworteten Principe, daß die Wählbarkeit eines Abgeordneten an kei¬
nen Bezirk gebunden sein dürfe, indeß wurde dasselbe doch mit 39 gegen 23
Stimmen angenommen, sowie gegen nur 2 Stimmen das Princip, dre Wählbarkeit
nicht an ein Glaubensbekenntniß zu binden. Tie Negierung siegte gegen die
Majorität der Deputation in Betreff des zur Wählbarkeit erforderlichen Al¬
ters (30 Jahre), des Erfordernisses der Selbständigkeit !c. Dinge, die heut
zu Tage schwerlich zu solchen Discussionen Anlaß geben würden. Im
Betreff der Wählbarkeit der Staatsbeamten entschied man sich gleichfalls
gegen die Deputation, und es wurde außerdem noch der Antrag ange¬
nommen : daß die zu Abgeordneten gewählten Staatsdiener die Genehmi¬
gung der vorgesetzten Behörde nicht bedürfen sollten. Man lehnte ferner
Mit 41 gegen 22 Stimmen die alljährliche Wiederholung des Landtags ab.
nahm aber den Antrag der Deputation, daß die Wahl nur für einen Land¬
tag zu gelten habe, mit 53 gegen 10 an.
Ans Grund der gepflogenen Verhandlungen legte die Regierung im Sep¬
tember einen neuen Wahlgesetzentwurf vor. der die zweite Kammer anlangend
un Wesentlichen die Majoritätsbeschlüsse dieser Kammer adoptirte. Sach¬
sen wurde darnach in 76 Wahlbezirke getheilt, deren jeder einen Abgeordnete»
zur Kammer zu senden haben sollte. In Betreff der ersten Kaminer aber
to'ngcm die Vorlagen der Negierung dahin- Aus je zwei Bezirken sollte ein
Abgeordneter gewühlt werden; zur Stimmberechtigung sollte außer den betref¬
fenden Erfordernissen bei der zweiten Kammer noch Grundbesitz nöthig sein;
zur Wählbarkeit ein Census von zehn Thalern directer Steuern. Außerdem
machte die Regierung einen immerhin interessanten Versuch, gewissen Lebens-
kreisen der Intelligenz eine besondere Vertretung in der ersten Kammer zu
geben. Zehn Mitglieder sollten nämlich noch in diese gewählt werden l. einer
von der Universität Leipzig, 2, drei von den Lehrern der hohem Schulen,
drei von den Geistlichen, 4, drei von den Lehrern an Volksschulen. Diesem
Wahlgesehentwurf zur Seite stand ein Gesetzentwurf, welcher die durch das
Wahlgesetz nothwendig gemachten Veränderungen der V. U.. insbesondre
aber auch einen K über ein Vereinigungsverfahren zwischen beiden Kammern
bei obwaltenden Differenzen enthielt. Beide Gesetzentwürfe waren als pro¬
visorische bezeichnet. Ans diese beiden letztern Punkte waren zwei allgemeinere
Anträge des Deputanvusberichtö der zweiten Kammer, auf deren Berathung
wir hiermit übergehen, gerichtet, nämlich erstlich: daß wenn beide Kammern
über den betreffenden Gegenstand im Verlauf der gesonderten Berathungen
sich nicht vereinigen können, dann beide noch zu einer gemeinschaftlichen Be¬
rathung und Abstimmung zusammentreten und der Beschluß nach der Mehr¬
zahl der vereinigten Stimmen gefaßt werden solle, und zweitens: daß beide
Gesetzentwürfe nur als provisorisch zu gelten hätten. Beide wurden, der
erste gegen acht, der zweite gegen zwei Stimmen angenommen. Um diese
Anträge richtig zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß die in den
Kammern nur schwach vertretene radicale Partei außerhalb derselben mächtig
gegen das Zweikammersystem agitirte, den noch Lus dem alten Wahlgesetz
basirenden Standen das Recht einer definitiven Ordnung der Verfassungsver¬
hältnisse absprach und mit einer constituirenden Versammlung drohte. Durch
die erstere Combination erhielt man sich die Möglichkeit, bei Conflicten zwi¬
schen beiden Kammern dieselben auf friedlichem Wege zu ordne», indem man
für den einzelnen Fall gewissermaßen zum Einkammersystem zurückkehrte, wäh¬
rend man sich übrigens durch die Theilung der Autoritäten dagegen sicherte,
aus der einen Kammer eine Conventsregierung erwachsen zu lassen. Durch
die später so wichtig gewordene Bezeichnung der Gesetze als „provisorische"
suchte man jene extremen Richtungen zu beschwichtigen, indem man damit so-
wol von Seiten der Regierung als der Kammer das ausdrücken wollte, daß
durch diese Gesetze den auf Grund derselben zusammentretender Kammern nicht
vorgegriffen werd'en sollte, die Revision der Verfassung, namentlich bezüglich
des Zweikammersystems, in gesetzmäßiger Weise von Neuem vorzunehmen.
Außerdem wurde dabei auch auf möglicherweise durch die Nationalvcrtretuug
nöthig werdende Modificationen hingewiesen. Bei der speciellen Berathung
entschied man sich zunächst für den Wegfall der Stellvertretung mit 53 gegen
17 Stimmen, und verwarf mit der ungeheuern Majorität von K!> zu 2 das
Project, den Geistlichen und Lehrern eine besondre Vertretung zu gewähren.
Unter Annahme der bezüglich der ersten Kammer über Stimmberechtigung und
Wählbarkeit aufgestellten Grundsätze wurde deren Znsanmiensctzung von der
zweiten Kammer nun dahin bestimmt, daß die volljährigen Prinzen des Hau¬
ses zum Eintritt berechtigt bleiben sollten, daneben aber 50 Mitglieder und
zwar je zwei Abgeordnete von je drei der auf 75 reducirten Wahlbezirke ge¬
wählt werden sollten. Mit nur unwesentlichen anderweiten Modifikationen,
worunter nur die der Armee ertheilte Stimmberechtigung erwähnt werden
soll, wurden beide Entwürfe angenommen. — Bei der Berathung in der er¬
sten Kammer war man in den entschiedensten Ausdrücken darüber einig, daß
die Wahlreform eine dringende Nothwendigkeit sei. Einen heftigen Angriff
in der Debatte dargegen erlitt, und man darf Heu tehinzufügen. wol nicht mit
Unrecht, die Bestimmung über das Vereinigungsversahrcn der beiden Kammern;
indeß wurde sie schließlich dennoch angenommen mit 22 gegen 13 Stimmen.
Eigenthümlich war es, daß hierbei die erste Kammer den Antrag d?r frühern
radicalen Deputation der zweiten Kammer, der von dieser verworfen worden
war, auf einjährige Perioden des Landtags wieder aufnahm (gegen nur drei
Stimmen). — Jene Bestimmung über das Vereinigungsverfahren suchte man
aber dadurch unschädlich zu machen, daß man für beide Kammern eine gleiche
Mitgliederzahl bestimmte (60), wobei das Amendement, diese Bezirke in städ¬
tische (20) und ländliche (40) zu theilen, abgelehnt wurde. Eine merkwürdige
Konsequenz hiervon war, daß grade die erste Kammer den fakultativen Ein¬
tritt der volljährigen Prinzen verwarf. Außerdem beschloß die Kaminer noch
das Erfordernis; des fünfjährigen Aufenthalts im Lande zur Stimmberechtigung,
was der Minister Braun als eine Satire aus die deutsche Einheit bezeichnete,
und das Alter von 25 Jahren zur Stimmberechtigung. Da aber in allen
diesen wesentlichen Differenzpunkten die zweite Kammer fest an ihren Beschlüs¬
sen hielt, obwol einige Vorschläge der ersten Kammer, wie z. B. einjährige
Periodicität, ein Kompromiß mit der radikalen Partei zu suchen schien, so gab
die erste Kammer ohne alle Debatte nach, und die Negierung erließ ans Grund
dieser Beschlüsse die beiden Gesetze vom 15. Novbr. 1848. welche gewisse
Bestimmungen der Verf. Art. und das bisherige Wahlgesetz aufhoben und
ersetzten.
Wir haben es nicht für unwichtig gehalten, auf, die einzelnen Verhand¬
lungen und Beschlüsse einzugehn, weil die Principien, die hier in Anregung
gekommen und zur Entscheidung gebracht worden sind, bei jeder Wahlgesctzre-
form in den Vordergrund treten werden. Man kann gewiß nicht in Abrede
stellen, daß Kammern wie Regierung gegenüber den ausschweifenden Forderungen
der Zeit eine verständige Mäßigung und Festigkeit behauptet haben; man war
in manchen Dingen weiter gegangen, als es in ruhiger Zeit geschehen sein
würde, besonders vielleicht in der Ungunst gegen die erste Kammer, allein man
hatte auch wichtige Stützen einer kräftigen Negierung gerettet, und es war
gewiß, daß man in ruhigen Tagen mit diesen Gesetzen würde gut regieren
können. Wie wenig aber ein Wahlgesetz in bewegten Zeiten im Stande ist,
den Charakter der auf Grund desselben vorgenommenen Wahlen selbständig zu
bestimmen, das zeigte sich, wie in allen Ländern, so auch in Sachsen. Waren
schon nach dem alten Wahlgesetze unter den, Einflüsse des Jahres 1848 radi¬
kale Elemente in die zweite Kammer gekommen, so zeigte sich der Einfluß der
Zeit insonderheit auch an den beiden auf Grund der neuen Gesetze gewählten
Ständeversammlungen. Die erste hat sich den unsterblichen Namen des „Un¬
verstandslandtags" verdient; die zweite im Jahre 1850 zusammengetretene da¬
gegen bestand aus durchaus gemäßigten Elementen. Gänzlich falsch wäre es
freilich, durch eine solche Betrachtung indifferent gegen ein normales Wahlge¬
setz zu werden, vielmehr muß man grade hierin die Aufforderung finden, in
Zeiten politischer Ruhe ein Wahlgesetz zu schaffen, durch dessen Besitz das Volk
politisch herangebildet und vor der Gefahr bewahrt wird, in Zeiten der Be¬
wegung von Extrem zu Extrem geworfen zu werden.
Es war denn auch nicht eine Frage der Vcrsaffungspolitik. sondern der
deutschen Politik, welche den Bruch des Ministeriums mit den Kammern vol¬
lendete und zu jenen unseligen Maßregeln führte, welche das Rechtsbewußtsein
und das Rechtsvertrauen im Volke tief erschüttert und die Rechtscontinuität
in der sächsischen Verfassungsentwicklung zerissen haben. Diese Maßregeln haben
ihrer Zeit in Deutschland eine traurige Berühmtheit erlangt, aber sie sind da¬
mals unter der Wucht der großen nationalen Begebenheiten bald zurückgetreten,
und es dürfte deshalb sich verlohnen, einen kurzen Blick auf dieselben zu werfen.
Nachdem die sächsische Negierung das von ihr selbst mit geschaffne Unions-
project durch die Hinterthüre ihres berühmten Vorbehalts verlassen hatte, war
in der zweiten Kammer auf den Antrag des Abg. Biedermann am 24. April
1850 ein für die deutsche Verfassungsfrage niedergesetzter außerordentlicher
Ausschuß beauftragt worden; I. ungesäumte Erörterung anzustellen, ob nicht
der Zeitpunkt eingetreten sei. wo die Kammer ihr verfassungsmäßiges Recht
der Zustimmung zur Feststellung der deutschen Verfassungsangclegenheit geltend
zu machen habe; 2. bejahenden Falls Vorschläge über die Bewerkstelligung
dessen zu machen. Der Ausschuß richtete, da inzwischen die östreichische Re¬
gierung durch die Circularnote vom 26. April 1850 eine Plenarvcrsammlung
des Bundes einberufen hatte, an die Staatsregierung die Fragen: 1. ob die
sächsische Regierung zur Beschickung der Plenarvcrsammlung, welche die Ein¬
setzung eines neuen provisorischen Bundesorganes und die Revision der Bun¬
desverfassung nach den Bestimmungen des § 4 der Wiener Schlußacte vorzu¬
nehmen habe, sich verpflichtet halte? 2. wie sie eine solche Verpflichtung mit §§ 2.
86 und 96 der Verf. Art. in Einklang setzen zu können glaube? 3. ob sie be¬
reits einen Bevollmächtigten abgeordnet habe? — die Negierung bejahte die
erste und dritte Frage und sagte, daß noch kein Anlaß vorliege, die Frage
wegen Einholung der Zustimmung der Kammern in Erwägung zu ziehen. —
Zu derselben Zeit verlangte die Regierung die Bewilligung einer Anleihe von
der für ein Land wie Sachsen sehr beträchtlichen Summe von 16 Mill. Tha¬
ler. Die Votirung eines solchen außerordentlichen Credits setzte und setzt in
allen konstitutionellen Staaten ein Vertrauen zu dem Ministerium voraus,
aber dieses that nichts, um sich dasselbe zu gewinnen. Jener Ausschuß ver¬
anstaltete am 28 Mai eine mündliche Besprechung mit dem Minister von
Beust, in welcher dieser letztere protocollarisch erklärte: „die Plenarversamm-
lung ist berufen und berechtigt, ein neues Organ einzusetzen und eine Re¬
vision der Bundesverfassung vorzunehmen; falls diese Berathung aber resul¬
tatlos bleiben sollte, kann allerdings der Bundesvertrag unter Umständen
seiner ganzen Ausdehnung nach wieder ins Leben treten. Ich halte es aus
Politischen (!) Gründen für bedenklich, diese Eventualität aufzugeben und es
auszusprechen, daß sie staatsrechtlich unzulässig sei. Ob zu den' Beschlüssen
dieses dann wieder erstehenden Bundestags die Zustimmung der Stände noth¬
wendig sei, darüber eine bestimmte Erklärung abzugeben fällt bedenklich."
Diese Erklärung, in welcher die Rechtsfragen völlig als Gegenstand politi¬
scher Bedenken aufgefaßt wurden, und welche noch dazu politisch so bedeutend
von den Wünschen und Hoffnungen der Kammer und von den früheren feier¬
lichen Verheißungen der Regierung selbst abwich, mußte in der Kammer natürlich
einen großen Sturm erregen, und als eine geheime Sitzung der Kammer vom
29. Mai, in welcher die gedachte Finanzfrage behandelt und die vor¬
erwähnte Aeußerung des Ministers von Beust mitgetheilt wurde, in höchster
Aufregung sistirt worden war, als ferner in einer Sitzung vom 30. Mai der
Minister von Beust ungeachtet ertheilter Zusage eine beruhigende Erklärung
in der deutschen Frage nicht gegeben, wu/de die Finanzfrage an den Ausschuß
zurückgewiesen, der indessen schon binnen drei Tagen Bericht zu erstatten ver¬
sprach, und am 31. Mai befand sich der Bericht des deutschen Verfassungs¬
ausschusses aus der Registrande, welcher auf Grund des § 109 der Verfas-
sungs-Urkunde eine Eingabe an den König beantragte, wozu ein Entwurf so¬
fort beigegeben wurde. Hieraus wurden die Kammern am 1. Juni aufgelöst.
Bereits am 3. Juni erschien eine Ansprache des Gesammtministeriums, wonach
man den mit den „eigentlich nur für einen Fall berechneten provisorischen Ge¬
setzen" gemachten Versuch als gescheitert bezeichnete, und deshalb zu den früheren
Verfassungsbestimmungen und Wahlgesetzen zurückkehren zu müssen erklärte,
jedoch auch dies nicht so. daß man nach diesen Gesetzen einen neuen Landtag
wählen ließ, sondern daß man dieselben Personen, die zuletzt zum außerordent¬
lichen Landtage des Jahres 1848 versammelt gewesen waren, zusammenberies,
mit der ausdrücklichen Erklärung jedoch, daß diesem Landtage nur der Ent-
Wurf eines definitiven Wahlgesetzes und einige andere Gegenstände, deren so¬
fortige Erledigung durch das Staatswohl dringend geboten sei, vorgelegt wer¬
den sollten.
Wir haben oben dargelegt, was man mit der Bezeichnung „provisorisch"
hatte ausdrücken wollen, sowol Seitens der Regierung, als Seitens der Stände;
wir halten uns daher einer rechtlichen Beurtheilung jener staatsrechtlichen
Theorie enthoben, welche Gesetze wie einen zwischen Regierung und Ständen
vereinbarten Vertrag auffaßt, von dem, wenn die Erreichung des vertrags¬
mäßigen Zweckes wegfällt, zwar nicht beide Theile — das hat die Negierung
nicht ausgesprochen —- aber doch der eine Theil, die Negierung, zurücktreten kann,
und nach welcher dann die früheren, durch die neuen Gesetze aufgehobenen
Gesetze von selbst wieder aufleben, ja sogar die alten Personen in ihre Stel¬
lung wieder einrücken, etwa wie jener in sein Land zurückgekehrte Kurfürst
von Hessen-Cassel seiner Armee, wie sie zur Zeit seiner Entfernung bestanden,
befahl mit ihren Montirungsstücken, Zöpfen :c. zur Parade zu erscheinen. Es ist ja
mit einer ähnlichen Theorie in Bundesangelegenhcitcn selbst genug operirt wor¬
den. Wir wollen nur das vorläufig bemerken, daß die Negierung im merk¬
würdigen Widerspruche mit dieser Theorie nach Art guter Cautelarjuristen diese
Gesetze, deren vorgängiger Wegfall erste, wenn auch nicht einzige Bedingung
der Rechtsbeständigkeit der alten Stände war, durch diese selbst außer Wirk¬
samkeit erklären ließ. Wem fiele hier nicht das Bild von Münchhausen ein?
Was die Aufnahme dieser Verordnungen im Lande anlangt, so läßt sich
darüber nicht recht urtheilen, denn gleichzeitig wurden das Vereins- und Ver-
sammiungsrecht und die Presse einer strengen Beschränkung unterworfen. Nur
eine Partei durfte sagen, was sie wollte; und wozu diese das Ministerium
trieb, erklärte die freimüthige Snchsenzeitnng mit den Worten: „wir lieben die
reine Verfassung von 18?1, aber wir glauben, daß sie sich nicht eher wieder
herstellen lasse, als bis durch die Einwirkung einer zeitweiligen absoluten Ge¬
walt Zucht, Ordnung, Sitte und Glauben in Schule, Haus und Kirche, auf
Bureaux, in Gerichten (sie), in der Presse und in Versammlungen wiederher¬
gestellt ist. Wir haben uns nicht bemüht, die Verfassungsmäßigkeit der
„Junithat" nachzuweisen, weil für uns die Verfassungsmäßigkeit nach dem
Gesetze der Revolution keine Bedeutung hat" ?c. Die Unionspartei fühlte offen¬
bar, daß der Streit, ob verfassungsmäßig, ob nicht, sich eben in einen höhe¬
ren auflöste, ob Bundestag, ob.Union? und daß die Entscheidung dieses
Streites bald auch den ersteren entscheiden würde; freilich vergaß sie, daß eine
weniger skeptische Haltung in der engeren Frage von guter Wirkung auch sür
die allgemeinere sein mußte. Die Demokraten waren durch die Ausschreitun¬
gen des Jahres 1849 zerstreut, discreditirt; ein wesentliches moralisches Ge¬
wicht ließ sich von ihnen nicht erwarten, ja eS traten sogar einige von ihnen-IlsV "7? i/-s,IV?l,'i? M,'?.' - - ,N1')«'?s YllUtti.' > ^ '>,.'-.«
in die reaktivirten Kammern el». So war denn Alles auf die 75 Männer
gesetzt, welche die zweite Kammer im Jahre 1348 gebildet hatten, beziehent¬
lich deren Vertreter; und diese fanden sich ein, zwar nicht Alle, ja von
den Hauptabgeordneten nur etwas über die Hälfte, doch genug, um das Mi¬
nisterium durch den äußern Erfolg zu rechtfertigen. Ebenso schwer aber wog
eine moralische Niederlage die dem Ministerium durch den Beschluß der Uni¬
versität, den Landtag nicht zu beschicken, bereitet wurde. Von allen Professo¬
ren des Rechts hatte nur ein Einziger, Schilling, die Rechtsfrage wenigstens
für „zweifelhaft" erklärt; die andern einigten sich dahin, „daß die Verord¬
nung vom 3. Juni 1850 nicht, wie das Ministerium behaupte, den bestehen¬
den Rechtszustand declarire. sondern allerdings denselben auf dem Verordnungs¬
wege abändere, während doch eine jede Abänderung der Verfassung und des
Wahlgesetzes durch einseitige Verordnung von § 88 der Verfassung ausdrücklich
untersagt sei; daß also durch die betreffende Verordnung vom 3. Juni eine
Verfassungsverletzung versucht und eine jede Befolgung dieser Verordnung eine
weitere Verfassuugsvcrlctzung, demnach rechtlich nichtig und strafbar sei ze."
Die freimüthige Sachsen-Zeitung erwiederte diesen Beschluß mit einem seiner
Zeit berüchtigt gewordenen Artikel, sie sagte:.....wus wird man ihnen ant¬
worten? O daß wir die Autwort zu geben hätten! Zwanzig souveraine
Professoren (soviel betrug die Zahl der Majorität) würden morgen unter Auf¬
hebung aller Verpflichtungen gegen sie, die selbst die vornehmste Pflicht der
Treue gebrochen haben, von Amt und Würden entlassen. Zwanzig souveraine
Professoren müßten das Land verlassen, dem sie die Theilnahme an seiner
Aushülfe versagt haben; müßten, den Bcttelsack auf den Schultern, fortziehen.
Was ist eine Handvoll Professoren im Jahre 1850, nachdem deutsche Län¬
der seit zwei Jahren durch Professorenweisheit verarmt, verwüstet und ruinirt
sind ze. ?" Es wird eine ewige Schmach für Sachsen sein, daß eine solche
Verachtung von Cultur und Intelligenz, die an die Zeiten des dreißigjährigen
Krieges erinnert, indem Organe der sächsischen Aristokratie in der Mitte
des 19. Jahrhunderts ausgesprochen werden konnte. Ganz so antwortete nun
freilich die Negierung nicht, indeß unter dem 2. Juli 1850 erließ Herr von
Beust. der zugleich Minister des Cultus war, eine Verordnung an den aca-
demischen Senat, worin er denselben zur sofortigen Vornahme der Wahl auf¬
forderte: „es erwartet nun aber das Ministerium mit Bestimmtheit, der aca-
demische Senat werde eingedenk, daß ihm ebensowohl Gehorsam gegen die
Anordnungen der Regierung als die Wahrung der Rechte der Universität ob¬
läge, und daß er ebendeshalb nicht nur das Recht, sondern auch die Ver¬
pflichtung " habe, einen Vertreter zum angeordneten Landtage zu schicken, dieser
Verpflichtung, wie sich gebührt, nachkommen und das Ministerium nicht in
die Lage versetzen, von seiner Oberaussichtspflicht einen andern Gebrauch, als
den gegenwärtigen, zu machen." Zeiten und Regierungen haben ihre beson¬
dere Sprache, es wird dereinst von Interesse sein, sich zu vergegenwärtigen,
daß dies die Sprache der sächsischen Regierung gegen eine Universität im
Jahre 1850 war. Ganz besonders charakteristisch war es dabei, daß die Re¬
gierung sich im Voraus eine Motivirung eines Beschlusses als eine politische
Demonstration verbat, und außerdem wurde angedeutet, daß nicht die Corpo¬
ration als solche zu wählen habe, sondern daß man die einzelnen Mitglieder,
welche zu wählen geneigt seien, gewähren lassen sollte. Der Senat hielt
darauf eine neue Sitzung, und erklärte als deren Ergebniß: daß er seinen
Beschluß einer neuen Prüfung unterworfen habe, daß nach seiner Ueberzeugung
das Wahlrecht nur der Corporation als solcher zustehe, daß diese mit 19 ge¬
gen 10 Stimmen sich nicht für berechtigt erklärt habe, zu einer Vertretung der
Universität in der .jetzt einberufenen Ständeversammlung mitzuwirken :c."
Nunmehr wurde Herr von Beust noch energischer. Er verordnete unter dem
17. Juli: Es scheine ein Mißverständniß obgewaltet zu haben, ze. „Es
kommt nur das corporative Verhältniß der Mitglieder des Senats in Betracht.
Dies Verhältniß, welches auch das Ministerium lediglich beachtet hat, nöthigt
die Mitglieder des academischen Senats in seiner Eigenschaft als Vertreter
der Universität, seine Stellung zur Staatsregierung und insbesondere zum
Ministerium des Cultus als seiner zunächst vorgesetzten Staatsbehörde anzu¬
erkennen und in Nachgchung der Anordnungen desselben die eigene, im ein-
zelnen Falle entgegengesetzte Meinung unterzuordnen. Das Ministerium
befindet sich daher .... in der Lage, nunmehr deutlicher (!) seine Meinung
dahin auszusprechen und zu verordnen: die Mitglieder des academischen Se¬
nats mögen sofort nach Empfang dieser Verordnung zu einer Sitzung unter
Bekanntmachung des Zwecks eingeladen werden, daß die Wahl eines Depu¬
taten zu dem bereits zusammengetretenen Landtage vorgenommen werde. In
der Sitzung hat lediglich die Abstimmung und Beschlußfassung über die Per¬
son des zu Wählenden stattzufinden. Sollten diejenigen Mitglieder, welche der
Vornahme einer Wahl nach dem letzten Beschlusse entgegen waren, auch in
dieser Versammlung bei ihrer Meinung beharren, so würde dies ohne Einfluß
auf die Vorname der Wahl unter den übrigen Mitgliedern, jenen aber sich
der Abstimmung bei der Wahl zu enthalten, unbenommen sein ze." Das
war denn allerdings nicht mißzuverstehen, es wurde ein Abgeordneter mit
13 Stimmen gewühlt, allein da diese 13 Mitglieder natürlich nicht im Namen
der Corporation eine Vollmacht ausstellen konnten, so mußte man denn doch
noch „von der Oberaufsichtspflicht einen andern Gebrauch machen". Auf er¬
haltene Verordnung, die Vollmacht auszustellen, weigerte sich der Senat, dies
zu thun, und nun wurden durch einen außerordentlichen Eommissar der Re¬
gierung 21 Professoren von ihrer Mitgliedschaft im academischen Senat, und
insoweit sie mit Deccmaten bekleidet, auch von diesem Amte, sowie von der
Dccanabilität bis auf weitere Anordnung suspendirt. Der Rest vollzog gefü¬
gig die Verordnungen des Ministeriums. So hatte sich denn der geistige
Kampf des Ministeriums mit dem Rechtsbewußtsein des Landes in diesem
Conflicte mit der Universität gewissermaßen concentrirt, und er endete mit
einer völligen geistigen Niederlage des Ministeriums. Daß aber die zweite
Kammer an diesem Kampfe, an der Standhaftigkeit der Universität siel? erholen
würde, dazu war keine Aussicht vorhanden, man hatte sich für competent er¬
kannt und wurde nun auf der betretenen Bahn unvermeidlich weiter getrieben.
Ebensowenig vermochte es auf sie zu wirken, daß gerade die Elemente, welche
l848 der Regierung die Hauptstütze geboten hatten, ihre Theilnahme versagten.
Im September war das sächsische Volk von 70 großen Gutsbesitzern, 13 städti¬
schen Beamten, vier theologischen Beamten, zwei königlichen Beamten, einem
Kaufmann und einem Müller vertreten. Die Ritterschaft der zweiten Kam¬
mer war durch Eintritt von sieben Stellvertretern vollzählig geworden, von
den 25 städtischen Vertretern waren nur sechs erschienen, unter ihnen fünf
Beamte, und unter den nachgekommenen sechs Stellvertretern auch nicht el»
einziger Nichtbeamter. Die Zahl der bäuerlichen Abgeordneten war nach Ein¬
tritt von sechs Stellvertretern auf 23 gestiegen. Welcher Geist ungefähr auf
diesem Landtag herrschte, das glauben wir am besten schildern zu können
durch Mittheilung eines von einem Landstände zur Feier des Constitutionsfestes
(angeblich improvisirten) Toastes; er lautet:
Nun das Letztere dachten allerdings viele Ehrenmänner, wenn auch aus
andern Gründen, und, wie man sich mit den rennenden College» abfinden solle,
das störte die idyllische Ruhe des Glaserklingens allerdings, und die Deputationen
mühten sich in der That „vergeblich den ersehnten Trichter zu finden." Man hatte
gegen die Nichtersehicnenen ein Einberufungsvcrsahren nach § l8 des Wahlgesetzes
eingeleitet und fortgesetzt; die Nichtcrschienenen sollten laut Kaimnerbeschlnsses
dreimal zum Eintritte aufgefordert werden und ihnen, im Fall auch ferner
fortgesetzter Weigerung die Wählbarkeit zum Landtage entzogen werden. In
der Sitzung vom 16. October. nachdem noch kurze Zeit zuvor zwei Demokra¬
ten in die Kammer eingetreten waren, schlug das Directorium einfach vor:
„die Stellen der Nichterschicnenen für erledigt zu erklären und soweit dies nicht
bereits geschehen, die Stellvertreter dieser Abgeordneten einzuberufen, zugleich
aber in denjenigen Füllen, wo ein Stellvertreter nicht mehr einzuberufen ist,
bei der Regierung eine Neuwahl für den betreffenden Bezirk anzuordnen."
Auf die Frage des Abgeordneten Habcrkorn:> ob das Präjudiz der Entziehung
der Wählbarkeit durch diesen Antrag von selbst in Wegfall kommen solle?
antwortete der Präsident Haase, daß das Directorium nach reiflicher Ueber-
legung gefunden have, wie § 18 des Wahlgesetzes nur auf die passe, welche
gewählt wurden und nicht in die Kammer eintreten wollten; die bisherige
analoge Anwendung des Paragraphen auf Abgeordnete, die bereits in der
Kammer thätig waren, könne man nicht bis zu einer analogen Anwendung der
Strafbestimmungen steigern. Die Kammer trat dem Vorschlage des Directo-
riums bei. Allein die Schatten der Ausgeschiedenen ließen viele Mitglieder
der zweiten Kammer nicht ruhig schlafen. Schon in der Sitzung vom 23.
October beantragte der Abgeordnete Rittner. es möge die erste Deputation
der Kammer darüber Bericht erstatten, ob für den Fall des Nichteintritts der
dreimal Geladenen die Wählbarkeit derselben ixi-v Mre als erloschen zu be¬
trachten, sei, oder ob es hierüber einer besondern Erklärung der Kammer be¬
dürfe. Das Präsidium erklärte: das Directorium habe in seiner am 16. Oc¬
tober ausgesprochenen Auffassung nicht gemeint, daß das Präjudiz des Ber-
lustes der Wählbarkeit überhaupt nicht eintreten solle. Es meine allerdings
daß die Nichteintretcnden für zukünftige auf der Basis des neuen Wahlgesetzes
berufene Landtage die Wählbarkeit nicht verloren hätten, wohl aber sei ihre
Wählbarkeit für den gegenwärtigen Landtag als erloschen zu betrachten. Trotz
einiger energischer Protestationen, auf die bereits durch Kammerbeschluß erle¬
digte Sache zurückzukommen, ward der Rittnersche Antrag angenommen. Die
Deputation beantragte in ihrem am 9. December zur Verhandlung gekomme¬
nen Berichte: die Kammer.... erklärt annoch ausdrücklich, daß die im Protocolle
über die in der zweiten Kammer um 16. October d. I. abgehaltene Sitzung
namhaft gemachten Abgeordneten und Stellvertreter der Wählbarkeit andurck
verlustig erklärt werden." Nach dem Gutachten der Deputation ist der Ver¬
lust der Wählbarkeit durch Beschluß der Kammer besonders auszusprechen, und
die Dauer währt so lange., als die sächsische Gesetzgebung in dem Wahlgesetze
von 1831 oder in einem andern zu erlassenden den Grundsatz noch anerkenne,
daß ein renitenter Abgeordneter mit dem Verluste der.Wählbarkeit zu bestrafen
sei. Obgleich Präsident Haase die Unanwendbarkeit des Artikels 18 nochmals
nachwies, wurde der Deputationsnntrag angenommen, wurden elf Ehrenmän¬
ner eines wichtigen Theils ihrer politischen Rechte beraubt. —
Wir haben dem Vorgange einige Worte gewidmet, weil es ein lauter
Ruf des Landes ist, diese Männer wieder in ihre Rechte einzusetzen, und auch
bereits ein dahin abzielender Antrag dem Landtage vorliegt. Nach unserer
Meinung kann es sich nur darum handeln, ob 8 18 des Wahlgesetzes von
1831 richtig von der Kammer ausgelegt worden. Ist dies nicht der Fall,
und wir behaupten das entschieden, so hat die zweite Kammer, und nur diese,
einfach ihren frühern Beschluß aufzuheben. Ist es aber der Fall, nun dann
liegt ein neues Bedürfniß vor, ein anderes Wahlgesetz, und zwar ohne Ver¬
pflichtung der Abgeordneten zur Annahme, zu schaffen.
Weniger reich an Früchten aber war die Thätigkeit der Kammern aus dem
Felde, zu dessen Bebauung sie eigentlich zusammenberufen waren, dem der
Revision der Verfassungsurkunde, und der Wahlgcsetzresorm. Mittels eines
unter dem 29. Juli an die Stände gelangten kcmigl. Decrctes waren diesen die
Entwürfe 1. einer revidirten Verfassungsurkunde, 2. eines Einführnngsgesetzes dazu
eines Gesetzes die Wahlen der Landtagsabgeordneten betreffend. 4. eines Ge¬
setzes die Aufhebung der Grundrechte betreffend, vorgelegt worden. Der Ent¬
wurf der revidirten Verfassung, der uns hier besonders interessirt, war ein
Fortschritt gegen die zeitherigen Zustände zu nennen; sein Charakter sprach
sich schon dadurch aus. daß statt „Unterthanen" überall „Staatsangehörige",
statt „Ständeversammlung und Stände" überall „Kammern und Kammermit¬
glieder" gesagt war. Der siebente Abschnitt „von den Kammern" war wesent¬
lich umgestaltet. Da der Entwurf wahrscheinlich als Anknüpfungspunkt berufen
ist, eine Rolle zu spielen, so sei es gestattet, die Hauptabweichungen von der
Verfassungsurkunde von 1831 und die Hauptsähe überhaupt herauszuheben:
Zwei Kammern. In der I die volljährigen Prinzen facultativ; fünfzehn
große Grundbesitzer gewählt, zwölf andere Mitglieder vom Könige ernannt. In
der II Kammer dreißig Abgeordnete der Städte, 45 des Landes. Bei der
I directe, bei der II indirecte Wahlen. stimmberechtigt bei den Urwähler
zur II Kammer alle männlichen 25 Jahre alten Staatsangehörigen an dem
Orte, wo ihr wesentlicher Wohnsitz ist, dafern sie sich seit mindestens drei Jah¬
ren im Königreich Sachsen wesentlich aufhalten, mindestens 2'/-Thlr. an or¬
dentlichen directen Steuern jährlich entrichten, und ihnen nicht einer der durch
das Wahlgesetz bestimmten Ausschließungsgründe entgegensteht. Wählbar als
Wahlmann innerhalb der Wahlabtheilung und als Abgeordneter der II Kam¬
mer innerhalb des Bezirks, worin er seinen wesentlichen Wohnsitz hat, ist jeder
stimmberechtigte, dafern er das 30 Lebensjahr überschritten hat. nicht in aus¬
ländischen activen Diensten steht, und mindestens 10 Thlr. jährlich an ordent¬
lichen directen Steuern zahlt. stimmberechtigt bei den Wahlen zur I Kam¬
mern sind alle (siehe oben) Stimmberechtigten, welche im Königreich Sachsen
einen mit mindestens 1500 Steuereinheiten belasteten ländlichen Besitz haben.
Wählbar als Mitglied der I Kammer sind alle sächsischen Staatsangehörigen,
welche irgendwo im Königreich Sachsen sür die I Kammer stimmberechtigt sind,
dafern sie das 30. Lebensjahr überschritten haben, nicht in ausländischen activen
Diensten stehen, und im Königr. Sachsen einen mit mindestens 3000 Steuer¬
einheiten belasteten ländlichen Grundbesitz haben. Von den Abgeordneten schei¬
det nach jedem ordentlichen Landtage ein Drittheil aus. Freiwilliges Aus¬
scheiden ist den Mitgliedern der II Kammer nur wegen Krankheit oder häuslichen
und Familienverhältnissen und mit Genehmigung der Kammer erlaubt.
Dieser Entwurf enthielt unter den gegebenen Verhältnissen viel Beachtens-
und Anerkennenswerthes, aber grübe darum nahm ihn die Partei der Sachsen¬
zeitung, welche ja lieber für eine Zeitlang absolute Gewalt gesehen hätte, nicht
an. Die Deputation der I Kammer beantragte in ihrem Berichte: zur Zeit
eine vollständige Revision der Verfassungsurkunde in ihrem VII und VIII Ab¬
schnitte abzulehnen. Dieser Antrag stützte sich auf folgende Motive: a. daß in
der I Kammer der Grundbesitz überhaupt zu wenig vertreten ist (!) b. daß das
Maß, nach welchem man den Census des Grundbesitzes in der I Kammer be¬
messen hat, zu gering ist und daher namentlich der große Grundbesitz in die¬
ser Kammer zu wenig Berücksichtigung gefunden hat, e. daß es. so wie es dieser
Kammer überhaupt an der ihr so nothwendigen Unabhängigkeit fehlt, sehr
bedenklich ist, dem Könige eine so unbedingt freie Wahl und in einer so großen
Anzahl von Stellen zuzugestehn. (das war also der Dank sür „die Junithaten")
ä. daß auch in der II Kammer eine Sicherung für den größern Grundbesitz
gänzlich zu vermissen ist, indem es auch in dieser Kammer unumgänglich
nöthig scheint, dem größer« sowie dem minder großen ländlichen Besitzstand
eine gewisse verhältnismäßige Anzahl von Stellen zuzugestehn. damit jede Art
dieses Grundbesitzes ihre gehörige Vertretung finde und dem Grundbesitze nicht
der Vortheil und das Gewicht der Intelligenz entzogen werde, e. daß es end¬
lich rathsam und nothwendig erscheine, für die ländlichen Abgeordneten der
II Kammer, besonders für die Vertreter des kleinen Grundbesitzes diejenige Be¬
dingung der Wählbarkeit beizubehalten, welche §95 des Wahlgesetzes von 1831
aufstellt (ein jährliches Steuerquantum von mindestens 30 Thlrn, . . und Be¬
treibung des landwirtschaftlichen Gewerbes oder eines Fabrikgeschäftes auf dem
^ante als Hauptgewerbe). So sehr war also in dieser Kammer die Erinnerung an
ihre Worte und Handlungen im Jahre 1848 geschwunden, so wenig scheute
man sich, ihre damalige einstimmige Meinung über die Nothwendigkeit einer
Reform des Wahlgesetzes unter Aufhebung der Vorrechte bevorzugter Klassen
entweder als Faselei des Irrthums oder als Heuchelei darzustellen. Der An¬
trag der Deputation wurde natürlich angenommen, gegen zehn Stimmen. —
Der Deputationsbericht der II Kammer empfahl ein Eingehen auf den VII
Abschnitt des Entwurfs. Er schlug jedoch, um den Charaker einer landständischen
Verfassung zu wahren, die Beibehaltung der Ausdrücke: „Unterthanen und
Ständeversammlung" vor. Ferner kehrte er zum reinen Zweikammersystem in Be¬
zug auf das Vereinigungsverfahren zwischen beiden Kammern zurück. Er adop-
tirte die Trennung der Wahlbezirke für die II Kammer nach Stadt und Land, ohne
besondere Ausscheidung der Rittergüter. Von den zwölf vom Könige Ernannten
sollen sechs mit Grundstücken angesessen sein, aus denen mindestens 5000 Steuer¬
einheiten haften. Bei der Stimmberechtigung machte die Deputation die Aende¬
rung, daß auch der Besitz eines mit Wohnung versehenen Grundstückes die¬
selbe verschaffen solle; ferner: wählbar als Wahlmann innerhalb der Wahl¬
abtheilung, worin er seinen wesentlichen Wohnsitz hat, ist jeder stimmberech¬
tigte, dafern er a.. 30 Jahre alt, b. . . . auf dem platten Lande mindestens
10 Thlr., in großen Städten mindestens 12 Thlr. in mittlen mindestens 8
Thlr. und in kleinen mindestens 5 Thlr. jährlich an ordentlichen directen
Stnatsabgaben gibt. Zur Wahl eines Abgeordneten sür die zweite Kammer
aus einem ständischen Wahlbezirk befähigen die K 8 namhaft gemachten
Eigenschaften.dz, Auf dem Lande ist eine Steuer von 30 Thlr. erforderlich. Für
Stadt und Land wird dabei der wesentliche Wohnsitz innerhalb des Landes
erfordert. Diese Deputationsantrüge wurden sämmtlich, angenommen, allein
bei der Abstimmung über den ganzen Gesetzentwurf erhielt derselbe eben nicht
die nöthige Zweidrittelmajorität, und war deshalb abgelehnt.
So war denn der Stein von Neuem zurückgerollt, und noch harrt er der
Hände, die ihn abermals, und hoffentlich nicht abermals vergeblich, in Be-
wegung setzen sollen. Die Zeiten sind reich an Projecten gewesen, und so
gewiß es ist, daß diese Projecte noch mannichfach sich variiren lassen werden,
so gewiß geht auch aus der Variationssähigkeit hervor, daß die Themas zu
diesen Variationen zum guten Theile nicht aus den wahren Interessen des
Landes, sondern aus Vorurtheilen und Vorrechten genommen werden. Wir
wollen darauf verzichten, die Projecte noch um eines zu vermehren, wir wol¬
len nur unsre Meinung dahin aussprechen, daß wir einen abermaligen Vergleich
um der Stetigkeit des Rechtszustandes willen vermieden wünschten. Als einen
Vergleich würden wir aber jedes Arrangement ansehen, das das Land aber¬
mals in Klassen zerreißt, und außerdem im Lande noch gewißermaßen 75
neue Länder errichtet, indem der Abgeordnete nicht bloß staatsangehörig. son¬
dern auch bezirksangehörig sein muh. Dagegen ist es nicht unsre Meinung,
in Bezug auf Stimm- und Wahlfähigkeit um Jahre und Thaler zu rechten.
Es kommt zur Zeit nicht mehr darauf an. dem Landtage einen mehr oder
weniger demokratischen Character zu geben, es kommt vielmehr nur darauf
an, Sachsen wahrhaft in die Reihe der constitutionellen Staaten einzuführen
und in dem Landtage eines der ersten Organe zu schaffen, durch welchen das
Volk den Staat als seinen Staat lieben und fördern lernt,, und es kommt
vor Allem darauf an, in den Landtag Männer zu bringen, die nicht nur mit
Liebe das Heimische Pflegen, sondern auch mit weitem Sinne und warmem
Herzen hinaussclicuien über die Grenzen des engern Vaterlandes, die in die¬
sem nur ein Glied des großen gemeinsamen Vaterlands erblicken, das Un¬
recht mit empfinden, welches in irgend einem deutschen Brnderlcmde geübt
wird, und für die Einigung des gemeinsamen Vaterlands unablässig denken
und wirken. Die Männer, die jetzt zum Landtage vereint sind, mögen bemessen
und urtheilen, was ihnen erreichbar scheint*), sie mögen alte Projecte hervor-
suchen oder neue aufstellen; jedenfalls aber mögen sie der Sehnsucht des Lan¬
des nach einer Wahlreform einen lauten Ausdruck geben, und jedenfalls mögen
sie bei der Aussteckung ihrer Gesichtspunkte jene allgemeine geistige Be¬
deutung im Auge behalten, in der und für die eine Wahlreform allein Zweck
M an hat in den nicht östreichischen deut¬
schen Ländern das, was uns als neue Verfassung des Reiches gewährt wurde,
hier und da freudiger, hoffnungsvoller begrüßt als in Oestreich selbst. Unsern
wackern Brüdern am Lech, Rhein und an der Spree sind vielleicht unsre Vor¬
gänge in den letzten zwölf traurigen Jahren nicht so gegenwärtig als uns,
die wir deren Wirkungen noch jetzt fühlen, und damit die neuen Erlasse ver¬
gleichen. Es sei uns daher erlaubt etwas weiter zurückzugehen und auch an
Bekanntes zu erinnern.
Kaiser Franz Joseph verkündigte am 2. Dezember 1848 seine Thronbe¬
steigung allen Völkern der Monarchie mit der feierlichsten Zusicherung „der
Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetze, so wie der Theilnahme der Volks¬
vertreter an der Gesetzgebung", ja, was eine wirklich constitutionelle Regierung
verhieß, er erklärte sich bereit, „seine Rechte mit den Vertretern seiner Völker
zu theilen." Wenn auch das spätere Manifest von, 4. März 1849 den
Reichstag auflöste, weil er „der Begründung eines geordneten Rechtszustandes
im Staate entgegen-" und „über die Grenzen seines Berufes hinaustrat."
verbürgte der Kaiser darin dennoch allen Völkern Oestreichs jene „Rechte,
Freiheiten und politischen Institutionen", die „sein Vorfahr Ferdinand I. und
er selbst" ihnen zugesagt, das Patent über die Reichsverfassung erklärte im
§.2. daß alle Kronländer die „constitutionelle österreichische Erbmonarchie"
bilden. Der Kaiser und seine Nachfolger hatten die Verfassung bei der Krö¬
nung zu beschwören (§. 13). Alle Verfassungen der einzelnen Kronländer soll¬
ten noch im Laufe des Jahres 1849 in Wirksamkeit treten (ez. 83). Was
aber statt des im §. 33 alljährlich im Frühjahr in Aussicht gestellten allge¬
meinen Reichstags berufen wurde, war eine Versammlung der sämmtlichen
katholischen Bischöfe des Reiches, die schon im Mai 1849 zusammen¬
trat. Sie legten allererst gegen den Grundsatz der Gleichberechtigung der
katholischen Kirche mit. andern im Staate bestehenden Gesellschaften Verwah¬
rung ein und forderten für selbe eine ausnahmsweise, unabhängige, selbst¬
ständige Stellung. Zunächst wollten sie nebst der Besetzung der Kanzeln
der Theologie und der Religionslehre an Gymnasien die Volksschulen
unter ihre Leitung gestellt wissen, und deuteten schon jetzt noch weiter greifend
an, wie die Mißgriffe und Irrthümer des Jahres 1848 nur Folgen der man¬
gelhaften katholischen Bildung gewesen; der Frankfurter „Versammlung" schoben
sie den Aufbau eines „atheistischen Staates", dem Protestantismus die Ver-
lcugnung des Evangeliums unter.*) Daran reihte sich das Begehren nach
geistlicher Gerichtsbarkeit, kirchlichen Ehegesetzen, vom Staate unbeaufsichtigter
Kirchenverwaltung und theilweiser Pfründenbesetzung. Begütigende Stimmen
stellten eine Rückkehr zum Standpunkt des trienter Concils als leere Befürch¬
tung dar, doch schon die Aufhebung des Placetum, die Freigebung der Kirchen¬
strafen und die den Bischöfen vorbehaltene Ermächtigung zum Lehramt der
Theologie und der Religion an den Gymnasien**) zeigte, wohin sich die Waage
neigte. Der Einfluß der römischen Hierarchie und der wiederhergestellten Je¬
suiten wuchs mit jedem Tage. Als man endlich der Revolution vollends
Herr geworden, sollte jede auch noch so nützliche Institution aufgehoben wer¬
den, die ihr irgendwie den Ursprung verdankte. Das kaiserliche Patent vom
31. December 1851 verkündete schlechtweg die Märzverfassung von 1849 sei
den Verhältnissen des östreichischen Kaiserstaates unangemessen und unaus¬
führbar, die feierlichste Zusage ward einfach zurückgenommen. Die Vereini¬
gung der Administration mit der Rechtspflege wurde wieder eingeführt, Oeffent-
lichkeit in Gemeinde- und Strafsachen so wie Schwurgerichte abgeschafft, das
Jnquisitivnsvcrfahren theilweise hergestellt, und berathende Ausschüsse für
Kreisbehörden und Statthaltcreien, die aus dem besitzenden Erbadel, dem
großen und kleinen Grundbesitz und der Industrie berufen werden sollten, ver¬
heißen. Die Ausführung dieses Versprechens ruhte bis auf die letzte Zeit.
Wieder vergingen drei einhalb Jahre, die außer einer Unzahl bureaukratischer Ge¬
setze auch den leider noch bestehenden Zwitter einer Strafproceßordnung brachten,
als um 18. August 1855 das Concordat mit dem päpstlichen Stuhle abge¬
schlossen wurde. Darin wurde die Aufsicht über den ganzen Unterricht in
öffentlichen und nicht öffentlichen Schulen den Bischöfen übergeben, die „sorg¬
sam darüber wachen, daß bei keinem Lehrgegenstände etwas vorkomme, was
dem katholischen Glauben zuwiderläuft" (Art. V). Insbesondre ward ver¬
sprochen, daß „in den für die katholische Jugend bestimmten Gymnasien und
mittleren Schulen nur Katholiken zu Professoren und Lehrern ernannt werden.
(Art. VII). Das Erkenntniß über kirchliche Rechtsfälle ist kirchlichen Richtern
anvertraut, und haben somit diese „auch über Ehesachen nach Vorschrift der
heiligen Kirchengesetze und namentlich auch der Verordnungen von Trient zu
urtheilen" (Art. X). Außer einer Menge von Immunitäten. Freiheiten und
Vorrechten wurde deu Erzbischöfen und Bischöfen auch freigestellt „in ihre
Kirchensprengel geistliche Orden und Congregationen beiderlei Geschlechts nach
den heiligen Kirchengesetzen einzuführen (Art. XXVIII). Anstatt des Bundes
mit dem Volk vereinigte sich die Regierung mit den Vertretern der katholischen
Kirche, die sich noch wie im Mittelalter als die Sonne, den Staat als den
Mond ansehen, der erst durch sie sein Licht erhält. So hieß es auch in,
Separatartikel zum Concordat, daß nur „der heilsame Einfluß der Kirche die
Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft befestiget". Dem Concordat folgte
das neue Eherecht- Es sprach bekanntlich den Grundsatz aus, daß „es keinem
Katholiken erlaubt ist sich im Kaiserthum Oestreich anders zu verehelichen
als mit Beobachtung aller Vorschriften, welche das Kirchengesetz über die
Giltigkeit der Ehe aufstellt." Der Staat lieh also grade wie im Mittelalter
der Kirche den Arm seiner strafenden Gewalt; wer das Ehegesetz der Kirche
übertrat, verfiel auch dem weltlichen Richter. Somit war die Gleichberech¬
tigung aller vor dem Gesetz zum Frommen kirchlicher Unduldsamkeit aufgehoben,
die Katholiken fuhren dabei noch schlimmer als die Protestanten; denn wäh¬
rend diese sich nur bei ihrer Verehelichung mit Katholiken der Ausstellung
eines Reverses über Kindererziehung beugen sollten, waren jene der Willkür
und Chicane ihrer geistlichen Oberhirten nicht nur bei gemischten Ehen son¬
dern auch bei Eheverlöbnissen, ferneren Verwandtschaftsgraben, Aufgebot und
durch eine Menge von Förmlichkeiten bloßgestellt; der Bischof konnte auf ge¬
wisse Vermuthungen hin die Eingehung der Ehe verbieten (§. 67 der Anweisung
für die geistlichen Gerichte) und ein Bischof Tirols ging so weit zu erklären,
daß er zu gemischten Ehen trotz des angegebenen Reverses keinen Dispens
mehr ertheile. Die Presse mußte zu allem dem schweigen, denn auf ihr lastete
ein eigener Zwang.
Der Beherrscher Oestreichs hatte durch seine Zustimmung zu diesen
Maßnahmen alle wohlwollenden Vaterlandsfreunde von sich entfernt, er hatte
sich mit Männern umgeben, welche seine Verstimmung über zeitgemäße Ein¬
richtungen schlau auszubeuten wußten; die alte Hofpartei, die den Jesuiten
huldigte, weil der geistige Druck mit dem politischen Hand in Hand geht,
erhob mit gesteigertem Selbstgefühl ihr Haupt. Unter dem Schutz der abso¬
luten Minister legte die allmächtige Bureaukratie jede freie Bewegung in
Varben. das öffentliche Leben erlahmte und mit ihm auch jeder Antheil am
Wohl des Vaterlandes. Unzufriedenheit, Mißmuth, Unwille hatte sich in
alle Herzen genistet, alles Vertrauen in die Regierung war dahin. Am
deutlichsten trat dies, da jede offene Aeußerung verboten, durch thatsächliche
Verhältnisse namentlich beim Credit des Staates hervor; wenn sich auch der
Cours der Papiere durch den Frieden gehoben hatte, das Silber wollte doch
nicht zu Tage, und beim ersten Kanonenschuß sanken sie um mehr als zwei
Fünftel ihres Nennwerthes. Der Krieg deckte neue Schäden. Unterschleife
höchst gestellter Personen auf, die nur unter einer Verwaltung ohne Controle
wöglich, er offenbarte die Unfähigkeit der Führer, die Amt, und Stellung
jeuer einflußreichen Hofpartei verdankten; beides waren die Folgen des ab¬
soluten Regimes.
Es war wohl ein trüber Augenblick, als Kaiser Franz Joseph nach der
Schlacht bei Solferino durch die Thore Verona's ritt. Der morsche Unterbau
des östreichischen Staates mochte ihm schmerzlich vor die Seele treten, das
Manifest vom 15. Juli 1859, worin er „zeitgemäße Verbesserungen in Gesetz¬
gebung und Verwaltung" in Aussicht stellte, schien das Ergebniß jener bitteren
Stunden. Leider war jener erste Eindruck nicht so nachhaltig als wünschens¬
wert!). Von den Ministern, die dem alten Systeme huldigten', blieb noch
eine hinreichende Anzahl im Rathe der Krone, der Ersatz im Ministerium des
Innern deutete auf diesem zunächst zu bearbeitenden Felde auf keinen Umschlag
der Ansichten; erschienen auch in andern Gebieten nützliche Gesetze, der Abso¬
lutismus galt fortan als das Paladinen des Reiches. Freiherr v. Hübner,
der die Dinge ahnte, die da kommen mußten, dankte bei der Hartnäckigkeit,
womit man am Alten festhielt, ab. Graf Grünne, als Adjutant des Kaisers
entlassen, schlich sich durch eine Hinterthür wieder dicht an seine Seite. End¬
lich schien der Kndit des Staates ohne Heranziehung einer Vertretung der
Kronlünder doch unrettbar verloren. Dies entschied, und der erste Schritt zum
Einlenken auf eine andere Bahn war das Patent vom 5. März d. I. über
den verstärkten Reichsrath. Er bestand außer dessen frühern Mitgliedern aus
Erzherzogen, einem Kardinal und mehreren Bischöfen. Kriegsobersten, Fürsten,
Grafen und Baronen; dem Bürgerthum war ein äußerst bescheidener Antheil
gegönnt. Sie waren beauftragt, nur über das zu berathen, worüber sie be¬
fragt würden, namentlich das Budget, dessen Verminderung den Kredit heben
sollte; die Bewilligung außerordentlicher Steuern ward ihnen erst nachher ein¬
geräumt, als es sich herausstellte, daß beim Festhalten an der jetzigen Ver¬
waltung große Ersparungen nicht Platz greifen können. Die Mißstände der
keltern waren aber so hervorragend, daß man von einer Verbesserung des
Staatshaushaltes gar nicht sprechen konnte, ohne auf sie zurückzukommen,
dies führte zur Aufdeckung aller Schäden der Staatsmaschine, und als Folge
davon auch der UnHaltbarkeit des bisherigen Systems. Selbst dieser conser-
vative Rath der Krone mußte in seinen Endantrügen bei der einzig möglichen
Abhülfe, der Herstellung einer gesetzlichen Ordnung, einer Verfassung anlangen.
Die Überschreitung des Maubads, das diesfalls keine Initiative gestattete,
lag in der Pflicht jedes Ehrenmannes. Angesichts dieser Vorlagen vor den
Augen der Welt und der täglich wachsenden Mißstimmung im Innern galt
es zu handeln. In Ungarn drohte ein Aufstand. Venetien schien der Schau-
platz eines nahen Krieges zu werden, mag man nun den Grund davon in
den Wühlereien der Annexionsliga in Italien, oder, wie die Times, im Durst
nach Rache über die Verletzung der Zusagen von Villafranca suchen. War
die Aprilverfassung vom Jahre 1848 eine Tochter der Revolution, so führte
wenigstens die Furcht davor und der unvermeidliche Krieg zum Diplom vom
20. Oktober 1860. Ein freier Entschluß hat es nicht geboren. Das Mani¬
fest mahnt fast durch eine leise Beziehung an jenes der Thronbesteigung.
„Ausgeregte Leidenschaften und schmerzliche Erinnerungen der jüngsten Ver¬
gangenheit," sagt es, „hatten bisher eine freie Bewegung der noch vor
Kurzem feindlich kämpfenden Elemente unmöglich gemacht." Noch deut¬
licher scheint das Diplom selbst an jenen früheren Staatsakt anzuknüpfen.
Wie jener den Volksvertretern Oestreichs „Theilnahme an der Gesetzge¬
bung" verhieß, sichert dieser letzte den nunmehr für die Kronländer gewährten
Vertretern „Mitwirkung" an selber zu. Beide geben sich als unumstößli¬
ches Grundgesetz für alle Thronfolger und Zeiten, allein wie kurz war die
Dauer des ersten, in Wirksamkeit ist es thatsächlich nie getreten. Wie ver¬
schieden ist namentlich der Inhalt beider! Jenes erste Manifest hatte wirklich
vom Volk gewählte Vertreter im Auge, jetzt sollen sie unter einer Menge von
Beschränkungen aus einem konservativen Häuflein bevorzugter Klassen und
Jnteressenträger gewählt, und erst aus der Mitte von Versammlungen sehr
zweifelhafter Begabung der Reichstag beschickt werden. Vom Mandat des
Volkes bleibt einem solchen Vertreter kaum der Name. Dort war ferner be¬
stimmt, daß die Krone ihre Rechte mit den Volksvertretern theilen werde,
hier vernehmen wir nur von einer sehr unbestimmten „Mitwirkung". Mit¬
wirkung ist nicht Zustimmung, das Diplom sowohl als die Landesstatute
scheiden sorgfältig beide Begriffe; sie ist auch nicht Beirath, das sagt uns
die Verbesserung der amtlichen Wiener Zeitung, welche dessen Ausübung im
§. 20 des Statutes für Kärnthen in „mitwirken" abändert. Was ist also
die wahre Bedeutung dieses Ausdrucks? Die officiöse „Donauzcitung" gibt
darauf Antwort. „Er hält die Möglichkeit einer vermittelnden Abwägung der
Regierung, auch außerhalb der einfachen Majoritätsbeschlüsse, aufrecht," also
Wohl das Recht der freien Hand. Wie sehr ist doch das Recht, das uns im
Jahre 1848 gegeben wurde, im Laufe von zwölf Jahren zusamme!lgeschwun-
dcn! Wenn wir nicht das Gegentheil wüßten, wären wir versucht zu glauben,
es gebühre dem Kardinal Rauscher und seinen Freunden der Ruhm der Erfin¬
dung dieses so unendlich biegsamen Ausdrucks.
Sagen wir es frei und schlicht. Das Vertrauen des östreichischen Vol¬
kes, woran alles hängt, Kredit, Zufriedenheit und Ruhe, gibt nur die volle,
offene und treue Gewährung alles dessen, was Kaiser Franz Joseph in seinem
Thronbcsteiguugsmaniseste seinen Völkern zusicherte. Dies ist das Staats-
grundgesetz, kein anderes. Eine constitutionelle Monarchie ist es, was jenes
feierliche Versprechen verbürgte, mag sie nun unter jener oder einer andern
Form verwirklicht werden, letzteres ist Sache der Zeitverhältnisse; wahre Volks¬
vertretung und Theilung der Rechte mit ihr sprechen der klare Wortlaut und
Sinn jener Urkunde aus. So lange man sich nicht auf diesen Rechtsboden
stellt, bleibt es vergebene Mühe, an Nebendingen Staatskunst zu üben. Oest¬
reichs Monarch kann nichts Edleres, nichts Größeres thun als sich selbst zum
Anwalt des Rechtes machen, das er als ein unantastbares Erbstück seines
Vorfahren anerkannte. Diese That allein setzt ein sicheres Ziel der Corruption,
die in alle Schichten der Gesellschaft drang, sie allein ist das Pfand unsers
künftigen Glückes.
Die Anregung zu den gegenwärtigen Betrachtungen gibt uns eine Bro¬
schüre von Konstantin Franz: „Dreiunddreißig Sätze vom deutschen
Bunde/' oder vielmehr ein ausführlicher Auszug aus derselben, welchen die
Leipziger Zeitung vom 1. November mittheilt. Wir haben uns mit diesem
Auszug begnügt, weil es uns wichtiger lst. die Ansichten der Leipziger Zeitung
zu erfahren als die Ansichten des Herrn Constantin Franz. Sollte auch wirk¬
lich, wie die Leipziger Zeitung meint, das Vaterland des letzteren, Preußen,
„auf dessen ungewöhnliche Gcistesbegabung stolz zu sein, Ursache haben." so
ist es doch immer nur ein Privatmann, der, so viel wir wissen, keine einzige
politische Partei in Preußen und vermuthlich auch nicht die preußische Regie¬
rung vertritt — obgleich wir das letztere nur schüchtern zu behaupten wagen.
Die Leipziger Zeitung dagegen ist zwar nicht ein officielles Blatt, aber sie ist
ein Staatsunternehmen, und wird daher schwerlich eine von der Staatsre¬
gierung gemißbilligte Ansicht vertreten. Die Leipziger Zeitung nun findet
in jener Broschüre „eine wahre Herzcuserquickung"; das Meiste ist ihr „aus
der Seele geschrieben"; ja sie erscheint ihr so wichtig, daß sie ihr „von neuem
den Muth im verzagenden Gemüth erhebt".
Grund genug, daß wir aus jener Broschüre wenigstens die Anregung ent¬
nehmen, einen Begriff zu analysiren, der durch die Unklarheit seiner Fassung
unendlichen Schaden angerichtet hat, den Begriff der Souvcränetüt, nament¬
lich in sofern er in einem Bundesstaat in Anwendung kommt.
Die Souvcränetüt eines Staates zeigt sich nach Außen und nach Innen:
nach Außen, in sofern er mit andern Staaten Verträge schließt und Krieg
führt, nach Innen, in sofern er Zwangsmittel besitzt, seinen Gesetzen und Ver-
ordnungen Gehorsam zu verschaffen. Der allgemeinste Träger der Souve¬
ränetät ist der Staat selbst.
Nicht ganz so leicht ist in allen Fällen zu bestimmen. wen man inner¬
halb des Staates als den Träger der Souveränetät betrachten soll. Der Re¬
präsentant der Souveränetät ist zwar durchweg das sogenannte Staats¬
oberhaupt, welches durch seine Unterschrist die Gesetze, Vertrüge u. s. w. als
Staatsgesetze, Staatsverträge u. s. w. legitimirt: z. B. in England die Kö¬
nigin, in den vereinigten Staaten von Nordamerika und in der Schweiz der
Bundespräsidcnt. Aber der Repräsentant der Souveränetät ist nicht immer
der Souverüu. In den vorhergehenden Fällen z. B. wird man die Königin
von England stets, die beiden Bundespräsidenten nie als Souverän bezeichnen,
obgleich in vieler Beziehung der nordamerikanische Bundespräsident mehr
Macht besitzt als die Königin von England. Der Grund davon ist nicht blos
die Höflichkeit der Krone gegenüber, sondern der Umstand, daß die Königin
von England, in andern Beziehungen, z. B. bei Reisen ins Ausland ab¬
hängiger als der geringste ihrer Unterthanen, in einem Punkt wenigstens
ganz unabhängig ist. In Gesetzen, Verordnungen u. s. w. hängt sie vom
Parlament ab, aber Königin ist sie durch Erbrecht oder, wie man sich aus¬
druckt, von Gottes Gnaden.
Wenn wir also den Ausdruck Souveränetät gebrauchen, so müssen wir
Zwei Begriffe streng von einander scheiden. In Monarchien ist das Staats¬
oberhaupt stets der Souverain: damit ist aber nicht gesagt, daß er die Voll-
gewalt des Staats und im Staat besitzt. Das eine aus dem andern herzu¬
leiten, verwirrt alle Begriffe des Staatsrechts.
Zur Souverainetät gehört, wie oben bemerkt, vor allem die Fähigkeit,
seinen gesetzmäßigen Willen zwangsweise durchzusetzen, nach Außen wie nach
Innen. Diese Gewalt wird nach beiden Seiten hin nothwendig durch die
fnctischen Zustände beschränkt. So hat z. B. die Schweiz als souverainer
Staat unstreitig das Recht, den Kaiser von China zu bekriegen, sie kann
dieses Recht aber nicht ausüben. Oder, um ein viel näheres Beispiel zu
wählen, der König von Preußen war,, um seine Souveränetätsrechte in
Neufchatel, der Schweiz gegenüber in Ausübung zu bringen, auf den guten
Willen von Bayern, Baden u. s. w. angewiesen, die er staatsrechtlich nicht
Zwingen konnte, seine Truppen durchmarschiren zu lassen. Ebenso ist es mit
der innern Staatsgewalt. König Friedrich Wilhelm der Erste änderte nach
Gutdünken die Beschlüsse seiner Gerichte ab; er ließ Männer, die von den
Gerichten zu verhältnißmäßig kurzer Freiheitsstrafe verurtheilt waren, hängen
oder rädern. Das kann heute kein Fürst mehr, weil die moralische Bildung
des Volks eine andere geworden ist. und damit auch die Zwangsmittel, die
dem Fürsten zu Gebot stehen, sich geändert haben.
Jede Souveränetät — das ist es worauf wir hinauswollen — ist der
Natur der Dinge nach eine beschränkte; und nicht blos für das Volk, sondern
auch für die Fürsten ist es im höchsten Grade wünschenswerth, daß es Staats¬
einrichtungen gibt, welche den wahren, bleibenden, den fürstlichen Willen des
Souveräns von seinen menschlichen, zufälligen, augenblicklichen Launen und
Stimmungen unterscheiden.
Das nichtswürdige Geschmeiß der Speichellecker sagt zu unsern Fürsten:
Du bist nur dann wahrhaft souverain, wenn du das Recht hast, jeden augen¬
blicklichen Einfall, der dir durch den Kopf geht, dem Volke als Gesetz zu ver¬
künden. Auch im Rausch. Sie würden zu Alexander gesagt haben, Culus sei
gesetzlich gefallen. Der wahre Freund der Monarchie dagegen findet das ein¬
zige Mittel, die Souveränetät gegen die Parteileidenschaften zu sichern, darin,
daß der Wille des Fürsten, um Gesetz zu werden, noch einer andern staatlichen
Förmlichkeit bedarf.
Herr Constantin Franz tadelt, mit dem höchsten Beifall der Leipziger Zei¬
tung, die „Konstitutionellen", daß sie immer nur von der Negierung als
von einem abstracten Wesen sprechen, von dem Fürsten aber, welcher doch
thatsächlich die ganze Souveränetät inne hat und nach dem Bundesrecht inne
haben soll, naiver Weise schweigen. „Die Taktik, das Thema von den deut¬
schen Fürsten aus der öffentlichen Discussion fern zu halten, worin alle Par¬
teien wie auf Verabredung übereinstimmen, ist die Ursache, daß man acht
sieht, wie grade die deutschen Fürsten selbst den Mittelpunkt der deutschen
Frage ausmachen, und daß man von keiner Nationaleinheit sprechen kann,
ohne von den deutschen Fürsten zu sprechen."
Diese Taktik hat aber nicht blos einen guten Grund, sondern sie ist le¬
diglich im Interesse der Monarchie. Da in neuerer Zeit das Volk sich eifriger
mit den politischen Fragen beschäftigt und sich in verschiedene Parteien spal¬
tet, so würde der Fürst, der doch als Mensch auch in jeder Frage eine be¬
stimmte Ansicht hat, in das Gewühl der Parteileidenschaften hineingezogen
werden, sobald der Sieg der einen Partei über die andere als Folge einer
willkürlichen Entschließung erschiene. Factisch hat der Wille des Fürsten aller¬
dings sehr viel dabei zu sagen, aber es ist von der größten Wichtigkeit, daß
der Anschein vermieden, daß der Name und die Persönlichkeit des Fürsten der
Discussion entzogen wird. Ein Beispiel. Gesetzt das Volk wünscht in seiner
Mehrzahl Gewerbefreiheit, die Negierung widersetzt sich aber diesem Wunsch
und deckt sich durch die Privatmeinung des Fürsten, so wird nothwendiger¬
weise derjenige, der aus der Sache ein besonderes Studium gemacht hat, auf
die Betrachtung geführt, daß er die Sache besser versteht als der Fürst, der
dieses Studium nicht angestellt hat. Wiederholt sich das häufig, so wird die
monarchische Gesinnung des Volkes mehr und mehr untergraben. Es ist
daher nicht eine müßige Fiction, daß die Verordnung des Fürsten nur durch
Mituuterzeichnuug eines Ministers gesetzliche Geltung erhält, der damit die
volle Verantwortlichkeit von dem Fürsten ab und auf sich nimmt. Es ist auch
dann nicht eine müßige Fiction. wenn kein Gesetz über Ministervernntwort-
lichkeit existirt, denn es handelt sich zunächst nur um die moralische Ver¬
antwortlichkeit, um die Verantwortlichkeit innerhalb der Discussion. Bequemer
freilich ist es für einen Minister, sich dieser Discussion dadurch zu entziehen,
daß er sich hinter die Souveränetät des Fürsten versteckt: aber wer das thut,
ist ein Feind der Monarchie. Wenn einem Minister der Privatwille des Für¬
sten über Alles geht, so ist das seine Sache, die er mit seinem eigenen Ge¬
wissen auszumachen hat; aber alsdann muß er auch den Muth besitzen, die
Sache auf seinen Namen zu nehmen und so den Fürsten zu decken.
Es ist viel von der Treue und Hingebung der Völker für ihre Fürsten
die Rede gewesen. Wenn man unsern Speichelleckern glauben wollte, so
wäre jede Illumination und jeder Fackelzug die Folge der persönlichen
Tugenden des jetzt regierenden Fürsten. In der That aber beruht dies Ge¬
fühl, die sicherste Grundlage des Staats, nicht auf dem Schauen, sondern ans
dem Glauben. Es gilt nicht dem augenblicklichen Fürsten, sondern dem an¬
gestammten Träger der Staatssouverainetät, und es wird um so unerschütter¬
licher fortbestehen, je weniger der Einzelne Gelegenheit hat, mit den persön¬
lichen Willensmeinungen des Fürsten in Collision zu kommen. — Ausnahmen
geben wir zu; es gibt Zeiten, wo der Fürst kraft seiner geistigen Uebermacht
und weil er das will, was die Natur der Dinge verlangt, auch persönlich
die volle Souvercnnetät besitzt, aber die Periode solcher Fürsten, welchen die
Geschichte den Beinamen „der Große" gibt, sind Ausnahmen wie die Revo¬
lutionen, und es handelt sich hier um die Regel.
Der wahre Freund der Monarchie ist Feind des Despotismus d. h.
derjenigen Staatsform, in welcher jeder augenblickliche Einfall des Fürsten
Gesetzeskraft erhält. Solche Staatsformen hat es in der Geschichte gegeben.
Nerv und Caligula konnten staatsrechtlich jedes Individuum ihres weiten
Reichs schinden, pfählen, viertheilen lassen, wie es ihnen gut dünkte; sie konn¬
ten ihren Unterthanen das Vermögen rauben, kurz sie konnten Ucbclcs thun
so viel sie wollten, da ihnen keine Nation, keine öffentliche Meinung gegen¬
überstand, sondern nur zahllose Individuen; der Widerstand, den sie fanden,
war auch nur individuell d. h. der Meuchelmord. Gutes zu thun, war
schwerer, denn ihre Macht beruhte aus deu Prätoricmern und auf dem römi¬
schen Pöbel, und diese hielten nur so lange zu ihnen als sie Uebeles thaten.
Nach dieser Art von Souvercnnetät werden sich unsere Fürsten schwerlich seh¬
nen. Aehnlich hat man die russische Monarchie einen durch den Mord ge¬
milderten Despotismus genannt. — Nie hat ein König von seiner Allmacht
so ausdauernd und überschwänglich gesprochen als Jakob; aber das ganze Volk
lachte ihn aus. Nicht der ist mächtig, der von seiner Macht redet. Selbst
Ludwig XIV., der nicht blos davon redete, sondern in der That sehr mächtig
war, weil er den Geist des Volkes beherrschte, konnte die Souveränetät sei¬
ner Laune immer nur gegen die Einzelnen ausüben; in der Staatsmaschine
im Großen und Ganzen vermochte er wenig zu ändern, wie uns die neuen
Entdeckungen schlagend gezeigt haben.
Aus den Theorien der Absolutesten des siebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hunderts hat man dann die Theorie der Volkssouveränetät entwickelt, die
ihrem rohsten Ausdruck nach nichts anderes sagt, als das; jeder augenblickliche
Einfall der Menge Gesetz sein soll. Diese Staatsform ist schwerer herzustellen
als der monarchische Despotismus, weil sie eine einheitliche Organisation der
Menge d. h. des müssigen Pöbels voraussetzt. Daß sie aber möglich ist, zeigt
die Erfahrung Frankreichs von 1793—94 oder auch bis 1799. Aus dieser
Staatsform entwickelt sich stets früher oder später der wirkliche Despotismus.
Wol aber hat der Begriff der Volkssouveränetät seine volle Berechtigung,
wenn er nur in kritischem Sinn gebraucht wird, wenn er nur eine Widerlegung
jenes absolutistischen !„1'6tat e'e«t moi!" sein soll. Die wahre Souveräne¬
tät des Staats wird hergestellt, wenn er durch seine geographische Lage wie
durch seine nationale Basis sich als lebensfähig und widerstandsfähig erweist;
wenn er auf eigenen Füßen stehen kann und keiner fremden Beihilfe bedarf;
wenn die Verfassung so viel Festigkeit enthält, um den Launen des Volks
und den Launen des Fürsten jeden Einfluß abzuschneiden, und soviel Elasticität,
um die Veränderungen der thatsächlichen Lage zum Gesetz zu erheben; wenn
endlich der Fürst, getragen von dem gemeinsamen Gefühl seiner Nation,
den wahren Willen derselben, der auch der seinige ist, mit starker Hand ausführt.
Nicht derjenige Fürst ist souverän, der das will was seine Nation nicht will,
sondern derjenige, der das will was seine Nation will.
Das Streben nach dieser Staatsbildung ist das Resultat einer großen
Culturepoche, die als revolutionär erscheint, weil sie nothwendigerweise die Trüm¬
mer des Alten wegschaffen muß. Unsere Zeit bemüht sich, wahrhaft souveräne
Staaten herzustellen, Staaten, die nicht durch die Gnade andrer, sondern durch
sich selbst leben. Nicht überall wird dies Streben von Erfolg begleitet sein,
wenigstens nicht von augenblicklichem; aber wie oft auch gewaltsam unterdrückt,
immer wird es von Neuem hervortreten und endlich die Herrschaft gewinnen.
In diesem Sinn haben wir die italienische Bewegung freudig begrüßt, welche
Makel auch ihr ankleben mögen; von diesem Gesichtspunkt aus betrachten wir
unsre eignen Zustände.
Auch unsre Gegner bekennen einen ähnlichen Trieb, nur legen sie ihn
anders aus. Auch Konstantin Franz und die leipziger Zeitung verlangen eine
ganz unerhörte Umgestaltung der Bundesverfassung; eine Umgestaltung, die
gradezu den Sinn der bisherigen Verfassung in das Gegentheil umwandelt.
Ader zwischen uns und ihnen ist folgender Unterschied.
Wir wünschen die Bürger eines Staats zu sein, der Kraft genug hat,
auf sich selbst zu stehn, der keines fremden Guts begehren, keinen fremde»
Angriff fürchten darf; eines Staats, der auf gemeinsamer nationaler Grund¬
lage beruhe, eine einheitliche Entwicklung bis zur vollen Souveränetät ver¬
stattet. Dies ist unser Zweck, danach messen wir die Mittel ab.
Sie dagegen wünschen, daß der Ländercomplex des deutschen Bundes,
welcher nach Maßgabe des wiener Kongresses auf dem Stielerschen Atlas mit
rother Farbe bezeichnet ist, ein Reich bilden soll. Das ist ihr Zweck, danach
messen sie ihre Mittel.
Wenn man uns fragt, warum wir das wünschen? so berufen wir uns auf
das Gefühl jedes Einzelnen, gleichviel weicher Partei er angehöre, ob dieser
Wunsch nicht das höchste Gut ausdrückt, dessen das bürgerliche Leben fähig
ist? — Ob dieser Wunsch ausführbar ist. das ist eine andre Frage, die einer
besondern Untersuchung bedarf. Wir sind ganz damit einverstanden, daß man
sich in der Grenze des „Erreichbaren" bewegt; aber diese Frage nach dem Er¬
reichbaren kommt doch erst in zweiter Linie, sie bezieht sich nur auf die Mittel,
zuerst muß man sich über den Zweck klar werden. Unerreichbar kann man —
vor der Erfahrung — nur dasjenige nennen, was einen innern Widerspruch
enthält, und den wird man unserem Wunsch nicht nachweisen können. Auch
wenn das, was wir wünschen, nicht heute, nicht morgen zu erreichen ist. so
bleibt es doch der Leitstern, der uns in jedem einzelnen Fall mit der.Bestimmt¬
heit des kategorischen Imperativs lehrt, was wir zu vermeiden und was wir
zu befördern haben.
Aber was können denn unsre Gegner für ihren Wunsch anführen? Der
rothe Strich sieht auf dem Stielerschen Atlas artig genug aus, aber das ist
doch kein ausreichendes Motiv. Wir wollen davon nicht reden, daß die Gren¬
zen dieses zu gründenden Reichs ziemlich unsicher, die nationale Genieinsamkeit
nicht zweifellos ist: die Hauptsache ist, daß die so ganz leere und abstracte Be¬
dingung jedes organische Ineinanderwachsen unmöglich macht, daß sie einen
innern Widerspruch enthält. Wir wollen nicht so unhöflich sein, uusern Geg¬
nern vorzuwerfen, daß ihr Entwurf nicht ernst gemeint, sondern mir dazu be¬
stimmt sei. uns zu stören, wie die östreichisch-demokratischen Entwürfe in Frank¬
furt 1849; aber in der Sache kommt es darauf hinaus. Denn die Angabe,
ihr Ziel sei leichter zu erreichen, ist völlig aus der Luft gegriffen. Unser
Bundesstaat verlangt viel Kühnheit und Aufopferung von allen Seiten; aber
ihr Bundesstaat ist ein xurum xutum non vns, zu deutsch, ein baarer Unsinn.
Um dies zu beweisen, beginnen wir mit dem ersten Satz, welcher nach
der leipziger Zeitung „von dem durchaus praktischen, sein Thema nicht Unter
dem Eindruck unklarer Empfindsamkeit, sondern mit der Sonde des nüchternen
Verstandes erörternden Scharfsinn des Verfassers" zeugt.
Dieser Satz, durch welchen mit einem-Schlag die ganze Bestrebung der
Nationnlpartei widerlegt und der ganzen deutschen Staats, und Rechtsphilo¬
sophie eine neue Basis gegeben werden soll, lautet folgendermaßen:
„Was dem deutschen Bund fehlt, ist in erster Linie nicht sowol die Ein¬
heit, als vielmehr die Activität. Denn eine Einheit ist ja wirklich schon vor¬
handen, so gewiß als der deutsche Bund doch ganz ohne Zweifel einen po¬
litischen Körper bildet und sogar als solcher völkerrechtlich anerkannt ist; nur
leider einen Körper von rein passiver Existenz."
Der abstracte kartesianischc mathematische Körper hat freilich keine andere
Eigenschaft als die Ausdehnung, und diese kann man dem deutschen Bunde
nicht absprechen: wie die rothe Linie im Stielerschen Atlas zeigt. Aber einen
physischen Körper von rein passiver Existenz gibt es nicht. Der physische Körper
hat außer der Eigenschaft der Ausdehnung auch die der Attraction, Repulsion,
Gravitation; jeder Körper als solcher besitzt Activität. Wenn man das auf
das politische Gebiet anwendet, so wird man wol zu der Vermuthung berech¬
tigt sein, daß, wo sich gar keine Activität zeigt, auch kein Staatskörper vor¬
handen sei. Das erste gibt der Verfasser im vollsten Maße zu, der deutsche
Bund hat nach ihm nichts geleistet und leistet nichts, außer etwa in Sachen
der innern Polizei. Auch in diesem Punkt ist beiläufig der deutsche Bund viel
unschuldiger, als man annimmt. In einer Periode, wo Fürst Metternich sich
als den natürlichen Vormund der preußischen Regierung und sich mit der preu¬
ßischen Regierung gemeinschaftlich als die Vormünder der übrigen deutschen
Fürsten betrachtete, setzte er durch seinen persönlichen Einfluß die berüchtigte
Demagogenpolizei durch: hätte Preußen nicht gewollt, oder hätte auch nur
Bayern nicht gewollt, der deutsche Bund Hütte wahrlich keine Centralcommission
zu Stande gebracht! Wo aber verschiedene Fürsten sich freiwillig über gemein¬
schaftliche Maßregeln einigen, da liegt kein einheitlicher Staatskörper, sondern
ein Vertrag vor: es ist kein Grund vorhanden, warum nicht z. B. Oestreich
und Frankreich sich über eine ähnliche Razzia gegen die Demagogen vereinigt
haben sollten. Es sind dem deutschen Bunde so viele Vorwürfe gemacht, daß
es uns herzlich freut, ihn von dieser Seite in Schutz nehmen zu können; über
alle Anklagen, welche der Liberalismus gegen ihn gehäuft, sprechen wir ein
lautes: Nichtschuld igl — Karlsbad, Aachen u. f. w. waren nicht die
Souveränetätscrklärungen eines politischen Körpers.
Der deutsche Bund als solcher hatte zur allgemeinen Durchführung seiner
Verordnungen keine Zwangsmittel, d. h. keine Souveränetät; wenn die mäch¬
tigeren Fürsten des Bundes gegen einen minder mächtigen zuweilen Zwang
ausübten, so ist das nichts anderes als was z. B. Nußland. Oestreich und
Preußen gegen Krakau gethan haben, ohne daß doch diese vier Staaten einen
gemeinschaftlichen Staatskörper bildeten.
Es ist das unglückseligste Vorurtheil, daß der einheitliche Bundeskörper,
den die Nationalpartei zu gründen wünscht, bereits existirt. Abgesehn von dem
rothen Strich des Stielerschen Atlas besteht für uns politisch gar keine Ein¬
heit. Der Ostpreuße gehört nicht zum deutschen Bund, der Czeche gehört zum
deutschen Bund: will man etwa behaupten, daß der Czeche mit dem Branden¬
burger, mit dem Hannoveraner, mit dem Schwaben in einem näheren poli¬
tischen Verhältniß stehen als der Ostpreuße? Sentimentale Politiker jammern
immer darüber, man wollte Oestreich aus Deutschland heraufdrangen: es ist
aber seit zwei Jahrhunderten gar nicht darin gewesen. Kaiser Ferdinand 2
hat es losgerissen.
Darauf hinzuweisen ist insofern nöthig, als wir uns immer einbilden, wir
hätten etwas aufzugeben. Wir haben nichts aufzugeben. Der deutsche Bund
ist seiner Geschichte wie seiner natürlicher! Beschaffenheit nach ein Vertrag
zwischen 34 Staaten, sich unter einander nicht zu bekriegen und sich gegen
einen fremden Angriff auf bestimmt nmrissenc Theile ihres Gebiets eine be¬
stimmt abgegrenzte Hilfe zu leisten. Vier von diesen 34 Staaten — Oest¬
reich, Preußen, Dänemark und Niederlande — waren im Besitz auch noch an.
derer Länder: auf diese sollte der Bundesvertrag keine Anwendung haben.
So ist das factische und das rechtliche Verhältniß; die Dauer desselben wurde
dadurch garavtirt, daß ein gegenseitiges Bedürfniß vorhanden war. weil die
meisten dieser Staaten nicht im Stande waren, sich selbst zu schützen.
Vergleichen wir dieses Verhältniß und den nordamerikanischen und schwei¬
zerischen Zustünden. Der Theorie nach sind die einzelnen Staaten der Union,
die einzelnen Staaten der Eidgenossenschaft souverän; sie waren es in letzte¬
rer factisch bis 1847. Aber keiner von diesen souveränen Staaten hatte das
Recht der Kriegführung, welches Oestreich und Preußen besitzen. Für Ame-
rika und für die Schweiz gab es immer nur Bundeskriege. Im Jahr 1847
erfolgte in der Schweiz ohne viel Blutvergießen eine vollständige Reform,
welche einen wirklichen Bundesstaat hervorbrachte. Die Möglichkeit dieser
Reform, d. h. die Möglichkeit, die Durchführung von Bundesbeschlüssen ge¬
gen die Renitenten zu erzwingen, lag darin, daß die föderirten Staaten Re¬
publiken waren. Soviel Lokalpatriotismus in den Cantons vorhanden sein
mochte, in der Sache selbst waren sie nicht von einander geschieden. Es
gibt nur eidgenössisches Militär, und als die Parteibildung so weit gediehen
war, daß von zwei Parteien die eine entschieden die größte Stärke besaß, er-
folgte die gewaltsame Durchführung der Reform. Es war im Grund eine
bewaffnete Abstimmung; und die Partei, die sich als die schwächere erkannte,
unterwarf sich, zahlte die Kasten und ließ die Reorganisation geschehen.
So etwas ist in Deutschland nicht möglich. Wir haben kein Bundes¬
militär, sondern wir haben 34 verschiedene Armeen, von denen jede eidlich
ihrem Kriegsherrn verpflichtet ist. Die Bundescentralgewalt, gleichviel wie
sie auch organisirt sein mag. hat nur dann die Gewalt, ihre Beschlüsse
zwangsweise durchzusetzen, wenn ihr militärisches Uebergewicht über die Reni¬
tenten entscheidend ist. Sie hat z. B. keine Zwangsmittel gegen Oestreich
oder Preußen, so lange einer von diesen beiden Staaten die Uebereinstimmung
zwischen Regierung, Heer und Volk erhält. Wenn die Olmützer Erfahrung
dagegen zu sprechen scheint, so muß man nicht vergessen, daß Preußen in die¬
ser Frage eine moralisch unmögliche Haltung einnahm: wenn man etwas zu¬
gleich will und nicht will, so zieht man natürlich den kürzeren. Trotzdem
erreichte man auch in Olmütz nichts weiter, als daß Preußen am Fortschritt ge¬
hindert wurde, den es ohnehin eigentlich nicht wollte; man erreichte aber
nicht, was man auf östreichischer Seite sehr stark wollte, eine wirkliche Reform
zum Nachtheil Preußens.
Wenn man also von der Constituirung einer neuen Bundescentralgewalt
spricht, so kann dieser Wunsch nur dann Sinn haben, wenn die neue Gewalt
Zwangsmittel besitzt, ihren Beschlüssen Geltung zu verschaffen. Wir, d. h.
die Gothaische Partei, hielten die Herstellung einer solchen Centralgewalt für
unmöglich, solange Oestreich und Preußen sich -an derselben betheiligten. Wenn
beide Staaten über eine Frage einig sind, so bedarf es keiner Centralgewalt,
sind sie nicht einig, so geschieht eben nichts. Ohne also das bisher bestehende
völkerrechtliche Bundesverhältniß, d. h. die Verpflichtung, sich gegenseitig Bun¬
deshilfe zu leisten, irgendwie zu alteriren. wollten wir innerhalb desselben einen
engeren Bundesstaat, in welchem Preußen seine Unabhängigkeit so weit auf¬
gab, daß es seine Handlungen von der Beistimmung eines Fürstenraths und
eines Volksparlaments abhängig machte, die andern Staaten insoweit, als
sie die Führung der allgemeinen deutschen Geschäfte Preußen überließen. In
Bezug auf die innern Angelegenheiten sollte ihre Souveränetät unangetastet
bleiben. Dies war das Endresultat des ersten deutschen Parlaments, dies
war die Grundlage des Dreikönigbündnisses, dies ist in mehr oder minder
klaren Umrissen die Idee, welche dem Nationalverein vorschwebt. Gern geben
wir zu, daß die Durchführung eines solchen Entwurfs sehr vielen Schwierig¬
keiten unterliegt; nur das eine Zugeständnis; verlangen wir von unsern Geg¬
nern: gesetzt er wäre zu Stande gekommen, so war es möglich aus demselben
einen wirklich souveränen Bundesstaat zu entwickeln, d. h. einen Staat, des¬
sen Centralgewalt Zwangsmittel gegen die Renitenten besaß. — Wir geben
zu. daß der Entwurf von den einzelnen Fürsten eine beträchtliche Resignation
verlangte, wir behaupten aber, daß sie keines der wesentlichen Attribute der
Souveränetät aufzuopfern brauchten. Denn die Souveränetät ist, wie wir
gezeigt, in ihrer Ausübung von der Natur der Dinge abhängig; und ein deut¬
scher Minister, der in den letzten Jahren an die Cabinete von Se. Petersburg,
Se. James u. s. w. vortreffliche, höchst geistvoll abgefaßte Noten richtete,
würde in einem engeren Bundesstaat ganz dasselbe thun könncy, nnr an eine
andere Adresse gerichtet.
Herr Constantin Franz behauptet mit dem größten Beifall der Leipziger
Zeitung: „um den projectirten engeren Bundesstaat herzustellen, müßte man
erst die Fürsten von Land und Leuten vertreibe»; wir sagen ausdrücklich ver¬
treiben', denn gutwillig oder auf freundliches Anrathen gehn sie nicht."
Diese Behauptung enthält theils eine schändliche Verläumdung gegen die
Centrums-Partei von 1849, in der es keinen gab. dem so etwas eingefallen
wäre; theils eine Verdächtigung der Fürsten, als ob sie nicht bereit wären,
dem Wohl des Ganzen etwas zu opfern. Die Geschichte legt sür die Fürsten
ein besseres Zeugniß ab.
Sämmtliche deutsche Fürsten mit Ausnahme von Bayern und Wür-
temberg haben zuerst im Dreikönigs-Bcrtrag, dann in den Unionsentwürfen
im Wesentlichen dasselbe Prognmm unterzeichnet, welches Herr Constantin
Franz für unmöglich ausgibt. Zwar sind Hannover und Sachsen in späte¬
rer Zeit davon zurückgetreten; aber wenn sie dazu auch von mehreren Grün¬
den bestimmt wurden, so war ein nicht unwesentlicher Grund, daß die damalige
preußische Negierung sich als völlig unfähig erwies, das Programm durchzu¬
führen. Was aber einmal in der Geschichte vorkam — die Bereitwilligkeit
der Fürsten, dem Wohl des Ganzen einen Theil ihrer Rechte aufzuopfern —
erweist sich dadurch als nicht absolut unmöglich. — Ja die Chancen sind
jetzt günstiger als damals wegen der völlig veränderten Stellung Oestreichs
und wegen der gemeinsamen Gefahr, die uns von Frankreich droht.
Herr Franz lebt, soviel wir- wissen, in Berlin. Möge er einmal nach¬
fragen, wer in den sämmtlichen preußischen Landen nach dem Regenten die
meiste Verehrung genießt: die einstimmige Antwort wird sein: der Minister-
Präsident Fürst von H o h enzo item; derselbe, der nicht einen Theil
seiner Souverünetät. sondern seine ganze Souveränetät ohne äußere Veran¬
lassung freiwillig aufgab. Es ist dadurch nicht kleiner geworden.
Nachdem Herr Franz constatirt. daß die bisherige Bundesverfassung nicht
genügt, stellt er folgenden Vorschlag auf: „Der Bundestag ist eine bloße
Gesandtenconferenz, die nur zum Verhandeln genügen würde, nicht aber zum
Handeln, es bedarf eines Organs, wodurch der Bund ein handlungsfähiges
Object wird. Dazu gehört eine Centralgewalt, in welcher die Collectivgc-
walt der einzelnen Staaten nicht blos dem Namen nach repräsentirt. sondern
realiter concentrirt würde, und die also nicht aus Gesandten, sondern nur aus
den Souveränen selbst gebildet werden kann."
Wenn man das wörtlich nimmt, so sollte man meinen, der Kaiser von
Oestreich, der König von Preußen, der König von Bayern und alle übrigen
30 sollten persönlich in der Eschenheimer Gasse residiren, und in Wien, Berlin,
München u. s. w. nur Statthalter zurücklassen. Unwillkürlich drängt sich die
Frage auf, wo in der Eschenheimer Gasse für alle diese Hofhaltungen Platz
sein soll? Und diese unglückseligen östreichischen und preußischen Minister, die
sich wöchentlich wenigstens dreimal in Frankfurt einfinden müßten, um Bericht
abzustatten! Es ist unter den deutschen Kannegießern viel Geist gemacht wor¬
den, aber diese stolze Idee, die Regierungen von Oestreich und Preußen nach
Frankfurt zu verlegen, schlägt denn doch alles, was in Hornheim oder Stöt-
teritz gedacht ist.
Aber wir thun am Ende dem geistreichen Verfasser oder vielmehr seinem
Gewährsmann Unrecht. Nicht alle Höfe sollen nach Frankfurt verlegt werden,
und nicht immer sollen sie dort bleiben. Um sicher zu gehen, citiren wir wört¬
lich: „An der Spitze des Bundes steht der Kaiser von Oestreich, der König
von Preußen und einer von den Regenten der sieben Mittelstaaten (--
sieben?--) . . . Diese drei Monarchen bilden die Bundeshäupter, sie üben
ihre Befugnisse persönlich aus und halten, wie die Regenten der Mit¬
telstaaten, zu dem Ende eine Residenz periodisch in der Bundesstadt. . . .
In ihren Händen ruhen lediglich die Fragen der hohen Politik und die damit
zusammenhängenden Militärmaßrcgeln. Zur Besorgung der laufenden Ge¬
schäfte besteht außerdem aber ein ständiges Organ der Bundesgewalt, da¬
durch gebildet, daß die betreffenden Bundesfürsten einen bestündigen Stellver¬
treter in der Bundesstadt halten. Hierzu werden sie entweder Prinzen ihres
Hauses oder ein Mitglied aus den übrigen souveränen Häusern bestellen."
Also nickt 30 Höfe in der Eschenheimer Gasse, sondern nur 9, freilich
die reichsten! und wenn die Person der Souveräne auch nur periodisch in
Frankfurt residirt, so bleibt doch ein Hof um ihren „alter eM" zurück.
Von den andern 20 Fürsten ist nicht die Rede, sie werden vollständig me-
diatisirt.
Beiläufig: wer sind denn die sieben Mittelstaaten? Die vier Königreiche
sind uns bekannt, aber wer sind die andern drei? Hessen-Cassel, Hesscn-
Darmstadt, Baden, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar! Das sind ja
schon mehr als drei? Es geht schon seit längerer Zeit das dunkle Gerücht,
man wolle durch Zusammenlegung mehrerer kleiner Staaten drei Mittelstaaten
schaffen. Kann uns die Leipz. Zeitung vielleicht darüber Auskunft geben?
Was macht es ferner für einen Unterschied, ob der König von Preußen
einen Gesandten oder einen Prinzen in Frankfurt bevollmächtigt? Soll etwa
der letztere souverän sein? Der Souverän seines Souveräns? Wie weiland
der Reichsverweser? — Endlich, was ist durch die ganze Einrichtung gewon¬
nen? Wenn die drei „Bundesherrn" einig sind, so ist es gut, so war es aber
auch schon bisher gut; wenn sie aber nicht einig sind, inwiefern haben zwei
von ihnen mehr Zwangsmittel gegen den dritten als früher? Abgestimmt
konnte auch am alten Bundestage werden, so gut wie unter den neuen
„Bundesherrn". Die Frage ist aber, wie man die Abstimmung zur Geltung
bringt? Preußen hat im vorigen Jahre erklärt, es lasse sich in dieser Weise
nicht majorisiren; in dieser Beziehung sind mit Ausnahme des Herrn.Franz
wol auch sämmtliche Preußen einig; was besitzt also die neue Centralgewalt
gegen sie für neue Zwangsmittel?
Das Hauptgewicht der ganzen Anordnung liegt in der Bestimmung des
dritten Kundesherrn-, „einer von den Regenten der sieben Mittelstaaten, von
seinen College« als ihr Repräsentant erwählt (College» — caelo norreur!)
dergestalt daß die übrigen Mittelfürstew sich zwar das Recht vorbehalten mögen,
mit diesem ihrem Repräsentanten in ununterbrochener Verbindung zu bleiben
und ihm ihren Rath zu geben, er allein aber an der Dreiherrschaft Theil
nimmt und in derselben votirt." — Eine neue Schwierigkeit! Wie soll der
dritte Bundesherr seine Vollmachtgeber, die Mittelfürsten, veranlassen mit ihm
immer einer Meinung zu sein? Und wenn sie das nicht sind, soll dann ihre
Meinung gar nichts gelten? Da würde ja noch toller mediatisirt als nach
den Entwürfen der äußersten Linken! Für denjenigen Theil der Democratie,
der an ähnlichen Visionen leidet, sei hier bemerkt, daß nach dem neuen Ent¬
wurf ein deutsches Parlament nicht stattfinden soll.
Alle die deutschen Pläne des Verfassers haben eine tiefere, europäische,
Philosophische Bedeutung. Es gilt einen Kampf gegen den Napoleonismus. „Der
Napoleonismus besitzt drei Dinge: einen souveränen Willen, ein Princip, wo¬
nach dieser Wille handelt und endlich den Gedanken an dieses Princip. Dar¬
auf beruhen seine Erfolge, und sie werden wachsen solange bis wir ihm in
gleicher Rüstung entgegen treten. . . . Wie Frankreich strebt, die ganze abend¬
ländische Völkcrmasse um Paris herum zu concentriren, so muß Deutsch¬
land danach streben sie mit dem deutschen Bunde zu conföderiren" d. h.
Bund der Fürsten gegen den Bund der Völker!
Das ist der Punkt, und jetzt sehn wir endlich, daß wir den Verfasser bis¬
her nur schwach verstanden haben. Die drei neuen Mittelstaaten sind nicht
erst zu schaffen, sie sind schon da: Dänemark. Niederlande. Belgien. Der
König von Dänemark als dritter Bundcsherr in der Eschenheimer Gasse und
Deutschland ist gerettet. Dann sind wir die Herren! Wenn die Schleswig-
Holsteiner sich diesem großartigen europäischen Entwurf nicht fügen, so helfen
Wir unserm Bundesherrn ihnen Raison beizubringen, wie wir unserm andern
Bundesherrn helfen, den Italienern und Ungarn Raison beizubringen; und in
dem stolzen befriedigenden Gefühl, die allgemeinen Büttel Europas zu sein,
nehmen wir gern die Schläge mit in den Kauf, die wir um dieses Systems
willen selbst erleiden müssen — ist doch der rothe Strich auf dem Stieler'schen
''
Aus Herz und Welt. Deutsche, vom Verfasser besorgte Ori¬
ginal-Ausgabe. — Leipzig, Wiedemann. — Unter den vielen, höchst zierlichen, im
bekannten Geschmack des Verfassers bearbeiteten Novcllcttcn hat uns namentlich ein
wirkliches Erlebniß: ,,ein Besuch bei Dickens" angesprochen. Es freut uns, daß nach
dieser Schilderung der Dichter im Privatleben ebenso liebenswürdig und gemüthlich
erscheint, wie er sich in seinen bessern Dichtungen darstellt; es freut uns um so
aufrichtiger, da manches, was in neuerer Zeit verlautete, dagegen zu sprechen
schien. —
Handwerk und Industrie, Roman in 2 Bdn. — Leipzig, Gru-
now. — Der Gegensatz der beiden Bildungssphärcn und der aus ihnen hervorgehen-,
den Charaktere ist sinnig durchgeführt, und wenigstens eine von den Frauenfigurcn
tritt lebendig vor unsre Seele. Die Tendenz ist,die nämliche, die wir vertreten:
man soll die Ideale aus dem wirklichen Leben entwickeln, nicht in dasselbe herein-
phantasircn. —
Der Reitknecht, Roman aus dem nördlichen Seeland, 2 Bde..
aus dem Dänischen von E. Utcrfort. — Leipzig, Wiedemann. — Derber, kräf¬
tiger Humor; frische, sehr lebendige Farben, die Figuren deutlich, und eine Lustig¬
keit, die aus dem Herzen kommt. —
Aus dem Englischen. Leipzig,
Lorck. — Die sittlichen Voraussetzungen dieser Novelle sind freilich eine starke Zu-
muthung, sie gehn fast noch über den Ton der frühern Schelmenromane, denen
die kleine Novelle sich überhaupt anschließt. Besser immer, als die ewige Sen¬
timentalität! —
Louis Napoleon, Roman und Geschichte. Bd. 4. 5. —
Leipzig, Grunow. — Mehr Roman als Geschichte, der Kaiser würde sich mitunter
wundern, in diesem Vcrschvncrungsspiegcl sein Bett zu sehn. — Dabei sei erwähnt
die dritte Auflage der Schrift: Louis Napoleon Bon aparte, die Sphinx auf
dem französischen Kaiserthron, Hamburg, Meißner, mit zwei Nachträgen: „Viva-
franca und Frei.Deutschland" und „Ein Viertel vor Zwölf!" — Der Verfasser
ernährt das deutsche Volk, das Räthsel der Sphinx dadurch zu lösen, daß es einen
engern Bundesstaat unter Preußens Führung bildet- eine Meinung, der wir auch
beipflichten. —
ein armes Mädchen, Roman in 2 Bd.; des Lebens Leid
und Lust, 3. Bd. — Leipzig, Luppe. — Oberförster zu schildern, haben unsre No¬
vellisten, Dramatiker und Carricaturmaler ein besonderes Talent: das Leben im
grünen Walde hat doch eine eigne Anziehung. Bei, dem Gegensatz zwischen dem
Priester und Kaufmann klingt wol etwas das Drama O. Ludwigs durch, doch ist
das Thema selbständig bearbeitet, und, obgleich einige Mordthaten vorkommen, durch¬
aus nicht tragisch. — Das andre Buch enthält kleine Novellen. —
Henriette Sontag. Künstlerlebens Anfänge in Feder¬
zeichnungen. 2. Bd. — Leipzig, Grunow. — Schildert mit Sach- und Localkenntniß
die Prager Periode der berühmten Sängerin und namentlich ihr Verhältniß zu
Herloßsohn, dem später in Leipzig so beliebten Dichter. —
die östreichische Akademie der Dichtung, Forschung und Kritik.
2. Bd. Wien, Müller. — Enthält ein Epos in Hexametern, eine tyroler Dorfge¬
schichte, größere und kleinere Balladen, mythologische und ästhetische Abhandlungen,
kirchliche Kompositionen u. s. w.
D
arstellungen deutscher Literatur aus den Werken der
vorzüglichsten Literarhistoriker. Zur Belebung des Unterrichts und zur Privcitlectüre
herausgegeben von I. W. Schäfer. Zwei Theile in einem Band. Mit dem
Bildniß G. E. Lessings nach May. — Leipzig. Brandstätter. — I. W. Schäfer
'se selber ein tüchtiger Literarhistoriker, und vollständig befähigt, die verschiedenen
Perioden der deutschen Literatur selbständig zu behandeln, wie er zum Theil schon
gethan. Warum er also eigentlich diese Excerpten sammt un g aus andern Schrift¬
stellern angestellt hat, die zum Theil eine ganz abweichende Tendenz verfolgen, ist
schwer zu sagen. Wie dem auch sei, das Buch liest sich gut und hat den Vortheil,
mit den verschiedenen Bearbeitungen der Literaturgeschichte bekannt zu machen, da
doch schwerlich vorauszusetzen ist, daß Einer sie alle vollständig lesen soll. —
Ein Handbuch von Johannes
Scherr, — Zweite, umgearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Frankfurt.
— Als gedrängte Uebersicht der verschiedenen Litcraturvölker hat das Buch zur Zeit
seines Erscheinens gerechten Beifall gefunden. Der Verfasser hat sich bemüht, die
Stimmungen des Jahres 1848 auszumerzen, und statt dessen die Notizen reichhal¬
tiger zu machen. Er hätte in diesem Bemühn noch weitergehn und namentlich
alle unedel« Ausdrücke wegschaffen sollen, von denen doch noch ein guter Theil stehn
geblieben ist. — Die Behandlung ist ungleich, einzelne, sorgfältiger bearbeitete Par¬
tien sind vortrefflich; den Ansichten, welche den Leitton bilden, kann man im Gan¬
zen beipflichten. —
Ein Lebensbild aus englischen Quellen zusammengestellt von
Dr. Felix Eberty, Professor in Breslau. — 2 Bd., Breslau, Trewendt. — Die
bekannte Biographie von Lockhart ist zu Grunde gelegt, die bei ihrer Weitschweifigkeit
einen Auszug wol erträgt. Dieser Auszug ist geschickt gemacht, und wird dazu
beitragen, den Dichter, der dem modernsten Geschmack nicht mehr recht behagt, wie
nach einem Liqueur der Wein nicht schmecken will, und der doch unter allen No¬
vellisten des neunzehnten Jahrhunderts noch immer den ersten Rang behauptet, dem
deutschen Volk auch menschlich näher zu rücken. Das ist aber das Schöne bei
W. Scott, daß man in ihm den Menschen ebenso lieben und ehren kann als den
Dichter. Die Schotten wissen sehr gut, was sie an ihm habent hätte sich ein deut¬
scher W. Scott gefunden, es hätte unser Nationalbewußtsein mehr gefördert, als sehr
berühmte transcendentale Poesien, welche uns die Räthsel des Aller-Jnnersten auszu-
schließen verheißen, und damit enden, daß es eben keine Auflösung gibt. —
Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst.
Von Dr. Ernst Kleinpaul. — Vierte Auflage. — Barmer, Langewieschc. —
Hauptsächlich für Mädchenschulen berechnet, überhaupt für alle, welche die Gymna¬
sialbildung nicht durchgemacht haben. —
— Die Jahre 1859
und 1860. Von Dr. Karl Klüpfel. (Vierter Nachtrag zu dem Schwab und
Klüpfelschcn Wegweiser.) Leipzig, Verlag von Gustav Mayer. 1860. Die Fort¬
setzung der bekannten Uebersichten über die neuesten Erscheinungen auf den verschie¬
denen Gebieten der deutschen Literatur. Gute Auswahl des im Vergleich mit der
Productionskraft der Zeit Bedeutenden, genaue Angabe der Titel und kurze, meist
treffende Beurtheilungen des Inhalts lassen uns das Unternehmen bestens empfehlen.
Sehr richtig hebt der Verfasser im Vorwort hervor, daß die literarische Production
in den letzten beiden Jahren abgenommen, die Zahl der Bücher sich vermindert,
die schriftstellerische Thätigkeit und die Leselust des Publicums sich hauptsächlich auf
die Zeitungen geworfen hat. Wir bemerken noch, das Dr. Klüpfel in politischen
Fragen durchgehends den Standpunkt einzunehmen scheint, den d. Bl. einnehmen,
Den Angelpunkt der kurhessischen Verfassiingssache bildet gegenwärtig die
Frage-, nach welchen Bestimmungen kann und muß eine vollberechtigte
Landesvertrctun g gewählt werden?
Um diesen Gegenstand klar erfassen und richtig beurtheilen zu können,
muß man sich die Entstehung, den Ausbau und den Umsturz der Verfassung
vom 5. Januar 1831, sowie die Grundlagen der augenblicklich in Anwendung
befindlichen Verfassungs- und Wahlbestimmungeu vom 30. Mai 1860 ver¬
gegenwärtigen. Versuchen wir's also, einen gedrängten Ueberblick davon zu
gewinnen.
Die Verfassungsurkunde von 1831 beruht auf Vereinbarung zwischen der
Negierung Wilhelms des Zweiten und den althessischem Ständen. Mit Rück¬
sicht aus die geschichtlichen Grundlagen und auf die besondern Verhältnisse des
Landes, welches in keiner Weise die Grundlagen und Bestandtheile für eine
erste Kammer zu bieten schien, wurde mit allseitiger Zustimmung nur eine
Versammlung von Ständen gebildet. Sie bestand 1) aus den Prinzen der
apanagirten Linien des Kurhauses, 2) aus den Häuptern der Standesherrlichen
Familien, 3) aus dem Senior oder dein sonst mit dein Erbmarschallamte be-
liehcnen Mitglieds der Familie von Riedesel, 4) aus einem der ritterschaft-
lichen Obervorsteher der adligen Stifter Kaufungen und Wetter, K) aus einem
Abgeordneten der Landesuniversität, 6) aus fünf Abgeordneten der althessischem
Ritterschaft, 7) aus einem Abgeordneten der Schauenburger Ritterschaft und der
adligen Fräuleinstiftcr Obernkirchen und Fischbach, 8) aus einem Abgeord¬
neten des ehemaligen reichsunmittelbaren Adels der Kreise Fulda und Hün¬
feld, 9) aus einem Abgeordneten des ehemals reichsunmittelbaren und des sonst
starkbegüterten Adels der Provinz Hanau, 10) aus sechzehn Abgeordneten der
Städte, dergestalt, daß Kassel und Hanau je zwei, Marburg, Fulda und Schmal-
kalden je einen wühlten und die kleinern Städte mehrere Wahlkreise bildeten;
endlich ii) aus sechzehn Abgeordneten der Landgemeinden. Ueber die Wahlen
enthielt die Verfassungsurkunde selbst mehrere Bestimmungen; die übrigen
wurden einem besondern Wahlgesetze vorbehalten, welches aber im Voraus
durch dz. 72 der Verfassungsurkunde für „einen Theil der Staatsverfassung"
erklärt wurde. Dies Gesetz erfolgte am 16. Februar 1831 unter Zustimmung
der alten Stände, welche hiernächst am 9. März 1831 verabschiedet wurden
und so der neuen Landesvertretung Platz machten.
Die solchergestalt vereinbarte und beurkundete Staatsvcrfassurig des Kur-
fürstenthums ward vou allen Seiten anerkannt und blieb bis zum Jahre 1848
in unveränderter Geltung. Es hatten sich aber, namentlich unter dem ersten
Ministerium Hassenpflug in den dreißiger Jahren, und dann unter den Bestre¬
bungen von Bickell und Scheffer, so zahlreiche Anfechtungen und Verkümme¬
rungen verfassungsmäßiger Rechte gezeigt, daß im März 1848 der Ruf nach
neuen Bürgschaften allgemein war und von radikaler Seite, namentlich auch
vom jetzigen Minister der auswärtigen Angelegenheiten v. Goeddaeus, eine
constituirende Versammlung verlangt wurde. Die altliberalc Partei widersetzte
sich aber dem Verlassen des Rechtsbodens mit aller Entschiedenheit; ja nicht
einmal eine Auflösung der unter Schefferfchen Einflüssen 1847 gewählten
Stände wurde vorgenommen, sondern man begnügte sich mit dem Einflüsse
der Ereignisse und schritt erst in letzter Stunde der gewöhnlichen Landtagspc-
riode, am 31. October 1848, zur Verabschiedung.
Auch die Aenderungen an der Verfassung selbst, welche man mit diesen
Ständen in einhelliger Zustimmung vornahm, beschränkte« sich aus wenige
Bestimmungen, indem man nur die Beseitigung der schreiendsten Mißstände
vor Augen hatte, z. B. die Abstellung der bisherigen obcrbefehlshaberischcn
Thätigkeit des Landesherni ohne ministerielle Verantwortlichkeit.
Alle Aenderungen wurden übrigens in verfassungsmäßiger Weise nach den
strengen Vorschriften des K. 153 der Verfassungsmkunde vorgenommen, welcher
„entweder völlige Stimmen eins elligkeit der auf dem Landtage an¬
wesenden ständischen Mitglieder, oder eine, auf zwei nach einander folgenden
Landtagen sich aussprechende Stimmenmehrheit von drei Vierteln der¬
selben" erfordert.
Auf die letzte Weise kam namentlich das sogenannte Wahlgesetz vom
5. April 1849 auf den Landtagen von 1848 und 1849 zu Stande.
Dies Gesetz griff etwas tiefer in die Bestimmungen der Verfassungsurfunde
selbst ein, indem es unter dein Einflüsse der deutschen Grundrechte die erb¬
lichen und bevorrechteten Landstandschastcu aufhob und solchergestalt die Zu¬
sammensetzung der Landesvertretung erheblich änderte. Es fielen also die Prin¬
zen und Standesherrn, der Erbmarschall, die Stifter, die Universität und die
verschiedenen Ritterschaften hinweg; dagegen blieben die sechzehn Vertreter der
Städte und die sechzehn Abgeordneten der Landgemeinden. Statt jener bevor¬
zugten Klassen, von denen einige, z. B. die Landstandschasten der Prinzen, erst
durch die Verfassung von 1831 eingeführt worden waren, wurden sechzehn
Abgeordnete von Höchstbesteucrten, wobei natürlich nur directe Steuern, näm¬
lich Grund-, Gewerbe- und Klassensteuer in Betracht kamen, hinzugefügt.
Auf je tausend Seelen des Bezirks sollte ein Wähler kommen. Man glaubte
damit ein neues conservatives Element zu gewinnen, auch, so viel noch nöthig
erschien, dem Art. 14 der Bundesakte zu ensprechcn. Zugleich forderte man
für jeden Wähler neben völliger Unbescholtenheit auch Selbständigkeit; als
selbständig sollten aber diejenigen gelten, welche „als Ortsbürger oder Bei¬
sitzer einen eignen Haushalt führen und nicht in Kost und Lohn eines andern
stehen, sowie diejenigen, welche eine directe Steuer entrichten." Vor allen
Dingen aber wurde, um bei Wählern und Gewühlten die nöthige Einsicht
und Gemessenheit zu sichern, für beide ein dreißigjähriges Alter verlangt.
Die Wahl geschah durch directe öffentliche Abstimmung zu Protokoll.
Durch §. 1 dieses neuen Wahlgesetzes wurde das alte von 1831, sammt
den §§ 63, 66. 67, 68, 76 der Verfassungsurkunde von 1831 für aufgehoben
erklärt und zugleich bestimmt, daß das neue Gesetz gleich dem frühern ein
„Bestandtheil der Staatsverfassung" sein solle.
Bei der ersten Berathung des Gesetzes ergab sich zwar eine Meinungs¬
verschiedenheit über die Frage, ob ein Beurlaubter im Sinne des K 153
der Verfassung als anwesend oder abwesend (ans dem Landtage) zu betrachten
sei; allein Regierung und Stände kamen in der Auslegung überein, daß ein
solcher nicht zu den Anwesenden zu zählen sei, und so ward dos Gesetz unterm
5. April 1849 vom Landesherrn vollzogen und verkündigt, ohne daß irgend
ein Widerspruch erfolgte. Insbesondre hatten die bevorzugten Klassen, na¬
mentlich die ritterschaftlichen Vertreter, an dem Zustandekommen des Gesetzes
den wesentlichsten Antheil, indem nur durch sie die Dreiviertelmehrheit herbei¬
geführt wurde, da auf beiden Landtagen die demokratischen Bestandtheile der
Kammern wegen der Höchstbestcuerten :c. beharrlich gegen das Gesetz waren.
Namens der Standesherrn hatte der Graf von Jsenburg eine eigne Denk¬
schrift an die Ständeversammlung von 1848 zu 1849 gerichtet, worin er die
wiederholte Annahme des Gesetzes dringend empfahl. Auch im Uebrigen er¬
folgte keine Einsprache. Die Negierung ließ sofort neue Wahlen darnach aus¬
schreiben, und selbst Hassenpflug hat nach der von ihm bewirkten Auflösung
der Stände im Sommer 1850 Neuwahlen darnach vornehmen lassen. Auch
ist noch ganz kürzlich in der amtlichen Kasseler Zeitung von einer zweifellosen
Negiernngsfcdcr das Bekenntniß abgelegt worden, daß das fragliche Wahl¬
gesetz „auf verfassungsmäßigen Wege" und in „constitutioneller Weise" zu
Stande gekommen sei. Es kann Mithin nicht dem geringsten Zweifel unter-
liegen, daß jenes Gesetz in rcchtsgiltiger Welse erlassen worden ist, und daß
es als Bestandtheil der Landesverfassung nach ausdrücklicher Vorschrift des § 1
„nur aus dem in § 153 der Verfassungsurkunde vorgesehenen Wege abgeän-
dert werden" konnte. Weder die Negierung noch der neuhcrgestellle Bundes¬
tag war zu einer Beseitigung desselben ohne ständische Mitwirkung berechtigt,
da es mit der Verfassung in anerkannter Wirksamkeit bestand und folglich nach
Art. 56 der wiener Schlußakte „nur aus verfassungsmäßigen Wege" wieder
abgeändert werden durfte.
Gleichwol hat die Regierung in Folge Vundesbeschlnsses vom 27. März
1852 unterm 13. April desselben Jahres Verfassungsurkunde und Wahlgesetz
„außer Wirksamkeit" gesetzt und eine provisorische Verfassung nebst Wahlord¬
nung als „Gesetz" verkündet, ohne irgend eine landständische Zustimmung
einzuholen. Es ist nicht nöthig, die Veranlassung und die Folge» dieses
eigenthümlichen Verfahrens näher zu erörtern. Alle Welt weiß, daß Hassen-
pflug außerordentliche Geldmittel und Steuerbcwilligungen verlangte, ohne die
verfassungsmäßige Vorbedingung einer Budgetvorlage erfüllt zu haben; daß
man die Ablehnung dieses unstatthaften Ansinnens „Steuerverweigerung", die
Nichtbefolgung der verfassungswidrigen Steuerausschreiben „Aufruhr" und die
Unterdrückung des nicht vorhandenen Aufruhrs durch Vernichtung des ganzen
Verfassungsrechts „Bundeshilfc" nannte. Alle Welt weiß anch, daß dies al¬
les geschehen ist, nicht weil sich mit den kurhessischen Verfassnngsgesetzen nicht
regieren ließ, sondern, weil man die preußische Union, an welcher die Stände
festhielten, vernichten wollte, weil sieh's um Herstellung des Bundestags, um
den vollsten Sieg der Reaction handelte.
Es ist auch bekannt, daß es der kurhcssischen Regierung nnter der Herr¬
schaft eines vierjährigen Kriegszustandes durch Versprechungen. Drohungen.
Ausflößungen, Aenderungen der Grundlagen des Wahlgesetzes u. s. w. end¬
lich gelang, die vom Bundestage angeordnete „Erklärung" Seitens der Hasseu-
pflug'sehen „wirklichen Stände" herbeizuführen. Indessen war dieselbe von
der Art, daß die Regierung im Sommer 1858 eine ganze Reihe von Ein¬
wendungen dagegen erhob, welche sie mit Hilfe der Bundesversammlung zur
Geltung zu bringen gedachte. Allein ehe dies Vorhaben gelang, nahm die
zweite Kammer im Oktober 1859 und' Februar 18V0 ihre Erklärung zurück
und verlangte die Herstellung der Verfassung von 1831. Gleichzeitig machte
Preußen am Bundestage die Ansicht geltend, daß diese Verfassnag nur pro¬
visorisch außer Wirksamkeit gesetzt, nicht aber definitiv aufgehoben worden sei,
und daß die Rückkehr zu derselben nicht rinr nach den vorliegenden Bundes¬
beschlüssen zulässig, sondern auch „eben so sehr durch praktische Gründe, wie
durch die Achtung vor dem Recht geboten" erscheine. Es beantragte daher
eine weitere Prüfung vom Ausschüsse in der angedeuteten Richtung, wobei
insbesondre auch die Frage in Betracht gezogen werden könne, ob „vielleicht
in den Zusätzen der Verfassung aus den Jahren 1848 und 1849 und dem
Wahlgesetze selbst Verfassungswidrigkeiten enthalten seien, welche es möglich
machen, diese von vornherein außer Wirksamkeit zu lassen/'
.Preußen schien also nicht abgeneigt zu sein, das Wahlgesetz von 1849
wegen „Verfassungswidrigteiten" als nichtig, und mithin die dadurch beseitig-
ten Bestinnnungen von 1831 als noch in Kraft seiend zu betrachten, wenn
um Uebrigen seine Anschauung Billigung gefunden hätte. Diesem Umstände
soll es hauptsächlich zuzuschreiben sein, daß auch in Kurhessen das Wahlgesetz
von 184!) nicht besonders betont, sondern nur unter den allgemeinen Aus¬
drücken „das Verfassungsrecht von 1831" oder „das alte Verfassungsrecht"
mitbegriffen wurde. Auch mag bei manchem die Hoffnung bestanden haben,
durch Rückkehr zum Wahlgesetze von 1831 die erste Kammer für ein gemein¬
sames Wirken behufs Herstellung der Verfassung von 1831 zu gewinnen.
Allein weder der Bundestag uoch die erste Kammer ließ sich zur Betretung
des von Preußen bezeichneten Weges, um eine „beruhigende Erledigung" der
Verfassungssache herbeizuführen, bereit finden. Vielmehr hielt die letztere an
der „Erklärung" auf die Verfassung von 1852 fest, und der erstere faßte am
24. März 1860 unter dem Widerspruche Preußens und einiger kleinern Staa¬
ten den Beschluß, daß die turhessischc Negierung aufzufordern sei, nach Maß.
gäbe jeuer Stände-Erklärung und des Bundeöausschußberichts, ein endgil-
tiges Stnatsgrundgesetz nebst Wahlordnung für das Kurfürstenthum zu erlassen.
In Folge dessen wurde am 30. Mai 1800 eine dritte Verfassung mit
Wahlgesetz verkündigt, und am 2. Juli die Anordnung neuer Ständewahlen
darnach getroffen. Damit hörte die Aussicht auf, durch Vermittlung Preu¬
ßens am Bundestage das alte Verfassungsrecht hergestellt zu sehen. Auch
sprach der preußische Minister des Auswärtigen, Herr v. Schleinitz. im Ber¬
liner Hause der Abgeordneten es geradezu aus, daß nunmehr das kurhessische
Volk sich zunächst selbst zu entscheiden habe. Eine, solche Selbstentscheidung
ist in unzweideutigster Weise erfolgt. Bereits unmittelbar nach Verkündigung
der Maiverfassung wurden von alle» Seiten, selbst von einzelnen Gehöften
der entlegensten Landestheile, Verwahrungen gegen die neue Ordnung der
Dinge laut. Zugleich wurde nunmehr mit klarer Entschiedenheit der strenge
Rechtsboden hervorgekehrt, und festhalten. Nicht blos die Kasseler Oberge¬
richtsanwälte und die ihnen beitretenden Anwälte in allen Landestheilen, son¬
dern auch die vornehmsten Stadtbehörden und Wahlkörperschaften sprachen
es offen aus, daß nur durch Rückkehr zum Wahlgesetze von 1849 der Rechts-
zusammenhang wieder gewonnen und gegen alle Anfechtung gewahrt werden
könne. Während die UrWähler mit dem Nechtsvorbehalte zur Wahl schritten,
daß daraus keine Anerkennung der neuen Verfassung und kein Aufgeben der
alten gefolgert werden solle ?c. machten die Wahlmänner den Abgeordneten
unter gleichem Vorbehalte besonders zur Pflicht, -nus Herstellung der Ver-
fassung von 1831 und auf Berufung einer Ständeversammlung nach dem Ge¬
setze vom 5. April 1849 nach Kräften zu dringen. Es erscheint dies um so
bedeutungsvoller, je beschränkter die Gesichtspunkte sind. nach welchem das
Maiwahlgesetz die Wahlkörpcrschasten gebildet hat, und je gewichtsvoller der
Umstand in die Waagschale fällt, daß die bevorrechtete Wählerschaft der Höchst-
begütcrten oder der großen Grundbesitzer, die allein 16 Abgeordnete stellen,
durch das Verlangen nach Rückkehr zum Wahlgesetze vom 1849 ihr eignes
Todesurtheil ausgesprochen hat.
Die eben zusammentretende zweite Kammer der neuen Stände hat daher
schon von den Wählern und nebenbei auch von der Stimmung und der öffent¬
lichen Meinung des ganzen Landes ihren Standpunkt in Betreff der Ver-
fassungsfrage angewiesen erhalten. Ihre Aufgabe kann seine andere sein, als
nach Art von Vertrauensmännern die Ansichten und Wünsche des Landes
kund zu geben, demnach ans Herstellung des alten Rechtszustandes und na¬
mentlich Berufung der rechtmäßigen Landesvertretung hinzuwirken, von den
eigentlichen Lnndtagsgeschäften aber unter Aussprechung der Unzuständigkeit
sich gänzlich fernzuhalten. Daß dies in der That geschehen wird, kann kaum
noch zweifelhaft sein. Eben so sicher ist es aber anch, daß die neue erste
Kammer, gleich ihrer Vorgängerin an den ihr durch die neue Ordnung der
Dinge eingeräumten Vorrechten festhalten und namentlich die Ehre eines be¬
sondern Herrenhauses oder, wie der Volksmund es ausgedrückt hat, eines
Ritter-Häuschens, nicht aufgeben wird. Man kann dies schon aus dem Um¬
stände schließen, daß Seitens der ritterschaftlichen Wahlkörperschaften die frü¬
hern Abgeordneten wieder gewählt worden sind und daß man eben so, mit
Ausnahme einer Secretärstelle, das Bureau der .Kammer in gleicher Weise
wie auf dem vorigen Landtage besetzt hat. Erster Vorsitzender ist nämlich
Herr v. Milchling, einer - der ritterschaftlichen Obervorstehcr der Stifter Kau-
fungen und Wetter und Mitglied der Ritterschaft an der Lahn. Er gilt für
einen geübten Juristen, sonst aber für einen ziemlich gewöhnlichen Kopf: er
bekleidete früher eine Richterstelle und soll neuerdings darauf bedacht sein, mit
dem Vermögen einer schönen und liebenswürdigen Frau, der Tochter eines
Kaufmanns, einen geschlossenen Grundbesitz zu erwerben, der ihn befähigen
würde, eine der erblichen Landstandschaftcn zu erlangen, welche in der neuen
Verfassung vorgesehen sind. >
Zweiter Vorsitzender ist Herr Waitz von Eschen, ein reicher Grund- und
Bergwerksbesitzer und Mitglied der Ritterschaft an der Dienet, die er seit
einer Reihe von Jahren vertreten hat. Er wohnt gewöhnlich in Kassel und
ist auch Bürger der Residenz, hat aber ein Gut zu Wintcrbühren, was ihn
befähigte, rücksichtlich der Tagegelderfrage als ein Auswärtswvhnender be¬
trachtet zu werden. In den vierziger Jahren kam er in den Ruf eines libe-
raken Mannes, was aber nicht von Dauer war. Hassenpflug schickte ihn ins
Erfurter Parlament; später ist er eins der eifrigsten Mitglieder der neuen
Ritterkammer geworden und geblieben.
Schriftführer sind die Herren von Heßberg und von Münchhausen, Ab¬
geordnete der Ritterschaften an der Schwalm und im Schaumburgischcn.
Der letzte ist erst dies Mal statt des bekannten Herrn v. Edeishcim, des Ver¬
treters der Hanauer Adclssnmilien, gewählt worden, was in sofern besonders
bemerkenswert!) ist, als v. Edelsheim, das begabteste Mitglied der Kammer,
aus dem vorigen Landtage wiederholt vermieden hat, in der Verfassungs¬
angelegenheit klar Partei zu ergreifen.
Außer diesen fünf ritterschaftlichen Mitgliedern sitzen noch die vier Abge¬
ordneten des Fuldaer reichsunmittelbaren Adels, der Ritterschaften an der
Werra und an der Fulda, und der Stifter Kaufungen und Wetter, nämlich
die Herrn v. Geyso, v. Keudell, Bodo Trotte zu Jmshausen und O. Trott zu
Solz, in der ersten Kammer. Nimmt man dazu den Erbmarschall von Riedesel,
welcher Vorsteher der gestimmten althessischem Ritterschaft ist, so zählt die
Kammer zehn ritterschastliche Mitglieder, welche den übrigen Bestandtheilen
gegenüber als eine geschlossene und ständige Mehrheit erscheinen, und zwar
um so mehr, als ein Theil der übrigen Mitglieder nur selten an den Ver¬
handlungen Theil nimmt und die Kammer schon bei zwölf Anwesenden'be¬
schlußfähig ist.
Zu den übrigen Bestandtheilen gehören die Prinzen des kurfürstlichen
Hauses sür eine jede apanagirte Linie, ferner die Häupter der Standesherrlichen
Familien, sodann der Vicekanzler der Universität Marburg, der katholische
Bischof von Fulda und die drei protestantischen Superintendenten zu Kassel,
Marburg und Hanau. Diese letzten und der Vicekanzler helfen gewöhnlich
die Kammer beschlußfähig machen, während die Prinzen und Standesherrn
sich vertreten lassen können, aber wiederum nur durch Standesgenossen oder
durch Angehörige der Ritterschaften. Es ist also klar, daß die Gesammtheit
der Ritterschaft und des Adels, ja in den meisten Fällen schon die althessische
Ritterschaft allein, das entschiedenste Uebergewicht hat. Zugleich erhellt, daß
die erste Kammer fast ganz aus den bevorrechtigten Bestandtheilen der Stünde¬
versammlung von 1831 gebildet worden ist. Neu hinzugekommen sind be¬
sonders die drei Superintendenten und der katholische Landesbischof, welcher
sich aber beharrlich fern hält.
Die zweite Kammer besteht, wie die Ständeversammlungen von 1831
und 184«), aus ni Abgeordneten der Städte und 1K Abgeordneten der Land¬
gemeinden; statt der bevorrechteten Mitglieder von 1831 und der 16 Höchst-
bcsteuerten von 1849 sind 16 Vertreter von Höchstbcgüterten oder großen
GrundbesilM'n, welche weder zur Ritterschaft noch zu den Gemeindebehörden
gehören, eingeführt worden. Diese Grundbesitzer müssen wenigstens 200 Acker
an Gärten, Wiesen und Fcldland im Eigenthum haben und sonst die allge¬
meinen Wühlercigenschasten, namentlich ein dreißigjähriges Alter besitzen. Die
Zahl der Berechtigten betrug bei der letzten Wahl 93; davon waren VS er¬
schienen, so daß auf je vier Wähler ein Gewählter kam; 54 davon unter¬
zeichneten eine Nechtsverwahrung, worin besonders auch das Wahlgesetz
von 1849 vorbehalten und die Hinwirkung auf Einberufung einer „verfas¬
sungsmäßigen Landesvertretung" zur Pflicht gemacht wurde.
Die Wahlkörperschaften der Städte bestellen zur Hälfte ans dem Orts-
vorstandc und den Mitgliedern der Gemeindebehörden, zur Hälfte aus den
Höchstbesteucrten. Darnach betragt z. B. in Kassel, einer Stadt von 38,000
Einwohnern, die Zahl der Wähler 122, welche 16 Wahlmänner zur Ernen¬
nung von 2 Abgeordneten zu wählen haben. In den Landgemeinden haben
nur die Mitglieder der Gemeindebehörden ein Wahlrecht. Dabei ist zu be¬
merken, daß alle Wahlkörper nur aus ihrer Mitte wählen dürfen, und daß
die Negierung durch eine einseitig erlassene landesherrliche Verordnung von
1853 das Recht erhalten hat, von den Gemeindebehörden, sowol in den
Städten als in den Dörfern, Jeden fern zu halten, von dem sie annimmt, daß
er in irgend einer Weise „eine feindselige Gesinnung gegen die Staatsregie-
rung" gezeigt habe.
Wie wenig eine solche Landesvertretung und solche Mahleinrichtungen
dem Lande zusagen können, leuchtet ein. Zugleich wird aber auch klar,
welche Bedeutung alle die Verwahrungen, Rechtsvorbehalte und Erklärungen
haben müssen, welche von solchen Wahlkörpern und Gewählten zu Gunsten
des alten Verfassungsrechts ausgegangen sind und noch ausgehen werden. In
vielen Städten und ebenso in mehrern Landvezirkcn ist mit völliger Einstimmigkeit
verfahren worden; so namentlich in Kassel, wo nur ein einziger UrWähler
ohne Vorbehalt wählte, und wo die 16 Wahlmänner ihren Abgeordneten
Hartwig und Nebelthau, welcher letztere Präsident der zweiten Kammer ge¬
worden ist, einhellig zur Pflicht machten, nach Kräften für Herstellung der
Verfassung von 1831 und für Berufung einer Ständeversammlung nach dem
Wahlgesetze von 1849 zu wirken. Gleiche Entschiedenheit zeigte sich in Hanau,
Marburg, Hersfeld, Schmalkalden :c. In den Landgemeinden der Grafschaft
Schaumburg wählten die sämmtlichen Wahlmänner, fast durchgängig Bürger¬
meister, ohne eine einzige Ausnahme mit Vorbehalt des Verfassungsrechts
von 1831.
^Sonach kann Niemand mehr zweifeln, daß das Land mit aller Entschie¬
denheit am alten Rechte festhält. Es ist aber auch sonnenklar, daß der Rechts-
boden nicht anders wieder gewonnen und nicht anders gegen spätere An¬
fechtungen gesichert werden kann, als daß man zu dem rechtsgültig entstände-
nen, aber niemals rechtsgültig aufgehobenen Wahlgesetze vom 5, April 1849
zurückkehrt und mit einer darnach gewählten Versammlung diejenigen Aende¬
rungen an der Verfassung und am Wahlgesetze selbst in verfassungsmäßiger
Weise vornimmt, die nach dem Bundesrechte für nöthig oder auch nach eig¬
nem Ermessen für zweckmäßig erachtet werden mögen. Solche Aenderungen
könnten z. B. in der Herstellung der erblichen Landstandsckaftcn der apana-
girten Prinzen und der Häupter der Standesherrn, in der Umwandlung der
Höchstbestcuertcu in höchstbcgüterte Grundbesitzer, in der Beseitigung der
mündlichen und direkten Wahl u. s. w. bestehen. Es scheint auch nicht
zweifelhaft, daß sah das Land mit aller Bereitwilligkeit zu dergleichen Aende¬
rungen, sofern sie nur irgend in gerechtfertigter Weise gefordert werden mögen,
verstehen und demgemäß wählen würde, vorausgesetzt freilich, daß bald und
mit aufrichtigem Herzen der bisherige Weg verlassen und zur gesetzlichen Er¬
ledigung des Streits die Hand geboten wird. Daß dies von der Regierung
geschehen kann, ohne irgend das eigne Recht und die eignen Pflichten zu
verletzen, ohne der Würde, ohne der Klugheit, ja ohne selbst den materiellen
Interessen zu nahe zu treten, ist so oft gezeigt worden und liegt so sehr auf
der flachen Hand, daß es keiner Ausführung mehr bedarf. Der gewöhnliche
Einwand, das Gesetz von 1849 sei „zu demokratisch", ist theils ungegründet,
theils ohne rechtliche Bedeutung. Aus dem Rechte ruht aber die ganze
Kraft der Verfassungsbewegung; auf endliche Sühnung des verletzten Rechts¬
bewußtseins muß das Streben der Verfassungsfreunde ohne Unterlaß gerichtet
sein und bleiben. Findet man Aenderungen nothwendig oder ersprießlich, so
bietet sich in dem allgemeinen Wunsche des Landes nach friedlicher Erledigung
der langjährigen Wirren das Mittel und die Möglichkeit, sie auf gesetzmäßige
Weise vorzunehmen. Läßt man aber rechtmäßige Gesetze jetzt verfassungswidrig
bei Seite, so werden sie Fahne einer neuen Partei werden, und was würde
man den Forderungen dieser neuen „Demokraten" demnächst entgegenzusetzen
haben? — Rechtsgründe gewiß nicht!
Allem Anscheine nach wird die eben zusammengetretene zweite Kammer
sich für sofortige Rückkehr zur Verfassung von 1831 und zum Wahlgesetze von
1849 aussprechen und selbst jede landständische Thätigkeit versagen. Möge
die Regierung diesen Ruf nicht überhören! und möge Deutschland, möge
Die folgenden Mittheilungen gingen uns von einem deutschen Offizier
z», der vier Jahre im Heere des Papstes diente, und wir bringen sie als
Ergänzung dessen, was General Lamoricivre selbst in diesen Tagen über seine
Wirksamkeit und die Ursachen seines Mißgeschicks im Römischen veröffent¬
licht hat.
Aus seiner Darstellung ging hervor, daß die rasche Ueberwältigung der
päpstlichen Armee im freien Felde und die schnelle Einnahme der Festung
Ancona keineswegs allein durch die Uebermacht der Piemontesen, von der die
Verblendung unsrer reactionären Blätter so viel Geschrei machte, sondern
ebenso sehr dadurch herbeigeführt wurde, daß, wie Alles im Kirchenstaat,
auch das Heer auf schwachen Füßen stand und keinen Boden im Volke
hatte. Lamoriciöre hatte gethan, was er konnte, er hatte sehr viel gethan.
Aber er war eben, von der Regierung nicht genug unterstützt, von dem Volke
bei jeder Gelegenheit verlassen und getäuscht, uicht entfernt im Stande ge¬
wesen, so viel zu thun, als nöthig war. Auf seine Bitten um Geld erhielt
er unzureichende Summen, und diese gingen andere Wege, als die nächsten,
sodaß die Soldaten sich bei ihren Märschen selbst helfen mußten, wodurch der'
Haß der Bevölkerung gegen die Armee noch gesteigert wurde. Bei der Ver-
proviantirung Ancona's mußte man sich in Ermangelung „gutgesinnter" Bür¬
ger an Lieferanten wenden, die den Sieg der Gegner wünschten, und die,
,als die Belagerung begann und der Befehlshaber der Belagerten das bestellte
Mehl verlangte, zur Antwort gaben, es sei in den Mühlen vor der Stadt,
die bereits in den Händen der Piemontesen waren. Dann aber war auch
auf die Soldaten kein rechter Widerstand zu bauen. Wir haben viel von den
heldenmütigen Angriffen der Päpstlichen bei Castelsidardo hören müssen, und
die katholische Kirche hat die dort Gefallenen als eine Schaar von Märtyrern
gefeiert, ihnen Katafalke errichtet, ihren Seelen prächtige Todtenfeste veran¬
staltet und sie fast unter die Heiligen versetzt. Die Wirklichkeit war anders.
Abgesehen davon, daß gemiethete Märtyrer eine neue Gattung sind, und ab¬
gesehen auch davon, daß sie für die Erhaltung fauler, verrotteter Zustände,
für die Nacht und gegen den anbrechenden Tag kämpften und starben, kommt
sehr vielen von ihnen nicht einmal das Prädicat tapferer Leute zu. Die
Italiener unter ihnen neigten zu ihren Landsleuten im gegnerischen Lager und
bethätigten dies dadurch, daß sie bei Gelegenheit auf ihre eignen Kameraden
feuerten. Lamoriciöre meint in dieser Beziehung, es sei nichts ganz Unge¬
wöhnliches, daß eine Truppe im Treffen einmal auf die eignen Leute schieße.
aber hier habe das Feuer doch zu lange gedauert, als das; ein Versehen an¬
genommen werden könnte. Die Fremden waren im Allgemeinen wenig besser.
Zum guten Theil in Uniform gesteckte Bummler, hielten sie sich der Mehr¬
zahl nach schlecht im Feuer.
Alles das konnte der französische General wo nicht vor seiner Abreise
von Belgien nach dem Kirchenstaat, doch bald nach seiner ersten Inspections-
reise im Römischen selbst ahnen. Wenn er blieb, so mögen ihn irgendwelche
andere Gründe zurückgehalten haben. Gründe aus dem Vertrauen auf die
eigne Kraft des Papstes waren es gewiß nicht. Daß er einen in frühern
Feldzügen wohlerworbenen Ruf verloren hat, mag ihm und seinen Landsleuten
schmerzlich sein. Wir haben keinerlei Ursache, ihn dafürl zu bemitleiden.
Wer einen guten Namen an eine schlechte Sache wagt, dem geschieht nur sein
Recht, wenn er ihn darüber einbüßt. Von den Dornen liest man keine Fei¬
gen, aus Schlamm macht man keine Schwerter, aus faulen Bäumen zimmert
man keine Schiffe. Lamoricivre hat es versucht, und ist darüber zum Don
Quixote geworden. Der Dornbusch gab ihm eine blutige Ohrfeige, der
Schlamm eine Waffe, die schon beim Ausholen zerbrach, der faule Baum ein
Fahrzeug, das beim ersten Sturm sammt dem Ruf seines Führers zu Grunde
ging. Kg.dea.t sibi, und möge es Seinesgleichen allenthalben ebenso ergehen!
Wir geben nun den Bericht unsres Offiziers über den Versuch Lamori-
cisres mit der Reform des päpstlichen Heeres, dem später Notizen über die
Belagerung Anconas folgen sollen:
Bis gegen Ende 1S59 bestand die päpstliche Armee nur aus zwei Regi¬
mentern italienischer Linien-Infanterie mit einem dazu gehörigen Bataillon
Jäger, zwei sechspfündigen Fußbatterien, jede zu sechs Geschützen, einem Re¬
giment Dragoner zu vier Schwadronen, zusammen 000 Pferde, ferner aus
der 4000 Mann starken Gendarmerie, endlich aus den zwei Fremden-Regi¬
mentern, in welche letzteren die Negierung das meiste Vertrauen setzte. Außer¬
dem existirten noch zwei Bataillone Halb-Invaliden und eine Compagnie In¬
validen. ,
Trotzdem diese Armee höchstens 12,000 Mann sol war. kostete sie doch
dem kleinen Staate verhältnismäßig ein ungeheures Geld, einmal, weil sie
angeworben war, dann weil die Besoldung gegenüber den andern Armeen
ziemlich' hoch stand, endlich aber, weil die ganze Heercsadminisiration. als
höchst verwickelt.und unpractisch, eine sehr bedeutende Anzahl höherer und
niederer Beamten nothwendig machte, welche zum großen Theil besser für
ihren eignen Vortheil als zum Wohle der Armee und des Staates zu mcmi-
Puliren wußten.
In Bezug auf ihre Treue entsprachen diese Truppen ebenfalls nicht den
Anforderungen, welche man mit Recht an Soldaten stellen kann. Sieht man
vollständig ab von der alten Erfahrung, daß in der Fremde geworbene Trup¬
pen niemals, oder doch nur in seltenen Fällen, die Ergebenheit gegen ihren
Kriegsherrn haben können, wie sie die Kinder eines Landes ihrem angestamm¬
ten Souverän und ihrem eigenen Vaterlande erweisen werden' (das Beispiel
Friedrichs des Großen paßt nur so weit, als die betreffenden Fürsten auch
große Männer sind) so kam hier hinzu, daß die päpstliche Regierung Vieles
verabsäumte, um ihre gewordenen Truppen an sich zu fesseln.
Die Italiener, der größere Theil der Armee, waren zunächst den Wüh¬
lereien der geheimen revolutionären Vereine sehr zugängig und konnten andrer¬
seits keine besondere Neigung zu einer Negierung besitzen, welche von dem
falsche,? Principe ausging, bei jeder Gelegenheit ihre nichtitalienischen Solda¬
ten zu bevorzugen. Ein Fremdensoldat erhielt bei seinem Engagement fast
doppelt so viel Handgeld als ein Eingeborner; sein täglicher Sold war um
einen Bajocco (gleich V- Sgr.) hoher als der des letzter»; sogar in der Be¬
kleidung waren die Ausländer besser gestellt, als die Italiener, und endlich
wurden jene ihnen auch im Avancement und bei jeder Art von Auszeichnung
vorgezogen. Bei dem Abscheu, den jeder Italiener vor dem Soldatenhand¬
werk hat, bei der Verachtung, welche er bisher sogar gegen die Uniform hegte,
kann man sich leicht denken, daß nur im äußersten Nothfall ein Italiener sich
in die päpstliche Armee einreihen ließ, und so kann man sich eine Vorstellung
machen, aus welchen unzuverlässigen Elementen der italienische Theil derselben
bestand. Eine Ausnahme hievon war jedoch die 4000 Mann starke Gen¬
darmerie (Carabinieri), eine Elitcntruppe, theils zu Pferde, theils zu Fuß,
sehr gut besoldet,, welche das eigeutlicke land- und stadtpolizeilichc Sicherhcits-
organ bildete. Da dieselben als Spione und Schergen der Negierung mehr
noch als alle übrigen Hcerestherle gehaßt wurden, so kamen sie nur auf dienst¬
lichen Wege mit dem Volke in Berührung, und Folge davon wieder war,
daß die Gendarmerie bis zu Ende die treuste Truppe des Papstes blieb.
Die Frcmdcntruppen, vom Volke fälschlich Schweizer genannt, bestanden
aus sehr verschiedenen Nationalitäten^ deutschen, französischen und italienischen
Schweizern aller zweiundzwanzig Cantone, kaiserlichen Franzosen, kaiserlichen,
königlichen und herzoglichen Deutschen aus allen Gauen, einigen Spaniern
und Belgiern, und in der allerletzten Periode auch aus Ungarn, Polen und
Croaten. Dieses zusammengewürfelte Corps rekrutirte sich aus drei Werbe-
depütsl Feldkirch in Vorarlberg, Pontarlier und Marseille in Frankreich.
Diese Depots wurden von den betreffenden Regierungen stillschweigend gedul-
dkt; auf jedem derselben befand sich ein Werbeofsizier mit zwei bis drei Unter¬
offizieren, welche auf unglückliche Leute so zu sagen angelten. Namentlich
lieferte Feldkirch in Vorarlberg vermöge seiner günstigen Lage in der Nähe
der Schweiz, Würtembergs, Badens, Bayerns und Tirols die reichste Bente,
meistens mittellose oder arbeitsscheue Handwerksburschen, die sich dahin ver¬
irrten, junge und alte Verbrecher, die sich dahin flüchteten, und Abenteurer,
welche entweder ihr Glück versuchen wolltni, oder solche, die bereits drei
oder vier Herrn gedient hatten und sich jetzt dem fünften verschreiben woll¬
ten. Auf diesen Werbedepöts scheute man sich wie bei allen solchen Anstalten
vor Unwahrheiten nicht, und malte den Leuten, weiche man fangen wollte,
ihre italienische Zukunft und zunächst das beim Regiment zu erwartende
Handgeld weit glänzender aus, als die Verführten es nachher finden konnten.
Damit war der erste Grund zu Mißvergnügen und Mißtrauen gelegt, aber
deren gab es noch unzählig viele. — Unter den verschiedenen Elementen,
aus denen die Fremdenregimenter bestanden, gab es manchen talentvollen
jungen Mann, welcher, nachdem er seinen wahren ersten Lebenszweck verfehlt
hatte, doch noch so viel moralische Kraft besaß, sich durch Kenntnisse, Fleiß
und dienstliche Brauchbarkeit zum Offizier heranzubilden. Aber bei den
Fremdenregimentern des päpstlichen Heeres war ihnen diese Carriere versperrt.
Wenn auch den Gesetzen nach ein jeder bis zum Offizier avancircn konnte,
so schien dieses Recht dennoch den Schweizern, und unter diesen wieder denen
aus den Sondcrbundsccmtonen reservirt zu sein. Der Franzosen und Deut¬
schen, welche es dahin gebracht haben, sind sehr wenige. Die höhern Offi¬
ziere hatten fast ohnL Ausnahme bereits in den 1849 ausgelösten Schweizer-
regimentcrn gedient und sorgten außerordentlich für ihre in der Schweiz resi-
direnden Herren Söhne, Neffen und Vettern. Diese, meist Menschen ohne irgend¬
welche militärwissenschaftliche Ausbildung, oft selbst ohne Erziehung und
Lebensart, Leute, die bisher irgend ein Handwerk getrieben, den Pflug oder
den Hirtenstab geschwungen hatten, bedurften zur Erlangung eines römischen
Ofsizierbrevets nur die nöthigen Mittel, um auf ihre Kosten zwanzig bis dreißig
Rekruten auf eines der Werbedepots zu liefern. Sie kamen dann als Offi¬
ziere in das Regiment, man machte sie mit den Handgriffen und den noth¬
wendigsten Commandowörter einigermaßen bekannt, und so traten sie nach
wenigen Tagen vor die Front eines Pelotons, welches oft genug Gelegenheit
hatte, sie hell auszulachen. Aus allen diesen Gründen konnten auch die
Fremdentruppen kein Vertrauen auf ihre Führer setzen und trotz der verhält¬
nißmäßig hohen Löhnung keine besondere Liebe zu ihrem Gouvernement haben.
Daß das Eine wie das Andere mangelte, gab sich besonders durch die in
unzähliger Menge vorkommenden Desertionen kund. Die Behandlung war
im Allgemeine» milde, aber höchst willkürlich.
In militärischen Leistungen waren diese Truppen denen einer regulären
Nationalarmee nicht entfernt zu vergleichen. Das Reglement und die Beklei-
dung so wie die Bewaffnung waren genau französisch, nur bei den italienischen
Corps waren die französischen Commaudoworte ins Italienische übersetzt.
Beim Wachdienst hingegen bediente man sich nur des Italienischen, sowie
auch das ganze Rechnungswesen in dieser Sprache geführt werden mußte.
Da der Hauptzweck der Armee zunächst nur der war, Ruhe und Sicherheit
im Lande aufrecht zu erhalten, so waren die Regimenter sehr zerstückelt und
in die verschiedenen Städte und Ortschaften dctachemcnts- und garnisonsweise
vertheilt. So war z. B. das zweite Fremdenregiment, welches noch im Jahre
1859 im Juni die Romagna und die Marken besetzt hielt, über die Städte
Fcrcnza, Forli, Cesena, Rimini, Pesaro, Macerata und Fcrmo vertheilt, also
auf eine Strecke von dreißig deutschen Meilen dislocirt. Die militärischen
Uebungen beschränkten sich deshalb größtentheils auf das Pelotvnsexerziren.
Nur selten konnte ein Bataillonsexerziren stattfinden, und wurde ein solches
befohlen, so blamirten sich in der Regel Bataillonscommcmdcur und Offiziere
vor ihren Soldaten.
Die Bewaffnung der Infanterie bestand in einem glatten Percussions-
gewehr mit Bayonnet und einem Faschinenmesser als Seitengewehr. Die
Jäger hatten gezogene Minie-Stutzen, auf welche sie ihr Seitengewehr, den
Iatagan, pflanzten. Das Material der Artillerie war ziemlich alt, nach
französischem Modell, die Kanoniere trugen Karabiner. Die Dragoner endlich,
welche sehr schön beritten waren, führten den Pallasch und 2 Pistolen.
Der nur durch Räuberbanden gelegentlich gestörte Friede, welcher von
1849 bis gegen das Ende 1859 im Römischen geherrscht, hatte ebenfalls viel
dazu beigetragen, um in der Armee einen sehr schlaffen und trägen Geist ein¬
treten zu lassen. Die verschiedenen Corps waren gegen einander voll Haß
und Neid, im Innern der Regimenter und Bataillone herrschten dieselben
Leidenschaften. Von Kameradschaftlichkeit war wenig die Rede. Bei den
Fremdenregimentern namentlich waren Zerwürfnisse und Zänkereien aller Art
an der Tagesordnung. Die Deutschen vertrugen sich mit den Schweizern
nicht, da diese überall vorgezogen wurden; diese unter sich machten ebenfalls
Rangunterschiede je nach den verschiedenen Cantonen. Ein Soldat oder Offizier
aus Wallis, oder ein Friburger, der den Herrn Obrist oder den Herrn Major
zum Nachbar oder Gevattersmann zu haben sich rühmte, galt mehr als ein
Se. Galler oder ein Berner. Am meisten gehaßt jedoch waren die Franzosen,
obgleich sie entschieden unter allen Nationalitäten die beste Kameradschaft zu
halten wußten.
Ein besonders schlimmes Zeichen vom Verfall militärischen Geistes war
es, daß Jeder den sichersten Weg zum Avancement darin erkannte, wenn er
sich zum Spion seiner Vorgesetzten erniedrigte. Machte er den Sbirren, ver-
läumdete er seine Kameraden, schmeichelte er bei den Vorgesetzten, spielte er brav
den scheinheiligen, so wurde er befördert. Auf Kenntnisse und Bildung
wurde seitens der Obcroffiziere bei Vorschlägen zur Beförderung selten viel
Rücksicht genommen, und die intelligenteren, strebsameren Deutschen brachen
sich höchstens zu solchen Plätzen Bahn, wo sie vermöge ihrer rasch erworbenen
Sprachkenntniß und ihrer sonstigen Fähigkeiten unentbehrlich waren.
Die Disciplin war äußerst locker. Obgleich jeder Corporal nach fran¬
zösischem Reglement das Recht hatte, den Gemeinen bei Dienstvergehen zu
bestrafen, der Sergeant seinerseits den Corporal u, s. w., so wurden diese
kleineren Disciplinarstrafen doch, da sie vollkommen willkürlich und oft an der
unrechten Stelle angewendet wurden, wenig beachtet. Das gewöhnlichste
Laster gewordener Heere, die Trunksucht, herrschte hier in Italien bei billigem
Weine und gutem Solde ganz besonders. Trunk an und sür sich wurde nicht
bestraft, wenn derselbe nicht Anlaß zu andern Vergehen gab. Das provi¬
sorische Militär-Gesetzbuch, welches im Jahre 1852 von einer Commission
Päpstlicher Offiziere ausgearbeitet wurde, hat bis zu Ende bestanden und ist
nie durch ein besseres, auf das Recht vasirtes, ersetzt worden. Man sprach
darin nur von Tod und Galeere; der erstere kam nie zur Ausführung, und
die letztere, welche oft auf menschenrechtschänderische Weise an jungen Men¬
schen einer Uebereilung wegen angewendet wurde, verfehlte ihren Zweck;
denn ein Bagno war wie im Neapolitanischen so auch im Römischen niemals
ein Vesserungshaus, sondern eine Berkümmcrungsanstalt für Leib und Seele.
Was also die päpstliche Armee vor General Lamoriciöre hätte leisten
können,, in wie weit sie ihrem Zwecke entsprochen hätte, falls die italienische
Bewegung ein Jahr früher sie erreicht hätte, ist aus dem Gesagten sür den
Leser leicht ersichtlich.
Als Pius der Neunte und seine Kardinäle die Nothwendigkeit einsahen,
der um sich greifenden italienischen Einheitspartei gegenüber sich besser zu rü¬
sten, als bisher, fehlten dazu die beiden wichtigsten Erfordernisse, erstens das
Geld und zweitens ein Mann, der gleich Wallenstein im Stande gewesen
wäre, im Nu ein Heer zu schaffen und zu organisiren. Für Geld sorgte die
katholische Christenheit, welche aus Deutschland, Irland, Spanien und Frank¬
reich nicht unbeträchtliche Summen nach Rom spendete. Den Feldherrn schaffte
der damalige Pro-Minister des Krieges, de Merode, welcher in der Person
seines früheren Freundes und Kampfgenossen, des in Belgien lebenden ehe¬
maligen französischen, Generals I. de Lamoriciöre ganz den Mann gefunden
hatte, welcher jener schwierigen Aufgabe gewachsen schien. Er führte ihn,
nachdem es den vereinten Bitten des Freundes und des Papstes gelungen,
ihn für den Plan zu gewinnen, aus Belgien, wo der General bisher im
Schooß seiner Familie gelebt, wie im Triumphe nach Rom. — General La-
moriciöre, ein kleiner, untersetzter Mann von einigen fünfzig Jahren, mit einem
Ziemlich martialischen Gesicht, aus welchem aber trotz des französischen Knebel¬
bartes mehr Güte als Strenge spricht, trat in allen Dingen kurz und ent-
schieden auf. Bisweilen aufbrausend, liebenswürdig im Umgänge mit Jeder¬
mann, kurz und gerecht, wie sich's für den Militär gebührt, ergab er sich mit
wärmsten Eifer der Sache, welcher zu dienen er sich einmal verpflichtet hatte.
Leider leidet er hin und wieder an der Gicht, die wohl eine Folge seines
afrikanischen Soldatenlebens ist. Er übernahm ungesäumt das Obcrcommando
über sämmtliche päpstliche Truppen und verpflichtete sich gegenüber der Regie¬
rung, im Zeitraums eines Jahres ein Heer zu gründen, welches, der Große
des Staates angemessen, 30000 Mann stark und hinreichend ausgebildet sein
sollte, um die Bürgschaft für die innere Ruhe und Sicherheit des Landes
übernehmen, sowie auch revolutionäre Stöße von Außen abschlagen zu können.
Dagegen übernahm die Negierung ihrerseits die Verpflichtung, jede dazu er¬
forderliche Geldauögabe ohne Weiters zu bewilligen. Sofort wurden im
östreichischen Kaiserstaat außer Wien, wo bereits vorher ein Werbedepüt ge¬
gründet worden war, noch in Prag und Trieft Depbts eröffnet. Lcnnoriciörcs
Ruf zog verschiedene der damals nach dem italienischen Feldzug entlassenen
östreichischen und französischen Militärs an. Ferner stellten sich manche sei¬
ner ehemaligen Zuaven bei ihrem alten Scipio Afrikanus ein; dann traten
von den kurz vorher ausgelösten neapolitanischen 4 Schweizerregimcntcrn viele
Soldaten in den Dienst des Papstes. Endlich meldete sich auch eine nicht
unbedeutende Schaar irischer Rekruten, denen später andere Trupps folgten.
Der neue General vbel entwickelte eine Thätigkeit, wie sie bis jetzt im
Kirchenstaat ungekannt war. Mit fast unumschränkter Vollmacht versehen,
hatte er nur ein Wort zu sagen, so folgte auf dem Fuße die Ausführung,
während bei den frühern eingerosteten Zuständen das kleinste Project Jahre
zu seiner Verwirklichung bedürfte. — Sein erstes Werk war, die bereits be¬
stehenden Truppen zu inspiciren, und hierbei traf er sofort große Verände¬
rungen. Alte, unfähige Offiziere wurden ohne Weiters fortgeschafft, und an
deren Stelle traten junge Leute, welche in seiner Gegenwart eine Art Dienst-
examen prnctisch ablegen mußten. Er bestimmte, daß alle neu zu ernennen¬
den Offiziere aus dnir Unterofsiziersiande der Regimenter hervorgehen sollten,
und verwarf das alte System als unmilitärisch und verächtlich. Da er die
neu zu organisirende Armee der afrikanischen nachzubilden gesonnen war, be¬
fahl er, daß ohne Verzug die Czako's. Wafsenröcke und JMntcrieseitengcwehre
abgegeben würden, so wie auch einige sonstige überflüssige Kleinigkeiten, welche
die Tornister unnütz beschwerten; statt der Tuchhosen wurden für den Sommer
leinene eingeführt, und die ganze Armee mit tragbaren Zelten versehen.
Ancona. Viterbo und Perugia waren die eigentlichen Formations-Garni-
sonen für die neu zu errichtenden Corps, und es entstanden neu: 5 Bataillone
Bersaglieri, die wir deutsch: östreichische Jäger nennen wollen, 1 Bataillon
Carabinieri oder Schwcizerjäger, 1 neues Bataillon einheimischer Jäger (Can-
ciatori), 2 Halbbataillone irländischer Infanterie, t Bataillon Zunven und
1 Bataillon Franco-bclgico, welches ledere namentlich seiner guten Elemente
wegen ein Elitcnbataillon genannt werden konnte; die alten Regimenter machte
man vollzählig. Die Artillerie wurde von 2 auf 11 Batterien gebracht, von
denen 1 schweizerische. 3 rein italienische, 2 rein' östreichische, die übrigen
5 gemischt waren, jedoch ebenfalls meist aus Oestreichern bestanden. Für
die Artillcriearbeiten entstand 1 Handwerks-Compagnie, für die Hafenverthei-
dignng Ancona's eine Compagnie Mariniers und für die Festungsbauten eine
Genie-Hilfscompagnie, Die Cavallerie endlich, als die Waffe, welche des
Terrains wegen im Römischen am wenigsten anwendbar ist. wurde nur durch
eine Schwadron österreichischer Chevanxlegers vermehrt. Er selbst, General
Lamoriciere, erhielt als Leib > und Ehrenwache eine Abtheilung Gulden zu
Pferde, französische Herren altadeligcr Familien, welche es sich zur Ehre rech¬
neten, ohne Sold im Gefolge des päpstlichen Feldherrn zu dienen und das
Faubourg Se. Germain in Paris mit dem Strapazenleben eines wahrschein¬
lichen Feldzuges zu vertauschen. Den Generalstnb seiner Armee bildete sich
Lamoriciöre ans einigen der erfahrensten und tapfersten ehemaligen Offiziere
der französischen und östreichischen Armee.
Leider mangelte noch vieles an der Bewaffnung der Armee. So war
zu beklagen, daß die für die östreichischen Jäger bestellten Stutzen nicht rasch
genug geliefert werden konnten. Die Artillerie ferner litt sehr durch die Ver¬
schiedenartigkeit des Kalibers ihrer Geschütze, indem dieselben theils Geschenke
verschiedener Potentaten, theils alt und gebraucht waren. Deshalb waren
die Pulvcrarbeiten im Laboratorium auch bedeutend erschwert. Die Festungs-
Artillcrie besaß fast nur alte eiserne Kanonen, von schwerem, aber ebenfalls
sehr verschiedenem Kaliber, sodann machte sich namentlich auch Mangel an
Wurfgcschützcn (Mörsern und Haubitzen) fühlbar.
In der Armee wußte sich General Lamoriciüre sehr viel Zutrauen zu
verschaffen, wozu allerdings sein Name selbst bedeutend beigetragen haben
mag. Die Liebe der Soldaten suchte er sich durch materielle Begünstigungen
zu erwerben: die Feldzulage wurde als beständig zum Sold gehörig perma¬
nent eingeführt, die „vivres as LamMM«?", zuerst nur für marschirende Trup¬
pen, nachher ebenfalls als beständige Competenz des Soldaten betrachtet.
Diese vivres <Ze Lin-ax-igne bestanden in der unentgeltlichen täglichen Lieferung
von Kaffee, Fleisch und Wein, welcher letztere im Nothfall auch durch Brannt¬
wein ersetzt wurde; hauptsächlich aber wurde der General deswegen verehrt,
weil seine militärische Gerechtigkeit einem Jeden, der Fähigkeiten besaß, den
Weg zum Avancement oft mit Ueberspringung mehrerer Grade öffnete.
Für die Ausbildung der Truppen zu wahren Feldsoldaten wurde Nichts
verabsäumt. Jedes Bataillon, welches neu formirt war, begann sofort zu
marschiren, oft wochenlang hintereinander, um sich an die 4—6 deutsche Mei¬
len langen Etappen im Römischen zu gewöhnen, und Sack und Pack im dor¬
tigen Clima unter brennender Sonne tragen zu lernen. Die Nacht wurde
meistens im Zeltlager zugebracht. Lamoricivre ließ baun aus mehreren be¬
reits einmarschirten Truppentheilen größere Uebungslager beziehen und prüfte
in größern und kleinern Manövern die Fähigkeiten der Stabs- und Subal¬
ternoffiziere, sowie die Ausbildung der Leute. —
In administrativer Hinsicht theilte er das ganze Land in die 5 Militär-
divisioncn: Viterbo, Perugia, Spvleto, Ancona und Pesaro. In jeder der¬
selben war entweder ein General oder ein höherer Stabsoffizier der militä¬
rische Truppcnkommandant, während die Unter-Intendanten für die richtige
Verpflegung und Kasernirung verantwortlich waren. Wehe dem, dessen Schuld
es war, daß' nur das Geringste mangelte!
Aber nicht nur in militärischer, sondern auch in staatsbürgerlicher Hin¬
sicht griff der Obergeneral energisch für das Wohl des Staates ein. Er ließ
unter Anderm neue Telegraphcnlinicn legen, beschäftigte arbeitsuchende Leute
bei Eisenbahn- und Festungsbauten, bekümmerte sich um die Gasbeleuchtung
u. s. w. Für sein einziges festes Rednit, Ancona, that er soviel als irgend
möglich war. An den Festungswerken, welche von den Oestreichern nach und
nach wieder erneuert und erweitert, jedoch lange noch nicht vollendet waren,
beschäftigte er täglich mehrere hundert Arbeiter, theils Militär, theils arme
Bürger, und so entstanden als Festungswerke neu unter ihm die Lünette San
Stefano und Monte Gardetto, welcher letztere gänzlich geschleift war, ebenso
schuf er für die Hafcnvertheidigung mehrere verschanzte Strandbatterien. Der
Hasen selbst wurde gegen einen Ueberfall feindlicher Schiffe durch eine Niescn-
tette gesperrt, und in demselben entstand eine kleine Flotille: 4 Fischerbarken
wurden zu Kanonierschaluppen, und 2 alte hölzerne Baggerschisse (Hasenrci-
nigungs-Maschinen) zu schwimmenden Batterien umgewandelt. —
Der General selbst war niemals stabil an einem Orte,' sondem verwendete
den größten Theil seiner Zeit auf Jnspcctions-Reisen aus einer Militärdivision
in die andere. Seinen eigenen Reisewagen benutzend, flog er stets unter
Begleitung weniger berittener Gensdarmen von Ort zu Ort, indem er wo¬
möglich niemals hin und zurück dem gleichen Wege folgte. In der Regel
kam er an, ohne daß die militärischen oder Civil-Autoritäten davon benach¬
richtigt waren.
Als die Erfolge Garibaldi's im Süden eine Landung seiner Freiwilligen
um irgend einem Orte des Kirchenstaates erwarten ließen, und zugleich bei der
immer sichtbarer werdenden Gährung im Volke der Ausbruch einer Revolution
zu befürchten stayd, mußte auch General Lamoriciörc auf alles gefaßt sein
und eine strategische Stellung einnehmen. Rom selbst brauchte nicht beachtet
zu werden, da dort die Franzosen standen, und deshalb eine Landung an der
Küste des mittelländischen Meeres nicht wohl thunlich war. Der General zur
ekel wählte deshalb mit dem Gros seiner Armee die Stellung in der zwischen
Fuligno und Spoleto gelegnen Ebene, von wo er in wenigen Märschen an
jedem bedrohten Punkte sein konnte. Im Norden waren lediglich Viterbo
und Perugia mit eigentlichen Garnisonen, und Pesarv nur mit einem kleinen
Detachement besetzt. In Ancona befanden sich außer den Depüt-Compagnien
mehrerer Corps nur 1 und östreichisches Bersaglieri-Bataillon, 2 Batte¬
rien Feld-Artillerie und die Festungs-Artillerie. In Macerata stand ebenfalls
eine kleine Marschbrigadc, die aus 2 Iägerbataillonen und einer Feldbatterie
zusammengesetzt war. Die Gensdarmerie war über das gesammte Land ver¬
theilt, wie gewöhnlich.
So stand diese kleine Armee, gewiß der Mehrzahl nach voll Vertrauen
auf ihren Führer, muthig in eine kriegerische Zukunft blickend, als ihr von
einer ganz unerwarteten Seite her der Untergang bereitet werden sollte.
Die Turiner Note des Herrn v. Schleinitz — bereits so viel besprochen
und begutachtet — bezeichnet einen Wendepunkt der öffentlichen Meinung in
Deutschland. Sicherlich war das nicht die Absicht Derer, welche die Geschicke
Preußens gegenwärtig in der Hand halten. Sie haben kein Unheil ahnend
diese Begutachtung einer fremden Politik abgesandt,, wahrscheinlich in dem
Selbstgefühle, daß es ehrlich und zeitgemäß sei, auch hier eine Ueberzeugung
auszusprechen. So mag der preußischen Regierung selbst überraschend gewesen
sein, wie dies Aktenstück, und noch mehr die ungeschickten Erläuterungen in
der Preußischen Zeitung und leider auch im Preußischen Wochenblatt auf die
öffentliche Meinung gewirkt haben. Die Regierung konnte sich in den Augen
der Deutschen kaum größeren Schaden thun. Hatte sie denn so feste andere
Bundesgenossen gewonnen, daß ihr gleichgültig sei» durste, was alle die
von ihr dachten, welche die Interessen und den Beruf Preußens höher und
stolzer fassen, als sie selbst? Lag denn so wenig an der Popularität des
erlauchten Herrn, welcher jetzt Haupt und Hoffnung der Preußen ist, daß man
nicht Alles anwandte, eine Maßregel, die im besten Fall unnütz, aller Wahr¬
scheinlichkeit nach schädlich wirken mußte, zu verhindern?
Es lag den Deutschen nahe genug, diese Note mit der liberalen Stil-
übung Lord John Russell's zu vergleichen. Auch diese Darlegung eines
Standpunktes ist doctrinär genug gehalten, und sowol gegen den Stil, als
gegen die logische Fassung der englischen Note wird sich Einiges sagen lassen,
aber der Unterschied zwischen beiden Noten ist der, daß die englische Note trotz
der Berufung auf Valet ihrem Stilisten die Herzen von Millionen Engländern
und starke Sympathien in dem übrigen liberalen Europa gewonnen hat.
während die Note des Herrn v. Schleinitz der preußischen Regierung den
letzten Bundesgenossen, auf den sie noch zählen konnte, zu entfremden droht,
die öffentliche Meinung Deutschlands.
Das Unglück-ist geschehen, und es wird diesem Blatt vor andern erlaubt
sein, darüber zu trauern, denn nirgend ist der Eintritt einer neuen Zeit in
Hreußcn mit innigerer Freude begrüßt worden. Wir sehen sehr gut, wie es
allmälig so gekommen ist. Bei diesen zahlreichen fürstlichen Besuchen ist das
Unvermeidliche geschehen. Es sind nirgend Verpflichtungen eingegangen wor¬
den; aber das Gefühl der Zusammengehörigkeit ist in den erlauchten Fürsten¬
familien lebendiger geworden, und die humanen Rücksichten, welche ein Sou¬
verän auf das Wohl und Wehe des andern zu nehmen veranlaßt ist, haben
auch in Preußen eine gewisse höhere Bedeutung gewonnen. Wir waren so
voll von dem Gedanken, uns im nächsten Frühjahr mit einem Nachbar raufen
zu müssen, und suchten so angelegentlich einen Alliute» für diesen Defcnsions-
krieg, daß wir deshalb zuvorkommend gegen alte Gegner wurden und bereit¬
willig lügenhafte Beleidigungen verziehen, für welche eine Genugthuung uns
noch nirgend geworden ist. Das Resultat von alle dem liegt jetzt vor Jeder¬
manns Auge». Je zuvorkommender und angelegentlicher Preußen sich zeigte,
desto höher stiegen die Ansprüche der Andern.. An eine Einigung in den mi¬
litärischen Fragen ans den alten Grundlagen ist nicht mehr zu denke». Die
deutschen Kräfte sind i» größerer Desorganisation als je. Sogar die Ohn¬
macht Oestreichs.hat der preußischen Regierung nicht genützt.
Was in Italien jetzt vorgeht, ist höchst ungesetzlich, das weiß ein Jeder.
Und jeder Unbefangene empfindet auch, daß es die natürliche bittere Folge ist
von einem höchst gesetzlosen, rechtlose», schauderhaften und nichtswürdigen
Mißregiment, welches auf zwei Drittheilen des jetzt annlxtirten Terrains lastete.
Es ist aber für die Beurtheilung der italienischen Zustände durch die preußische
Negierung ganz gleichgültig, ob die Mitglieder der Regierung mehr als Kon¬
servative oder mehr als Liberale empfinden, ob eine zufällige Mischung von
geistige», Inhalt, Temperament und Vorurtheilen sie mehr geneigt macht,
das Unglück der geworfenen Dynastien zu bedauern, oder das alte Unglück der
verdummten und verwilderten Völker. Wir würden uns freuen, wenn die
Minister Sr. Königlichen Hoheit so viel protestantischen Sinn und so viel
liberale Wurme hätten, daß ihnen die altheidnischen Greuel am Feste des
heiligen Januarius und der heiligen Rosalie lebhaften Widerwillen einflößten,
und daß ihnen die Handhabung der Rechtspflege im Mvrtara-Fall und in den
Kerkern Neapels als schändlich und ruchlos erschienen wäre. Aber, wie gesagt,
auf die Kälte und Wärme der Empfindung kommt es für den preußischen
Politiker bei den großen italienischen Fragen gar nicht an. Er hat keine
Verpflichtung, in Italien politische Moral zu predigen, ja er hat vielleicht
gar kein Recht, den Italienern seine Moral, die ihm aus. ganz anderen Cultur¬
verhältnissen erblüht ist, aufzudrängen. Er hat den dortigen Kampf zu
betrachten, etwa wie ein Naturereignis;, und nur zu fragen: welcher Nutzen
oder Schaden kann hieraus für Preußen kommen? Die Antwort auf diese
Frage, kalt und unbefangen gestellt, darf keinen Augenblick zweifelhaft sein.
Preuße» ist in seinem Wesen ein protestantischer Staat, seine ältesten und
gefährlichsten Gegner sind Frankreich, Oestreich und die römische Hierarchie,
sie, der Alp aller deutschen Konfessionen, zumeist des Katholicismus selbst.
Eine Bewegung, welche dem Papstthum die Wurzeln seiner hierarchischen
Existenz abschneidet, eine Bewegung, welche das Ziel hat, das alte Jagd¬
gebiet von Frankreich und Oestreich in einen großen Staat umzugestalten, der
die Interessen von 20 bis 25 Millionen Menschen umfaßt, eine solche Be¬
wegung war, moralisch oder nicht, lcgitimistisch oder republikanisch, so sehr
im höchsten Interesse Preußens, daß sie vielleicht auf die warmen Sympathien
der Regierung, in jedem Falle ans ein stilles wohlgeneigtes Urtheil zu rechnen
hatte.
Aber diese Bewegung trat zugleich als eine französische auf, unedel, aben¬
teuerlich erkaufte sich die sardinische Negierung die eigennützige Hilfe eines
Stärkern durch Abtretung ihrer ältesten Territorien; und grade diese Abtretung
hat die Spannung zwischen Frankreich und Preußen hervorgerufen, sie hat in
unerhörter Weise alte Verträge verletzt, die Existenz der Schweiz gefährdet, einer
frechen Willkür momentaner Macht Thor und Thür geöffnet. Nun wir meinen,
ein Preuße sollte auf solchen Einwurf antworten: Um so besser für uns.
Denn die Freundschaft zwischen Sardinien und Frankreich, welche durch so un¬
erhörte Verletzung der italienischen und europäischen Interessen zusammengekittet
wurde, hat eine sehr unsichere Grundlage. Daß Sardinien nicht ohne einen
Beisatz von Unehre zu so großer Erhebung kommen konnte, gibt diesen Staat
bei geschickter Behandlung in unsere Hand. Daß Napoleon die größte Thorheit
seines Lebens beging, als er Savoyen und Nizza annahm, legt uns einen Hebel
in die Hand, womit wir seinen Einfluß in Italien zu lockern, einst vielleicht in die
Luft zu schleudern haben. Daß aber die Wunde Savoyen und Nizza durch ganz
Italien brennen würde, und nicht am wenigsten in der Seele Victor Emanuels,
das war schon bei dein Frieden von Villafranca nicht zu verkennen. Und als
vollends Garibaldi auftrat und den Franzosen offen trotzte, da wurde greif¬
bar, das; jetzt der Augenblick gekommen sei, wo Preußen activ in die Politik
Italiens einzugreifen hatte. Nur gezwungen durch die oppositionelle Haltung
Preußens und Englands, sowie durch die Sympathien seines Heeres und Vol¬
kes, räumte Napoleon der italienischen Bewegung für ihre vergrößerte» Di¬
mensionen Spielraum ein. Mehr als einmal, war seine Stellung zu Italien
nicht nur anscheinend zweideutig, und nnr die Rücksicht darauf, daß ihm nichts
Anderes übrig bleibe, als mit England und für Italien zu gehen, hat ihn fest¬
gehalten. Ebenso schließt den König von Sardinien der bittere Zwang, die offene
Kälte des gesammten Kontinents an Frankreich. Preußen aber hatte Veranlassung,
auch in seinem Innern, wie im übrigen Deutschland, die Wirkungen des italieni¬
schen Kanipfes zu beobachten. Die Noth des Papstes, die Gefahr der Kirche lähm¬
ten fast plötzlich den Muth der ultramontanen Partei. In den Grenzkrciscn Posens,
wo eben erst die Aufregung der Edelleute und Geistlichen eine so bedenkliche Höhe
erreicht hatte, wurde es durch einige Sommermonate plötzlich still, die polnischen
Geistlichen, die Hauptagitatoren, hatten allen Muth verloren. War dieser
Schrecken der Widersetzlichen nicht Zeichen genug, welche Politik für Preußen
vortheilhaft sei? Allerdings vermag Preußen nicht, für die Italiener an die
Stelle Frankreichs zu treten. Auch die sardinische Regierung, durch Frankreichs
Uebermacht von den Alpen und Rom her geknebelt, würde sehr thöricht han¬
deln, dies kaiserliche Bündniß sofort zu lösen, um ein neues mit Preußen zu
schließen, dem entfernteren, weniger gefährlichen Staat, der im Rathe der eu¬
ropäischen Mächte noch keine entscheidende Stimme hat. Aber darum handelt
es sich gegenwärtig gar noch nicht. Es ist auch für Preußen vortheilhaft, wenn
Sardinien die schwierige Stellung, in welche sich Kaiser Napoleon gebracht hat,
so lange als möglich ausnützt. Unterdes; gibt es kein besseres Mittel neuen
Annexversuchen desselben zu begegnen, als ein loyales freundliches Einvernehmen
zwischen Turin und Berlin. Sobald er weiß,.daß Italien im Nothfall einen
kriegerischen Rückhalt hat. wird er sich wohl hüten, dasselbe bis zum Aeußer-
sten zu treiben. Auch Oestreich gegenüber ist solche Politik Preußens weder
unehrlich, noch unvortheilhaft. Die Eventualitäten, für welche Preußen
zu Teplitz seinen Beistand in Aussicht gestellt hat, waren an Bedingungen
geknüpft. Diese Bedingungen waren Gegenvcrsprechungen Oestreichs. Sie sind
nicht gehalten worden: weder in seiner innern Organisation, noch gegenüber
seinen Protestanten, noch in deutschen Angelegenheiten, z. B. der Bundcsfeldhcrrn-
fragc ist das wiener Kabinet seinen Verheißungen vollständig nachgekommen. Trotz¬
dem soll jede Rücksicht auf einen Staat des deutschen Bundes genommen werden.
Wenn Preußen sich gegenüber Sardinien in der Hauptsache, der einheitlichen
Gestaltung Italiens, mit den Resultaten, wenn auch nicht grade mit dem Mo¬
dus occupandi einverstanden erklärte und für Eventualitäten seinen Einfluß
und seine Hilfe in Aussicht stellte, dann hatte es auch ein erhöhtes Recht zu
betonen, wie die Rücksicht auf Oestreich als Bundesstaat und die Verpflichtung
östreichisches Bundesgebiet schützen zu helfen, auch für Preußen höchst wün¬
schenswert!) mache, daß ein neuer Krieg zwischen Sardinien und Oestreich ver¬
mieden werde. Es durfte verlangen, daß Sardinien die Entscheidung über
Venetien der Zeit überlasse. Schwerlich ist in den Regierungskreisen Berlins
zweifelhaft, was aller Welt deutlich ist, daß auch Benetien von Oestreich auf
die Länge nicht behauptet werden kann? und daß die Dinge im Kaiserstaat
seit dem Frieden von Villafranca unaufhaltsam einer Krisis entgegengleitcn,
deren Eintritt sich vielleicht nach Jahren, vielleicht nach Monden bemißt, deren
letztes Resultat aber wenigstens für Venetien nicht zweifelhaft ist? Wenn von
Berlin aus eine solche Politik seit diesem Sommer vertreten wurde, so war
jetzt die Stellung Preußens eine gänzlich andere. Enges Zusqmmengchen mit
England, Sardinien von den beiden großen protestantischen Mächten gehalten.
Frankreich rsolirt, der deutsche Katholicismus i.n der Hoffnung, mit unserer
Hilfe von seinem ärgsten Feinde, der verkommenen Oligarchie seiner Cardinäle
befreit zu werden. Solche Politik war in der That das beste Mittel, Frankreichs
schwache Seite zu fassen, es warf den Kaiser Napoleon in ein Meer von neuen
Verlegenheiten; es hatte vielleicht die Folge, ihn zu einigen falschen Schritten
zu verleiten, den Ultramontanen zu nähern, zu bewirken, daß er offener gegen die
italienische Bewegung auftrat, als ihm bei seinem Volke und Heere nützlich
war. Aber auch wenn er diese Fälle vermied, wär er wirksamer gekreuzt, als
durch andere Coalitionsversuche.
Dem Berliner Kabinet lagen solche Erwägungen vielleicht nicht fern,
aber ihnen nachzugeben erschien unter anderem auch deshalb unmöglich, weil
man bei der Annäherung an Sardinien ein Bündniß zwischen Frankreich,
Oestreich und Nußland drohend aufsteigen sieht. Zuvörderst hätte eine Note
des preußischen Ministers, welche in anderem Tone zu Sardinien sprach,
eint kräftigere Wahrung der preußischen Interessen zu Turin, noch keine Coa-
l>lion erregt, sondern nur den Kabinetcu eine, wenn auch widerwillig?. Ach¬
tung vor der Selbständigkeit Preußens, den Deutschen die wärmsten Sym¬
pathien für denselben Staat gegeben. Ein kräftiger Wille vermag immer
Herr der Situation zu werden, während der, welcher nicht die Wärme eines
festen Entschlusses in der Brust trägt, in jeder politischen Veränderung nur die
Nähe der Gefahren empfindet. Aber die Möglichkeit solcher Allianzversuche soll
hier zugegeben werden. Sie bleibt ganz dieselbe, gleichviel ob Preußen seine
laue Temperatur im Interesse der Legitimität oder der italienischen Freiheit zu
erkennen gibt. Ja die Gefahr derselben wird nicht vermieden durch eine Vor-
ficht der preußischen Regierung, welche nach allen Seiten Rücksichten zu nehmen
nicht müde wird; sie vermag nur vermieden zu werden durch eine Politik, welche
große Zielpunkte mit Sicherheit verfolgt. Den Entschlossenen scheut auch der
Starke, und gern sucht seine Freundschaft der Schwächere. Daß jetzt auch die
Schwachen dem Berliner Kabinet so offen trotzen, ist kein Zeichen, daß die
bisherige Politik die Scheu oder Anhänglichkeit zu dem Staate unserer Hoff¬
nung vergrößert hat. Gesetzt der Kaiser Napoleon gäbe dem Gedanken, über wel¬
chen er seit lange speculirt, eine ernste Folge, die über das Bereich diplo¬
matischer Spiegelfechtereien hinausgeht. Was zunächst Rußland betrifft, so
ist seine Politik grade so zweifelhaft und unsicher, wie. seine Heereskraft, un¬
zweifelhaft ist nur eine beispiellose Zerrüttung der Finanzen und eine Unzu¬
friedenheit des Volkes, welche den Entschluß zu gro.ßer Kriegen sehr bedenklich
macht. Für Oestreich aber und Frankreich ist ein Bündniß so gefährlich, daß
es beiden doch nur als letzte Noth möglich wäre. Beide schwächt ihr Bun¬
desgenosse wenigstens ebenso sehr moralisch, als er ihre ^Heeresmacht verstärkt.
Kaiser Napoleon mit dem Papst und den Ultramontanen gegen Italien
und das verbunden, was man dort die Freiheit der Völker nennt, würde sei¬
nem Volke und Heere bald so abenteuerlich erscheinen, wie' das Haus Habs¬
burg den Deutschen M einem Kriege gegen Preußen und den protestantischen
Norden. Träte aber ein solcher Fall ein, so würde Preußen allerdings
einen Kampf zu bestehen haben, so großartig, wie je sein ärgster war. Aber
dieser Krieg wäre trotz aller möglichen Wechselfälle der Anfang einer Er-
hcbuugszeit für Preußen und Deutschland. Mancher von uns wird den Frie¬
den nicht sehen, aber die Ueberlebenden werden fertig sein mit Vielem, was
uns jetzt noch verwirrt, und das Ende von Allem wird doch ein neues Preu¬
ßen, welches mit Deutschland Eins ist.
Nun aber war die Note des Herrn v. Schleinitz zuverlässig nicht nur
sür Sardinien, sondern anch für die deutschen Regierungen bestimmt, und
nach dieser Richtung fühlt die preußische Regierung schon jetzt> einige von
den Folgen ihrer Depesche. Sie ist seitdem von den Beschlüssen der Würz¬
burger., in der Bundesfeldherrnfrage unterrichtet worden. Nie ist unserm
armen Preußen eine unbefangenere Zumuthung gestellt worden, und nie¬
mals vielleicht das preußische Selbstgefühl tiefer gekränkt. Das ist das Re¬
sultat der Zusammenkünfte von Baden und Teplitz, das der officielle Gegeu-
ausdruck für die emsigen und wiederholten Erklärungen Preußens, daß es die
bestehenden Rechte der Souveräne geachtet wissen wolle! Im Fall eines
Krieges, den Preußen mit dem deutschen Bunde gegen einen auswärtigen
Feind führt, sollen zwei Bundcsfeldhcrrn gewählt werden, einer für Preußen,
der andre für die nichtpreußischen Contingente; sogar dem preußischen Heere
soll sein Feldherr durch eine fremde Majorität decretirt werden. Was wird
Preußen auf solche Zumuthung thun? Wir meinen, es gibt darauf nur eine
Antwort, daß Preußen das Ganze nimmt, d. h. eine neue Organisation
des deutschen Bundesheeres verfügt, welche die gesammte Heeresmacht mit
Ausnahme des östreichischen Contingents unter preußischem Oberbefehl ver¬
einigt, und die Bundesregierungen freundnachbarlich in Kenntniß setzt, daß
Preußen nach dem Scheitern jahrelanger Versuche, eine Verständigung herbei¬
zuführen, jetzt genöthigt sei, im Fall eines Krieges, im höchsten Interesse
Deutschlands, die Heeresorganisation einzuführen. Es liege aber im Interesse
der verbündeten Souveräne, daß dies nicht durch Preußen selbst in der kurzen
und vielleicht verletzenden Weise geschehe, welche vor dem Beginn eines Krie¬
ges nöthig sei, sondern vorher mit bundesfreundlicher Beistimmung der ver¬
bündeten Mitsouveräne. — Man wird über eine solche Tyrannei außer sich ge-
gerathen, berathen, protestiren, sich coaliren, zanken, zuletzt aber sich fügen, wenn
Preußen Ernst macht. — Es wird ihm im Fall eines Krieges doch nichts an¬
deres übrig bleiben, trotz aller neuen Versuche sich mit Oestreich zu verständigen.
Die deutschen Mittelstaatcn fühlen sich grade jetzt sicher, daß Preußen
nichts Arges gegen sie im Schilde führt. Sie haben das gegenwärtige Ka¬
binet ein wenig kennen gelernt. Sie werden deshalb in allen Fragen von
untergeordneter Bedeutung sich sorgfältig hüten, den Preußen zu widerstehen,
z. B. in Fragen des Handelsrechts, der Polizei u. f. w. In allen wichtigen
Angelegenheiten werden sie nicht einen Schritt breit nachgeben. Und doch ist
auch ihre Lage nicht ohne Sorgen. Wie sanftmüthig das gegenwärtige Mi¬
nisterium des Auswärtigen sein mag. und wie sehr das preußische Volk noch
mit seinen eignen— sehr unerfreulichen — Angelegenheiten beschäftigt ist, in dem
Preußenthum bleibt immer etwas Unbehagliches. Uebergreifendes, das Bedürfniß
nach dem chemischen Einverleibungsproceß, welches man bei niedern Gebilden der
Natur Eßlust nennt. Wir können die Vorsicht der officiellen Federn in den Mittel¬
staaten nicht loben, welche zetzt so sest auf die ihnen bequeme Loyalität der
Preußen vertrauen. Denn das Ministerium, Schleinitz ist ein sehr unvollkommner
Ausdruck der preußischen Gesinnung. Nicht daß die Preußen unternehmen
werden, zu annectiren, wie jener Sardinier und der Franzose gethan. Der
Annex ist, wie wir schon längst wußten, und wie uns jetzt das Ministerium
Schleinitz wieder belehrt hat, durchaus nicht zu billigen, denn er ist un¬
moralisch. Die preußische Methode ist weit tugendhafter und friedlicher, sie
heißt Cooptation. Die Einzelheiten dieses Verfahrens hier darzulegen,
wäre unpolitisch. Aber es ist ein kurzes und stilles Verfahren, und es hat
eine bereits bewährte Methode. Diese Cooptation wird, so hoffen wir. mit
jeder Schonung der bestehenden Interessen, wenn auch für manche der cooptirten
Regierungen unangenehm, doch zuletzt vor sich gehen, und die bezahlten Zei¬
tungsschreiber so wie ihre Gönner werden zu solchem Verfahren am allermei-
sten beitragen, wenn sie bei der bisherigen Methode verharren, die Interessen
der deutschen Nation mit dynastischen Hausinteressen zu verwechseln und der
preußischen Regierung bei solchen Wünschen Opposition zu machen, welche be¬
scheidener sind, als den Preußen und vielen Deutschen lieb ist,
Der Titel des Buches ist eine Parodie auf die Reden und Trinksprüche
Friedrich Wilhelm IV.. welche vor einigen Jahren — wie verlautet, von
liberaler Seite — unter dem Titel: „So sprach der König" gesammelt und
herausgegeben wurden. An solchen Titel des neuen Buches schließt sich ein kleiner
Versuch, das Publikum zu mystificiren. Geheimnißvoll wird von zwei Heraus¬
gebern, welche den Lesern nur die Anfangsbuchstaben ihrer Namen gönnen, an¬
gedeutet, daß sie durch Erbschaft in den Besitz der folgenden Memoiren gekommen
seien, worauf der Schreiber derselben, ein Dr. F>, wieder berichtet, wie er in den
Memoiren seine Unterhaltungen mit einem Fürsten, der durch Punkte bezeichnet
ist, niedergeschrieben habe. Diese Weise, für das Buch Interesse zu erregen, war
nicht glücklich gewählt. Die Zeit ist vorüber, wo man an solchen mysteriösen
Spielereien Freude hatte. Wer schon im Anfange eines Werkes Zweifel gegen
den Ernst und die Wahrhaftigkeit seines Berichtes erregt, der schadet auch
der Wirkung des Wahren und Schönen, das er vielleicht in dem Buche zu
sagen weiß. Offenbar hatten die Verfasser im vorliegenden Falle die Absicht,
einer Arbeit, welche kein genügendes Interesse beanspruchen darf, wenn sie
als Arbeit eines Privatmannes erscheint, dadurch ein größeres Ansehn zu
verschaffen, daß sie die Vermuthung erregten, dieselbe schildere die Seele eines
deutschen Souveräns aus der nächsten Vergangenheit, vielleicht aus der Ge¬
genwart.
Der Fürst des Buches bespricht Stimmungen und Zustande Deutschlands
wie sie vor dem Jahre 1848 waren; indeß klingt manches durch, was vor¬
zugsweise in der Gegenwart gilt. Er ist ein begeisterter Liberaler; er verachtet
die kleinen Verhältnisse, in denen er regiert, die elende Polizeiwirthschaft, die
Engherzigkeit seiner Beamten, die hohlen Ansprüche des Hofadels, den Druck des
alten Systems; er beklagt die Verkümmerung seiner Unterthanen, die schlechte
Erziehung deutscher Prinzen; er schwärmt für ein großes einiges Reich, dem
er gern sein Stückchen Souveränetüt zum Opfer bringen will;' er haßt tödtlich
die Frömmler und Jesuiten und beugt sich andachtsvoll vor dem göttlichen
Geiste, der im Leben des Menschengeschlechts zur Erscheinung kommt. Er hat
eine kleine Tochter, die Frucht eines Jugendverhältnisses, welche er ganz in
der Stille von einem charaktervoller Mädchen auferziehen läßt, grade hat er
den Entschluß gefaßt, dieser Erzieherin seine Hand anzubieten. da erlebt er den
Schmerz, daß die junge Dame durch einen französischen Lehrer des Kindes,
den er selbst berufen, und der sich als heimlicher Jesuit ausweist, zu über¬
spannter Frömmigkeit verführt wird; er enthüllt ihr die Intrigue, welche mit
ihr und ihm durch die Jesuiten gespielt worden ist. die junge Dame zerbricht
das Crucifix, welches ihr der geheime Jesuit geschenkt hat. wirft es demselben
an den Kopf, fällt in ein Nervenfieber und stirbt. Der Fürst erzählt eine
Vision, welche er in seinem Schmerze gehabt hat: Todtengerippe in Königs¬
ornat und Priesterkleid, ein Henker, ein Jude mit einem Beutel Geld, welcher
der Königslarve zuletzt den Purpur abreißt unter dem Rufe: Es lebe die Re¬
publik! Nach dieser Vision beschließt der Fürst eine Reise nach Italien, er
will sich in der Kunst Trost suchen. ,
Der novellistische Theil der Memoiren ist nicht bedeutend, man ist ver¬
sucht, ihn für die Arbeit einer entschlossenen literarischen Dame zu halten.
In dem, was der Fürst von Maximen ausspricht, ist Vieles vortrefflich ge¬
dacht. Mehreres auch recht gut gesagt, der erlauchte Herr blitzt von edlem
Freisinn, wie em Brillant. Aber der unbefangene Leser erkennt ohne langes
Nachdenken, daß dieses fürstliche Wesen weder einer verstorbenen, noch einer
lebenden Generation angehört. Und ehrlich gesagt, es ist kein Unglück,
daß solche Persönlichkeit unter uns Deutschen, die doch viele originelle
Gestalten auf den Fürstenstühlen erlebt haben, niemals versucht hat, ein
Volk zu beglücken. Denn, wie edel und groß der Fürst empfindet, und
wie schön er das zu sagen weiß, er ist doch für das politische Leben un¬
brauchbar — offenbar wider den Willen des Verfassers; denn es wird ihm weit
leichter, mit souveräner Verachtung von dem bestehenden Unglück des Vater¬
landes zu reden, als dasselbe durch männliche Arbeit zu bessern. Er erscheint
als eine weiche Natur, welche je nach der Stimmung souveränen Spott oder
Weltschmerz dusdrückt; er empfindet einen vornehmen Genuß darin, seine
Minister, Geheimen Räthe und seine getreuen Bürger durch glänzende frei¬
sinnige Schlagwörter zu überraschen und zu verwirren und er lächelt dann
über die kleinen Menschen, unter denen er leben muß. Er spricht mit Ehr¬
furcht von der Volkskraft der Deutschen, die jetzt die höchste Souveränetät
beanspruchen dürfe, und doch erkennt er überall die größte Verkümmerung in
einem schwer erträglichen Philisterthum. Da er nun keinem der bestehenden
deutschen Staaten die Lebenskraft zutraut, solche verkrüppelte Zustände zu
überwinden, wo leben denn wohl die Männer des Volkes, vor deren Kraft
sich die Souveräne beugen sollen? In seinem Lande wenigstens scheinen
keine solchen vorhanden zu sein. So gleicht dieser Schatten eines Fürsten trotz
seiner demokratischen Vorliebe doch auf ein Haar andern Fürstengcstalten der
Wirklichkeit, welche mit ihrer Bildung auf einer jetzt untergehenden Zeit ruhen,
und welche voll romantischer Gelüste ihr Bedürfniß nach großen Empfindungen
dadurch befriedigen, daß sie Vermodertes aus dem Staube alter Jahrhun¬
derte wieder lebendig machen wollen.
Schon in dem, was der Fürst des Buches sagt, ist nicht immer dre wün-
schenswerthe Consequenz; er findet lächerlich, daß die deutschen Souveräne
durch das Schreckbild der Revolution sich borniren lassen, aber in der erwähn¬
ten Vision kann er doch nicht umhin, eine sehr unheimliche Perspective auf
ein Henkerbeil, zu eröffnen. Schmerzlicher aber wirkt der Umstand, daß er
selbst zu handeln gar nicht versteht. Ihm tritt ein fester, tüchtiger Offizier
gegenüber, der um Erlaubniß bittet, auswandern zu dürfen, weil ihm die
Luft im Lande zu enge wird. Zu gleicher Zeit haben ihm die Minister viel
von Gährungen und Aufsätziichkeiten in einzelnen Landestheilen geklagt. Der
Fürst will ihnen beweisen, daß er von seinem Volke nichts zu besorgen hat.
Er verfaßt also selbst eine aufregende Rede und trägt dem unabhängigen
Charakter auf, dieselbe auswendig zu lernen und in einer Volksversammlung
jener unruhigen Gegend zu halten. Der Charakter läßt sich auch zu diesem
unehrenhaften und kindischen Experiment gebrauchen u. s. w. Einigen unserer
Leser aber wird der Umstand wehe thun, daß der Fürst in eifriger Rede
gegen das Vielregieren der Polizei von seinem Fenster aus auf einen armen
Teufel von Bürger zeigt, der mit der Pfeife im Munde scheu und furchtsam
über die Straße geht, weil das Rauchen bei zwei Thalern Strafe verboten ist.
Nun beim Zeus! wenn er Fürst und Gebieter des Landes ist. warum hat
er nicht das Rauchen frei gegeben? Dies wenigstens stand doch in seiner
Macht. — Merkwürdig ist auch, wie er sein Volk allmälig zu freieren Lebens¬
formen erziehen will. Nicht zunächst durch bessere Gesetze, — sein Staat hat
bereits constitutionelle Formen — nein seine Minister sollen die neuen Frei¬
heiten erst „factisch eintreten und so durch den Gebrauch die alten Gesetze
aboliren lassen". — Was soll das für eine» Zustand geben, wenn wichtige
Gesetze unter der Hand außer Cours gesetzt werden? was soll die Justiz dazu
sagen? und wje können Minister neue Freiheiten factisch eintreten lassen, außer
aus dem Wege des Gesetzes?! —
So legt der Leser das Werk unbefriedigt aus der Hand. Er vermag
sich nicbt unbefangen dem Eindruck desselben hinzugeben, denn der oder die
Verfasser haben sich ihm gleich zu Anfang in etwas zweideutigem Lichte ge¬
zeigt; er vermag den zahlreichen löblichen Lebensmaximen nicht mit ganzer
Seele beizustimmen, denn das erfundene Schattenbild des Sprechers flößt ihm
keinen Respekt ein; er vermag sich auch nicht recht für die geschilderten Zu¬
stände zu interessiren, denn der novellistische Theil ist zu skizzenhaft und
rhapsodisch. Das Bestreben, zu belehren, und das Bestreben, durch poetische
Darstellung zu fesseln, beeinträchtigen eines dem andern die Wirkung; das
Buch ist nicht freie poetische Erfindung, und es ist auch nicht Darstellung
realer Wirklichkeit; es ist als Gemisch von Beidem nicht schön und es ist
nicht nahrhaft, obgleich es einiges Schöne und vieles Wahre zu sagen weiß.
Und deshalb würde das Werk in diesen Blättern nicht besprochen worden
sein, wenn nicht einiges, vielleicht zufällige, Detail darin den Scharfsinn
einzelner Recensenten zu der Vermuthung gebracht hätte, daß Zustände be¬
stimmter Landschaften Deutschlands, ja auch lebender Fürsten darin ihren
Ausdruck gesunden hätten. Man hat Thüringen und Souveräne dieser Land¬
schaft genannt. Referent meint, daß die Winde und Popularität der erlauchten
Herren sie davor schützen sollte, diese Arbeit in irgend eine Verbindung mit derselben
zu bringen. Denn grade die freisinnigen Gebieter deutscher Territorien, welche
man etwa genannt hat, haben den Deutschen in schweren Zeiten eine weit an-
dere, viel chrenwerthcre Persönlichkeit bereits bewährt. Ihre Ueberzeugung haben
'sie ohne überflüssige Phrasen geduldig, ausdauernd und mit recht praktischem
Menschenverstand in die That umzusetzen gewußt. Sie gehören, soweit wir aus
ihrem politischen Leben zü einem Urtheil über dieselben berechtigt sind, sämmt¬
lich nicht mehr jener Periode deutscher Entwicklung an, wo man zuweilen aus
dem Throne hochsinnig phantasirte und Gemeines zu thun nicht verschmähte.
Ihre kleinen Länder sind jetzt vielleicht die bestrcgierten Deutschlands. Die Be¬
amten, welche sie sich zu Mitarbeitern gewählt habe», zählen unter die tüchtig¬
sten Kräfte der Fortschrittspartei. Sie haben wahrscheinlich ein höheres Gefühl
ihrer fürstlichen Würde und Vorrechte, als der Fürst jenes Buches; aber sie denken
auch höher von dem Berufe, der ihnen selbst in ihrem beschränkten Kreise zu
Theil geworden ist. und sie wissen, daß ihr hoher Beruf nicht ist, die Ver-
sunkenheit der politischen Zustände in Deutschland zu beklagen, sondern auf
der ebenen Heerstraße redlicher Pflichterfüllung im Verein mit ihren Bürgern
Am 6. November hat in den Ver. Staaten die Ernennung der Wahl¬
männer stattgefunden, die am 4. December die Wahl des Präsidenten vor¬
nehmen werden, deren Votum aber seinem Ergebniß nach schon jetzt bekannt
ist. Man weiß, daß Abraham Lincoln von Illinois, der Kandidat der
republikanischen Partei, von den 303 Wahlmännerstimmen wenigstens 170
auf sich.vereinigen wird. Das ist immerhin eine sehr bedeutende Majorität,
wenn sie auch der, welche manche frühere Präsidenten für sich hatten, nicht
gleichkommt. Bei der Wahl von 1849 siegte der Whig Taylor über den De¬
mokraten Caß in der Weise, daß er 163, sein Gegner 127 Stimmen für sich
hatte. 1845 wurde der Demokrat James Pole mit 170 Stimmen gewühlt,
während für den Gegenkandidaten May 105 Wnhlmänner stimmten. 1841
fiel die Wahl mit 234 Stimmen auf General Harrison (Whig), und Van
Buren, sein Nebenbuhler hatte deren nur 60 für sich. Jackson wurde das
eine Mal mit 178 Stimmen gegen 83, welche auf John Quincy Adams fie¬
len, das zweite Mal mit 219 gegen 49, die Henry Clay auf sich vereinigte,
zum Präsidenten erwählt u. s. w.
Ehe alle Urwählerstimmen zusammengezählt sind und das Ergebniß
derselben veröffentlicht werden wird, dürfte der December herankommen, doch
kann man schon jetzt behaupten, daß Lincoln auch in dieser Beziehung die
absolute Majorität haben, ihr jedenfalls sehr nahe gekommen sein wird.
Trägt das zur Sicherung seines Sieges nichts bei, so verleiht es doch seiner
Erwählung ein beträchtliches moralisches Gewicht. Der gegenwärtige Präsi¬
dent ist nicht mit einer Volksmajorität gewählt worden, wenn ihm auch seine
relative Mehrheit über seine beiden Nebenbuhler eine Majorität der Wahl¬
männerstimmen zu Theil werden ließ. Er hatte an Urwählerstimmen 1,838.169,
Fremont, der damalige Kandidat der republikanischen Partei, 1,341,264, Fill-
more, den die Knownothings abgestellt, 874,534. Die beiden letzteren zu¬
sammen hatten also 377,629 Stimmen mehr als Buchanan.
Sehen wir davon ab, daß Lincoln (ganz wie Pott und Pierce) ein Com-
promiß-Präsident, daß das eigentliche Haupt der Partei, Seward (ganz wie
einst Clay und Webster) nicht gewählt worden ist, so hätten die Republikaner
recht, wenn sie ihren Sieg einen glänzenden nennen. Folgen von unmittel¬
barer großer Bedeutung aber, besonders segensreiche für das, was die Partei
Lincolns vorzüglich auf ihre Fahne schrieb, besonders verhängnisvolle für das
Bestehen der Union, werden von diesem Siege nur die erwarten, welche die
Sprache der amerikanischen Parteiblättcr für die Sprache der Wahrheit halten,
die transatlantischen Verhältnisse nickt kennen und namentlich sick die Stellung
und die Befugniß eines Präsidenten der Union nicht klar gemacht haben.
Wer im verflossenen Sommer und Herbst die Expectorationen der demo¬
kratischen Zeitungen las, der mußte glauben, daß die Wahl Lincolns gleich¬
bedeutend mit dem sofortigen Zerfall der Union in eine südliche und eine
nördliche Hülste sein würde. Wer sich dann die republikanischen Blätter an¬
sah, der konnte diese Befürchtung nur bestätigt finden. Die Sclaverei be¬
schränken, aufheben, unser wohlerworbenes Eigenthum uns nehmen lassen!
rief der Süden, theils in aufrichtiger, theils in geheuchelter Entrüstung dem
Norden zu—Lieber Lostrennung, gewaltsamer Widerstand, Bürgerkrieg ! — Bie¬
gen oder brechen! antwortete es von Norden hinab. Wer diese Sprache
von früher kannte, schüttelte lächelnd den Kopf und zuckte mit den Achseln.
Es war wenig mehr Ah das gewöhnliche Feuer der Wahlkampagne, etwas
Eifer, einiger Taumel ehrlicher „Grüner" und sehr viel Schwindel von Seiten
der „Grauen". Wirklich aufrichtig meinten es mit dem Sturm auf die Scla¬
verei nur die strengen Abolitionisten, eine Secte von Phantasten, die in der
großen republikanische» Partei keineswegs die Mehrheit bildet. Die Uebrigen
bestehen aus solchen, die sich, eingedenk des Wortes, daß Rom nicht an einem
Tage erbaut worden ist, zu bescheiden wissen, und aus der großen Masse derer,
die gar keinem Prinzip folgen, sondern nur ihren Vortheil, ein Amt, einen
Gönner u. s. w. im Auge haben. Auf das Feldgeschrei, das erhoben wird,
ist wenig zu geben. Der Norden bedarf den Süden, dieser noch weit mehr
jenen, also wird man sich wenigstens so weit vertragen, daß die Union be¬
stehen bleibt. Mit der Wahl wird auch die Leidenschaft verrauchen. Das
kleine Sprühteufelchen Südcarolina wird noch ein menig Entrüstungsfeuer
speien, einige Zeitungen diesseits und jenseits von Dixons und Masons
Linie, einige Stumpredncr werden noch für oder gegen die Sclaverei mit
Colofoniumsblitzen wettern, einer und der andere ehrenwerthe Volksvertreter
wird vielleicht wieder den Versuch machen, einen oder den andern College»
mit dem Rohrstock oder dem Pistol zu überzeugen, daß er in Betreff der Ne¬
ger sich nicht die richtige Meinung angeeignet habe. Im Wesentlichen aber
wird der Kampf ein Ende haben — aus Mangel an Kämpfern, wie es im
Cid heißt.
Natürlich ist damit nur der Kampf gemeint, bei dem die eine Partei Auf¬
hebung, die andere Verbreitung der Sclaverei über die ganze Union zum Wahl-
spruck genommen zu haben schien. Der wirkliche und verständige Kampf der
Republikaner für Beschränkung des „eigenthümlichen Instituts" und Milderungdcr
gegenwärtig geltenden Bestimmungen desselben wird fortdauern und mit der
Zeit zum Siege führen.
Aber auch in dieser Hinsicht darf man von dem neuen Präsidenten
und seiner Partei nicht zu viel erwarten. Der Präsident der Vereinigten
Stande» ist wenig mehr als was in einem parlamentarisch regierten
Staat wie England oder Belgien der Ministerpräsident ist. und wie dies-
seit des Oceans die Zeiten vorüber sind, wo ein Ministerwechsel die Politik
einer großen Nation wesentlich zu ändern vermochte, so konnte jenseits
selbst ein neuer Jackson kaum noch mit seiner persönlichen Meinung
überall durchdringen. Präsident Lincoln wird versuchen, das eine und das
andere Gute zu fördern, und. der übliche Beamtcnwechsel wird ihm dabei
passende Werkzeuge liefern. Er wird manches Ueble verhüten, wenigstens
aufhalten; denn er besitzt das Recht des Veto. Er wird Vieles thun können,
um die Herrschaft der Partei, der er angehört, dauernd zu begründen. Der
Theil dieser Partei, welcher die Sklaverei beschränkt wissen will, wird aus
dem jetzigen Triumph derselben neuen Muth und den Entschluß, auf größer«
Gewinn hinzuarbeiten, schöpfen. Der Norden und namentlich der Westen,
dessen Entwicklung einst in der Frage der Sklaverei den Aus¬
schlag zu geben bestimmt ist. wird sich von jetzt ab mehr als bisher
fühlen. Auf legislativen Gebiet aber wird zunächst Bedeutendes nicht er¬
reicht werden, schon deshalb nicht, weil im nächsten Kongreß, der im Dezember
1861 zusammentritt und zu dem jetzt in den wichtigsten Staaten die Wahlen
stattgefunden haben, die republikanische Partei so wenig wie im jetzigen die
absolute Majorität besitzen wird. Der demokratischen Partei bleibt noch hin¬
reichend viel Spielraum. Sie hat starke Streitkräfte im Repräsentantenhause,
und sie erfreut sich der Mehrheit im Senat. Nicht leicht wieder wird sie die
Macht zur Offensive erlangen, die sie in den letzten vier Decennien entwickelte,
aber in der Defensive, in der Erhaltung und Vertheidigung ihrer Stellung
wird sie stärker sein, als mancher ihrer Gegner in dem Rausch über den eben
erlangten Erfolg glauben mag.
Weit mehr als die berechnete Arbeit der Menschen wird für die allmä-
liche Erledigung der Sklavenfrage die Entwicklung der Dinge in den Sklaven¬
staaten selbst wie in den freien Staaten thun. Wir folgen in der Ausführung
dieses Gedankens den Erörterungen Kappst, denen wir das Wesentlichste
in gedrängtem Auszug entnehmen. Der Süden kann sich vom Norden nicht
trennen, er muß deshalb, wenn dieser seine Kraft noch mehr entwickelt hat
und, zum vollen Bewußtsein dieser Kraft gelangt, dieselbe mit Nachdruck zu
gebrauchen anfängt, mehr und mehr nachgeben, zunächst in Betreff des Ge¬
setzes wegen Wicdereinfnngung flüchtiger Sklaven auf dem Gebiet der freien
Staaten. Die Gefahr, welche der Sklaverei droht, kommt nicht sowol von
Norden, als davon, daß nicht blos dieser, sondern auch der Süden von der
modernen Entwicklung ergriffen worden ist. Dies gilt namentlich von den
nördlichen Sklavenstaate»-. Delaware, Maryland, Birginien, Kentucky, Ten-
nessee und Missouri. Die Sklaverei rentirt dort fast nur noch als Sklaven¬
zucht. Ist einmal durch Erweiterung. der freien Zone vom Eriesee bis an
den Ohio und Missisippi die Sicherheit des Sklaveneigenthums aufgehoben,
so muß auch die Sklavenzucht in diesen Staaten ihre Einträglichkeit verlieren,
und dieselben werden ihre sämmtlichen Sklaven verkaufen. Sind dann die
Plätze der letztern mit freien Arbeitern besetzt, so erneuert sich der alte Gegen¬
satz zwischen Süden und Norden an einer andern Grenzlinie, nur hat die
Sklavenhalterpartei dann die Stimmen und die Kräfte von sechs ihrer mäch¬
tigsten Bundesgenossen verloren.
Aber selbst der tiefe Süden hat sich dem Einfluß der modernen Entwick¬
lung nicht ganz entziehen können. Man mußte Eisenbahnen anlegen und
den Verkehr auf den Flüssen durch Dampfschiffe vermitteln lassen, schon der
Baumwollencultur wegen. Damit nahm man aber auch die dem Sklaven-
thum feindlichen Wirkungen dieser Verkehrsmittel in den Kauf. Schon machen
die Eisenbahnen ihren Einfluß auf das Wachsthum der Städte geltend. Nich-
Mond. Savannah, Charleston, besonders aber Nashville und Memphis haben
in den letzten Jahren gegen früher außerordeutlich zugenommen. Und mit
der Ansammlung der freien Bevölkerung in den Städten ist auch die industrielle
Entwicklung der südlichen Staaten rascher vorwärts geschritten. Selbst der
Haß der Sklavenhalter gegen den Norden ist ihr förderlich. Sie tragen, in¬
dem sie in dem Bestreben, sich vom Norden commerziell unabhängig zu machen,
Fabriken anlegen, den Feind ins eigne Land hinein. Die industriellen Unter¬
nehmungen des Südens sind nur insoweit erfolgreich gewesen, als sie sich auf
Anfertigung der rohesten Erzeugnisse und Benutzung der überwiegenden natür¬
lichen Bordseite des Landes beschränkten. Weder die schwarze noch die arme
Weiße Bevölkerung desselben liefert gute Fabrikarbeiter. Der Negersklave darf,
wenn er dem xseuliar institues nicht gefährlich werden soll, nur ausnahms¬
weise ausgebildet und nicht in Städten concentrirt werden. Der freie Weiße
der Sklavenstaaten steht, soweit er nicht zu der Sklavenhalteraristokratie ge¬
hört, durchgehends aus einer wenig höhern Stufe der Entwicklung, als der
Sklave. So ist denn der Süden sogar hinsichtlich seiner Fabrikarbeiter gro-
ßentheils auf Leute aus dem Norden angewiesen, die er wegen ihrer der
Sklaverei feindlichen Ideen zu bewachen hat.
Der Süden hängt durchaus vom Norden ab. Er kauft von dort, weil
er dort am wohlfeilsten kauft. Alle seine Versuche, direkt von Europa zu
kaufen, sind gescheitert. Neuyork ist die Handelsmetropole der Union, es hat
in den letzten Jahren mehr Waaren nach dem Süden geliefert als je vorher.
Einst war Charleston ein bedeutenderer Importhafen der Union als die Man-
hattanstaot, jetzt ist es gleich den meisten südlichen Häfen zur Unbedeutendheit
herabgesunken. Allerdings liefert der Süden zur Ausfuhr der vereinigten
Staaten das größte Quantum, aber wenn er sich deshalb rühmt, daß er für
den Norden die Einfuhr bezahle und daß seine Lostrennung von jenem dessen
Bankerott zur Folge haben müsse, so bedarf solche Thorheit keiner Wider¬
legung. Noch lächerlicher klingt es, wenn ein Senator meinte, der Süden
halte mit seiner Baumwolle das Geschick der ganzen Welt in der Hand und
könne sie, wenn er ein paar Jahre keine Baumwolle liefere, ins Verderben
stürzen. Möglich, daß sich die brasilischen Kaffeepflnnzer. die Theeproducenten
Chinas und die Weizenbaucr Osteuropas ähnlichen Einbildungen hingeben.
Aber jener Senator hätte wissen sollen, daß die Handelswelt von solchen
Bauern, so groß auch das Quantum ihrer Erzeugnisse sein mag, nicht regiert
wird. England, Deutschland, Frankreich und die nördlichen Staaten der
amerikanischen Union sind die commerziellen, industriellen und finanziellen Mit¬
tel- und Angelpunkte der Welt. Jene Kaffee-, Thee- und Weizenbauer und ganz
ebenso die Baumwollenpflcmzer sind einfach die Agenten dieser Centren, und
letztere vollbringen ihre Aufgaben ebenso, wie die schwarzen Sklaven des
Südens die ihnen von ihren Herrn zugetheilten Aufgaben vollbringen. Wenn
der Norden die Baumwolle des Südens nicht entbehren kam,, so kann der
letztere noch viel weniger den Markt des Nordens für dieses Product, die
Schiffe desselben für dessen Transport, das Kapital desselben zu dessen Über¬
tragung aus der Hand des Producenten in die des Konsumenten und den
nördlichen Credit zum Ankauf seiner Bedürfnisse im In- und Auslande ent¬
behren. Es ist im Großen ganz dasselbe Verhältniß, welches dem kleinen
Dänemark entgegenstand, als es sich vor zehn Jahren vermaß, sich von der
commerziellen Obmacht Hamburgs zu emancipiren.
Statt der eingebildeten Überlegenheit des Südens über den Norden
finden wir also genauer nachsehend das Gegentheil, und dieses Ueberwiegen
5es Nordens über den Süden macht sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr
geltend. Im Jahre 1790 übertrafen die sechs Staaten, die von den ursprüng¬
lichen dreizehn die Sklaverei beibehalten hatten, die sieben andern, in denen
die freie Arbeit die Grundlage der Production bildete, an Zahl der Bevöl¬
kerung, aber sehr bald kehrte sich das Verhältniß um.
„Im genannten Jahre," sagt Kapp, „zählten die sieben ursprünglichen
Freistaaten 1,786.499, die sechs ursprünglichen Sklavenstaaten 1.852,504 Ein¬
wohner, die letztern hatten also ein Uebergewicht von 55,002 Einwohnern.
Im Jahre 1350 war die Volkszahl der erster» auf 7,729.562, die der letz¬
tern auf 4,539,058 gestiegen; die Freistaaten hatten also einen Vorsprung
von 3,189.604 Einwohnern gewonnen, trotzdem die Ausdehnung ihrer Ober¬
fläche nur 124.380, die der alten Sklnvenstaaten aber 212,685 Quadratmeilen
umfaßte. Die bis 1850 aufgenommenen neuen Freistaaten erstreckten sich über
488,217, die neuen Sklavenstaaten über 647,763 Quadratmeilen. Auf der
kleinern Fläche hatten sich aber 5,831,198. auf der gröfiern nur 5,072,711,
also 764.487 Menschen weniger als dort angesiedelt."
Noch vortheilhafter für den Norden spricht der noch nicht ganz vollendete
Census von 1860. Nach den bisherigen Berechnungen und Schätzungen be¬
trägt die Bevölkerung der Vereinigten Staaten jetzt etwa 31'/- Millionen.
Davon kommen auf die Sklavenstaaten ungefähr 12, auf die freien 19 Mil¬
lionen, der Nest vertheilt sich auf die Territorien im fernen Westen. Zählt
man zu den 4 Millionen Sklaven, die sich in der Gesammtzahl befinden, noch
die 500,000 freien Farbigen, so ergibt sich für die zehn Jahre seit 1850 ein
Zunahmeverhältniß für die Weißen von 37, für die Farbigen von nur 26
Prozent.
Dieses raschere Wachsthum der Bevölkerung in den freien Staaten ist
nicht ausschließlich Ergebniß der größern natürlichen Vermehrung, auch die
Einwanderung hat wesentlich dazu beigetragen.
„Von den 68 Prozent, die 1850 den Antheil der freien Staaten, an der
Gesammtzahl der freien Bewohner der Union ausmachten, waren 54 Prozent
innerhalb ihrer eignen Grenzen, 4 Prozent in den Sklnvenstaaten und 9 Pro¬
zent im Ausland geboren, während sich von ungefähr einem Prozent die
Herkunft nicht feststellen ließ. Unter den 31 Prozent der SNavenstaaten be¬
fanden sich dagegen nur IV» Prozent, die vom Ausland gekommen, und
1 Prozent, die in den freien Staaten geboren waren. Die Sklaverei stößt
nicht nur den Fremden ab, sie verdrängt selbst die Eingebornen der eignen
Staaten aus ihrer Mitte."
Anders gestaltet sich das Verhältniß in den nordwestlichen Grenzlanden
des Sklaventhums, wo die langsam vorrückende freie Arbeit auf dasselbe stößt.
Während der besitzlose, ungebildete, geringgeachtete Weiße in den innern Staa¬
ten des Südens jeden Willen zum Widerstand verloren hat. tritt der in jene
Grenzlande eindringende in beständiger Uebung geschulte sreie Arbeiter des
Nordens ebenso mächtig gegen die Sklavenhalter auf, wie diese im Süden
gegen die ärmere Klasse der Weißen auftreten. Beispiele sind Kansas, wo die
Sklaverei trotz aller Gegenanstrengungen der beiden letzten Präsidenten ver¬
drängt wurde, und Missouri, wo sie mit jedem Jahr mehr Boden verliert.
Die weiter östlich gelegnen Sklavenstaaten des Nordens haben, da der Strom
der freien Einwanderung sich bisher vorzüglich dem Westen zuwendete, noch
wenig von diesem Einfluß erfahren. Aber dasselbe Schicksal wie dem Sklaven-
thurn in Missouri steht auch dem von Maryland, Kentucky und Virginien be¬
vor, sobald die weiten Ebenen des Nordwestens dichter bevölkert sein werden,
und daß dazu kein übermäßig langer Zeitraum erforderlich, zeigt das schnelle
Wachsthum aller nordwestlichen Staaten.
Mit der größern Einwohnerzahl fällt dem freien Norden auch ein größerer
Antheil an der Repräsentation und an der Gesetzgebung zu, und es hängt
nur von ihm ah, dieses Verhältniß in seinem Interesse, welches dem Süden
gegenüber zugleich ein Interesse der Civilisation ist, besser als es bisher ge¬
schah zu benutzen. Im Jahre 1800 betrug der Antheil des Südens an der
Repräsentation ungefähr 48 Prozent. 1340 belief er sich nur noch auf 41,
und 1859 sank er bis aus 38 Prozent.
„In Uebereinstimmung mit den obigen Zahlen muß die neue Vertheilung
den Süden wenigstens aus 32 Prozent Herabdrücken", sagt Kapp, und wenn
die Bezeichnung nördlicher Abgeordneter gleichbedeutend mit Anhänger der
Plattform der republikanischen Partei wäre, so könnte von einem Widerstand
des Südens gegen dieses Parteiprogramm fürderhin nicht mehr die Rede sein.
> „Eine nicht minder bedeutende Veränderung erfährt das Repräsentations¬
verhältniß, in welchem der Nordwesten zu den übrigen Staaten der Union
steht"). Im Census von 1800 begegnen wir ihm noch gar nicht, und erst im
Lause des folgenden Decenniums klopft er bescheiden mit Einer Stimme —
Ohio — an die Thore der Union. 1810 hat er bereits 8 Stimmen, 1820:
19, 1830: 32, 1840: 52 und 1850: 57 Stimmen gewonnen. Die Schützun¬
gen für den diesjährigen Census weisen ihm nicht weniger als 73 Stimmen
oder 32 Prozent der gesammten Vertretung, d. i. also genau so viele wie
dem Süden zu. Für die alten Staaten des Nordostens bleiben demnach nur
noch 36 Prozent."
Wir schließen unsre Mittheilungen aus Kapp's Buch mit dem sehr ver¬
ständigen Urtheil, welches er über die Frage der Emancipation der Sklaven
fällt. Er sagt: „Wenn ich die Resultate meiner geschichtlichen Ansicht sowie
meine persönlichen Beobachtungen in den Sklaven- und freien Staaten und
Cuba in einen Satz zusammenfassen soll, so glaube ich, daß, so ehrlich und
gut auch die Bestrebungen für sofortige Sklavenbefreiung sein mögen, die
hiesige Emancipation doch dieselben Stadien zu durchlaufen haben wird, welche
die europäischen Völker durchgemacht haben, ehe sie aus dem Stande der
Knecht- und Leibeigenschaft zur Stellung freier Bauern und Bürger gelangten.
Der nächste Schritt würde also auch hier die glebae g-äsoriMo und Aner¬
kennung gewisser persönlicher Rechte der Sklaven sein, wie Legalisirung ihrer
Heirathen, Unzertrennlichkeit der Ehe und Unabhängigkeit des Verhältnisses
zwischen Eltern und Kindern vom Machtspruch des Herrn, sowie endlich Unter¬
richt der Sklaven und ihre, wenn Anfangs auch noch so geringe Betheiligung
an den Früchten ihrer Arbeit. Räumt man ihnen ein Interesse an der letz¬
teren ein. so werden auch ihr Erwerbstricb und Ehrgeiz geweckt und allmälig
ein Pflichtgefühl in ihnen erzeugt werden, welches die unerläßliche Grund¬
bedingung eines freien Zustandes ist."
Was die auswärtige Politik der Ver. Staaten betrifft, so wjrd auch diese
durch Lincoln's Erwählung keine wesentliche Aenderung erleiden. Ein Präsi¬
dent hat, sei er' Republikaner oder Demokrat, dem Ausland gegenüber zu
thun, was das wohlverstandene Interesse der Union erheischt, und dieses In¬
teresse gebietet, daß die Union mit ihren nähern und entferntem Nachbarn in
Frieden zu leben bestrebt sei. Die Nachricht südlicher Zeitungen, daß die
Sklavenstaaten für den Fall einer Trennung von den freien die Protection
Frankreichs nachgesucht und ermunternde Zusagen bekommen, halten wir für
eine einfache Tendenzlüge. In Bezug auf England mag der Republikaner
Lincoln freundlichere Gesinnungen hegen als der Demokrat Buchanan, von
besondern: Vortheil aber für die britische Politik wird das nicht sein. Dieselbe
stand mit dem Erwählten der demokratischen Partei auf ziemlich gutem Fuß,
weil die Interessen der beiden Nationen dies forderten, sie wird aus eben¬
demselben zwingenden Grunde sich auch der Wohlgeneigtheit des Erwählten
der Gegenpartei erfreuen. Kleine Hiebe nach dem guten Freund werden da¬
durch nicht ausgeschlossen, da sie zur Erhaltung der Popularität unter den
Katholiken, namentlich denen von der Smaragdinsel, und unter einigen an¬
dern erforderlich sind, die an dem traditionelle» Haß gegen Großbritannien
festhalten. Am meisten Ursache, sich über den Ausfall der Präsidentenwahl
Glück zu wünschen hat Spanien. Es wird keinen sont6 wieder in Madrid Un¬
gezogenheiten treiben sehen, und die Frage über die Eroberung oder den Ankauf
Cuba's zur Vergrößerung des Sclavenhalter-Territoriums wird auf vier Jahre
vertagt bleiben.
Der Erfolg des neulich von uns erwähnten Ausrufs zu Beisteuern für die be¬
drängten Schleswig-Holsteincr ist bis jetzt, wie uns gemeldet wird, in Leipzig folgen¬
der gewesen:
Es wurden 1700 Circulare versandt, und es gingen darauf 330 Zusagen von
Beiträgen für mehre Jahre ein, davon 210 von Geschäftsleuten, 90 von Studirten
<in besonders erfreulicher Weise betheiligte sich der Stand der Lehrer) und 30 von
Frauen.
Im Ganzen betrugen die Zusagen für das Jahr 880 Thlr. Außerdem gingen
einmalige Gaben ein von 5 Nuderclubs, vom Vetercmenvcrcin, von den Buchhand-
lungsgchülfcn, von einer Kegelgcsellschast und von den zu einem Martinsschmaus
Versammelten.
Andere Zusagen und Beiträge werden noch erwartet.
Mögen dieselben bald und reichlich eingehen und Leipzig so den schönen Ruf,
bei solchen Gelegenheiten allen andern deutschen Städten voran zusein, aufrecht
erhalten.
Mögen aber auch jene andern Städte, mögen namentlich Berlin, das in den
letzten Jahren bei patriotischen Sammlungen ausfällig säumig und karg war, sich
eine offnere Hand anschaffen.
Wie es hier und da Gebrauch ist, bei festlichen Essen den ersten Toast aus den
König, Großherzog, Herzog u. s. w. auszubringen, so sollte es überall, unter allen,
die gute Patrioten sein wollen, Gebrauch werden und bis zur endlichen Befreiung
Schleswig-Holsteins Gebrauch bleiben, der für Schleswig-Holsteins Sache Leidenden
(welche durch die in Schleswig und Eckernförde erst neuerdings wieder gefällten
rechtswidrigen Urtheile bedeutend vermehrt wurden) durch eine Sammlung zu ge¬
denken. Es würde das nicht blos für diese Leidenden, sondern auch für uns ein
segensreicher Gebrauch sein.
— Erinnerungen von Andreas Oppermann. Breslau, Verlag
von Eduard Trewendt. 1860. —
Der Verfasser hat uns früher anmuthige Bilder aus dem Bregenzer Wald ge¬
liefert. Hier schildert er Beobachtungen und Erlebnisse einer Reise, die er, wie wir
hören, mit dem ihm verwandten Rietschel gemacht hat, zuerst Genua, dann Sicilien
im Allgemeinen, dann Palermo. Er besitzt ein gutes Auge für das Malerische in
der Landschaft, im Städtebau und im Volksleben, und hat warme, bisweilen wol
zu warme, Farben in dem Pinsel, mit dem er seine Erinnerungen reproducirt.
Ein paar Herzcnsgeschichtcn, die, wenn sie nicht wahr sein sollten, wenigstens gut
erfunden und erzählt sind, unterbrechen die Schilderungen als willkommne Zuthat.
Mehr Werth haben die Urtheile über Gegenstünde der Kunst, Bauwerke, Bilder
u. a., für welche der Verfasser Sinn und ein feines Verständniß besitzt. Dagegen
verräth er, wo er zur Geschichte übergeht, bisweilen ziemliche Unreife, und was er
über den Islam und feinen Einfluß auf das Leben der Völker vorbringt, nähert
sich nicht selten der Abgeschmacktheit. Sehr instructiv wieder sind seine ausführlichen
Mittheilungen über den sicilischen Adel, über die Sitten und die Denkart des Vol¬
kes, über die Geistlichkeit und über den Hciligencultus und den Katholicismus auf
Sicilien überhaupt. Maria hat hier noch mehr wie anderwärts den Dienst des
Heilandes in den Hintergrund gedrängt; und man würde es in Palermo vermuth¬
lich ganz in der Ordnung finden, wenn, wie einst in Rom, ein Kapuziner von der
Kanzel herab eine Predigt über die Strafen derer, welche ihre Eltern nicht genug
ehren, halten und dabei als warnendes Beispiel Christum ausführen wollte, der zu
seiner Mutter in rcspectswidriger Weise gesagt! „Weib, was habe ich mit dir zu
schaffen!" dafür aber auch verdammt worden sei am Kreuze zu sterben.
Ein niederdeutsches Landes- und Vvlksbilo. Von L. Fromm.
Schwerin, 1860. W. Bärensprung. Der Verfasser, soviel uns bekannt, selbst ein
Mecklenburger, will mit seinem Buch, bei dem er sich Nichts Schrift über die Pfalz
und über die Pfälzer zum Vorbild genommen hat, schiefen Urtheilen begegnen, die
aus der geringen Bekanntschaft des übrigen Deutschland mit Mecklenburg hervor¬
gehen. Er gibt zunächst einen Abriß der Geographie und Geschichte des Landes,
dann die Grundzüge des Volkscharakters, der mit dem sächsischen in Holstein Aehn-
lichkeit hätte. Hieraus werden uns die Bauwerke Mecklenburgs, Kirchen, Schlösser,
Städte u. s. w., die Volkstracht am Werkeltag und Sonntag und zuletzt die Volks¬
sitten, das Familienleben, die Küche, Hochzeiten und andere Feste, die Neste des
Aberglaubens und Aehnliches vorgeführt. Wir behalten uns für eins der folgende»
Hefte einen Auszug des Wesentlichsten vor, der mit dem verglichen werden mag, was
wir vor Kurzem über die Altbayern brachten. Das Unternehmen ist im Allgemeinen
willkommen zu heißen, wenn man auch die eingestreuten Reflexionen des Verfassers
nicht immer theilen kann und wenn davon auch Manches wie eine oratio xro clomo
lautet. Daß der Verfasser über den Druck, den der Adel aus die niedern Stände
ausübt, und die bekannten traurigen Folgen dieses Drucks schweigt, erklärt sich wol
^nur aus der Widmung.
Herausgegeben von Heinrich
Jolowicz. Breslau, Verlag von E. Trewendt. 1860. Naturbilder, Liebeslieder,
Weinlicder, Mythisches, Spruchweisheit, Legenden, Märchen, Fabeln, schwanke und
Räthsel in acht Kapiteln, entnommen aus verschiedenen Uebersetzern. Daß Inder,
Chinesen und Japaner mit den doch durch den Islam sowol wie durch ihre
Abstammung völlig verschiedenen Weflasiaten und Nordafrikanern zusammengeworfen
sind, scheint uns nicht passend. Sonst enthält die Sammlung manches Anmuthige.
Verlag von Julius
Springer, Berlin, 1861. Die „verschollnen" Inseln sind Helgoland (aus welches
das Prädicat Manchem nicht anwendbar scheinen wird), die Frieseninsel Sylt an
der Küste des westlichen Schleswig, die von dem Verfasser auch nicht erst wieder zu
entdecken war, da der wackre Hansen in Kennen erst in den letzten Jahren wieder¬
holt über sie berichtet hat, die Insel Thauet an dem nördlichen Gestade von Kant,
endlich Jersey und Guernsey. Wunderlich nimmt sich das weltschmcrzerfülltc Ge-^
dicht, mit dem der Verfasser seine Bilder einer Freundin widmet, neben dem hart
dahinter folgenden lustigen Gemälde aus, welches das Treiben der Matrosen in den
Gassen und Schenken von Sanct Pauli schildert. Sollte dieses Herz dunkel wie
die Nacht", diese Seelenpein, diese Sehnsucht nach Frieden, sollte, fragen wir dieser
„Nachtgesang von Leiden, die man selbst sich schuf", neben der lustigen Wanderung
durch die Matrosenbordclle nicht bloße Einbildung, nicht zu fixen Ideen gewordene
Reminiscenz aus Heine sein? — Im Uebrigen sind die Schilderungen meist recht
hübsch und namentlich ist das Stillleben auf Sylt anmuthig gemalt.
D
argestellt von H. Berlepsch,
illustrirt ^von Rittmaycr. Leipzig, Herrmann Costenoble. 1861. Der Verfasser,
ein deutscher Flüchtling, der seit 1849 in der Schweiz lebt und bereits einen Füh¬
rer durch die Schweiz (Leipzig bei I. I. Weber) herausgegeben hat, liefert hier ein
Seitenstück zu Tschudis bekanntem Buch, und zwar schildert er uns mehr die todte
Natur, die Berge in ihrer Structur, Lawinen, Wasserfalle, Schneestürme, Alpen¬
glühen und Nebelb'liber, Wälder und Baumsamilicn und andrerseits den Menschen
der Alpen in seinen Beziehungen als Jäger, Holzschläger und Hirt. Erreicht er
damit das Talent seines Vorgängers nicht, so sind manche seiner Bilder immerhin
recht interessant. Die beigegebenen 16 Holzschnitte dagegen kommen in der Zeich¬
nung und theilweise auch in der xylographischen Ausführung und im Druck denen
in Tschudis Werk vollkommen gleich, und so kann das Werk als hübsches Weih¬
nachtsgeschenk empfohlen werden.
Von A..v. B. Berlin, Riegels Verlagsbuchhandlung. 1860.
Eine Monographie, die auf fleißigen Studien beruht und sehr in das Detail der
einzelnen Kosakcncolonien eingeht. Die Darstellung ist indeß etwas trocken, und
bei aller Gründlichkeit gelingt es dem Verfasser nicht recht, uns ein deutliches Bild
von dem Wesen der Kosaken, den unter ihnen hervorgctretnen Persönlichkeiten und
ihrer Entwickelung zu dem zu geben, was sie jetzt sind.
Anfang September rückten die Piemontesen in zwei Colonnen ohne Kriegs¬
erklärung in den Kirchenstaat ein: die eine drang nnter General Cinldini,
25000 Mann stark, von Rimini aus auf der längs der adriatischen Küste
laufenden Hauptstraße in die Marken vor. die andere, von Fant, befehligt
und etwa 20,000 Mann stark überschritt bei Perugin die Grenze von Um-
brieu. Da Pesaro nur von 4 Compagnien regulärer Truppen besehe war.
so wurde es den Sardiniern leicht, die Stadt in ihre Hände zu bekommen.
Die Päpstlichen zogen sich nach dein Castell zurück, wohin sich auch der dor¬
tige Delegat begab. Dieses Castell war nichts, als ein mit trockenen Gräben
umgebenes starkes Gebäride. ans den Zeiten der Sforza, und find nur Raum-,
lichkeiten für ungefähr 1000 Mann und einige Pferdestnlle darin. Von den
Sardiniern sofort mit gezognen Geschütz beschossen, mußte es sich noch 29stündigem
Widerstand ergeben, und die sehr zusammengeschmolzenen Vertheidiger wur¬
den als Kriegsgefangene nach Alessandrin geführt. In Perugia stand die
Brigade.Schmid: Bataillon Jrländer, ein inländisches Iägerbataillon. ein
Bataillon Schweizer und eine Batterie. Bon Fantis Truppen in der Stadt
angegriffen, hatte sie es tuer zugleich mit der Bürgerschaft zu thun, welche
Feuer auf sie gab. Sie wehrte sich tapfer, namentlich sollen die Irländer
sich gut gehalten haben. Indeß konnte auch hier von keinem langen Widerstand
die Rede sein. Ein Theil der Brigade fiel im Kampfe, der Nest zog sich aus
der Stadt zurück, wo er theils zersprengt, theils gefangen wurde.
General Lamoriciöre befand sich mit dein Gros seiner Armee damals
noch in Spolcto und gab ans die Nachricht, der Feind sei in den Kirchenstaat
eingefallen, dem General de Conrten. welcher zu Macerata mit IV2 Bataillon
"ut Batterie stand, den Befehl unverzüglich gegen Pesaro vorzurücken und
dasselbe zu entsetzen. Gleichzeitig detachirre er den Obrist Kanzler von Spo-
leto aus mit einem Bataillon italienischer Infanterie, einem Iägerbataillon und
1/2 Batterie mit der gleichen Bestimmung, Die erste Kolonne traf schon in
Färö mit der sardinischen Avant-Garde zusammen, und es entspann sich ein
Gefecht, in welchem die Päpstlichen bei ihrer numerischen Schwäche sehr bald
zum Rückzug genöthigt wurden. Sie fehlen denselben bis hinter Sinigaglia
fort, wo der Feind sie nicht weiter verfolgte, sondern sie ruhig nach Ancona
abziehen ließ. Die andere Colonne ging über Montalboddo nach Fossom-
brone vor, stieß hier mit den Piemontesen zusammen, mußte ebenfalls vor
der Uebermacht weichen und zog sich auf Gebirgspfaden nach Jesi und von
dort gleichermaßen nach Ancona zurück, dessen Garnison dadurch auf 4000
Mann anwuchs. General Lcunoriciöre, der jetzt noch ungefähr 8000 Mann
bei sich hatte, befand sich in einer höchst kritischen Lage. Das Corps Fanti
hatte ihn gezwungen Spoleto zu verlassen; es blieb ihm nur übrig, sich nach
Ancona zu werfen, um sich hinter dessen Wällen gegen den mehr als fünffach
überlegenen Feind zu wehren, aber zwischen ihm und Ancona stand bereits
das in Eilmärschen vorgerückte Corps von Cialdini. Sich durch dessen Trup¬
pen hindurch zu schlagen war somit das erste Erforderniß.
Am 13. September, kam das päpstliche Corps in Loreto an. (ein Tage¬
marsch von Ancona) von wo die Vorposten des Feindes sich sofort zurückzogen.
—- Am andern Morgen rückte Lamoriciöre auf der Hauptstraße zum Angriff
vorwärts, indem er erwartete, daß die Garnison der Festung einen Ausfall
machen und den Feind im Rücken bedrohen würde. Da das Desil6, das er
zu passiren hattet große Schwierigkeiten bot, so dachte der General zunächst
die Höhen zu erstürmen, namentlich die von Castelsidardo, auf welcher die
Piemontesen ihre Hauptposition hatten und mit einer Batterie von gezognen
Geschützen die Päpstlichen bedrohten.
Die Avantgarde, bestehend aus dem Bataillon franco-belgico (500 Mann
stark), stürmte als Tirailleurkette diese Höhe unter lebhaftem Feuer der feindlichen
Bersaglieri; allein von allen Braven, uuter welchen französische Edelleute als Ge¬
meine und Corporale dienten, kamen nur sieben davon, alle übrigen bedeckten
todt oder verwundet die Erde. Hätten die Uebrigen sich ebenso tapfer gehal¬
ten, so würde wenigstens die Absicht des Generals, mit der Mehrzahl seiner
Truppen Ancona zu erreichen, durchgeführt worden sein. Leider aber war
dem nicht so. Die Italiener (zwei Bataillone Infanterie) waren in Reserve
geblieben, kamen also nicht zum Gefecht. Das zweite italienische Jäger¬
bataillon nahm bereits vor dem Kampfe eine verdächtige Haltung an, und der
Chef des Generalstabes, General de Pimodan sah sich genöthigt, den be¬
treffenden Commandanten zu suspendiren und sich selbst an die Spitze der
Truppe zu stellen. — Nach dem Angriff des Franco-Bclgico ließ General La-
moriciöre die Frcmdeninfanterie (drei Bataillone Schweizer Infanterie und das
zweite östreichische Jägerbataillon) zum Angriff vorgehen. Die Schweizer
nahmen die Höhen. Allein oben angekommen erhielten sie einen solchen
Hagel von Linien-, Tirailleur- und Kanoncnfeuer, daß sie sich eiligst zum
Rückzüge wandten. Vergeblich suchten zwei brave Offiziere unter ihnen. Ob-
nst Kropt und Obristleutnant Allee, mit dem Säbel in der Hand die Fliehen¬
den zu sammeln und aufs Neue zum Sturm zu führen. — Der aus alter
Zeit herstammende Mangel an brauchbaren Offizieren der niedern Grade
machte sich hier sehr fühlbar.
Die schweizerischen Subalternofsiziere, theilweise von der Sennhütte be¬
reits mit ihrem Grade heruntergekommen, theilweise aus solchen Unteroffizieren
befördert, welche dem Geschmacke der erstem am besten zusagten, hatten besser
gethan, hier zu zeigen, daß sie Courage haben, als das Jahr vorher in Pe¬
rugia, wo sie es nur mit ungeübten Bürgern zu thun hatten. Hätten diese
Herren statt selbst Fersengeld zu geben ihre Truppe gesammelt, so wäre die
Ordnung und das Gefecht wieder herzustellen gewesen. Sie verstanden sich aber
besser auf sohlengängcrische Kriecherei und Spionenschliche, als auf mannhaftes
Standhalten. So waren die Leute bald zersprengt. In einzelnen Haufen
um einen oder den andern unerschrocknen Führer (unter andern Major Bell) ge¬
schabt kämpften noch einige sort, bis sie sielen oder zu Gefangenen gemacht
wurden. Die Ausreißer hingegen wurden zum großen Theil von den sie ver¬
folgenden piemontesischen Lanciers ohne Gnade niedergestochen. Anders be¬
trug sich das' brave zweite östreichische Bersaglicribataillon. welches im dichte¬
sten Kugelregen ohne zu wanken Stand hielt. Wären alle fünf dieser tüchti¬
gen Bataillone zugegen gewesen, so hätte der Ausgang der Schlacht ein an¬
derer sein können. So aber brachte die Flucht der Schweizer Unordnung in
die Artillerie, welche, sich isolirt sehend, die Stränge durchschnitt und sich auf
den Pferden zu flüchten suchte. — Dadurch wurde die Straße verstopft und
noch viele wurden auf dem Rückzüge ein Opfer der feindlichen Reiter und
Geschütze. — Somit war die Schlacht schon verloren. General Lamoriciere
selbst versuchte den Säbel in der Faust das Gefecht wiederherzustellen, jedoch
umsonst. General Pimodan siel an der Spitze der italienischen Jäger und
auch dies verbreitete Schrecken unter den Päpstlichen. Die Masse derselben
floh auf zwei Wegen, der größte Theil zurück nach Loreto, wo sie, fast von
allen Seiten eingeschlossen, sich kricgsgesangen ergaben, ein anderer Theil auf
der Straße nach Jesi, wo sie, ebenfalls verfolgt vom Feinde, nur die Wahl
zwischen Tod und Gefangenschaft hatten.
Die päpstliche Cavallerie, aus 4 Schwadronen verschiedener Waffen be¬
stehend, hatte keinen thätigen Antheil am Gefecht nehmen können, wurde je-
doch entweder durch das feindliche Geschütz decimirt oder gefangen, wie auch
die Gulden. Herrn aus der Blüthe des französischen Adels, großen-
theils verwundet, gefangen in die Hände des Feindes geriethen. Lamoriciöre
selbst mit einigen Herren seines Generalstabes und der bis auf 45 Mann
zusammengeschmolzenen östreichischen Schwadron Cnvalleggu'ri schlug sich
auf einem unwegsamen Seitenpfa^e durch die Feinde durch und kam »ach
zweistündigem Ritt über Stock und Stein nach Ancona, welches an diesem Tage
grade das erste Bombardement seitens des aus zwei Fregatten und acht Cor-
vetten bestehenden feindlichen Geschwaders auszuhalten hatte.
Wäre es dem Generat nicht gelungen in die Festung zu gelangen, so
würden vermuthlich zu Castelfidardo die legten Schüsse gefallen gewesen sein; die
Garnison unter Geueral de Courten hätte vielleicht schon damals capitulirt,
da sie auf keine Unterstützung rechnen konnte.
Lamoriciöre hätte es für eine Schande erachtet, seinen Vertheidignugs-
puntt viae Schwertstreich dein Feinde zu übergeben, umsomehr als er mit
großer Bestimmtheit auf eine Intervention Frankreichs rechnete, in welchem
Sinne er auch vier Tage vorher eine Proclamation an die Bürger in Ancona
hatte anschlagen lassen.
So trat denn die letzte Epoche des kurzen Kriegs ein, die Belagerung
von Ancona.
Ancona, im Halbkreis um seinen Hase» gelegen, hat an Festungswerken
folgende: Zur Vertheidigung der Seeseite längs der Küste die Leuchtthurm-
und Hasenbatterie, den Monte Marano, den Monte Capuccino und Monte
Gardetto. — Zur Vertheidigung gegen die Land- wie gegen die Seeseite im
Süden der Stadt den Monte Pulito, Monte Pclago und die Lünette San
Stefano. — Das Hauptwerk bildet das Campo trinccrato (verschanztes Lager)
mit dem darin enthaltenen Castell. Bon hier ließ sowohl die West- und Nord¬
seite als der Hafen der Stadt sich vertheidigen. Eine directe gedeckte Verbindung
zwischen den Werken czistivte nichr, nud ist nnr von den Päpstlichen an eini¬
gen Stellen bewirkt worden, wie z, B. zwischen Monte Capuccino und Monte
Gardetto.
Da Referent die nur beginnende Belagerungscpoche selbst mit durchlebt
hat, so erlaubt er sich, seine eigne Person zum Mittelpunkt der Erzählung
zu machen.
Seit der ersten Nachricht vom Einbruch der Piemontesen, welchen die
Städte wenigstens vornns gewußt haben mußten, war die unter dem Volle
gegen uns herrschende Stimmung wesentlich schlimmer geworden. Waren wir
früher gcchaßt. so waren wir es gegenwärtig, wo unser Untergang fast sicher
erschien, noch viel mehr. Das ließ sieu deutlich erkenne». Mehr aber wußten
wir nicht. Von niemand war zu erfahren, was draußen vor den Thoren vor¬
ging. War uns bekannt, daß die Piemontesen im Lande, daß Pesaro genom¬
men , so hatten wir es nur aus Berichten einiger nach Ancona geflüchteten
Soldaten gehört. Fragten wir Leute, welche von Norden nach der Festung
herreinkamen, so sagten sie uns im beruhigendsten Tone, der Feind habe sich
»ach der Grenze zurückgezogen, oder er sei auf Rom marschirt, hier in der
Nähe befinde sich auf 5v Miglien kein Picmontese mehr — Selbst La-
moriciöre wird trotz der besten Bezahlung Mühe gehabt haben, sich einen
treuen Spion zu verschaffen; dagegen konnte jeder Bauer der Marke» getrost
als Spion der Piemontesen angesehn werden. Mehr, aber freilich nichts Tröst¬
liches sagte uns die Haltung der Einwohner Anconns.
Trotz des Belagerungszustandes sah man Gruppen von 10—15> Personen
zusammenstehen, die Köpfe in einander gesteckt und leise flüsternd. Ging ein
Soldat zufällig vorbei, so hörte man zu sprechen ans, bis er außer Gehörs¬
weite war. Die vom Truppenkommando fast täglich neu an den Straßen¬
ecken angeschlagenen Proklamationen und Verordnungen wurden mit ironischer
Miene und Achselzucken gelesen, selbst wenn sie in ihrem eignen Besten be¬
hufs ihrer Sicherheit abgefaßt worden waren. Unsere neu getroffenen Ver¬
theidigungsanstalten, die Verrammlnng und Verpallisadirung sämmtlicher
Stadtthore, die Erbauung neuer Batterien zur Vertheidigung derselben u. a. in.
wurden zwar immer noch mit scheuen Blicken gemessen: die Weiber der Vor¬
stadtsbevölkerung, die im Fall eines Angriffs in ihren Häusern einem fast
sicheren Verderben ausgesetzt waren, machten ängstliche Gesichter und riefen
die Madonna zum Schutz an. Aber nicht in dein zu erwartenden Feinde,
sondern in uns sahen sie die Ursache ihrer Angst.
Schon jetzt wurden die Lebesmittel im Preise theuer, da d>e Landleute
kein Vieh und kein Getreide mehr in die Stadt brachten. Ein El lastete schon
zwei Bajocchi. und hiu und wieder erhielten die Soldaten schon jetzt als Brod
Schiffszwieback. Viele Läden waren bereits geschlossen, obwol wir noch kei¬
nen Feind sahen und nur an den Menschengruppen, welche neugierig mit
stoßen Auge oder Fernröhren die Umgegend und die See recognoscirten, zu
merken war, daß er täglich erwartet wurde, Am 12. September wurden
endlich'auf der Höhe von Sinigaglia mehrere Dampfer sichtbar; da sie ohne
Flaggen kreuzten, so wurde auch vom Leuehthnrm aus ihre Nationalität nicht
signalisut. Am 13. kamen sie näher und stellten sich in Schlachtordnung zur
Blokade des Hafens, dessen Eingang gegenüber, ans drei Miglien (V° deutsche
Meilen) Distanz auf. Endlich hißten sie die italienische Tricolore auf, und
damit wußten wir. woran wir waren. Ich erwartete gegenwärtig mehr als
>e einen Aufstand der Bürgerschaft; man war unterrichtet, daß dieselbe Waf¬
fen halte. Man hatte trotz des Belagerungszustandes von den Schmieden
aus Feilen Stilette anfertigen sehen. Aber die Sorglosigkeit seitens des Di-
visions-Kommandos war so groß, daß es weder das Militär zusammen hielt,
noch sonst energische Dispositionen für einen Angriff traf. Die Soldaten,
auf welche der moralische Einbruch ungünstig wirkte, liefen größtenteils in
der Stadt ihren Privat-Geschäften und Vergnügungen »ach, fröhnten dem
Bachus mehr als gewöhnlich, fingen Streitigkeiten mit Bürgern an. welche
damals weniger als je am Platze waren, und beobachteten wenig die
militärische Disciplin und Subordination. In der That, es wäre der
Bürgerschaft leicht gewesen, sie zu überfallen und niederzumachen, aber Dank
den Kanonen der Festungswerke, welche vom Castell herabdrohtcn, wagte man
es nicht.
Dabei hatte man die unverzeihliche Thorheit begangen, sämmtliche
Klcidcrmagazine. Wäschvorräthe und Rechnungsregister der einzelnen Corps
in das sogenannte Lazarett) (auch Wassercastell genannt) bringen zu lassen,
welches eine Art Defcnsionscaserne außerhalb des nördlichen Thores (der Porta
Pia) bildet und, neu Hafen gelegen, mit dem Thore durch eine Zugbrücke ver¬
bunden ist. Da dieses Werk isolirt liegt und durch die Verbarrikadirung des
Thors von jeder Verbindung abgeschnitten war. man übrigens keine Garni¬
son darin ließ, so hieß dies Verfahren nichts Anderes, als diese ärarischcn
Gegenstände muthwillig der Vernichtung oder dem Feindepreisgeben, welcher,
außerdem noch Gelegenheit nehmen konnte, sich darin fest zusetzen und ge¬
gen die Nordseite der Stadtbefestigung mit Kleingewehrfeuer wirksam zu
operiren.
Am 14. war ich von Morgens früh an beschäftigt, von der Compagnie
Erdsäckc füllen und mit denselben die noch nicht fertige Barrikade an der
Porta Pia nach den Regeln der passageren Befestigungskunst vollenden
zu lassen; die Schiffe, fortwährend in Sicht, fingen gegen Mittag anzudam¬
pfen und näher zu kommen. Da ertönte der Generalmarsch. Die Bürger
rannten nach Hause, die Soldaten nach ihren respectiven Kasernen; meine
Compagnie ließ ihr Handwerkszeug liegen und begab sich ebenfalls schnell
nach ihrer Caserne. Dort machte man sich fertig, lud die Gewehre, und eine
jede Abtheilung rückte auf den ihr angewiesenen Platz. Jetzt vernahmen wir
die ersten Kanonenschüsse. Es waren fünf von den Schiffen, welche gleichsam
zur Begrüßung von Norden nach Süden fahrend, mit der Hafenbatterie und
den Batterien von Monte Marano. Monte Capuccino und Monte Gardetto
Schüsse wechselten, an welche sich endlich die entfernte Lünette auch noch an¬
schloß. — Ueber den Kampf mit den piemontesischen Schiffen, welcher sich
während der Belagerung vom 14.—29. September öfters wiederholte und
dessen Charakter sich fast stets gleich blieb, nur einige Skizzen.
Das Geschwader hatte an Bord gezogne Kanonen und zwar von grö߬
tem Kaliber; ihre Tragfähigkeit war mehr als eine halbe deutsche Meile. Sie
fingen den Kampf in der Regel in großer Entfernung an. Unsere Artillerie
benahm sich fast durchgehends sehr wacker. An jedem Geschütz befanden sich
durchschnittlich drei Oestreicher und ein Italiener. Da jedoch die Kanoniere
zur Bedienung sämmtlicher Stücke, deren Anzahl in der letzten Zeit sehr ver
mehrt worden war, nicht ausreichten, so mußte man die Artilleristen verthei¬
len und zur Aushilfe Freiwillige aus der Infanterie verwenden. Diese tra¬
ten bereitwillig hervor, und so hat die Infanterie an der I4tägigen Verthei¬
digung der Festung denselben Antheil als die braven Kanoniere. Unter den
Artillerie-Offizieren, die sich auszeichneten, nenne ich vorzugsweise den Capitän
Meyer, der im vorigen Jahre bei Solserino sich sehr hervorgethan hatte und
hier die Feldbatterie Ur. 9. commandirte, den Lieutenant Kraus, ebenfalls
ein Oestreicher. welcher mehreremale auf Monte Gardetto die feindlichen
Schiffe übel zurichtete, den Lieutenant Abbe (ein Preuße, im richtigen Schie¬
ßen der Beste), den Major Conte Chaini. der die Batterie Ur. 10 (eine
Parmesanische) befehligte, und den Oberlieutenant Weißmantel. der Comman¬
dant der Leuchtthurm- und Hafenbatterie war.
Begannen die Schiffe ihr Feuer, so genügten in der Regel den Unsrigen
die ersten Schüsse der Erwiderung, um ihnen zu beweisen, daß unser altes
eisernes Geschütz nicht im Stande sei, sein Geschoß auch nur die Hälfte der
Entfernung zu schleudern; die ersten Kugeln schlugen ans dem blauen Meere
auf. machten dort einen weißen Punkt, die Kugel erhob sich noch 2—3 mal
und zeigte ihre Richtung durch Aufschlagen auf dem Wasser an, endlich
versank sie ohne Schaden gethan zu haben. Ueber uns hingegen sausten die
feindlichen Kanonen-Spitzkugeln mit fürchterlichem Getöse weg, da wo sie hin¬
fielen, beträchtliche Verwüstungen anrichtend.
Hätten die piemontischen Schiffe besser geschossen, so wären unsre Werke
stets mit Verwundeten angefüllt worden. Mag vielleicht die hohe Elevation
mit welcher sie schießen mußten, für ihre langen, hohlen, bolzensörmigen Spitz¬
kugeln, welche entweder schon im Fluge wie Granaten zersprangen oder erst
nach dem Einschlagen platzten und zündeten, nicht gut anwendbar sei» —
wenigstens °/° aller Schüsse gingen über unsre Werte in die unglückliche Stadt
oder oft noch über die jenseits der Stadt gelegenen Hauptwerke weit in das
Land hinein.
Ich hatte zwar am ersten Tage der Beschießung keine Gelegenheit, oben
von den Werken aus das Gefecht mit anzusehen, denn meine Compagnie be¬
setzte damals das südliche Stadthor mit der anstoßenden crenelirten Mauer,
allein von dort aus sahen wir jeden Schuß von der Batterie des Moate
^apuccino und Monte Gardetto und hörten die einzelnen Schüsse und Breit¬
seiten der Schiffe. Man konnte rechnen, daß zehn ihrer Schüsse nur durch
unen von uns beantwortet wurden. Nachdem sie eine Zeit lang unnütz ge¬
feuert hatten, zogen die Feinde es unkluger Weise vor bis dicht unter die
Werke vorzufahren, wo aber zwei von ihnen vom Monte Gardetto so ausge¬
zahlt wurden, daß sie eiligst das Weite suchten und südostwärts steuerten,
nachdem sie große Beschädigungen an dem Masten- und Segelwcrk erlitten hatten.
Das Gefecht dauerte von Mittags bis Uhr Nachmittag wo die
Schiffe verstummten und südwärts dampften. Wir alle hatten das Gefühl
von Siegern in der Brust, und als uns von der Kaserne die dampfende
Nachmittagssuppe gebracht wurde, schmeckte sie Allen besser als gewöhnlich.
Da wurden wir aufs Neue aufgeschreckt, aber diesmal durch ein nicht
enden wollendes Hurrah, welches sich auf der vor uns liegenden Lünette hören
ließ. Da wir den Grund nicht kannten, stiegen wir auf die Mauer und sa¬
hen in einiger Entfernung den Generalstab der Armee, an der Spitze Gene¬
ral Lamoricivre, von der Höhe herunterkommen, bei dem rechts von uns ge¬
legenen Campo trincerato vorbei, wo ebenfalls die Besatzung auf den Wällen
stehend ihr „vive I^moi'ieiöi'ö" in verschiedenen Sprachen hören ließ, gegen
uns zu. Auch wir riefen aus vollem Herzen „Es lebe Lamoriciöre, es lebe
Pius der Neunte." Er zog unter endlosem Jubel des Militärs in die Stadt
ein. Daß heute die Schlacht vou Castelfidardo verloren war, wußten wir
noch nicht, eben so wenig, daß hinter ihm keine Truppen mehr kommen wür¬
den. Als wir es erfuhren, blieb uns wenigstens der Trost, nun einen Führer
zu haben, dessen Mangel den Intelligenteren von uns bereits fühlbar wurde.
Kaum war er im Delegationspalaste abgestiegen, als aufs Neue der Kampf
mit den rückkehrenden Schiffen begann. Die Kanoniere hatten.ihre Werke be¬
reits verlassen, um in der Stadt sich ein wenig mit Brod und Wein zu stär¬
ken; erst nachdem schon zehn Minuten lang von den Schiffen gefeuert worden
war, begannen die Unsrigen das Feuer mit gleichem Erfolge wie zuvor zu
beantworten. Um sechs Uhr war Ruhe. Der Feind sollte 120 Todte und
Verwundete haben, wir hatten deren 10—12. Wir rückten in die Kasernen
ein, in welche einzelne Kugeln, ohne großen Schaden zu thun, gefallen waren.
Die Bürgerschaft begann sich wieder auf den Straßen zu zeigen, nachdem den
ganze» Nachmittag jeder Laden, jedes Fenster geschlossen gewesen. Man sprach
von einem zwischen General Lamoriciöre und Bice-Admiral Persano abgeschlos¬
senen Waffenstillstands Gegen Abend kamen einzelne Jnfanteristen von ver¬
schiedenen Bataillonen vom Schlachtfelde an, desgleichen zwei Geschütze Artillerie, >
eine Kriegskasse und die Fahne des ersten Fremdenregiments. Von ihnen er-
fuhren wir die Details von Castelfidardo. — In der Nacht Allarm, der sich
diesmal jedoch als falsch herausstellte.
Am Tage darauf, am 15. September, sahen wir die Flotte in großer Ent¬
fernung in Linie stehen und die Blokade beobachten. Die Nachricht von
einem 48 stündigen Waffenstillstand bestätigte sich. Daß derselbe jedoch kein
Vorbote des Friedens sei, bewiesen uns die Tagesbefehle des Generals L"-
moricivre die sofortige Bildung einer Genie-Hilfs-Compagnie betreffend, jv-
wie die Fortsetzung der Verrammlung an den Thoren. —
Jetzt sahen wir von den hochgelegenen Festungswerken aus die Zeltlager
der Piemontesen. welche auf Entfernung von einer deutschen Meile in einem
riesigen Halbkreise die Stadt und Festung einschlossen, Die Jrländer und
ein Jägerbataillon machten Patrouillen, wie fast jeden Tag, und stießen oft
in geringer Entfernung auf Vedetten und Vorposten, welche sich jedoch stets
zurückzogen. Die Jrländer kamen nie heim, ohne eine Requisition von Ochsen
bewerkstelligt zu haben, was aber später untersagt wurde. Die Theuerung
begann fühlbarer zu werden und trotzdem sah man auf den Gassen stets eine
Menge Soldaten, welche dem Bachus zu stark den Hof gemacht hatten. Im
Kaufe des Tages ging eine Deputation der vornehmsten Bürger zum General,
um ihn zu bitten, das nutzlose Blutvergießen sowol im Interesse der Truppen
als auch der Stadt durch freiwillige Uebergabe zu verhüte», und um ihm in
diesem Falle eine Summe Geldes für jeden Soldaten anzutragen; der General
verwarf diese Zumuihung. Diesmal verging die Nacht ruhig. Am 16. früh
stand die Flotte noch auf derselben Stelle. Die Stadtthore waren heut den
ganzen Tag gesperrt; nur ein kleines Pförtchc» war für die Passage in und
aus der Stadt geöffnet. Die Landleute, deren nur einige kamen, brachten sehr
wenige Lebensmittel mit und entfernten sich bei Zeiten.
Heute wurde in der Stadt eine verschärfte Proclamation seitens des Gra¬
fen de Quatre-Barbes, Civil-Gouverneur des Platzes, behufs Ablieferung der
Waffen und des Verhaltens der Bürgerschaft angeklebt, wodurch letztere be¬
wogen werden sollte, Cas6s und Nestaurativnslokale nicht zu schließe». Ein
Theil der Soldaten schien, nach ihren Reden zu urtheilen, einigermaßen ent-
muthigt. Sie behaupteten, vielleicht mit Recht, daß mit 4000 Mann ein
Widerstand gegen 40,000 Mann Landtruppen und t0 Kriegsschiffe nutzlos
sei und sie nur ins Verderben führen könnte; andere waren höchst kampfbe¬
gierig. Ich selbst wurde zum General Lamoricivre als permanente Ordonnanz
commandirt und mußte daher mich bei ihm im Dclegationspalastc melden.
Er litt stark um der Gicht, war jedoch deshalb nicht minder disponirt.
seine Geschäfte wie gewöhnlich zu verrichten. Sein Generalstab, mit dem er
grade zusammen speiste, bestand mit Ausnahme des Civil-Gouverneurs und
des Capitäns de Lorgerie aus lauter junge» Offizieren. Seine Fenster waren
so gelegen, daß man den ganzen Hafen, so wie eine jede Bewegung der
ankernden Flotte übersehen konnte. Im Palaste war ein sehr reges Leben;
außer dem General en chef, welcher mit seinem Generalstab, seinen Ordonnanzen,
den verschiedenen Bedienten und seiner Wache den dritten Stock einnahm, be¬
fanden sich im zweiten Stock die Wohnung des Brigadegcnerals de Courten
mit einer ähnlichen Suite, das Bureau des Civil-Gouverneurs, welcher
mit der polizeilichen Gewalt betraut und deshalb in solchem Momente unge¬
mein überlaufen war, endlich die Wohnung und das Bureau des Truppen-
commandanten von Anconamit den nothwendigen Individuen. Jo ersten
Stock war das Telegraphenbürcau, unten die Hauptwache und die östreichische
Cavallerie-Schwadron. Des Rennens der Ordonnanzen und Offiziere, welche
Meldungen zu machen hatten, war den ganzen Tag kein Aufhören.
Ich selbst war viel unterwegs;" denn bald mußte ich diesen oder jenen
hohen Offizier zum General en chef befehlen, bald den Platzcommandanten.
Trup^eneommandanten, diesen oder jenen Bataillonschef. Die Nacht schlief
ich im Vorzimmer des Generals; er selbst hatte sich um zehn Uhr zu Bett
begeben, nachdem er um neun beim Abendrapport wie gewöhnlich seine
Befehle selbst an die versammelte» Oberoffiziere gegeben hatte. Um el» Uhr
Alarm. Der General war der erste, welcher aufgeweckt durch einige Schüsse
seitens der Schiffe aufsprang und seiue ganze Umgebung durch den Ruf:
„vedout Nessivurs er vos postss" weckte. Die Truppen waren pünktlich auf
ihren Posten; allein umsonst, nach '/- Stunde Feuern war alles ruhig. Diese
Alarmirungen geschahen fast jede Nacht und sollten seitens der Feinde dazu
dienen, unsere Garnison zu ermüden.
Am 17. Gefecht mit den Schiffen von acht Uhr Morgens bis Mittags,
von unserer Seite 13 Todte und Verwundete. Der General machte auf die
im Gefecht begriffenen Forts und Batterien eine Route zu Wagen; ich mußte
aus dem Bocke ihn begleiten, welche Ehre mir oft zu Theil geworden ist. da
er seiner Unkenntniß der deutschen und italienischen Sprache wegen stets Leute
in seiner Umgebung nothwendig hatte, welche im Nothfalle ihm zum Dol¬
metscher dienen konnten.
Er belobte und ermunterte die Truppen, welche wie gewöhnlich sich einen
Spaß machten, die Schiffe zu tractiren. Einen Artilleristen, welcher seines
vorzüglichen Benehmens und seiner Geschicklichkeit wegen ihm recommandirt
wurde, machte er auf der Stelle unter dem Sgusen der feindlichen Riesenspitz-
kugeln zum Offizier, was indessen den Betreffenden nicht abhielt, seinen Play
am Geschütz noch 24 Stunden beizubehalten. Auf einem andern Werke, am
Monte Gardetto ernannte er einen Sergeanten des dort aufgestellten ersten
Jägerbataillons, einen gewissen Frank (gebornen Kölner) wegen bewiesener
Unerschrockenheit im Feuern und bei Ausführung einer sehr gefährlichen Schlcich-
patrouille, sofort zum Offizier. Trotz dem sah ich auch diesen meinen guten
Freund noch acht Tage später mit dem Gewehr in der Hand seinen Dienst
thun; als seine einzige Auszeichnung trug er eine Ofsiziersmütze.
Zu Mittag trat Ruhe ein; ich entfernte mich und ging in der Stadt in
eine Osteria, um zu speisen. Auf dem Wege überzeugte ich mich, daß viele
Kugeln in die Häuser gegangen sein mußten; denn einzelne derselben waren
durchlöchert, an anderen Stellen lagen wieder zertrümmerte Ziegel, Fenster und
Mauerschutt auf den Straßen. Im Speiselokale selbst traf ich viele Soldaten,
welche sich ihre kleinen Erlebnisse mittheilten, wobei natürlich auch Münch-
hausiaden vorkamen. Auch kamen jetzt wieder die Bürger zum Vorschein, wie
jedesmal, wenn momentan Ruhe eintrat. Auch unter ihnen waren schon
einige das Opfer der feindlichen Kugeln geworden. Alle machten ängstliche
Gesichter, namentlich die Frauen. Die letztern sammt ihren Kindern wurden
indeß wenig sichtbar; denn sie saßen meistens in den Kellern, und ich selbst
habe zufällig einen großen Keller zu Gesicht bekommen, wo 200 menschliche
Kreaturen volle acht Tage mit Brod und Wasser ihre Existenz gefristet hatten.
Dazu gesellte sich der Anblick der meist menschenleren Straßen, die Theuerung,
das dumpfe Brüllen der Geschütze, das Platzen und Sausen der Bomben,
das Rasseln der Ziegel und des Mauerwerks, um jedem ein gewisses Gefühl
moralischer Gedrücktheit einzuflößen, gegen welches die Soldaten allerdings
durch den ihnen gelieferten Wein mehr oder minder unempfindlich gemacht
wurden.
Mittags kam ein Parlamentärschiff mit weißer Flagge an den Hafen und
schiffte eine Deputation an den General Lcunoriciöre aus; sie bestand ans einem
Fregatten-Capitän und einem Leutenant. Sie begaben sich unter Begleitung
ins Hauptquartier, wo ihre Anwesenheit nur einige Minuten dauerte. In
was ihre Aufträge bestanden, weiß ich nicht, aber daran, daß sich von 2 Uhr
Nachmittags bis um eV2 Uhr Abends das Gefecht erneuerte, konnte ich sehen,
daß sie zu keinerlei Unterhandlungen geführt hatten.
Am 18. 19. und 20. wiederholten sich die gleichen Scenen ohne merklichen
Unterschied; im Hauptquartier war das regste Leben, Dispositionen wurden
unaufhörlich getroffen. Befehle ausgegeben.
Der General, den ich bald heftig werden, bald wieder heiter lachen hörte,
schien etwas launisch zu sein, was jedenfalls eine Folge des Podagras war.
Kr ließ heute eine Proclamation an sämmtliche Straßenecken anschlagen, wo¬
rin er der Bürgerschaft und den Soldaten bekannt macht, daß am 17. General
Goyon in Rom mit 25,000 Mann und 48 Geschützen angekommen sei und
daß ebenfalls das französische Geschwader aus den sicilianischen Gewässern
Befehl erhalten habe, ins adriatische Meer zu segeln. — Auf jeden Fall hatte
er Hoffnung auf bewaffnete Intervention Frankreichs, und die später sich als
inig herausstellende vielfach besprochene Depesche de Merodes an den franzö¬
sischen Konsul in Ancona mußte ihn darin noch bestärken.
Am 21. Morgens Kampf mit den Schiffen wie gewöhnlich. Mittags
verlegte der General sein Hauptquartier aufs Castell hinauf; ich mußte natür¬
lich folgen. Von hier aus übersahen wir den ganzen Festungsrayon und
kannten deutlich wahrnehmen, daß der Cernirungskreis um die Stadt enger
geschlossen worden war.
Durch die Bäume hindurch gewahrten wir manchen piemontesischen Doppel-
Posten, und auf den umliegenden Höhen konnten wir ganz deutlich die ver¬
schiedenen Waffengattungen erkennen.
Der General äußerte im Castell die Hoffnung, sich hier 2—3 Monat halten
zu können. — Auf den Forts an der Seeseite währte der KcmrHf mit der
sardinischen Flotte fort, welche sich aber heut näher als gewöhnlich postirt
hatte. Dies bekam ihr in einzelnen Fällen übel. So hatte sich die Feldbatterie
Ur. 9 mit zwei Geschützen unter Capitän Meyer verdeckt am Ufer aufgestellt
und zwang eine Korvette sich mit vielem Schaden aus dem Feuer zu ziehen.
Auch von der Lünette San Stefano, welche dem Monte Gardetto secundirte,
wurde brillant geschossen; der dortige Commandant. Overlieutenant Abbe,
brachte unter Anderem einer Korvette fünf Schuß nacheinander bei.
Am 22. früh Kampf mit den Schiffen. Unsre Verwundeten und Todten
waren bereits auf 70 Mann angewachsen; das Spital, welches zum Zeichen
der Neutralität eine schwarze Flagge auf der Zinne hatte, war außerdem voll
von Kranken. Die Kugeln flogen auch dort hinein; die Konsulate hatten be¬
reits vom ersten Tage an, ebenfalls zum Zeichen, ihre Nationalflaggen aufge¬
steckt. Gegen Mittag Vorpostengefecht zwischen unsern Truppen und den pie-
montesischen Landtruppen. Der Feind delogirte mit einigen Bersaglieri>Com-
pagnien unsre in einer im Nordwesten der Stadt gelegenen alten Lünette,
sowie auf der an der Straße nach Suügaglia gelegenen Ziegelei aufgestellten
Vorposten; da dies zufällig Schweizer waren, so liefen diese auch hier früher
davon, ehe es nothwendig gewesen wäre. Nach kurzem Gefecht war der
Feind im Besitz der a,leer Lünette und konnte nur durch das Feuer unsrer
Geschütze abgehalten werden, sich auch in der Nordvorstadt festzusetzen, was
er übrigens im Laufe der nächsten Nacht ungestört that. Wir begannen unser
Feuer mit einigem Erfolge auf Colonnen und kleinere Abtheilungen, welche
sich hin und wieder zwischen den Culturen und Campagnen zeigten. Die
Lünette San Stefano und das Werk ans dem Monte Pulito that desgleichen.
Nachmittags wurde jedoch das Castell und das Campo trincerato ebenfalls
höchst wirksam von einer Feldbatterie gezogener Kanonen mit Granaten,
Vollkugeln und platzenden Spitzkugeln beschossen. — Diese Batterie stand auf
dem wol dreiviertel deutsche Meilen nordöstlich gelegenen dominirenden Berge,
und schon der zweite Schuß platzte so genau über dem Castell. daß der Feind die
Elevation seiner Stücke beibehielt und uns großen Schaden that. Hätte die
feindliche Artillerie die Zünder ihrer Granaten besser zu tempiren gewußt, so
hätte sie uns hier decimirt. So aber beschränkte ?sich heute unser Verlust
im Castell auf sechzehn Todte und Verwundete und viele Beschädigungen an
den Gebäuden.
Wir konnten dieser Batterie nicht antworten, sondern schössen wie schon
gesagt aus nähere Ziele. General Lamoriciöre, welcher im Castell allein rings
umherging, belohnte und ermunterte die Kanoniere, welche jeden guten Schuh
mit Hurrahruf und Mützenschwcnken begleiteten; auch hier bildete die Infan¬
terie einen Theil der Bedienungsmannschaft, Währenddem hatten die Schiffe
ihren Kampf mit den Strand- und Hafenbatterien fortgesetzt und beschossen
denk unnützer Weise das Wassercastcll, wo kein lebendes Wesen mehr war. —
Indem mir heute ein Antrag behufs Uebertritt zur Geniecompagnie als Feld¬
webel gemacht wurde, mußte ich den General um Erlaubniß fragen. Er ent¬
ließ mich mit den Worten: „I^nes votre äevmr, et ^6 xensei-ki ^ vous."
Meine neue Compagnie war den Tag über an verschiedenen Punkten der
Stadt und Festung zu Befestigungsarbeiten verwendet und hatte ihren Posten
während der Nacht auf dem Monte Gardetto in einer dünn gemauerten Baracke
in welcher ich als Bureau einen kleinen abgesonderten Raum besaß. — Den
Rest der Belagerung habe ich also vom Monte Gardetto mit angesehen, welcher
auf der einen Seite steil gegen das Meer abfällt, auf der andern ebenso steil
gegen das Land, wo er gegen das in Süden und Westen gelegene, Thal in
Gemeinschaft mit dem jenseits liegenden Monte Pulito und San Stefano ein
festes Bollwerk bildet; er selbst ist vom Monte Capuccino durch ein tiefes
schmales Thal getrennt, welches durch eine crenelirte Mauer im Westen gegen
Landangriffe geschützt wird.
Hier standen außer der Artillerie und uns noch einige Compagnien Ber-
saglieri. Meine Compagnie war schwach und bestand aus gemischten Ele¬
menten. Ein Theil waren Italiener, der größte Theil jedoch Oestreicher, wie
auch unser junger Capitän.
Indem ich mich ans den ausdrücklichen Wunsch des Capitäns mehr um
die Administration, als um den Dienst zu kümmern hatte, war ich viel unter¬
wegs, behufs Herbeischaffung der nothwendigen Lebensmittel aus der Stadt,
sowie der Gelder von der Intendanz. Trotz dessen aber mußte ich mich öfter
um die Plätze begeben wo gearbeitet wurde. — Der Weg nach der Arabe hin
und zurück war immer gefahrvoll; denn das Thal und die darin gelegenen
Häuser der Vorstadt wurden von den zu hoch geschossenen Projectilen der Schiffe
und der Landbatterie so zu sagen rasirt. Links und rechts neben mir schlugen
dieselben ein, und mehreremal ließ sich ihr Pfeifen dicht hinter mir vernehmen.
Das Aussehen der Stadt wurde immer trauriger, der Trümmer immer mehr.
Die Pausen, in welchen man früher noch Einwohner zu sehen bekam, fielen
ganz weg, da das Feuer jetzt ohne Unterbrechung Tag und Nacht dauerte.
Am 23. früh war Kriegsrath auf dem Castell. Man wollte die Stimmung
des Officiercorps zu Rathe ziehen. Dieses jedoch, meist aus Oestreichern be¬
stehend, beschloß die Vertheidigung fortzusetzen. An diesem und dem folgenden
Tage machte das feindliche Feuer von Früh bis Abend keine Pause, wenigstens
von der Landseite nicht. Die Schiffe wurden am 24. von, Monte Gardetto
ans durch Oberlieutenant Krams gezwungen, sich aus dem Stande zu machen,
namentlich eines, dessen Hintertheil ganz zersplittert wurde. Unser Verlust am
23. und 24. September betrug 30 Mann.
Am 25. war von der Seeseite her Ruhe; man sagte, den Schiffen sei die
Munition ausgegangen. Bis zum 28. Nachmittags, wo sie neue Munition
empfangen haben sollten, rührten sie sich nicht aus ihrer ankernden Stellung.
2 Seemeilen vom Hafencingange entfernt. Dagegen hatte der Feind auf der
Landseite große Fortschritte gemacht, denn er hatte bereits Wurfbatterien und
Demontirbatterien auf 3000 Schritt Entfernung angelegt und überschüttete die Un¬
sern, die bereits stark erschöpft waren, mit einem furchtbaren Kugel- und Granaten-
Hagel. Ueber acht Tage hatte unsre Gcschützmannschaft unabgelvst die Geschütze
bedient und die Nacht nicht geschlafen, auch waren sie hin und wieder schon
unregelmäßig verpflegt worden. Viele Geschütze waren schon unbrauchbar, oder
wenigstens beschädigt, und das Arsenal nicht im Stande, dem überall abzuhelfen.
Bereits wurden Befehle zum Pulvcrsparen gegeben, ein Beweis, daß es daran
zu mangeln anfing.
Am 26. Morgens währte die Beschießung wie gewöhnlich sort; der Nach¬
mittag war heißer; um 2 Uhr wagten die Piemontesen den ersten Sturm auf
den Monte Pulito und einer starken Colonne Infanterie und einigen Jäger¬
compagnien. Die Kartätschen richteten unter ihnen große Verwüstungen an.
Das dort unter dem Befehl des braven Obrist Vogelsang stehende erste öst¬
reichische Jägerbataillon schlug mit Entschlossenheit die Feinde mit Salven und
einer Bayonnctattaque ab. verlor aber seinerseits viel Leute; denn die nicht
minder kühnen piemonteftschen Bersaglieri lagen ganz dicht vor uns als
Tirailleure hinter den Bäumen, so daß sie selbst die Kehle des Werkes mit
ihren Spitzkugeln beschießen konnten. So tödteten sie uns 2 Offiziere und
23 Gemeine. Nachdem der Sturm abgeschlagen, wurde er eine Stunde später
wiederholt; jedoch ohne besseres Resultat. (Schluß folgt,)
Die neueste Post aus China brachte die Meldung, daß die Truppen der
verbündeten Westmächte, nachdem sie das Tartarengeschwader des Himmels¬
sohnes abermals in die Flucht geschlagen, vor Peking angelangt sind. So
könnte es interessant sein, wenn wir uns von Neapel und Kassel, Ungarn und
Schleswig-Holstein oder wo sonst die letzten Ereignisse uns fesselren, einmal
aus ein paar Augenblicke in jene ferne Kaiserstadt Ostasiens versetzten.
Peking, die Hauptstadt der Provinz Tschyli uno des ganzen chinesischen
Reiches, liegt in einer weiten wohlangebauten Ebne am Antw. einem Ueber¬
flusse des Pedo. Die Umgebung ist sehr anmuthig: Getreidefelder wechseln
mit Gärten und Pflanzungen wohlriechender Sträucher und Bäume, zwischen
denen sich riesige Cypressen wie schwarze Säulen erheben, zahlreiche Tempel
mit bunten glasirten Ziegeln glänzen, malerische Bonze^klöster und große Fried¬
höfe mit grünen Bäumen sichtbar sind. Dazwischen bewegen sich auf den
Straßen, die nach den Thoren führen, Massen von Fuhrwerken und sonstigen
Transportmitteln: Wagen mit Getreide, mit dem Arak der Mongolei, mit
der Butter von Mutter. Tragsessel von wunderlichen Formen und grellen
Farben, lange Reihen von Eseln und Dromedaren mit Waaren aus Ruß-
land oder Erzeugnissen der Mandschurei. Bon Osten her führt eine beson¬
ders schöne mit großen Granitplatten belegte Straße nach der Stadt, die hier
mit einem hohen steinernen Triumphbogen beginnt.
Peking besteht, gleich allen größeren Orten Chinas aus zwei verschiedenen
Städten: der Mandschuren- und der Chinesenstadt, die zwar hart an ein¬
ander grenzen, aber durch Mauer und Graben von einander getrennt sind.
Jene, die Mandschurenstadt, (Kingtsching) liegt im Norden und bildet ein
vollkommnes'Viereck, diese, die Chinesenstadt (Wailotsching) hat. südlich sich
anschließend, die Gestalt eines länglichen Quadrats. Beide sind mit hohen
Mauern und tiefen Gräben umgeben. außerhalb deren 12 große Vorstädte sich
hinziehen. Der Gesammtumsang der Stadt wird auf ziemlich sechs deutsche
Meilen angegeben, indeß ist zu bemerken, daß die Häuser und selbst die Pa¬
läste der Fürsten (Wang) fast ohne Ausnahme einstöckig sind und daß die
Mauern ausgedehnte Gärten und Parks mit Teichen einschließen. Im All¬
gemeinen ist Peking sehr leicht gebaut, und viele Hänser bestehen nur ans
Holz. Der Grund davon sind die Erdbeben, die hier sehr häufig und hef¬
tig auftreten, und von denen das im Jahre 1662 gegen 300,000, dan, von
1732 über 100,000 Menschen begraben haben soll. Alles ist gesetzlich vor¬
geschrieben: das Gesetz bestimmt, wie viel Läuten der Mandarin erster Klasse
«n seiner Fayade anbringen, wie viel Ziegel er zum Bau seines Hauses ver¬
wenden, wie viel Höfe er haben darf; es sagt, wie viel davon dem Manda¬
rin zweiter, wie viel dem dritter Klasse zukommt, u. s. w. Auch der Kaiser
'se in dieser Hinsicht durch Herkommen und Recht beschränkt, auch er ist ge¬
nöthigt, zu ebner Erde zu wohnen. Im klebrigen mangelt es der Stadt
nicht an phantastischer Formen- und Farbenpracht, doch darf man daran nicht
den Maßstab abendländischen Geschmackes legen.
Die große Ausdehnung Pekings ist Ursache gewesen, daß die Reisen¬
den ihm eine ungeheure Einwohnerzahl gegeben haben. Timofsky sprach von
zwei Millionen, Andere fügten noch eine halbe hinzu. Wir halten uns an
Sacharosfs Angaben (Arbeiten der k. russ. Gesandschaft zu Peking 2. Bd. Ber¬
lin. Heinicke. 1858), der aus den Registern der chinesischen Polizeibehörden
schöpfte und die Zahl der Einwohner im Jahr 1845 auf 1,648.814 berechnet.
Davon kamen ungefähr 75,000 aus Beamte und deren Familien, 348.000 auf
Soldaten und Polizei. 557,000 auf Handwerker und Kaufleute, 577.000 auf
niedres Volk. Bettler ^und Mönche und 89.000 aus die Turkestaner, die seit
einiger Zeit sich hier angesiedelt haben.
Die Mandschurenstadt hat neun, die chinesische sieben Thore, die sich an
Größe und Bauart gleichen. Sie werden von mehrstöckigen starken Thürmen
aus blauen Ziegeln überragt. In jedem befindet sich ein MiUtürposten, ein
Zollbeamter und ein Pvlizeiviener, letzterer, um den Reisenden die Pässe (Piao)
abzunehmen. Vor jedem Thore ist eine gegen 400 Fuß weite Fläche abge¬
stochen, die, von einer halbkreisförmigen Mauer umgeben, einen Waffenplatz
bildet. Daneben gehen Rampen in die Höhe, welche der Kavallerie gestatten,
auf die Stadtmauern hinaufzureiten. Letztere haben Schießscharten und ihre
Höhe beträgt bei der Mandschurcnstadt 45, bei der chinesischen 30, ihre Dicke
hier wie dort 30 Fuß, sodaß vier Wagen nebeneinander auf ihnen hinfahren
können. Die Namen der Thore sind zum Theil wunderlich gewählt. Von
den beiden im Norden heißt das eine das Thor des Entzückens der Tugend,
das andre das Thor des dauerhaften Friedens. Unter den vier östlichen be¬
findet sich das Thor der ausgehenden Sonne, unter den südlichen ein Thor
der ewigen Beständigkeit, ein Thor der vollkommenen Ruhe, ein Thor der
Weisheit würdiger Wissenschaften und ein Thor des kriegerischen Ruhmes.
An fast allen trifft man Schaaren gesattelter und gczänmter Esel, auf deuen
man für etwa 4 Silbergroschen unseres Geldes pro Stunde die Mauer um¬
reiten kann. An den Ecken der letztern erheben sich Thürme wie über den
Thoren. Ueberall öffnen Kanonen drohend ihren Schlund; doch würden sie
den Alliirten bei einem Sturm schwerlich Schaden thun, da sie nicht gegossene,
sondern nur gemalte Feuerschlünde sind.
Die Mandschurenstadt bedeckt eine Fläche von zwölf englischen Quad-
ratmeilen und besteht aus drei Abtheilungen: der eigentlichenStadt der Mand-
schu (Neitsching), bewohnt von den Soldaten, Kaufleuten. Beamten und
Adeligen dieser Nation, der kaiserlichen Stadt (Hoangtsching) und der „ro¬
then" oder „verbotenen Stadt" (Tsukingtsching) d. h. dem Palaste des Kaisers.
Letzterer bildet den Kern des Ganzen; die kaiserliche Stadt, durch einen tiefe»
gemauerten Graben von ihm getrennt, ist gleichsam sein innerer Vorhof, die
Ncitsching, von dieser wieder durch eine Mauer geschieden, sein äußerer.
Der Kaiserpalast ist vielleicht die größte Fürstenwohnung aus Erden.
Ohne die ausgedehnten Gärten und die drei Höfe, die zu ihm gehören,
aber zur zweiten Abtheilung gerechnet werden, beträgt der Umfang dieses Ge-
bäudecomplexes. welcher ein längliches Viereck bildet, 6 Li, d. h. 10.656 Fuß.
Der Palast ist mit starken zinnengekrönten Mauern umgeben, die von rothen
Ziegeln aufgeführt und mit gelben Dachsteinen gedeckt sind. Ueber den vier
Thoren und den vier Ecken erheben sich Pavillons mit den bekannten ausge¬
schweiften Dächern. Das Innere der kaiserlichen Residenz zerfällt in eine
Reihe von Höfen, die mit Säulengängen und geschlossenen Galerien und Ge¬
mächern umgeben sind. Alles ist sehr reich und prächtig, aber nach unsern
Begriffen wenig geschmackvoll. Unter den zahlreichen Bauwerken, aus denen
die verbotene Stadt besteht, nennen wir nur das besonders reich verzierte Thor
Tuanmcn, den Tempel Tsching Hvang Miao, in welchem der Schutzgott der
Stadt verehrt wird, das schone Südthor Amen, den Prachtsaal Taihotian
(d. i. große Eintracht) wo der Kaiser auf seinem Thron den Großen des Rei¬
ches und den Gesandten des Auslandes Audienz ertheilt, den Palast der
Kaiserin (Kiünningl'ong), endlich den Kaiserpalast im engern Sinne, die „Woh¬
nung des klaren Himmels," wo der Beherrscher der Blume der Mitte den
Winter hindurch zu residiren geruht. Hinter demselben tritt man in einen
schönen, mit den ausgesuchtesten Sträuchern, Bäumen und Blumen bepflanzte«?
Garten. Wie in den meisten Privathäusern sind auch im Kaiserpniast die
Wände mit Sprüchen chinesischer Weisen und Dichter auf Papier beklebt, wel¬
ches letztere als Tapete dient. Die Thüren und Verschlage sind von Kam¬
pfer- oder Cypressenholz und mit Bildwerken verziert. Auch die Möbel be¬
stehen aus kostbarem Holz und blenden durch ihren Firniß. Gold, Silber,
Marmor und Porzellan sind allenthalben verschwenderisch angebracht. Nur
eins mangelt dem Palast wie allen Häusern Pekings — die Fenster haben
keine Glasscheiben, sondern sind nur mit Papier verklebt.
Der Stadttheil Hoangtsching, welcher den kaiserlichen Palast zunächst
umgiebt, ist, während ihn früher nur zum Hofstaat gehörige Personen bewohnten,
jetzt zum Theil in den Händen von Kaufleuten, die in einigen Straßen ihre
Läden ausgeschlagen haben. Den Haupttheil des Areals nehmen jedoch Gär¬
ten und Teiche ein. Eine der Merkwürdigkeiten dieses Stadttheils ist die nach
einem der hier stehenden Paläste führende Brücke aus schwarzem Jaspis, die
einen Drachen bildet. Ferner finden sich hier: der Tempel des Fohi mit einer
bundertannigen 60 Fuß hohen Bronzestatue dieses Gottes, die Tempel
Taimiao. den Ahnen des Kaiserhauses, Siwan Tschin Miao. dem Gott des
Windes. Ningho Miao. dem Blitzgott. Thiantschutang. dem Herrn des Him¬
mels geweiht (einst eine Kirche der französischen Jesuiten) sowie der große
Mongolische Tempel des Songtschuße, in welchem der Kotuchtu, einer der drei
Oberpriester der Lama-Religion, wohnt, und neben dem sich die Druckerei
befindet, wo die Gebetbücher für Tübet gedruckt werden. Endlich trifft man
in diesen Quartieren mehre prachtvolle Concert- und Schauspielhäuser, die von
dem berühmten Kaiser Kianiong erbaut sind, und fünf künstliche Hügel, von
denen der 140 Fuß hohe Kingschan, d. i> der rückstrahlende Berg, in der
Geschichte Chinas eine traurige Berühmtheit erlangt hat, indem sich auf ihm
bei der Katastrophe vou 1644 Hoaitsvng, der letzte Kaiser der alten chinesi-
schen Dynastie der Ming, nachdem er seine Familie umgebracht, an einem
Baume aufhing, um nicht in die Hände des Emporers Litschising zu fallen.
Es war der schrecklichste Tag, den Peking seit Dschingischans Zeit erlebte:
der Kaiser an jenem Baume, die Mehrzahl der Fürsten und hohen Beamten
hingerichtet, die Riesenstadt ein Feuermmeer, dessen Flammen die fernen
Berge der Tnrtarei rötheren und, bis weit in die Ebne von Petschili hinab-
strahlcnd, der zehn Meilen langen Karavane leuchteten, mit welcher das Ne-
belienhcer die Tausende von Centnern edler Metalle entführte, die sie in der
Stadt zusammengeraubt.
Sind die Bauwerke dieser beiden Stadttheile, aus der Nähe betrachtet,
mehr prunkvoll als schön, so nimmt sich das Ganze von einem der Hügel
oder Thorthürmc gesehen mit seinen Gärten und Wasserpartien sehr gut und
großartig aus. Einer der prächtigsten Punkte ist die sogenannte Marmor¬
insel in dem großen Teiche, der sich von der Nordmauer der kaiserlichen Woh¬
nung nach dessen Südmauer hinzieht. Die Pfade, welche sich durch die
Pflanzungen hinschlängeln, mit denen der Hügel in der Mitte dieses an¬
muthigen Eilands bedeckt ist, führen zu unzähligen köstlichen Aussichten, von
denen jede das außerordentliche Geschick der Chinesen bezeugt, Ähnlichkeiten
und Contraste in der Anlegung von Gärten und Parks wirkungsvoll zu ver°
theilen, Überraschungen hervorzubringen und charakteristische Landschaftsbilder
zu schaffen. An der einen Stelle sind Bäume und Sträucher nach ihren
Farben und Wipfelgestaltungcn aufs Beste geordnet. An einer andern senkt
sich ein wohlgepflegter Nasenplan. Da stürzt über zerklüftetes moosbehangenes
Gestein rauschend ein Wasserfall. Daneben widerhallen dunkle Grotten grollend
das Getöse des Katarakts und entwurzelte Stämme starren in wildes Gewirr
verflochten gen Himmel. Weiterhin wieder trifft das Ohr die Musik von
Glöckchen, welche so gestimmt sind, daß ihr Concert, wenn der Wind geht,
dem melancholischen Tönen einer Aeolsharfe gleicht. Kommt man endlich auf
dem Gipfel des Hügels an, so schweift das Auge über das ganze Bild der
gewaltigen Mongolenstadt, über den Kaiserpalast mit seiner blitzenden Be¬
dachung, seinen weiten mit ungeheuren Steinplatten gepflasterten Höfen und
über das Panorama des glänzenden Sees Kinhai und dessen Ufer mit ihren
zahllosen Gartenhäuschen und Kiosken, Tempeln und Palästen. — Ein an-
derer schöner Punkt ist der Bananengarten in der Nähe der weißen Marmor¬
brücke, die unter dem Kaiser Kanghi von den Jesuiten erbaut wurde. Er ist
mit allerlei Fruchtbäumen und duftenden Sträuchern bepflanzt, und in seiner
Mitte befindet sich der Pavillon Tschni Uunsin, d. i. der kleine Herbstwind.
Dieses Schlößchen zerfällt in vier verschiedene Theile, die durch Wasser von
einander getrennt sind. Im Sommer sind diese Kanäle mit Nenuphnr-Rosen
und den Blüthen von Wassernüssen bedeckt. In Mußestunden fährt der
Kaiser auf dem Wasser in einer prächtigen Gondel spazieren, und im Winter
sieht er seinen Mandschusoldaten zu, die ans der gefrornen Fläche Schlittschuh
laufen. Recht anmuthig nimmt sich aus der Ferne der am Ende des Sees
stehende Tempel Siam Tsanthan aus, der dem Gedächtniß einer Kaiserin ge¬
weiht ist, welche in China die Zucht der Seidenraupen einführte.
Die eigentliche Stadt der Mandschu, Neitsching, ist sehr regelmäßig ge¬
baut. Sie hat schnurgerade Straßen, von denen mehre über eine Meile
lang und 50 bis 60 Ellen breit sind, und drei große Plätze. Eine, die von
Osten nach Westen laufende Tschar Ngankiai, d. i. Straße der immerwäh¬
renden Erholung, welche für die schönste von Peking gilt, hat sogar eine
Breite von 30 Toisen, also 180 Fuß. Ebenfalls sehr große und elegante
Straßen sind die von der westlichen Langseite der kaiserlichen Stadt auslau¬
sende mit vier Triumphbogen geschmückte Sisse Failu und die von der öst¬
lichen Langseite bis an das Ostende der Stadt sich hinabziehendc Tvngtse
»Failu. Beide haben eine Länge von mehr als einer halben deutschen Meile.
Nehmen die Seiten jener Prachtstraße meist Paläste von Fürsten, Tempel
und Gerichtshöfe ein, so herrscht aus diesen letzteren beiden der Kaufmann
vor. Vor glänzenden Magazinen flattern an Masten und Stangen Banner
von Seide und Papier, welche in chinesischen Buchstaben Angaben über die
Waaren enthalten, die in dem Laden dahinter feil sind. Auf der Straße
wogt und wimmelt es von zahllosem Volk, und das Auge wird durch den
Wechsel der Trachten, die sich hier mischen, auf das angenehmste unterhalten.
Weit weniger Vergnügen gewähren die Straßen Pekings dem Geruchs¬
sinn. Wenn man sich erinnert, daß der Chinese beim Schlafengehen die Klei¬
der nicht ablegt, und daß in der Hauptstadt eine halbe Million Menschen
lebt, die keine andere Wohu- und Schlafstätte hat als verlassene Häuser und
Löcher in der Stadtmauer, und wenn man ferner weiß, daß der haushälte¬
rische Bewohner des himmlischen Reiches alle Absonderung des menschlichen
Körpers mit äußerster Sorgfalt in nicht immer fest schließenden Krügen und
Büchsen aufbewahrt, um sie zur Ackerdüngung zu verwenden, so kann man
sich einen ungefähren Begriff davon machen, was eine europäisch verwöhnte
Nase hier leidet.
Wie allenthalben im Süden lebt der Gcwerbs- und Handelsmann auch
hier mehr auf der Gasse als in Laden und Werkstatt, und das trägt unge¬
mein viel dazu bei, jene lebendiger zu machen. So erblickt man hier einen
bettelnden Bonzen neben einem gcsticulirenden Schauspieler oder Jongleur, da
einen Zuckerbäcker, der sein Fabrikat neben einem Tabakshändler ausruft,
dort wieder den wandernden Schuhflicker neben dem Geldwechsler. An der
einen Stelle bietet ein Handelsmann Antiquitäten aus der kunstreichen Zeit
der Tscheu und der Sang aus, um der andern preist ein Salbenhändler die
Frische und den Duft seiner Pomade an, an einer dritten siebt man im bun¬
testen Gemisch Garköche, Latcrnenmacher, Buchhändler, Sattler und Pfeifen-
fabrikuntcn sich mit den Producten ihrer Arbeit umhertummeln. Es gibt kein
Volk, welches das Sprichwort „Klappern gehört zum Handwerk" besser ver¬
stünde als die Chinesen, und da überdies nur den Mönchen das Betteln ge¬
stattet ist, so ist der Arme genöthigt, sich auf jeden Zweig der kleinen In¬
dustrie zu legen und alle Finessen desselben auszubeuten.
Ursprünglich sollten in der Stadt der Mandschu nur Soldaten wohnen.
Es war ein fest gewordenes Nomadenlager neben der chinesischen Altstadt:
der zum Landesherr» gewordene Feldherr mit seinem versteinerten Zelt und
seinem großen Drachenbanner in der Mitte, um ihn herum, nach Geschwadern
und Fähnlein abgetheilt, sein Heer. Die Quartiere dieser Stadt hießen
Banner, und sie wurden den Brigaden und Regimentern durch das Loos zu¬
getheilt. Jetzt ist das längst anders geworden. Die Soldaten sind zum
Theil Kaufleute geworden, zum Theil haben sie sich andern Beschäftigungen
zugewandt, und die Loose sind, namentlich in den Hauptstraßen, in fremde
Hände übergegangen. Nichtsdestoweniger besteht die alte Bezeichnung noch,
und auch die Mandschu-Truppen, die in der Stadt liegen, sind noch
nach den alten Bannern benannt. Im nördlichen Theil Pekings steht das
gelbe, im Osten das weiße Banner, im Süden das rothe und das blaue. Die
Nationalgnrde der Residenz (Llan Aong) führt ein grünes Banner, man ver¬
wendet sie indeß, wie bei uns manche derartige Institute, nur zu Nachwächter¬
diensten — die Mandschu-Kaiser sehe» keinen Vortheil darin, daß ihre chine¬
sischen Unterthanen die Waffen gebrauchen lernen.
Interessante Bauwerke in der Mandschurenstadt sind der Tempel Litai-Ti-
wcmg Miao und der des Konfutse. In dem ersten werden die Manen der
verstorbenen Kaiser von Fohi ein bis auf den zuletzt mit Tode abgegangnen
Taokwang verehrt. Zwei große reichbemalte und vergoldete Triumphbogen
von Holz bilden den Eingang. Im Innern findet man die Gedächtnißtnfeln
der einzelnen Herrscher aufgestellt, Schilde mit den Bildern und Leibsprüchen
derselben. Der Tempel des Konfutse grenzt an den zweiten Hof der kaiserlichen
Hochschule. Er enthält die Gedächtnißtafel des Philosophen mit der Inschrift:
„Stätte, wo man den alten und sehr weisen Konfutse verehrt." Ein Stück
davon trifft man die Tafeln des Mengtseu und dreier seiner Hauptschüler,
die als Weise zweiten Ranges gelten, noch weiter entfernt die Tafeln von 102
andern Gelehrten, die in die dritte Klasse verehrungswerther Weisen gestellt
sind. Auch vor diesem Tempel, stehen zwei Pnysang oder Triumphbogen, de¬
ren Bestimmung ist, das Andenken von Personen beiderlei Geschlechts zu er¬
halten, welche sich durch Tugend, Wissen oder wichtige dem Staat geleistete
Dienste ausgezeichnet haben.
Sonst sind hier noch zu erwähnen: der Tempel des Polarsterns (Siam
Mikong), eine türkische Moschee, ein großer Buddhistentempel, die russische
Marienkirche, sieben Bonzenklöster, mehre Gerichtshöfe, die Gebäude der Mi¬
nisterien des Auswärtigen (Lifan Thuan), der Ceremonien (Lipu). der Finan¬
zen (Hupu), des Kriegs (Pingpu), der Justiz tHingpu) und der öffentlichen
Arbeiten (Kongbu), sowie das Gouverneurs- und Polizeigebäude.
Sodann befinden sich hier in der Manschurenstadt die fremden Gesandt¬
schaften: die russische Mission, der Hof der Koreaner und der Hof der Mon¬
golen.
Endlich mag noch der außerhalb der Mauer des Neitsching und zwar
vor dem einen nördlichen Thor gelegne äußerst prachtvolle Tempel Tithan er¬
wähnt werden, der einen Raum von fast 200 Schritt ins Gevierte bedeckt,
und auf dessen Altar der Kaiser zu gewissen Zeiten des Jahres der frucht¬
bringenden Erde zu opfern hat.
Wir betrachten nun kurz die chinesische Stadt, welche eine Fläche
von 15 englischen Quadratmeilen bedeckt, und von der im Allgemeinen gilt,
daß sie weniger gerade und schöne Straßen und überhaupt ein weniger vor¬
nehmes Ansehen als die der Mandschu hat. Das Hauptthor, welches in
dieselbe führt, ist das Südthor. Der Mittelbogen desselben ist nur für den Kai¬
ser offen. Von hier geht eine gerade und sehr breite gepflasterte Straße mit¬
ten durch die Stadt bis an deren Nordende. Dieselbe ist ebenfalls zu beiden
Seiten mit Läden gesäumt. Die Mnndschusoldaten haben nicht das Recht,
in diesem Theil Pekings über Nacht zu bleiben. In fast allen Gassen gibt
es hier Garküchen, Wirthshäuser und unzählige von jenen „Blumenhäusern",
wo die Bajaderen von Sudscha. einer Stadt, die sich durch die Schönheit ih¬
rer Mädchen und ihre Gesckicklichkeit in der Abrichtung von Dirnen auszeichnet,
sich aufhalten. In dein Wailotsching wohnen ferner die Komödianten, die
Taschenspieler, die Seiltänzer, die Thierbändiger. kurz das ganze fahrende Volk
der Hauptstadt. Sodann trifft man hier eine Menge von Spielhöllen. End¬
lich aber befinden sich in diesen Quartieren auch mehre Marktplatze und ver¬
schiedene große Fabriken, besonders von Thon- und Glaswaaren.
Hier ist sodnnn die Richtstätte Pekings. Die Hinrichtung wird durch
Kopfabschneiden vollzogen. Gewöhnliche Verbrecher thut man nur im Herbst
und diinn massenweise ab. Die Hochverräther haben das Vorrecht, zu allen
Zeiten des Jahres vom Leben zum Tode gebracht werden zu können. Der
Scharfrichter ist in seinem blutigen Handwerk durch Uebung sehr geschickt ge¬
worden. Er trägt einen rothen Rock mit einer weißen Schürze und einen
rothen Hut mit einer hohen gcradstelienden Feder. Von den sehr zahlreichen
Hinrichtungen bilden sich tiefe Blutlachen, die jetzt, wo in Peking in Folge
der Empörungen in den Südprovinzen ein Kriegsgericht niedergesetzt ist, zu
förmlichen Blutseen angeschwollen sind.
Richtet man seine Schritte von diesem Ort des Grauens nach Nord-
Westen, so kommt man auf die Straße der Goldarbeiter und Juwelenhändler.
Sehr eigenthümlich ist die Art, wie man hier die Vornehmen handeln sieht.
Betrachte» wir jenen reichen Mandschu, wie er von seinem Pferde steigt und
mit seinem Hausmeister in das Gewölbe eines dieser Juweliere tritt. Derselbe
zeigt ihm ein kostbares Halsband aus Perlen von Ceylon. Der Edelmann
öffnet den Mund nicht, sein Benehmen ist würdevolle Kalt-, obwol er von
leidenschaftlicher Begier nach dem Schmucke brennt. Kein Wort wird zwi¬
schen den drei Personen gewechselt, und doch sprechen sie mit einander. Nur
mit den Fingern, die man bei ihren langen Aermeln kaum bemerkt, deuten sie
ihre Absichten an, der Kaufmann, was er fordert, der Edelmann, was er ge¬
ben will, der Hausmeister das Geschenk, welches er vom Händler dafür er¬
wartet, daß er seinen Herrn ihm zugeführt. So hört man auf der ganzen
Straße fast nie einen lauten Wortwechsel, nie einen Zank, und wo dies ja
einmal geschieht, ist sofort der Polizeimandarin bei der Hand, um den Streit
summarisch zu schlichten.
Südlich von der Juwelierstraße zieht sich die der Theater hin. Es gibt
deren sechs in Peking, und man spielt in ihnen ununterbrochen vom Morgen
bis an den Abend, Trauer- und Lustspiele, häufig auch Stücke, die man
Opern nennen könnte. Leute von Lebensart gehen indeß niemals hinein, ja
den Mandschu ist ihr Besuch geradezu verboten, und sie verlieren, wenn sie
dort betroffen werden, von ihren Mützen die Knöpfe, welche als Rangbezeich¬
nung dienen. Ein Stück vom Ende der Theaterstraße betritt man eine an¬
dere, wo fast nur Buchhändler wohnen, welche an jedem Neujahrstag eine
große Messe halten.
Besonders interessante Bauwerke im Wailotsching sind die beiden Tempel,
am südlichen Ende der obenerwähnten von Süden nach Norden laufenden Haupt¬
straße. Der auf der Ostseite ist der berühmte Tianthcm, ein längliches Viereck,
dessen Seiten zusammen 9 L>, d. h. 15,984 Fuß Länge haben. Prächtige Treppen
von weißem Marmor führen nach dem Heiligthum hinauf, an den vier Ein¬
gängen erheben sich Triumphbogen von demselben Material. Der Tempel zer¬
fällt in mehre Abtheilungen, von denen wir folgende erwähnen: Ein kreisrundes
Gebäude, welches den Himmel vorstellt und dessen Inneres mit 82 Säule»
geschmückt ist; Gold und Azur blenden von allen Seiten, das Dach stuft sich
in drei Stockwerken ab, von denen das oberste himmelblau, das mittlere gelb,
das unterste grün bemalt ist. Ferner ein runder Saal, in welchem die mit
dem Namen und den Lieblingssprüchen des herrschenden Kaisers beschriebenen Ta¬
feln aufbewahrt werden. Endlich der Tsckaikong, d, h. der Palast der bußfertigen
Zurückgezogenheit, wo der Kaiser sich durch dreitägiges Fasten auf das große
Opfer vorzubereiten pflegt, welches er in dem Tianthan jedes Jahr zur Zeit
der Wintersonnenwende dem Himmel darzubringen hat. Die Majestät des
Himmelssohnes zeigt sich an diesem Tage in ihrem vollsten Glanz. Die ganze
Garnison der Hauptstadt, der gesammte Hofstaat begleitet ihn dann in Gala.
Golddurchwnktc Banner flattern auf den marmornen Plattformen des Tempels,
und die kaiserliche Kapelle, hundert Musiker und tausend Sänger, stimmt eine
allheilige Hymne an, die an viertausend Jahre alt sein soll. Die Geister der
kaiserlichen Ahnen, welche auf den Altar herniedcrgestiegen sind, schweben auf dich¬
ten Weihrauchwolken zu Ende der Ceremonie wieder gen Himmel. Die Hand¬
lung macht trotz einiger Wunderlichkeiten in der That den Eindruck würdevoller
Großartigkeit. Die Musik aber ist aller chinesischen gleich, d. h. abscheulich.
Auf der Westseite der Hauptstraße steht der Sicnnvngthan, ein Tempel, der
dem Ersiiider des Ackerbaus geweiht ist, und wo der Kaiser jeden Frühling
die bekannte Ceremonie vollzieht, bei der er ein Stück Land umpflügt.
Wir erwähnen noch, daß Peking mehre wissenschaftliche Anstalten besitzt,
die Aehnlichkeit mit europäischen ihrer Art haben. Dahin gehört der Hanlin-
yuan d. i. der Wald der Pinsel, ein Ausschuß für chinesische Geschichte und
Literatur, der alle Gelehrten und Schulen des Landes beaufsichtigt, die Prü-
fungen der Staatsbeamten anordnet, die Neichschronik verfaßt und namentlich
auch die Erziehung des jeweiligen Thronfolgers zu leiten hat. Ferner die
schon erwähnte kaiserliche Hochschule, die sich vorzüglich mit chinesischer Gram¬
matik beschäftigt. Dann die Sternwarte, die von den Jesuiten und später
von den Engländern gute Instrumente erhielt, die Arzneischule, die Staats¬
druckerei, die auch eine officielle Zeitung druckt, zu welcher der jetzige Kaiser
Hienfu wiederholt durch Erlasse gegen ungetreue oder ungeschickte Generale und
Minister Beiträge lieferte, endlich die große kaiserliche Bibliothek, (Wenyuan
Ki)e, d. i. Abgrund der Literatur, genannt) die nach Abel Remusat nicht we¬
niger als 300.000 Bände besitzt. An wohlthätigen Anstalten hat Peking ein
Findelhaus (hier sehr nöthig), ein großes Spital und ein Institut zur Einim¬
pfung der Kuhpocken.
Schließlich mag noch erwähnt werden, daß die Hauptstadt Chinas auch
Glocken kennt, mit denen des Nachts die Stunden angezeigt werden. Die
sieben Hauptglvcken sind einander gleich: jede hat 12 Fuß Höhe und 40
Fuß Umfang und eine Schwere von 120 Centnern. Da sie bei solchem Ge¬
wicht nicht gut zu bewegen sind, werden sie mit hölzernen Hämmern geschlagen.
Im Sommer residirt der Kaiser in dem prachtvollen Palast Auenming
Auen, zwei Stunden nordwestlich von Peking. Diese Residenz, deren Name
„der runde und glanzvolle Garten" bedeutet, ist mit ihren Gärten und
Parks nach dem Bericht des französischen Missionärs Attiret so groß wie
die Stadt Dijon. Der Palast besteht aus einer Anzahl von Prachtge¬
bäuden, deren Vorderseiten allenthalben von Gold, Lack und Gemälden
strahlen, und die durch weite Höfe, Pflanzungen, Blumenbeete und Was¬
serflächen getrennt sind. Das Innere ist mit allen erdenklichen Kostbar¬
keiten Chinas, Japans und Indiens und selbst mit Kunsterzeugnissen Europas
geschmückt. Noch mehr Bewunderung erregen die Gärten. Auf einem Flä¬
chenraum von 60,000 englischen Ackern erheben sich zahlreiche künstliche Hügel,
die mit schönen Bäumen bepflanzt sind und zwischen denen sich anmuthige
Bäche hinschlängeln. Die letztern ergießen sich in kleine See», auf denen
prächtige Barken umherfahren. In den Thälern zwischen den Hügeln stehen
200 Lustschlößchen von den mannichfaltigsten Formen, die Giebel werden von Säu¬
len getragen, das Holzwerk ist vergoldet und lackirt, die Dächer sind mit hell¬
rothen, blauen, grünen und gelben Ziegeln in hübschen Mustern bedeckt, die
Treppen aus Felsblöcken gebildet, das Innere gleicht Feenpalästen. Aus dem
einen See endlich erhebt sich auf einer kleinen Insel ein Schloß mit mehr
als hundert Sälen, das selbst europäischer Schönheitssinn bewundern muß,
und von dem man den größten Theil der erwähnten Bauwerke und Anlagen
als Panorama vor sich liegen sieht.
Etwa eine Biertelstunde südöstlich von diesem kaiserlichen Prachtsitz ist das
Lager Uantschewa, wo die acht Banner des mongolischen Kontingents ennuyiren,
wenn sie aus ihrer Heimat jenseits der großen Mauer herberuscn werden. Sie
sind vollzählig 100,000 Mann stark. Wenn diese wilden Kinder der Steppe
die Ordre zum Eintreffen erhalten, so ists wie wenn ein Orkan aus dem Thor
der großen Mauer hervorbräche. Bevor sie in das eigentliche China einziehen,
opfern sie einen der Ihrigen, um in dessen Blut du Spitzen ihrer Waffen zu
tauchen, worauf der gewaltige Neiterschwarm, gefolgt von unermeßlichen Kameel-
zügen mit Gepäck und Proviant, den Weg nach Süden fortsetzt, um sich unter
die Drachenstandarte des Himmelssohns zu stellen.
Ob das die „tartarische Reiterei" ist, welche die Alliirten jetzt zweimal
schon zersprengt haben, wissen wir nicht. War sie es, so hätte das Menschen¬
opfer an den Vierecken der europäischen Infanterie, ihrer Disciplin und ihren treff¬
lichen Schußwaffen seine Kraft verloren. War sie es noch nicht, so stünde
den Verbündeten — vorausgesetzt, daß der Kaiser seine Mongolen, die ihm
ebenso gefährlich wie seinen Gegnern sind, überhaupt einzuberufen wagt —
der ernsteste Strauß noch bevor.
Zwei Jahre sind verflossen, seit das gegenwärtige preußische Ministerium
ins Amt trat, und es scheint an der Zeit, einen prüfenden Rückblick auf
seine bisherige Thätigkeit zu werfen. Selten hat eine Verwaltung unter so
günstigen Umständen die Leitung der Geschäfte übernommen : das Laud athmete
auf nach dem langjährigen Druck einer Reaction, welche im Innern jede ge¬
deihliche Entwicklung gehemmt, nach Außen Preußen eine Reihe schwerer De¬
müthigungen bereitet hatte; die freiwillige Berufung neuer Rathgeber der
Krone wurde mit Jubel begrüßt, die besten Dispositionen kamen denselben
entgegen, die Wahlen zum Abgeordnetenhause brachten ihnen eine unzweifel¬
hafte Majorität, durch ganz Deutschland zog ein frischer Zug neuen Hoffens.
Was hat das Ministerium unter so günstigen Bedingungen geleistet? Im
Innern unzweifelhaft viel. Wenn sich auch die nöthige Entschiedenheit dem
Herrenhause gegenüber vermissen ließ, wenn den widerwilligen Oberpräsidenten
nicht genug Ernst gezeigt wurde, so waren doch die Fortschritte und Resultate
bedeutend: freie Presse, freie Wahlen, freie Religionsübung wurden allge¬
mein als Wohlthat anerkannt. Anders in der auswärtigen Politik, in welcher
sich der Bruch mit dem alten Systeme am entschiedensten zeigen sollte und
die durch die Gewalt der Ereignisse zur wichtigsten Angelegenheit des Staates
wurde. Grade in den auswärtigen Fragen hatten die Männer, welche ans
Ruder kamen, das Ministerium Manteuffel am schärfsten getadelt, unermüdlich
hatte das preußische Wochenblatt auf die Schmach von Olmütz. auf Schles¬
wig-Holstein und Kurhessen hingewiesen. Um so lebendiger mußte im No-
vember 1858 die Hoffnung sich regen, daß eine energische Politik Preußen
wieder nach außen heben werde: die Ansprache des Regenten an seine
neuen Räthe schien dies zu verheißen; das dänische Cabinet zeigte sich,
noch ehe von Berlin aus ein Schritt geschehen, nachgiebig und hob die
Gesammtverfassung für Holstein und Lauenburg aus. Diese Hoffnung ist
getäuscht worden; kaum jemand wird sich finden, den die preußische aus¬
wärtige Politik befriedigte, und mühsam arbeitete nur die Preußische Zei¬
tung an der undankbaren Ausgabe, jedes Thun oder Nichtthun der Re¬
gierung zu rechtfertigen. Die liberale Partei empfindet dies lebhafter und
schmerzlicher als jede andre, aber wir finden bei ihr nicht immer Klarheit über
die einschlagenden Verhältnisse. Dies hat namentlich die letzte Sitzung des
Abgeordnetenhauses gezeigt, Und doch ist es für die Zukunft von größter Wich-
tigkeit, daß dasselbe eine richtige Stellung zu der auswärtigen Politik der Re¬
gierung einniuimt. wenn es auch nicht berufen ist. unmittelbar in dieselbe ein¬
zugreifen. Von diesem Gesichtspunkte soll in Nachstehendem versucht werden
den Gang derselben in objectiver Darstellung zu zeichnen.
Es konnte dem Freiherr» v. Schleinitz nicht unerwartet kommen, daß der
Kaiser Napoleon sich in die Verhältnisse Italiens mischte. Gerüchte und Mit¬
theilungen über den Besuch Cavours in Plombiöres, über die Gespräche mit
Pnlmerston und Clarendon in Compi^gue waren nach Berlin gedrungen.
Der Neujahrsgruß an Herrn v. Hübner, die sardinische Heirath, die Thron¬
reden in Paris und Turin konnten keinen Zweifel mehr lassen über das, was
zum Frühjahr zu erwarten stand. Die östreichische Circulardepesche vom 5. Fcb.
brachte zuerst die Frage auf das diplomatische Gebiet, indem für den Fall
eines französischen Angriffs auf die Lombardei die Erwartung ausgesprochen
wurde, der deutsche Bund werde für Oestreich eintreten. Es war sehr begreif¬
lich, daß diese Depesche i» Berlin keinen angenehmen Eindruck machen konnte,
zumal dieselbe nicht an Preußen gerichtet war; es war offenbar in Wien der
Plan, das Berliner Cabinet durch die Mittelstaaten und den'Bund zu nöthi¬
gen für das ganze östreichische System in Italien einzustehen. Die preußischen
Depeschen vom 13. und 27. Februar lehnten dies aufs bestimmteste ab und
betonten die Stellung Preußens als europäische Macht, die sich bei Behand¬
lung einer solchen Frage nicht Majoritätsbeschlüssen am Bundestage unter¬
ordnen könne, so fest sie auch entschlossen sei, allein durch die deutsch-nationalen
Interessen den Gang ihrer Politik bestimmen zu lassen.
Die Gesichtspunkte derselben ließen sich in diesem Stadium etwa so be¬
zeichnen: 1) Anerkennung der Bundesverpflichtungen im weitesten Sinne;
2) Aufrechthaltung des. Territorialbestandes und der Verträge von 1815;
3) Gemeinsame Vermittelung mit England über die Differenzen, welche außer¬
halb jener Verträge liegen.
Die Ideen über eine solche waren indeß noch sehr unklar, als Lord
Cooley seine Sendung nach Wien antrat. Das berliner Cabinet stand der¬
selben auch wesentlich passiv zur Seite und suchte erst, als der russische Vor¬
schlag eines Congresses die englische Vermittelung kreuzte, gemeinsam mit
Lord Derby die Schwierigkeiten, welche sich namentlich über die Entwaffnungs¬
frage erhoben, bei beiden Theilen zu beseitigen. Oestreich schnitt diese Ver¬
suche ab, der Erzherzog Albrecht kam nach Berlin, um zu erklären, die östrei¬
chischen Truppen würden in Sardinien einrücken, wenn dasselbe nicht entwaffne;
trotz der dringenden Abmahnung von Seiten des Regenten erfolgte das Ulti¬
matum und der Einmarsch. Preußen schloß sich dem Proteste Rußlands und
Englands wenigstens mit offener Mißbilligung an und widersetzte sich den
von Oestreich gewünschten Anträgen auf Mobilisuung der Bundesarmee, um
ein Vorrücken kaiserlicher Truppen an die südwestdeutschen Grenzen zu ver¬
hindern, welches Deutschland in den Krieg verwickeln würde. Während an¬
dere deutsche Kammern sich bereits frühzeitig lebhaft über die große schwe¬
bende Frage ausgesprochen hatten, schien das neue Haus der Abgeordnete»
ganz durch innere Fragen absorbirt; jetzt brachten die Finanzvorlagen zum
ersten Mal im Landtag die Stellung Preußens zur Sprache. Herr von Schlei-
nitz beobachtete in seinen Erörterungen eine große Zurückhaltung, er er¬
kannte bereitwillig das Große und Berechtigte des nationalen Aufschwunges an,
dessen Sinn sei, daß Deutschland sich jetzt und in Zukunft dem Auslande
gegenüber als eine geschlossene Einheit betrachten und als solche "das gewal¬
tige Gewicht seiner Kraft in die Wagschaale der politischen Entscheidungen
legen wolle, ebenso bestimmt aber wahrte er der Stellung Preußens ihre
Selbständigkeit, indem er sie als die der bewaffneten Vermittlung bezeichnete.
Beide Häuser stimmten ihm wesentlich bei.
Uns scheint schon in diesem ganzen ersten Stadium die Unklarheit be¬
gonnen zu haben. Vermitteln läßt sich nur auf eiuer bestimmten Grundlage,
Herr v. Schleinitz aber hatte niemals eine solche aufgestellt und sich nur
nachträglich den vier Punkten Lord Cowleys angeschlossen. Der Sinn einer
bewaffneten Vermittlung kann völkerrechtlich und politisch nur der sein, daß
Man bestimmte Bedingungen für die Herstellung des Friedens bezeichnet und
den kriegführenden Theil, der darauf nicht eingehen will, mit Waffengewalt
dazu zwingt. Solche Bedingungen aber präcisirte Preußen nicht, es dachte
auch nicht daran eventuell Oestreich zum Aufgeben gewisser Rechte gewaltsam
zu nöthigen, sondern vielmehr daran, unter gewissen Umständen ihm doch zu
Hilfe zu kommen; die Regierung hatte jede Neutralitätserklärung abgelehnt,
sie bezeichnete sich in diplomatischen Aktenstücken geflissentlich nur als nicht
kriegführende Macht und versuchte noch im ersten Stadium des Krieges, als
Oestreich angreifender Theil war, eine'Verständigung mit ihm für bestimmte
Eventualitäten anzubahnen. Hierauf war die Sendung des Generals v. Wil-
lisen nach Wien berechnet. Derselbe kam nach längern Unterhandlungen mit
Graf Rechberg endlich über drei Punkte überein:
') Preußen wird mit aller Kraft für die Erhaltung des östreichischen
Besitzstandes in Italien wirken.
2) Oestreich überläßt Preußen für ein Einschreiten zu diesem Zwecke die
Initiative sowol am Bunde als für die militärischen Maßregeln.
3) Es verpflichtet sich, mit keinem andern deutschen Staate Separat¬
bündnisse abzuschließen.
Diese drei Punkte sollten durch Notenaustausch festgestellt werden; aber
derselbe scheiterte an der Formulirung des ersten Punktes, den man in Berlin
"><de zu einer Garantie des östreichischen Besitzstandes werden lassen wollte.
Bei dieser Gelegenheit zeigte sich zum ersten Male eine Meinungsverschiedenheit
unter den Männern, welche damals die Politik Preußens bestimmten. Dar¬
über war man zwar vollkommen einig, daß es nicht im preußischen und deut¬
schen Interesse sein könne, schlechtweg für Oestreichs System in Italien ein-
zustehen, oder seine legitimistischen Ideen des Sturzes Napoleons und der
Rückführung Heinrichs V. zu begünstigen, aber die andere Seite der Frage:
ob es nicht geboten sei, bei dieser Gelegenheit der drohenden Suprematie
Frankreichs entgegenzutreten, fand nicht so übereinstimmende Beantwortung.
Von diplomatischer Seite ward geltend gemacht, daß Preußen unmöglich einen
solchen Kampf aufnehmen könne; ein gefahrvolles Uebergewicht einer großen
Militärmacht werde nur durch eine Koalition gebrochen, welche bei der Schlaff¬
heit Englands jetzt gegen Frankreich unmöglich sei, Preußen müsse mit letz¬
terem zusammen eine bewaffnete Vermittlung ausüben und diese dazu benutzen,
seine Stellung in Deutschland zu heben. Von.militärischer Seite ward da¬
gegen aller Nachdruck auf die Gefahr gelegt, welche aus einer entscheidenden
Niederlage Oestreichs und einem großen Siege Frankreichs für Deutschland
und Preußen erwachsen müsse. Der Regent sei berufen, die Führerschaft in
einem solchen nationalen Kampfe zu übernehmen, nicht um unhaltbare Zu¬
stände gewaltsam in Italien zu stützen, sondern um dem Uebergewicht Frank¬
reichs entgegenzutreten; durch solche Führung und die Opfer, welche sie er¬
heische, begründe er am besten seine Anwartschaft auf eine hervorragende
Stellung in Deutschland, ein kräftiges Auftreten Preußens werde das Mini¬
sterium Derby stärken und ermuthigen, Frankreich entgegenzutreten. Es ließ
sich für beide Ansichten viel sagen, jedenfalls mußte man aber eine bestimmte
wählen, entweder aufrichtig neutral oder entschieden kriegerisch sich zeigen.
Leider aber entschied man sich für keinen fest vorgezeichneten Weg, sondern
suchte fortwährend durch Compromisse beides zu vermitteln, wodurch die preu¬
ßische Politik unvermeidlich einen schwankenden Charakter annehmen mußte.
Indeß hatten die Ereignisse sich rasch gedrängt. Die östreichische Armee wich
allmälig zurück, die Aufstände in Toscana, Parma und Modena erweiterten
die französische Angriffslinie, die Schlacht von Magenta ward geschlagen,
gleichzeitig wurde das Andringen der Mittelstaaten, welche in ihren Rüstungen
über ihre finanziellen Kräfte gegangen waren und eine lange bewaffnete
Nichtactivität kaum ertragen konnten, immer schwerer abzuweisen, das Anlehen
von 40 Mill. Thlr. ward ausgegeben, die Kriegsbereitschaft in vollem Um¬
fange durchgeführt, die Mobilmachung immer bestimmter ins Auge gefaßt.
Die diplomatische Partei arbeitete der letztern nach Kräften entgegen in
der Voraussicht, daß durch dieselbe der militärische Geist das Uebergewicht
erhalten werde und man die einmal mobil gemachte Armee nicht ohne zu
schlagen nach Hause schicken könne; aber hier entschied der Einfluß des Regen-
ten gegen sie; sie erreichte nur, daß drei Corps von der Mahregel ausgenom¬
men wurden, um zur Landesvertheidigung zu dienen. Am 11. Juni ward die
Cabinetsordre für die Mobilmachung von sechs Armeecorps gezeichnet. Die erste
Folge dieses Schrittes sollte die Verwirklichung der bewaffneten Vermittlung
sein, außerordentliche Abgesandte sollten deren Bedingungen in den Haupt¬
quartieren vorlegen; da die Annahme derselben von Frankreich nicht wahr¬
scheinlich war, traf man zugleich die nöthigen Vorkehrungen für die Eventua¬
litäten des Krieges. Ueberzeugt, daß mit der Bundeskriegsverfassung praktisch
nichts zu machen sei, wollte man die deutschen Regierungen auffordern, mili¬
tärische Bevollmächtigte nach Berlin zu senden und ihre hiesigen Gesandten zu
den betreffenden politischen Verhandlungen zu beauftragen; der Oberbefehl
Preußens ward als selbstverständlich angenommen, man beschäftigte sich mit
der Idee, denselben durch einem nach Berlin zu ladenden Fmstencongreß an den
Regenten übertragen zu lassen. Inzwischen trafen höhere Offiziere von verfehle,
denen deutschen Staaten zur Vorberathung ein.
Man schien mit starken Schritten auf den Krieg loszugehen; aber die diplo¬
matische Partei, welche sich soweit hatte fügen müssen, gab ihren Widerstand
nicht auf und suchte vorerst den geschehenen Schritten die drohende Spitze ab¬
zubrechen. Hierbei kam ihr die Unklarheit der ganzen preußischen Politik in der
italienischen Frage zu Statten. Offenbar konnte die beabsichtigte bewaffnete Ver-
mittlung nur Aussicht aus Gelinge» haben, wenn sie rasch und kategorisch geübt
wurde; da ihre Bedingungen die erste Folge der Mobilmachung sein sollten,
mußten sie vor derselben festgestellt sein. Dies war nicht geschehen; erst nach
der Unterzeichnung der Cabinetsordre vom II. Juni sollten die Jnstructionen
für die außerordentlichen Abgesandten ausgearbeitet werden, und es war be.
greiflich, daß, wo man so wenig einig über die ganze Richtung war, sich
immer neue Differenzen bei jedem Punkte erheben mußten. Eine Grundlage
für die Vermittlung zu finden mußte immer schwieriger werden, je mehr die
Ereignisse vorschritten ; man scheute sich Oestreich Opfer zuzumuthen und mußte
doch einsehen, daß nicht an eine Herstellung des status puo ante zu denken sei;
man hob hervor, daß in Ober- und Mittelitalien wirkliche und weitgehende
Reformen der Verfassung und Verwaltung herbeizuführen seien. Sollte man
Wirklich geglaubt haben, daß Frankreich und Sardinien um ein so mageres Re-
sultat zu erreichen ein so hohes Spiel gewagt hätten? Die diplomatische Partei
legte besondern Nachdruck darauf, daß ein einseitiges Vorgehen Preußens Ver¬
hältniß zu England und Rußland verderben müsse und verlangte zuerst einen
Versuch zu machen, die Zustimmung dieser beiden Mächte zu der beabsichtigten
Vermittlung zu erlangen. War nun dieselbe schon an sich unpraktisch, wenn
wan nicht sogleich mit einem Ultimatum auftrat, so wurde sie vollständig nn-
wöglich. wenn man sich doppelte Gewichte an die Füße band. Rusland hatte
von Anfang ein in der italienischen Frage Frankreich fecundirt; von ihm ging
der Vorschlag des Congresses aus. der Lord Cowleys Sendung kreuzte, als
sie ein Resultat geben zu wollen schien; erbittert über Oestreichs Verhalten in
der orientalischen Frage wünschte Fürst Gortschakoff dessen Niederlage, wie
hätte man erwarten sollen, daß er gegen Frankreich fest auftreten werde! Eng¬
land hatte seit dem Scheitern seiner Vermittlung sich immer schlaffer gezeigt,
es hatte gemeinsam mit Rahland gegen das östreichische Ultimatum pro-
testirt, Lord Malmesbury hatte den deutschen Küstenstaaten am 6, Mai
eine Depesche übergeben lassen, wodurch sie auf das dringendste von
einem Kriege gegen Frankreich abgemahnt wurden, für den es keine
Ursache gebe; sollte aber Deutschland so übel berathen sein, mit Frank¬
reich Krieg anzufangen, so habe es nicht die geringste Hilfe von England
zu erwarten. Weit entschiedner noch ließ sich die Abmahnung Englands
hören, als bald darauf das Ministerium Derby, das in der Gesinnung wenig¬
stens einer Veränderung des Tenitorialbestandes in Italien entgegen war.
Palmerston das Feld geräumt und von diesem Lord John Russell sich aus¬
drücklich das auswärtige Amt ausbedungen hatte, um für seine italienischen
Zwecke zu arbeiten. Man kennt seine famose Depesche vom 22. Juni an
Lord Bloomficld. in der er^ Preußen Frieden predigt. Mit solchen Bundes¬
genossen war jede Vermittlung unmöglich, und wir vermögen uns schwer
vorzustellen, was die berliner Diplomaten beabsichtigten, indem sie diesen
Weg einschlugen, wenn sie nicht meinten, eben nur durch Hin- und Herver¬
handeln das kriegerische Vorgehen zu vereiteln. Erst am 27. Juni ging eine
Depesche (datirt vom 24. Juni) nach London und Petersburg, welche
gar keine Basis der Vermittlung aufstellte, sondern dieselbe nur ebenso drin¬
gend als allgemein empfahl. Dieser unfruchtbare Versuch hatte aber noch
einen andern Nachtheil. Indem Preußen sich an England und Rußland wandte,
verzichtete es auf ein selbständiges Vorgehen und band sich selbst die Hände;
denn eine Nichtbeachtung der russischen und englischen Antworten hätte es
wirklich in eine schlechte Stellung zu beiden Mächten gebracht. Lord John
Russells wie Gvrtschakoffs Bestreben aber war vor allem, Preußen vom Kriege
gegen Frankreich zurückzuhalten, also die Unterhandlungen möglichst hinzu¬
ziehen. Sie erklärten nach Berlin im Allgemeinen ihre Bereitwilligkeit, im
geeigneten Momente zu vermitteln, gaben aber natürlich auch ihrerseits
keine Grundlage dafür an. Ebenso wenig sprach sich die Regierung gegen
ihre deutschen Verbündeten klar über ihre Absichten aus; in der am 24. Juni
an die preußischen Gesandten bei den deutschen Regierungen erlassenen Cir-
culardepesche heißt es am Schluß: „Gestützt auf eine starke Militäraufstellung
gedenken wir, die Friedensfrage, unter Anstrcbung der Erhaltung des östrei¬
chischen Besitzstandes in Italien, im geeigneten Momente bei den großen
Cabineten in Anregung zu bringen und mit der Mediation vorzugehen."
Dies war also lediglich eine Erklärung für die Politik der freien Hand.
Inzwischen war die Mobilmachung vorgeschritten, die Marschordres waren
auf den Is. Juli festgesetzt, endlich ward am 4. Juli in Frankfurt der Antrag
auf Uebertragung der Oberleitung über die vier deutschen Bundesarmeecorps
gestellt.
In diesem Augenblick traf Fürst Windischgvätz in außerordentlicher Sen¬
dung in Berlin ein. Wenn durch dieselbe eine Verständigung mit Preußen
erzielt werden sollte, so war allerdings die Wahl dieser Persönlichkeit, die als
Hauptvertreter des militärischen Absolutismus in Oestreich galt, bei einem
Ministerium, in das soeben Graf Schwerin eingetreten war, wenig glücklich.
Noch weniger zeigten sich aber seine Forderungen als annehmbar; er verlangte
ohne irgend ein Gegenzugeständniß zu biete», daß Preußen das Vermittlungs¬
werk abbreche und die Einleitung zum Krieg am Rhein durch eine Diver¬
sion mache; als Zweck des gemeinsamen Kampfes bezeichnete der Fürst einfach
die Herstellung des Status ciuo eines nicht nur im Betreff des Territorialbe¬
standes, den Preußen förmlich garantiren sollte, sondern auch in Betreff der
Specialverträge mit den italienischen Fürsten. Gleichzeitig kreuzte Oestreich
mit seinem Antrag auf Mobilisirung der Bundesarmee und Ernennung des
Regenten zum Bundesfeldherrn den preußischen Antrag vom 4. Juli. Es lag
auf der Hand, daß unter solchen Umständen die Sendung des Fürsten zu kei¬
nem Resultat führen konnte; aber nichts desto weniger hielt er die Stimmung
in Berlin für Oestreich so günstig, daß er seinem Kaiser dringend abrieth,
Frieden zu schließen; er sah voraus, daß im Fortgange des Krieges Preußen
in denselben hineingezogen werden müsse. Aber dasselbe sah freilich auch ein
anderer Beobachter, der Kaiser Napoleon, er schloß den Frieden von Villa-
franca und wies bei seiner Vertheidigung desselben in der Rede von Se.
Eloud ausdrücklich darauf hiu, daß Preußen ihn in die Alternatme versetzt
habe, sein Ziel nur halb zu erreichen, oder den Krieg zugleich an der Etsch
und am Rhein zu führen.
Wir wollen uns nicht bei den Anklagen Oestreichs aufhalten, welches
Preußen die Schuld an diesem Frieden zuschob, sie sind schlagend durch die
Schrift „Preußen und der Friede von Villafranca" widerlegt. Das Wiener
Cabinet ist seiner alten Politik treu geblieben und hat in jedem Stadium die¬
ser Frage gegen seinen Nebenbuhler mit der hergebrachten Rücksichtslosigkeit
und Perfidie gehandelt; lieber trat es eine Provinz an Frankreich ab, als daß
es den verhaßten Bundesstaat erwachsen sah. Es ist nach Veröffentlichung der
anschlagenden Aktenstücke kein Zweifel mehr an der Ehrlichkeit der preußischen
Politik, freilich auch kein Zweifel mehr über ihre Schwäche.
Wir kommen auf unsern Ausgangspunkt zurück. Der Krieg in Italien
durfte den leitenden preußischen Staatsmännern seit Anfang 1859 nicht zwei-
felhaft sein, er entwickelte sich nicht unerwartet und zufällig, sondern nach
einem wohlangelegten Plane. Dem gegenüber gab es für Preußen nur zwei
Wege. Entweder es erklärte sich von vornherein neutral, weil es Oestreichs
Mißregierung in Italien nicht aufrecht halten wolle, und benutzte den Um¬
stand, daß die andern Mächte durch den Kampf im Süden beschäftigt waren,
für seine eignen Interessen in Schleswig-Holstein. Hierzu war es vollständig
berechtigt, und grade die Eifersucht der andern Mächte gebot ihm den gün¬
stigen Augenblick zu benutzen, wo dieselben paralysirt waren. Oder es sah
in dem Krieg gegen Oestreich vor allem die Gefahr der Suprematie Frank¬
reichs, welches nach der Besiegung der einen deutschen Großmacht auch spä¬
ter die andre zu Boden werfen werde, es nahm dann den Kampf auf ge¬
gen Frankreich, nicht für Oestreichs Zwecke, ohne Täuschung über den Dank
des Hauses Habsburg, vielmehr in der Ueberzeugung, daß letztre Macht
selbst nach einem Siege zu wenig Elemente nachhaltiger innerer Kraft
besitze, um Preußen seine Stellung in Deutschland streitig zu machen.
Für jeden dieser Wege ließen sich gewichtige Gründe geltend machen. Die
Regierung wählte keinen von beiden, sondern bewegte -sich von Anfang an in
unsichrer Haltung zwischen dem Wunsch, etwas für Oestreich zu thun, und der
Abneigung, gegen Italien aufzutreten, in Halbheiten und Compromissen und
that daher immer zugleich zu viel und zu wenig. Die ganze Idee der Ver¬
mittlung war eine vollkommen verfehlte, weil die erste Grundlage, eine impo-
nirende Stellung, welche den streitenden Theilen den Frieden aufzwingen konnte,
fehlte. So blieb die preußische Vermittlung nur eine gute Absicht, ein dringender
Wunsch, ein allgemeines Bestreben. Bei dem Frieden von Villafranca war
Preußen mit Oestreich, dem man hatte helfen wollen, offen verfeindet, wurde
von Napoleon als die Macht bezeichnet, welche ihn an der Erreichung seines
Zieles verhindert, war ohne ein bestimmtes Verhältniß zu Rußland und Eng¬
land und stand fast mit allen deutschen Staaten schlecht. Dies war das Er¬
La Kranes s'enmiie! sagte Lamartine, als in der Mitte der vierziger
Jahre die Julidynastie durch ihre Principlosigkeit und ihr muthioses Schwan¬
ken alles Ansehn im Rath der Großmächte verloren hatte.
La ?rare<z s'alti'isle! sagte er 1847, als eine Reihe von Kriminal¬
prozessen die Korruption und Sittenlosigkeit der höhern Beamtcmvelt und der
Aristokratie enthüllte.
Als ausübender Staatsmann war Herr von Lamartine mehr als mittel¬
mäßig, aber in seiner Anschauung der Dinge verräth er mitunter einen genia¬
len Blick. — Als Frankreich sich genug gelangweilt und genug betrübt hatte,
jagte es die Orleans aus dem Lande. — Revolutionen entspringen nur sel¬
ten blos aus Haß gegen die Regierung, es muß noch etwas hinzukommen:
die Verachtung.
Die Verachtung der Franzosen bezog sich im Jahr 1847 aber keineswegs
auf die Jmmoralität der beiden leitende» Persönlichkeiten, des Königs und
Guizot's, sondern auf ihre Schwäche. Dem König hat man in Privatange¬
legenheiten nie etwas Schlimmes nachgesagt, und Guizot hatte unter allen
seinen Staatsmännern vielleicht die reinsten Hände: er nahm weder Geld
noch ließ er es sich geben. Aber Guizot. der seinen aufgeklarten Ueberzeu¬
gungen notes berufen war, die Sache der Reform und des Fortschritts zu lei¬
ten, buhlte, nicht aus Eigennutz, sondern aus doctrinären Gründen, mit den
Feinden des Fortschritts; hochfahrend und wegwerfend gegen diejenigen Clas¬
sen des Volks, in denen er seine Stütze hätte suchen solle», beugte er sich vor
dem französischen Junkerthum und vor der französischen Hochkirche, die ihn
innerlich verachtete. Eben so war es mit der auswärtigen Politik. — Lud¬
wig Philipp,, von den großen souveränen als Parvenu angesehn, suchte
sich bei ihnen einzuschmeicheln, indem er jeder reactionären Bewegung seine
Unterstützung lieh, und fand darin in Guizot einen willigen Helfer. Zwei
Monate vor der Februarrevolution war er bereit, im Dienst der heiligen
Allianz den Büttel gegen die Eidgenossenschaft zu spielen; er hätte Oestreich
dieselben Dienste in Italien geleistet.
Wenn uns diese Dinge bei Gelegenheit des Stieberschen Prozesses
einfallen, so sind wir nicht gemeint, den Vergleich auf die Spitze zu treiben;
es ist. Gott sei Dank! noch immer ein großer Unterschied zwischen den Zu¬
standen Frankreichs im Jahr 1847 und den Zuständen Preußens im Jahr
1860. Nicht eine innere Revolution ist es. was Preußen bedroht; wol aber
eine Gefahr, die nicht minder hoch anzuschlagen ist: die Gefahr der allmäligen
innern Abschwächung, die bei der bedrohlichen Konstellation der europäischen
Politik mit Preußens Ausscheiden aus der Reihe der Großmächte endigen
kann.
Wenn der Stieber'sche Prozeß und was damit zusammenhängt Einfluß
genug besitzt, im Volk so viel Aufregung hervorzubringen, daß aus dem
schleichenden Fieber, welches unsere Kräfte abnutzt, sich eine bestimmte heil¬
bare Krankheit entwickelt, so wollen wir dies Ereigniß preisen, trotz der bren¬
nenden Schcunröthe, die es uns ins Gesicht getrieben hat.
Was hat uns der Stiebersche Prozeß enthüllt? Etwa das Mißregiment,
das in den Jahren 1850—1858 im Ministerium des Innern seinen Mittel¬
punkt, in der Berliner Polizei sein mächtigstes Werkzeug, im Justizministerium, ge¬
linde gesagt, seine stillschweigende Unterstützung fand? jenes Mißregiment, in
welchen, jeder freche verruchte Angeber eine mächtige Person wurde, in dem
die Ohm, die Gvdsche, die Lindenberg eine ansehnliche Rolle spielten? —
Ueber dieses Mißrcgiment brauchen wir keine Enthüllungen, wir wissen tausend¬
mal mehr als die Herren Schwart und SUcber ausgesagt haben, zehnmal mehr,
als sie auch in der größten Hitze aussage» konnten. Ja wir sind fest über¬
zeugt, daß, so grnvirt auch die Einzelnen sein mögen, es doch in.der ganzen
Monarchie keinen einzigen gibt, der den ganzen Umfang der Zustände, bei
denen er hilfreiche Hand leistete, vollständig übersah. Wenn man das Lebens
blut eines organischen Körpers vergiftet, so bleibt der Schaden nicht local, er
theilt sich jedem einzelnen Gliede mit, und nur die Section würde im Stande
sein, allen seinen Wirkungen un Einzelnen nachzuspüren.
Aber etwas anderes hat uns der Prozeß enthüllt: daß das Ministerium
die Krankheit am besten dadurch zu heilen glaubt, daß es sie vertuscht, daß es
ihre Symptome den Augen der Welt entzieht. Der Oberstaatsanwalt Schwark
ist zur Disposition gestellt worden, nicht weil sich aus den Verhandlungen et¬
wa ergeben hätte, daß er seiner Zeit jenem Mißregiment nicht den gehörigen
Widerstand geleistet, sondern weil er es, wenn auch spät, endlich an den Tag
bringt. — An den Tag bringt? So wie der verstärkte Reichsrath in Oestreich
die östreichischen Zustände an den Tag gebracht hat! Er hat öffentlich aus-
gesprochen, was Alle, von den höchsten Sphären des Staats bis zu den nied¬
rigsten hinunter mehr als genug wußten.
Oder wußten es vielleicht die Minister nicht? Einige von ihnen gehörten
doch zu den Führern der parlamentarischen Opposition und hatten im Lauf
ihres Wirkens hinreichende Gelegenheit, sich über alles, was in Berlin und
den Provinzen vorging, genau zu unterrichten. — Oder haben sie vielleicht
geglaubt, daß durch die Ersetzung einiger übelgesinnter Beamten durch einige
gutgesinnte allem Uebel auf einmal abgeholfen wäre? — Sie scheinen es
wirklich noch zu glauben. Möchte der allgemeine Schrei, der sich über ihr
Verfahren durch die ganze Presse erhebt, sie endlich eines andern überführen.
In der moralischen Welt wie in der physischen hat alles was geschieht
seine Folgen: seine Folgen, die man durch bloße Nichtbeachtung nicht heilt.
Die Folgen des Regiments von 1850—58 beschränkten sich nicht auf die Mi-
nisterhotels; sie haben sich bis auf die untersten Schichten des Volksleben's
ausgedehnt. Das preußische Becnntenthum ist nicht mehr, was es 1847 war;
die Angeberei und die Augendienern hat ihr Werk gethan, ja die Stände
haben eine ganz andere Richtung genommen, der Adel und das Bürgerthum
sind ins Parteileben eingeführt; die sogenannte politische Gesinnung hat den
Begriff der Amtsehre überwuchert, selbst das Militär ist durch fortdauernde
Bearbeitung verleitet, sich als den verpflichteten Träger einer politischen Partei
zu betrachten. Die Atmosphäre, in der bei weitem der größere Theil derer,
die am politischen Leben praktischen Antheil nehmen, leben, athmen, denken
und empfinden, ist die Atmosphäre der Kreuzzeitung. In dieser Atmosphäre
steht das Ministerium bis jetzt völlig isolirt; zuerst gehaßt und gefürchtet, jetzt
"och gehaßt, aber nicht mehr gefürchtet. Eine Zeitung gebrauchte einmal den
nicht recht passenden Ausdruck, den Grafen Schwerin als den Chef der Reac¬
tion zu bezeichnen: das ist er nicht, das kann er nie werden, weil er ein edler,
wahrhaft ehrenwerther Mann ist; das könnte er nie werden, auch wenn er
das nicht wäre. Der Liberalismus ist geneigt zu vergessen, die Reaction
vergißt nicht. Als ihre vorübergehenden Werkzeuge mag sie ihre ehemaligen
Gegner benutzen; ihnen dienen wird sie nie und nimmermehr. Sie dnrch
Nachsicht und zuvorkommendes Wesen gewinnen zu wollen, ist ein eitles Un¬
ternehmen; die Folge kann nur sein, daß man zuletzt beiden Parteien sich
gleichmäßig entfremdet. Ein Organ des Ministeriums äußerte sich vor einiger
Zeit in Bezug auf die allgemeinen Klagen über die schlechte Stellung Preu¬
ßens in Deutschland, es sei doch jetzt nicht schlechter als unter Manteuffel!
So weit wären wir also bereits gekommen! Und es ist zudem nur halbwahr.
Freilich ist vieles besser geworden in unserm öffentlichen Leben, in unserer
Stellung zu Deutschland und zu Europa.
Es ist besser geworden in unserer auswärtigen Politik. Zur Zeit des
vorigen Ministeriums konnte jede schlechte Regung in den deutschen Staaten
mit Sicherheit darauf rechnen, bei der preußischen Negierung, wo nicht lauten
Beifall und offene Mitwirkung, doch wenigstens geheime schmunzelnde Sym¬
pathie zu finden; sie konnte ferner darauf rechnen, daß Preußen in jedem
rüsten Conflict sich schwach und nachgiebig zeigen würde. Das hat aufge¬
hört. Die schlechten Neigungen finden in Berlin keine Sympathie mehr, und
jede gute Neigung, die sich innerhalb gewisser mehr oder minder eng vorge¬
steckter Grenzen hält, kann in Berlin, wenn nicht auf lauten Beifall und
offene Mitwirkung, doch wenigstens ni»s stille Sympathie rechnen; und was
die Nachgiebigkeit betrifft, so weiß man, daß diese an dem Willen des Re¬
genten bestimmte Grenzen hat.
Es ist besser geworden in der innern Verwaltung. Die neuen Minister
sind nicht nur persönlich Ehrenmänner, sondern sie haben ein warmes Herz für
die Bedürfnisse des Volks. Das Reich der Angeber und Spione ist zu Ende; an
den Waggons drängt sich nicht mehr die Polizei, um Jeden zu untersuchen,
ob er nicht ein Beutelschneider oder ein Demokrat sei; die Polizei dringt
nicht mehr in das Innere der Häuser, um nach sreigemeindlichen Büchern zu
suchen; so weit der persönliche Einfluß der Minister reicht — was freilich
seine Grenzen hat — ist jede Willkür abgeschnitten; jeder berechtigte Wunsch
des Volks findet bei ihnen wenn nicht lauten Beifall doch stille Sympathie.
Es ist besser geworden in der Gesetzgebung. Die Reaction brachte Jahr
aus Jahr ein neue Gesetze zu Gunsten des Feudalismus in Vorschlag, von
denen die meisten, weil sie unausführbar waren, wieder bei Seite gelegt
werden mußten, so daß bei der allgemeinen Verwirrung es selbst für den
Gesetzeskundigen schwer wurde, in jedem Fall zu sagen, was Rechtens sei und
was nicht. Das hat jetzt aufgehört. Zwar bestehn viele anarchische Zustände
noch fort, bei denen eine schleunige Abhilfe nöthig wäre, allein die Verwirrung
ist wenigstens durch neue Gesetze nicht gesteigert.
Das alles sind sehr wichtige, sehr segensreiche Fortschritte, und wenn
man den Namen der neuen Aera auch häufig gemißbraucht hat, so ist er
doch insofern vollkommen berechtigt, als wir jetzt freie Luft zum Athmen
haben. Wir können leben, und das ist keine Kleinigkeit! Vorher waren wir
dem Ersticken nahe.
Aber die Sache hat auch ihre Kehrseite. Lebten wir in ruhigen, gefahr¬
losen Zeiten, so wäre es denkbar, daß der gesunde Lebenstrieb unsres Orga¬
nismus durch eigne Kraft seine Schäden heilte, ohne daß die Minister etwas
dazu thäten, Das ist aber nicht der Fall. Wir stehn in der Mitte einer
ungeheuern Krisis, die Europa eine neue Gestalt geben muß. In dieser Krisis
genügt, um sich aufrecht zu halten, der gute Wille keineswegs: Kraft ist dazu
nöthig und Entschlossenheit. Und hier ist sehr die Frage, ob wir nicht un¬
günstiger stehn als vor zwei Jahren.
Sehen wir zuerst die auswärtige Politik an. Ein kurzer aber entschei¬
dender Krieg ist geführt worden; in Folge dessen hat sich Frankreich verstärkt,
ein neuer zukunftsreicher Staat ist an unsern Grenzen entstanden, und beide
Staaten sind durch unsere Politik zu unsern Gegnern gemacht. Oestreich, aufs
Tiefste erschüttert, geht dem Bankerott und, wenn nicht alle Zeichen trügen,
dem Zerfall entgegen. Die deutschen Mittelstaaten, früher vereinzelt, haben
eine enge Solidarität unter sich aufgerichtet, deren Spitze gegen Preußen ge-
kehrt ist. Und unter diesen Umstünden bat Preußen vorlnnfig nichts weiter
gethan, als sein Heer zu verstärken, und auch dieses in einer höchst unpopu¬
lären Form und auf Kosten anderer höchst wichtiger Staatszwecke. Es ist
nicht unbedenklich, daß im Geist vieler höheren Offiziere die preußische Armee
zum preußischen Volke eine ähnliche Stellung einnimmt wie 1805. und daß
dieser Geist von obenher nicht gebrochen wird. — Man spricht von moralischen
Eroberungen in Deutschland, und das ist insofern richtig, als in verschiedenen
deutschen Ländern die unterdrückte Partei ihre Hoffnungen auf Preußen richtet.
Entsprungen ist diese Hoffnung aus dem Bewußtsein des guten Willens von
jener Seite, aber aufrecht halten kann sie mir das Gefühl der Stärke. Sind
wir in dieser Beziehung fortgeschritten? Vor drei Jahren sagte man sich noch,
wenn nur das gegenwärtige Ministerium beseitigt ist. so werden schon die
Männer hervortreten, die Preußens physische Kraft auch moralisch zu ver¬
werthen im Stande sind. Jetzt ist das Ministerium beseitigt und schon fragt
man sich ängstlich, wo sind denn diese Männer? Man bemerkt nur ein un¬
ruhiges Hin- und Hertappen- bald wird Frankreich bedroht, bald Dänemark,
bald Italien, bald Oestreich, bald die Mittelstaaten. Das Ministerium scheint
liberal zu sein; die meisten Bevollmächtigten aber desselben an den verschie¬
denen Höfen gehören der Kreuzzeitung an und wirken im Sinne derselben.
Man nimmt gegen die einzelnen deutschen Regierungen eine bedrohliche, we¬
nigstens verdrießliche Stellung ein. und dann bekennt man wieder eine un¬
bedingte Verehrung vor der abstracten Legalität d. b. man versagt sich jedes
Mittel, einen factischen Druck auszuüben.
Noch schlimmer ist es mit der Gesetzgebung. Wir wollen moralische Er¬
oberungen in Deutschland machen: das heißt doch nur. wir wollen uusern
deutschen Brüdern Veranlassung geben, uns zu beneiden. Nun steht es in
manchen Ländern freilich viel schlimmer als bei uns, aber wir selber sind in
der höchst bedenklichen Lage, daß unsere ganze Staatsmaschine stockt. Eine
Reihe von Zuständen bedarf nothwendig einer schleunigen gesetzlichen Abhilfe,
wir nennen nur die Kreisordnung, die Provinzinlvcrfassung. die Ausgleichung
der Grundsteuer. Alle diese Gesetze werden im nächsten Jahr voraussichtlich
im Herrenhaus ebenso verworfen werden als im vorigen. Es ist allgemein
anerkannt,, daß das Herrenhaus in seiner jetzigen Zusammensetzung mit nnserm
Staatsleben im schreiendsten Widerspruch steht, daß seine Zusammensetzung das
Resultat einer wüste» Neactionsperiode war. in der man künstlich alle Elemente
zusammenraffte, die dem Liberalismus d. h. dem Lebensnerv Preußens feind¬
lich sind. Die Regierung hat das gesetzliche Mittel in der Hand, im Ein¬
Verständniß mit den Abgeordneten des Landtags eine Reform dieses politischen
Körpers anzubahnen, indem sie durch Ernennung neuer Pairs die bisherige
Minorität in eine Majorität verwandelt. Sie kann dies in offener würdiger
Weise thun, indem sie die Gründe ihres Verfahrens in einer Proclamation
dem Volk vorlegt. Statt dessen gebraucht sie kleine Mittel, die zu gar nichts
fuhren können. Aber nicht das ist das charakteristische für das Ministerium,
sondern die Gründe, die es für sein Verhalten anführt, privatim gegen die
Abgeordneten, öffentlich in der Presse, Preußen soll nämlich nicht im Stande
sein, hundert neue Pairs auszutreiben d, h, Männer, die ohne Diäten einen
Winter in Berlin zubringen können! Die Männer, die so reden, scheinen ganz
vergessen zu haben, daß es vor dem Herrenhause bereits eine erste Kammer
gab, die auch keine Diäten bezog. Wie wir hören, haben mehrere Männer
ihre Ernennung abgelehnt. Das finden wir sehr begreiflich, da bei den bis¬
herigen Ernennungen gar kein Zweck abzusehn war; sobald man aber die An¬
nahme dieser Stelle als eine patriotische Pflicht darstellt, um ein Institut zu
reformiren, das in seiner bisherigen Zusammensetzung den Ruin Preußens nach
sich ziehn muß. so wird sich kein Bürger dieser Pflicht entziehn.
Die Sache ist grade jetzt von größter Wichtigkeit. Der Landtag steht
nahe bevor! wie will nun das Ministerium den Abgeordneten Gesetzvorschläge
vorlegen, von denen jeder mit Bestimmtheit weiß, daß sie im Herrenhause ver¬
worfen werden? Die jetzigen Abgeordneten gehören zu den konservativsten Bür¬
gern Preußens, wenn man sie aber zu einer völlig illusorischen Thätigkeit ver¬
urtheilt, so wird man einen Widerwillen und einen Ekel an der ganzen Po¬
litik bei ihnen erregen, der für Preußen verhängnißvoll werden kann. Das
Haus der Abgeordneten hat im vorigen Jahr durch die provisorische Bewilli¬
gung der Militärvorlagen ein schweres Opfer gebracht; es wird zu,neuen
Opfern aufgefordert werden, es wird aber sehr ernsthaft überlegen müssen,
ob seine Pflicht gegen das Land es ihm verstattet, die einseitige Ausbildung
des Staats nach einer Seite hin zuzulassen, wenn nach der andern nicht den
Bedürfnissen des Volks genügende Rechnung getragen wird.
Wir kommen auf den dritten Punkt, die innere Verwaltung. Hier dürfen
wir uns aber kurz fassen, da nach dem Stieberschen Prozeß die Thatsachen
sprechen. Das Ministerium hat den Plan, die alte von Westphalen herstam-
mende Hierarchie des Beamtenthums unangetastet zu lassen, mit unerhörter
Consequenz durchgeführt; die Folge davon ist, daß mit Ausnahme der Kreise,
die unmittelbar von den Ministern ressortiren, das alte System die Herrschaft
führt. In der preußischen Zeitung glaubt man die „deutsche Reform" oder
„die Zeit" wieder vor sich zu haben, es ist dieselbe Sprache, dieselbe Haltung,
im Ganzen auch dieselben Grundsätze.
Herr von Manteuffel Pflegte, sobald Graf Schwerin irgend einen beliebi¬
gen Satz aufstellte, zu bemerken: er (Manteuffel), sei ein Diener seines Herrn;
der Graf Schwerin aber wolle eine parlamentarische Negierung. — Ente An¬
klage ! — Auch jetzt führen die offiziellen Federn des neuen Ministeriums, die
im Durchschnitt die des alten sind, eine ähnliche Sprache, — Aber darum han¬
delt es sich gar nicht. Ob die Minister einem constitutionellen oder einem
absoluten Staat angehören, ihre Verpflichtungen bleiben dieselben, sie haben
dem Fürsten wie dem Lande gegenüber die Verpflichtung, klar und unumwun¬
den ihre Ueberzeugung von dem, was für das Wohl des Staats nothwendig
ist nuszusprechen, Sie haben die Befehle des Fürsten auszuführen, aber der
Fürst muß von ihnen erfahren, wie die Zustände des Landes beschaffen sind und
was zur Verbesserung derselben geschehn muß. Man erzählt von den chine-
silchen „Censoren", daß sie dem Kaiser die Ncmonstralivnen, die sie für nöthig
hielten, wenn er ihnen die Zunge ausreißen ließ, noch mit ihrem Blut in den
Sand schriebe». Dies ist die Gesinnung, die ein Minister haben muß, gleich¬
viel ob im absoluten oder im constitutionellen Staat. Da wir aber in einem
constitutionellen Staat leben, so wird im Fall der fortdauernden Versäumnis;
der Landtag diese Pflicht zu übernehmen haben. In der alten Weise, daß
die Gegner, weil die sogenannte Legalität, d. h. die dnrch Westphalen fest¬
gestellte Praxis für sie spricht, nicht blos unangetastet bleiben, sondern gegen
die Angriffe des Volks geschützt und gepflegt werden, geht es nicht weiter,
weder in der auswärtigen noch innern Politik; von dieser falschen verkehrten
L
Blätter aus dem Tagebuch eines Schauspielers, mit Erinnerungen
und Klatschereien aus der Garderobe und von der Bühne in England und Amerika.
Von Georg Vandcrhorst. Aus dem Englischen übersetzt, für das deutsche Pub¬
likum bearbeitet und mit Erläuterungen versehn, von A. v. Winterfeld. — Das
Buch leistet mehr als es verspricht: es gibt nicht blos Thcatcrklatsch. sondern auch
recht gescheidte Bemerkungen über die dramatische Kunst. Der Verfasser trat 14. Oct.
^839 zum ersten Mal in Covent Garden auf; Sept. 1842 ging er nach Amerika,
wo er Gastspiele und dramatische Vorlesungen hielt. — Eine originelle Bemerkung,
charakteristisch für Deutschland und für England, können wir uns nicht versagen
mitzutheilen. — Der Verfasser stellt als Resultat seiner Erfahrungen auf, daß die
Thearcrlcnifvahn die letzte sein müsse, die ein junger Mann von Geist und Ehrgeiz
einschlagen sollte: „weil das Bühnenleben ihn gänzlich zurückhält vom Geschäftsleben
und von den großen Bewegungen und dem Praktischen Getriebe der Welt, das allein
eines wahrhaften Ehrgeizes würdig ist. Die Individualität .des Schauspielers und
Bürgers geht verloren in der nachgeahmten Welt, in der er lebt und aufgeht. Er
ist König, Herrscher, General, Staatsmann und Held eines phantastischen Reichs,
aber von den praktischen Interessen unserer Werkcltagswclt ist er wie abgeschnitten
und isolirt." — Dazu bemerkt der Uebersetzer: „so kann nur ein Engländer spre¬
chen, der nicht im Stande ist, seine Seele von dem seiner Nation angebornen Ma¬
terialismus zu befreien. Ein Deutscher würde es vielleicht für ein Glück halten,
dem Geschäftsleben und dem WerteltcigSgctrcibc durch eine Laufbahn entzogen zu
sein, die ihn dem egoistisch-eitlen Getreide sern hält und ihn in das Reich des
Gedankens, der Träume und der Poesie versetzt, die leider immer mehr und mehr
von dem praktischen Leben verdrängt wird." — Sollten in Deutschland noch viele
so denken? —
Aus dem Wanderbuch eines östreichischen Virtuosen. Briefe aus
Kalifornien, Südamerika und Australien, von M. Hauser. Gesammelt und. heraus¬
gegeben von S. Hauser. — 2. Bd. — Zweite Ausgabe. — Leipzig, Grunow.
— Wir haben bei Gelegenheit der ersten Ausgabe aus diesem interessanten Buch
Auszüge gegeben. — ,
?g.raäis tsri'sstrs par I^sräinanäLsnens. — LruxsIIss. — Der
Verfasser sucht die Widersprüche in der Genesis nachzuweisen. Seinen Standpunkt
charakterisirt er bereits in der Vorrede: Mus eroz^vns äLvoir xrsvsmr Is Isoteur
«zus lors^us nous ssmdlous iräinsttrs un visu xsrsonnöl et ereatsur, es u'sse
cjuo xour nous xleresr s.u xoint as vue as esux Mi eroisnt, se g,um as im-
eux inontrsr Sö, non-existsues en Is suivant as,us les xarolss et les aetvs c^u'
on Im attribus. Die Kritik ist hauptsächlich gegen den Begriff der Erbsünde ge¬
richtet, der sich nach der Meinung des Verfassers in dem Sinn, wie er jetzt von
der Kirche aufgefaßt wird, nicht einmal in den Urkunden findet.
Abonnementsanzeige zum neuen Jahr.
Mit dein Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeration auf denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December -I8L». Fr. Lndw. Herbig.
Das Ergebniß der ersten Periode von Preußens auswärtiger Politik unter
der Leitung des Freiherrn v. Schleinitz war, wie vorgesehen, ein wenig gün¬
stiges gewesen, indessen bot die Lage, in welcher der Friede von Villafranca
Deutschland und Preußen ließ, doch immer Handhaben, um neue und bessere
Verhältnisse herbeizuführen. Die schamlosen Verdächtigungen der ultramon¬
tanen Presse, die Entstellungen der Wahrheit, welche sich die Augsburger
Allgemeine Zeitung erlaubt hatte, waren siegreich widerlegt; wer die Augen
nicht geflissentlich schließen wollte, mußte wenigstens an die Ehrlichkeit und die
guten Absichten der preußischen Staatsmänner glauben. Dadurch, wie durch
die unläugbare Thatsache, daß Preußen der größte rein deutsche Staat bleibt,
an welchen sich jeder Fortschritt in der nationalen Einigung anschließen muß,
erklärt es sich, daß sich nach Berlin der Blick der unabhängigen Patrioten
lenkt, bei denen der italienische Krieg das Gefühl lebhaft wieder geweckt hat, daß
Deutschland nicht eine seiner Macht entsprechende Stellung einnehme, und der
Grund hierfür wesentlich in der Bundesverfassung zu suchen sei, welche eine
einheitliche Action unmöglich mache. Dies Gefühl trat noch entschiedener
nach dem Frieden hervor, durch den man die innern Gegensätze geschärft, die
Stellung nach außen doppelt bedroht sah. Den Anstoß gaben einige Mit¬
glieder der demokratischen Partei bei einer ersten Besprechung in Eisenach.
Denselben schlössen sich bald darauf mehrere hervorragende Mitglieder der han-
noverschen Opposition an, sowie eine Reihe anderer Constitutioneller. In einer
Zweiten Eisenacher Versammlung ward ein ausgebildeteres Programm in sieben
Punkten entworfen, das vornehmlich drei Forderungen aufstellte:
1. Ersetzung des Bundestags durch eine starke Centralgewalt.
2. Einberufung einer Nationalversammlung.
3. Uebertragung der Initiative für diese Zwecke an Preußen, das auch
im Falle der Gefahr inzwischen die diplomatische und militärische Leitung zu
übernehmen habe.
Es lag auf der Hand, daß diese Forderungen den meisten deutschen Re¬
gierungen wenig gefallen konnten; denn eine wirkliche Stärkung der Central-
gewalt kann natürlich mir auf Kosten der Selbständigkeit der einzelnen Bun¬
desstaaten erreicht werden. Am meisten sah sich Oestreich bedroht und Graf
Rechberg säumte denn auch nicht, dem Herzog von Coburg, der sich anerkennend
über die Bewegung geäußert hatte, eine scharfe Borlesung über die Verletzung
seiner Bundespflichten zu halten. Es ist zuzugeben, das; es einen ungewöhn¬
lichen Grad von Kühnheit von Preußen erfordert hätte, wenn es sich auf den
Standpunkt des Herzogs von Coburg hätte stellen wollen, man hätte mehr
oder weniger die Rolle Sardiniens in Deutschland übernommen, und die
Mehrzahl der andern Bundesstaaten sich gegenüber coalirt. Auch lag in der
ganzen Bewegung zu viel Uuklares, als daß sich die Eisenacher Sätze einfach
als Negieruugsprogramm hätten annehmen lassen. Nichtsdestoweniger wollte
man doch die guten Absichten des Nationalvcreins für Preußen nicht schroff
abweisen, und so ward die bekannte Antwort des Grafen Schwerin auf die
Stettiner Adresse gegeben. Sie sollte offenbar die richtige Mitte halten, be¬
friedigte aber nach keiner Seite. Den Patrioten war sie zu lau und beruhigte
die deutschen Cabinete doch nicht, weil sie die Berechtigung der Agitation an¬
erkannte und die Verwirklichung ihres Programms nur als eine Zeitfrage hin¬
stellte. Dasselbe Schicksal hatte die Antwortsdepesche auf die östreichische Zu¬
rechtweisung des Herzogs von Coburg. Wenn die Erinnerung an Olmütz der
Feder des preußischen Ministers eine schärfere Wendung gab, so war doch der
Satz, in dem derselbe es als einen von seinem Willen unabhängigen Umstand
hervorhebt, daß der Name Preußens an die Spitze der Bewegung gestellt
werde, wenig geeignet, die Hoffnungen der liberalen Partei zu ermuthigen.
Zeigte sich nun die Regierung furchtsam bei einer Frage von solcher Trag¬
weite, so durste mau doch erwarte», daß sie in einer Angelegenheit, in wel¬
cher Preußen sich durch die Reaction vornehmlich hatte demüthigen lassen,
das Recht der nationalen Forderungen anerkennen werde. Es war die ent¬
scheidende Niederlage der Uniouspolitik gewesen, daß Herr von Manteuffel in
den Bruch des Rechtes in Kurhesse» gewilligt und denselben hatte vollziehen
helfen. Es war unstreitig die Aufgabe der Männer, welche stets gegen diese
Politik protestirt hatten, dem hessischen Volke wieder zu seinem Rechte zu ver¬
helfen und dem Zustand unerträglicher Bedrückung ein Ende zu machen. Das
Ministerium verschloß sich dieser Wahrnehmung auch nicht, es trat offen für
die Verfassung vou 1831 auf. sowol in Frankfurt wie in Cassel, und die öffent¬
liche Meinung ganz Deutschlands stellte sich auf seine Seite.
Das preußische Votum am Bundestag war der Ausdruck eines wahrhaft
liberalen und staatsmännischen Verfahrens. Weniger glücklich scheint uns seine
Motivirung. Der Vundesbeschluh von 1852 war ein vollkommen revolutio¬
närer Act, durch deu die Frankfurter Versammlung unzweifelhaft ihre Kom¬
petenz überschritt, indem sie eine zu Recht bestehende Verfassung eigenwillig
umstieß. Die preußische Regierung dachte um deu enden Bundesregierungen
eine goldne Brücke zu bauen, indem sie den Bundesbeschluß von 1852 so
auslegte, daß er die Verfassung von 1831 nicht endgiltig aufgehoben, sondern
nur suspendirt habe. Sie irrte sich darin, denn nach langen unfruchtbaren
Verhandlungen blieb sie bei der Abstimmung mit ihrer Ansicht einer compac-
ten Majorität gegenüber fast allein stehen und konnte andrerseits dem Vor¬
wurf nicht entgeh», daß diese Auslegung künstlich sei, ja der Minister der
auswärtigen Angelegenheiten mußte denselben indirect in seinen Erklärungen
im Abgeordnetenhaus« zugeben. So sehen wir auch in dieser Frage, daß
bei einem unzweifelhaft richtigen Ziele des Ministeriums der Wunsch, es
möglichst mit niemand zu verderben, ihm eine schiefe Stellung gab.
Aber weit verschiedner zeigte sich diese Schwäche im Fortgange der ita¬
lienischen Frage. Dieselbe trat offenbar in ein neues Stadium, seit Frank¬
reich nicht nur sich ostensibel zurückgezogen, sondern sich auch im Frieden von
Villafranca verpflichtet hatte, die geflohenen Fürsten zurückkehre» zu lassen. Was
immer der Kaiser Napoleon für Hintergedanken hegen mochte, vorläufig hatte
er sich durch die Sendungen des Grafen Reiset und des Fürsten Poniatowsky
auf die Seite der vertriebenen Herzöge gestellt. Mit dieser Wendung hatte
sich auch die Stellung Preußens zu der italienischen Frage verändert. Wir
haben gesehen, daß die kriegerische Partei in Preußen im Frühjahr 1859 ein
actives Vorgehen nicht aus Haß gegen Sardinien oder aus Vorliebe für Oest¬
reich, sondern allein von dem Gesichtspunkte forderte, daß man Frankreichs
militärisches Uebergewicht nicht aufkomme» lassen dürfe. Sobald also dasselbe
zurücktrat, stand die Sache anders. Der nationalen Politik Sardiniens an sich
konnte Preußen nur günstig sein; es mußte froh sein, dasselbe von Frankreich
getrennt zu sehen und diesen Augenblick benutzen, ihm gemeinsam mit Eng¬
land eine Stütze zu bieten, die es der französischen Allianz entriß. Daß Lord
John Russell hierauf eingegangen wäre, ist mit Sicherheit anzunehmen, da
auch seine Vorliebe für Italien nur eine Emancipation desselben von Napo¬
leon wünschen lassen mußte, und daß Sardinien bereitwillig die dargebotene
Hand angenommen, wird ein Blick auf seine Beziehungen zu Frankreich be¬
weisen. Graf Cavour war mit dem Kaiser in Plombivres dahin überein¬
gekommen, daß der König Victor Emanuel an Frankreich Savoyen und Nizza
abtreten werde, wenn es gelingen sollte, Oestreich die lombardisch-venetianischen
Provinzen zu entreißen. Als Napoleon in Villafranca Halt nackte, überließ
er Sardinien die Lombardei ohne seinerseits eine Forderung geltend zu machen,
weil sein Program „Italien frei bis zur Adria" nicht erfüllt war. Englaud
und Preußen hatten nun das Interesse. Sardinien gemeinsam zu stützen, denn
jede Jsolirung mußte es wieder in die Arme Frankreichs treiben. Konnte es
sich an die Heiden Mächte lehnen, welche die Natur der Verhältnisse als seine
Alliirten bezeichnete, so war ihm eine selbständige Stellung möglich, die es
in den Stand setzte. Forderungen Frankreichs zu verweigern. Aber eine solche
Politik erheischte freilich, daß man sich über legitimistische Sympathien und
Vorurtheile hinwegsetzte und nur nach dem Interesse des Staates handelte.
Dazu aber war man in Berlin nicht geneigt. Das liberale Ministerium, das
sich in Deutschland isolirt. Oestreich wie England entfremdet fühlte, suchte viel¬
mehr einen Stützpunkt in Rußland, das vornehmlich dahin gewirkt, Preußen von
einer entschiednen Action im vorigen Sommer zurückzuhalten. Fürst Gortschakofs,
dem es sehr willkommen war Preußen auf diese Weise von England entfernt zu hal¬
ten, kam bereitwillig entgegen. Der Besuch des Kaisers Alexander in Breslau ward
verabredet, um den Mittelstaaten, bei denen die Ansichten des Petersburger Cabinets
doch immer ein gewisses Gewicht behielten, zu zeigen, daß dasselbe mit dem
Berliner einverstanden sei. Von wie geringem praktischen Werthe diese De¬
monstration war, sollte sich bald genug zeigen. Während die unfruchtbaren
Verhandlungen über den Züricher Frieden sich von Woche zu Woche hinzogen,
waren die Dinge in Italien ihren Weg gegangen. Die vertriebenen Fürsten
waren nicht zurückgekehrt, vielmehr die Annexion ihrer Länder an Sardinien
unter Begünstigung von England thatsächlich vollzogen. Napoleon sah mit
seinem richtigen Tacte, daß dergleichen Dinge nicht ungeschehen zu machen
seien, und während noch über den Congreß hin- und hergeschrieben ward, be¬
reitete er bereits eine neue Wendung vor. Um Weihnacht erschien die zweite
kaiserliche Flugschrift rü der italienischen Frage „der Papst und der Congreß".
Graf Walewski trat zurück, in Turin ergriff Graf Cavour wieder das Nuder.
der englisch-französische Handelsvertrag kam zu Stande. Nizza und Savoyen
wurden abgetreten. Wir wollen die Geschichte der bewegten ersten Monate
dieses Jahres hier nicht erzählen, sie ist frisch in aller Erinnerung, wir wollen
nur fragen: wie stellte sich die Politik Preußens zu diesen folgenschweren Er¬
eignissen? und müssen sagen: sie verharrte in ihrer Unthätigkeit und Unfrucht¬
barkeit. Es wurden zwar Vorsätze gefaßt und Ansätze genommen, aber
gethan wurde nicht das Mindeste. Die Motivirung des Anspruchs auf Sa¬
voyen und Nizza in Napoleons Thronrede, namentlich die verschleierte Forde¬
rung der natürlichen Grenzen mußte der Regierung, welche der Wächter des
Rheins sein soll, die ernstesten Besorgnisse einflößen. Es gab einer solchen
drohenden Thatsache gegenüber nur zwei Wege des Verhaltens : entweder ihre
Ausführung mußte thatkräftig verhindert werden oder man mußte, wenn man
dies für unmöglich hielt, sie Paralysiren, indem man sich durch ein Gegcnzu-
geständniß schadlos zu halten suchte. Beide Wege waren möglich. Vielleicht
wird man geneigt sein, dies von dem ersten zu verneinen; und allerdings war
der größte Fehler schon begangen, indem man Sardiniens Jsolirung zuließ,
durch die Cavour außer Stand gesetzt war, die kategorischen Forderungen Frank-
reichs zu verweigern. Aber wenn man sich der großen Bewegung erinnert,
welche die Annexion Savoyens und namentlich die hinterlistige Art. mit der
sie zuerst verneint und dann bruskirt ward, in England und der Schweiz
hervorgerufen, so wird man anerkennen, daß es den vereinten Bemühungen
Englands und Preußens leicht hätte gelingen müssen, den Bundesrath M
Besetzung der neutralisnten Gebietstheile Savoyens zu bewegen. Und dieser
Schachzug wäre das einzige wirksame Gegenmittel gegen die napoleonische
Diplomatie gewesen. So stark war. als die erste Nachricht von der beab¬
sichtigten Annexion kund wurde, die antibonapartistische Strömung bei Völkern
und Cabincten, daß Napoleon kaum gewagt haben würde, die Schweizer aus
Chablais und Faucigny hinauszuwerfen. Allerdings konnten sich England
und Preußen, wenn sie Napoleon sein Spiel so verleideten, darauf gefaßt
machen, daß er ihnen dies nicht vergessen würde. Hatte man aber in Berlin
nicht den Muth, seinem Groll zu trotzen, so war das einzig Richtige, seinem
Vorhaben offen zuzustimmen, sich dafür aber im eignen Interesse von Frank¬
reich ein Zugeständniß auszubedingen. das Preußen stärkte. Und zu solchem
war sein Gebieter bereit; er bot unter der Hand freie Hand in Schleswig-
Holstein für die Anerkennung der Annexion. Aber man sah darin in Berlin
nur eine Falle und suchte wieder nach einem Mittelweg. Nach langem Zögern
machte man einen Versuch zum Proteste, der vollkommen mißlang. Man hatte
dabei Gelegenheit, den Werth des Breslauer Verbündeten zu erproben,
indem Fürst Gortschakoff erklärte, er wisse nichts gegen die freiwillige Abtre¬
tung einer Provinz von Sardinien an Frankreich zu erinnern. Man tröstete
sich damit, indem man den franzosenfreundlichen Minister von dem Kaiser
unterschied und brachte nach langem Hin- und Herrathen eine Depesche zu
Stande, in der Preußens Mißbilligung der Annexion ausgesprochen ward,
die also wohl den Kaiser Napoleon unangenehm berühren mußte, aber in der
Sache nichts änderte. Nicht erfolgreicher war die Regierung in Deutschland.
Ueber die Reform der Bundeskriegsverfassung begann jener unfruchtbare
Meinungsaustausch und Notenwechsel mit Oestreich und den Würzburgern,
welchen wir noch bis auf die heutige Stunde fortdauern sehen. In der kur-
hessischen Frage hatte Herr von Schleime) sich schon der Idee eines ver-
mittelnden Weges und einer Verständigung mit Oestreich zugeneigt; nur der
Widerspruch der andern Minister bewog ihn. dem Majoritätsgutachten des
Bundestagsausschusses durch eine bestimmte Erklärung entgegenzutreten. Als
dann der Vinckesche Antrag im Abgeordnetenhause zur Verhandlung kam. er¬
mannte er sich zu einer ziemlich energischen Rede für den preußischen Stand¬
punkt, in der er aber, wie oben erwähnt, den Vorwurf der Künstlichkeit der
preußischen Interpretation des Bundesbcschlusses mittelbar zugab und dieselbe
nur damit vertheidigte, daß sie die einzig mögliche sei. um das Recht mit der
Bundescontinnität in Einklang zu setzen. Außerdem sagte der Minister wol, daß
die Staatsregierung den von ihr eingenommenen Standpunkt mit Festigkeit
zu behaupten wissen werde, gab aber keinerlei Andeutung, wie man denselben
anders als durch Erklärungen und Noten vertreten werde. Außerdem aber be¬
ledigten in dem Hause seine Ansichten über das Verhältniß Preußens zum
Bunde keineswegs.
Die Majorität wollte offenbar im Sinne der Herren von Vincke und
Carlowitz. daß Preußen sich zu einer Wiederaufnahme der Unionspolitik er¬
manne. Herr von Schleinitz dagegen erklärte zwar unumwunden seinen Bruch
mit der Neactionspolitik. wies aber hinsichtlich des Bundes darauf hin, daß
die seiner Competenz gezognen Schranken inne zu halten seien und sagte sich
ausdrücklich los von den Binckeschen Tendenzen. In der kurhessischen Ange¬
legenheit hatte die Negierung wenigstens einen bestimmten Weg eingeschlagen;
sie war am Bunde gegen den Rechtsbruch offen aufgetreten. In der schleswig-
holsteinschen Frage hatte sie bei den günstigsten Umständen nichts gethan, und
es mußte den peinlichsten Eindruck machen, als in der Debatte über die be¬
kannte Petition der Minister, welcher beim Ausbruch des italienischen Krie¬
ges so sehr Preußens Stellung als Großmacht betont hatte, sich blos auf die
Anerkennung der trefflichen Haltung der Herzogthümer beschränkte und die
Versicherung gab. daß Preußen ein Herz für dieselben habe. Offenbar konnte
es aber den gedrückten Schleswigern nicht darum zu thun sein, einige warme
Worte und fromme Wünsche von officieller Stelle zu vernehmen, für die noch
überdies die kopenhagner Regierung sie büßen ließ, sondern darauf allein
konnte es ihnen ankommen, was Preußen für sie thun wollte. Glaubte
Herr von Schleinitz nichts thun zu können, so durfte er auch nicht sprechen,
sondern mußte die ganze Debatte abschneiden, die nur als Einleitung zu ei¬
nem bestimmten Vorgehen gegen Dänemark einen Sinn hatte. Damit soll
natürlich nichts gegen die patriotischen Unterzeichner der Petition gesagt sein;
diese thaten ihre Pflicht, indem sie ihre Stimmen für die bedrückten Länder
erhoben; aber niemand wird läugnen, daß es wenig geeignet ist, das Ansehen
einer Regierung und Kammer zu heben, wenn zwei Tage über eine Frage
gesprochen wird, wobei nicht nur Ministerium und Majorität einig sind,
sondern es sogar an Gegnern fehlt und wenn dann schließlich nichts geschieht,
sondern es erst einer Provocation des so scharf getadelten Gegners bedarf,
um nur eine Verwahrung des Rechts zu veranlassen.
So ging auch die zweite Periode der auswärtigen Politik des Ministe¬
riums resultatlos zu Ende. Jedermann mußte es klar sein, daß der Einfluß
Preußens auf diesem Wege in Deutschland und Europa nicht steigen konnte.
Aber auch aus die innern Verhältnisse wirkte diese Unthätigkeit nachtheilig,
vor allem in der Frage über die Armeereform. Wir wollen hier auf dieselbe
nicht eingehn. aber gewiß ist. daß der Widerstand in Volk und Kammern
wesentlich in dieser Untätigkeit der äußern Politik wurzelte. Wenn Preußen,
so folgerte man. sich nur gegen einen Angriff vertheidigen soll, so genügt da¬
zu die Landwehr; soll aber, da unsre Regierung doch keine active, offensive
Politik macht, zu der sie eines großen schlagfertigen Heeres bedürfte, das Lau?
mit einem unerschwinglichen Militärbudget belastet werden, damit so viel
«ausend Soldaten mehr auf der Parade vorüberziehn? Und andererseits
werden auch entschiedene Gegner der Armeeresorm zugeben, daß ein kräftiges
Vorgehen gegen Frankreich oder Dänemark alle Opposition zum Schweigen
gebracht haben würde. Da die Regierung aber nichts that und doch große
Opfer mir für unbestimmte Eventualitäten, drohende politische Situation u.
forderte, so wurde sie in eine schiefe Stellung gebracht, welche sich in der
Folge noch schwer geltend machen wird.
Es war nicht zu verwundern, wenn das ziellose Schwanken der aus¬
wärtigen Politik Preußens im Innern ein lebhaftes Unbehagen erregte und
auswärtigen Cabincten den Gedanken gab. dasselbe für ihre Combinationen
auszubeuten. Zwqr im Abgeordnetenhause, wie in der Presse überwog im
Anfang dieses Jahres noch die Sympathie für das Ministerium, die Rück¬
sicht auf die Schwierigkeiten, mit denen es zu kämpfen, die Furcht, der Kreuz¬
zeitung in die Hände zu arbeiten, und nur einzeln machte sich, wie in den
Aeußerungen des Herrn von Nincke, der Unmuth Luft. Festere Gestalt da¬
gegen gewann die Ansicht, daß es so nicht fortgehen dürfe, bei einigen pren-
l'löcher Diplomaten. Von dem Gesichtspunkte ausgehend, daß Preußen es
unter den bewandten Umständen doch nicht zu einer großen und selbständigen
.nationalen Politik bringen werde, meinten sie. es sei besser sich vorläufig mit
Frankreich zu verständigen und einen Machtzuwachs für Preußen zu erstreben,
der mehr realer Natur sei als die moralischen Eroberungen; demgemäß seien
die russischen Vorschläge, wonach das Petersburger Cabinet freie Hand in
Constantinopel, Preußen Deutschland bis zur Mainlinie und Frankreich das
linke Rheinufer erhalten sollten, nicht zu verwerfe». Es ist ein öffentliches
Geheimniß, daß eine russische Großfürstin diesen Plan in Berlin empfahl und
daß der preußische Gesandte in Petersburg. Herr von Bismark, sich zu dessen
eifrigstem Fürsprecher machte. Nicht blos an officieller Stelle setzte er die
handgreiflichen Vortheile eines solchen Arrangements auseinander, sondern
auch Mitglieder der liberalen Partei suchte er dafür zu gewinnen, indem er
darauf hinwies, daß, wenn Preußen sich erst durch solche Gebietserweiterungen
consolidirt. es ihm leicht sein werde, bei einer Coalition gegen Frankreich das
Verlorne wiederzuerlangen. Seine Bemühungen wurden von dein russischen
Gesandten. Herrn von Budberg eifrig fecundirt. der hoffen durfte, in ihm Herrn
von Schlcinilz einen Nachfolger zu geben, mit dem er sich vollkommen ein-
verstanden wußte. Diese Pläne scheiterten, zumeist an der entschiedenen Zu¬
rückweisung des Prinzregenten; indeß der Kaiser Napoleon, der sich bisher
ganz ruhig verhalten und Rußland die Sondirung überlassen hatte, konnte
sich doch nicht davon überzeugen, daß Preußen einen so vortheilhaften Vor¬
schlag einfach zurückweisen sollte, und glaubte denselben bei einer persönlichen
Zusammenkunft dem Prinzregenten annehmbar machen zu können. Im An-
fang Mai kam eine Meldung aus Paris, der Kaiser sehe mit Bedauern, daß
unbegründete Gerüchte über französischen Ehrgeiz Deutschland beunruhigten,
er wünsche dem ein Ende zu machen und sich offen mit dem Prinzregenten
darüber auszusprechen, dem er deshalb eine Zusammenkunft vorschlage. Wir
glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß dem Regenten diese Auf¬
forderung wenig gelegen kam, und in der That war auch nicht der geringste
Grund da, eine solche Zusammenkunft für ihn wünschenswert!) zu machen.
Wir sind keineswegs blinde Franzosenfeinde und geben gerne zu. daß in der
jüngsten Zeit mehrfach sich Gelegenheiten boten, wo Preußen und Frankreich
sehr wohl zusammengehen durften, weil sie sich gegenseitig wichtige Dienste
leisten konnten; solche Fälle lagen während des orientalischen und italienischen
Krieges vor, ja noch im Anfang dieses Jahres bot die Savoyische Frage
ein derartiges Mittel sich zu begegnen. Im Frühjahr aber gab es keine
solche Gelegenheit mehr. Frankreich brauchte uns nicht, konnte folglich auch
nicht geneigt sein, uns etwas zu bieten, wofern wir nicht etwas von
dem Unsrigen für Neuzuerwerbendes hingeben wollten; da man aber jedes
Tauschprojekt abwies, so war auch die Zusammenkunft überflüssig, denn was
sollte darin verhandelt werden? Der Prinzregent mußte doch wohl ohnedies
wissen, wie er mit dem Kaiser daran war; oder glaubte man vielleicht, daß
den Mann des Staatsstreiches eine Versicherung mehr binden werde?
Aber die Leiter unserer auswärtigen Politik fürchteten vor allem den Kaiser
Napoleon durch eine Zurückweisung zu verletzen und hoben hervor, daß der
Regent diese Gelegenheit trefflich benutzen könne, um Deutschlands Interesse
zu vertreten. So ging denn eine Antwort nach Paris, der Regent sei erfreut
über das Erbieten des Kaisers, durch persönliche Erklärungen das Mißtrauen
gegen Frankreich zu zerstreuen, er fasse die vorgeschlagene Zusammenkunft in
dem Sinne auf, daß sowohl die Furcht eines Angriffs von Frankreich als
eines Sonderbündnisses deutscher Fürsten mit Frankreich beseitigt werden
solle.
Wir wollen hier nicht die Geschichte der Tage von Baden erzählen, sie
ist bekannt und namentlich in diesen Blättern (Ur. 27 und 28) vollständig
resumirt; nur einige Folgerungen mögen hier Platz finden, die wir nicht ab¬
zuweisen vermögen. Die Mannhaftigkeit und Würde, welche der Prinzregent
in seinem ganzen Auftreten zeigte, ist um so mehr zu betonen, als er hier
recht eigentlich persönlich für seine Politik eintrat und ihr Ausdruck verlieh.
Er zeigte den Fürsten, die er um sich versammelt hatte, daß er offnes Spiel
wollte. Er. der nur den verlockenden Anerbietungen von Ost und West sein
Ohr zu leihen brauchte, um den Vertriebnen italienischen Souveränen die
Gesellschaft zahlreicher deutscher Vettern zu verschaffen, trat für die Integri¬
tät des deutschen Gebiets auf. er trat aber auch persönlich für die liberale
Richtung seines Ministeriums ein und erklärte, daß er an dem bisher einge¬
schlagenen Wege festhalten werde. Daß ein solches Verhalten in Deutschland
die lebhafteste Befriedigung erregte und sogar die Anerkennung der mißgün¬
stigen englischen Presse errang, ist begreiflich, aber vielleicht hat man doch in
der Freude über das persönliche Verdienst des Prinzen die politischen Folgen
der Zusammenkunft sich nicht ganz klar vergegenwärtigt. Die Badener Zu¬
sammenkunft war angenommen, weil man. Napoleon nicht durch eine Ab¬
lehnung verletzen wollte. Mau übersah dabei, daß mit der preußischen Er¬
klärung, es dürfe von keiner Abtretung auch nur eines deutschen Dorfes die
Rede sein, für den Kaiser der beabsichtigte Besuch jedes Zweckes entbehrte;
wollte er Deutschland beruhigen, so konnte dies in viel wirksamerer Weise
durch den Moniteur oder eine Rede geschehen. Da er einmal die Zusammen¬
kunft nachgesucht, konnte er sie freilich auch nicht vermeiden, als sie inhaltlos
geworden. Ein solcher Besuch zählte nun schon an sich nicht zu den Annehm¬
lichkeiten, noch weniger aber konnte es ihn angenehm berühren, die Erklärung
seiner Friedensliebe indirect erwidert zu sehen durch das gegenseitige Ver¬
sprechen der deutschen Fürsten, für die Integrität des Bundesgebiets einstehen
zurollen. Der einzige Wunsch, den er aussprach. es möge der Tendenz der
deutschen Presse, Mißtrauen gegen Frankreich zu verbreiten, gesteuert werden,
wurde abgelehnt. Nimmt, man dazu noch das Verhalten des Publicums in
Baden, das den Prinzregenten'begeistert, den Kaiser dagegen mißtrauisch auf¬
nahm, so glauben wir nicht, daß der letztere Ursache hatte, mit dem Resultat
seines Ausfluges sehr zufrieden zu sein, und wenn die vorsichtigen Männer in
Berlin fürchteten, ihn.durch eine Ablehnung der Zusammenkunft zu kränken,
so hat sicher der Besuch einen schärfen, Stachel in ihm zurückgelassen, als
eine einfache Zurückweisung der vertraulichen Aufforderung es je hätte thun
können. Aber in einem noch wichtigern Punkte haben die Badener Tage
>dren Zweck verfehlt. Die Einigkeit der deutschen Bundesfürsten sollte dort einen
Ausdruck finden, sie that dies auch gegen Napoleon; aber kaum war derselbe
abgereist, als die bedenklichsten Meinungsverschiedenheiten sich zeigten. Mehrere
Fürsten, statt dem Prinzregcntcn ihre Anerkennung für seine uneigennützige
und mannhafte Haltung praktisch zu beweisen, forderten, daß er seine Politik
andre, die Triasidee in der Armeereform annehme, den Nationaluerein unter¬
drücke u, s. w,; es bedürfte der klugen und festen Haltung des Regenten und
der wirksamen Unterstützung der Fürsten von Baden, Weimar und Coburg
um diese versuche i>n Keime abzuschneiden. Die Vorgänge sind indeß nicht ge-
heim geblieben, und ob Napoleon darin eine thatsächliche Bestätigung der
Einigkeit der dentschen Souveräne gefunden hat, müssen wir bezweifeln.
Wir wenigstens haben durch nichts die Aeußerung der Preußischen Zeitung
gerechtfertigt gefunden, daß die Hoffnung auf die Annäherung derjenigen,
deutschen Regierungen, welche bisher andern Auffassungen folgten als Preu¬
ßen, nie begründeter gewesen, als nach den Tagen Von Baden, wir haben
vielmehr den Beweis des Gegentheils gefunden in der Fortsetzung der Trias-
bcstrebnngen für die Bundeöarmcereform.
Anders schien es allerdings mit Oestreich zu stehen. Der Regent hatte
in Baden den Fürstenvgesagt, er werde sie benachrichtigen, wenn eine An¬
näherung an das Wiener Cabinet stattgefunden haben würde. Der Anfang
dazu wurde ebenda dnrch die Vermittlung des Großherzogs von Baden ge-
macht. Bald darauf schrieb der Kaiser an den Regenten, die Zusammenkunft
in Teplitz ward verabredet. Bei derselben ist weder zwischen den Souveränen,
noch den Ministern, welche sie begleiteten, von Uebernahme bindender Ver¬
pflichtungen die Rede gewesen. Der Wunsch der Garantie Venetiens wurde -
prenßischcrseits sogleich abgelehnt, man erklärte, an dem Grundsatz der Nicht-
intcrvention festhalten zu wollen auch im Falle eines Angriffs Italiens gegen
Venetien; dagegen wurde der kaiserlichen Regierung Preußens Hülfe in Aus¬
sicht gestellt, wenn in einem solchen Kampfe Frankreich zum zweitenmal« Sar¬
dinien unterstützen sollte. Aber auch diese Zusage wurde von Bedingungen
abhängig gemacht, welche ihr jeden bindenden Charakter nahmen. Wenn
Preußen, so erklärte man, Oestreich wirksam unterstützen solle, so müsse das¬
selbe seine deutsche und innere Politik in einer Weise ändern, welche den
Widerstand der öffentlichen Meinung in Preußen gegen eine Annäherung von
Oestreich beseitige, es dürfe einer Herstellung des Rechts in Kurhessen'und den
Herzogthümern nicht in den Weg treten, es müsse ans das Protektorat der
mittclstaatlichcn Opposition gegen Preußen verzichten, es habe im eignen Hause
den Forderungen der Zeit gerecht zu werden, um sich wieder die Sympathien
in Norddeutschland zu erwerben.
Danach war die Teplitzer Zusammenkunft sehr weit von einer Coalition
entfernt. Aber noch mehr war es die Warschauer Begegnung der drei Souve¬
räne von Rußland, Preußen und Oestreich. Wie wurden die Hoffnungen der
Legitimisten getäuscht, welche davon eine Wiederbelebung der heiligen Allianz
erwarteten! Der Kaiser von Oestreich hatte die Einladung durch mühsame
Verhandlungen hochgestellter Personen herbeigeführt; aber Fürst Gortsch'akoff
ist ein kalter praktischer Kopf und nicht geneigt aus Schwärmerei für ein Prin¬
cip oder aus Rücksichten auf Fremde Interessen Rußlands zu opfern. Es ist
bekannt, das; der leitende Gedanke seiner Politik die französische Allianz ist.
was auch das Schaukelspiel Napoleons zwischen Nußland und England sein
möge, schließt er. schließlich wird doch Nußland sein rechter Verbündeter sein,
wenn es zum Bruche mit England kommt; er bedarf desselben, wie wir seiner
im Orient bedürfen. Dies ist sein Gesichtspunkt, und danach wird man sehen,
daß Napoleon sich die Reise nach Warschau sparen konnte, da er dort einen
Verbündeten hatte, welcher jede» wirksamen Zug gegen ihn verhinderte und
ihn von allein in Kenntniß feste. Preußen verhielt sich ganz neutral; es
gab wieder einen Austausch von Ansichten, höfliche Erklärungen, aber von
einem gemeinsamen Plane war nicht die Rede. Nichtsdestoweniger hatte
Warschau eine Bedeutung, wenn auch eine negative; es war der Beweis ge¬
liefert, daß auch Angesichts der Ereignisse in Italien', welche Preußen und
Nußland officiell gemißbilligt hatten, eine gemeinsame Action der drei nordi-
Ichen Mächte unmöglich gewordcu war.
Ehe der Regent nach Warschau gegangen, hatte er noch die Königin von
England in Coblenz begrüßt, und so hat es in diesem vergangenen Sommer
nicht an Gelegenheit zum Austausch der Meinungen der Sonvräne und Mi¬
nister gefehlt. Aber fragen wir, was ist das Ergebniß aller diefer Reisen,
welchen Gewinn hat Preuße» daraus gezogen, so müssen wir antworten,
einen überaus geringen. Bcgegnrmgc» und Unterredungen der leitenden Per¬
sönlichkeiten haben im politischen Leben unzweifelhaft ihren großen Werth,
aber nur dann, wenn man einen festen Plan verfolgt und für dessen Aus¬
führung arbeitet, wenn man zu handeln entschlossen ist. Im vorliegenden
Falle können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, als ob alle diese Reisen
»ach Ost und West mit ihrer Vielgeschästigkeit nur den Entschluß verdecken
sollten, nichts zu thun. Die preußischen Staatsmänner scheinen der Ansicht
zu sein, daß man mit bloßem Meinungsaustausch, Versicherung von Absichten,
Parlamentarischen Reden u. s. w. eiuen Einfluß ausüben könne. Wir meinen,
die Erfahrung sollte ihnen das Gegentheil bewiesen haben. Nur dessen Wort
wiegt, von dem man entschiedenes Handeln erwartet. Wenn der Kaiser Na¬
poleon oder Victor Emanuel eine Rede halten, so horcht die Welt, weil sie
weiß, daß das Wort nur die Erklärung eines Entschlusses ist, dies oder jenes
zu thun. Als Herr von Schleinitz im Anfang des italienischen Krieges sprach,
glaubte man noch eine Action Preußens, aber seine Politik hat sich um allen
Einfluß in europäischen Angelegenheiten gebracht, weil niemand mehr an den
Entschluß der Negierung, zu handeln, glaubt. Nicht an Intelligenz fehlt es im
Ministerium des Auswärtigen; wo es mit darauf ankommt, in wohlgesetzten Wor¬
ten eine Darlegung zu geben, eine irrige Auffassung zu widerlege», da wird man
die preußischen Noten und Depeschen mit Vergnüge» lesen. Auch ist es nicht
Mangel an Ideen, der uns auffällt; die Empfehlung Schwedens zur Auf-
nähme als siebente Großmacht war die beste Antwort, welche es auf den Na¬
poleonischen Antrag wegen Spaniens geben konnte. Es ist der Mangel jedes
festen Planes, es rst das Treiben mit den Ereignissen, das Abwarten und
Zuwarten, bis es zu spät, um einzugreifen, das fruchtlose Bestreben es mit
niemand zu verderben, mit einem Wort die Politik der freien Hand, welche
Preußen um sein Ansehn bringt. Vor allem gilt es doch die eignen Interessen
zu wahren, und wir fragen: was haben wir für Schleswig-Holstein erreicht,
was für Kurhessen, wo ist eine Aussicht, die Mittelstaaten unter die preußische
Politik zu beugen? Als das Ministerium ins Amt kam, beeilte Dänemark sich,
die Gesammtverfassung für Holstein und Lauenburg aufzuheben, weil es ein
Einschreiten befürchtete; jetzt hat es diese Furcht verloren, sich unter der Hand
Frankreichs Schutz versichert und wagt n»s' durch England eine weniger un¬
gesetzliche Behandlung Schleswigs anzubieten, wenn man auf die Vertheidi¬
gung gefährdeter holsteinischer Rechte verzichten will. Preußens Erklärung für
die Verfassung von 1831 hat die wackern Hessen bewogen, sich nochmals für
ihr Recht zu erheben; was hat man gethan, um die Durchführung ihrer Ab¬
sichten zu sichern und die Durchführung des letzten Bunbesbeschlusses zu ver¬
hindern? Ist man auch nur einen Schritt mit den Würzburgern weiter ge¬
kommen? Das Project über die Reform der Bundcsarmee mag die Antwort
darauf geben. Weiß man dem preußischen Namen im Auslande Geltung
und Zuneigung zu verschaffe»? Die Fahrt der Lorelcy gibt Auskunft. Hat
man sich für die von Frankreich drohende Gefahr eine Allianz erworben,
baut man etwa sentimental auf das stammverwandte England, das verwandte
russische Fürstenhaus, das konstitutionelle Italien? Das demonstrative und
unfruchtbare Suchen nach Allianzen hat Preußen um jede solide Allianz des
Auslandes gebracht, während durch die nachdrückliche Betonung des formellen
Rechts an allen Orten der Starrsinn der feindlichen deutschen Regierungen
überall gekräftigt wird.
Und mit einer solchen Politik geht man bei schweren innern Conflicten
der drohendsten Zukunft entgegen. Kann dies zum Heile führen, würde Preu¬
ßen so moralische Eroberungen machen, ja würde es nur erfolgreich, was es
hat vertheidigen können? Wer möchte darauf eine bejahende Antwort geben!
Es liegt aber alles daran, daß die pessimistische Auffassung, welche hoff¬
nungslos nicht in den Krieg geht, sondern in den Krieg treibt, gebrochen
werde, und dies zu thun ist die Pflicht des Abgeordnetenhauses. Nicht blos
die innern, sondern auch die äußern Angelegenheiten gehören zu seiner Kom¬
petenz, der auswärtige Minister ist so gut verantwortlich wie der der Justiz
oder der Finanzen. Wir begreifen und ehren die Rücksichten, aus denen bis¬
her die Abgeordneten sich der Regierung gegenüber zurückgehalten und sie
nur zu kräftigen und anzuspornen gesucht haben, aber solche Rücksichten haben
ihre Grenze». Das Haus muß es jetzt aussprechen, daß die bisherige aus¬
wärtige Politik dem Lande kein Vertraue» einflößen kann, es muß fardern.
daß nach festerem Plane und mit Energie die Interessen Preußens und Deutsch¬
lands
Ein Bild aus der Vergangenheit zum Vergleich mit der Ge¬
genwart.*)
Den 18. Juli 1658 wurde in Frnnkfnrt Leopold, der 18jährige vor dem
Tode seines begabteren älteren Bruders zum geistlichen Stande bestimmte
zweite Sohn des Kaisers Ferdinand des Dritten zum römischen Kaiser gewählt.
Zwei Parteien hatten lange Zeit deshalb gestritten. Die geistlichen Kurfürsten
mit Kurbayern hatten sich zu Frankreich geneigt und wollten in unbegreif¬
licher Verblendung Ludwig den Vierzehnten zum römischen Kaiser machen.
Die protestantischen Kurfürsten dagegen gedachten den Habsburger Leopold zu
wählen, um das bedrängte Reich vor Mnzarins Intriguen und Gewaltthä¬
tigkeiten zu schlitzen. Freilich bedürfte das Reich mehr als jemals eines Kai¬
sers von klarem politischen Blick, von selbständigem, festem Willen und vor
Allem von freiem und mildem Sinn in kirchlichen Dingen, durch den allein
die versöhnten Reichsstände beider Confessionen in Eintracht erhalten werden
konnten. Schwerlich haben die Kurfürsten, welche an ihm festhielten, in diesen
Beziehungen sich große Hoffnungen gemacht. Aber Leopold war der einzige
deutsche Fürst, der gegen die französischen Gelüste durchgebracht werden konnte.
Und so thaten sie damals das, was sie im Interesse für das deutsche Reich
ZU thun im Stande waren. Wie wenig auch die bescheidensten Erwartungen
erfüllt wurden, ist zur Gnüge bekannt. Wer die Geschichte der Bedrängnisse
unseres Vaterlandes in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts kennt,
wird zwar willig zugestehen, daß auch die Glieder des Reichs, die Fürsten,
mehr oder minder Schuld hatten. Aber die größte Schuld fällt auf das
Haupt, den Kaiser, der in seiner geistigen und geistlichen Beschränktheit d>e
Dinge so gehen ließ, das? sie bald zu Gunsten der Franzosen, bald von der
seit Ferdinand dein Zweiten mächtig gewordenen spanisch-ultramontanen
Partei, aber in beide» Fällen zum Schaden des deutschen Reichs und Volkes
ausgebeutet wurden.
Leopold war körperlich schwächlich, von bescheidenem, gutmüthigem Nn-
turcl, ohne Geist, aber genügend begabt, etwas zu lernen. Dies waren
Eigenschaften, die seine Erzieher, die Jesuiten, wohl zu benutzen und zu ent¬
wickeln verstanden, um aus ihm, er mochte ein Kirchenfürst oder ein weltlicher
Herr werden, ein brauchbares Werkzeug ihrer Pläne zu machen. Dieser Schule
gemäß war er zwar in alten und neuern Sprachen, in der Mathematik und
Geschichte wohl unterrichtet, dabei aber war und blieb er immer fromm devot,
beschränkt und förmlich und von seiner Umgebung abhängig, besonders, wo
nicht andere Einflüsse sich zeitweise geltend machten, von der Geistlichkeit und
den Jesuiten, denen er großes Vertrauen schenkte. Die Geschäfte besorgte er
fleißig, aber nicht mit Liebe, nur aus Gewohnheit und Pflichtgefühl. War
ein wichtiger Entschluß zu fassen, so war er sehr bedenklich und weitläuftig,
da hatten die Minister oft- einen sehr schlimmen Stand. Hatte er sich aber
einmal etwas zurecht gelegt, so war ihm schlimm beizukommen, besonders wenn
er sich religiöse Gewissensscrnpet machte. Dann war er zäh, wie sein Gro߬
vater Ferdinand, zwar ohne Fanatismus, aber gegen sein Naturel hart, vor¬
züglich gegen die sogenannten Ketzer, die er von ihrem Irrwege zurückzuführen
für seine Pflicht hielt und den ärgsten Verfolgungen preisgab. Im Ganzen
liebte Leopold die Ruhe, vou Vergnügungen besonders die Musik und die
Jagd, dafür hatte der sonst so in sich zurückgezogene Fürst ein lebhaftes In¬
teresse. Seine erste Frau, die spanische Margarete Theresia, „ein gar schwa¬
ches und zartes Frauenbild," die von ihrer steifen spanischen Hofhaltung
umgeben, in stiller Zurückgezogenheit den ganzen Tag mit Beten und Arbeiten
für Kirchen und Klöster zubrachte, erbaute den Kaiser durch ihre Frömmigkeit.
Sie starb schon 1673 im zweiundzwanzigsten Jahre ihres Lebens. Die zweite
Frau dagegen, Claudia Felicitas von Tirol, „eine wohlgewachsene Person/'
welche auch schon 1676 im dreiundzwanzigstcn Lebensjahre starb, wußte durch
ihren lebhaften Geist und guten Humor sowie durch lebhafte Theilnahme an
den Vergnügungen des Kaisers ihn etwas anzuregen und war nicht ohne
vorübergehenden Einfluß auf sein Naturel und seine Regierung. Wenigstens
trat seit dieser Verehelichung 1673 die geistreiche Stiefmutter des Kaisers,
Eleonore, mehr zurück, die bis dahin im Interesse Frankreichs öfters den
Stiefsohn zu leiten vermocht hatte und nun durch den Verkehr mit der so«'
irischen Partei den verlorenen Einfluß wieder zu gewinnen suchte/)
Als Ludwig der Vierzehnte im Ja Im i<-?0 den Herzog Carl von Loth-
ringen vertrieben hatte und die Holländer bedrohte, hatte die geistlich-spanische
Partei in Wien theils keinen zu großen Eifer, den niederländischen Ketzern zu
helfen, theils konnte sie, wo der Gegensatz gegen Frankreich und das spanische
Interesse aus der Noth eine Tugend zu machen drängte, sich nicht gehörig
geltend machen. Neben dem spanischen Gesandten war es nur ein Mitglied
des vertrautem kaiserlichen Geheimraths, der Hvfcanzler Baron Hocher, der
mit dem Gesandten einig gegen Frankreich zu wirken suchte, doch nicht im
wahren Interesse des Reichs, sondern als Vertreter der geistlichen und Je-
suitenpartei, in deren Sinne er anch stets die Bedrängnisse der Protestanten
begünstigte. Er war früher in Böhmen Advocat gewesen und durch juristische
Gelehrsamkeit, Geschäftstüchtigfcit und zweideutige Gewandtheit emporgekom¬
men, die ihm anch seinen Feinden gegenüber seine Stellung sicherte. „Er
wußte seine Worte im diplomatischen Verkehr so auf die Goldwage zu legen
und so zu antworten, daß er sich immer eine Hinterthür offen erhielt." Dieser
Partei wirkten damals der höchst gewandte französische Gesandte Gremonville
und der einflußreichste Minister des Kaisers, der Fürst von Lobkowitz, von
1665 .-1674 entschieden entgegen, so daß nach dem Abschlüsse eines geheim
gehaltenen Vertrags mit Frankreich über die eventuelle Theilung der spani¬
schen Monarchie im Jahre 1668 sogar 1671 ein Freundschaftstractat zwischen
Oestreich und Frankreich zu Stande kam, durch welchen Ludwig in Holland
freie Hand bekam.
Wenzel Eusebius Fürst von Lobkowitz, kaiserlicher Oberhofmeister, war
ein sehr geistreicher und geschäftsgewandter, aber frivoler und übermüthiger
Diplomat. Dem Leopold hatte er sich durch seine Dienste bei der Kaiserwahl
empfohlen, und er mußte sich trotz seiner beleidigenden Rücksichtslosigkeit und
Spottsucht, trotz seiner offen zur Schau getragenen Abneigung gegen Jesuiten und
gegen die spanische Partei, trotz seiner Sympathien für Ludwig den Vierzehnten
so lange zu halte», daß man deutlich sieht, wie zäh der Kaiser war, wenn er
sich einmal in der Neigung für einen Günstling festgerannt hatte. Aber es
beweist auch, wie begabt der Minister sein mußte, der seinen frommen Herrn so
lauge Zeit festzuhalten wußte. Selbst als sich der Kaiser 1673 zum Kriege
gegen Frankreich entschließen mußte, konnte Lobkowitz den Krieg zu Gunsten
Frankreichs überall lähmen. „Montecuculi sei," so äußerte er sich, „dem Kur¬
fürsten von Brandenburg an die Seite gesetzt worden, um, was einer oder der
andere dabei suche, zu dctouruiren und den Effect zu vereiteln, dem ungezäum-
ten wilden Pferde müsse ein gezähmtes gelindes Roß beigesellt werden." Dem¬
nach ist es nicht wunderbar, daß man damals und später glaubte, er sei von
Ludwig geradezu bestochen worden, habe Kaiser und Reich an Frankreich ver¬
rathen. Nun mag wol Ludwig gegen ihn gefüllig gewesen sein, aber eine
förmliche Bestechung, ein absichtlicher Verrath des Lobkowitz läßt sich nicht
nachweisen. Eine Summe von 200,000 si., die er als Erbe eines Anspruchs
seines Vaters vom Staate fordern zu können glaubte und die er auf nicht
ehrenhafte Weise sich verschafft hatte, wurde nach seinem Sturze zurückgefordert,
und'dies gab Veranlassung zu dem Gerüchte, daß ihn Ludwig bestochen habe.
Möglich, ja sogar wahrscheinlich ist es, daß der Minister, der an die Stelle
des von den Spaniern abhängigen Fürsten Porzia trat, den Anstoß zu seiner
Politik in seiner Abneigung gegen die Spanier und die geistliche Camarilla
erhielt, und da er kein Mann von Grundsätzen war, sondern in geistreichem
Uebermuthe stets seine Persönlichkeit geltend zu machen suchte, so brachte dies
ihn, der gegen Intriguanten intriguirte, auf falsche Wege. Vielleicht sollte auch
Ludwigs keckes Gebahren benutzt werden, die Spanier sowol als die nach
Selbständigkeit strebenden deutschen Fürsten im Interesse der Habsburgischen
Hausmacht und der kaiserlichen Autorität im Reiche zu schwächen. Der deutsche
Patriot, der besonnene Staatsmann wird und muß jener die Tendenz, dieser
das gewagte Spiel des Ministers verurtheilen, doch absichtlicher Verrath der
Interessen seines Kaisers, der auch von deutsche» Interessen keine Ahnung
hatte, wird man ihm schwerlich aufbürden dürfen. Ein günstiges Zeugniß für
Lobkowitz war auch sein vertrauter Verkehr mit dem Kapuzinerguardian P.
Emmerich, der als ein ehrlicher, wohlmeinender und offenherziger Mann überall
bekannt war und trotz seiner Abneigung gegen Jesuiten und Ketzerverfolguugen
auch vom Kaiser geschützt wurde. Trotzdem daß er. auch nach dein Sturze des
Lobkowitz an ihm, den alle mieden, festhielt, blieb er doch bei dem Kaiser in
Gunst und wurde auch später öfters zur Berathung gezogen. Würde ein sol¬
cher Mann mit einem so gewissenlosen Verräther überhaupt verkehrt haben?
Würde er mit ihm in Verbindung geblieben sein? Und würde der Kaiser den
Freund des gestürzten Ministers fernerhin werth gehalten haben, wenn
sich ein offenbarer Verrath desselben hätte erweisen lassen? Es läßt sich
acht mit Bestimmtheit sagen, was die Veranlassung seines Sturzes
war. Jedenfalls suchten seine zahlreichen Gegner lange eine Gelegenheit
wider ihn und überraschten den Kqiser mit irgend einem drastischen Beweise,
der dem> Kaiser die Augen öffnete und ihn überzeugte, daß des Ministers
Politik eine verderbliche gewesen war. Vielleicht wirkte hier mehr das, was
er gegen das kirchliche Interesse der Partei als das, was er gegen die
politische Würde des Kaises gethan hatte. Seine Gegner, die auch seine Frau,
die Claudia, gewonnen hatten, manövrirten so geschickt, daß der Kaiser, wol
auch, wie Ludwig der Dreizehnte des Richelieu, seines überlegnen Führers, über-
drüßig, wider seine Gewohnheit sehr ungnädig wurde. Als Lobkowitz 12. Oc-
tober 1674 früh morgens zum Kaiser fahren wollte, erhielt er auf dem Wege
den Befehl, er habe nach Verlust seiner Aemter und Würden und nach be-
reits beschlossener Beschlagnahme seiner meisten Güter sich innerhalb drei Tagen
von Wien nach seinem Schlosse Raudnitz in Böhmen zu verfügen. Dort solle
er bleiben und mit niemandem corespondiren bei Lebensstrafe. Zugleich wurde
ihm eingeschärft, niemals nach der Ursache dieses Verfahrens zu fragen.
Seine Secrctäre wurden gefoltert. Man wußte nicht, weshalb und hörte nur,
daß man von ihnen nichts erfahren habe. Ehe Lobkowitz Wien verließ, war
er beim P. Emmerich, dem einzigen Manne, der ihm treu blieb. Dann
wurde er mit militärischer Begleitung nach Raudnitz gebracht, und ertrug dort
still und würdevoll sein Exil. Später schien der Kaiser versöhnlichere Gesin¬
nungen gegen ihn zu hegen, doch kam er nie wieder an den Hof. Er starb
im Jahre 1677 : seine Kinder erhielten auf Betrieb der Kaiserin Eleonore die
confiscirten Güter größtentheils zurück. Was er auch verschuldet haben mag,
— die Justiz, welche gegen ihn geübt wurde, ist charakteristisch für Leopold
und seinen Hof.
Die übrigen Mitglieder des vertrauten kaiserlichen Rathes zu jener Zeit
neben Lobkowitz und Hocher waren nicht bedeutend. Denn seit längerer Zeit
hatten die etlichen zwanzig Mitglieder des kaiserlichen Rathes, die höchsten
Hof- und Staatsbeamten, mit denen früher alles berathen worden war. keinen
Einfluß mehr auf die Geschäfte. Diese wurden jetzt nur mit einigen aus¬
gewählten Vertrauenspersonen besprochen. Es waren diese außer Lobkowitz
und Hocher damals der Neichshofrathspräsident Fürst von Schwarzenberg, der
Oberstkämmerer Graf Lamberg und der Neichsvicekcmzler Graf Königseck.
Schwarzenberg war ein schöner und reicher Mann, der gewandt zu sprechen
wußte, aber weitlnuftig und schwerfällig „ein Zoewr xerxlexitatum et cludi-
tator (?) pei-Mnus". Lamberg hatte sich durch lange Dienstzeit und ge¬
wissenhafte Besorgung der Geschäfte seines Hofamtes empfohlen: in Staats¬
angelegenheiten war er mit allem einverstanden, was ihm vorgetragen wurde.
Königseck wird als ein leichtzugänglicher und redseliger, aber leidenschaftlicher
und unzuverlässiger Mann geschildert. Alle diese waren von Lobkowitz ab¬
hängig, so lange dieser an der Spitze war. und auch der manchmal vom Kai¬
ser zum Rath gezogne Graf von Sinzendors. Obersthofmeister der verwitt-
weten Kaiserin, der in seinem Hofamte auffällig reich geworden war, verstand
wie diplomatischer Ruhe und Gewandtheit etwa vorkommende Differenzen
zwischen der verwittweten und regierenden Kaiserin im Sinne des Ministers
auszugleichen. Nur der Baron Hocher mit dem Geheimsecretür Adele und die
Jesuiten P. Müller und P. Montccuculi. Beichtväter Leopolds und der ver-
wittweten Kaiserin, machten mit dem spanischen Gesandten in der Stille Oppo¬
sition und lauerten, bis ihre Zeit kam. wo sie neben der den Franzosen feind¬
lichen Richtung ihre ultramontanen Bestrebungen geltend machen konnten.
Ein Krebsschaden der Verwaltung war damals die kaiserliche Finanz¬
wirthschaft. Die Einnahmen von den Bewilligungen der Stände konnten con-
trolirt werden: sie betrugen ungefähr sechs Millionen Thaler. Was aber der
Kaiser von Tirol und den vorderöstreichischen Ländern, von Ungarn, von den
Berg- und Salzwerken. Zöllen und Kammergütern erhielt, das lag nicht klar
vor und hierbei mochte viel Unordnung und Unterschleif vorkommen. Der hier
benutzte Berichterstatter berechnet diese Einnahmen auf etwa 3 Mill. THIr.,
und bemerkt dabei, daß die Kammergüter wenig eingebracht, da die beiden
Ferdinande viele solche Besitzungen, besonders auch an die Geistlichkeit ver¬
schenkt und dieser zu Liebe die Schulden derselben auf die Kanuner genommen
hätten. Der Burggraf von Prag Clam Martinitz schlug damals zur Ver¬
besserung der Finanzen eine Radicalreform vor. Schon war der Kammerprä¬
sident mit der Ausführung derselben bedroht. Da machte dieser zu rechter Zeit
den Fürsten von Lobkowitz auf die dem Sohne unbekannte Forderung seines
Vaters an die Kammer aufmerksam. Dieser Dienst schien dem leichtfertigen
Minister eines Gegendienstes werth. Die Reform unterblieb, und Lobkowitz
erhielt von der Kammer die 200,000 si.
So waren die Zustände in Oestreich, als der ehrgeizige kecke Ludwig gegen
Kaiser und Reich zu operiren begann. Wie es hier und da im Reiche aus¬
sah, ist genügend bekannt. Kann es unter solchen Verhältnissen wunderbar
erscheinen, daß keine rechte Einigung im Reiche zu Stande kam, und daß der
Zwiespalt von Ludwig ausgebeutet wurde? Und wenn man erwägt, wie sich
im Reiche der Gegensatz der östreichischen und der reichsfürstlicher Interessen,
der Gegensatz der katholischen und protestantischen Bestrebungen herausgebildet
hatte, so wird man begreifen, daß über kurz oder lang die Form zu Grunde
gehn mußte, in der sich der noch lebenskräftige und seiner Bestimmung immer
klarer bewußt werdende deutsche Geist nicht mehr frei entwickeln konnte. —
Wenn der Protestantismus in Ober- und Niederöstreich, Steiermark und
Böhmen nicht entfernt mehr die Bedeutung beansprucht, die er in einigen
dieser Länder bis in das letzte Viertel des sechzehnten, in einigen bis zur
Mitte des siebzehnten hatte, so nimmt er sür Gesammtöstreich doch immerhin
noch eine sehr beachtenswerte Stellung ein. In Ungarn finden wir nicht
weniger als 2,332,000 Evangelische. 820.000 Augsburger, 1,512,000 helve-
tischen Bekenntnisses. In den westlichen Kronländern beläuft sich die Zahl
der Protestanten auf 300,000. wovon zwei Drittel der augsburger und ein
Drittel der helvetische» Confession angehören. In Siebenbürgen endlich wohnt
eine halbe Million Evangelische. 200.000 Lutheraner und 300,000 Reformirte.
Rechnen wir die in der Armee dienenden 50.000 Protestanten hinzu, so können
wir die Bevölkerung evangelischer Confession in Oestreich getrost aus vierthalb
Millionen anschlagen. Die evangelische Kirche bildet sonach, die jetzige effec-
tive .Gesammtbevölkerung Oestreichs zu 35 Millionen angeschlagen, grade den
zehnten Theil derselben und steht speciell zur katholischen Bevölkerung, dieselbe
zu 2? Millionen angenommen, reichlich im Verhältnisse von 1 : 3. In Sieben
bürgen zumal zählt dieselbe mehr Seelen als die katholische Kirche, in Ungarn
etwa halb so viel als diese Gemeinschaft.
Die evangelische Kirche in Oestreich bildete sonach, schon wenn man bei
Beurtheilung ihres moralischen Gewichtes lediglich auf die Zahlenverhältnisse
blicken wollte, einen bedeutsamen Factor in der bunten östreichischen Völker-
familie. Sie erscheint aber noch mehr als ein solcher, wenn man in Betracht
zieht, daß ihre Mitglieder im Verhältniß mehr als die der katholischen und
weit mehr als die der morgenländischen Kirche zu den höher gebildeten und
besser gesitteten Classen gehören, und daß dieselben gleichmäßig in jenen Berufs¬
kreisen, welche die moralischen Wissenschaften, wie in jenen, welche die exacten
zur Grundlage haben, in vorwiegenden Grade vertreten sind. Die Evange¬
lischen sind daher nicht, wie ein Gegner derselben in der Katholikenversamm¬
lung zu Salzburg einmal behauptet hat. Steinen zu vergleichen, die sich in einem
fremden Garten befänden und über Nacht wieder über den Zaun geworfen
werden könnten. Denn sie haben sich so fest in den Boden des östreichischen
Staatswesens eingewurzelt und eingelebt, haben so sehr alle Verhältnisse durch¬
drungen und im Laufe der Jahrhunderte eine so gesicherte Rechtsstellung er¬
rungen, daß sie sich wahrhaft als Autochthonen in diesen Landen betrachten
können.
Ist diese Rechtsstellung früher oft und selbst in diesen Tagen noch bis¬
weilen thatsächlich nicht so sicher gewesen, als in der Theorie, so muß man
.sich-vor allem erinnern, daß die evangelische Kirche in Oestreich kein einheitlich
geschlossenes Ganze bildet, daß sie also nicht als Gesammtmacht auftritt, son¬
dern, ganz entsprechend der bisherigen historischen Gestaltung der Monarchie,
sich in drei verschieden berechtigte und verschieden eingerichtete Theilkirchen av-
zweigt, von denen die erstere den deutsch-slavischen Provinzen, die zweite Ungarn
und dessen Ncbenländcrn, die dritte aber Siebenbürgen angehört.
Betrachten wir zunächst die meistberechtigte Landeskirche, jene i» Sieben¬
bürgen. In diesem Lande besaßen die Evangelischen, seitdem sächsische Kauf¬
leute lutherische Schriften von der Leipziger Messe in die Heimat mitgebracht
und die Reformation unter Deutschen und Magyaren Eingang gefunden hatte,
das Recht ungehinderter Religionsübung und die Freiheit, sich nach ihren eig¬
nen Grundsätzen kirchlich einzurichten. Die positiven Gesetze des Landes haben
dies wiederholt anerkannt und als Siebenbürgen, nachdem es seit der Schlacht
bei Mohacs 150 Jahre lang ein selbständiges Fürstenthum unter meist pro¬
testantischen Fürsten magyarischen Stammes gebildet hatte, unter östreichische
Herrschaft kam, erhielt das sogenannte Leopoldinische Diplom vom Jahr 1691
die alten Neligivnsgesetze des Landes ausdrücklich aufrecht; ja das ein Jahr¬
hundert später erschienene Landtagsgesetz (1791) sprach im 53. Artikel aus, daß die
gesetzliche Gleichberechtigung der Confessionen durch spätere Verordnungen nicht
ausgehoben werden könne, und stellte in Beziehung auf die Erziehung der Kin¬
der aus gemischten Ehen die unabänderliche Regel fest, daß die Kinder der
Religion der Aeltern nach dem Geschlechte folgen und die diesem Princip wider¬
sprechenden etwaigen Reverse keine Giltigkeit haben sollten. Und gewiß steht
es einzig da, daß dem Staat auch das Obcraufsichtsrecht nur in Betreff der
kirchlichen Stiftungen speciell vorbehalten ist, so daß die evang. Kirche Sieben¬
bürgens von demselben in einer Weise emcincipirt ist, wie kaum eine zweite
auf unserem Kontinent. Unter dem Schutze solcher Gesetze hat sich diese Kirche
frei und selbstthätig entwickeln können, in vollster Harmonie mit den übrigen
recipirten Kirchengemeinschaften, und wenn es auch im Laufe der Zeiten an
Angriffen von gegnerischer Seite nicht gefehlt hat, so war das die Rechts¬
gleichheit gewährleistende Gesetz vom Jahre 1791 doch immer ein fester Damm
gegen die drohende Ueberfluthung.
Nicht ganz so günstig ist die Rechtslage der evangelischen Kirche in Un¬
garn. Der schwer erkämpfte Wiener und Linzer Friede, das Fundamentalgesetz
dieser Landeskirche beiderlei Bekenntnisses, gewährte zwar das Recht der freien
Religionsübung, gleichwie der auf diesen Tractaten auferbaute 26. Gesetzartikel
des Landtages 1791; auch enthielt namentlich der letztere neben bedingter Au¬
tonomie bezüglich der Schul- und Kirchenverfassung manche aus dem Grund¬
satz der Rechtsgleichheit fließende Bestimmungen; allein die volle Rechts¬
gleichheit gewährte derselbe lange nicht. Dies galt insbesondre von der Er¬
ziehung der Kinder aus gemischten Ehen. Nachgrade indeß brach sich das
Recht des Protestantismus immer mehr Bahn. Auf den Landtagen traten
selbst katholische Laien für die Sache der Evangelischen in die Schranken.
So kam es, daß ein Landesgesetz vom Jahre 1844 den Uebertritt von einer
Kirche zur andern nach dem Grundsatz der Reciprocität regelte und erleichterte
und auch solche gemischte Ehen für zulässig erklärte, die vor dem evangelischen
Seelsorger geschlossen worden. Nach mancher heißen Schlacht im Landtags¬
saale erschien endlich im Jahre 1848 ein Gesetz, welches dem Grundsatz der
Rechtsgleichheit und Gegenseitigkeit zur vollen Anerkennung verhalf. Allein
dieses Gesetz wurde während der letzten zehnjährigen Neactionsepoche ganz der
Seite geschoben. Zwar gewährte das bekannte k. Patent vom 1. Sept. 1859
der evang. Kirche in Ungarn eine jährliche Dotation aus dem Staatsschatze
und eine eigne Abtheilung im Ministerium für Cultus und Unterricht, welche
später auf die gesammte evangelische Kirche im Kaiscrstciate ausgedehnt wurde.
Zwar sprach dasselbe Patent aus, daß der Staat sein Oberaussichtsrecht über
das evang. Kirchen- und Schulwesen nur durch evangelische Männer ausüben
wolle, und daß die in Ungarn bestehende Kirchenfreiheit auch auf die Evan¬
gelischen in Kroatien, Slavonien und der Militnrgrenze auszudehnen sei. Zwar
hat ein späteres k. Handschreiben auch für die evang. Militärseelsorge in Un¬
garn wie in den übrigen Theilen des Staates in ausgiebiger Weise gesorgt;
allein zur vollen, durchgängigen Vollziehung ist jenes 1843 er Gesetz nie ge¬
langt. Vielmehr trat zwischen dieses Gesetz und die Durchführung desselben
im Jahre 1855 das Concordat mit Rom, welches das canonische Recht wieder¬
herstellte und die Privilegien der römisch-katholischen Kirche, insbesondre auf
dem Gebiete der gemischten Ehen, in Permanenz erklärte. Und mußte es schon
im vorigen Jahre schmerzlich berühren, daß Graf Thun den die confessionelle
Rechtsgleichheit verbürgender 20. Art. vom Jahr 1848 nicht ausdrücklich in
das am 1. Sept. 1859 vom Kaiser sanctionirte ungarische Protestantenpatcnt
aufgenommen hatte, so muß es heute vollends mit Entrüstung erfüllen, daß
der genannte Artikel auch im „Diplom" vom 20. October keine Stelle gefun¬
den und der reformirte Baron von Vay dessenungeachtet die Kanzlerschaft sür
Ungarn angenommen hat.
Indem wir auf die deutsch-slavischen Kronländer übergehn, können wir
mit gutem Fug sagen, daß der Rechtszustand der evangelischen Kirche in den¬
selben eine wahre Musterkarte ist. Anders ist derselbe in Galizien mit der
Bukowina, anders in Schlesien, anders in den übrigen deutsch-slavischen Lan¬
den, welche zusammen den evangelischen Consistorien in Wien unterstehn; an¬
ders wieder in den böhmischen Enclaven Asch, Sorg und Neuberg, welche, als
unter einem eigenen Consistorium stehend, von der Wiener Kirchen-Staats¬
behörde eximirt sind. Der polnische Theilungstractat vom Jahre 1773 ge¬
währte den Dissidenten in Galizien und die Alt-Ranstädter Convention vom
Jahre 1707 den schlesischen Protestanten mehr als das spätere Toleranzpa¬
tent Josephs des Zweiten, indem dieselben namentlich festsetzten, daß die
Kinder aus gemischten Ehen nach den Eheverträgen und nach dem Geschlechte
erzogen werden sollten. Das Toleranzpatent selbst sprach das „Vorrecht" der
katholischen Kirche offen aus und stellte sich ganz auf den Standpunkt des
Catechismus romanus, welcher die evangelische Kirche als eine Domäne der
katholischen ansieht. Dagegen gestattete dasselbe den Evangelischen ein soge¬
nanntes Privatexercitium, ferner das Recht, auf eigene Kosten überall da,
wo 100 Familien oder 500 Seelen beisammen wären, Schulen und „Bet¬
häuser" zu errichten, jedoch sollten letztere keine Thürme und Glocken und
keinen Eingang von der Gasse haben. Die Stolgebühren sollten sie den
katholischen Pfarrern entrichten, welchen auch das ausschließliche Recht der Ma¬
trikelführung zustand. Auch sollten sie zum Häuser- und Güterankäufe. zum
Bürger- und Meisterrecht, zu academischen Würden und zum Civilstaatsdienste
nur dispensando zugelassen werden. Endlich sollten in gemischten Ehen, wenn
der Vater katholisch, alle Kinder katholisch erzogen werden müssen; dagegen,
wenn der Vater evangelisch, die Söhne evangelisch erzogen werden können.
An dieser schmalen Ncchtsbasis hat die spätere Gesetzgebung bis zum Jahre
1848 nichts geändert. In diesem Jahre jedoch leuchtete auch den deutsch-
slavischen Protestanten eine neue Morgenröthe. Schon die Ministerialver-
fügungen vom 30. Januar 1849 verbannten den Namen „Akatholiken" und
substituirten demselben die Bezeichnung „Evangelische Augsburger" und „Evan¬
gelische helvetischen Bekenntnisses", regelten den Uebertritt von einem kirchlichen
Bekenntnisse zum andern nach dem für Ungarn geltenden Gesetz, gestatteten den
evangelischen Seelsorgern, die Taus-, Trauungs- und Sterbregister gleich den
katholischen zu führen und befreiten die Evangelischen von allen Gievigkeiten
an katholische Seelsorger und Schullehrer. — Die Reichsverfassung vom 4.
März 1849 und das Patent vom 31. December 1851 gingen noch weiter,
indem sie jeder Kirche das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung
und die selbständige Verwaltung ihrer Angelegenheiten, ferner den Besitz und
Genuß der für ihre Cultus-, Unterrichts- und Wohlthätigkeitszwecke bestimm-
ten Anstalten, Stiftungen und Fonds zusicherten. Zudem hatte der Staat
bereits im Jahre 1849 die Superintendenten und Vertrauensmänner dersel¬
ben zu einer Conferenz nach Wien berufen, welche in ihrem Gutachten über
die evangelischen Kirchenangelcgenhciten eine freie Presbyterial- und Synodal¬
verfassung und die durchgreifendste Parität für die evangelische Kirche in An¬
spruch nahm. — Allein diese Anträge wurden nie bestätigt. Obwol das Mi¬
nisterium in seinem dem Concordat vorangegangenen und an den Kaiser
gerichteten Vortrage vom 7. April 1850 ausdrücklich ausgesprochen hatte, daß
auch die Superintendenten und deren Vertrauensmänner in ihren Eingaben
Wünsche geltend gemacht hätten, welche „sorgfältige Berücksichtigung erheischen",
so blieben diese Wünsche dennoch unberücksichtigt, ohne Zweifel, weil die Re¬
gierung laut jenes Vortrages sich vorbehalten hatte, über die durch die Su-
Perintcndentialversammlnng „angeregten wichtigen Fragen, die einer gemein¬
samen Erledigung bedürfen", „mit dem Ausschusse der Bischöfe in nähere
Verhandlung zu treten" und die Bischöfe von der Erfüllung jeuer Wünsche
natürlich nichts wissen wollten. Hätte Oestreich damals ernstlich und aufrichtig
an die Befriedigung der evangelischen Kirche gedacht, und hätte es damals
auch die Märzverfassung vom Jahre 1849 nicht aufgehoben: in der That,
wir stünden heute anders, brauchten nicht in Warschau Komplimente zu ma¬
chen und das DeutschthuM in Oestreich hinter die Thür zu stellen! Statt des¬
sen schloß man das Concordat mit Rom ab und führte die Gewalt der Bi¬
schöfe aus den tridentinischen Standpunkt zurück, um sich der Herrschaft über
die Gewissen vollends zu versichern, den Protestantismus in Oestreich mund¬
todt zu machen und sodann unter dem Banner des Ultramontantsmus auch
in der deutschen Kaiserpolitik Triumphe zu feiern. Wie jämmerlich hat sich
dies Programm der Rauscher, Phillips und Consorten gerichtet! In der gan¬
zen langen Periode von 1851 bis 1359 konnten die deutsch-slavischen Pro¬
testanten von der durch jesuitische Einflüsse verstrickten Regierung nichts mehr
erringen, als das magere Recht, ihre Seelsorger statt „Pastoren" „Pfarrer"
nennen zu dürfen. Das canonische Recht war auf den Thron gelangt, des¬
halb wurden die Evangelischen aus den gemeinsamen Friedhöfen hinausge¬
worfen; deshalb wurde es römisch-katholischen Ordensgeistlichen, die zum
Protestantismus übergetreten waren, verboten, eine rechtmäßige Ehe einzugehn;
deshalb wurden die gemischten Ehen nach wie vor zu Gunsten der katholischen
Kirche ausgebeutet. Bei solcher Strömung wurde das. Gesuch, für den
Gustav-Adolf-Verein innerhalb des Sprengels der Wiener Consistorien jähr¬
liche Sammlungen veranstalten und durch Bildung von Haupt- und Zweigverei¬
nen an die Gustav-Adolph Stiftung sich organisch anschließen zu dürfen, be¬
greiflicherweise einfach abgewiesen. Endlich nach der Schlacht bei Solferino
in dem Frieden von Villafranca. wo der zehnjährige Absolutismus und Je-
suitismus eine furchtbare Niederlage erlitten hatte, faßte man wieder Hoffnung.
Das Protcstantcnpatent für Ungarn erschien. Eine richtige und gerechte Po¬
litik hätte geboten, die durch dasselbe sanctionirte Kirchenverfassung auf die
evangelische Kirche in den deutsch-slavischen Ländern auszudehnen, um lang¬
gehegte Wünsche zu befriedigen, um der einheitlichen Gliederung der evange¬
lischen Kirchenverfassung vorzuarbeiten und zugleich, um sich ein Gegengewicht
gegen einen in Ungarn etwa auftauchenden Widerstand zu schaffen. Statt
dessen wurden die Consistorien in Wien erst angewiesen, „mit Berücksichtigung
jener Berathungen, welche von der im Jahre 1849 einberufenen Versamm¬
lung der Superintendenten und Vertrauensmänner bezüglich der Regelung
des Kirchenregiments gepflogen wurden, in reifliche Erwägung zu ziehn, in¬
wieweit es, unter Aufrechthaltung der zu Recht bestehenden Consistoricüversas-
sung, den Verhältnissen, unter welchen in dem Gebiete ihrer Amtswirksamkeit
ihre Glaubensgenossen leben, entsprechen dürfte, ihnen in der aufstehenden
Gliederung der kirchenregimentlichcn Organe eine Betheiligung einzuräumen
und weiche Veränderungen etwa in der Einrichtung und Zusammensetzung
der Konsistorien selbst wünschenswert!) wären". Und es bedürfte wirklich noch
einer Eingabe der evangelischen Gemeinden in Mührer, um den Ausspruch
des Cultusministeriums herbeizuführen, daß gegen die Anwendung des unga¬
rischen Protestantenpatents auf den Sprengel der WienersConsistoricn grund¬
sätzlich kein Anstand obwalte. Wenn man hinzunimmt, daß um dieselbe Zeit
an der Stelle des seit der Einrichtung der Konsistorien bestandenen katholi¬
schen Präsidiums endlich ein evangelischer Vorstand gesetzt und den evange¬
lischen Gemeinden innerhalb des Consistorialsprcngcls zugleich die Bewilligung
ertheilt wurde, jährlich einmal für den Gustav-Adolph-Verein eine Sammlung
einzuleiten, nicht aber auch, Gustav-Adolph Vereine zu bilden, so war das
Maß der Concessionen erschöpft, welche sich an das durch seine Nichtausfüh-
rung berühmt gewordene Ministerprogramm vom 22. August 1859 geknüpft
hatten. An ein Mehreres war nicht zu denken. Statt der Gleichberech¬
tigung hatte auch dieses Ministerprogramm die „freie Religionsübung" für ge¬
nügend erachtet, als ob man diese nicht schon längst besäße. Ein wahrer
Hohn! Man hatte Brod verlangt und man erhielt Steine. In gerechter
Entrüstung hierüber glaubten daher die Gemeinden, die an 18000 Seelen
zählenden Gemeinden beider Bekenntnisse in Wien voran, nur einer Pflicht
der Selbsterhaltung zu genügen, wenn sie der Negierung durch die Konsisto¬
rien zum Bewußtsein brachten, wie nebst einer der Idee der protestantischen
Kirche entsprechenden, auf dein Princip der Autonomie beruhenden Presby-
terial- und Synodalverfassung nur die Gewährung der vollen Gleichberechtigung,
wie sie im Geiste der deutschen Bundesgesetze liege, befriedigen werde und be¬
friedigen könne. Seitdem ist wieder ein Jahr vergangen. Auch hat man
gelesen, daß die Consistorien unter dem neuen Vorstand der Staatsregierung
it>r Gutachten schon längst unterbreitet.hätten. Allein man wartet trotz der
Gerechtigkeit dieser Sache und trotz der Gefährlichkeit der heutigen Lage des
Staates noch immer vergebens auf die Entscheidung. Eine schmerzliche Epi¬
sode hat mittlerweile der verstärkte Reichsrath geboten. Während der treff¬
liche siebenbürger Sachse, Karl Maagcr, für seine bedrängten Glaubensge¬
nossen in den westlichen Kronländern die in seinem Heimatlande seit der
Reformation bestandene confessionelle Gleichberechtigung in Anspruch nahm,
wußten die beiden Aristokraten Clam und Sachen dem Reichsrathe einen An¬
trag mundgerecht zu machen, welcher eine schnöde Ablehnung der Maager'schen
Jnterpellation in sich schließt. Und wenn es noch einen Sanguiniker gab,
welcher von den Teplitzer Konferenzen sich auch in confessioneller Beziehung
irqend einen Erfolg versprach, so war das Diplom vom 20. October, welches
wieder nur von „freier Religionsübung" sprach, die protestantische Frage also
ungelöst ließ, vollkommen geeignet, denselben von seinem Optimismus zu
heilen.
Inwieweit wir die kirchliche Verfassungsfrage nicht bereits berührt haben,
sei es nun vergönnt, unsere Darlegung zu ergänzen, indem wir ein wenn auch
nur skizzenhaftes Bild davon zu entwerfen suchen. Wir haben bemerkt, daß
die evangelische Kirche in Siebenbürgen von Anbeginn sich nach ihren eignen
Grundsätzen habe gestalten können. So war denn ihr Zug nach der Pres-
byterial- und Synvdalverfassung, welche freilich — wenigstens in der evangelisch¬
lutherischen Kirche, welcher die Sachsen angehören — durch consistoriale Elemente
insoweit zersetzt war, als nicht alle Aemter unmittelbar aus kirchlichen, sondern
zum Theil aus politisch-nationalen Wahlen hervorgingen. Denn die Gau¬
verfassung der siebenbürger Sachsen hing sehr innig mit dem sächsisch¬
evangelischen Kirchenwesen zusammen. Als nun die siebenhundertjährige Mu-
nicipalverfassung jener treuen Hüter deutscher Cultur und Sitte an den Ostmarken
des Donaurciches im Sturme des Jahres 1848—49 zusammenbrach und, statt
in der Reichsverfnssung vom Jahre 1849, im Bach'schen Absolutismus auf¬
ging, da sing natürlich auch die Kirchenverfassung an zu wanken. Das Ober-
consistorium in Hermannstadt legte der Regierung .daher schon im Jahre 1851
den Entwurf einer neuen Kirchenordnung zur Bestätigung vor, welche einen
wesentlichen Fortschritt von der frühern Verfassung bezeichnete. Einen noch
größer» Fortschritt bildete aber — man muß es zugeben — die zufolge jener
Vorlage von dem Staate vorgenommene Correctur der berührten Kirchenord¬
nung, welche sich die bewährte rheinisch-westfälische Kirchenverfassung zum
Muster genommen hatte. Schade nur, daß es vier Jahre bedürfte, bis die
Hinausgabe des so modificirten Verfassungsentwurfes erfolgte. Doch hätte
man sich noch trösten können, wenn die Vollziehung sogleich Statt gesunden
hätte. Allein diese ließ auch ein Jahr auf sich warten, und als sie endlich
im Jahre 1856 erfolgte, geschah sie nur halb. Die Einführung des dritten
Gliedes des kirchcnregimentlichen Organismus, der Landeskirchenversammlung
nebst dem Superintendentialconsistorium, blieb in der Schwebe. So vergingen
weitere drei Jahre. Unterdessen stand seit dem Jahre 1851, in welchem das
vollzählige Oberconsistorium sich aufgelöst hatte, an der Spitze das sogenannte
dclcgirte Oberconsistorium, welches sich seither aus den Reihen der evangelischen
Staatsbeamten höhern Grades in Hermannstadt selbst ergänzte, in der Kirche
selbst aber, eben weil es von derselben kein Mandat hatte, gänzlich ohne Po¬
pularität war, sodaß demselben nachgrade von mehreren Bezirksconsistorien
der Gehorsam gekündigt worden ist. Es half nichts, daß in so mißlichen
Verhältnissen die Landeskirche, das Oberconsistorium selbst, wiederholt auf Voll-
ziehung drang. Der Kaiser hatte bereits im Jahre 1854 angeordnet, daß
der Sitz des Superintendenten von dem abgelegenen Orte Birthälm nach der
Landeshauptstadt verlegt werde. Auch dieser Befehl blieb unvollzogen, weil
der Staat nur für Errichtung griechisch-katholischer Bisthümer und Erzbisthümer
Geld hatte, der evangelischen Kirche aber ungeachtet vieler Bitten für die
Superintendentur keine Fonds anwies. Ja selbst die kirchlichen Zehnten der
Evangelischen wurden bis zum Jahre 1858 nicht abgelöst, und als sie dann
abgelöst wurden, in so geringem Maße, daß die Geistlichen sich auf die Hälfte
ja zum Theil auf ein Drittel ihres frühern Naturaleinkommens herabgesetzt
sahen. Das Patent vom 1. Sept. 1859 brachte der Landeskirche in Sieben¬
bürgen keine Erlösung. Es mühte im Gegentheil fast wieder ein ganzes Jahr
vergehen, bis es der Regierung auf die Bitten der Kirche, ihre Verfassung
vom Jahre 1855 auf Grund des freisinnigen Patents für Ungarn vor der
gänzlichen Durchführung zweckmäßig zu revidiren, endlich gefiel, einen Ministerial-
commissär nach Hermannstadt zu entsenden, um das Verfassungswerk zum
Abschluß zu bringen. Seitdem sind wieder einige Monate verstrichen. Obwol
man der Regierung in Siebenbürgen mit Vertrauen entgegen gekommen war,
so zögert sie dennoch bis heute die Kirche zu befriedigen. Auch eine Adresse
des Reichsrathes Maager, welcher jüngst auf die Gefahren, die dem Staats-
wesen aus so unverantwortlicher Verletzung der öffentlichen Moral erwachsen
müssen, aufmerksam machte und auf endliche Lösung der nun im zehnten Jahre
schwebenden kirchlichen Verfassungsfrage drang, ist bisher ohne Erfolg geblie¬
ben. Eine kernige deutsche Bevölkerung, welche im Lauf der Jahrhunderte
soviel für Oestreich gekämpst und geblutet — sie wird, weil sie evangelisch
ist. mit Gewalt in die Arme des Magyarismus getrieben. Es ist dies derselbe
deutsche Volksstamm, dieselbe evangelische Kirche, an welche der Kaiser in einem
vom Minister Fürsten Schwarzenberg contrasignirten Manifeste vom 21. De¬
cember 1848 Folgendes schrieb: „Thron und Staat, für die Ihr gekämpft,
werden Euch die verdiente Anerkennung zollen und die Bürgschaften zu schützen
wissen, welche Eure von unsern Ahnen so oft belobte Tapferkeit, Ausdauer
und Treue, vornehmlich aber Euer Sinn für Ordnung und Gesetzlichkeit und
der vernünftige Gebrauch der hierdurch unter Euch heimisch gewordenen Frei¬
heit sür den Glanz der Krone und den Bestand des Staats gewähren!" Das
bedarf keines Commentars!
Wie die Verfassungsverhältnisse der evangelischen Kirche in Ungarn sich
gestaltet haben, ist bekannt. Die ungarisch-evangelische Kirchenordnung war,
wie ein geistreiches Mitglied der ungarischen Academie, der Calviner Alexius
Fenyes, treffend bemerkt hat, vordem ein wahres Kunterbunt. Aus frühern
mehr clericalen und cpiscopalen Einrichtungen, namentlich in der reformirten
Kirche, zum Presbyterialismus und Synodalismus fortgeschritten, hatte sie sich
bei der vordem von jeder Superintendenz eifersüchtig behaupteten Autonomie
in der gesummten Kirche sehr verschieden gestaltet. Diese Verschiedenheit war
noch größer geworden, seitdem die ersten und bisher einzigen Generalsynoden
der beiden Bekenntnisse vom Jahre 1791 einen allgemeinen Verfassungsentwurf
für die gesummte Kirche ausgearbeitet hatten, aus dem im Lause der Jahre,
während welcher der Staat jenen Entwurf in unverantwortlicher Weise uner¬
ledigt ließ, manches auf thatsächlichem Wege in die bestehenden Kirchenord-
nungen überging. Als der Staat nach dem Frieden von Villafranca endlich
daran dachte, die 1791er Synodalcanones auf der Basis des bekannten 26.
Gesetzartikels des 1791er Landtages zu erledigen und am 1. Sept. vorigen
Jahres das verhängnißvolle Patent erließ, so hätte man vielleicht meinen
können, daß diese Kirchenordnung auch in Ungarn um so willkommner sein
würde, je zerrütteter die Verhältnisse der ungarisch-evangelischen Kirche in Folge
des berüchtigten Haynauschen Edictes vom 1». Februar 1850 waren. Allein
das Gegentheil von dem war der Fall. Das dem Staat durch die Noth der
Zeit mühsam abgerungene Patent kam zu spät! Unter dem Rufe nach Ein¬
berufung einer neuen Synode behufs autonomer Feststellung einer Kirchenver¬
fassung wurde dasselbe abgelehnt und zum Ausgangspunkte einer Bewegung
gemacht, welche alsbald auf das politische Feld überging, in dem Diplom
vom 20. October l. I. einigermaßen einen Abschluß erhielt, aber damit noch
lange nicht beendigt ist. So ist es geschehen, daß das kaiserliche Handschreiben
vom 15. Mai l. I. die oppositionellen Gemeinden von der Pflicht, das Patent
durchzuführen, einstweilen entband und daß es im weitern Verlause von der
Opposition thatsächlich außer Wirksamkeit gesetzt wurde, obwol es rechtlich
noch in Kraft besteht.' Auf solche Weise ist die kirchliche Verfassungsfrage in
Ungarn genau auf den Standpunkt vom Jahre 1791 zurückgedrängt. Die
Abhaltung von Generalsynoden, wenn sie überhaupt ernstlich beabsichtigt war,
ist durch die politischen Bestrebungen, welche das historische Recht vom Jahre
1848 wieder herstellen wollen und in ihrer letzten Consequenz aus die Zer¬
trümmerung Oestreichs hinauslaufen, ganz bei Seite geschoben. — Das ist
eine ernste Lehre für den Staat, welcher während eines ganzen Jahrzehnts
nichts besseres zu thun hatte, als sein Heil in der Förderung der ultramon¬
tanen Interessen zu suchen.
Die Verfassungsfrage in den deutsch-slavischen Ländern haben wir
schon oben erwähnt. Je stiefmütterlicher die Evangelischen in diesen Ländern
von jeher behandelt worden sind, desto dringendere Pflicht wäre es für den
Staat, die in der Verfassung dieses Theiles der evangelischen Kirche bestehende
Unordnung durch einen folgerichtigen Ausbau der in den Einzelgemeinden
bereits vorhandenen „prcsbyteriaien Freiheiten" gründlich zu beseitigen und
nach Maßgabe der von den Gemeinden ausgesprochenen Wünsche und — wie wir
hoffen wollen — der damit übereinstimmenden Consistorialvorschläge eine Ord¬
nung festzustellen, welche die vielfach zerstreuten Elemente zu einer organischen
und lebensvollen Einheit zusammen fasse und denselben ein neues, frisches und
selbstthätiges Leben einhauche. Allem noch viel wichtiger ist sür die Evange¬
lischen im Consistorialsprengel die Frage ,hrer rechtlichen Stellung zum Staate,
vor Allem aber zur römischen Kirche. Schon der westfälische Friede hat in
Deutschland die evangelischen Konfessionen der katholischen rechtlich gleichgestellt.
Noch bestimmter hat dies der 16. Art. der deutschen Bundesacte gethan. Von
der gewiß ganz richtigen Ansicht ausgehend, daß jener Staat, welchem es um
die Aufrechthaltung der deutschen Bundesverfassung so sehr zu thun ist. auch
vorzugsweise dazu berufen sein müsse, den Bundesgesctzen Geltung zu verschaffen,
haben daher die evangelischen Gemeinden innerhalb der deutschen Bundeslande
in Oestreich, die Wiener Gemeinden an der Spitze, in Denkschriften und Ge¬
suchen mit dankenswerthen Freimuthe es ausgesprochen, wie die strenge Durch¬
führung des Grundsatzes confessioneller Rechtsgleichheit gleichmäßig eine For¬
derung der Bundesgesetze wie nicht minder eine Forderung ihres Gewissens
und ein Act der Staatsklugheit sei. Sie haben deshalb vollkommene Gegen¬
seitigkeit in Betreff der gemischten Ehen und die Abstellung der Reversalicn,
ferner vollständige Reciprocität bezüglich des Mitübertrittes jener Kinder, deren
Aeltern von einer christlichen Confession zu einer andern übertreten, das Recht
der ungehinderten Verbreitung der Bibel und d.er Bildung von Gustav-Adolph-
Vereinen, die Beseitigung aller aus dem Toleranzpatente fließenden sonstigen
Beschränkungen und die Bewilligung einer jährlichen Beihilfe aus Staatsmit¬
teln verlangt. In Beziehung auf das Unterrichtswesen haben sie die Anstellung
eines evangelischen Volksschulrathes, die Einsetzung einer evangelischen Schul-
lehrerprüsungscommission. ferner die Beseitigung der in dem Concordcite be¬
gründeten confessionellen Ausschließlichkeit für jene Gymnasien und Realschulen,,
welche aus öffentlichen Mitteln erhalten werden, rücksichtlich des höhern Unter¬
richtswesens aber die Errichtung einer vollständigen evangelischen Universität
oder die Umgestaltung mehrerer ausschließlich katholischer Universitäten in pa¬
ritätische oder die Verbindung beider Mahregeln in der Weise in Anspruch
genommen, daß der katholisch-theologischen Facultät eine evangelisch-theologische
Facultät coordinirt werde, daß für alle Lehrerstellcn katholische und evangelische
Gelehrte gleich zulässig seien und daß ver Lehrstuhl der Philosophie und der
Geschichte gleichzeitig immer durch einen Katholiken und einen Evangelischen
besetzt sei.
Dem Reichsrath Maager hatte es sein „Gefühl" gesagt, daß die Befrie¬
digung dieser berechtigten Wünsche eine „Revision" des Concordates zur Vor¬
aussetzung haben müsse-, uns sagt es der klare Wortlaut des Concordates
selbst. Schon der erste Artikel dieses Staatsvertrages spricht von Befugnissen
und „Vorrechten", deren die römisch-katholische Kirche „nach der Anordnung
Gottes und nach den Bestimmungen der Kirchengesetze genießen soll," ein
Vorrecht aber ist mit dem Begriff der Parität nicht vereinbar. Artikel VII
wird so interpretirt. daß an Mittelschulen, welche von Kaiholiken besucht
werden, auch wenn sie aus öffentlichen Fonds oder von Nicht-Katholiken und
Katholiken gemeinschaftlich erhalten werden, nur Katholiken Lehrer oder Pro¬
fessoren sein dürfen. Aus Artikel IX, welcher von verderblichen und ver¬
werflichen Büchern handelt, wird gefolgert, daß auch solche religiöse Schriften,
die zum Gebrauche für Protestanten bestimmt sind oder vom protestantischen
Standpunkte aus keine Anfechtung erleiden können, vom Kaiserstaate ausge¬
schlossen werden dürften. Nach Artikel I des Schreibens des Fürsterzbischofs
Rauscher an den Cardinal Viale-Prcla sollen die Universitäten einen specifisch-
katholischen Charakter haben. Am grellsten treten aber die „Vorrechte" der
römischen Kirche im Ehegesetz vom Jahre 1856 hervor, welches in Ausführ¬
ung des X Artikels des Concordates erschienen ist, Und dessen tridentini-
sche Bestimmungen in dem der Parität geradezu ins Gesicht schlagenden Satze
gipfeln, daß das Band einer Ehe, bei deren Einsegnung wenigstens ein Theil
der katholischen Kirche angehört hat, auch dann nicht getrennt werden könne,
wenn in Folge einer Aenderung des Religionsbekenntnisses beide Theile einer
nichtkatholischen Kirche oder Religionsgesellschaft zugethan sind; daß ferner
eine Ehetrennung auch dann nicht stattfinden könne, wenn zwei Personen, die
sich als nichtkatholische Christen ehelichten, in die katholische Kirche eingetreten
sind, sei es auch, daß in der Folge sich beide wieder einem nichtkatholischen
Religionsbekenntnisse zugewendet haben. Und schreiben denn die „Kirchenge¬
setze", die durch das Concordat wieder in integrum restituirt worden sind,
nicht auch den schnöden Seelenhandel mittelst der Reversalien, nicht auch die
ungleiche Behandlung bezüglich der Kindererziehung in gemischten Ehen vor?
Ob aber der Herr Cardinal Rauscher, welcher in den entscheidenden Krei¬
sen einen überwiegenden Einfluß besitzt und der eigentliche Vater des Concor¬
dates ist, eine „Revision" desselben so leichten Kaufs zugeben wird, das ist
eine andere Frage. Nach der Nichtigkeit der Argumente zu urtheilen, die der¬
selbe in der zwölften Sitzung des Neichsrathes für sein Schoßkind ins Treffen
geführt hat, sollte man meinen, daß er das Feld schließlich nicht behaupten
würde. Die Gründe des Herrn Kardinals lassen sich in zwei Punkte zusam--
mcnfassen. Weil 1) nicht alle protestantischen Staaten ihren katholischen
Unterthanen Gleichberechtigung zu Theil werden kahlen, soll auch Oestreich der
evangelischen Kirche gegenüber nicht anders handeln; weil es 2) wie der Herr
Cardinal behauptet, schlechthin unmöglich sei, allen Theilen zu genügen, so
müsse man die religiösen Interessen einer sehr großen Mehrzahl jener der
Minderzahl vorsetzen. — Abgesehen davon, daß der clericale Redner im ersten
Satze von der ganz falschen Prämisse ausgeht, daß der Staat sich mit einer
Kirche identisiciven müsse, sucht derselbe auch den eigentlichen Kernpunkt der
Frage zu umgehen. Da der Reichsrath Maager aus der bestehenden Gesetz¬
gebung heraus die Forderung auf Durchführung der Gleichberechtigung ab¬
geleitet hatte, so hätte der Cardinal nachzuweisen gehabt, daß diese Forder¬
ung in den positiven Gesetzen nicht begründet sei, diesen Nachweis ist derselbe
jedoch schuldig geblieben. Es steht zudem einem „Nachfolger der Apostel"
schlecht an, die östreichischen Protestanten dafür verantwortlich zu machen, daß
diese oder jene auswärtige Regierung ihre Schuldigkeit nicht thut. Es wäre eines
Missionars der christlichen Liebe vielmehr würdiger gewesen, die deutschen
Bundesregierungen im Auge zu behalten, welche den Bundesgesetzen nachkom¬
men. Nicht besser ist es mit dem zweiten Argumente des sürsterzbischöflichen
Redners bestellt. Denn einmal wird die Prämisse desselben durch die Gesetz¬
gebung in den meisten deutschen Bundesländern, ja in einem großen Theile
von Oestreich selbst, B. in Siebenbürgen schlagend widerlegt. Wenn aber
der Cardinal behaupten will, daß diese Gesetzgebung die Katholiken gegen
ihre Confession „gleichgiltig" gemacht habe, so geräth er mit den Thatsachen
in Widerspruch oder er ist der Meinung, das Interesse seiner Glaubensgenos¬
sen sür ihre Kirche müsse gleichbedeutend sein mit Unduldsamkeit. Zum an¬
dern aber ist es durchaus verwerflich, das Recht von der Kopfzahl abhängig
zu machen. Sollen denn die Protestanten Oestreichs, weil sie in der Mino¬
rität sind, rechtlos sein?
Wenn solche Anschauungen in den Köpfen von Männernstecken, die eine
so hohe sociale Stellung einnehmen, so kann man begreifen, warum gerade
sie es sind, die den Forderungen des Zeitgeistes den Kreuzzug predigen. Es
dient aber auch zum Beweis, wie wenig Vertrauen sie in den innern Halt
ihrer Sache haben müssen, wenn sie schon in der rechtlichen Gleichstellung des
Protestantismus eine Gefahr für ihr System erblicken. Wir erwarten von
diesen Herren keine Gerechtigkeit; aber wir erwarten dieselbe von dem mäch¬
tigen Gebote der Weltgeschichte, dem auch sie sich beugen müssen.
Am 27. des Morgens stürmten die Piemontesen den Monte Pulito mit
größeren Kräften. Ihre Scharfschützen hatten sich während der Nacht in allen
Positionen, als Gruben, Häusern etc. rings um das Werk postirt und lagen
so zu sagen schon im Rücken der Unsrigen;, zwar schlugen die braven Oestreicher
den ersten Sturm nochmals ab, allein-da derselbe sofort wiederholt wurde,
und den Unsrigen die Geschützmnnition mangelte, so wurde das Werk endlich
genommen. Indem die Oestreicher von den zwei Compagnien Schweizern,
welche ihnen zu Hilfe geschickt worden, nicht genügend unterstützt wurden, so
mußten sie, um nicht vollständig abgeschnitten zu werden, die Redoute räumen.
Einige Geschütze, die man nicht fortbringen konnte, wurden vernagelt, die Ar¬
tillerie zog unter der sie deckenden Infanterie schleunigst nach der Stadt ab.
Der Verlust dieses Werks ist bei jeder Belagerung von höchstem Einfluß.
Monte Pulito bildet seiner dominirenden Lage wegen den eigentlichen Schlüssel
zu Ancona, und deshalb Hütte man ihn stärker befestige.» müssen. Dazu
fehlte aber Lamoriciöre die Zeit und man mußte sich mit der einfachen pro¬
visorisch gebauten Redoute begnügen. Die Nachtheile zeigten sich sogleich;
denn in wenigen Stunden hatten die Sardinier dort eine Batterie großen Be¬
lagerungsgeschützes aufgepflanzt, welche unser Mauerwerk am Castell und Monte
Capuccino übel zurichtete. Gegen Abend wurde ein Sturm auf die Lünette
San Stefano gewagt. Ich hatte selbst Gelegenheit, den Sturm mit abschla¬
gen zu helfen, indem meine Compagnie heute dort kleine Reparaturen aus¬
geführt hatte. Unser Werk war zur Vertheidigung besser gelegen, denn sowol
Monte Gardetto und Monte Capuccino als auch Campo trincerato und das Castell
secundirten uns so vortrefflich, daß die Leichen des durch das coupirte Terrain
nnter dem Schutze der dort liegenden Hüuser kühn vordringenden Feindes bald
wie gesäet dort lagen. Wir jagten die Feinde mit Kartätschen und dem Klein¬
gewehrfeuer des dritten Bataillons der östreichischen Bersaglieri zurück, welches
letztere einen kühnen Ausfall machte. Der Feind zog sich auf Monte Pulito
zurück, von wo aus er uns mit seinen Batterien wirksam beschoß. Die Er¬
müdung der Unsrigen hatte einen hohen Grad erreicht. — Von meiner Com¬
pagnie desertirte heute ein Theil der Italiener, die übrigen schienen auch keine
große Courage zu haben. —
Die Nacht war auf dieser Seite Ruhe, dagegen von der Nordseite ein
fürchterliches Bombardement gegen das Castell. die Batterie der Porta Pia
und die crenelirte Stadtmauer, so wie gegen den dortigen Stadttheil. — Das
Lazarett), welches schon seit vorgestern brannte, und so gut als möglich durch
unsre Mariniers ausgeräumt worden war, war voll Piemontesen. welche ein
Kleingewehrfeuer gegen die hinter der crenelirten Mauer stehenden Artillerie-
bedcckungsmannschaften unterhielten. Die ganze Vorstadt war voller Feinde.
Jedoch verloren wir dort nicht einen einzigen Mann.
Am 28. hatten wir viel zu leiden vom Monte Pulito her. — Gegen
Mittag singen die Schiffe an zu dampfen, und wir hofften mit ihnen die
gewöhnlichen Kanonaden wechseln zu können, allein heute verrechneten wir uns.
Die Hülste der Flotte, bestehend aus der Fregatte Carlo Alberto und vier Kor¬
vetten (im Ganzen über 250 Geschütze), legte sich in die Bai außerhalb der
Häfen aus die Nordseite, von wo aus sie den Hasen und dessen Batterien voll¬
ständig einsehen und im Rücken angreifen konnte. Ihr Plan schien heute der
zu sein, sich die Hafeneinfahrt erzwingen zu wollen.
Die Leuchtthurmbatterie mit acht großen Geschützen wendete sich gegen sie,
ebenso mußte die dazu gehörige Hafenbatterie, welche gegen das Meer gerichtet
steht, vollständig umgekehrt werden. Zwei schwimmende Batterien, aus alten
hölzernen Baggern umgeformt, von denen jede zwei Geschütze trug, und zwei
Kanonierschaluppen und eingerichtete Fischerbarken (vom Volke witzig die Jntre-
pida und Jmpetuosa genannt), nahmen ebenfalls das Gefecht auf, welches die
Schiffe eir edwlons stehend, auf eine Distanz von 3000 Metres begannen.
So standen ungefähr 24 Geschütze gegen mehr als die zehnfache Ueberzahl,
denn die rings um den Hafen neu angelegten kleinen bastionsartigen Schanzen
konnten der Entfernung wegen vorläufig keinen Antheil nehmen. Nachdem
das Gefecht über eine Stunde gedauert und weder uns noch den Schiffen
großen Schaden gebracht, legte sich der Carlo Alberto, nachdem er vorher einen
der Bagger durch eine Breitseite vollständig über der Oberfläche des Wassers
abrasirt hatte, in einer Distanz von 1000 Metres vor den Leuchtthurm und
sendete einen Hagel von Vollkugeln gegen diesen. Er wurde aber nicht min¬
der warm empfangen, und mußte nach kurzer Zeit hinwegdampfen. Da aber
eilte das Admiralschiff, die Fregatte Victor Emanuel heran, auf welcher der
Vice-Admiral Persano höchst eigen commandirte. Dieser legte sich auf die un¬
glaublich nahe Distanz von 150 Metres neben der Hasensperrkette vis g, vis
dem Leuchtthurm hin, und begann mit seinen 00 Stück Armstrongs breitseiten¬
weise ein derartiges Feuer zu speien, daß die den Leuchtthurm umgebende
Bastion, dieser zum Theil selbst und die feste Mauer der Hafenbatterie in Zeit
von I Vs Stunden zur Ruine zusammengeschossen waren. Die feindlichen Kugeln
demolirten die meisten Stücke, die Kanoniere Jnger Einer nach dem Andern
gräßlich zerfetzt oder verstümmelt am Boden, oder wurden von der einfallenden
Mauer verschüttet. Nichtsdestoweniger setzte der Nest den Kampf fort, und wo
ein Geschütz noch brauchbar war und noch zwei Leute von der Mannschaft
unversehrt waren, wurde immer noch brav geantwortet. Dem Oberlieutenant
Weißmantcl, welcher ein Geschütz aus Mangel an Artilleristen selbst richten wollte,
wurde in diesem Augenblick der Kops heruntergerissen und somit war die
noch lebende Mannschaft ihrers Führers beraubt. — Die weiße Fahne flat¬
terte gleich darauf am Leuchtthurm und im nämlichen Moment auch auf dem
Castell und den übrigen Werken. — Man glaubte mit dem so eben geschehe¬
nen Act spartanischer Tapferkeit die militärische Ehre der Vertheidiger geret-
tet zu haben. Jetzt wo keine fremde Hilfe mehr zu erwarte» war, wo ferner
ein wichtiges Hauptwerk der Unsrigen in die Hände des Feindes gefallen und
die Hafeneinfahrt den Schiffen nicht mehr zu verweigern war, wäre es Toll¬
kühnheit gewesen, sich noch länger zu wehren und die noch übrigen gänzlich
ermatteten 3500 Mann Vertheidiger dem sichern Tode anheim zu geben. Dies
sah Lamoriciere ein. AIs jedoch die weiße Fahne auf dem Castell ausgezogen
und von dem italienischen Theile der Besatzung mit Evviva-Ruf begrüßt
wurde, soll er geweint und etwas von trMre» zwischen den Zähnen gemur¬
melt haben. — Ich ging vom Theaterplatz, wo ich stummer Zuschauer des
schrecklichen Kampfes geblieben war, auf meinen Posten auf dem Monte Gcir-
detto. Unterwegs sah ich, wie die Bürgerschaft auf deu Straßen, Weiber und
Kinder wieder zum Vorschein kamen. Einzelne umarmten mich vor Freude
weinend, und nöthigten mich zu trinken, wieder Andere sahen uns triumphi-
rend an, die meisten aber dankten Gott für ihre eigne Rettung. — Auf dem
Monte Gardetto noch nicht angekommen, hörte ich einen lauten donnerähnlichen
Knall. Es war, wie ich nach einigen Minuten hörte, ein Pulverniagazin, das
unter dem Leuchtthurm gelegen und in Brand gerathen war, aufgeflogen und
hatte die ganze Bastion mit 35 Mann nebst Geschützen, Munition und einer
Seite des Thurms in die Luft geschleudert.
Wir hofften nach langer Zeit eine ruhige Nacht zu erleben. Allein wir
täuschten uns. Gegen Abend begann das Feuern von Norden her aufs Neue
und dauerte die ganze Nacht hindurch. Hatten die Unterhandlungen zu kei¬
nem Resultat geführt? Wollte man uns alle opfern? Wir wußten es nicht.
Dabei flatterten ans allen Werken die weißen Flaggen und auf allen
wurde fortwährend das Signal „Feuer einstellen" gegeben. Sollten wir uns
massacriren lassen ohne Rache zu nehmen? Erst früh erfuhren wir, daß ein
betrunkener Kanonier an der Porta Pia einen Schuß gegen die bereits in der
Vorstadt wacker zechenden Piemontese» abgegeben hatte, worauf letztere, an
Verrath glaubend, aus allen Batterien antworteten und erst am nächsten Vor¬
mittag um zehn Uhr damit aufhörten. — Ihr Feuer tödtete uns noch mehr
als 20 Mann, weiche, an dem Mißverständniß unschuldig, wehrlos ihr Blut
vergossen. Auch ich wäre beinahe ein Opfer geworden. Meinen kleinen
Raum in der Baracke aus Monte Gardetto verließ ich Morgens 7 Uhr, um
meinen Kapitän, der in der anstoßenden Baracke wohnte, die verschiedenen
Liquidationszettel unterschreiben zu lassen. Nach vielleicht zwei Minuten in
meine Behausung zurückkehrend, fand ich die gegen den Berg gelehnte Wand
von einem riesigen Stück Bombe eingeworfen, das Zimmer war voll Schutt,
Ziegel und Staub, an dem Platze, wo ich schrieb, lag ein Staat Bombe von
Zwölf Pfund Gewicht am Fußboden.
Am 29. des Morgens waren wir darauf gefaßt, den Monte Gardetto
gegen den Sturm des Feindes vertheidigen zu müssen, da wir noch nicht
wußten, daß das Feuern aus einem Mißverständnis; beruhe. Am Fuße des
Berges hörten wir Salven, Kleingewehrfeuer und einzelne Kanonenschüsse; es
waren die Piemontesen also auch bereits in die südliche Vorstadt eingedrungen
und schössen gegen unsere Barrikaden an der Porta Calamo und Porta Fa-
nna. , '
Waren sie hier in die Stadt eingedrungen, so war Monte Gardetto ab¬
geschnitten. Da wir nicht feuern dursten, so war es am Gerathensten das
Fort ganz aufzugeben, was auch sofort geschah. Unter dem Kugelregen des
Feindes verließ die Besamung Monte Gardetto und begab sich auf den Monte
Cavucciuo durch dessen südliches Ausfallsthor. Hier hatte sich jetzt die Be¬
satzung durch uns auf 1500 Man» verstärkt, welche auf dem engen Werke
kaum Platz hatten. Die feindlichen Kugeln tödtete» uns hier wahrend des
Vormittags noch 15 Mann.
Endlich hörte das Feuer des Feindes auf. Die Kapitulation war ge¬
schlossen, aber über die Bedingungen erfuhren wir nichts; nur soviel war be¬
stimmt, daß wir am nächsten Morgen mit Musik und Waffen abziehen, die
letzteren jedoch außerhalb der Stadt abliefern sollten.
Da ich noch einige Geschäfte in der Stadt besorgen wollte, so ging ich
zuerst durch das Ausfallsthor nach Sem Monte Gardetto hinab, um einige in
der Eile vergessene Effecte» zu holen. Die Baracken waren zwar von Bauern
bereits visitirt worden. Allein zu ihrer Ehre gestehe ich, sie haben Militär¬
sachen dort ruhig liegen lassen, trotzdem sie stets bereit gewesen wäre», solche
vom päpstlichen Militär zu kaufen ; es war dies ein Beweis, daß sie den nun-
mehrigen Eigenthümer, den R6 Galantuomo sehr achteten. Ich holte' von
dort außer den Effecten, Büchern un d Papieren meines Capitäns noch einen Me߬
tisch, eine Canalmage, ein Reißzeug, 20 Gewehre, 14 Tornister auf zwei
Schubkarren, welche nur die Bauern trnnsportire» halsen, dafür, daß ich ih¬
nen die übrig gebliebenen 20 Nationen Kommisbrod überließ. — Sodann
ging ich in die Stadt, in welcher zu meinem Erstannen schon die Piemon-
tesen herumgingen, die nach Kriegsrecht doch erst nach unserm Abzug einziehen
durften. Im Uebrigen kann ich nichts Nachtheiliges über sie sagen. Da ich
in der Vorstadt beim deutschen Bierbrauer einige Sachen deponirt hatte,
außerdem gern einmal wieder in Ruhe essen und trinken wollte, so begab ich
mich durch die Porta Calamo zu ihm. welche letztere auch schon von ihren
Barrikaden befreit war. Hier in der Vorstadt lagerten zwei Bataillone pie-
montesischer Grinatieri reali und ein Bataillon Bersaglieri. Meine Uniform
zog ihre Blicke auf sich und sogleich umringten mich 20—30 von ihnen und
bestürmten mich mit Fragen. Da sie vernünftig, ich möchte sagen kamerad¬
schaftlich sprachen, so gab ich ihnen die verlangte Auskunft.
Ich sah hier zum erstenmale die Piemontesen, welche meistens aus recht
junge» Leuten bestanden. Indeß waren auch viele ältere unter ihnen, welche
die Medaille aus der Krim und dem vorjährigen Feldzuge trugen. Es
herrschte unter ihnen musterhafte Disciplin und Kameradschaft, der größte
Theil waren Freiwillige, namentlich nnter den Bersaglieri, welche mit ihrer
Jacke, rothem Shawl statt Halsbinde und ihrem runden Federhut mit breiter
Krämpe, etwas freibeuterisch ausschauten. ' Im Ganzen sahen die Piemon-
tesen ärmlich aus, ihre hellgrauen Mäntel waren abgeschabt und ihre grauen
Drill-Hosen, welche in den Kamaschcn eingeschnürt waren, halten vom Feld-
zuge ebenfalls sehr gelitten. Ich wunderie mich, unter ihnen so viele
Ausländer zu finden, wenigstens wurde ich von einigen auf ungarisch, pol¬
nisch und selbst deutsch angeredet, mich nnter den Offizieren entdeckte ich spä¬
ter Deutsche und Ungarn. — Nachmittags zogen sie in Masse in die Stadt,
die sich im Nu mit einem festlichen Gewand bekleidete. Kein Fenster, an wel¬
chem nicht eine Tricolor heraushing, sein Bürger, keine Fran, kein Kind,
welche nicht die drei Farben entweder als Schärpe, Kokarde oder sonst
aus eine sinnige Weise getragen hätte. Selbst Pferde und Hunde waren damit
geschmückt. Jeder ankommende oder abfahrende Wagen trug auf dem Bocke
die italienische Nationalflagge. Auch hatten schon einige an den Hüten das
Wort „Annezivne" oder „Si"' Woher kamen auf einmal diese Farben und
Zeichen? waren sie in fünf Minuten fabrizirt? Hatte man doch uns gleichsam
zum Hohne schon bei einigen Mützenmachern seit einigen Tagen piemontesische
Militär-Mützen verfertigen sehen. Heute war Abends allgemeine Illumination,
welche noch drei Tage lang wiederholt wurde. — Die Soldaten wurden von
den Bürgern zum Essen und Trinken in die Häuser genöthigt, es gab auf
einmal Lebensmittel und Wein in Hülle und Fülle, während vorher für uns
nichts zu bekommen gewesen. Lamvriciöre sah Niemand wieder, er war be¬
reits abgereist. — Abends ging ich nach dem Monte Capnccino zur Com¬
pagnie, um das letzte Mal als freier Soldat zu schlafen, den andern Morgen
sollten wir Kriegsgefangene der Piemontesen sein. — Oben auf dem Monte
Capuccino hatte sich ein ganz anderer sonderbarer Geist der Soldaten be¬
mächtigt. Jeder wollte tkunlichst Geld forttragen. deshalb verkauften sie alles
Mögliche, selbst päpstliche Militärsachen. „Es ist ja gleich", sagten sie, „ob
dies der Piemontese oder der Bürger nimmt."
Die Bürger kauften Alles, was man ihnen anbot. Gewehre, Pferde.
Tornister, Mäntel, Hosen ?c. Manche von unsern Herren Offizieren waren bei
'diesem Schacher mit gutem Beispiel vorangegangen. Die Quartier-Meister
einzelner Corps waren schon nebst Kassen verschwunden, selbst ein Intendant
(oberster Rechnungsbeamter) war abhanden gekommen. Ein .Capitän Castella
vom zweiten Schweizerregiment hatte sechs Stück Schweizerstutzen, welche von
Castelfidardo zufällig »ach Ancona hineingerettet worden waren, an die Bür¬
ger meistbietend verkauft; derselbe Herr, welcher viele aus dem brennenden
Lazarett) gerettete Wahns- und Klcidervorräthe hatte in sein Haus bringen
lassen, um. wie er sagte, „sie sicher untergebracht zu wissen," verkaufte sie;
wieder ein gutes Beispiel von einem Schweizcroffizier. Die Cavalleristen und
Artilleristen verkauften nicht nur zum Theil ihre eignen Pferde, sondern mach¬
ten sich kein Gewissen daraus, Ofsizierspferde, welche unbewacht gelassen wur¬
den, als gute Prise zu verkaufen.
Am 30. des Morgens endlich marschirten wir bataillonsweise durch die
Stadt zur Porto. Pia hinaus, begleitet von zwei piemontesischen Bataillonen
Bersaglieri. Die Piemontesen hatten uns Spalier gebildet. Hinter ihnen
stand das Volk. Dieses begleitete unsern Marsch mit einer fürchterlichen Katzen¬
musik, mit Pfeifen, Aushöhnen, Schimpfwörtern aller Art .obgleich sie kein gründ¬
liches Motiv dafür hatten. Charakteristisch ist es, daß sich dieselbe Scene
auf unserer ferneren Reise in jedem Orte, selbst noch in Mailand wiederholte.
Wir marschirten drei Miglien weit nach dem Dorfe Sovvento, wo wir auf
der Straße Halt machten, die Gewehre in Pyramiden zusammensetzten und
sie sammt der Munition den Piemontesen überließen. Sodann nahmen wir
innerhalb eines dortigen piemontesischen Zeltlagers auf einem verhältnißmäßig
kleinen Raume Platz, wo wir kaum Raum zum Liegen hatten.
Vier Tage habe ich hier gelegen, aber pro Tag nichts weiter empfangen,
als eine Ration Brod, ein Stück Käse, ein Glas Wein und 2—3 Bajocchi.
Dabei war die Theuerung in der Gegend sehr groß und sogar das Wasser
mußte dem wuchernden Bauernvolke das Glas mit einen» Bajocco bezahlt
werde». Endlich fehlte es uns" gänzlich an Lagerstroh. Mit allen Artikeln
wurde gewundert, die Bauern und Städter brachten schlechte Lebensmittel zu
ncsigen Preisen und suchten den Unsrigen ihre wenigen Habseligkeiten um
Spottpreise abzukaufen; namentlich auf unsere Mäntel waren sie sehr gierig.
— Auch die piemontesischen Soldaten trieben Wucher mit Branntwein und
Cigarre».
Am vierten Tage (3. October) endlich marschirte ich mit einem Transport
von 1100 Mann ab und zwar in nenn Tagemärschen bis Bologna. Die
Nächte brachten wir mehrmals unter freiem Himmel zu. Unsre Verpflegung
blieb gleich karg, an Katzenmusiken kein Mangel. Von Bologna (11. October)
ging's Abends per Bahn nach Alessandria; von den 3!> Wagen unsers Zugs
gehörten 14 zur dritten Classe, die übrigen waren Güter- und Viehwagen; ich hatte
die Ehre in einin der letzteren zu kommen, wo wir 33 Mann zum Liegen keinen
Platz hatten und zum Stehen zu müde waren. Um neun Uhr Morgens ka¬
men wir in AlessandriA an, wo die schneebedeckten ligurischen Alpe» herrlich
anzuschauen waren, aber heimathliche Kälte verursachten. — Fünf Tage brachte
ich dort in den Kasematten der Citadelle zu. Man hatte uns nach den Na¬
tionalitäten von einander abgesondert. War unsre Verpflegung vorher schlecht
gewesen, so war sie jetzt ganz miserabel. Eine gewisse Gattung kleiner viel-
veiniger Thierchen begann zum Ueberfluß die Oberfläche unserer Haut zu kitzeln.
Der Festungs-Commandant stellte uns am fünften Tage die Alternative, ent¬
weder in garibaldische oder piemontesische Dienste zu treten, oder nach unserer
Heimath befördert zu werden. Nur wenige nahmen das erstere an. Ich be¬
nutzte mit Vergnügen die Gelegenheit, denselben Abend mit einem an die
östreichische Grenze abgehenden Transporte abzufahren. Nach einer 24stündigen
langweiligen Fahrt unter Bedeckung der Nationalgarde langten wir in Pes-
chiero an, wo uns die Oestreicher freundlich empfingen.
Nach den Bedingungen der Capitulation schuldet der päpstliche Stuhl
jedem Soldaten bei Auflösung der Armee ein Jahrgehalt. Diese Verpflichtung
kann also im gegenwärtigen Falle nicht als aufgehoben betrachtet werden,
uni so mehr als die Soldaten das Ihrige gethan, ihr Leben für die Sache des
Papstthums gewagt haben. Mögen auch die Finanzen der römischen Regierung
gegenwärtig stark in Anspruch genommen sein, so erscheint dies als keine Ent¬
schuldigung, daß diese nicht wenigstens an die in den verschiedenen katholischen
Ländern bestehenden Nunziaturen die betreffenden Instructionen ertheilt, an
welche sich die Betheiligten wenden können, wenigstens um eine Gewißheit
über die Art und Weise zu erlangen, wie man den gerechten Forderungen
genügen wolle. Es waren unter den von den Piemontesen gefangenen Sol¬
daten dieser Armee außerdem viele, welche 15, 20, ja selbst mehr Jahre dem
heiligen Vater gedient hatten, Leute, welche heute alt und zur Arbeit nicht
mehr recht geeignet sind, auch vielleicht nie eine Profession erlernt hatten. —
Gegen solche Leute ist die römische Regierung um so mehr verpflichtet, die Be¬
dingungen einzuhalten; sonst müssen jene, von Mitteln zur Rückreise nach
Rom entblößt, andern Staaten als Bettler zur Last fallen; wenigstens sind die
meisten als Bettler und durch Betteln in ihre respective Heimath gelangt.
Die zweite Kammer der neuen kurhcsfischcn Stände hat am 8. Dec, mit allen
gegen 7 Stimmen, und zwar gegen 7 Dorfbürgcrmeister, erklärt, „daß sie sich nicht
als rechtmäßige Landesvertretung anzusehen vermöge und deshalb auf Landtagsgeschäste
nicht eingehen könne;" sie hat ferner beschlossen, „eine Vorstellung um Se. Königl.
Hoheit den Kurfürsten zu richten, in welcher die Gesinnungen und Wünsche des Landes
offen dargelegt und Allerhöchstdieselben gebeten werden, das bis ins Jahr 1850 in
anerkannter Wirksamkeit bestandene Verfassungsrecht des Kurstaates thatsächlich alsbald
wieder herzustellen und daran etwa vorzunehmende Aenderungen mit der auf Grund
des Wahlgesetzes von 5. April 184!» zu berufenden Landesvertretung vereinbaren zu
lassen/' Zwar ist hierauf sofor! die Auflösung dieser Kärrner, welche eine Vertagung
der ersten zur Folge hat, durch eine landesherrliche Verordnung ausgesprochen worden,
so daß die Vorlesung und Genehmigung der bereits entworfenen Vorstellung an den
Kurfürsten nicht mehr stattgefunden hat; allein nichts desto weniger ist mit jenem
Beschlusse das Verlangen des Landes und überhaupt die ganze Sachlage vollkommen
klar gestellt worden. Bisher waltete immer noch eine gewisse Unbestimmtheit ob. Das
z» erreichende Ziel war nicht genau umgrenzt, der einzuschlagende Weg nicht klar
bezeichnet; jetzt aber hat die zweite Kammer aller Ungewißheit und allem Schwanken
ein Ende gemacht. Allerdings wußte alle Welt, daß fiel's im Allgemeinen um Her¬
stellung der Verfassungsurkunde von 1831 handele; allein wie verhält es sich mit
den Aenderungen, welche 1848 und 1849 daran vorgenommen worden sind? wie
hat man sich namentlich zu dem Gesetze vom 5. April 1849 zu stellen, durch welches
nicht allein die Wahlbcstimmungcn vom 16. Febr 1831, sondern auch die Zusammen¬
setzung des Landtags, wie solche in den dz§ 63. 66, 67, 68 der Verfassungsurkunde
von 5. Jan. 1831 vorgeschrieben war, wesentliche Abänderungen erlitten haben?
Diese Fragen wurden lange Zeit entweder ganz umgangen oder doch nur mit all¬
gemeinen Wendungen und Ausdrücken, wie- „altes Verfassungsrecht" erledigt. Nicht,
als hätte in Kurhessen Jemand an der verfassungsmäßigen Entstehung oder an der
vollen RcchtsgiUigkcit jener. Gesetze gezweifelt, indem vielmehr selbst die Rcgicruugs-
organe solche unumwunden zugestanden haben; wol aber war es nicht unbekannt
geblieben, daß auf Seiten der preußischen Regierung eine gewisse Abneigung gegen
jene Erzeugnisse der Jahre 1848 und 1849 bestehe und daß man namentlich Anstand
nehme, das s. g, Wahlgesetz von 1849 mit der Verfassungsurkunde von 1831 aus
gleiche Linie zu stellen und beide in rechtlicher Beziehung völlig gleich zu behandeln.
Es war dies freilich nicht folgerichtig. Denn wollte man dem Bundestage die
Befugniß zugestehen, jenes Gesetz von 1849, das nach ausdrücklicher Bestimmung einen
„Bestandtheil der Staatsverfassung" bildet, zu beseitigen, so wäre nicht abzusehen,
warum er nicht auch das Recht habe» sollte, die Verfassungsurkunde von 1831 auf¬
zuheben. Indessen schien sich doch ein Ausweg zu bieten. Hätte man nämlich an¬
nehmen können, daß das Wahlgesetz von 1849 nicht auf verfassungsmäßigen, sondern
umgekehrt auf verfassungswidrigen Wege entstanden sei, so würde sich für eine Nichtig-
sprcchung desselben von Seiten des Bundestags derselbe Artikel 56 der Wiener
Schlußactc haben anziehen lassen, auf welche» man sich zur Darthuung der Ungil-
tigkcit der nicht auf verfassungsmäßigen Wege erlassenen „Verfassungsurkunden" von
1852 und 1860 beruft. Allerdings würde es schwer gefallen sein, eine solche Ver-
fassungswidrigkcit zu entdecken; auch hätte es jeden Falles an einem Beschwerdeführer
gefehlt, von dem nicht zuvor stillschweigend oder ausdrücklich die Rechtsbeständigkeit
des Gesetzes von 1849 anerkannt worden. Indessen scheint man doch eine Nichtig-
erklärung und damit eine Herstellung der Bestimmungen von 1831 im Auge gehabt
zu haben, weil in der preußischen Denkschrift vom 10. Oktober 1859 von etwaigen
„Verfassungswidrigkeiten in den Zusätzen aus den Jahren 1848 und 1849 und in
dem Wahlgesetze selbst" die Rede ist, „welche es möglich machen, diese von vornherein
außer Wirksamkeit zu lassen/' Allein bekanntlich ging die Mehrheit der Bundesver¬
sammlung auf die ganze preußische Anschauung von der damaligen Sach- und Rechts¬
lage nicht ein.
Preußen selbst ließ sich dadurch zu einer gewissen Inconsequenz hinsichtlich der
Buudestagszustäudigkcit veranlassen. Nach der erwähnten Denkschrift war es mit
Recht von der Absicht geleitet worden, daß die Bundesversammlung durchaus nicht
die Befugniß habe, eine Landesverfassung aufzuheben und zu ändern, daß vielmehr,
wenn eine Aenderung nach Maßgabe der Bundesgesetze geboten erscheine, diese auf
verfassungsmäßigen Wege zu bewirken sei. ES verlangt? daher, daß „die in ihrem
rechtlichen Bestände nicht definitiv aufgehobene Verfassung von 1831 wieder in Wirk¬
samkeit gesetzt werde, zugleich aber auch, daß in derselben die den Buudcsgrundgc-
setzcn widersprechenden Elemente bezeichnet und die Ausmerzung derselben auf einem
der Verfassung wie dem Bundcsrcchte selbst entsprechenden Wege bewerkstelligt wer¬
den". Hiernach sollte also Herstellung im Ganzen und verfassungsmäßige Aender¬
ung einzelner Bnndeswidrigtciten stattfinden, und nur in Betreff etwaiger „ver¬
fassungswidriger" Zusätze war, wie oben bemerkt, eine sofortige Außerkraftlassuiig
vorbehalten. Später aber, bei der Abstimmung am 24. März 1860, ward dieser
Standpunkt nicht ganz zweifellos festgehalten. Zwar wurde auch damals noch ver¬
langt, daß die alte Verfassung hergestellt und durch die kurfürstliche Regierung „die nach
den Bnndcsgcsctzcn erforderliche Abänderung derselben genau und deutlich 'im Ein¬
zelnen bezeichnet" werde; allein die Herstellung oder die Wicdcrinwirtsamkeitsetzung
der bis 1852 bestandenen Verfassung sollte doch nur „mit Ausnahme, der hier¬
nach als bundcswidrig bezeichneten Bestimmungen" geschehen. Allerdings sollte
die „so revidirte Verfassung und Wahlordnung" noch einer Ständeversammlung zur
„verfassungsmäßigen Zustimmung" vorgelegt werden i allein die Wahl dieser Ver-
sammlung selbst sollte nach der bereits „so revidirten Verfassung und Wahlordnung"
stattfinde», mithin erst nach Ausscheidung etwaiger Bundeswidrigkeitcn (wohl-
gemerkt nicht Verfassungswidrigkeiten), mithin unter Anwendung von Bestimmungen,
die nicht auf verfassungsmäßigen Wege geändert oder getroffen waren, mithin prin¬
cipiell in derselben Weise, wie die Wahl der Stunde vo» 1852 und 18K0 auch.
Vermuthlich hat dabei der Gedanke obgewaltet, daß bei der gleichzeitig verlang¬
te» „strengen Jnnchaltung der durch die Grundgesetze des Bundes gezogenen Gren¬
zen" gnr keine oder doch nur solche Bundcswidrigkciten zu ändern sein würden,
welche zugleich als Vcrfassnngswidrigkciten erscheinen könnten. Wie dem aber auch
sei, bekannt ist, daß keiner von den preußischen Anträgen bei der Mehrzahl der
Bundesglieder Billigung gefunden hat, und daß Kurhessen in Folge dessen mit der
Verfassung vom 30. Mai 18K0 gesegnet worden ist.
Das Land hatte sich nun, wie Herr v. Schlcinitz im preußische» Abgeordneten¬
haus«! richtig bemerkt hat, zunächst selbst zu entscheiden, und diese Entscheidung ist
durch den Widerspruch der Gemcmdebchörden gegen die neue Verfassung, durch Vor¬
behalt des alte» Rechts bei den Wahlen und endlich jetzt durch den in aller Förm¬
lichkeit gefaßte» Beschluß der zweiten Kammer erfolgt. Natürlich ist dieselbe dem
strengen Rechte gemäß ausgefallen. Die Wortführer des Landes hatten keinen Grund
mehr, sich noch in allgemeinen Ausdrücken und Wendungen zu ergehen. Sollte
nicht aller Boden und aller Holt verloren gehen, so mußte mit Beiseitsetzung
von Zweckmäßigkcitsfragcn und Nebenrücksichten das in gesetzlicher Weise begrün¬
dete und entwickelte und niemals auf ordnungsmäßige Weise wieder geänderte,
mithin noch vollgiltige Verfassungsrecht im Ganzen, wie im Einzelnen, fest¬
gehalten werden. Dies ist in klarer und entschiedener Weise geschehen. Nicht
nur das Land selbst hat von jetzt an eine einfache Richtschnur für sein ferneres
Verhalten, sondern auch die Freunde und Mitstreiter in ander» Staaten ver¬
möge» genauer zu erkenne» und bestimmter auszusprechen, warum sich's handelt
und wozu man mitzuwirken hat, als dies bisher, zum Nachtheil der Sache, der Fall
war. Thatsächliche Herstellung des noch in Kraft befindlichen Verfassungsrechts von
1831—1850 und Berufung einer Landesvertretung nach dem Gesetze von 1849 —
das ist es, worauf alle Anträge und Bestrebungen gerichtet sein müssen.
Und zwar muß diese Herstellung sofort und ohne Einschränkung geschehen, mithin
als eine vollständige Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erscheinen. Niemand
als die verfassungsmäßige Gesetzgebung hat ein Recht, irgend eine Bestimmung der
in anerkannter Wirksamkeit bestandenen Grundgesetze des Landes zeitweise oder für
immer aufzuheben. Sind Aenderungen bundesrechtlich nothwendig oder aus Grün¬
den der Zweckmäßigkeit geboten, so können sie nur unter verfassungsmäßiger Mit¬
wirkung der nach dem Gesetze von 1849 zu wählenden Stände geschehen, und
müssen zu dem Ende genau bezeichnet werden. Daß eine nach diesem Gesetze ge¬
wühlte Versammlung zu einer solchen Mitwirkung bereit sein würde, leidet, wie alle
mit der Stimmung des Landes vertrauten Männer bezeugen, keinen Zweifel. Auch
die Kanuner würde eine dcßhalbige Ueberzeugung ausgesprochen haben, wenn sie nicht
durch sofortige Auflösung nach obigem Beschlusse daran verhindert wurden wäre.
Die im Ausschusse bereits berathene und einstimmig genehmigte Vorstellung an den
Kurfürsten enthält, wie ich aus bester Quelle mittheilen kann, eine ausdrückliche
Versicherung dieser Art und würde sicher von der ganzen Kammer, ja vom ganzen
Lande gut geheißen worden sein. Von den neuen Stünden ist nichts zu erwarten
als Widerstand, mag die Regierung sich stellen, wie sie will. Die Stände von 1849
würden billig und nachgibig sein, denn sie Hütten — das Recht dazu.
Aboimemeiltsailzeige zum neue» Jnhr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den ^..X.. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeration auf denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December 1«!>9. , Fv. Ludw. .Herbig.
Berthold Auerbach: Joseph im Schnee. Eine Erzählung. Stutt¬
gart. Cotta. — Die Stichworte „Realismus" und „Idealismus" werden in
unsern ästhetischen Lehrbüchern und Zeitschriften noch immer so ungenau ver¬
wendet, daß es nicht unnütz ist, von Zeit zu Zeit wieder darauf zurück¬
zukommen. — Die Formel, nach der beide Begriffe ihre Berechtigung finden,
haben wir schon seit längerer Zeit festgestellt. Der Zweck der Kunst, nament¬
lich der Dichtkunst, ist, Ideale aufzustellen, d. h. Gestalten und Geschichten,
deren Realität man wünschen muß. weil sie uns erheben, begeistern, ergötzen,
belustigen u. s. w.; das Mittel der Kunst ist der Realismus, d. h., eine
der Natur abgelauschte Wahrheit, die uns überzeugt, so daß wir an die künst¬
lerischen Ideale glauben. — Dies Gesetz gilt für jede Form der Dichtkunst,
für jede Zeit, und classisch wird derjenige Dichter sein, der in seinen Werken
allgemein menschliche Ideale, d. h. echten bleibenden Lebensgehalt darstellt,
und der diese Ideale so darzustellen weiß, daß jede Zeit an ihre Realität
glaubt. Je schärfer der Blick eines Dichters für das Wesentliche des Geistes
ist, je mehr er von dem Zufälligen und Unwesentlichen seiner Zeit zu ab-
strahiren weiß, desto classischer wird er sein, d. h. desto länger wird er dem
Menschengeschlecht verständlich und werth bleiben. — Um ein classischer Dich¬
ter zu werden, reicht aber die große Begabung allein nicht aus: die Zeit, in
der er lebt, muß ihm wirklichen, echten Lebensgehalt bieten, und zugleich den
Stoff, in dem er denselben darstellen kann, d. h. eine bis auf einen gewissen
Grad entwickelte Sprache. — Wo das eine oder das andere fehlt, wo der
Dichter entweder den echten Lebensgehalt erst mühsam suchen, wohl gar aus
fremden Anschauungen entlehnen, oder wo er sich die poetische Sprache erst
mühsam erkämpfen muß, werden immer nur Dichter zweiten Ranges hervor¬
gehn, d. h. Dichter, deren Arbeit von einer weiter entwickelten Bildung in
ihre Elemente aufgelöst, und damit als nicht ursprünglicher Schöpferkraft an¬
gehörig betrachtet werden kann. — So haben wir das „classische Zeitalter"
der Römer an Bildung überholt, und weil sein Inhalt nicht aus der Natur-
kraft des Volks geschöpft, sondern einer fremden Bildung entlehnt war, so
hat es für uns aufgehört classisch zu sein: unsere Freude anMrgil, Horaz,
Ovid, Terenz u. s. w. ist nur noch die Freude der Bildung; wir würdigen
sie in dieser Beziehung vielleicht besser als die Leser früherer Jahrhunderte,
denen sie als classisch galten, aber wir stehn ihnen gegenüber nicht mehr wie
vor einem Geheimniß, wir glauben nicht mehr an sie. Homer dagegen ist
uns uoch ebenso classisch als den Zeitgenossen Alexanders, denn er ist das
Erzeugnis; einer ungebrochnen Bildung, d. h. einer Bildung, in der man, um
Ideale zu schaffen, nur in die Realität greifen durfte.
Gebrochene Bildungsperioden dagegen, d. h. Perioden, in denen man
die Gestalten, Bilder, Thaten, Empfindungen, Gedanken u. s. w., denen man
zu begegnen wünscht, um erhoben zu werden, nicht in der Wirklichkeit findet
oder nicht zu finden weiß, werden dem einen oder dem andern jener Begriffe
das Uebergewicht geben.
Schon in unserer „classischen Zeit" merken wir den Widerspruch zwischen
dem Ideal und dem Leben. Um schön zu empfinden, bemüht man sich,
griechisch, d. h. undeutsch zu empfinden. Die deutsche Empfindung brach dann
wol mächtig durch — wie z. B. in Goethes Iphigenie; aber das Costüm
deckte den Inhalt nicht ganz; man übersetzte die deutsche, aber freilich durch
Bildung gewonnene Empfindung ins Griechische, um sie dann wieder ins
Deutsche zurückzuübersetzen. So groß die schöpferische Kraft jener Dichter
war, so merkt man doch hin und wieder die Uebersetzung. — Schlimmer
wurde es in der Zeit der Romantiker. — Denn bei Goethe und Schiller war
es mit dem Gegensatz gegen die Zeit nicht so gefährlich: er war mehr ein¬
gebildet als wirklich. Von vielem Unschönen abgestoßen, das sich in der da¬
maligen Literatur regte, das aber in keiner Literatur fehlt, lästerten sie das
Zeitalter, wenn sie predigten, in einer ganz unerhörten Weise; wenn man,
z. B. Schillers Zeitgenossen ans seinen Briefen an den Herzog von Augusten¬
burg kennen lernen wollte, so würde man von ihnen ein ganz schiefes Bild
erhalten. Ehe diese Briefe durchdrangen, ehe „das Reich der Schatten", der
„Spaziergang"; ehe Iphigenie und Tasso durchdrangen, war freilich einige Zeit
nöthig; denn alle jene Dichtungen waren für die Bildung berechnet, und man
muß sich erst allmälig daran gewöhnen, zu abstrahiren von der Atmosphäre, in
der man athmet; jetzt sind wir gebildet genug, zu abstrahiren, und damit die
Schönheit jener Dichtungen zu begreifen. Zugleich aber erkennen wir, daß
Werther, Götz, Wallenstein u. s. w., die eine solche Abstraction nicht ver¬
langten, und die in Folge dessen augenblicklich vollständig verstanden und ge¬
würdigt wurden, darum keineswegs schlechter sind; ja daß sie am Ende noch
die Pandora, die Braut von Messina und andere für die „Gebildeten" be¬
stimmte Dichtungen überleben werden.
Wie gesagt, der Gegensatz war nicht so schlimm. Unsere Dichter wußten
sich im Gegensatz mit den tölpelhaften Wortführern der Menge, über deren
Recensionen sie sich sehr unnütz ärgerten; sie wußten sich im Gegensatz zu
Kotzebue u. s. w.; aber wenn man ihnen die griechische Maske abnimmt, so
findet man das ehrliche deutsche Gesicht, d. h. der wahre Lebensinhalt ihrer
Dichtungen ist der wahre Lebensinhalt ihres Zeitalters. Als Deklamatoren
und Nhetoriker stemmten sie sich ihm entgegen; als Dichter waren sie seine
Führer. Und der wahre Lebensinhalt jenes Zeitalters ist in der Hauptsache,
einige Mißverständnisse abgerechnet, auch noch der unsrige.
Die Romantiker dagegen waren in wirklichem Gegensatz gegen das Zeit¬
alter; sie hatten, um im Ton der Goethe-Schiller-Fichteschen Declamation zu
bleiben und den Effect noch zu steigern, so lauge an ihren eignen Gedanken
und Empfindungen hernmgenrbcitet, daß sie zuletzt wirklich anders dachten und
empfanden, nicht blos als ihr? Zeitgenossen, sondern als je zu irgend einer
Zeit ein Mensch, der bei gesunden Sinnen war, gedacht und empfunden
hat. In ihrer Blüthezeit haben sie im Publicum gar keinen Anklang gefun¬
den, doch stellten sich eine Reihe von Jüngern ein. die unfähig, etwas zu
schaffen, von ihnen die leichte Kunst lernten, sich den Schein der Genialität
zu geben. Leicht war die Kunst, denn man durfte nur das Gegentheil von
dem sagen, was die öffentliche Meinung empfand und dachte, so war man
ein vollkommener Künstler. Wer das übertrieben findet, lese einmal die Poe¬
sien von Zacharias Werner: und dieser schmutzige Hanswurst galt damals
nicht blos bei Hans und Kunz für einen großen Dichter, sondern Goethe
selbst war in schwachen Stunden geneigt, ihn dafür zu halten. Goethe, der
Dichter der Schönheit, der Liebe, der Freiheit, des Lichts, diesen zotenhaften
Kapuziner, der seinen Unflat in einen Heiligenschrcin zu legen sich erfrechte!
Die Masse der Jünger wurde am Ende so groß, daß sie ein nicht uner¬
hebliches Publicum bildete. Die nüchternsten Spießbürger, wie Müllner.
Kotzebue, Houwald dichteten zuletzt romantisch. Warum nicht? Effect ist
Effect! und die neue Geisterlarve war noch viel bequemer zu tragen als die alte
des „polternden Alten" u. s. w.; die Form des Schaffens war dieselbe geblie¬
ben: statt ganzer Gestalten Moscnkarbcit aus einzelnen Effecten.
Abgesehen von vielen andern Paradoxien der Romantiker, die kamen und
gingen wie die Luft, z. B. Gespenster sind die Hauptsache, die beste Regierungs-
form ist der Despotismus, die katholische Kirche ist sehr tiefsinnig, die Rosen
singen die gescheiteste Philosophie u. s. w., gab es ein Stichwort, auf das
sie immer zurückkamen: das wirkliche Leben mit seinem ganzen Inhalt, mit
seinem Glauben. Hoffen und Lieben ist ekel, schaal und unersprießlich. Wo
sie das Ideal suchten, ob in Indien, oder im Mittelalter, oder in der spani¬
schen Jnquisitionszeit, oder wo sonst, war daneben gleichgiltig.
Die positiven Wirkungen der Schule konnten nicht beträchtlich sein, wohl
aber ihre negativen. Wenn ein solches Labyrinth von Gedanken und Empfin¬
dungen ein volles Menschenalter hindurch unermüdlich umgewühlt wird, so
entsteht nothwendig daraus bei der Masse der Leute, die doch gern der neuen
Bildung theilhaftig sein wollen, und die nicht fest auf ihren Füßen stehn, eine
große Verwirrung. Was ist eigentlich schön und was häßlich? was gut und
was böse? was ist ideal und was nicht? ja: was ist wirklich?
Dies war die Stimmung, in welcher die Erben der Romantik, die Jung¬
deutschen auftraten. Entweder drückten sie Verzweiflung aus über diese Zeit,
in der keiner wisse, wie er empfinden, wie er denken, wie er sich benehmen
solle; oder sie zeigten ein possenhaftes Behagen an diesem „jetoller je besser".
Die Unwahrheit der Romantik empfanden sie tief; ja sie schlössen sich den neuen
Freiheitsbestrebungen an — die an sich mit dieser Schule des Weltschmerzes
und der Zerrissenheit gar nichts gemein hatte?» — aber sie gaben denselben
eine subjective, dämmerhafte — kurz, eine romantische Färbung.
Auf die Länge kann ein gesundes Volk eine solche Gespenster- und Masken-
wirthschaft nicht ertragen. Schon seit zwanzig Jahren hat sich auch in der
Literatur eine sehr bedeutende Reaction dagegen erhoben, die jetzt entschieden
siegreich ist. — Beiläufig, man halte sich nicht an die Personen, oder die
Schulen und Parteien, die Reaction geschieht auch innerlich. — Der lauteste
von den Wortführern des jungen Deutschland war Gustow; um nun zu
sehn, wie auch in ihm die Fühlfäden einen andern Halt gefunden haben, ver¬
gleiche man die „Ritter vom Geist" mit dem „Zauberer von Rom" — nicht
in Bezug auf das Talent, das sich nicht wesentlich geändert hat, sondern in
Bezug auf den Stoff und die Tendenz. — Die „Ritter vom Geist" sind noch
so jungdeutsch als möglich, d. h. sie schilderten eine Reihe von „Idealisten",
von Referendarien u. s. w., die zwar den Mund sehr voll nehmen über das,
was alles anders werden müßte, die aber im Besondern nicht die entfernteste
Idee von dem hatten, was sie eigentlich wollten. — Der neue Roman dagegen
bemüht sich, auf Grundlage ziemlich umfassender Studien die katholische Kirche
zu schildern, wie sie im 19. Jahrhundert geworden ist, und welchen Einfluß
sie auf verschiedene Stände und Charaktere ausübt. Wir sind nicht gemeint,
den Vergleich weiter auszudehnen, aber in dieser einen Beziehung ist der
„Zauberer von Rom" mit Auerbachs Dorfgeschichten verwandt: er ist über¬
wiegend realistisch, er schildert Zustände, die Gutzkow sich nicht erträumt, son¬
dern die er durch unmittelbare Anschauung und durch Studien zu erforschen
bemüht gewesen ist.
Auerbach war im Kreise der „gebildeten Dichter" — allenfalls Immermann
ausgenommen — der erste, der diesen Ton anschlug; er fand im Publicum
eine sehr große Anerkennung, und eben deshalb im Kreise derer, die in der
alten bequemen Weise sortzudichten wünschten, große Anfechtungen. Wenig
fehlte, so hätte man ihm vorgeworfen, er wolle alle Welt zu Bauern machen,
wie man Andern vorwarf, sie wollten den Handwerkerstand zum herrschenden
in Deutschland erheben.
Was führte Auerbach — der in seinem Streben ebenso progressistisch war
als die Jungdeutschen — zu den Bauern? — Die Erkenntniß, daß die im
Salon der Romantik erzogenen Jungdeutschen, die nichts anderes als über
8Kg.l!e8xeai'6 emä tus musieal Msse« zu reden wußten, die nichts anderes zu
thun wußten als zu reden; daß diese zweiten verwässerten Auflagen früherer
Romcmsiguren. über die sie räsonnirten. keine wirkliche Gestalten seien, des
Lebens fähig und des Lebens werth, sondern hohle, leere Schemen, nichtige
Ausgeburten eines durch die widersprechenden Stichwörter des Tags in Ver¬
wirrung gesetzten Gehirns. — Seine Erfahrung lehrte ihn Bauern kennen,
die von diesem Molluskenthum gar nichts hatten, die in ihrer Einfachheit sehr
fest, in ihren sittlichen Vorurtheilen und Voraussetzungen sehr bestimmt waren;
Gestalten, die, weil sie wirklich existirten, auch poetisch zu existiren berechtigt
waren. — Mit Entzücken lauschte er ihren Redensarten, die immer concret,
immer zur Sache gehörig, den leeren Allgemeinheiten der Salons ganz entgegen¬
gesetzt, kaum mehr bearbeitet werden dursten, um in der Poesie ein Bürger¬
recht zu haben. Wie die Gelehrten im „Volk" umhergingen, um durch Samm¬
lung von Sagen. Gedichten, Sprichwörtern ein lebendiges Bild von der Urzeit
Deutschlands zu erhalten, so merkte der Dichter auf seine Weise, zu denken und
zu empfinden, um sich dadurch wieder zur Conception ganzer und voller Ge¬
stalten zu erheben. Es war ein glücklicher Griff, und er wurde mit warmer
Liebe, mit großer poetischer Empfänglichkeit und mit seinem Verständniß für
das, was die Zeit daraus lernen konnte, zuerst zu kleinen, dann zu großen
Bildern verwerthet. Die Detailbcobachtung war das erste; das warme Gefühl
für die Natur, das diesem Detail zu Grunde lag, d. h. die Empfänglichkeit,
das zweite; dann das Bemühen, aus dem Innern heraus Gestalten zu schassen,
die in dieser Weise zu denken und zu empfinden im Stande waren.
sowol in dieser Art des Schaffens als auch in der Beschränkung auf
einen zu engen Kreis lag, wenn wir den absoluten Maßstab anlegen, eine
gewisse Einseitigkeit; aber es war ein sehr heilsames, ja ein nothwendiges
Correctiv sür jene Zeit, in der die Kunst zur Lüge und zur Blasirtheit zu ver¬
sinken drohte. Bedenklich war es für die Zukunft des Dichters: wenn man
sich ausschließlich mit einem Gegenstand beschäftigt, liegt die Gefahr der Ueber¬
treibung nahe: das Charakteristische wird gehäuft, das Gewöhnliche zu sehr
vermieden; das Barocke liegt nahe. Etwas Zerhacktes in der Darstellung und
Composition war nicht immer zu verkennen.
Die neue Dorfgeschichte zeigt mehr als die meisten andern der letzten
Jahre, wie sehr sich Auerbach bemüht, diese Fehler zu vermeiden. Die Coa-
Position ist künstlerisch durchdacht, die Darstellung fließend, nur wenige Stellen
enthalten Malerei um der Malerei willen. Die Stimmung des Ganzen ist
wahrhaft poetisch, auch einzelne Nebenfiguren — z. B. die wilde Nottmännin
und die Näherin Leegart, die sich einbildet, hexen zu können, und diese Fähig¬
keit so bescheiden als möglich zu tragen sucht — sind vortrefflich ausgeführt.
Einzelne Anklänge an Adam Bete und die letzte Novelle von G. Sand sind
vielleicht ganz zufällig. Ein Uebelstand ist, daß die Entscheidung — die Um-
stimmung des alten Rottmann — in der vorhergehenden Charakteristik nicht
genügend vertreten ist. — Wie dem auch sei, die Novelle ist fein erdacht und
schön ausgeführt — wir möchten ihr z. B. vor „Barfüßele" entschieden den
Vorzug geben. — Und doch würde es uns schmerzlich sein, wenn sie eine Re¬
signation des Dichters ausdrücken sollte. — Die allgemeine Theilnahme wird
er doch nur dann behaupten können, wenn er, neben dem Bauernleben, auch
die allgemeinen Interessen der Nation zu fassen und wiederzugeben versteht.
Bei einem frühern Versuch der Art ist er gescheitert, es ist aber vielen Dichtern
begegnet: ein Zusammenraffen zu einem größern Ganzen, selbst aus die Gefahr
eines nochmaligen Mißlingens, würde für seine Entwicklung heilsamer sein,
als das bisherige Verzetteln seiner Kraft an unbedeutende Kalendergeschichten. —
' Alfred Meißner: Neuer Adel. Roman in 3 Bdn. — Leipzig. Gru-
now. — Meißner ging von einer ganz andern poetischen Bewegung aus: er
folgte dem Strom der sogenannren politischen Lyrik, die durch zwei Oestreicher,
durch Anastasius Grün und Lenau eröffnet wurde und sich dann über das
übrige Deutschland verbreitete. In der Lyrik waren die Stoffe hauptsächlich
durch Tieck und Uhland festgestellt: Mondschein, Vogelgesang, Waldhorn, Rui¬
nen, Nonnen u. s. w.z da diese Dinge durch die neuen Erfindungen, durch
die politischen Interessen, die Kammern, die Budgets, die Eisenbahnen u. s. w.
gestört wurden, so war die Lyrik im.Allgemeinen dem Liberalismus abgeneigt.
Indessen stellte sich das Bedürfniß nach neuen Stoffen lebhaft heraus, da das
Thema vom Mondschein u. s. w. kaum noch eine neue Variation zuließ. Es
war daher von Anastasius Grün auch poetisch ein sehr glücklicher Griff, daß
er sich bemühte, das Malerische und Interessante der Dampfmaschinen, der
Nationalgarten, des Liberalismus im Allgemeinen hervorzuheben; und dem
Volk dadurch ganz neue Perspectiven eröffnete. Daß es hauptsächlich das
Bedürfniß neuer Stoffe und Stimmungen war, die dieser Lyrik so großen
Anklang verschaffte, zeigt Freiligrath, der mit den Kameelen der Wüste anfing
und dann zu Revolutionsscenen überging: ein entschiedncr Fortschritt, da die
letzteren eine weit größere Bewegung verstatten. — Grund genug für die re¬
lative Berechtigung der neuen Spielart, wenn man sich auch über die Gren¬
zen derselben nicht mehr täuscht: man richtet seine Abstimmung nicht mehr
nach sinnigen Reimen; nur hin und wieder empfiehlt man noch, Deutschland
so weit auszudehnen, als „die deutsche Zunge klingt", d. h. einen guten Theil
von Nordamerika, Rußland u. s. w. zu erobern. — Gott verhüte, daß ein¬
mal auch die Franzosen auf die Idee kommen, Frankreich soweit ausdehnen
zu wollen, als die französische Zunge klingt! Ein guter Theil unserer Salons
würde annectirt werden müssen. — Viele von den jungen Freiheitsdichtern
sprachen sich so lebhast in die Freiheitshoffnungen hinein, daß sie sich als
Propheten betrachteten, und als nun die Bewegung wirklich eintrat, wol gar
die Führung derselben zu übernehmen bereit waren. — Die darauf folgende
Reaction erregte bei denen unter ihnen, die gegen die Wirklichkeit nicht ver¬
blendet waren, eine große Verstimmung gegen alles Ideale, und dieser Ver¬
stimmung unterlag auch Meißner; sie spricht sich namentlich in seinen drama-
tischen Versuchen sehr bitter aus. Auch der Titel seines Romans „Sansara"
schien auf etwas, wie tiefer Weltschmerz hinzudeuten, obgleich sein Inhalt sol¬
chen Erwartungen gar nicht recht entsprach. — Sein wahres Talent zeigt sich hier
wie in der alten Lyrik nicht in der kritischen Zerlegung menschlicher Emsin-
dnngen, sondern in der glänzenden Schilderung von Zustanden und Begebenheiten,
die mehr nach Außen fallen. — Diesem Talent hat er in dem gegenwärtigen
Roman weniger Spielraum verstattet. Es ist, der Hauptsache nach, eine
Badegeschichte: ein Mädchen, das von Natur edel angelegt, durch die falsche
Stellung ihres Stands (der Vater ist ncugeadelter Bankier) zu einer falschen
Lebensauffassung verführt und endlich' ins Elend gestürzt wird. Um diese
Hauptgcschichte gruppiren sich eine Reihe humoristischer Originale, zum Theil
recht glücklich angelegt, wenn auch die Ausführung der Anlage nicht immer
entspricht. — Es fehlt nicht an Scenen, die auch psychologisch spannen, der
Dichter hat nicht leichtfertig, sondern mit reiflicher Ueberlegung gewählt.
Aber er läßt uns fast überall mit der Auslösung im Stiche. In Mariens Na¬
tur liegt doch zu wenig, was uns mit ihrem Verhalten versöhnen kann; sie
hat einige Kraft, einige Güte, aber von beiden nicht genug, und darum kön¬
nen wir auch ihrem Schicksal nur ein mäßiges Interesse schenken. — Das
Schlimmste ist aber, daß sich im ganzen Buch keine einzige Figur findet, an
der wir warmen Antheil nehmen können. Wenz abgesehn von denen, die
komisch oder schlecht sein sollen — auch die sogenannten guten Leute —
Solms, Horsky, Eschheim — es ist doch kein Einziger darunter, der uns auch
nur einen Augenblick warm machen könnte. Wir können ihre Handlungsweise
selten billigen, und wie sie empfinden ist uns gleichgiltig. — Wollte der Dich¬
ter dagegen einwenden: so ist die Welt! so hilft ihm das nichts; denn ein¬
mal ist es nicht wahr, und zweitens wenn es wahr wäre, so werden wir die
Dichter um so mehr bitten, uns mit der Wiederholung so matter gleichgiltiger
Dinge zu verschonen. — Der Dichter kann verschiedene Zwecke haben: uns
rühren, erschüttern, erheben, belustigen u. s. w.; aber eins von diesen muß er
wirklich wollen; er kann sich nicht darauf beschränken, uns blos zu unterrich¬
ten. Und nach dieser Seite hin liegt ohnehin Meißners Talent gar nicht. ^
Uebrigens macht das Buch durchweg den Eindruck, daß man es mit einem
gescheidten Manne zu thun habe. — In dem Stil sollte Meißner sorgfältiger
sein; sobald man nicht ernstlich daraus achtet, verfällt man leicht in Nachläs-
keiten, die den Eindruck des Kunstwerks aufheben. Meißner kann zuweilen
schön schreiben; um so zweckmäßiger wird diese Erinnerung sein. —
Stanislaus Graf Grabowski: Ein leidenschaftliches Herz, Roman
in 2 Bdn. (Leipzig, Grunow.) Wie es scheint ein Erstlingswerk, das durch
die Wärme seiner Haltung zu guten Hoffnungen berechtigt. —
Wolfgang Müller von Königswinter: Erzählungen eines rheini¬
schen Chronisten 1. Bd^ (Leipzig, Brockhaus). Der 1. Bd. behandelt, die
Düsseldorfer Periode von 1834: Immermann, Grabbe, Mendelssohn, Schadow
u. s. w. nach guten Quellen, die regelmäßig angegeben werden, und zum Theil
wol aus eignen Anschauungen. Ein Kunstwerk kann aus solcher Mosaikarbeit
(z. B. die Briefe, die Memorabilien u. s. w. sind in den Dialog verwebt),
nie hervorgehn; aber für die Düsseldorfer wird es ein großes locales Interesse
haben, und auch auswärts werden die Verehrer Immermanns wenigstens
ebensoviel Gefallen daran finden, als andere Gruppen des Publicums an den
Romanen von Heinrich König oder von Otto Müller. — Ein zweiter
Band soll die Zeit Jacobi's, und namentlich Goethes Besuch behandeln.
Hofft der Verfasser wirklich, die echten Quellen, die ja jedem zugänglich sind,
durch Einmischung erfundener Züge an Interesse zu überbieten? —
F. Spielhagen: problematische Naturen. Roman in 4 Bdn. (Berlin,
Zanke). — Sollen wir denn in alle Ewigkeit verurtheilt sein, von Nichts zu
hören als von problematischen Naturen? d. h. von Naturen, die nie etwas
Ganzes empfinden, denken oder wollen? in deren Gefühl keine Stätigkeit, in
deren Handeln keine Folge D? Leider gibt es genug solche problematische
Naturen im wirklichen Leben; aber warum soll uns die Dichtung dieselbe
Misere noch zum zweitenmal auftischen? Bloße Photographien der Wirklichkeit
(wie bei Thackerav) werden nur durch ungeheure Wahrheit, durch glänzende
Virtuosität gerechtfertigt — und auch das nur bis zu einem gewissen Grad.
Eine solche Virtuosität ist hier nicht vorhanden: Scenen wie die hier erzählten
mögen wol einmal vorkommen, aber sie sind Ausnahmen. Daß eine Gräfin
bei der zweiten Begegnung mit einem hübschen Hauslehrer gleich bis zum
allerletzten Stadium der Liebe kommt — das ist nicht deutsch. — Es ist our-
derbar, mit welchem Eifer die deutsche Belletristik an den Mollusken klebt.
Kotzebue in roh gemeiner, Tieck in zierlich raffinirter Weise haben gleichmäßig
darauf hingearbeitet; die jungdeutsche Literatur hat von beiden gezehrt. —
Und es ist um den Verfasser schade, er ist nicht ohne Talent für die Charak¬
teristik, äußere Staffagen sind mitunter vortrefflich: hätte er sich bemüht, statt
der problematischen Naturen lebendige Naturen zu schildern, so wäre ihm mehr
gelungen. Nicht Oldenburg, nicht Arnold, nicht Melitta, Helena u. s. w.,
sondern der alte Grenwitz. Anna Maria sind gelungen. Dem Dichter ist es
nicht verwehrt, auch die bloße Schwäche zu schildern, aber sie muß sich nicht
in den Mittelpunkt des moralischen Interesses drängen, sie muß sich nicht
für Stärke ausgeben wollen. Daß einer hübsch, kräftig an Körper, geistreich
u. s. w. ist. genügt noch nicht: er muß auch in geistiger Beziehung Knochen
haben, eine wirkliche Gestalt, sonst hat er auch kein Schicksal und kann kein
dauerndes Interesse erregen. — Sollte etwa auch dieser Roman das Neben¬
interesse haben, das Junkerthum in seiner Nullität zu zeigen, so würde er
diesem Zweck besser entsprechen, wenn er die Sache ernster nähme. In dem
vorliegenden Bild wird sich das Junkerthum nicht wieder erkennen. —
Heinrich Waldeck: die Egoisten. (Leipzig, Lork.) — Wieder zwei
problematische Naturen, der Freiherr Adolph und der Maler Müller, die nicht
wissen was sie wollen, die eben darum sogar zum Verbrechen getrieben wer¬
den, dann Reue fühlen u. f. w. — Und diese „Jugend" wird der alten starren
Aristokratie gegenüber gestellt. Diese Jugend wird die Aristokratie nicht
stürzen, und im Gespräch zwischen dem alten Baron Benzbach und dem Sohn,
der immer Schiller und Göthe citirt, sind wir sehr geneigt, für die Mi'la,
pvtestg.8 einzutreten. —
Illustrirter Novellen-Almanach für 1861 (Leipzig, Schräg) enthält eine
Criminalgeschichte von Temme in dem bekannten Stil dieses Novellisten,
und Novelletten von Levin Schücking, Heinrich Konig, Louise Mühl¬
bach und Baronin Gravenreuth (bekannt durch ihre Disputation mit
Gutzkow). —
Carl Wartenburg: Neue Propheten, Roman in 2 Bdn. (Leipzig, Gru-
now). Die Heerlager der beiden politischen Parteien sind geschildert: auf der
einen Seite, um den romantisch gesinnten König sich gruppirend, ein ordens¬
süchtiger Hofmann, ein fanatischer Reactionär Marecampus, der als Jesuit
endet, und sein Helfershelfer, ein wüster Duellant und falscher Spieler, der
unter Don Carlos und König Ferdinand von Neapel gedient; ihnen gegenüber
ein feuriger Redacteur, ein sinniger Doctor und ein Schriftsetzer, der seinen
Edelmuth hinter scheinbarem Menschenhaß versteckt; dazwischen die Frauenwelt,
bald von der einen, bald von der andern Seite angezogen; geheime Cnminal-
beziehungen; ein verloren gegangenes Kind, das Anfangs als furchtbare
Drohung austretend, endlich den versöhnenden Ausgang vermittelt; zum Schluß
Jeder nach Verdienst belohnt und bestraft. — Die politischen Beziehungen
könnten etwas tiefer gegriffen sein. —
Deutsche Schaubühne, redigirt von Feodor West, Hamburg. — Die
Redaction bemüht sich, ihre Zeitschrift durch angemessene belletristische Beiträge
zu heben. In besonderem Abdruck sind erschienen: „Neue Herzensgeschichten"
von Feodor West und „Salonbilder aus der vornehmen Welt" (d. h. aus
den Pharotischeu) von Friedrich Steinbach. —
Armand: Ralph Norwood. Roman in 5 Bdn. (Hannover, Rümplcr.) —
Man sollte denken, daß Cooper sür Jndianerbilder nicht mehr viel Spielraum
gelassen hätte. — Und doch ist in unsern Tagen wieder eine, ganz neue, sehr
umfassende Jndiancrliteratur aufgetaucht, die das Publicum anspricht und
fesselt. Auch der Verfasser des gegenwärtigen Romans hat, soviel wir wissen,
schon Mehreres in diesem Fach geleistet, und scheint durch unmittelbare An¬
schauung dazu befähigt zu sein. An spannenden Verwickelungen fehlt es nicht,
der künstlerische Werth ist nicht erheblich. —
Gustav von Struensee: Zwei gnädige Frauen. Roman in 5 Bdn.
(Breslau, Trewendt). — Die Figuren sind originell, und glücklich erdacht, so
paradox das Thema ist; namentlich die beiden gnädigen Frauen haben soviel
Plastik, daß sie sich dem Gedächtniß einprägen. — Eine Baronin, die ihr Haus
mit männlicher Kraft regiert, will nicht, daß das Majorat an eine katholische
Seitenlinie falle; da sie selbst keine Hoffnung zu männlichen Erben mehr
hat, veranlaßt sie ihren schwachen Gemahl, sich von ihr scheiden zu lassen
und eine andere zu heirathen. — Die Zumuthung ist stark, aber die dar¬
aus sich ergebenden Verwickelungen sind sehr ergötzlich geschildert. — Schade,
daß das Costüm nicht beobachtet ist. Die Zeit des siebenjährigen Kriegs steht
uns noch zu nahe, als daß wir nicht den Gegensatz der damaligen Sprachweise
gegen die unsere empfinden sollten. Wenn ein Dichter seine Geschichte in jene
Zeit verlegt, darf er die Personen nicht in unserer Manier sich unterhalten
lassen. Eine zu ernstliche Nachahmung der alten Sprachweise würde sogar stören;
aber es darf nichts vorkommen, was gegen den Geist derselben verstößt. —
Max Ring: Rosenkreuzer und Illuminaten. Historischer Roman aus
dem 18. Jahrhundert. 4 Bd. (Berlin. Janke). Der Verfasser hat die in
den gewöhnlichen Quellen vorkommenden Notizen über Schrapfer, Cagliostro,
Bischoffswerder u. s. w. (Butans geheime Geschichten u. s. w.) fleißig be¬
nutzt; was er selber dazu gethan, ist leichte Waare. Uebrigens würde sich
die Zeit sehr wohl zu einem — auf strenger Forschung beruhenden — Ge-
sammtbild eignen. —
C. L. Werther: Kleindeutschland oder Magnus XVIX'von Thoren.
2. Bd. (Berlin, Zanke). — Eine Satire gegen die Fürsten und das fürstliche
Leben im Allgemeinen. Wenig Witz und viel Behagen: der Witz beruht zum
Theil darauf, daß der eine Fürst immer in Infinitiven redet, daß zwei andere
stottern u. s. w. Einmal entsteht sogar zwischen den Fürsten auf einem Kon¬
greß eine förmliche Prügelei, was, soviel uns bekannt, in jenen hohen Regionen
doch niemals vorgekommen ist. —
Muckerromantik oder Tagebuch eines Seelensuchers. Roman aus dem
Wupperthal. (Bonn, Oelbermann). — Ein Pedant wird von einer Coquette
gehänselt: was die Zustande des Wupperthals damit zu thun haben, ist uns
nicht verständlich. —
Ernst Thränenlacher: Genien in Prosa oder die Extrablätter des
Genius. Fliegende Arabesken zur laufenden Literatur- und Culturgeschichte.
(Bonn, Oelbermann). — Abgesehn von den Satiren gegen Düntzer, Paul Hesse
u. s. w. scheint der Verfasser der jungen Literatur (es ist von einer neuen
Schule noch hinter den Junggcrmanen die Rede) den Humor zu empfehlen:
er scheint, denn nach der beliebten Jean-Paul'schen Methode erfährt man
nicht recht, ob er das meint, was er sagt, oder etwas anderes. — Wollte
Gott, daß die Empfehlung auch That würde! An Humor fehlt es uns wirklich
ganz erstaunlich, und für eine Stunde gesunden Gelächters gäben wir gern
Jahrhunderte blasirter Sentimentalität. Nur ist mit dem guten Willen noch
wenig gethan: man wird noch nicht komisch, wenn man in ungewöhnlichen
Redensarten und Constructionen. spricht. —
Edmund About: Die Bank gesprengt! (Ireirte et Huarcww!) Aus
dem Französischen (Leipzig, Lvrck). — Hier ist echter, gesunder Humor, wirkliche
Zeichnung und wirkliches Leben. Seit langer Zeit können wir uns nicht er¬
innern, im Gebiet der komischen Erzählung etwas so Musterhaftes gelesen zu
haben. Einige dreiste Erfindungen, die aber das Wesen der Sache nicht be¬
rühren, nimmt man gern mit in den Kauf. Der bissige Capitän, das junge Mäd¬
chen, der verliebte Italiener, das deutsche Ehepaar — lauter Figuren, die man
nicht vergißt, die leben und athmen und die es verdienen, zu leben! Wir
setzen den kleinen Roman den besten Erzählungen von Charles de Bernard
ein die Seite. Ueberhaupt, wo die jüngsten Franzosen wirklich Franzosen sind,
wo sie nicht transcendentale Philosophie oder höhere Mystik treiben, zeigen
sie noch die alte Liebenswürdigkeit. About ist freilich von allen der talent¬
vollste: auf einem andern Gebiet Taine. —
Als wir jung waren. Eine Erzählung aus dem Englischen. (Stutt¬
gart, Schmidt u. Spring). — Hübsche kleine moralische Erzählungen für die
Jugend. —
Golo Raimund: Gesammelte Novellen, 4 Bd., (Hannover, Nümplcr).—
August Schrader. Börse und Leben, Originalroman in 4 Bon. (Wien,
Leo). — Leistungen ersten selbst zweiten Ranges sind in unsern Tagen aller¬
dings viel seltener als in unserer classischen Literatur; vergleichen wir aber die
mehr für das gewöhnliche Lesebedürsniß geschriebenen Bücher, so sehen wir
doch, daß wir in unserer Durchschnittsbildung bedeutend weiter gekommen sind.
Lafontaine oder Cramer; oder aus einer spätern Zeit Clauren und Schilling —
es wird doch jetzt im Ganzen viel besser geschrieben, der Stil ist fortgeschritten,
die Zeichnung ist correcter, die sittliche Haltung befriedigt viel mehr. Da das
Lesebedürsniß heute noch größer ist als damals, und das Publicum ohne viel
Auswahl nimmt, was ihm geboten wird, so rst dieser Umstand gar nicht ge¬
ring anzuschlagen. —
Björnsterne Björnson: Aus Norwegens Hochlanden. 8 Bd. Nach
der vierten Auflage des Originals übersetzt von H. Heims. (Berlin,
Wenkler). — Dorfgeschichten in der Weise Auerbachs; aber wilder und recken¬
hafter; die Faustschläge fallen dichter und gefährlicher. Die Form der Erzäh¬
lung ist vortrefflich, und sie wird auch für unser Publicum wenigstens ebenso¬
viel Interesse bieten als die Bilder aus der Schweiz und selbst aus dem
Schwarzwalde. — Zum Schluß noch ein kleines zierliches Wcihnachtsbuch in
der Weise Dickens: Nur. Von der Verfasserin von „Eine Falle um einen
Sonnenstrahl einzufangen"; frei nach dem Englischen von F. T. (Berlin,
Der Staat Südcarolina, welcher schon seit Jahrzehnten den Reigen der
Sklavenhalterpartei führt, und dessen „Feuerfresser" soeben wieder einmal
Miene machen, sich durch Austritt aus der Union dem von Jahr zu Jahr un¬
bequemer werdenden Einfluß des Nordens zu entziehen, gehört zu den drei-
zehn Republiken, aus denen die nordamerikanische Union ursprünglich be¬
stand. Seine Grenzen sind im Norden und Nordosten Nordcarolina, mit dem
es bis 1697 verbunden war, im Südosten der atlantische Ocean, im Süd¬
westen Georgia. Er nimmt eine Fläche von 1156 Quadratmeilen ein, von
denen aber nur etwa 300 unter Cultur genommen sind, und hatte beim letzten
Census 668.507 Einwohner, unter welchen sich 384,984 Sklaven und 8900
freie Farbige befanden. Hauptflüsse sind der Savannah. welcher den Staat
von Georgia trennt, der Pedee, Waccamaw. Santce, Black River, Cooper River.
der Cdisto, Wciteree. Cntawba und Tyger. Vor der Küste liegen weitge¬
dehnte Schlammbänke und zahlreiche kleine Inseln.
Das Land zerfällt seiner Bodengestaltung nach in drei Striche. Von der
See bis etwa zwanzig deutsche Meilen weit einwärts ziehen sich die soge¬
nannten Pine-Barrcns hin, weite Flächen, die theils noch Sumpf, theils frucht¬
bare Marsch, theils eine Wildnis; von Fichten, Cypressen und Schilf sind.
In diesen ungesunden, von Reptilien und Muskitos wimmelnden Gegenden
wird in unmittelbarer Nachbarschaft des Meeres Reis und Baumwolle, weiter
oben Tabak und etwas Kaffee gebaut. An das flache Küstenland schließt sich
ein etwa 10 Meilen breiter Streifen, der theils Steppe, theils sandiges
Hügelland zeigt, auf welchem Tannen wachsen, und nach dieser Hügelregion
folgt das Hochland der Blue Nidge, in dessen Thälern Mais und anderes
Getreide gebaut und in dessen Bergen etwas Gold, Blei und namentlich
Eisen gegraben wird. Hier, im County Platens erhebt sich der 3752 Fuß
hohe Table Mountain und westlich davon der etwas niedrigere Colenoy. Das
Klima ist in den Niederungen vom März bis in den Oktober unerträglich
heiß und sehr ungesund. Wechsel- und Gallenfieber sind ein ^der Tagesord¬
nung, und häufig stellt sich auch das gelbe Fieber ein. Der Winter ist hier nur
eine Regenzeit, ein Frühling unbekannt. Das Gebirge soll im Allgemeinen
gesund sein; doch schadet dem Fremden leicht der schroffe Wechsel der Tem¬
peratur.
Südcarolina ist noch ausschließlicher als Nordcarolinci und Georgia ein
Vaumwollenpflanzerstaat. Es erbaut an Getreide nicht den dritten Theil
dessen, was es braucht, und muß daher dieses wie andere Lebensmittel in
großen Massen vom Norden und Westen kaufen. Die Viehzucht beschränkt
sich fast ganz auf die sehr nachlässig betriebene Schweinezucht. Die industri¬
ellen Etablissements sind kaum der Erwähnung werth; man findet einige
Eisenhämmer, einige Nägelfabriken, dann Säge-, Mahl« und Oelmühlen.
Die Ausfuhr, durchschnittlich 10 Millionen Dollars das Jahr an Werth, besteht
in Baumwolle. Reis, Theer und Pech, die Einfuhr, die sich auf etwa
3 Millionen jährlich beläuft, in Manufacturwaciren aus dem Norden. An
den Noten der mit einem Grundcapital von 9 Millionen Dollars im Staate
bestehenden Banken verliert man in der Regel 1 bis 2 Procent. Die Staats¬
schuld, die sich auf etwa 3'/- Millionen beläuft, wird mit 3, 5 und 6 Pro-
cent verzinst. Die Zahl der Milizen betrügt gegen 55.000 Mann. Kanäle
hat der Staat 10'/- Meilen. Von Eisenbahnen besitzt er die 27 Meilen
lange Südcarolina-Bahn. die Charleston mit Hamburg!) verbindet, die 14
Meilen lange Branchvillc-Columbia-Bahn und die 25 Meilen lange Fortsetz¬
ung der letzter» bis Greenville, die sich an die große Bahn durch Nordcarolina.
Tcuessee und Kentucky hinauf nach Cincinnati anschließt.
Die politische Hauptstadt Südcarolinas, d. h. der Sitz des Gouverneurs
und der Legislatur, ist das etwa 5000 Einwohner zählende Columbia, wo
sich auch die Universität des Staates befindet. Sonst ist als die wichtigste
Stadt das auf einer vom Cooper- und Ashley-River gebildeten flachen Halb¬
insel sehr ungesund liegende Charleston, von dessen 45,000 Einwohnern mehr
als die Hälfte Sklaven sind. Von den übrigen Städten nennen wir nur
Orangebmgh, Caindcn, Lexington. Lancaster, Greenville und Georgetown.
Es sind unbedeutende Landstädtchen, von denen nur das zuletzt erwähnte mehr
als 3000 Einwohner hat.
Der in ihrer jetzigen Gestalt seit 1790 bestehenden Verfassung zufolge
liegt die gesetzgebende Gewalt in den Händen eines Senats, der aus 45, und
eines Abgeordnetenhauses, welches aus 124 Mitgliedern besteht. Die Sena¬
toren werden auf vier, die Abgeordneten auf zwei Jahre gewählt. Beide
Häuser versammeln sich jedes Jahr am vierten Montag des November in Co¬
lumbia. Die vollziehende Gewalt hat der aus zwei Jahre von der General-
Assembly gewählte Gouverneur. stimmberechtigt ist jeder männliche Bürger
der Vereinigten Staaten, der 21 Jahr alt ist, seit zwei Jahren im Staate
wohnt oder bei der Wahl seit sechs Monaten ein Freigut von 50 Acres oder
einen Stadtbauplatz besitzt oder in Ermangelung dessen sich seit sechs Mona¬
ten in dem betreffenden Wahlbezirk aufhält und jährlich eine Steuer von
37V, Cents- — 15 Sgr. preußisch entrichtet. Sklaven dürfen natürlich
nicht stimmen; indeß gelten sie in dem Census, nach dem die Staaten zur
Absendung einer gewissen Anzahl von Kongreßmitgliedern berechtigt sind, je¬
der einzelne als dreifünftel Seele. Sie sind also zwcisünftel Eigenthum, und
dreifünstel politische Person, indeß haben sie nur für ihre Herren politische
Rechte. Daraus ergibt sich das Mißverhältniß, daß Südcarolina bei einer
Bevölkerung von nur 274,567 Weißen 7, Newhampshire dagegen mit 317,456
weißen Einwohnern nur drei Abgeordnete in den Congreß schickt.
Von jenen Abgeordneten Südcarolinas sind zwei Senatoren und fünf
Mitglieder des Repräsentantenhauses. Wenn der kleine Staat in der Ent¬
wicklung der Union eine wichtigere Rolle spielte, als viele andere Staaten
von größerer Ausdehnung und Bevölkerung, so ist der Grund davon, abge-
sehen von jenem Census, den nördlichen gegenüber darin zu suchen, daß man
unter der Sklavenhalter-Aristokratie im Süden bisher mehr Zeit und Neigung
hatte, sich mit Politik zu beschäftigen, und daß die Interessen hier nicht so
sehr auseinander gehen als im Norden. Den größern Südstaaten gegenüber
erklärt sich die Führerschaft Südcorolinas ans der Anzahl von bedeutenden
Politikern, die es in den Congreß gesandt hat. und aus dem Umstand, daß
hier sich eine Schule bildete, welche die Grundsätze jener Politiker fortpflanzte
und bei allen Gelegenheiten mit traditioneller Kunst und Kühnheit zu ver¬
wirklichen bestrebt war. Als Gründer dieser Schule haben wir John E. Cal-
houn anzusehen, der zuerst (vgl. Kapp, Gesch. d. Sklav.) die Sklaverei der
Freiheit als gleichberechtigte Macht gegenüberstellte und zuerst mit Entschieden¬
heit und Konsequenz den Grundsatz verfocht, daß jeder Einzelstaat Richter
über die Grenzen der Bundesgewalt sei.
Calhouns Theorie in Betreff der Stellung der Einzelstaaten zur Central-
gewalt unterscheidet sich von der seines Meisters Jefferson wesentlich dadurch,
daß sie bewaffnet auftritt. Jefferson stellte die Gleichberechtigung Aller als
Princip auf, sicherte die Freiheit der Einzelstaaten dadurch, daß er die Bun¬
desregierung angewiesen sehen wollte , sich aller Einmischung in die innern
Angelegenheiten dieser Staaten zu enthalten, gab aber die Entscheidung in
öffentlichen Fragen den Majoritäten anheim. Calhoun verwechselte das
schrankenlose Belieben des Einzelnen mit der Freiheit Aller, wollte gleiches
Recht nur für die Herren und stellte als Schutzmittel gegen unbequeme Ma¬
joritätsbeschlüsse den Satz auf, daß jeder einzelne Staat die Befugniß habe,
bei Verletzung oder Beschränkung seiner Interessen durch den Congreß jeden
dahin zielenden Beschluß für nichtig zu erklären.
Calhoun ist der Meister, auf dessen Worte alle südlichen Demokraten wie
auf ein Evangelium schwören, sein Werk über den Staat noch heute die
Waffenkammer, aus der sie ihr Rüstzeug gegen den Norden holen. Die
Grundsätze jenes Buches sind folgende: die Regierung ist da, um die Gesell¬
schaft vor egoistischen Uebergriffen des Stärkeren zu schützen. Da deren Macht
in der Regel Individuen anvertraut ist. die ihre Interessen dem allgemeinen
Besten vorziehen, so muß sie durch eine Verfassung beschränkt werden. Fra¬
gen wir, wie soll diese das Publicum vor Beeinträchtigung schützen, so sehen
wir, daß das allgemeine Stimmrecht nur eine herrschende Majorität wählt,
welche an die Stelle der Regierung tritt und ganz dieselben egoistischen Nei-
gungen hat. Die freie Presse kann daran nichts ändern, da sie sich stets auf
die Seite lehnt, auf welcher die stärksten Interessen herrschen. Die einzige
Möglichkeit, ans dieser Schwierigkeit herauszukommen, findet sich daher in den
„concurrirenden Mehrheiten". Diese bilde» de» Gegensatz zu den numerischen
Mehrheiten und geben den von letzteren bedrohten Theilen oder Interessen
der Gesellschaft das Recht des Widerspruchs und der Trennung von den sie
bedrohenden Handlungen der andern Theile oder Interessen.
Daß^ diese Grundsätze nur auf Sklavenstaaten passen, daß sie auf der
Ansicht ruhen, die Menschheit werde lediglich vom Egoismus regiert, und daß
die Konsequenz des Systems das freie Veto der polnischen Landboten oder
die absolute Anarchie ist, kümmerte Calhoun nicht. Mußten sie doch zum
Vortheil des Südens ausschlagen, auf den die ganze Sophistik zugespitzt
war. Diesen Vortheil verfolgte er mit einer nie rastenden fanatischen Conse-
quenz und mit einer Gewandtheit im Manövriren. die von Compromiß zu
Compromiß mit den Gegnern endlich bis zu einer fast unbedingten Supre¬
matie der Sklavenstaaten über die freien gelangte. Bis auf Calhoun galt
die Sklaverei selbst dem Süden als ein Uebel. Er sprach zuerst aus, daß sie
der normale Zustand für den Neger, göttlich in ihrem Ursprung und wohl¬
thätig in ihren Folgen, daß eine wirkliche Demokratie ein Unding und die
Sklaverei das conservative Princip der menschlichen Gesellschaft sei, und daß
die Regierung das System, dem sie ihre Stabilität verdanke, nicht zu beschrän¬
ken, sondern nach Möglichkeit zu fördern und auszudehnen habe. Danach
handelte er in allen Fragen, danach handeln seine Nachfolger noch bis diesen
Tag, und so gelangte die Partei, fortwährend die höchsten Forderungen stel¬
lend, um die Gegner wenigstens zu Abschlagszahlungen zu vermögen, endlich
dahin, wo der Norden, die Summe dieser Abschlagszahlungen überblickend,
inne wurde, daß auf diese Weise nicht mehr zu leben sei.
Es ist hier nicht der Ort, jene Kette von Kompromissen im Einzelnen zu
betrachten; nur an dasjenige sei erinnert, welches, durch Anwendung der Cal-
hounschen Theorie von dem Rechte der Einzelstaaten, unbequeme Beschlüsse des
Kongresses in ihrem Gebiet sür ungiltig zu erklären und sich von der Union
loszusagen, erzwungen wurde, und welches uns durch diese seine Entwicklung
einen Fingerzeig geben kann, worauf es mit den jetzt aus Südcarolina be¬
richteten secessionistischen Demonstrationen allein abgesehen zu sein scheint.
Wir meinen die Tarif-Agitation, die in den Jahren 1828 bis 1833 die
Union in derselben Weise aufregte, wie jetzt die Sklavenfrage. Der Verlauf
derselben war folgender: Auf Andringen der nördlichen Manufacturstaaten
wurde im April 1828 vom Congreß ein Gesetz angenommen, welches fast auf
alle mit den Erzeugnissen amerikanischer Industrie concurrirenden ausländischen
Waaren, auf Wollenstoffe, Eisen. Hanf. Blei und namentlich auch auf Baum¬
wollenwaaren höhere Eingangsstcuern legte. Die Pflanzer des Südens, unter
denen es keine Fabrikanten gab, und die nur das eine Interesse hatten, ihre
Baumwolle auf dem englischen Weltmarkt möglichst gut zu verkaufen und ihre
Bedürfnisse an Manufacturwaaren möglichst wohlfeil zu erlangen, bekämpften
als Freihändler-Partei jenen schutzzöllnerischen Tarif im Congreß mit aller
Entschiedenheit, und als derselbe dennoch angenommen wurde, erklärten sich
vorzüglich Südcarolina und Georgia heftig gegen das Gesetz. In Charleston
zog man auf die Nachricht von der Annahme desselben die Flaggen der Schiffe
auf halben Mast. Volksversammlungen, Zeitungen, selbst die beiden Kam¬
mern der Legislatur donnerten mit Macht gegen die Zollerhöhung. Die Agi¬
tation wuchs, das Volk, d. h. die Sklavenhalter, wurden von Tage zu Tage
ungeberdiger. Südcarolina und Georgia forderten in einem von ihren Se¬
natoren mit unterschriebenen Protest ungestüm vom Congreß den Widerruf des
ihren Interessen feindlichen Tarifs, und siehe da, ihre Unermüdlichkeit und ihre
geschickte Taktik brachte es wirklich dahin, daß in der Sitzungsperiode des
Congresses von 1831 auf 1832 gewisse Abänderungen am Tarif vorgenommen
wurden. Namentlich wurden die Revenuezölle nicht unwesentlich herabgesetzt
und eine geringere Einfuhrsteuer auf einige Hauptarlikel als Eisen und grobe
Wollenzeuge gelegt. Die Baumwollcnpslanzer waren damit nicht zufrieden
gestellt. Die Agitation dauerte fort, und in einer im November 1832 zu Co¬
lumbia abgehaltnen Convention wurden von Delegaten der Staaten Süd¬
carolina und Georgia eine Erklärung unterzeichnet, dahin lautend, daß der
Congreß durch Aufstellung des Tarifs von 1823 die Grenzen seiner Befugnisse
überschritten habe und daß man in Folge dessen alle seine dahin gehenden
Beschlüsse als innerhalb des Gebietes der beiden Staaten unverbindlich erachten
werde. Zugleich forderten sie die gesetzgebenden Versammlungen der andern
Staaten auf, sich ihnen anzuschließen, die Veröffentlichung des Tarifs zu ver¬
hindern und den Beamten der Vereinigten Staaten die Ausführung seiner
Bestimmungen zu untersagen. Endlich erklärten sie sich für den Austritt der
in ihren Rechten gekränkten Staaten aus der Union. Die Legislaturen und
Gouverneure der beiden Staaten machten die Beschlüsse der Convention zu
den ihrigen, verfügten Rüstungen gegen die Bundesregierung und gingen zu¬
letzt soweit, derselben offen den Krieg zu erklären.
Vollkommen ernstlich konnten es damit nur die sogenannten „Feuerfresser"
meinen, und für diese war der damalige Präsident der geeignete Mann, sie
zur Vernunft zu bringen. Jackson wußte, was er konnte, obwol damals noch
nicht mit dem Norden auch der Westen gegen den Süden ins Feld geführt
werden konnte. „Ich betrachte," sagte er in einer Proclamation vom 11. De¬
cember, „die Macht, die sich ein Einzelstaat anmaßt, ein Gesetz der Vereinig¬
ten Staaten zu annulliren, für unverträglich mit dem Bestehen des Bundes,
für ausdrücklich untersagt vom Buchstaben der Verfassung, für nicht autoristrt
durch deren Geist, für unvereinbar mit irgend welchem der Grundsätze, auf die
sie gegründet ist und für verderblich in Betreff des großen Zieles, zu dessen
Erreichung sie geschaffen wurde." Und weiterhin: „Die Verfassung der Ver¬
einigten Staaten stellt einen Staat (Mverumkut). nicht einen Staatenbund
(league) auf, und ob derselbe nun dach Vertrag zwischen den Staaten oder
auf andere Weise zusammengekommen ist, sein Charakter ist derselbe. Es ist
eine Regierung, in welcher das ganze Volk repräsentirt ist, welche in directer
Beziehung auf die Einzelnen des Volks, nicht auf die Staaten hinwirkt —
diese behielten alle die Machtvollkommenheit, deren sie >sich nicht begaben.
Aber wenn jeder Staat sich ausdrücklich so vieler Machtvollkommenheiten ent¬
äußert hat, als erforderlich waren, um gemeinsam mit den andern Staaten
eine Nation zu bilden, so kann er von dieser Zeit an durchaus kein Recht
mehr haben, sich loszutrennen, weil solch eine Trennung nicht einen Vertrag
bricht, sondern die Einheit einer Nation zerstört, und jede Verlegung dieser
Einheit nicht blos ein Vertragsbruch, sondern ein Vergehen gegen die ganze
Union ist."
Jackson verstand es, auf das kräftige Wort ohne Verzug die kräftige
That folgen zu lassen, und als seine Trupp?« und Kriegsschiffe vor Charleston
erschienen, um die „Hochverräther" zu Paaren zu treiben, gaben die Nulli-
sicatoren und Secessionisten ohne langes Besinnen nach.
Dennoch erreichte Südcarolina mit seinem kecken Auftreten noch einen
Theil dessen, was es wünschte. Um den Norden mit dem Süden zu versöh¬
nen, brachte Clay im Einverständnis) mit Calhoun, der den Brand vorzüg¬
lich geschürt hatte, im Jahr 1833 kurz vor Schluß der Congreßsitzungen im
Senate eine Bill ein, die, später auch vom Abgeordnetenhause angenommen,
einen Vergleich zwischen den beiden Parteien anbahnte, indem sie für alle
nicht zollfreien Artikel eine gleichmäßige Eingangsabgabe von 20 Procent des
Werthes bestimmte. Wie früher die Pflanzer, so mußten jetzt die nördlichen
Fabrikanten sich fügen, und der Conflict war zu Ende.
Aehnlich wird, wenn die neuesten Nachrichten aus dem Süden der Ber¬
einigten Staaten sich überhaupt bestätigen, der Verlauf der jetzigen Krisis sein.
In Georgia soll in der Legislatur der Antrag gestellt worden sein, nur
dann mit den Nordstaaten in Verbindung zu bleiben, wenn diese ihre zu Gun¬
sten der flüchtigen Sklaven erlassenen Gesetze aufheben und den Süden gestat¬
ten wollten, Sklaven in die Territorien einzuführen. Virginien beabsichtigte,
dem Norden im Namen andrer Südstaaten ein Ultimatum zu stellen und nach
Ablehnung desselben die blau und gelbe Sonderbundscocarde aufzustecken. In
Alabama und Florida, in Mississippi und Louisiana herrschte ebenfalls große
Bewegung. In Charleston wehte bereits statt des Sternenbanners die Pal-
mettoflagge Südcarolinas, und Gouverneur Gift hätte der Centralgewalt schon
den Absagebrief geschrieben. Der ganze Süden hätte sich schon seit Monaten
mit Waffen versehen und mehr als fünfzigtausend Minute-Mer ständen bereit,
den Bürgerkrieg zu beginnen.
Wir werden wohl thun, solche Angaben für Uebertreibungen einer vom
Parteisieber erhitzten Einbildungskraft anzusehen und uns beim Anblick dessen
was übrig bleibt, daran zu erinnern, daß eine im Erlöschen begriffene Flamme
>» der Regel vor dem Ersterben noch einmal recht lebhaft aufflackert. Die
Zornflamme der durch Lincolns Wahl besiegten demokratischen Partei wird
davon keine Ausnahme machen. Im Uebrigen geben wir zu bedenken, daß
in Amerika jeder Gedanke mit weit mehr Aplomb aufzutreten pflegt, als man
bei uns zu sehen gewohnt ist. Wir erlauben uns also bis auf Weiteres, das
Virginische Ultimatum für eine Fabel zu halten, zwischen den etwa gestellten
Anträgen und secessionistischen Beschlüssen und zwischen den vorgekommenen
Demonstrationen und wirklichen Thaten einen Unterschied zu machen, die Pal-
mettoflagge sammt der blau und gelben Cocarde als bloße Symbole einer
Partei, nicht eines im Entstehen begriffnen neuen Staatswesens zu betrachten
und die Zahl der kriegschnanbenden Minute-Mer mit hundert zu dividiren.
Gesetzt aber auch den Fall, die Bewegung ginge tiefer, als sie unsrer
Voraussetzung zufolge gehen kann, so ist ans Gründen, die wir vor Kurzem
aufgezeigt haben, nicht leicht an einen Bürgerkrieg und ebensowenig an eine
friedliche Trennung des ganzen Südens vom Norden zu denken. Das Wahr¬
scheinlichste ist, daß der kreisende Berg der Demokratie zuletzt eine Maus gebä¬
ren wird, das heißt, daß die Drohungen der Sklavenhalter zu einem Com-
promiß führen werden, bei dem die Partei des Nordens wie 1833 einige ihrer
Forderungen opfert, um andere durchzusetzen. Sicher ist, daß die Verständigen
im Süden, ihre Lage erkennend, dies und nur dies im Auge haben, wenn
sie sich dem Lärm der Fanatiker anschließen, und die Zusammensetzung der
republikanischen Partei verbürgt uns nicht, daß sie sich damit verrechnen werden.
Es ist allerdings nicht völlig unmöglich, daß Südcarolina wirklich auf
einige Zeit den Verband mit den übrigen Staaten löst. Die große Mehrzahl
der andern Sklavenhalterstaaten wird sich hüten, dem Beispiele dieser kleinen
Republik, die beiläufig wenig wagen würde, da sie nicht an den freien Norden
grenzt, zu folgen. Aber auch für Südcarolina würde der Anfang mit großen
Schwierigkeiten verbunden und das Ende Schaden und Schande sein. Vieles
kommt darauf an, was für ein Charakter der neue Präsident ist und wie er
die Constitution auffaßt. Denkt er wie Jackson und besitzt er dieselbe Energie
Wie Jackson (sein Lebenslauf könnte dies bis zu einem gewissen Grade erwar¬
ten lassen), so wird Südcarolina die aufgehißte Palmeltoflagge sehr bald ein¬
ziehen oder wenn sein hitziges Temperament durchaus nach Krieg verlangt,
binnen wenigen Tagen zur Raison gebracht werden.
Wir verstehen unter Neujahr die letzten sechs der sogenannten
„zwölf Nächte", und unter diesen vorzüglich den ersten Januar, mit
dem unter den Gebildeten, und den Dreikönigstag, mit dem unter dem
altgläubigen Landvolk das Jahr beginnt. Die belgischen Sitten und Mei¬
nungen in Bezug auf diese Tage zu betrachten hat ein besonderes Interesse
insofern, als Belgien ein Grenzland ist, in welchem sich französischer und deut¬
scher Gebrauch mischen, und als wir an verschiedenen Einzelnheiten dabei inne
werden, wie weit jener diesen verdrängt hat. Wir folgen in unsrer Darstellung
auszugsweise den Aufzeichnungen des Barons von Reinsbcrg, die wir bei
dieser Gelegenheit denen, welche an der in Rede stehenden Seite des Volks¬
lebens Interesse nehmen, bestens empfehlen.")
Wie allenthalben in Deutschland setzt sich am ersten Januar auch in
Belgien alle Welt in Bewegung, um seinen Freunden, Verwandten und Gön¬
nern zu gratuliren: die Einen wünschen ,,uno Ireureuss ann^c", die andern
„een zalig'nieuwjaer" und hier wie dort wird man für diese Glückwünsche
mit Erfrischungen, Liqueur und Zuckergebäck bewirthet.
Früher stellten in Brüssel die Wohlhabenden vor ihren Hausthüren Tische
mit Speisen, Getränken und Kerzen auf, an denen alle Vorbeigehenden trnctirt
wurden. In Antwerpen pflegte man sich mit dein Wunsch: „'ne zalige mite"
zu küssen, und zwar ohne daß Stand oder Geschlecht dabei einen Unterschied
machte. In Dinant bäckt man für die Gratulanten Fladen. In Furnes wird
das Gratuliren „indem" genannt, von „tut", dem vlämischen Worte für Glück.
Im Limburgschen nennt man es „vcrrassen," d. h. überraschen, indem hier
jeder bestrebt ist, dem andern zuerst sein „gelökseclig nöwjoar" zuzurufen, wo¬
für dieser dann ein Geschenk zu geben hat, sofern es nicht ein Schaltjahr ist,
in welchem letztern Fall die Sitte das Umgekehrte verlangt. Man pflegt hier
so früh als möglich aufzustehen, und sich leise ein Versteck zu wählen, wo man
denen, auf die es abgesehen ist, plötzlich mit seinem Glückwunsch entgegentreten
und sich das Nenjahrsgeschenk, welches für Dienstboten in einem Pfefferkuchen
und einem Schnäpschen, für Kinder in eingemachten Früchten besteht, ver¬
dienen kann.
Ein ähnlicher Gebrauch herrscht in den altväterischen Bürgerhäusern
Brügges, wo der, welcher der Frau vom Hause am Neujahrsmorgen mit einem
Gläschen aufwartet, während sie noch zu Bett liegt, das Recht auf ein Geschenk
hat. Die alte fromme Sitte, nach welcher hier die Musikanten in der Syl¬
vesternacht auf den großen Markt zogen, um der dort stehenden Statue der
Jungfrau Maria in Gestalt von drei Musikstückchen ihr Nenjahrsgeschenk dar¬
zubringen, ist abgekommen, ebenso der bis vor Kurzem in ganz Belgien übliche
Gebrauch, die Honoratioren der Städte in der Mitternachtsstunde jenes Tages
mit einem Ständchen zu ehren,
Dagegen hat sich in einigen Strichen Flanderns sowie im Limburgschen
die Sitte erhalten, wenn die Glocke in der Sylvesternacht zwölf schlägt. Flinten¬
schüsse abzufeuern. Dies geschieht namentlich von den junge» Burschen unter
den Fenstern ihrer Schätzchen, und wird von letzteren damit belohnt, daß sie
von oben an einem Faden eine Flasche Genever herablassen. Ein Mädchen,
das diesen Neujahrsgruß nicht vernähme, würde ihr Verhältniß gelöst glauben,
und je größer die Zahl der Schüsse, desto stärker ist in den Augen der Dirne
die Liede ihres Schatzes.
Während diese alten, den deutschen Neujahrsgebräuchen vielfach verwand¬
ten Sitten von Jahr zu Jahr mehr Terrain verlieren, breitet sich die fran¬
zösische Sitte der „ktrennes" selbst unter der vlämischen Bevölkerung fortwäh¬
rend weiter aus. Ganz wie in Frankreich ist auch in Belgien der Neujahrstag
ein Tag der Zwangssteuer, wo man von seinen Dienstleuten gleich Wechselschuld-
ner verfolgt wird, wo jeder Glückwunsch zu bezahlen, jeder Gruß mit "Geld
zu belohnen ist. Die Laufburschen, die Zeitungsträger, die Lampenputzer, die
Nachtwächter, die Tambours der Bürgergarde, die Aufwärter der verschiedenen
Clubs durchlaufen die Stadt, um sich gegen den Wunsch „une Ircmi-enss nou-
v<zik<z emnee" oder „een zalig nieuwjacr en vcel naervolgende" ein „pourlzoüö"
oder „eene kleine fooi" einzutauschen. Die Kellner der Gasthöfe, scheuten
und Kaffeehäuser überreichen den Stammgästen dieser Anstalten einen kleinen
Almanach oder einen gereimten Glückwunsch zu demselben Zweck.
In Namur vertheilen die Lampenputzer an alle Bewohner der Stadt ein
wallonisches Gedicht, in welchem sie um ein Trinkgeld bitten, die Bierwirthe
senden ihren Brauern Fladen, die Fleischer ihren Abnehmern eine Schöpsen¬
keule. In Huy beschenkt der Kaffeewirth seine Gäste an diesem Tage mit
einem Stück Kuchen. In Brüssel pflegen die Bäcker ihren Kunden einen Kuchen
zu schicken, in Brügge backen sie für dieselben „Nieuwjnerkes" und „Nieuw-
jaerskoeken;" erstere sind Pfefferkuchen in Form von Herzen oder Sternen,
letztere eine Art Rosinenbrötchen. In Dinant bringen die Kinder am Neujahrs¬
tag ihren Lehrern Torten, Kuchen und Wein. In Lüttich ziehen Kinder armer
Leute von Haus zu Haus, um Oblaten anzubieten und dafür ein Geldgeschenk
zu erhalten. Die Köchin pflegt die erste dieser Oblaten, die ihr gebracht wird,
aus die Schwelle der Küche zu kleben, da das Glück bringt; anch verfehlen die
Dienstmädchen niemals, sich von dem ersten der Kinder, die in dieser Absicht
erscheinen, seinen Vornamen sagen zu lassen, da dieser den Vornamen ihres
Zukünftigen anzeigt. ,Jn den Dörfern bei Turnhout gehen die jungen Bursche
in Gesellschaften von dreien bis vieren von Thür zu Thür, um vor jedem
Hause auf Ochsenhörnern zu blasen, wofür man ihnen ein paar Sous reicht,
die sie dann im Wirthshaus vertrinken.
Die Lieder, die man bei solchen Gelegenheiten singen hört, haben, wie
die französischen „Rosts" und die englischen „Ldristms.searols" meist Bezug
auf die Geburt Christi oder die drei Könige aus Morgenland. Einige indeß
sind bloße Bettellieder, wie das folgende, welches wir aus den von unsrer
Quelle mitgetheilten als besonders charakteristisch hier folgen lassen:
Die abergläubischen Meinungen, welche sich in den verschiedenen Strichen
Belgiens an den Neujahrstag oder die achte der heiligen Nächte knüpfen, be¬
ziehen sich großentheils auf das Wetter. Ist die Sylvesternacht hell und wind¬
still, so weissagt man daraus ein gutes Jahr. Ist sie windig, so muß man
sehen, wo der Wind herweht. Kommt er aus dem Osten, so bedeutet es Vieh¬
seuchen, kommt er von Westen, so zeigt er Sterben unter den Königen und
Fürsten an. Südwind verkündet Krankheiten unter den Menschen, Nordwind
ein fruchtbares Jahr. Gibt es am Morgen des Neujahrstages ein starkes
Roth am Himmel, so steht eine sehr schwere Zeit zu erwarten. Scheint wäh¬
rend des Tages die Sonne recht hell, so wird das Jahr reich an Fischen sein.
Ein sehr gutes Zeichen ist, wenn das am Sylvesterabend angezündete Feuer
im Kamin am nächsten Tage noch unter der Asche sortglimmend gesunden
wird. Neujahrstraum, sagt der Volksmund, wahrer Traum; Neujahrsbier,
Verjüngungsbier.
Der zweite Januar oder die neunte der zwölf heil i gen Nächte,
ist in Belgien von der Kirche dem heiligen Basilius, dem heiligen Abälard,
der die Abtei von Corvey gründete, dem Sanct Berthold und dem Sanct
Macaire geweiht.
Die letzteren beiden sind für die vlämische^Bevölkerung mehr oder minder
mythische Gestalten. Schon der Name Berthold oder Berchtold erinnert an
die altdeutsche Göttin Bertha oder Perchta, die in den Alpen wie in Nord¬
franken noch jetzt in den Zwölften eine Rolle spielt, und der Berthold oder
Bartel. der in derselben Zeit in Oestreich gleich dem sächsischen Ruprecht um-
geht, ist nichts anderes als der in eine possenhafte Kinderscheuche verwandelte
Wuotan. In Deutschland außerhalb des Christenthums geblieben, wurde der
alte Gott erst ein Gespenst, dann ein Popanz für die Kinder. In Belgien
flüchtete er sich in die Kirche und rettete damit nicht blos seine Existenz, son¬
dern auch seine Verehrung. Daß er sich die neunte der heiligen Nächte
wählte, verräth ebenfalls deutlich das Heidenthum des frommen Abtes, Die
Neun ist die am höchsten geehrte Zahl in den Resten des germanischen Ur-
glaubens. Der Grund weshalb, wird vielleicht in der fernen Heimath der
Arier zu suchen sein, vielleicht auch liegt er in einem einfachen Rechenexempel.
Die Neun ist eine unzerstörbare Zahl, die sich, mögen wir sie addiren, mul-
tipliciren otzer dividiren, immer wieder herstellt. Multipliciren wir 9 mit 9
oder irgend welcher einfachen Ziffer, so werden die beiden Zahlen des Pro¬
ducts addirt stets 9 geben, z. B. 9 mal 9 ist 81 und 8 und 1-^9:4 mal
9 ist 36 und 3 und 6 — 9 u. s. w. Sei dem aber wie ihm wolle, jeden¬
falls ist der heilige Berthold des belgischen Bauernkalenders ein verkappter
Hcidengott und der Gebrauch, an seinem Tage die Hühner bessern Gedeihens
halber mit neunerlei Sorten Getreide zu füttern, eine Sitte, die mit vor¬
christlichen Borstellungen in Verbindung steht.
'
Auch inden belgischen Heiligen, welche dem dritten Januar, und ebenso
in denen, welche dem vierten vorstehen, wird man Erinnerungen an die
Namen und Gestalten der deutschen Mythologie vermuthen dürfen.
Dem dritten Januar oder, um heidnisch zu reden, der zehnten von den
zwölf Nächten, stehen die heilige Genovefa und die heilige Berthilde vor.
Der ersteren sind in Belgien eine große Anzahl von Kirchen geweiht, man
verehrt sie als Beschützerin der Aecker und Wiesen, ruft sie gegen Glieder¬
reißen und Flechten an und feiert ihr zu Ehren in Drehance bei Dinant all¬
jährlich um 3. Januar ein Fest, zu dem sich zahlreiche Pilger einstellen.
Berthilde ist Patronin der Feldarbeiten, und ihr Fest hat Einfluß auf das
Wetter. Namentlich die Winzer betrachten ihren Tag als bedeutungsvoll für
den Weinstock, den sie früher an diesem Tage zu beschneiden pflegten. Die
heilige Pharailde endlich, welche in Gemeinschaft mit Samt Rigobert den
vierten Januar zu ihrem Ehrentag hat. steht, wie bekannt, mit gewissen
Sagen vom wilden Heer in zu enger Verbindung, als daß wir in ihr nicht
die christliche Wiedergeburt einer heidnischen Walkyre oder Göttin erkennen
dürften.
Die Kirche weiß davon natürlich nichts. Nach der Legende war die heilige
Pharaildis (vlämisch: sinke Veerle) die Schwester des Heiligen-Emebert. Bischofs
von Cambray. und der heiligen Rainilde und Gudula. Nachdem sie neunzig
Jahre der Uebung jeglicher Tugend gelebt, starb sie in Lothringen, von wo
man ihren Leichnam 745 nach Genf brachte. 1685 schenkte das Sanct-
Phara'nden-Kapitel dieser Stadt einen Theil ihrer Gebeine der ihr zu Ehren
in Stennockerzeel erbauten Kapelle. Der Erzbischof von Mecheln approbirte
im Jahre darauf diese Reliquien und gewährte denen, welche dorthin pilger¬
ten , einen vierzigtägigen Ablaß. Zu Anfang dieses Jahrhunderts endlich
kamen die heiligen Gebeine, da die Kapelle von der französischen Regierung
verkauft wurde, nach der Nicolaikirche des benachbarten Gent, wo sie sammt
einigen durch die Heilige in Stein verwandelten Broden noch heute fromme
Baucrngemüther erbauen.
Die Geschichte von den steinernen Broden, die jeden vierten Januar aus¬
gestellt werden und dann stets zahlreiche Gläubige herbeilocken, ist die be¬
kannte, die sich in verschiedenen andern niederländischen Orten, z. B. in
Leiden, und ebenso in vielen deutschen Städten zugetragen haben soll. Eine
arme Frau kommt zu ihrer reichen Schwester, um für ihr Kind um Brot zu
bitten. Diese verweigert die Bitte, da sie selbst keins im Hause habe, und
setzt, um ihre Worte zu bekräftigen, den Fluch hinzu: „daß mir alles Brot,
welches ich hätte, zu Stein würde!" Die Arme ging und würde ihr Kind
haben Hungers sterben sehen, wenn ihr nicht eine andere mitlcid.igere Frau
begegnet wäre, die sie mit dem Erforderlichen versah. An der reichen Schwe¬
ster dagegen erfüllte sich ihr Fluch: all ihr Brot wurde zu Stein, und so mußte
sie verhungern. Die Helferin in der Noth aber und die Rächerin des Fre¬
vels war niemand anders als die „finde Veerle" gewesen. Dieselbe gilt dem
Landvolk noch jetzt als Hülfreiches Wesen, und namentlich am vierten Januar
ruft man sie für kränkliche Kinder, gegen Leibschmerz und Zahnweh, gegen
Fieber und Viehkrankheiten an. Ferner hat sie Einfluß auf das Gerathen
der Butter und auf den Verlauf von Reisen. Endlich vermag sie das Ster¬
ben zu erleichtern, was wol aus die Walküre zurückweist, die sich in der Hei¬
ligen verborgen hat.
Der fünfte Januar ist als Vorgänger des Drcikönigstags in der Kirche
wie im Volksglauben ein ganz besonders angesehener und bedeutsamer. Die
Kirche hat ihm nicht weniger als sechs Heilige, drei männlichen und drei
weiblichen Geschlechts: Eduard, Simon Stylites und Telesphorus, Amada
Emilia und Januaria zu Taufpathen gegeben. Das Volk aber knüpft an ihn
allerlei Weissagung und Zauber und begeht ihn mit verschiedenen alterthüm¬
lichen Bräuchen als die zwölfte der heiligen Nächte. Ist der Tag kalt, der
Himmel klar, der Wind still, so erwartet man ein glückliches Jahr, regnet es,
ist die Temperatur mild und weht ein starker Wind, so befürchtet man ein
unglückliches. Sehr ungern sieht der Altgläubige an diesem Tage nach star¬
kem Regen hellen Sonnenschein; denn das bedeutet Krieg und Blutvergießen.
Ferner herrscht in vielen Dörfern, in vlämischen wie in wallonischen,
noch die Sitte, am Abend vor Dreikönigstag vor dem Hause drei Kerzen
aufzustellen; denn in dieser Reicht haben böse Geister und Zauberer besondere
Gewalt über die Menschen, und die drei Mauer, die durch die Kerzen geehrt
werden, besitzen nach dem Volksglauben unbegrenzte Macht über alles, was
mit Gespenstern und Hexen zusammenhangt.
'
Sodann gehen in dieserNacht die Mädchen, ähnlich wie in verschiedenen
deutschen Gegenden, auf Hcirathsomen aus. indem sie sich im Dunkeln nach den
Schafställen begeben und dort unter den Thieren umhertasten. Greifen sie
zuerst einen Widder, so bekommen sie noch im Lauf des Jahres einen Mann.
Sehr häusig sieht man in manchen Strichen Belgiens in der zwölften
Nacht Trictrac spielen, vielleicht weil die Tafeln dieses Spiels, in zwölf Fel¬
der getheilt, ein Symbol der zwölf Monate des Jahres sind, die ihrerseits
wieder in Beziehung zu den zwölf Nächten stehen. Wer an diesem Abend im
Trictrac gewinnt, ist das ganze Jahr hindurch glücklich, meint die Spinn¬
stubenphilosophie.
Ganz wie in der Neujahrsnacht, feuert man auch in der vor dem Drei¬
königstage in Flandern Flinten- und Pistolenschüsse ab. Auch versammelt
man sich, um Fladen zu essen und Genever-Grog zu trinken — ein Getränk,
das an die „Waissail-book" erinnert, die bei der Weihnachtsfeier des engli¬
schen Landvolks eine Rolle spielt. Indeß ist nicht bekannt, ob man in Flan¬
dern ebenso wie früher in England den Obstbäumen einen Antheil von dem
Grog gönnt.
Im limburger Land geben die Pächter und Gutsbesitzer allen ihren Ar¬
beitern, selbst denen, die nur einmal im verflossenen Jahre für sie beschäftigt
gewesen sind, ein reichliches Abendessen, und nach Beendigung des Mahles
wird einer der Gesellschaft zum König gewählt. Denn die wolbekannte Sitte,
einen Zecher-König aufzustellen und auszurufen, ist die Hauptceremonie dieses
Abends, wiewol sie an einigen Orten erst am Dreikönigstng selbst vorgenom¬
men wird. Der Kuchen mit der Bohne, welcher dabei in Frankreich eine
Rolle spielt, ist in Belgien nur in einigen Strichen Limburgs in Gebrauch.
Hier wird ein ungeheurer Kuchen, in den eine oder zwei Bohnen gebacken
sind, auf den Tisch gebracht und in Stücke zerschnitten. Die drei ersten Por¬
tionen sind „für die heilige Familie" bestimmt, sie werden an die Armen des
Orts vertheilt, während die übrigen unter den Anwesenden herumgereicht
werden. Derjenige, in dessen Antheil sich die Bohne findet, wird zum König
ausgerufen und wählt sich eine Königin, wenn man nicht zwei Bohnen in
den Kuchen gebacken hat, in welchem Fall auch die Königin durch den Zufall
ihre Würde erlangt. Beide zusammen haben die Pflicht, die Gesellschaft am
Dreikönigstag zu bewirthen. Trifft sich's, daß die Bohne nicht in den zur
Vertheilung unter die Gäste gekommenen Stücken des Kuchens ist, so muß die
Gesellschaft das Recht, darnach in dem Antheil der Armen — pari ä Dien
— zu suchen, mit einem Almosen für die Nothleidenden und Kranken des
Dorfs erkaufen.
Der Ursprung der Sitte ist bekanntlich in den römischen Saturnalien zu
suchen. Während dieser festlichen Zeit waren die Schulen geschlossen, der
Senat und die Gerichte hatten Ferien und jeder Rangunterschied war auf¬
gehoben. Der Sklave speiste an der Tafel seines Herrn, und das Loos der
Bohne konnte ihn so gut treffen wie jenen, der vielleicht römischer Consul
war. Denn in Nachahmung der alten Griechen, die bei ihren Gelagen durch
das Loos einen „Basileus" bestimmten, dessen Function in Aufrechthaltung
der Ordnung bestand, wählten die Römer einen „Rex" oder „Magister Con-
vivii", dessen Amt es war, zu wachen, daß der Comment nicht verletzt und
nach Regel und Gesetz gezecht wurde. Die Wahl fand fast ganz so wie noch
jetzt im Limburgischen statt. Man vertheilte bei Beginn des Gelages einen
Kuchen, in dem eine Bohne versteckt war, und zwar setzte man, damit die Ver-
theilung ohne Ansehen der Person vor sich gehe, ein Kind auf den Tisch,
dem jeder der Gäste mit den Worten „?noth<z äomiuö!" sein Stück abfor¬
derte. Der Gebrauch ist, wie bemerkt, auch in mehren Provinzen Frankreichs
noch in der Uebung, ja in mehr als einer Gegend hat sich sogar der Ruf
„?uosb<z äomiusl" erhalten, obwol der Bauer keine Ahnung hat, was der
Sinn der Worte ist.
Daß die Sitte, einen Zecherkönig zu wählen, auch im Belgischen sehr alt
ist. ergibt sich aus der Chronik des Mönchs Egidius ki Muisis, Abtes des
Sanct Martinsklosters zu Tournai, in welcher wir lesen, daß schon 1231 „nach
altem Herkommen die wohlhabenden Bürger und deren Söhne sich Brüdern
gleich um eine große runde Tafel versammelten und einen König wählten."
Der Gebrauch kommt aber noch häufiger am sechsten Januar, dem Epi¬
phanias- oder Dreikönigstag vor, zu dem wir nun übergehn.
Der Epiphaniastag ist, wie bekannt, zum Andenken an die Huldigung
der Heidenwelt vor dem neugebornen Welterlöser eingesetzt. Die Bibel, das
heißt das Matthäus-Evangelium, erzählt, daß Weise aus dem Morgenland ge¬
kommen seien, um das Kind der Maria, dessen Geburt ihnen durch einen
Stern verkündigt worden, anzubeten und es mit Gold, Weihrauch und Myrrhen
zu beschenken. Die Legende weiß mehr zu berichten. Sie weiß, daß es drei
Weise waren, daß sie die Würde von Königen bekleideten, und daß sie die
Namen Kaspar, Melchior und Balthasar führten. Sie weiß sogar, daß Kas¬
par es war, der das Jesuskind mit Myrrhen, Melchior, der es mit Weihrauch,
Balthasar (hebräisch: Herr des Schatzes), der es mit Gold beschenkte. Das
Volk scheint die frommen freigebigen Herren frühzeitig liebgewonnen zu haben,
theils weil sie überhaupt prächtig und seltsam 'auftraten, theils weil ihre weite
Reise aus geheimnißvollen Lande und deren Nachahmung bei dem von der
Kirche ihnen zu Ehren eingesetzten Feste an die Umzüge seiner alten Götter
und an das Erscheinen derselben an den Wiegen seiner Heroen erinnerte. Das
Fest findet sich schon in dem ersten noch, halb heidnischen Kalender des Jahres
448 verzeichnet. Später wurden die drei Könige häufig von Malern zum
Gegenstand der Darstellung gemacht und ihr Umzug bis auf die neueste Zeit
vom Landvolke bald in mehr andächtiger, bald in mehr burlesker Weise nach¬
geahmt. So namentlich in den verschiedensten Gegenden Deutschlands, von
den tiroler Alpen bis hinab an die Ost- und Nordsee.
Auch in Belgien waren die drei Weisen zu allen Zeiten hochgeehrt, und
zwar sowol unter Wallonen wie unter Vlämingen. Man nannte ihren Tag,
wie in Deutschland, das große Neujahr — Groot Nicujaer — trug Zettel
mit ihren Namen beschrieben als Amulete gegen die fallende Sucht bei sich,
glaubte sich durch Anrufung derselben vor Kopfweh, Fieber, bösem Zauber,
vor Unfällen auf Reisen und besonders auch vor dem Biß toller Hunde zu
sichern, und verwendete die Namen Kaspar, Melchior und Balthasar sogar als
Zaubermittel, indem man sie auf Papier schrieb und um die Kugel wickelte,
mit der man einen unfehlbaren Schuß thun wollte.
Zu Furnes, zu Upern und in andern von Vlämingen bewohnten Orten
und Landstrichen wird das Epiphaniasfest in der Regel „Dertienday" oder
„Dertiennacht", d. h. der dreizehnte Tag, die dreizehnte Nacht genannt; denn
es ist der Tag, der auf die zwölf Nächte folgt. Aus demselben Grunde be¬
zeichnet man es auch als „Heilig-Licht-Nacht". Nachdem die zwölf Nächte
vorüber sind, die man sich im Heidenthum als dämmernde Übergangsperiode
gedacht haben mag, und in denen man später düstre Mächte geheimnißvoller
und gespenstiger Art umgehen sah, schließt sich die unterirdische Welt, das in
die Erde versunkene Heidenthum, und eine neue Sonne bescheint gleichsam die
Erde und die Menschen, ihnen zu dem gewöhnlichen Tagewerk zu leuchten.
So wurde der Tag der drei Könige zu einem besonders glücklichen, für den
er noch jetzt gilt. Namentlich für Donnerstags- und Sonntagskinder bringt
er in Belgien Segen, und sehr gern schließen solche an diesem Tage Verlo¬
bungen und Heirathen,
In England heißt der Tag bekanntlich „weitet ä-^". der zwölfte Tag.
aber auch dort bildete er den Schluß des Weihnachtsfestes, an dem man sich
zum letzten Mal den mit diesem verbundenen Freuden überließ. Die Gelage,
mit denen man ihn feierte, erhielten eine neue Berechtigung dadurch, daß die
Kirche auf ihn die Erinnerung an die Hochzeit von Cana verlegte, und dadurch
wird sich auch erklären, dckß das aus den römischen Saturnalien herüberge-
nommene, ursprünglich in Frankreich heimische Fest „Koi Koie" sich allmälig
über Belgien verbreitete. Es war eben entstanden aus dem altrömischen Ze¬
cherkönig, aus der Erinnerung an die Könige von Morgenland und aus der
Erzählung von jenem Hochzeitsgelag in Cana und dem humoristischen Wun¬
der, das Jesus bei demselben verrichtet hatte.
''In den Provinzen Lüttich, Namur und Luxemburg wird der König durch
das Bohnenloos bestimmt. Die Bäcker schicke» ihren Kunden am Dreikönigs¬
tag ein großes rundes Brot, in welches eine schwarze Bohne eingebacken ist,
und weiches in Huy den Namen „Min eg.avg.u" führt. Dieses wird in Stücke
zerschnitten, die von dem jüngsten Kinde der Familie an die Anwesenden vertheilt
werden. Wem das Stück mit der Bohne zufällt, der ist König. Man wühlt
für ihn Hofbeamte, unterwirft sich für den Abend seinen Befehlen und erweist
ihm überhaupt die Ehrerbietung, die seiner souveränen Würde zukommt. Vor
Allem aber hat jedes Glied der Gesellschaft, sobald ertrinkt, laut auszurufen:
„1,0 lioi doit!" und wer diese Kundgebung der Ehrfurcht vor dem königlichen
Durst unterläßt, wird unnachsichtlich bestraft. Das Volk weiß, daß einer der
drei Könige, welche dem Jesuskind zu Bethlehem ihre Huldigung darbrachten,
ein Mohr war, und dies hat vermuthlich die Art der Strafe für jene Ver¬
letzung des Comments beim Fest des Bohnenkönigs angegeben. Man ergreift
den Sünder und färbt ihm das Gesicht mit Kohle schwarz, ein Gebrauch, der
begreiflicherweise nicht wenig dazu beiträgt, die Heiterkeit des Gelages zu er¬
höhen.
An den meisten Orten, z. B. in Dinant läßt man auch die Dienstleute
des Hauses am Loosen um die Königswürde theilnehmen. Allenthalben aber
hat der König die ihm zu Theil gewordene Ehre seinen Unterthanen mit einem
kleinen Feste zu bezahlen, welches in der Regel den Sonntag oder Montag
nach dem Dreikönigstag gegeben wird.
Im vlämisch redenden Theile Belgiens hält man es ähnlich; doch ist
hier der Bohnenkuchen nicht bekannt. Man bedient sich hier vielmehr wirk¬
licher Loose, um den König und dessen Hofchargen zu 'bestimmen. Auf Zettel,
die man „Koningsbrieven", d. h. Königsbriefe nennt, werden die zu ver-
theilenden Titel geschrieben und dann von jedem Anwesenden ein solches Loos
gezogen. Ist eine genügende Anzahl von Personen beisammen, so wird ein
ähnlicher Hofstaat geschaffen, wie er die Fürsten unsrer studentischen Bier-
herzogthümer umgibt. , Der eine wird durch sein Loos Minister (Raadsheer),
der andere Beichtvater (Biechtvader), ein dritter Mundschenk (Schenker), ein
vierter Truchseß (Voorproever). el» fünfter Harfner (Speelman). Wieder an¬
dere erhalten geringere Aemter: der eine das des Leibarztes (Geneeshcer),
der andere das des Hofnarren (Sol), ein dritter das des Mundkochs (Kot)
oder das des Schweizers (Zwitser) oder des Kammerdieners (Kamerling)
u. s. w. Jeder hat sich zu bestreben, den Abend hindurch den Charakter der
Rolle festzuhalten, die ihm sein Loos anweist, und wenn Se. Majestät der
König, der als Zeichen seiner Würde eine Krone von Goldpapier trägt, zu
trinken geruhen, haben alle Chargen ihre Ehrfurcht vor solchem Entschluß durch
den Nus „de Koning drinkt!" zu erkennen zu geben. Der Hofnarr ist an¬
gewiesen, das; diese Vorschrift der Hofetikette nicht verletzt wird, und sobald
einer sich dessen schuldig macht, greift er zu der neben ihm liegenden Kohle
und zieht dem Unartiger einen schwarzen Strich über das Geficht.
Nach einer Volkssage waren es übrigens die drei Weisen, welche den Ruf
»I^e ü.ol doit!" zuerst ausstießen, indem sie gerade in dem Augenblick in den
Stall zu Bethlehem traten, als das heilige Kind nach der Brust seiner Mut¬
ter griff. Andere wieder behaupten, daß der Gebrauch sich aus dem soge¬
nannten Evangelium vom Spinnrocken herschreibc.
Ein altes Lied, welches noch jetzt in Antwerpen gesungen wird, wenn
man um den König kooft, spielt auf die Ueberlieferung an, von der wir eben
sprachen, und so theilen wir es hier neben dem Inhalt eines andern Drei-
königstagsliedes mit, welches dort noch häufiger gehört wird. Es lautet:
D. h.: Kaspar, Melchior und Balthasar kamen zu dem Kindchen da. Sie
knieten mit Andacht, opferten, verbrannten Weihrauch, knieten mit Andacht
vor diesem Kindchen. Jesulein süß. Die ganze Stadt war voll Freude, das
Kindchen und die Thierchen auch; dann riefen sie, daß es klingt: Vivat, vivat,
vivat! Dann riefen sie, daß es klingt: Vivat! Unser König trinkt!"
Das andere Lied, welches während des Loosens um die Königswürde
gesungen wird, ist von weltlichem und possenhaftem Charakter. Es beginnt
mit der Erklärung: „Wir sind drei Könige, wir suchen kein Kind, sondern ein
Schlückchen Löwensches (Bier), das uns besser dient," feiert dann die Zechcr-
fertigkeit Kaspars, der mindestens eine Pinke trinken kann und dazu noch
Taback und Branntwein haben muß, und schließt mit den Worten: „Da
kam uns unterwegs auch ein hübsches Mädchen entgegen, wir gaben ihr
einen Kuß."
Während das erste Lied an die Gesänge erinnert, die in Deutschland an
den Weihnachtskrippen gesungen wurden, deutet das zweite auf einen ähnlichen
Gebrauch, wie der, bei dein unsre Sternfinger die Wanderung der drei Könige
darstellen. Daß solche dramatische Reproductionen der Weihnachtsmythen auch
in Belgien stattgefunden haben, wird aus dem später Folgenden hervorgehen.
Zunächst aber betrachten wir mit unserm Sammler noch einige mit dem Bori¬
gen verwandte Sitten.
Am Abend vor Dreikönig sowie am Morgen dieses Tages schwärmen
alle Straßen Antwerpens von Mädchen und Knaben der untern Classen, die mit
dem Ruf: „Koningsbrieven en kroon, en kroon!" jene Loose und Gold¬
papierkronen für das Dreikönigsgelage feilbieten und bedeutende Geschäfte
machen, da die mittlern und untern Stände jenen Gebrauch noch allenthalben
festhalten. In Mecheln wird der Tag besonders eifrig von den Sägemüllcm
und Holzspaltern gefeiert, die nach den Worten des Evangeliums „zy zagen
de star", welche sowol „sie sahen den Stern" als ,,sie sägten den Stern" be¬
deuten können, die drei Weisen als Verfertiger des Sterns und somit als
Zunftgenossen betrachten, was an den Glauben unsrer alten Zimmerleute er¬
innert, nach welchem sie einst im Himmel vom lieben Gott beschäftigt werden,
ihm die Zacken an seinen Sternen zu machen.
Auch im Hennegau ist der Dreikönigstag ein wichtiges Familienfest, ja
er spielt hier die Rolle unsres deutschen Weihnachtsabends. Keine Familie
ist so arm, daß sie nicht die „Rois" feierte, und von weit und breit kommen
die Verwandten zusammen, um mit einander die dabei üblichen Gerichte zu
verzehren. In Tournai wie in Als geschieht es noch jetzt häusig, daß Dienst¬
boten sich beim Antritt ihres Dienstes ausbedingen, am Dreikönigstag zu
ihren Eltern gehen und mit ihnen ,,das Kaninchen" oder ,,die Bratwurst"
verzehren zu dürfen, die hier das herkömmliche Festessen sind. Beim Beginn
des Mahles wird mit Flinten oder Pistolen geschossen, und nach der Mahlzeit
zieht man Loose um die Königswürde.
In Lüttich, Mecheln und Turnhout pflegten die Kinder an verschiedenen
Stellen der Straßen angezündete Kerzen oder Wachsstöckchen aufzustellen, um
dieselben zu tanzen und zuletzt darüber wegzuhüpfen. In Tournhout schick¬
ten- die Kerzenfabrikantcn am Dreikönigstag Lichter mit drei Enden, die für
diese Ceremonie bestimmt waren. Die Kinder klebten diese „Keerskcn" auf
die Stubendiele, sprangen darüber und sangen dazu ein vlämischcs Liebchen,
welches in deutscher Uebersetzung folgendermaßen lautet:
Aller Wahrscheinlichkeit nach sind diese Kerzen Reste der alten Weihnachts-
feuer, die man an dem Dreikönigstage, auf den vor der Reform des Kalen¬
ders der Weihnachtstag siel, anzuzünden und über die dann das junge Volk
in der Weise zu springen Pflegte, wie noch jetzt in verschiedenen deutschen
Gegenden das Landvolk über die Osterfeuer und die Feuer der sommerlichen
Sonnenwende hüpft. Herrschen doch auch in England, wo auf dem Lande
der „tveMi 63,7" noch „<M ekristirms äa^" genannt wird, in manchen
Strichen ganz ähnliche Sitten.
Ganz entschieden verwandt'mit deutschen Gebräuchen ist eine im Limburg-
schen noch hin und wieder vorkommende Kindersitte, nach welcher am Abend
des Drcitönigstags die Schuljugend, als Magier herausgeputzt, mit einem
Stern von Haus zu Haus ziehen und die Leute ansingen. Der-Stern wird
auf einer Stange getragen. Er ist von Pappe und mit Figuren versehen,
die mit buntem, geölten Papier verklebt sind, durch welches das im Centrum
brennende Licht hindurchscheint. An der Stange hängt ein Bindfaden herab,
mit welchem der Stern fortwährend gedreht wird. Das Lied, das die Kin¬
der, bisweilen von einem Dudelsack begleitet, dabei singen, lautet:
Auf deutsch:
In andern Gegenden Belgiens ist dieser Gebrauch nicht (wol nicht mehr)
>n Uebung. Doch gehen hier Sänger umher, welche gewöhnlich gekleidet,
mehre Tage wie in der Zeit des Christfests Weihnachtslieder und Gesänge
von den drei Königen vortragen und dafür Geld einsammeln. In Alost. wo
dieselben ihre Wanderung schon am Abend vor Epiphanias begannen, ist
die Sitte 1858 eingestellt worden, wogegen sie in Antwerpen noch in vol¬
ler Blüthe ist. Die „Kersliedekcns", welche hier von den Kindern und alten
Leuten von Epiphanias bis zu Lichtmeß gesungen werden, sind größtentheils
von dem Volksdichter Jan Koch, der im vorigen Jahrhundert in der Nach-
barschaft von Antwerpen lebte und dessen Verse noch jetzt allenthalben im
Munde der vlämischen Bevölkerung dieser Gegend sind.
Bisweilen mischen sich in diese geistlichen Lieder auch weltliche Poesien,
z. B. Trauerlieder aus den Tod der Kaiserin Maria Theresia, die mit dem
Refrain erdigem
Ans deutsch:
Wir fügen hinzu, daß dieselbe Sitte auch in den von Wallonen bewohn¬
ten Theilen Belgiens herrscht. Doch singen die Kinder zu Huy und in der
Umgebung von Lüttich nur bis zum neunten Tage nach dem Dreikönigsfest.
Das hessische Volk hat gesprochen. Mit einer Einmüthigkeit, die um so
bedeutungsvoller wird, wenn man die lange erfolglose und fast hoffnungslose
Anstrengung erwägt, die es bisher seinen Kräften zugemuthet, hat es der Re¬
gierung erklärt, der Friede könne nnr auf Grundlage des Rechts hergestellt
werden. Die Sühne für den geschehenen Rechtsbruch ist die erste nothwendige
Bürgschaft für die künftige Sicherheit; sobald diese erfolgt, will das Volk
seinerseits die Hand zur Versöhnung bieten.
Das Volk hat seine Pflicht gethan. Zehnjährige Leiden haben seine Aus¬
dauer nicht erschöpft, seine Hoffnung nicht gebrochen. Die Frage ist nun, was
sein Entschluß anderwärts für Wirkungen ausüben wird.
Die kurfürstliche Regierung, auf die es zunächst ankommt, hat ihrerseits
die Antwort bereits gegeben. Sie hat die Anforderungen der Volksvertreter
für nichtig erklärt, den Landtag aufgelöst und nach sechs Monaten einen neuen
ausgeschrieben. Sechs Monate! — Und bereits auf den März oder April hat
man den Krieg angemeldet.
Die kurfürstliche Regierung ist mit dem gegenwärtigen Zustand vollkom¬
men zufrieden. Was sie wollte, hat sie erreicht: mit Hilfe der Buudesexccution
und der Strafbayern sind alle freisinnigen Einrichtungen des Landes zertrüm¬
mert, und factisch eine Dictatur hergestellt, die durch jede Art von Landes-
Vertretung nur gestört werden kann. Wenn die Regierung keinen Landtag in
der von ihr gewünschten Weise zusammenbringt, so behilft sie sich ohne den¬
selben, sie kann die Verfassung entbehren. Wenn nach sechs Monaten wieder
ein renitenter Landtag gewählt wird, so schickt sie ihn wieder nach Hause, und
so ins Unendliche. Sollte es darüber im Lande unruhig werden, so zählt sie
auf den Schutz des Bundes. Und überhaupt? warum soll man an die Sünd-
fluth denken! Wir leben, so lange es geht.
In zweiter Instanz kommt Preußen. Preußen hat eine doppelte Schuld
gegen das hessische Volk: es hat es vor zehn Jahren im Stich gelassen, es
hat ihm jetzt sein Wort verpfändet. Die gegenwärtige' Regierung hat ihre
Stellung, dem Bunde und dem Kurfürsten gegenüber, dadurch erschwert, daß
sie sich als die einfache Fortsetzung der vorigen Regierung betrachtet. Hätte
sie einfach erklärt: das Cabinet Manteuffel existirt nicht mehr, und wir treten
seine Erbschaft nur insoweit an, als völkerrechtliche Verpflichtungen vorliegen,
so hätte sie die vielen diplomatischen Winkelzüge nicht nöthig gehabt.
Indessen über die Form hat man nicht nöthig zu streiten, wenn nur die
Sache gemacht wird. Preußen hat gegen den Bundesbeschluß, welcher die
Rechtsgiltigkeit der Verfassung von 1831 aufhebt, entschieden Protest eingelegt,
es hat ihn für null und nichtig erklärt. Der Minister hat dem Landtag die
Versicherung gegeben, er habe die Folgen dieses Schritts nach allen Seiten
erwogen.
Darin liegt nun zunächst: Preußen wird unter keinen Umständen eine
neue Execution des Bundes zugeben. — Eine Bundesexecution zur Durchfüh¬
rung der octroyirtcn Verfassung. — Aber eine solche zu verlangen, hat die
kurfürstliche Regierung nicht die mindeste Lust; es liegt ihr gar nichts daran,
die octroyirte Verfassung durchzuführen; sie regiert ebenso gern ohne alle Ver¬
fassung. Was sie bedarf, hat sie bereits erlangt. — Oder soll in jener Er¬
klärung mehr liegen? Soll es heißen: eine Execution wird auch in dem Fall
ausgeschlossen, wenn das Volk mit Gewalt die Verfassung von 1831 wieder
herstellt?
Einmal scheint uns die preußische Regierung nicht von der Beschaffenheit,
diesen Gedanken wirklich ausgedacht zu haben. Auch uns gefällt er ganz und
gar nicht. Die Sache der Ordnung, und was damit zusammenfällt, die Sache
der Freiheit, wird nicht gefördert, wenn man dem Spiel des Zufalls die Ent¬
scheidung überläßt. Auf Italien mag das Princip der Nichtintervention seine
Anwendung finden; für die geographische Lage Kurhesseus paßt es nicht. So¬
bald es in Kurhessen auf das Gebiet der Thatsachen übergeht, wird intervenirt,
daran ist gar kein Zweifel; von dort oder von dort.
Konservativer und zugleich eines großen Staats würdiger scheint uns eine
andere Haltung Preußens. Die Rechtsfrage ganz bei Seite gesetzt, kann
Preußen jetzt der kurfürstlichen Regierung, die Acten in der Hand, den schla¬
genden Beweis führen, daß der Friede nur auf Grundlage der Verfassung von
1831 möglich ist. Preußen kann aber,, um seiner Selbsterhaltung willen, nicht
zugeben, daß unmittelbar an seiner Grenze die Anarchie ausbricht. Es kann
es um so weniger zugeben, da ein Krieg vor der Thür steht. Es hat also
der kurfürstlichen Negierung freundnachbarlich den Wunsch auszudrücken, die
Ordnung im Lande herzustellen, da der Krieg angemeldet ist-, im andern Fall
würde eine Intervention sich nicht vermeiden lassen. — Es würde nicht genü¬
gen, diese Bemerkungen an die kurfürstliche Regierung zu adressiren, die sie
wahrscheinlich als schätzbares Material zu den Acten legen würde; sondern
sie müßten zugleich den übrigen Bundesregierungen, sie müßten Dentschland und
Europa mitgetheilt werben.
Diese Erinnerung würde von entschiedenem Erfolg sein, sobald Preußen
vorher im eignen Lande Ordnung gemacht hatte. Denn das freilich gehört
dazu. Wenn in Preußen, wie bisher, immer die rechte Hand nicht weiß, was
die linke thut, so kann es alle Tage ein Dutzend Noten schreiben — überreicht
von einem lächelnden Gentleman, der die Achseln zuckt und zu verstehen
gibt, es wäre nicht so schlimm gemeint; was die Herren Minister sagten,
sage noch lange nicht der Staat (im vertrauten Kreisen sollen statt des Aus¬
drucks „Herren" auch andere Ausdrücke gebraucht werden): — es kann alles
Papier, was in Deutschland fabricirt wird, vollschreiben, und man wird sich
noch nicht einmal die Mühe geben, es zu lesen.
Wenn aber in Preußen die Disciplin soweit erstarkt, daß die rechte Hand
mit der linken zusammenwirkt, so wäre jetzt große Aussicht, daß seine An¬
sichten bei den übrigen Bundesregierungen mehr Anklang finden-, oder besser
gesagt, daß man ihnen mit weniger Strenge gegenübertritt, als zur Zeit des
Bundesbeschlusses.
Zwei Regierungen nehmen wir aus: Hannover und Mecklenburg; diese
werden, so lange sie nicht die Nothwendigkeit mit Augen sehn, kein böses
Beispiel zulassen, das auch bei ihnen zu Hause bedacht werden könnte. So¬
bald sie die Nothwendigkeit sehn oder fühlen, ist es freilich ein Anderes.
Oestreich dagegen ist nicht mehr in der alten Lage. Wenn es sich nicht
etwa entschließt, Venedig zu verkaufen, hat es den Krieg. Sobald der Krieg
erklärt ist, kann es sein sämmtliches Papiergeld zum Anzünden ungarischer
Pfeisen benutzen, denn sonst hätte es keinen Zweck. Der Krieg würde nicht
blos Venedig gelten, sondern Ungarn. Wie die Stimmung in Ungarn ist,
tritt , jetzt zu Tage; das Diplom hat Licht verschafft — und das ist ein unge¬
heurer Gewinn. Wenn man im Begriff ist, in einen Abgrund zu stürzen, so
ist es ein ungeheurer Gewinn, wenn ein Blitzstrahl die Lage entdeckt; den»
man kann umkehren. — Mit dem letzten Militärsystem kann Oestreich nicht
fortregieren, das weiß es jetzt. Auch ist es zu liberalen Einrichtungen jeder
Art erbötig, es hat sich mir noch nicht recht klar gemacht, welche man wünscht.
Schmerling ist Minister, und Schmerling hat, abgesehn von sonstigen Vor¬
zügen, noch das voraus, daß er Deutschland kennt. — Vielleicht wird er seine
College» darauf aufmerksam'machen, daß auf Nußland, auf Frankreich, auf
England nicht zu bauen ist; daß, wenn noch irgend eine Hoffnung «gefaßt
werden sollte, diese Hoffnung auf Deutschland ruht, aus Deutschland, d. h.
auf Preußen. — Ein absolutistisches Cabinet hat den Bundesbeschluß in der
kurhessischen Frage veranlaßt; das neue „liberale" Cabinet kann, ohne sich
etwas zu vergeben, in Anbetracht der veränderten Umstände jetzt im Einver-
ständniß mit Preußen einen andern Bundesbeschluß zuwege bringen.
Was nun die Mittelstädten betrifft, so müssen ti-e Freunde der Freiheit,
der Ordnung und des Fortschritts erwägen, daß die Regierungen derselben
von den Wünschen ihrer Völker noch lange nicht hinreichend in Kenntniß ge¬
setzt sind. Man glaube nicht, seine Pflicht gethan zu haben, wenn man über
Preußen die Nase rümpft, und dann behaglich und mit dem Bewußtsein einer
großen That die Hände in die Tasche steckt. Wenn wir nicht vorwärts kom¬
men, hat das Volk mehr Schuld als die Regierungen.
Es sind freilich Beifallsadrcssen an die kurhessischen Liberalen von hier
und dn eingegangen; diese werden ihren Eindruck auf das Gemüth nicht ver¬
fehlen, aber ihre gesetzliche Wirkung ist null lind nichtig. — Für gesetzliche,
und, was dasselbe heißt, factische Wirkung gibt es nur ein Mittel.
Der Bürger von Sachsen, Hannover, Würtemberg u. s. w. hat es zu¬
nächst nur mit seiner eignen Regierung zu thun. — Wenn er die Ueber¬
zeugung hat, daß zur Erhaltung Deutschlands, also auch zur Erhaltung des
eignen Staats, die Wiederherstellung der Ordnung in Kurhessen nothwendig
ist. so hat er diese Ueberzeugung seiner eignen Regierung auszudrücken;
entweder durch Vermittelung des gesetzlichen Organs, wo ein solches vorhan¬
den ist, des Landtags; oder unmittelbar, in der Form einer Petition.
Der Abgeordnete Cichorius aus Leipzig hat in der sächsischen Kammer
den Antrag gestellt: die Regierung zu ersuchen. in Anbetracht, daß nur so der
Friede herzustellen ist, ihren Gesandten am Bunde dahin zu instruiren, das;
der vorige Bundcsbeschluß zurückzunehmen und die Nechtsgiltigkeit der Ver¬
fassung von 1831 anzuerkennen ist. — Der Antrag ist in allen Motiven
äußerst gemäßigt, übrigens logisch correct gestellt. — Er würde auf die Re¬
gierung einen viel großem Eindruck machen, wenn sie erführe, daß er in
ihrem ganzen Lande, wo überhaupt politische Bildung herrscht, auch an con-
servativen Kreisen (womit wir natürlich nicht die Kreise des Junkerthnms
meinen) als eine unbedingte Nothwendigkeit für den Frieden und die Ruhe
Deutschlands erkannt wird. — Noch ist in dieser Hinsicht nichts geschehen,
es wäre die höchste Zeit, um so mehr, da wir glauben, daß diese Frage
neben der Schleswig-holsteinischen die einzige ist, in welcher alle Patnoten,
ohne Rücksicht auf ihre sonstige Rolle, vollkommen übereinstimmen.
Es ist aber auch sonst die höchste Zeit: denn auf den März oder April
hat Garibaldi — vielleicht der einzige Mann in Europa, der in diesem Augen¬
blick einen bestimmten Entschluß bereits gefaßt hat — den Oestreichern Krieg
angesagt; und bis dahin muß Deutschland zu Hause eingerichtet sein, wenn
Wieder einmal hat zum bevorstehenden Feste die Industrie der Verlagshand¬
lungen eine umfangreiche Thätigkeit bewiesen. Von allen Seiten werden vergol-
dete, mit Bildern verzierte Kinderbücher auf den Tisch der Redactionen gelegt, die
Zahl schwillt in das Ungeheure, »fast jedes Gebiet menschlicher Interessen, fast jeder
Kreis poetischer Empfindungen' wird herbeigezogen, zahllose Werke sür Erwachsene,
die im Lauf der letzten Jahre erschienen sind, werden geplündert, um in bequemen
Bänden vom Glanz des Wcihnachtsbciums bestrahlt zu werden. Es ist nicht mehr
leicht, eine Uebersicht über die gesammte Weihnachtsliteratur zu gewinnen; aber in
dem Vielen, was zufällig in die Hände kommt, muß neben manchem Erfreulichen
das Meiste als verfehlt verurtheilt werden. Einzelne Richtungen drängen sich be¬
sonders reichlich hervor und geben Veranlassung zu einer wohlmeinenden Polemik.
Immer wieder muß gesagt werden, daß dieses massenhafte Anschwellen der Jugend¬
literatur durchaus kein Glück sür die Jugend ist, und daß die Fluth von Büchern,
die alle bemüht sind, der liebenswürdigen Einfalt der Kinder entgegenzukommen und
das mangelhafte Verständniß des Lebens, welches den Kindern eigen ist, poetisch zu
verklären, unsere Kleinen nicht fördert, sondern kindisch macht. Ja, wir wünschen
bei Eltern und Erziehern die Ueberzeugung zu fördern, daß Kinder die sogenannte
Kinderliteratur fast gar nicht bedürfen. Allerdings gibt es einen großen Kreis gemüth¬
licher und poetischer Anschauungen, aus welchen seit Jahrhunderten jede Generation
der Deutschen herausgewachsen ist; der Duft und die Farbe, welche aus solchen
Stoffen in die Kinderseele dringen, sie sollen um Alles nicht verringert werden.
Der Zauber, welchen das Volksmärchen auf die junge Seele ausübt, unser kleines
dummes Pfefferkuchhäusel, Frau Holle, Schneewittchen und die kleinen Zwerge wer-
den, so hoffen wir, noch viele Jahrhunderte mit Entzücken und anmuthigem Schauer
verschlungen werden, auch der alte ehrliche Göckelhahn am Ende der Fibel wird
dringend gebeten, dem fleißigen Kinde seine Pfennige auszukrähcn, hübsche einfache
Lieder und Sprüche mögen immer wieder auswendig gelernt und ausgesagt werden;
aber sobald der Geist des Kindes so weit entwickelt ist, daß es selbständig längere
Geschichten zu lesen vermag, wird die nahrhafteste Kost immer die sein, welche auch
den Erwachsenen Genuß gewährt; natürlich mit großer Auswahl, Nur muß diese
nicht mit der Prüderie geschehen, welche jetzt Jugendschriften so häufig zur Last fällt,
und nicht mit der Absicht, dadurch fromm und gut zu machen, daß unendliche lang¬
weilige Musterbilder von artigen Kindern ausgekramt werden. Dem Kinde geht es grade
wie dem Landmann oder Handwerker, welche ebenfalls mit gutem Recht von den
Volksschriftcn mit kalter moralischer Tendenz abgestoßen werden.
Nach anderer Richtung wirkt schädlich eine zweite Classe von Kinderschriftcn,
welche namentlich in den letzten Jahren überHand genommen hat. Es ist der
verwässerte Niederschlag der pikanten Touristcnabenteucr, jene Kämpfe mit Eisbergen,
mit Indianern, Negern, Elephanten und Wallfischen; in ihnen häufen sich die Ge¬
fahren, welche die kleinen Helden bedrohen, so massenhaft, das Fremdartige, Unerhörte,
Seltsame dringt so heftig in die Phantasie, daß solche Bücher die Einbildungskraft
überreizen und vor der Zeit blasircn. Indem sie eine Anzahl ziemlich fern liegender
Anschauungen in die Seele prägen, verringern sie leicht sehr die unbefangene Em¬
pfänglichkeit für das Naheliegende, vielleicht das Interesse an der umgebenden Wirk¬
lichkeit. In eine dritte Classe aber gehören solche Bilderbücher, bei denen die Illu¬
stration die Hauptsache ist, der Text nebenbei läuft. Vieles Hübsche wird in dieser
Richtung gefördert, einige unserer besten Zeichner haben nicht verschmäht, den Kin¬
dern zu dienen, aber es wird auch hier des Guten zu viel. Die ewigen Arabesken und
rundlichen Kindergestalten in gezierten Stellungen, ein oft geistloses Tändeln mit
dem Kleinsten muß weggewünscht werden; und die Verse, die gewöhnlichen Begleiter
solcher Illustrationen, sind doch meist über Gebühr schauderhaft.
Von den vorliegenden Büchern erwähnen wir zuerst und mit besonderer Aus¬
zeichnung :
Der Jugend Lust und Lehre. Album für das reifere Jugendalter. Heraus¬
gegeben von Dr. Hermann Masius. Mit 22 Lithographieen und 4 Holzschnitten.
Vierter Jahrgang. Glogau, C. Flemming. — Unter den Bildern sind einige sorg¬
fältig gezeichnete historische Porträts; der Text aus der Naturbeschreibung, Völker¬
kunde, Geschichte, auch der ältern epischen Poesie entnommen, ist von namhaften
Verfassern verständig bearbeitet, es ist überall eine reichliche Darstellung wirklichen
Details, naheliegender Interessen, nationaler Poesie und Geschichte. Der starke Band
'se für Knaben und Mädchen von 12 bis 16 Jahren bestimmt. — Aus demselben
Verlage präsentiren sich als illustrirte Kinderbücher-
Das Nußbäumchen. Von Gustav Sus. Die Arabesken in Farbendruck
sind die Hauptsache, der Text schildert die Schicksale einer Haselnuß von der Blüthe
bis zu dem finstern Moment, wo fie in den Mund des Nußknackers geschoben wird.
Etwas zu gesucht. — Der Kinder-Engel, Von Gustav Sus. Inhalt: wie
die neugebornen Kinder durch den Storch und einen kleinen sentimentalen Engel
aus dem Kinderbrunnen geholt und den Eltern gebracht werden. Die Zugabe mo-
deiner weichlicher Empfindung macht die alte volksmäßige Vorstellung doch ein we¬
nig bedenklich, — Das Stadt-Thor, Von A. Kraus und C, Weiß. Holz¬
schnitte und Verse machen etwas höhere Ansprüche, Es ist zu hoffen, daß die Kinder
aus diesem Werke eine recht tiefe Ueberzeugung von der socialen Bedeutung eines
Stadtthors erhalten werden.
Christfcstbuch. Lieder vom Stern über Bethlehem, Gesammelt
von K. Hofmann v, Nauborn. Bonn, Rheinische Buchs. 1861. — Eine kleine
Anthologie, Sammlung* von Gedichten zum Theil unserer besten Dichter, welche
Advent, Weihnachten und Neujahr begrüßen. Es ist die Absicht, alle Jahresfeste in
dieser Weise poetisch zu illustriren.
Böhmisches Märchenbuch (10 Lieferungen), Deutsch von Alfred Waldau.
Prag, Gcrzabcck, 1860. — Das Buch hat nicht den Zweck, der Wissenschaft zu die¬
nen, sondern zu unterhalten. Die Erzählung ist daher nicht treu aus dem Munde
des Volkes, sondern eine anspruchslose und nicht geschmacklose Zurichtung der besten
Volksmärchen welche in den böhmischen Märchcnsammlungcn firirr sind, Sie werden
auch für die deutsche Jugend eine reizvolle Lectüre sein. Einzelne fremdartige Vor¬
stellungen stören nicht, da die Methode der Erzählung im Ganzen so fortläuft, wie
bei den deutschen Hausmärchen.
Vier Bände Erzählungen für die Jugend, von Staudenmeycr. <—
Höchst moralisch und christlich fromm. Gläubig zu Gott beten und den Armen
Gutes thun bringt sicher schon auf Erden vorwärts; wer aber gegen die zehn Ge¬
bote handelt, dem wird greulich vergolten. Wir wünschen, daß die Kinder diese poetische
Verklärung des Katechismus in ihrer Unschuld zu Ende lesen, ohne zu merken, daß
diese vergoldeten Weihnachtsbücher eigentlich nichts Anderes sind, als orthodoxe Er¬
klärungen des ehrwürdigen Textes, welchen sie in den Schulen auswendig lernen.
Mit einer ganzen Reihe illustrirtcr Werke zieht wieder die thätige Buchhandlung
von Otto Spanier heran, darunter neue Auflagen früherer: die Wunder des
Mikroskops, von Dr. M. Willkomm; Buch der Geologie, von N.Ludwig;
Malerische Botanik, von H, Wagner; Eduard Vogel's Erforschungs-
reisen in Centralafriko, von H. Wagner; Ein Weltfahrcr, oder Erleb¬
nisse in vier Erdtheilen des Elisha Kent Kane, von I. G. Kutzner, alle in der
bekannten Weise mit mehr oder weniger Geschick popularisirt, die zahlreichen Holz¬
schnitte und Tondrucktafeln aus den verschiedensten, allerdings zum Theil schwer zu¬
gänglichen Werken zusammengelesen. Alle diese Bände sind Theile von VolkS-
und Jugcndbibliothcken, sie suchen vorzugsweise durch die zahlreichen Anschauungen
zu wirken, welche sie von fremdartigen Dingen geben. Der Text wird zuweilen zu
sehr Nebensache, einigemal sind die Abbildungen nicht glücklich gewählt, weil sie in
sehr entfernter Verbindung mit dem Text stehen. Die Behandlung des Materials
ist ungleich, ein Streben nach etwas größerer Gründlichkeit allerdings zu erkennen.
Am besten hat dem Res. das bereits angezeigte Werk von Willkomm gefallen.
Mit Freuden begrüßen wir die zweite Auflage von Leopold Schefer's Haus-
redcn (Leipzig, Haynel), dieser zwar oft barocken, aber doch genialen Schöpfung
des alten Dichters, — Von dem berühmten norwegischen Dichter Andreas Münch
(geb, 1811, seine erste Gedichtsammlung 1836) sind zwei Uebersetzungen erschienen:
die lyrischen Gedichte (Leid und Trost, Berlin, Hände und Spener) für den Weih¬
nachtstisch ausgestattet, und auch durch seinen Inhalt dazu geeignet; und eine hi¬
storische Tragödie! William und Rachel Russel, (Leipzig, Lork), welche mit
schöner Wurme die Tugend eines edlen Weibes feiert. Lesenswert!) ist der Zusatz des
Professor Monrad über die Bedeutung weiblicher Charaktere für die Tragödie, —
Eine Blumenlese, deutscher Dichtergarten von W. Kalkstein (Stade, Steü-
del) zeichnet sich u. a, dadurch aus, daß man darin das gute alte Genre der Fabeln
und Erzählungen wieder antrifft, die von der modernen Mondschein-Lyrik ganz über¬
schüttet war. — Klopstock und Meta von Ludwig Brünier (Hamburg, Per-
thes): der Stoff ist interessant, das Buch könnte ganz gut sein, wenn der Verfasser
sich der schwülstigen Begeisterung enthalten Hütte. Tüchtige Charaktere bedürfen dieser
schwächlichen Folie nicht. — Von den beiden reizenden Büchlein „Aus unsern vier
Wänden" von Rudolf Reichenau und ,,Mariengarn" von Eduard Tempeltcy
(Leipzig, Grunvw) sind neue Auflagen erschienen; von jenem die sechste, von diesem
die dritte. — Patriotische Gesinnungen spricht die Xenien aus: Sieben Festgesänge
zur goldenen Jubelfeier der Berliner Hochschule von Heinrich Mahler. (Glogau,
Flemming). — Als ein prächtig ausgestattetes und wenigstens in technischer Be¬
ziehung meisterhaft ausgeführtes Weihnachtsgeschenk können wir empfehlen: Lied und
Bild deutscher Dichter und Kunst ter. Lieder mit Holzschnitten nach Original-
zeichnungen von Bürger, G. Jäger, Meckel, Neurcuther, Patzschlc, Schlick,
Thon; die Holzschnitte ausgeführt durch die xylographische Anstalt von I. G. Fle¬
gel (Leipzig, Grunow). — Die Lvreley von Emmanuel Geibel. (Hannover.
Rümpler): nicht das preußische Schiff, welches in den sicilianischen Gewässern soviel
Unruhe angerichtet hat, sondern die alte Lorcley der rheinischen Sage, in der Form
einer Oper behandelt. Der erste Act ist bekanntlich von Mendelsohn componirt:
es ist doch sehr zu bedauern, daß der berühmte Meister damit nicht fertig gewor¬
den ist: der Text zeichnet sich im Arrangement wie in der Sprache sehr vorteilhaft
vor den meisten Librettos aus. Eigentlich dramatischen Gehalt darf man natürlich
nicht beanspruchen. — Es liegt uns wieder eine ziemliche Reihe von Gedichtsamm¬
lungen vor, von denen wir hier namhaft machen: Harn. Alimers (Bremen,
Heyse), Ed. Kreuzhagc (Münster, Coppcnrath). Jul. v. Soest (Elberfeld. Mar¬
tini) und O. Nvstoski (Elberfeld, Martini): poetische Sprache und gute Gesinnung
finden wir in den Gedichten des'letzten Decenniums im Ganzen häufiger als in denen
des vorigen; dafür scheint uns die Physiognomie etwas unbestimmter geworden zu
sein. Eins ist namentlich zu loben, daß man das objective Genre, namentlich die
Ballade und Erzählung, wieder mehr cultivirt. — Aus der Ballade fest sich dann
auch wol el» Epos zusammen, wie in den „Geusen" des 1859 verstorbenen
K. F, Scysfardt, die von Em. Palleskc ^Elberfeld, Martini) herausgegeben sind.
— Leider ist von den größeren Gattungen der Dichtkunst, namentlich dem Drama,
welches nach unserer Ueberzeugung doch das Rhodus ist, auf dem getanzt werden
muß, wenig Gutes zu sagen. Ein Trauerspiel „Coriolan" von Karl Blitz (Pots¬
dam, Stein) ist nichts anders als eine Uebertragung des Shakespeareschcn Entwurfs
in Prosa — Prosa der sittlichen Haltung wie der Charakteristik: sogar der alte
Collin mit seiner weichmüthigen Moral mochte vorzuziehn sein; in ,,Maria von
Burgund" von Harn. Hersch (Frankfurt a. M. Sauerländer), gcrirt sich die
Prinzessin mit ihrer ganzen Umgebung wie eine Soubrette aus einem beliebigen
Stück von Kotzebue; und ein Lustspiel „der Assessor" (Berlin, Peters), möchte den
Versasser, falls er Jurist ist, mehr zum Avancement wegen braver Gesinnung als für
das Theater empfehlen. —
'
Das Leben I. H. v. Wcssenbcrgs, ehemaligen Bisthumverwescrs in Constanz.
Nach schriftlichen und mündlichen Mittheilungen, herausgegeben von einem Freunde
und Verehrer des Verstorbenen. — (Freiburg i. B., Wagner) — Wcssenbcrg hat
für seine Zeit, so weit es in seinen Kräften stand, außerordentlich günstig für die
freiere Richtung in der katholischen Kirche gewirkt, und sein edler Charakter verdient,
wenn auch die Früchte seines Thuns mit der Zeit wenigstens zum Theil verkümmert
sind, daß man sein Andenken in Ehren halte. —
Gedenktage deutscher Geschichte von Prof. Kutzcn: drittes Heft, der
Tag von Liegnitz. (Berlin, Hirt). Eine vortreffliche Monographie, die sich würdig
den beiden frühern Heften: der Tag von Collin und der Tag von Leuthen, an¬
schließt. —
Abounementsanzeige zum neuen Jahr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den ^X^. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeration auf denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December -I8L9. .Fr. Ludw. Herbig.