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]]>Zeitschrift für Politik und Literatur,
herausgegeben
von
18. Jahrgang.
I. Semester. I. Band.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
185i).
mine v.Chüzy und andere Schriftstellerinnen.
. 161.
ina. S. 236.
wcr. S. 201.
nzösische Pfcnnigiitcratnr. S. 337. ,
enh Physische Geographie. S. 317.
ne Litcraturbcrichte. S. 40. 74. 117. 156.
00. 278. 399. 500.
Seit zehn Jahren die erste Weihnacht, in welcher das deutsche Volk mit
gehobener Empfindung und freudigem Hoffen einem neuen Jahr entgegensieht.
Selten wurde der innige Verband zwischen Preußen und dem übrigen
Deutschland so augenscheinlich, als in den letzten Monaten; jede erfreuende
Kunde, wie lebhaft wurde sie von den Nachbarstämmen begrüßt, überall die¬
selbe Spannung, derselbe Jubel, bei einer sehr großen Majorität der Deut¬
schen gleiches Urtheil, gleiche Hoffnung, dieselbe herzliche Erhebung.
Erst nach und nach wird der Preuße verstehen, wie viel er in der letzten
häßlichen Vergangenheit ertragen hat, kraftlose Willkür, gewissenslose
Heuchelei, und das Demüthigendste von allem, die Tyrannei der Unfähigkeit.
Und es ist nothwendig, daß dies Verständniß einer Periode, die uns alle
wie ein schwerer Traum quälte, recht schnell und recht eindringlich komme.
Denn um die volle Einsicht in die Schäden und Verbrechen früherer Zustände
macht ihre Wiederkehr unmöglich. Deshalb erfüllt die Presse eine ernste Pflicht,
wenn sie nichts von dem verschweigt, was jetzt der Vergangenheit angehört,
denn es gilt nicht die einzelnen Gestürzten noch tiefer zu demüthigen, sondern
was zu ihrer Zeit gegen Recht, Gesetz und Ehre des Vaterlandes gesündigt
worden, gut zu machen, und dazu ist vor allem nöthig, daß das ganze Volk
erfahre, wie schwer gesündigt. wie viel verdorben ist.
Wir waren auf dem steilen Absturz, der zu einer Revolution führt. Und
die Gefahr war groß. Das Höchste begannen wir zu verlieren, was ein Volk
ebenso wie den Einzelnen vor der Roheit bewahrt, das Selbstgefühl. Es fehlte
dem Heer, dem Beamtenstand, dem Bürgerthum, am meisten dem Adel. Die
Besten waren in Gefahr, einem thatlosen Kleinmuth zu verfallen, die Menge
hatte sich mürrisch, eingeschüchtert, mit engherzigen Egoismus in die kleinen
Interessen des eigenen Lebens zurückgezogen; gealtert erschienen wir alle;
besser, stärker, mannhafter sind nur wenige von allen geworden, die um Poli¬
tik und Regierung des Staates sorgen mußten. Es klang traurig, wenn die,
Anhänger einer herrschenden Partei den conservativen Sinn des Bauerstandes,
die feste Treue des Heeres rühmten. Die Treue und Loyalität des preu¬
ßischen Heeres beruht aus der Treue und Loyalität einer starken Majorität
preußischer Staatsbürger, ohne das volle Vertrauen zur eigenen Kraft
und zu der Tüchtigkeit seiner Sache vermag der Soldat wol bei seiner
Fahne zu sterben, aber nicht zu siegen; die gute Stimmung der Landbe¬
wohner aber, so weit ihr Hervorheben nicht eine Lüge war, drohte bei
jeder der schwebenden Streitfragen um Steuern, Domanialrechte, Polizei-
Willkür in das wilde Gegentheil umzuschlagen. Und kam solche iplötzliche
politische Springflut, welche die größte Klugheit nicht immer vorhersehen,
noch weniger verhüten kann, welcher Damm war dem preußischen Volk
fest geblieben? Alles locker, alles durchrüttelt, fast kein Kreis von Pflichten und
Rechten, in dem eine schwankende Gesetzgebung und die rohe Willkür der Exe¬
cutive nicht Unsicherheit und Stoff zum berechtigten Mißbehagen allgemein
gemacht hätte. Ueberall war von dem guten Alten, worein sich zwei Genera¬
tionen eingelebt, verwüstet worden, den Communen, der Kirche, dem Handwerk,
sogar der Familie. Ueberall über dem Neuen, das sich eingedrängt, kleinliche
Bevormundung, polizeimäßiges Mißtrauen, stille Animosität gegen die Mehrheit
der Staatsbürger. So lange es schlechte Regierungen und Revolutionen gegeben
hat, war solche Lage und Stimmung der Anfang des Endes.
Wenn wir alle Ursache haben, die ersten Tage des November als Anfang
besserer Zeit zu feiern, die größte hat der preußische Adel. Denn ihn hat der
Sturz des nider Systems gerettet, freilich sehr wider seinen Willen. Seit alter
Zeit leidet dieser Stand an dem Verhängnis; aller Privilegien Classen, daß
eine in egoistischen Vorurtheilen und Sondcrinteressen beschränkte Faction durch
die Talente, Tugenden und Tüchtigkeit einzelner Persönlichkeiten in der öffent¬
lichen Achtung restituirt werden muß. Nie aber war der Adel in so gefahr¬
voller Stellung zur Nation, als in den letzten Jahren.
Das Junkerthuin, die alte leidige Verkümmerung norddeutschen Adels,
überwucherte alle Felder der Regierung; die politischen Intelligenzen des Land¬
adels standen als eine sehr kleine Minderzahl in erbittertem Kampfe gegen die
Forderungen der eignen Verwandten, Nachbarn, Kameraden. Je ärmer an Capa-
citäten die große Familie der Junker war, desto turbulenter, übermüthiger und
anspruchsvoller wurde ihr Auftreten; daß sie durch einzelne Renegaten des Bür-
gerthums ihre Reihen verstärkte, trug nur dazu bei, dem Volke recht deutlich
zu macheu, daß der Kern der Verbindung ein factiöses Adelswesen war, un¬
verträglich mit der bürgerlichen Bildung unseres Jahrhunderts, mit bürger¬
lichem Selbstgefühl, mit dem Leben eines Culturstaates. Zu dem heimlichen
Haß, mit welchem der Bürger ihr Treiben betrachtete, hatte sich eine schlim¬
mere Empfindung gesellt, die Verachtung. Die Partei begann dem Volke
widerlich zu werden, und daß sie in selbstgefälliger Verblendung davon keine
Ahnung hatte, mußte eine Katastrophe beschleunigen. Und es geHort kein
großer Scharfsinn dazu, den wahrscheinlichen Verlauf dieser Katastrophe zu
erkennen. Ein offner und versteckter Kampf gegen die Privilegien, welche dem
Adel in Deutschland geblieben sind, gegen die leidige Hoffähigkcit, gegen die
adligen Orden. Stifter und Korporationen, gegen die sogenannten adligen
Offiziercorps, drohte zunächst in Literatur und Tagespreise, bald aus der Tri¬
büne aufzulodern; seine Konsequenz wurde eine neue Demokratie, furchtbarer,
weil besser berechtigt, als die alte, und mit ihr kam ein neuer Streit in das
Leben des Staates, ein Kampf der Stände, der gefährlichste, der uns Preußen
zu Theil werden kann, in dem die wildesten Leidenschaften, der grimmigste
Haß sich zusammenzieht, der uns alle in Gefahr setzte, dem trüben Gewirr
revolutionärer Forderungen zu verfallen und der, einmal entbrannt, am Ende
damit enden mußte, wie er überall geendigt hat, daß die Minderzahl zu Boden
geworfen und grausam vernichtet wird. —
Vor solchem langen Leiden hat uns das neue Ministerium gerettet, das
schon in den Personen seiner neuen Mitglieder die Versöhnung zwischen Adel
und Volk ausdrückt. Die neuen Minister gehören sämmtlich dem preußischen
Adel an. und haben sämmtlich im Kampfe gegen das Junkerthum da gestan¬
den, wo preußische Ehre und die Interessen der Nation hinwiesen. Fortan ver¬
mögen wir ohne Schamröthe anzusehn, wenn ein preußischer Landrath aus
der Zeit Westfalens das Bild des Kaiser Nikolaus. — sein Partei¬
zeichen — an der Uhrkette trägt und an das Armband seiner Frau hängt.
Und wenn vornehme Damen in Berlin ihre Fenster verhängen sollten, um
nichtmehr aufdieWohnungen„demokratischer"Minister sehn zu dürfen, so wollen
wir solche Strenge resignirt. aber gemüthlich ertragen, seit ihren Freunden
die Fähigkeit genommen ist. durch einen gefälligen Beamten Bürgerrechte und
persönliche Freiheit der einzelnen Staatsangehörigen zu beeinträchtigen.
Der letzte Grund aber, welcher die neue Ministerwahl des Regenten
dem Volke so lieb gemacht hat. ist echt deutsch, und er vermag über manches Un¬
sichere zu beruhigen. Die neuen Minister sind politisch rein und makellos,
und in ihrem Privatleben als gute und feinfühlende Männer längst verehrt.
Daß der Prinzregent aus dem Kreise derer, die ihm persönlich werth waren,
vorzugsweise nach solcher Rücksicht gewählt hat, das ist ein deutliches Zeichen,
wie gut er verstanden hat, worauf es im Staat jetzt vor allem ankomme.
Freilich beginnen die größten Schwierigkeiten ihrer Lage erst, seit die
Kammerwahlen bewiesen haben, wie richtig auch das Volk seine und ihre
Situation virsteht. Zwar ist schon ihre Existenz eine rettende That,
aber diese That ist das Verdienst des Fürsten, der sie berief. Sie selbst
haben sich den Dank des Volkes erst zu verdienen. Und grade die Art, wie sie
erwählt sind, macht ihnen das nicht leicht. Denn die innern Gegensätze zwischen
den einzelnen Mitgliedern des Ministeriums sind beträchtlich, und wie groß die per¬
sönliche Achtung sein mag, welche sie gegeneinander bewahren, so haben sie
sich doch zu hüten, daß nicht eben deshalb collegiale Nachgiebigkeit den Ansichten
eines Einzelnen zu viel einräume. Eine Kammersession ohne bedeutende Vor¬
lagen wird kein so großer Uebelstand sein, als Vorlagen, — etwa ein neues
Ehegesetz — denen die innerliche Beistimmung der meisten von ihnen und
die freudige Beistimmung der Vertreter des Volks fehlte. Denn man darf
zweifeln, was gefährlicher wäre, eine zögernde, rücksichtsvolle und schwache
Annahme durch das Haus der Abgeordneten, oder eine ebenso zögernde,
peinliche und verletzende Zurückweisung. Im erstem Fall würde das Ver¬
trauen zu der neuen Volksvertretung gefährlich erschüttert, im zweiten sogar
die Existenz des Ministeriums gefährdet.
Mit starker Spannung sehen Preußen und Deutsche dem Zusammen¬
tritt der Kammern entgegen. Fast alles ist diesmal in dem Haus der Ab¬
geordneten vereinigt, was Preußen von politischen Talenten auf der Tribüne
kennen gelernt hat. Nur die Besten unserer alten Gegner, der Demokraten,
vermissen wir ungern unter den Gewählten.
So beginnt das Jahr 1859 unter der Herrschaft günstiger Sterne. Und
wer die Aufgabe hat, ihren Lauf zu deuten und seiner Nation darüber zu be¬
richten, darf wol mit Freude in solche Zukunft sehn, und sich selbst Glück wün¬
schen, daß seine Augen offen blieben, die neue Zeit zu schauen.
Am 15. December v. I. haben die meklenburgischen Stände in der
Angelegenheit des Professor Baumgarten mit 72.48 Stimmen folgenden
Beschluß gesaßt: „Stände halten durch die im Baumgartenschen Absetzungs-
decret ohne zuvoriges kirchenrechtliches Verfahren ausgesprochene Verurtheilung
der Lehre desselben ihre Rechte verletzt, und beantragen aus eignem Antrieb
für denselben die Einleitung des kirchenordnungsmäßigen Verfahiens."
Dadurch ist eine für die Entwicklung der gesammten evangelischen Kirche
hochwichtige Angelegenheit in ein neues Stadium getreten, deren Thatbestand
Professor Baumgarten selbst in der Schrift „Die kirchliche Krisis in Mek-
lenburg" (Braunschweig, Brühn), beleuchtet.
Die Schrift ist noch sonst in vielen Beziehungen interessant, sie zeigt
z. B.. wie die Herren Theologen noch immer, wenn es gilt, einen College»
der Ketzerei zu zeihen, neben ihren theologischen Motiven noch Motive andrer
Art, z. B. ästhetische, aufzufinden wissen; daß sie den schlechten Periodenbau
ihres Gegners als Erschwerungsgrund seiner ketzerischen Gesinnung bezeich¬
nen. Aber die Hauptpunkte, aus die es hier ankommt, sind folgende.
Einmal ist es merkwürdig, daß man überhaupt ein Verfahren wegen
Ketzerei gegen einen akademischen Lehrer einleitet, den man. nachdem er sich
über seine Gesinnung schon vollständig ausgesprochen, erst vor wenig Jahren
berufen, der mittlerweile seine Ueberzeugungen durchaus nicht geändert hat,
und der auf das feierlichste erklärt, auf dem Boden des Katechismus zu stehn.
Wer das Letzte bezweifelt, schlage z. B. Seite 178 nach. Man hatte ihm
unter andern vorgeworfen, die Gottheit Christi zu bezweifeln, und der Con-
sistorialrath Krabbe suchte das daraus zu beweisen, daß er denselben niemals
die zweite Person der Gottheit nenne. „Darauf entgegnete ich ihm, ich hätte
allerdings diese kirchliche Formel nicht gebraucht, dieselbe schiene mir auch nicht
allenthalben hinzugehören, wenn er aber aus meinem Nichtgebrauch dieser
kirchlichen Formel schließen wolle, es fehle meinem Glauben das. was diese
kirchliche Formel besage, so sei er im großen Irrthum; ich betheuerte ihm
hoch und heilig, daß die ewige wescnhafte Gottheit unseres Heilandes nicht
blos ein Theil meines Glaubens sei, sondern mein ganzer und inniger Glaube,
und ich auch niemals von Kindheit her einen andern Glauben in meinem
Herzen gehegt und mit meinem Munde bekannt habe." Und ebenso bekennt
er weiterhin seinen Glauben an alles Mögliche, was in der Dogmatik steht,
auf die förmlichste, unzweideutigste Weise. — In frühern Zeiten war das
Kirchenregiment doch nur dann gegen einen Religionslehrer eingeschritten, wenn
derselbe gewisse Fundamenwlsätze des Kirchenglaubens förmlich und öffentlich
leugnete, und damit den Gläubigen, wie man sich ausdrückte, ein Aergerniß
gab; in diesem Fall aber zieht man trotz seines Bekenntnisses aus seinen
Schriften angeblich wissenschaftliche Consequenzen. und sucht ihm nachzuweisen,
daß er ein solches Bekenntniß nicht ablegen dürfe. Noch mehr: man legt
ihm diese Bedenken nicht etwa vor und fordert ihn zur Erklärung und Recht¬
fertigung auf; sondern man reicht sie ohne weiteres als bewiesen der Behörde
ein, und begründet darauf sein Verdammungsurtheil. Ein solches Verfahren
findet seine Analogie, was die Form betrifft, nur in der römischen Inquisi¬
tion; in Bezug auf den Inhalt dagegen werden wir weiter zurückversetzt: wir
befinden uns mitten unter den Byzantinern, in den interessanten Streit¬
fragen, ob die zweite Person der ersten Homoiusios oder Homousios sei.
Merkwürdig ist ferner, daß man. da einmal die Untersuchung eingeleitet
ist. nicht das herkömmliche, durch Gesetze und vielhundertjährige Praxis ge-
heiligte Berühren einschlägt, und den akademischen Lehrer vor ein akade¬
misches Gericht stellt, sondern daß man auf administrativen Wege gegen ihn
einschreitet, und ihn als einen Staatsdiener, der die nothwendige Qualität
seines Amtes nicht mehr besitze, von Staatswegen ohne weiteres entläßt. So
nimmt auch hier wieder die politische Gewalt eine theologische Färbung an,
jene Färbung, aus welcher die Parteikämpfe der letzten zwanzig Jahre fast
zur Hälfte hervorgegangen sind.
Im vorigen Jahrhundert und im ersten Drittel des gegenwärtigen lebten
die rationalistischen und die supranaturalistischen Geistlichen, wenn auch nicht
einträchtig, doch wenigstens ungestört nebeneinander. Dies friedliche Nebenein¬
ander wurde wesentlich gefördert durch die in Preußen durchgeführte Union
zwischen Lutheranern und Reformirten, die in nothwendiger Consequenz eine
liberalere Auslegung des Bekenntnisses mit sich brachte. Wie segensreich für
das geistliche Amt und sür den Zusammenhang desselben mit der Gemeinde
dies Zurücktreten des Dogmatischen und Theologischen war, welches seit der
Revolution nur zu sehr alles geistliche Leben absorbirt hatte, haben selbst
Strenggläubige anerkannt. *)
Wie aber Preußen nach dieser Seite den Anstoß gegeben hatte, so ging
auch von ihm die Reaction aus. Als Eichhorn an Altensteins Stelle trat,
erfolgte ein Systemwechsel, dessen durchgreifende Folgen für ganz Deutschland
man damals in der Zuversicht auf die Aufklärung des neunzehnten Jahr¬
hunderts noch gar nicht ahnte. Eichhorn ist vielfach Unrecht geschehn: ein
persönlich ehrenwerther und rechtschaffener Mann, ein warmer Patriot und
von seinem Glauben aufrichtig erfüllt, gehörte er nur nicht an eine Stelle,
die einen Staatsmann erfordert, da er doch nur ein theologischer Jurist war.
Eichhorn betrachtete es als seine Aufgabe, die evangelische Kirche (an
eine vollständige Trennung der beiden Bekenntnisse in der Art Hengstenbcrgs
dachte er nicht) zu reinigen d. h. das geistliche Amt möglichst in die Hände
der Rechtgläubigen, mit andern Worten, der Supranatumlisten zu bringen.
Hauptsächlich geschah das bei der Besetzung neuer Stellen, wo den Candi-
daten eine streng orthodoxe Gesinnung als Haupterforderniß aufgelegt wurde.
Welcher Uebelstand mit diesem Verfahren verknüpft sei, hat am eindringlichsten
in unsern Tagen ein erlauchter Fürst ausgesprochen: „in der evangelischen
Kirche, wir können es nicht leugnen, ist eine Orthodoxie eingekehrt, die mit
ihrer Grundanschauung nicht verträglich ist, und die sofort in ihrem Gefolge
Heuchler hat". . . . „Alle Heuchelei, Scheinheiligkeit, kurzum alles Kirchcn-
wejen als Mittel zu egoistischen Zwecken ist zu entlarven, wo es nur mög¬
lich ist."
Allein die Reinigung blieb bei der Besetzung neuer Aemter nicht stehn,
man ging den alten Nationalisten scharf zu Leibe, und nöthigte sie zuweilen,
wenn auch die Fülle nicht zu häufig vorkamen, ihr Amt niederzulegen. Eich¬
horn, als aufrichtig liberaler Mann, wollte damit keineswegs einen Glaubens¬
zwang ausüben, er wollte das Denken nicht an bestimmte Formen fesseln.
Das Raisonnement dieses theologischen Juristen war vielmehr folgendes: die
evangelische Landeskirche ist durch die Bckenntnißschriften rechtskräftig con-
stituirt und begrenzt; wer dieselben nicht anerkennt, gehört rechtlich nicht zur
evangelischen Landeskirche, aber es steht ihm frei, sich einer von jenen Sekten
anzuschließen, welche diese Kirche außer sich bestehen läßt, und falls sein Ge-
wissen ihm verbietet, einer der bestehenden Sekten beizutreten, so soll der
Staat ihm die Möglichkeit offen lassen, mit den Gleichgesinnten eine neue
Sekte zu bilden, und so auf seine Art Gott dem Herrn zu dienen.
Bei der ehrlichen Gesinnung des Mannes zweifeln wir keinen Augenblick
daran, daß solches seine aufrichtige Meinung war. und das Ncligionsedict
vom März 1847 spricht sich in der That so unzweideutig als möglich dar¬
über aus.
Im Anfang sträubten sich die Nationalisten, in dem guten Glauben, der
christlich-evangelischen Gemeinschaft anzugehören, auf daS entschiedenste da¬
gegen, auf diesen Plan einzugehn; aber das Kirchenregiment in seinem theo¬
logisch-juristischen Eifer wurde immer dringender, seine Beaufsichtigung der
rechten Lehre innerhalb der Kirche immer unbequemer, und so erfolgte endlich
die Bildung der sogenannten freien Gemeinden. Wenn wir dieselbe nicht
völlig ungerecht beurtheilen wollen, so müssen wir stets daran erinnern, daß
sie nicht freiwillig aus der Kirche getreten, sondern durch eine Reihe künst¬
licher Maßregeln und mit dem Versprechen der Duldung aus derselben hinaus¬
gedrängt worden sind.
Nun aber trat eine neue Phase ein. Das Kirchenregiment war offenbar
über den Erfolg seiner Maßregeln überrascht, es hatte sich unter Sekten etwas
Anderes vorgestellt, und wußte im Anfang nicht, wie es sich dieser neuen
Erscheinung gegenüber verhalten sollte. Da es das Christenthum nur vom
theologisch-juristischen Standpunkt auffaßte, war es der festen Ueberzeugung,
die neuen Gemeinden ständen überhaupt nicht mehr auf dem Boden des
Christenthums, ihr vorgeblicher Gottesdienst müsse also den wahrhaft Gläu¬
bigen ein Aergerniß sein.
Wir wollen über diese Ansicht keine nähere Untersuchung anstellen; jeden¬
falls war es nur eine subjective Ansicht, und der Protestantismus kennt über¬
haupt keine Form, objectiv festzustellen, welche Sekte auf dem Boden des
Christenthums steht, und welche nicht. Die katholische Kirche hat den Papst
und die Concilien, die Autorität derselben ist aber durch Luther gebrochen;
wir Protestanten kennen keine andre Autorität, als die Schrift, und wenn
auch die augsburgischen Confessionsvcrwandten behaupten können, daß die¬
jenigen, welche die Konfession nicht unterschreiben, nicht zu ihnen gehören,
so können sie doch nicht behaupten, daß sie nicht auf dem Boden des
Christenthums stehn, so lange dieselben die nämliche Autorität, die heilige
Schrift, für sich anführen. Wenn Hengstenberg behauptet, daß Uhlich die
Schrift falsch auslegt, so behauptet Uhlich dasselbe von Hengstenberg, und
es gibt kein anerkanntes Forum, das darüber entscheiden könnte.
In dieser Verlegenheit kam man endlich auf einen bequemen Ausweg.
In der Ueberzeugung, daß die Religiosität nur ein Vorwand, nur ein Deck¬
mantel für anderweitige Bestrebungen sei, glaubte man diese anderweitigen
Bestrebungen in der Politik gefunden zu haben. Mehre namhafte Anhänger
der freien Gemeinden gehörten zur demokratischen Partei; daraus zog man
den Schluß, die freien Gemeinden seien überhaupt Jakobinerclubs, und stellte
sie unter die Kategorie der politischen Vereine. Da nun der Wortlaut des
Neligionsedicts von 1847 dieser Ausfassung entgegentrat, ging man nicht
gradezu und offen zu Werke, sondern richtete ein Verfolgungssystem ein, das
in seiner Kleinlichkeit einen ebenso komischen als kläglichen Eindruck macht.
Der Schluß, daß die freien Gemeinden deshalb politische Vereine wären,
weil in ihren Predigten zuweilen die Politik in Anregung kam, ist ganz ein¬
fach durch den Hinweis auf die orthodoxen Geistlichen zu widerlegen.
Nirgend ist die politische Diatribe, nirgend das Streben, zum Haß und Ver¬
achtung einer politischen Ansicht zu reizen, so offen und rücksichtslos zur Schau
getragen, als von Seiten der sogenannten rechtgläubigen Pastoren. Wir
haben vor einigen Wochen an Vilmar einen eclatanten Beleg gehabt, aber
wir dürfen nur irgendein? der Ultrablätter zur Hand nehmen, um die Be¬
theiligung dieser Altlutheraner an der Politik, und zwar die Betheiligung in
der rohesten und gehässigsten Form, zu erweisen. In den freien Gemeinden
ist zwar auch die Rede von Politik gewesen, aber immer nur sehr schonend
und zurückhaltend, und wenn man behaupten wollte, daß der Grund dieser
Zurückhaltung lediglich in der Furcht liege, so ist damit nichts bewiesen: der
Staat hat nur auf die Handlungen Rücksicht zu nehmen. .Der Prinzregent
hat den preußischen Staat einen paritätischen genannt; so vieldeutig dieser
Ausdruck ist. und so wenig wir gemeint sind, auf alle Consequenzen einzu-
gehn, die man etwa daraus herleiten könnte, so ist doch eins klar: die Re¬
gierung Preußens soll von Staatsmännern, nicht von Theologen geführt
werden; und wir hoffen, daß auch der neue Cultusminister dieser Ansicht sein
wird. Wir sind keine Byzantiner, keine Russen; Staat und Kirche stehn bei
uns zwar in innigem Zusammenhang, aber sie fallen nicht zusammen. Der
Staat hat die Religionsgesellschaften, wie alle Vereine, insoweit zu über-
wachen, als er sie verhindert, Böses zu thun, aber nicht weiter; um ihre
Dogmatik hat er sich nicht zu kümmern, ihre theologische Konsequenz acht
zu vertreten, weil er als Staat von solchen Dingen nichts versteht. Faßer
wu- so den Begriff des Staats., so ist sein Verhältniß zu den freien Ge¬
meinden ganz einfach: er läßt sie gewähren, so lange sie nicht in das Gebret
der Cri.ninaljustiz satten, ohne durch diese Duldung irgendwie die Verant-
wortung für ihreDoctrinen solidarisch zu übernehmen. - Die einzige schwie-
nge Frage, inwieweit man den Geistlichen geduldeter Sekten dieselben Func-
tionen des bürgerlichen Lebens (z. B. dre Trauung) übertragen dürfe, erledigt
sich einfach dadurch, daß die bürgerliche rechtliche Seite dieser Functionen von
der kirchlichen getrennt, und die erste den Gemeindebeamten übertragen wird.
— Die Einmischung des Staats in diejenigen Gebiete, die dem Denken und
dem Gefühl angehören, sührt immer zu Tollheiten; seine Sphäre ist die der
That, und hier kann er um so energischer auftreten. je reiner sein Gewissen
'se d. h. je weniger er die Freiheit des Denkens und Empfindens beein-
trächtigt hat.
So weit gehn wir mit den Anforderungen der freien Gemeinden Hand in
Hand; daß wir im Uebrigen über die Entwicklung des christlichen Lebens sehr
abweichende Begriffe von ihnen haben, ist schon mehrfach, zuletzt im ersten
Quartal des Jahres 1S57. Serie 65 auseinandergesetzt. Wir haben seit der
Zeit die Zeitschrift, in welcher der geistvollste Vertreter des freigemeindUchcn
Wesens für seine Ansichten Propaganda macht, die Königsberger Sonntags¬
post, aufmerksam verfolgt, sie hat uns aber nicht überzeugen können.'
Ursprünglich warendie freien Gemeinden ein Nothbehelf. Das Kirchen-
Regiment drängte die rationalistischen Geistlichen, die früher ihre Ansicht
innerhalb des kirchlichen Lebens hatten bethätigen können, aus der Kirche
hinaus; diese sammelten ihre Anhänger, die entweder von den gleichen An¬
sichten ausgingen, oder die durch das Uebergewicht einer bedeutenden Persön¬
lichkeit bestimmt waren, zu einer Neligionsgesellschaft, die zunächst einen ganz
individuellen Eharnktcr hatte. Da nun aber nichts so nahe bringt, als ein
gemeinsamer Druck, so bemühten sich die verschiedenen freien Gemeinden, mit¬
einander in Rappolt zu treten, und sich nicht blos über eine gemeinsame Hal¬
tung dem Staat gegenüber, sondern auch über dogmatische Grundsätze zu ver¬
ständigen. Der Hintergedanke dabei war. daß durch dieses Verfahren mit der
Zeit eine Kirchenreformation in der Art des 16. Jahrhunderts zu Stande ge¬
bracht werden könne. In der Ueberzeugung, daß die Mehrzahl der Gebil¬
deten im Stillen ihren Ansichten beipflichten, daß auch sie in der christlichen
Dogmatik mehr eine symbolische als eine reale Wahrheit finden, können die
Sprecher der freien Gemeinden ihr Befremden nicht oft genug aussprechen, daß
diese Gebildeten nicht offen zu ihnen übertreten. Nicht selten wird dann das
gegenwärtige Verhältniß der gebildeten Laien zu den freien Gemeinden mit
dem Verhältniß der Humanisten zu den Reformatoren verglichen, und die
Theilnahmlosigkeit der erstem aus Mangel an Muth oder aus Unklarheit über
den Gang der Geschichte hergeleitet.
Es ist ein trivialer aber deshalb nicht unrichtiger Satz, daß bei allge¬
meinen Neformentwürfen der Ausgang das Urtheil enthält. Luthers subjec-
tive Ueberzeugung, daß die Kirche einer geistigen Wiedergeburt bedürftig und
fähig sei, wurde durch die gemeinsame Ueberzeugung der Culturvölker Europas
gestützt: wie es heute damit beschaffen ist, lehrt der Erfolg. Wenn die Ge¬
bildeten mit den freigemeindlichen Predigern darin übereinstimmen mögen,
daß z. B. die Dreieinigkeit symbolisch und nicht real aufzufassen sei, so stim¬
men sie doch darin nicht mit ihnen überein, daß diese Auffassung einen pro-
ductiven kirchlichen Lebenskeim enthalte. Hauptsächlich aber liegt die Abwei¬
chung darin, daß sie die Pflichten des Einzelnen dem kirchlichen Bekenntniß
gegenüber verschieden auffassen. Die freien Gemeinden gehn von der Ansicht
aus, jeder Einzelne habe die Verpflichtung, sich über sein Verhältniß zu den
symbolischen Büchern eine klare Ansicht zu bilden und diese Ansicht in einem
Bekenntniß niederzulegen; wir dagegen leugnen diese Verpflichtung, und ge-
stehn offen, daß uns manche dogmatische Streitfragen unserer Tage ebenso
nahe angehn, als die byzantinischen Streitfragen über Homusios und Ho-
moiusios. Wenn Einzelne diese Fassung der Frage dadurch umgehn, daß sie
sich auf den Standpunkt stellen, den Kant in seiner „Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft" einnimmt, daß sie ihr sittliches Leben ledig¬
lich aus das Princip des Gewissens gründen, so erklären wir, daß wir damit
vollkommen übereinstimmen, daß wir aber zur Durchführung dieses Princips
der freien Gemeinde nicht bedürfen, daß wir damit auch in der alten evan¬
gelischen Kirche ausreichen. Da der Conflict tiefer liegt, so sei es uns ver¬
stattet, ihn bis zu seinem Ursprung zu verfolgen.
Was Luther hauptsächlich zu seiner Reformation trieb, war die absolute
Trennung des Geistlichen von dem Weltlichen, des idealen Lebens von dem
realen, der Priesterschaft vom Laienthum. Diese Trennung war das Princip
des Mittelalters überhaupt. Zwar waren die Germanen zum Christenthum
bekehrt, aber die eigentlich christliche Gesellschaft, welche die Anforderungen
des Christenthums traditionell in sich forterbte und wenigstens der Form nach
befriedigte, die heilige Gesellschaft blieb von dem gemeinen Hausen der Gläu¬
bigen streng geschieden. Die durch ununterbrochene Folge der Priesterweihe
mit dem Ursprung des Christenthums verknüpfte Geistlichkeit bildete eine Welt
für sich, sie war die eigentliche Kirche und rekrutirte sich nur in den Klöstern,
die, ohne im Anfang zum Klerus zu gehören, sich doch zum vorschriftsmäßig
heiligen Leben verpflichteten, unter andern zur Ehelosigkeit. Es liegt in der
Natur der Sache, daß diese heilige Gesellschaft einer minder heiligen zur
Unterlage bedürfte, weil sie sonst mit der ersten Generation ausgestorben
wäre: das Laienthum war eine nothwendige Ergänzung des Priesterthums.
In theoretischer Beziehung war'das Verhältniß zwischen diesen beiden Gesell¬
schaften ziemlich liberal; man kann nicht sagen, daß die Priester den Laien
mit ihrer Theologie lästig sielen; sie waren zufrieden, wenn die Laien über
Theologie nicht raisonnirten. Als Ketzer wurde nicht derjenige bestraft, der
sich um die Dogmen gar nicht kümmerte, sondern nur derjenige, der darüber
raisonnirte. Dagegen war die Kirche den Laien gegenüber ziemlich streng in
ihren praktischen Anforderungen; sie verlangte zwar von ihnen nicht ein hei¬
liges Leben nach klerikalen Begriffen, aber sie hatte ein sehr umfangreiches
Sündenregister aufgestellt, vor welchem man sich zu hüten habe; ein Sünden¬
register, in welchem die Heirath in verbotenen Grade eine nicht unwichtige
Rolle spielte. Nun lag es keineswegs im Interesse der mittelalterlichen Kirche,
daß keine Sünden begangen wurden, sondern nur, daß sie jedesmal für das
Aergerniß an einer solchen Sünde durch die angemessene Buße entschädigt
wurde. Die Vollmacht der Sündenvergebung war der Zauberstab, durch
welchen die mittelalterliche Kirche das Laienthum regierte, und Tetzels Abla߬
zettel war der letzte, roheste aber auch einfachste Ausdruck dieses Einflusses.
Freilich hatte diese Trennung zweier Welten in dein verwilderten 15. Jahr¬
hundert arge Folgen. Mitten unter den Anforderungen des christlichen Spiri¬
tualismus schrieb Macchiavelli seinen Fürsten und setzte sich Alexander Bor-
gia die dreifache Krone aus. Die Kirche war zu einer Lüge geworden und
ihre Priester glichen den Auguren Ciceros, die sich nicht ansehn konnten, ohne
SU lachen.
Ueber diese Lüge und Heuchelei empörte sich das ehrliche deutsche Gemüth.
Luther traf den Kern der Sache, indem er zuerst den Ablaß angriff, dann
die erste Quelle desselben, die Trennung des Priesterthums vom Laienthum.
Wenn er. der gläubige Mönch. seine Ideen aus der Schrift und den Kirchen-
Vätern herleitete, so faßte er doch mit seiner souveränen Natur diejenigen
Punkte auf. die für sein Lebensprincip entscheidend waren: er entband sich
selbst von seinem Gelübde, nahm eine Frau, trieb mit Hilfe der Fürsten die
faulen Mönche aus ihren Ruhestätten, hob das Sacrament der Beichte aus
und ersetzte die Werkheiligkeit, durch welche die katholische Kirche den Himmel
versöhnte, die Kasteiung des Fleisches nach allen Dimensionen, durch den
Glauben d. h. durch das innerliche Leben. Der geheimnißvolle Priesterstand
hörte auf, jeder Gläubige wurde ein Priester und hatte um die Aufgabe,
sich persönlich, ohne Beihilfe von Heiligen, mit seinem Gott zu verständigen.
Die segensreichen Folgen dieser Reformation sind bekannt. Durch sie sind
die sittlichen Grundlagen des irdischen Lebens unerschütterlich festgestellt; sie
können im Einzelnen erweitert und vervollkommnet, aber in ihrem Kern nicht
mehr umgestaltet werden.
Indessen hatte sie für die nächste Zeit auch ihre bedenklichen Nachwir¬
kungen.
Indem jeder Einzelne ein Priester sein und sich durch den Glauben mit
Gott versöhnen sollte, brachte es die gelehrte philologische Richtung des
16. Jahrhunderts mit sich, daß man unter dem Pnestcrthum Theologie, unter
dem Glauben Wortglüubigkeit verstehn zu müssen meinte. Jeder Einzelne
glaubte die Verpflichtung zu haben, sich den Katechismus auf seine eigne
Weise auszulegen, sich Gedanken über das Verhältniß der drei Personen zu
machen, und diese Gedanken durch irgend einen Bibelvcrs zu belegen. Zwei
Jahrhunderte hindurch hat namentlich in Deutschland alle Welt Theologie ge¬
trieben; die Wissenschaft und Kunst ist dadurch heruntergekommen, und selbst
als im 18. Jahrhundert ein besserer Tag anbrach, schlich sich die Theologie
in alle Bestrebungen ein — denn die Nationalisten dogmatisirten grade wie
ihre Gegner; bis endlich durch Herder, Kant und Schleiermacher die Reli¬
giosität aus dem Gebiet des Raisonnements in das Gebiet des Empfindens
und des Willens übergclenkt wurde. Leider waren die großen Werke dieser
Meister für ihre Nachfolger nicht maßgebend. Wie die Scholastiker des
Mittelalters deducirten die Schcllingianer und Hegelianer den Katechismus
wieder aus Kategorien der reinen Vernunft, und das theologische Raisonne-
ment brach von neuem los: es hieß zwar nicht mehr Homousius und Homoiu-
sius, aber nun sollte jedermann darüber im Klaren sein, welche Person an
sich, welche für sich, und welche an und sür sich wäre. Diese geistreiche
Untersuchung hat unsern Professoren und Studenten viel Kopfzerbrechen ge¬
kostet.
Man kann nicht leugnen, daß gegenwärtig ein neuer Tag beginnt. Man
bezeichnet die neue Richtung gewöhnlich, nach einer häßlichen Ausartung der¬
selben, mit dem Ausdruck Materialismus; wir würden den Ausdruck Realis¬
mus vorziehn, lassen aber auch den ersten gelten, falls man ihn nur richtig
versteht. Wir beschäftigen uns jetzt mit Materien, mit Sachen, nicht mehr
mit Phrasen. Es ist sehr zweckmäßig, daß sich die Naturwissenschaft gegen¬
wärtig mit der wirklichen Natur zu thun macht und nicht mit der heiligen
Dreifaltigkeit; es ist sehr zweckmäßig, daß sich der Geschichtschreiber die Ar¬
chive ausschließen läßt, um zu erfahren, was wirklich vorgegangen ist, anstatt
sich über den Plan des an sich, für sich und an und für sich seienden Wesens
in müßige Grübeleien zu vertiefen; und so in allen Fächern. Mit einem
Wort, wir nehmen die Freiheit des Laienthums wieder in vollstem Maße für
uns in Anspruch; wir wollen aufhören, Theologen zu sein, wir wollen die
Natur und die Geschichte objectiv untersuchen, ohne damit für oder wider
die Kirchenväter Partei zu nehmen; wir wollen unsere gesellschaftlichen und
politischen Einrichtungen unsern und den allgemeinen Interessen gemäß con-
serviren oder reformiren, ohne alle Rücksicht daraus, was Moses in Judäa
für gut befunden hat; und wir bitten unsere Herrn Theologen, die lichtfreund¬
lichen wie die rechtgläubigen, höflichst um die Erlaubniß, von ihren dogma¬
tischen Streitfragen'gar keine Notiz zu nehmen, über die Auslegung dieses
oder jenes Glaubensartikels uns gnr nicht den Kopf zu zerbrechen.
Wenn wir aber der Theologie gegenüber Laien sind. so fällt es uns
deshalb nicht ein. der sittlich-religiösen Gemeinschaft zu entsagen, auf der
unser ganzes Leben, unser ganzes Empfinden wurzelt. Wir wollen nicht mit
Herwegh die Kreuze aus der Erde reißen, welche auf den Gräbern unsrer
Väter stehn, welche unsre und die Gräber unsrer Kinder verzieren sollen;
wir treiben mit dem Kreuz keinen Fetischdienst, wie Calderons Eusebio. aber
es ist uns das Sinnbild, welches eine tausendjährige Geschichte verknüpft.
Seit der Reformation ist die Kirche eine Seite unfers wirklichen Lebens ge¬
worden, die den schönsten und edelsten Regungen unsrer Natur die Weihe
gibt, die wir nicht entbehren wollen und entbehren können, auch wenn wir
alle theologischen Lehrbücher gern entbehren, auch wenn uns manche wohl¬
meinende Predigt lästig Me. Nicht der individuelle Prediger, nicht das von
Steinen gebaute Haus macht bei uns die Kirche, der Zusammenhang ist ein
geistiger, und dieser Zusammenhang des Lebens findet eine schöne ^ym- -
bout. Die Taufe weiht das Kind in jene Menschenrechte ein. die es bei den
Heiden nicht besaß ; die Einsegnung der Ehe gibt ihr einen tiefern, der sitt¬
lichen Natur des Menschen angemessenen Charakter, als sie im Heidenthum
hatte, die Confirmation eröffnet uns eine weitere und heiligere Gemeinschaft
als die enge Gemeinschaft der antiken Stadt, und jeder Sonntag erinnert
uns durch die Sammlung, zu weicher die Glocke auch diejenigen aufruft, die
ihr nicht folgen, daran, daß diese Erde nicht blos aus chemischen Präparaten
besteht, sondern daß ein Himmel sie umschließt. Wir sind protestantische
Christen, obgleich wir Laien sind.
Untersuchen wir nun, ob dieses neue Princip durch die freien Gemeinden,
falls es möglich wäre, ihren Zweck wirklich zu erreichen, gefördert oder gehemmt
wird, so müssen wir das Letzte behaupten.
Zunächst treiben sie uns wieder in die Theologie, der wir grade zu ent¬
fliehen hoffen. So lange ich bei der Kirche meiner Väter bleibe, habe ich
nicht nöthig, mein theologisches Glaubensbekenntniß an den Tag zu legen
und zu rechtfertigen; der Reformer kann sich dieser Rechtfertigung nicht ent-
ziehn. und da der greifbare Gegensatz des allen und neuen Glaubens doch
zunächst ein dogmatischer ist, so muß er sich nothgedrungen wieder über Althias
und Fürsich. über Homiousios und Homousios klar werden.
Die sittliche und geschichtliche Gemeinschaft wird durch die freien Ge¬
meinden nicht gefördert, sondern gehemmt.
Die blinden Leidenschaften der Menschen richten sich mehr gegen Namen. Far¬
ben und Redensarten als gegen Sachen. Die Verfolgungen, denen einzelne freie
Gemeinden in den letzten Jahren ausgesetzt gewesen siud, erscheinen freilich ebenso
abgeschmackt als widerwärtig, aber sie zeigen doch, daß grade diese Methode der
äußerlichen Sonderung recht geeignet ist, den schlechtesten Fanatismus anzufachen.
Indeß könnte man sich über diese äußerlichen Nachtheile hinwegsetzen,
wenn durch die freien Gemeinden wirklich die Wahrheit und innere Ueberein¬
stimmung des Lebens gefördert würde; aber grade dagegen haben wir die
stärksten Bedenken. Es scheint uns, als ob die Führer der jungen Kirche,
so ehrlich sie es meinen, so begabt sie sein mögen, weder die Kraft zu einer
Reformation der Kirche, noch auch nur zur Gründung einer Sekte haben.
Diese Kraft hat nur der Inspirirte. Die deutsche Reformation wäre nie zu
Staude gekommen, wenn nicht ein Inspirirter. ein Mann, der den Ruf des
Herrn unmittelbar in sich vernahm, sie geleitet hätte. Zu allem andern reicht
Sie individuelle Kraft aus, wenn sie ihre Schranken richtig erwägt, aber nicht
zu einer religiösen Wiedergeburt.
Mau kann die äußerlichen Einrichtungen einer Kirche durch äußerliche
Gewalt modificiren, aber eine solche Reform ist im Protestantismus nicht
mehr nöthig; die protestantische Kirche hat kein einziges Institut, das sich
dem Fortschritt der Cultur wesentlich widersetzte; ja wir gehen weiter: sie hat
fast kein Institut, dessen die Cultur entbehren konnte. In ihrem dogmatischen
Inhalt ist vieles Unklare, dieses wird aber mehr und mehr entfernt, je
weniger man sich in theologische Grübeleien vertieft. Man erinnere sich
stets daran, daß die Kirche nicht blos sür den Gebildeten da ist, sondern für
die Gemeinschaft des Volks. Die Gemeinschaft des Volks wird aber nicht
vermittelt durch das geistvolle oder gelehrte Raisonnement, sondern durch das
Gewissen. Der Geistliche ist der sittliche Lehrer des Volks, dem der Gebildete
ebenso angehört als der Ungebildete.
Was das Verständniß der Sachlage so ungemein erschwert, ist der Um¬
stand, daß die religiösen Bewegungen der letzten Zeit durchweg von den gro¬
ßen Städten ausgehn. Hier ist es leicht, einen Kreis von Gebildeten und
Halbgebildeten zusammenzubringen, die in ihrer Weise über Religion nach¬
gedacht und, was das Christenthum etwa an ihnen versäumt, durch die classische
Gymnasialbildung ersetzt haben. In einem solchen Kreise kann der Prediger
ohne Uebelstand als der Erste unter seines Gleichen erscheinen, er kann seinen
überlegnen Verstand und seine überlegne Bildung geltend machen, er kann aber
auch seine Ueberzeugung durch motivirte Einwürfe der Gemeindemitglieder er¬
gänzen und berichtigen. <
So hat die Königsberger Sonntagspost mehrfach die Sache aufgefaßt.
Der Prediger tritt der Gemeinde nicht kraft irgend welcher Autorität gegen¬
über, um sie zu belehren und zu erbauen, sondern unter seinem Vorsitz und
unter seiner Leitung setzt sich die Gemeinde zusammen, um durch Nachdenken
und Unterredung ein einheitliches Gemeindebewußtsein hervorzubringen. Es
ist nicht ein Wissender, der die Kirche trägt, sondern eine Reihe von
Strebenden, die gemeinschaftlich den Herrn suchen. In einem Kreise, wo die
Studirten überwiegen, und wo die leitende Persönlichkeit bedeutend genug ist.
um keine ernsthafte Disputirsucht aufkommen zu lassen, ist ein solches Ver¬
fahren auch unverfänglich: denn wenn die Suchenden den Herrn nicht senden.
so ist damit auch nichts verloren.
Nun versetze man sich aber in eine Dorfgemeinde, und male sich aus,
daß der Herr Candidat die Bauern versammelt, um durch gemeinschaftliches
Nachdenken und Unterreden den Herrn zu suchen! sollte es ihm in der That ge¬
lingen, den Bauern begreiflich zu machen, daß sie der Träger der Kirche sind
und nicht er, — was ihm zu Anfang schwer werden wird. — so furchten
wir. das Endresultat werde mit zerbrochenen Schemelbeinen in irgend einer
Verbindung stehn. Wer sich einmal unbefangen unsre Bauern angesehn hat.
wird sich davon überzeugen, daß ihnen gegenüber die Kirche noch immer eure
sehr erhebliche Mission hat. daß sie ihnen gegenüber die Moral und Civili¬
sation vertritt, und daß sie das nur insofern vermag, als sie ihnen Mit der
Autorität einer hohem Macht ausgerüstet erscheint.
Die neuen Prediger mögen noch so sehr bemüht sein, sich nur als Vertreter
ihrer Gemeinde darzustellen, sie können doch ihre Erziehung, die sie dem Gym¬
nasium, der Universität und der Kirche verdanken, nicht verleugnen. Was
soll aber erst geschehn, wenn diese Erziehung aufhört! wenn es jedem Haufen
verstattet ist. sich ein beliebiges Individuum, das ihm convenire. zum Predi¬
ger zu setzen! Und darauf wird in der That hingearbeitet.
In No. 51. stellt die Köniqsberger Sonntagspost ihr Ideal des neuen
kirchlichen Lebens fest. Sie geht von der Nothwendigkeit aus. in Preußen
die evangelische Kirche frei zu geben d. h. alle directe und indirecte Be¬
theiligung des Staats aufhören zu lassen. „Wir machen keinen Anspruch
auf den Ruhm eines Propheten, aber dazu ist. wie uns dünkt, auch kein
Prophet nöthig, sondern dazu bedarf es nur eiuer unbefangenen Betrachtung
dessen, was im Volke lebt, um vorauszusagen, daß, so wie der Staat dem
bestehenden Kirchenregiment seinen Arm entzieht, die zwangsweise zusammen¬
gehaltene Einheit der evangelischen Kirche Preußens ohne weiteres auseinander¬
fällt, und wir fürs Erste nichts weiter haben als eitel freie protestantische
Gemeinden."
..So bunt es übrigens auch bei dieser Auferstehung aussehen wird, wir
haben die feste Ueberzeugung, daß Religion und Christenthum dabei nicht zu
kurz kommen, im Gegentheil Eroberungen machen werden, wie sie selten von
ihnen gemacht worden sind. Alles wird sich in diesen Tagen der Dürre und
Verschmachtung zu der neu eröffneten Heilquelle hinzudrängen, um neues
Leben daraus zu trinken; Tausende und Abertausende, die vom Vater aus
den Sohn und Enkel der Religion und Kirche so gut wie abgestorben waren,
werden den neu constituirten Gemeinden sich zuwenden, und diese Gemeinden
werden sich je nach den verschiedenen Anschauungen, die in ihnen vorherr¬
schend sind, zu größeren religiösen, christlichen, evangelischen Bündnissen ver¬
einigen. Und diese freien Bündnisse, alle geeinigt in dem Gegensatz zum
römischen Katholicismus, sie sind die neue evangelische Kirche Preußens."
„Welcher Protestant, welcher evangelische Christ sollte sich von diesem
Bilde, das hier uns in ein paar flüchtigen Zügen angedeutet worden, nicht
lebhaft angesprochen fühlen! Müßte nicht eben vor allem die protestantische
Presse Veranlassung nehmen, die evangelischen Gemeinden Preußens auf
einen solchen Umschwung ihrer kirchlichen Verhältnisse und für die Arbeit,
die dann gethan sein will, in aller Weise vorzubereiten und zu be¬
geistern? Hoffentlich wird man dann anfangen, die deutscheu Dissidenten¬
gemeinden mit einem andern Maße zu messen, als man es bisher gethan
hat, diese aber werden ihre zehn- und zwölfjährige Erfahrung gern zum
Besten geben, ohne sich ein andres Verdienst zuzuschreiben, als die Vorläufer
jener großen religiösen Wiedergeburt zu sein, die dann zunächst in der evan-
gelischen Kirche Preußens ihren Anfang nähme."
Wir wollen uns dieses Reich der Herrlichkeit etwas näher ausmalen: —
nur wollen wir dabei nicht vergessen, daß es in Deutschland im Jahr des
Herrn 1858 aufgerichtet werden soll, nicht in Schottland im Jahre l.l>00, wo
die puritanische Gesinnung und Bildung jedes Gemeindeglied so gesaßt hatte,
daß die Gemeinde wirklich der Träger der Rechtgläubigkeit war; nicht in Ame¬
rika, wo so viel Platz ist, daß nöthigenfalls eine Gemeinde den andern, wenn
sie ihnen lästig wird, aus dem Wege gehn kann. Also die kirchliche Souve-
ränetät wird in die Gemeinde verlegt, und eine Gemeinde bildet, wer sie
bilden will. Nun ist bekannt, daß die rechtgläubigen Prediger einen recht
großen Zulauf haben, und die Zahl der freien Gemeinden, die einen Vilmar,
Kliefoth, Hengstenberg n. s. w. an die Spitze stellen, würde ziemlich beträcht¬
lich sein; andere würden Uhlich oder Rupp vorziehn, auch Feuerbach, Bruno
Bauer und Karl Vogt würden ihre Stelle finden. Auch wir sind keine Pro¬
pheten, aber wir getrauen uns doch, den Gang der Ereignisse ziemlich bestinunt
vorzuzeichnen.
Zuerst würde der theologische Dilettantismus überhandnehmen, alle Welt
würde über das Wesen Gottes und ähnliche Dinge eine Meinung an den
Tag bringen. Wissenschaft und Kunst würden hintenangesetzt werden, die ver¬
schiedenen Gemeinden würden sich aufs tödtlrchste bekämpfen und. um diesen
bunten Atomismus voll zu machen, würden ein Dutzend Mormonenheilande
aufstelln und die Gläubigen zum Kampf gegen die Ungläubigen vereinen.
Oder ist die Königsberger Sonntagspost wirklich so blind, daß sie diese Keime
der Verrücktheit und Barbarei in unserm Zeitalter gar nicht wahrnimmt?
Freilich hat sie öfters den Lehrsatz ausgesprochen. die Natur des Menschen
ist immer gut! da aber die Geschichte bekanntlich vieles Bö,e enthält, und
die Geschichte für den gewöhnlichen Blick des Sterblichen nur von Menschen
gemacht wird, so werden diese Anhänger des sonderbarsten aller Grundsatze
zur Erklärung der Geschichte wol deu Teufel zu Hilfe nehmen müssen. Mr
erlauben uns die bescheidne Behauptung, daß innerhalb dieses Atonnsmus
bei unserm hauptsächlich durch Eugen Tue und ähnliche Propheten vor¬
gebildeten Publicum die ausgemachtesten Charlatane den. größten Anklang
finden würden.
Noch einmal: wir sind keine Propheten, aber wir erlauben uns doch die
Behauptung. daß wenn man sich diese absurde Voraussetzung als möglich
und wirklich denkt, in dreißig Jahren folgendes das Endresultat ,ein würde:
Deutschland würde katholisch sein.
Die Reformation war. wie wir bereits bemerkten, durchführbar, wert
Luther mit dem vollen Glauben eiues wirklichen Berufs auftrat; sie schlug
zum Heil aus. weil er mit seiner dämonischen Kraft einen unüberwindlichen
despotischen Ordnungssinn verband. Er konnte das alte Kirchengebäude ein-
reißen. weil sein Wille sicher und seine Hand sest genug war. um sofort em
neues aufzurichten. Man hat sich oft über die Härte beschwert, mit welcher
er Karlstadt, den Wiedertäufern und andern subMven Propheten entgegentrat;
wo nahm er. fragt man. das Recht her, gegen andere despotisch zu sem. da
er selber doch den Despotismus bekämpfte ? Er nahm das Recht ans feinem
Glauben, der ihn keinen Augenblick im Zweifel darüber ließ, daß er nur den
Willen Gottes durchführe; er nahm den Inhalt seines Glaubens aus seinem
Jnstinct für Ordnung; er bewies seinen Beruf, indem er. der arme Doctor,
der Diener seines Kurfürsten, mit einem Despotismus ohne Gleichen Deutsch¬
land beherrschte. Nachher konnte er sterben, denn sein Gebäude stand fest;
25 Jahre vorher hätten Karlsstadt, die Wiedertäufer und die andern subjec-
tiven Propheten, wenn man sie frei gewähren ließ, das Reich wieder der
katholischen Kirche überliefert. Was Luther im Großen war, das waren
Knox und Calvin im Kleinen: haue Eichenherzen, gar nicht.sentimental, gar
nicht rücksichtsvoll, garnicht geistreich; aber ihr Wille war souverän. spottet
nur über ihre Einseitigkeit! freut euch eurer erweiterten höheren Bildung,
wrer größern Humanität! Ihr werdet freilich dem Teufel kein Tintenfaß ans
Gesicht werfen, aber ihr werdet auch keine neue Kirche gründen. Rüttelt
nicht an dem alten Gebäude, dessen Ruinen euch begraben würden! Oder wenn
euch das zu herausfordernd klingt, so setzt „wir" statt „ihr", „wir" sind auch
damit einverstanden.
Die evangelische Kirche ist nothwendig als streitende Kirche gegen den
Katholicismus; sie lst nothwendig als streitende Kirche gegen Barbarei und
Bestialität; sie ist endlich unsre geschichtliche Heimath, das altgewohnte
Haus unsrer theuersten Empfindungen. Auch wir halten sie der Verbesserung
für bedürftig und für fähig, aber der angestrebte Weg ist ein falscher. Die
Verbesserung der evangelischen Kirche ersolgt durch den Fortschritt der Wissen¬
schaft und des Staats; das Gedeihen der Kirche hängt von ihrer innigen
Verbindung mit beiden ab.
Nicht das souveräne Belieben der Masse soll die Kirche hervorbringen,
aber sie steht mit der Bildung der Masse in inniger Wechselwirkung. Sorgt
für gute Schulen bis in die untersten Kreise des Volks herab, und die Uni¬
versitäten, die Pflanzschulen der Geistlichen, werden nicht daran denken, eine
Bildung zu verbreiten, die der allgemeinen Bildung, der wirklich allgemeinen
widerstrebt; gebt gute Gesetze, pflegt und erweitert die bestehenden Organi¬
sationen des Volkes, damit die Arbeit des Werkeltags von Segen sei, und
es wird dem Sonntag eine aufrichtige Andacht entgegenbringen. Wir haben
schon früher auseinandergesetzt, daß wir selber das schöne Amt eines Geist¬
lichen nicht auf uns nehmen können; aber dafür können wir sorgen, daß die
alte Theologie, die byzantinische Dogmatik nicht wieder aus dem Schutt her¬
vorgezogen werde. Die Geistlichen sollen Seelsorger sein und nicht theologische
Streithengste. Auch hier geht das Uebel von den großen Städten aus, wo
die Wirksamkeit der Geistlichen freilich eine sehr eingeschränkte ist.
Der leitende Grundsatz alles wahren Fortschritts ist, daß jeder an seinem
Platz seine Schuldigkeit thut, und sich nicht etwa einbildet, die Rechtfertigung
Gottes in dem Weltganzen übernehmen zu müssen. Wir, so weit wir den ge¬
lehrten Kreisen angehören, haben die Wissenschaft zu Pflegen, wie sie als das
Erbe der Griechen durch das unsterbliche Wirken unsrer classischen Literatur
uns überliefert ist; in dieser Beziehung sind wir vollkommen frei, jede Accom-
modation entwürdigt die Heiligkeit des Gedankens. Wir als Bürger haben
nach bester Einsicht für das Wohl der Gemeinde und des ganzen Staats ein¬
zutreten, unsern Willen aber dem Gesetz und dem Gemeinwillen unterzuordnen.
Wir als Mitglieder der historischen Kirche haben uns daran zu erinnern, daß
diese Kirche, auch wenn sie nicht durchweg in reinen Händen ist, eine heilige
Mission zur Erziehung des Volks, eine Pflegerin des Ideals, ein Erinnerungs¬
zeichen an den Himmel ist, der das Leben sichtbar umgibt. Je mehr wir
uns überzeugen, daß wir selbst diese Mission nicht ausüben können, da die
Stütze einer höheren Autorität uns abgeht, desto schonender müssen wir gegen
den Standpunkt unsrer Brüder sein, denen dies heilige Amt obliegt. Die
augenblicklichen und localen Uebelstände einer geistlosen Rechtgläubigst drän¬
gen sich freilich dem Einzelnen sehr lebhaft auf. und ein locales Heilmittel,
wie die Gründung einer Separatistengemeinde. mag unter Umständen für das
Ganze unschädlich sein, obgleich es grade für den Gebildeten immer bedenk¬
lich bleibt, sich in einer Sekte dem allgemeinen Leben des Volks zu entziehn.
Aber dies Radicalmittel. allgemein angewandt, würde die Auflösung des
ganzen Organismus zur Folge haben. Freilich ist es unbequem, wenn e.n
doctrinäres Konsistorium oder ein ooctrinärer Oberkirchenrath seine verlebten
Doctrinen in der gesammten Kirche geltend macht; aber besser diese Doctrinen
als die Freilassung der subjectiven Schwärmerei! So trotzig ein reaktionärer
Oberkirchenrath oder ein reactionäres Konsistorium uns. der Masse der Ge¬
lehrten und Gebildeten gegenüber auftritt, so haben wir doch aus Konsistorien
und Facultäten indirect einen weit größern Einfluß, als auf den ungegliederten
Pöbel. Die Manie des Tischrückens war unschädlich, aber was für Manier
aller Art würden sich nicht der Masse bemächtigen, wenn die Subjectwitüt in
einer festen Ordnung der Kirche keinen Widerstand fände!
Vielleicht findet man in unsern Ansichten einen Widerspruch; vielleicht
findet man die Forderung, daß der Staat keine Theologie treiben solle, mit
d°r Forderung, daß die protestantische Kirche mit dem protestantischen Staate
in innigem Zusammenhang bleiben solle, unvereinbar. Daraus haben wir
Folgendes zu erwidern.
Nicht blos vom Staat wünschen wir. daß- er sich von der Theologie frei
halte, sondern wir wünschen auch von der Kirche, daß sie die Theologie nur
in ihren Mußestunden treibe. In dieser Beziehung stehen wir auf dem Boden
Kants. Herders und Schleiermachers. Der Prediger sei ein Seelsorger, kein
Kasuist.
Ferner lassen wir den principiellen Unterschied, den man namentlich in
einem Theil der Demokratie zwischen Staat und Gemeinde macht, nicht gelten.
Es ist das auch eine von jenen unglückseligen Abstractionen, durch die in
unsre Begriffe eine babylonische Verwirrung gekommen ist. Politische Gewalt
ist Politische Gewalt, mag ihr Umfang groß oder klein sein. Gleichviel ob
von der durch die Stände controlirten Staatsregierung oder von dem durch
die Stadtverordneten controlirten Magistrat, von dem durch den Kreistag con¬
trolirten Landrcrth oder von dem durch die Gemeindeältesten controlirten Schulzen
die Rede ist : überall sind es politische Gewalten, und weder das Ministerium
noch der Magistrat, weder der Landrath noch der Schulze sollen als solche
Theologie treiben; sie sollen ihre Maßregeln lediglich nach dem Gesetz und
den bürgerlichen Interessen einrichten. Es ist keine leere Formel, wenn man
die Kirchengemeinde von der politischen Gemeinde trennt, auch in dem Fall,
daß beide die nämlichen Individuen enthalten; es ist keine bloße Vcxation,
wenn sowol die Kirchengemeinden als die Prediger durch Landesconsistorien über¬
wacht werden, die vorläufig die Einheit der Kirche vertreten und die zur or¬
ganischen Einheit der Kirche nöthig sind, auch wenn für den Augenblick gegen ihre
Zusammensetzung manches eingewendet werden könnte. Es ist keine leere Formel,
wenn man in der Obrigkeit (nicht blos in dem König) die bischöfliche von der
politischen Gewalt scheidet. Dies ist die historische Grundlage unsrer Re¬
formation und unsrer Kirchenverfassung, sie ist vorläufig durch nichts zu er¬
setzen, am wenigsten durch Synoden und Concile, die sich nie einigen, nie eine
wirkliche Autorität erzwingen würden, wie das auch alle Versuche der letzten
Tage gelehrt haben. Wenn man uns vorwirft, in dieser Auffassung der Kirche
mit der äußersten Rechten auf gleichem Boden zu stehen, so geben wir das zu,
aber nur, weil wir fest überzeugt sind, in dieser Weise einzig und allein ohne
die Gefahr des Auseinanderfallens eine wirkliche Reform hervorzubringen,
die das ins Leben ruft, was in der gegenwärtigen Kirche im Keim bereits
vollständig enthalten ist.
Nirgend vielleicht empfindet der in Griechenland Reisende den Wider¬
spruch zwischen der Vorstellung, die sich in der Seele der meisten mit dem
Namen Arkadiens verbindet, und dem wirklichen Arkadien so lebhaft, als
wenn er von der Stätte Olympias den Weg nach Norden einschlägt, und
durch die wildromantische, von prächtigen Fichten und Eichen beschattete Fels¬
schlucht, die hier vom Thal des Alpheus abzweigt, nach der Hochebene von
Laka hinaufsteigt. Hinter, unter ihm und in ihm. in der Erinnerung aufge¬
hoben, schlängelt sich ein Flußthal hin, welches zu den anmuthigsten von
Griechenland zählt: wechselvoll geformte Hügelwünde. ein klares, tiefes, rasch-
strömendcs Wasser, brcitwipfelige. mit Neben und Epheu umwundene Bäume,
blütenreiche Sträucher, bald träumerische Schatten, bald sonnige Stille bilden
einen Naturpark, in dein man, wenn die Landkarte ihn nicht in die Grenzen
von Elis verwiese, glauben könnte, sein Arkadien, das lange vergebens ge¬
suchte, das Arkadien der Dichter, endlich gefunden zu haben. Ohne zu viel
Aufwand von Phantasie könnte sich der Reisende auf die einsame Waldblöße
hier das Idyll eines Menalkas und einer Chlov denken, die sich, die Locken
mit Rosen bekränzt, nur von ihrer Heerde und den befreundeten Druden ge¬
hört, in melodischem Wechselqesang ihre Liebe erklären. Nur der Stimmung
der Landschaft nachgebend, könnte er erwarten, unter dem Schirmdach der
Pinie in der grünen Quellenschlucht dort überm Strome den alten Pan bei
seiner alten Beschäftigung zu treffen, das Geheimniß des Waldes mit seiner
Flöte in Töne zu verwandeln, könnte er. um eine Windung des Fluges bre-
gend. jenseits unter dem hohen Gestade, von Oleanderbüschen halb verborgen,
badende Nymphen vermuthen und in dem Plätschern der Wellen schon ehr
Hüpfen und Kichern zu hören meinen. Ganz anders ist es hier oben, wenn
der Wald auseinandergeht, und der Wanderer auf die erste Stufe des arka¬
dischen Hochgebirgs hinaustritt. Begleitete ihn dort das Bild des .alten
Griechenland mit' den freundlichsten seiner Phantasieschöpfungen, so Hort hier
oben auf der öden, wcchsellosen. denn- und wasserarmen Fläche und unter
dem kalten Hauche der sie umstarrendeu Gebirgsketten das Spiel der Phan¬
tasie auf. und statt des Arkadien der Einbildung tritt ihm der am wenigsten
schöne Theil des wirklichen entgegen, eine Landschaft, die mit ihren nackten
Berggipfeln, ihren nur mit Farrenkraut und Zwiebelgewächsen bekleideten
, Hochebenen, ihren finstern Thälern, ihrer Dürftigkeit und Rauhheit ebensowol
in Norwegen oder Nordschottland liegen könnte.
Und diesem ersten Eindruck folgen andere, ähnliche, bis die Wildheit und Un¬
geheuerlichkeit des Landes in dem Gebirgsstock des Chelmos und des Kyllene
ihren Gipfel erreicht, und statt der lieblichen Gestalten des Alphensthales
Gedanken ein Titanen- und Gigantcnstürze und an die Schrecken der Unter¬
welt sich der Seele bemächtigen. Die Erinnerung, daß in diesen finstern
Gründen der erymanthische Eber und das grause Geschlecht der stymphalischen
Vögel hauste, das; in diesen Bergschluchten die Styx entspringt und der ge¬
heimnißvolle See von Pheneos seine Wellen schlägt, steigert die Stimmung,
welche die Betrachtung der Landschaft hervorruft. Die Einsamkeit der Gegend
und die Beschaffenheit der Wege, welche nur selten zu zweien nebeneinander
zu reiten erlauben, begünstigen das Brüten über jenen Erinnerungen, und
wenn dann noch, wie hier häufig geschieht, tagelange Gewitter um die Berge
zucken und durch die Thäler brüllen, so ist in der That alles vereinigt, was
das Gemüth mit Schauer und Schrecken erfüllt.
Ein solches Gewitter begrüßte unsere kleine Karavane gleich in den ersten
Stunden, die wir hier zubrachten. Es war auf dem Wege von Laka nach
Kalabryta. Wir waren erst über die steppenartige Hochfläche, dann durch
ein Thal zwischen den Hügeln, welche das Plateau im Norden einfassen, und
zuletzt durch einen zwei Stunden langen Eichenwald geritten und hatten auf
dieser ganzen Strecke nur einmal Menschen getroffen. Ein Dorf. das wir
jenseits des Waldes erreichten, schien keine Bewohner zu haben. Wir ritten
weiter in das Thal eines Nebenflusses der Erymanthus hinab, und auch hier
war keine Seele zu erblicken. Es war auffallend schwül, und um die Gipfel
des Gebirges vor uns wälzten sich dunkelgraue Wolken. Es schien ein
schweres Wetter im Anzüge, indeß vertrauten wir unserm guten Glück, das
uns bisher die Wolken fern gehalten, und da der Magen gerechtfertigte An¬
sprüche auf ein Frühstück erhob und die Packthiere mit den Vorräthen zur
Hand waren, so wurde unter einer Steineiche am Flusse Halt gemacht und
das Mahl bereitet. Die Pferde wurden abgesattelt, und nach einer nahen
Wiese auf die Weide geschickt, die Maulthiere abgeladen und das Gepäck
unter den Baum geschichtet und mit wasserdichten Decken gegen etwaige Güsse
geschützt. Der Bach gab Wasser, die große Holzflasche unseres Führers den
gewohnten Harzwein, ein Nasenfleck, mit einer Serviette gedeckt, einen leid¬
lich bequemen Tisch, die Wurzeln der Eiche brauchbare Stühle. Wir waren
im besten Schmausen, als plötzlich ein gewaltiger Donnerschlag mit seinem
Widerhall die Berge erschütterte. Wir blickten auf. und sahen, wie der ganze
Höhenzug vor uns bis in die Hälfte seines Abhangs in schwarze Regenwolken
gehüllt war. Bald nachher quollen die wohlbekannten bleifarbenen Gewitter¬
dünste nach, der blaue Himmel zog sich über uns zu einem kleinen Fleck zu¬
sammen und verschwand endlich ganz. Die ersten Bliye zuckten, die ersten
schweren Tropfen schlugen durch das Wipfeldach aus die Decken, unter die
wir uns geflüchtet, und eine halbe Minute später war das Gewitter im
vollen Wüthen. Wie eine Sündflut strömte der wolkenbruchartige Regen
herab. Blitz auf Blitz fuhr, nach dem sofort aufkrachenden Donner zu ur¬
theilen, in unmittelbarer Nähe von uns in den Erdboden. Ein Donnerecho
drängte das andere. Wiederholt waren wir aus Augenblicke in rothen Glut-
schcin gehüllt, als ob der Strahl unsern Baum getroffen. Der Rasen
dampfte. Der Fluß stürzte, vom Regen gepeitscht, mit schmuzigen Schaum
bedeckt, gelbe Wellen schlagend, wie in rasender Angst an uns vorüber. Die
'Berge hielten das Wetter eingeklemmt, und fast zwei Stunden sahen wir,
bald näher, bald ferner die Blätter und Gräser die feurige Lohe wiederspie¬
geln. Anfangs waren uns Gedanken an die Regel aufgestoßen, welche bei
Gewittern sich von Bäumen zu entfernen gebietet, aber Ermüdung und Be¬
quemlichkeit ließen uns die Mahnung mißachten, und über den Rest von Skrupel
half mir der Fatalismus hinweg, der auf Reisen in gefährlichen Gegenden
zur andern Natur wird, vielleicht auch in der Luft des Orients liegt. Indeß
darf ich nicht verschweigen, daß ich mich an einem von unserem Führer ange¬
regten Gespräch über Unsterblichkeit mit größerer Lebhaftigkeit betheiligte, als
dies vermuthlich der Fall gewesen sein würde, wenn der Gegenstand bei hei¬
term Himmel zur Sprache gebracht worden wäre.
Der Regen ließ endlich nach, es hörte auf zu blitzen und durch die sich
trennenden Wolken lächelte wieder der griechische Himmel. Aber noch lauge
hingen die Kämme und Gipfel des Gebirges voll graue Dunstschichten, und
bis gegen Abend grollte es hinter uns und neben uns von fernen Donnern.
Die Nacht wurde vor dem Khan von Tripotamo. in der Nähe der Rinnen
von Psophis zugebracht. Der nächste Tag führte uns auf rauhen Wegen
nach Kala bryta. wo wir. unterwegs von einem abermaligen Geode er er¬
eilt, bis auf die Haut durchnäßt anlangten. Kalabryta. an der Stelle des
alten Kynätha gelegen, ist eine kleine hübsche Bergstadt, über der aus einem
schroffen Felskegel die Trümmer einer mittelalterlichen Burg ragen, ^in Uev-
ngen mag erwähnt werden, daß hier der Erzbischof Germanos von Patras
im Jahr 1821 zuerst die Fahne zum Kampf mit den Türken aufpflanzte, ^n
der Nachbarschaft entspringt der Erasmus. der hastigen Laufes durch em met¬
gewundenes, von steilen Nagelfluhwänden eingeschlossenes Thal dem Küsten-
saum von Achaja zuströmt. Indem wir am folgenden Tage in ^ches äsen
hmeinmten. gelangten wir nach etwa zwei Stunden nach dem großen Höhten-
kloster Megaspil'non. welches von allen Reisenden, die in diese Gegend
kommen, besucht zu werden pflegt, und in der That zu den Sehenswürdig¬
keiten des Peloponnes gehört. ^ ^ - . ^
Schon in der Ferne werden einlezne Nebengebäude des Klosters gleich
Vogelnestern an der Felswand hängend sichtbar. Weiterhin gewahrt man am
Abhang eine grüne Stelle, mit einigen schwarzen Cypressen und andern Bäumen,
den Garten der Mönche. Dann führt an einem Punkte, wo der Fluß in
tief ausgehöhlter Schlucht strömt, eine steinerne Bogenbrücke aus die andere
Seite, wo der Weg sich im Zickzack den Berg emporschlängelt. Endlich er¬
scheint über den Wipfeln des Gartens, unter einen überhangenden Felsen ge¬
duckt, das Hauptgebäude, eine hohe Quadermauer, aus welcher em seltsames
Genist unregelmäßig übereinandergeklebter. vielfenstriger Stockwerke steht,
der Mitte des halbmondförmig eingebogenen Baues befindet sich ein erkerartig
vortretendes Glockenhaus, neben welchem Holzgalerien über die Front hin¬
laufen. Das Kloster hat seinen Namen von der großen Höhle, vor deren
Mündung es sich erhebt. Dieselbe geht gegen neunzig Fuß in den Berg
hinein und mag vorn doppelt so breit sein. In ihr wurde nach griechischer
Legende von der heiligen Euphrosyne ein von dem Evangelisten Lukas ge¬
fertigtes Bild der Gottesmutter mit dem Kinde gesunden, woraus sich srmnme
Siedler Hierherzogen und die Grotte in eine Kirche verwandelten. Der
Grundstein zu dem jetzigen Kloster wurde vom Kaiser Johannes Kantakuzeno
gelegt, unter Constantin Paläologus soll es vollendet worden sein. Später
litt es wiederholt durch Feuersbrünste. 1826 vertheidigten sich die Mönche mit
Hilfe einer Anzahl von Pallikaren tapfer gegen die Aegupter Ibrahim Paschas,
die. als sich mit Sturmlausen nichts ausrichten ließ und eine Beschießung uut
grobem Geschütz der Oertlichkeit wegen unthunlich war, von der überhangenden
Klippe Steinblöcke auf die Belagerten herabrollen ließen. Auch damit kam
wan nicht zum Ziele. Die Blöcke fielen — nach dem Glauben der Mönche
durch wunderbare Fügung — statt auf das Dach, in den Garten, und die
Kinder Hagars mußten das Kloster den Christen lassen, nachdem sie bei den
wiederholten Stürmen eine beträchtliche Anzahl der Ihren verloren hatten.
Megaspiläon gehört zu den sogenannten idiorhythmischen Klöstern, d. h. es
hat keinen Abt (Jgumenos), sondern wird von Vertrauensmännern der Ge¬
meinschaft (Epitrovoi) verwaltet, die jedes Jahr neu gewählt werden. Die
Zahl der Mönche beträgt etwa dreihundert, indeß befindet sich in der Regel
die größere Hälfte derselben auswärts, in den Metochien, Vorwerken oder
Nebcnklöstenr, deren diese Gemeinde besonders in der fruchtbaren Ebne
von Elis mehre besitzt. Wir fanden eine Anzahl der frommen Väter
vor dem Portal mit süßem Nichtsthun beschäftigt, die langen Patriarchcn-
bärte streichend. mit den Fingern vor dem Bauch Mühle spielend
u. s. w. Keiner war, der ein Buch in der Hand gehabt Hütte. Sie
trugen die Tracht der griechischen Landgeistlichen: die bekannte schwarze Popen¬
mütze, schwarze oder dunkelblaue Talare, Beinkleider von gleicher Farbe und
schwarze Schuhe. Ein intelligentes Gesicht war nicht unter ihnen. Unserm
Wunsche, das Innere zu sehen, wurde bereitwillig entsprochen. Ein Pförtner
mit einem großen Schlüsselbund führte uus durch die dunkeln Gänge des
Erdgeschosses, in das Refectorium, die Bäckerei, den Keller, in die Kapelle
wo das Wunderbild aufbewahrt wird, und durch die Corridore, auf welche
die Zellen münden. Ich war froh. als dieser pflichtmäßige Gang abgethan
war. Klosteratmosphäre war nie nach meinem Geschmack. Die hiesige war
wie die aller andern, die ich bis dahin besucht, ein Gemisch vou Küchendunst,
Weihrauchduft und Geruch von Schweiß — dem Schweiß der Trägheit, nur
machte sich hier noch das landesübliche Parfüm von Knoblauch den Geruchs¬
nerven bemerklich.
Die Kapelle ist, wie alle griechischen Kirchen und Kapellen, reich an
Gold« und Silberschmuck, mannshohen massiven Leuchtern, in Silber getriebenen
Heiligenbildern, Teppichen und allerlei kostbarem, aber meist plumpem Schnör¬
kelwerk. Sie hat einen alten Mosaikfußboden und ein gutes, vom
Petersburger Hofe hierher geschenktes Gemälde, welches die Scene in
Gethsemane darstellt. An der Scheidewand, welche das Allerheiligste vom
Schiff trennt, der Jkonvstasis. ist der Schrank angebracht, welcher
das Wunderbild der Gottesmutter enthält. Dasselbe ist etwa zwanzig
Zoll hoch und spricht eben nicht für den Geschmack des heiligen
Lukas. Es besteht aus braunem Harz oder Wachs und hat weit mehr Aehn-
lichkeit mit einem Negersetisch, als mit der Vorstellung, die unsre Kunst sich
von Maria.macht. Mutter und Kind tragen kleine Kronen, die mit Dia¬
manien und Rubinen besetzt sind. Mehre goldne Weihgeschenke, meist in der
Form von Nachahmungen des Bildes, hängen davor; die eine der beiden
Thüren, welche das Heiligthum verschließen, ist mit Silberblech beschlagen,
die andere von Glas. Der ganze Schrein erinnert — natürlich blos abend¬
ländische Ketzer wie wir — wenn er aufgeht, und der kostbare Inhalt, von
den Lampen angestrahlt, uns im Halbdunkel der Höhlenkapelle entgcgen-
funtelt, lebhast an jene portabeln Darstellungen der Krippe von Bethlehem,
mit denen böhmische Volkskünstler die Jahrmärkte beziehen. Der Zindel war
lauteres Gold, der Schmelz echtes Product der Perlenmuschel, das Glas Edel¬
stein, auch fehlte der Leierkasten darunter. Aber die Erklärung, die der Mönch
gab, wurde ganz in dem weinerlichen Collectenton vorgetragen, indem jene
Jahrmarktskrippen erläutert zu werden pflegen. Die Reliefs auf der silbernen
Schrankthür scheinen sehr alt zu sein. Indeß kann die Form täuschen, da
dle neugriechische Kunst grundsätzlich stabil ist. Die Figuren aus der mit
Messingblech überzogenen Thür der Kapelle haben gleichfalls einen Stil, der in
die Zeit der Pnläologen zurückweist, sind aber in Wahrheit nicht viel älter
als sechzig Jahre.
Der Speisesaal der Mönche ist schmuzig und ärmlich. Im Keller, der
sich unmittelbar unter der Kapelle hinzieht, wurden uns mehre sehr lange
Fässer gezeigt, die in der Form unsern Fischrcußen gleichen und nach Heiligen
benannt sind. Diese Heiligen imponirten uns Heiden, sollte doch der höl¬
zerne Rock des einen— irre ich nicht, so wars ein Hagios Charolambos —
uach unserm Maß an siebzigtausend Kannen Traubenblut sassen können. Ich
dachte an Orgeischall und kühlen Klostcrwem, und es regte sich in mir ein
stomm inbrünstiges Begehren, von dem Blute des heiligen Mannes zu kosten.
Allein der Mönch, der uns begleitet, schüttelte, als Spno ihm meine Sehn¬
sucht verdolmetschte, traurig den Kopf, sprach von Traubenfäule und schlechten
Weinjahren und klopfte zum Beweis, daß mein Heiliger an absolutem Blut¬
mangel litt, nu den Bauch des Fasses, welches in der That leer war. nieder¬
geschlagen entfernten wir uns. Daß die Mönche wenig Geist haben, daß
das reiche Kloster nicht einmal eine erwähnenswerthe Bibliothek besitzt, war
erklärlich und ging, bei Licht besehn, nur die Mönche und ihr Kloster an;
daß sie auch keinen Wein im Keller hatten, war viel betrübender und mußte
um so tramiger stimmen, als unsere getreue Nezinatflasche durch ein bekla-
genswerthes Mißverständniß mit den Maulthieren einen nähern Weg uach
den Fällen des Seur, gegangen war, nach denen wir nun aufbrachen.
Der Weg von Megaspiläou nach solos, in dessen Nähe die Styx ent¬
springt, beträgt etwa vier Stunden. Er windet sich zunächst vollends den
^erg hinauf, gewährt oben zwischen den prächtigen Edeltannen, mit denen
die Höhe bewachsen ist, eine überraschende Dvppelaussicht, nach der einen
Seite ans den Kessel vor Kalabryta und den schöngeformten, mit Schnee be¬
deckten Gebirgsstock des Cheimos, nach der andern auf eine dunkelblaue Bucht
des Golfs von Korinth, und steigt dann in einen tiefen, mit zahlreichen Kas¬
kaden eines Baches geschmückten einsamen Waldgrund hinab, in dem man in
einem der Thaler des Harzes oder der Rhön zu sein glauben kann. Seltsam
gestaltete, wild zerklüftete und durchcinandergeworsene Felsblöcke liegen im
Bette des Baches und drohen zwischen den Zweigen und Wurzeln der Tan¬
nen von den Abhängen herab mit neuen Stürzen. Aus wundersam gebil¬
deten Astlöchern blickt der Geist des Waldes den Wanderer mit starrem Auge
an. Ueberall herrscht die Stille des großen Pan. Endlich wird der Wald
lichter, aber die Gegend, die sich jetzt öffnet, stimmt noch weit mehr zur
Schwermuth. Es ist ein weiter öder Kessel, auf dem Boden Weideland,
an den Seiten der Berge Gestrüpp, an den Kämmen, zu denen der Pfad in
verschiedene Zweige.getheilt, hinaufklettert, einzelne Schneestreifen. Schweigend
waren wir auf der Thalsohle hingeritten. Schweigen und ein durch Dünste
gedämpftes Nachmittagslicht bedeckte die Landschaft. Die Luft war kalt, denn
wir befanden uns an fünftausend Fuß über dem Meeresspiegel. Dünne,
durchsichtige Wolken glitten wie riesenhafte Geistergestalten um die Berghänge.
Ueber der See jenseits des Klosters erhob sich ein schwarzes Wetter mit senk¬
recht fallenden Negcnstrahlen und häufigen Blitzen. Die Blitze waren stumm,
und das Gewitter zog nach einer andern Seite, als dürfte es die Einsamkeit
und Stille des Thales nicht stören, als wäre es blos erschienen, um uns die
rechte Stimmung an den Pforten der Unterwelt zu geben. Dagegen schwebten
jene dünnen Wolken uns, als wir den Berg zur Rechten erstiegen, näher und
näher, und als der Führer, auf dem Kamme angelangt, den Weg verloren
hatte und unschlüssig stehen blieb, fühlten wir ihren feuchtkalten Hauch an
der Wange und auf den erstarrenden Händen.
Wir waren endlich von so dichtem Nebel umgeben, daß wir keine zwanzig
Schritt vor uns sehen konnten. Die Sonne schien von oben mit einem
winterlichen Licht, weißlich wie der Mond. Hier und da blickte ein Schnee¬
streifen, sich von der braunen Klippe, auf der er lag, absehend, durch den
Dunstschleier hindurch. Wir konnten nicht fern mehr von solos sei», aber
es war möglich, daß die Wolke, in der wir standen, bis zum Abend
hier lagerte, und dann hätten wir die Nacht im Freien zubringen müssen.
Schaudernd vor Frost, suchte ich den Nest von Ergebung ins Unvermeidliche,
der mir nach der Enttäuschung im Klosterkeller und nach dem beschwerlichen
Ritt durch den Waldgrund des Krathis geblieben, zusammen, während Spiro
bald hierhin, bald dorthin reitend seine Augen anstrengte, den Verlornen Weg
zu entdecken.
Wiederholt kam er unverrichteter Sache zurück. Da plötzlich wich der
Nebel auf der einen Seite, und über den weißen Dünsten erhob sich, grausen-
voll anzusehen, schwarz beschattet, von weißen Schneerinnen gefurcht, gleich
dem Haupte eines wüsten Niesen, der Vater der Styx. der Gipfel des Chel-
wvs vor uns. Die Wolke that sich weiter aus. und der ganze mächtige Berg
drang mit seinen schwarzen Tannen auf grauem Gestein, seinen unheimlichen
Schluchten und Ncbelgebilden auf uns ein. Ein frischer Wind öffnete das
Wolkenthor noch weiter, und uun sahen wir in ein halb in wandernde Schat¬
ten gehülltes, halb beleuchtetes Thal hinab. durch das sich, mindestens zwei¬
tausend Fuß unter unserm Standort ein grünlicher Fluß hinwand, welcher,
der Seite des Berges entquollen, als dünne, weiße Schaumkaskade in neh-
men Abfäsen in eine dunkle Schlucht hinabstürzte. Es war die Styx. der
Grenzstrom der Unterwelt, das giftige Wasser des Schattenlandes, bei dem
die Götter ihre heiligsten Eide schwuren.
Man denkt auf Reisen in Griechenland an mancherlei Bilder des Alter¬
thums lebhafter, als daheim. Man wird aber auch über Manches enttäuscht,
indem man es kleiner findet, als man sichs selbst geschaffen. Auch das Thal
der Styx mag bei anderer Beleuchtung kein Ort des Grauens sein. In
dieser Beschattung, in dem trostlos unwirthlichen Dämmerlicht, welches darüber
ausgegossen war. als wir in seine Tiefe hinabschauten, nach dieser Vorbereitung
durch 'Einsamkeit, webende Wolken, feuchte Kälte, Verwirrung und Einengung
des Gesichtskreises durch schwankende Dünste, in diesem unheimlichen Wechsel
matter, fahler Sonnenblicke und dunkelnder Stellen an den Berghängen, in
diesem Verfließen und Schwanken der Gestaltung des Thales, über dem un-
verrückt und ewig der finstre, mit dem Schnee des Alters bedeckte Chelmos
emporstarrte, war die Landschaft düsterer und schauerlicher, als ich mir
die Unterwelt Homers gedacht. Die Züge von Nebeln, welche über
den Wasserfall "hinwallten, nahmen Gestalt an und glichen den Sche¬
inen, die mir erschienen waren, wenn ich von der Todtenbeschwörung
des Odysseus gelesen. Die grünliche Farbe des Gesteins an den Seiten
des beleuchteten Theils der Gegend und im Bette des Flusses ließ an
Grünspcchn denken. Die Kahlheit und Nacktheit der Kesselwände unmittelbar
unter uns machte den Eindruck, als ob hier überhaupt kein Leben gediehe.
Wenn seitwärts ein Thal mit zahlreichen Dörfern und ihren Baumgnrten
sich öffnete, so hing darüber eine nachtschwarze Wolle, welche die freundlich
rothen Dächer und die lcbensgrünen Wipfel so seltsam beschattete, daß man
sie für eine bloße Fata Morgana halten konnte, hierher gezaubert, um die
zum Nichts verdammten Seelen im Orkus durch den Schein unerreichbarer
Genüsse zu peinigen. Wenn die hellenische Mythe ihre Bilder der Unterwelt
von hier nahm, so hat sie die Styx so wie wir sie sahen, vor Augen gehabt.
In dieser Gestalt ist sie und ihr Thal der großartigste, überwältigendste Aus¬
druck des primitiven Grauens und Wolkendunkels, aus welchem die ersten
Strömungen irdischen Lebens entsprangen, und zugleich das entsprechendste
Bild sür die Zustände, in welche nach dem Glauben der alten Welt diese
Ströme sich wiederum verlaufen.
Geraume Zeit standen wir sprachlos vor dem unheimlichen Schauspiel.
Da drohten neue Wolken, und einzelne Tropfen mahnten an den Aufbruch.
Langsam stiegen wir in das Thal hinab, die Pferde hinter uns am Zügel,
die Augen unverwandt in die Tiefe gerichtet, wo der Geistertanz der Dünste
noch immer um die Ufer des Flusses schwebte. Der losbrechende Regen störte
die Poesie dieses halb träumerischen, halb wachen Ganges. Wir übergaben
die Pferde dem Führer und eilten, unter ein Dach zu kommen. Aber eine
reichliche halbe Stunde währte es, ehe wir nach dem ersten Hause der Dörfer¬
gruppe hinabgclangtcn, welche hier an den Abhängen steht, und als wir matt
und durchnäßt hier eintrafen, erfuhren wir, daß unsre Maulthiere mit den
Betten und Kochgeräthen, die uns hier erwarten sollten, noch unterwegs
waren. Christo, der Maulthiertreiber, war ein langsamer Bursche, und die
ihm aus Unvorsichtigkeit anvertraute Weinflasche hatte, wie später seine
stieren Augen zeigten, nicht dazu beigetragen, seinen Gang sicherer und rascher
zu machen. Wir konnten in die unbehagliche Lage kommen, uns die Nacht
mit einem Lager auf dem Erdboden am Herde des Hauses begnügen zu
müssen, in das wir eingetreten waren, und welches eben kein Muster der
Reinlichkeit und Wohnlichkeit war. Da sandte unser guter Stern uns einen
Retter in der Noth. Eben singen wir an, den Rauch unbequem zu finden,
der das Gemach erfüllte, und düstere Betrachtungen anzustellen, ob einer der
Hunde in demselben so gefällig sein würde, uns während der Nacht zum Kopf¬
kissen zu dienen, als ein fränkisch gekleideter Herr eintrat, der, nachdem er
einige Worte mit dem Wirth gewechselt, sich in italienischer Sprache an
meinen Reisegefährten wendete und fragte, ob wir es unthunlich finden wür¬
den, wenn er uns vorschlüge, ihm noch eine halbe Stunde weiter auf das
andere Ufer der Styx (die beiläufig jetzt in Prosa Mavronero d. i. Schwarz¬
wasser heißt) zu folgen, wo er sich freuen würde, uns bessere Unterkunft bieten
zu können. Es war das erste Beispiel griechischer Gastfreundschaft, welches
uns.vorkam, und natürlich nahmen wir das Anerbieten sofort an, und obwol
der Regen wie mit Kannen herabgoß, brachen wir ohne Verzug auf. Unser
rascher Entschluß wurde belohnt. Nach einigem Ab- und Aufklettern waren
wir in einem guten Hause auf dem gegenüberliegenden Abhang des Thales
im Trocknen. Das Zimmer, in das unser neuer Freund uns geführt, war
geräumig und reinlich, und hatte sogar Glasfenster. Es erfreute sich eines
europäischen Sophas. eines kleinen Spiegels, einer Reihe von Stahlstichen
unter Glas und Nahmen, und wurde von keinem andern Rauch durchzogen
als dem der Papiercigarren, welche ein alter schnurrbärtiger Pallikaren-
kapitano in brennendrother Tressenjack-e, dergleichen Gamaschen und schnee¬
weißer Fustanella uns zu drehen die Güte hatte..
Der Herr, der uns hierhergeführt, war der Eparchialarzt aus Kalabryta,
der Kapitano sein Schwiegervater. Während dieser nur Griechisch verstand,
und s» sich begnügen mußte, durch freundliche Mienen, gelegentliches Zu¬
nicken und unablässiges Cigarrendre.hen seinen Gästen wissen zu lassen, daß
sie willkommen seiend unterhielt uns der Doctor auf das angenehmste über
Allerlei, vorzüglich über die politischen Zustände des Landes, über die er mit
verstand und Bescheidenheit sprach. Er hatte in Paris und Pavia studirt.
und schien das Bedürfniß zu haben, seine Erinnerungen an die Welt der
Franken wieder einmal aufzufrischen. Im Uebrigen war er guter Patriot,
der die Mängel seines Volkes nach Kräften zu entschuldigen bestrebt war.
von der Zukunft das Beste hoffte, und mit Lebhaftigkeit die Meinung wider¬
legte, als sei man in den gebildeten Kreisen von Hellas der russischen Politik
Zugethan.
Gegen Abend hatte sich das Wetter verzogen, und wer auf das baum¬
reiche Thal mit seinen stattlichen rothen Dörfern, seine,» Feigengärtcn, Wein¬
bergen und Maulbeerpflanzungen hinunterblickte, konnte kaum glauben, daß
diese Landschaft von der Styx bewässert und daß einige tausend Schritt flu߬
aufwärts eine Schlucht sei. die den Alten die Bilder zu ihren: Hades ge¬
liefert. Man hätte dann aber auch noch eins nicht glauben mögen, und doch
>se es begründet. Diese Dörfer, neun an Zahl und in ihrer Gesammtheit
Kluzuna, officiell Nonakris geheißen, sind zum Theil von Leuten bewohnt,
welche die Bettelei als Handwerk betreiben, und zwar liefern sie vorzugsweise
verstellte Blinde, während ein Dorf in Nordgriechenland (Klavara bei Epat-
tos) die angeblich Lahmen stellt. Das Geschäft wird nur von Männern be¬
trieben. Die> Frauen besorgen inzwischen die Haus- und Feldwirthschaft. Zu
Anfang des Frühlings machen sich Scharen von Bewohnern dieser Bettler¬
dörfer auf, um das Land bis uach Konstantinopel zu durchwandern, in Lum¬
pen gekleidet Almosen zu heischen, sich um ein paar Lepta oder Para übel
behandeln zu lassen, mountelaug im Freien zu schlafen— alles, wie es scheint,
lediglich dcshall!, weil es Vater und Großvater so hielte,,, und weil am Ende
der alljährlichen Pilgerschaft die Aussicht winkt, den Winter mit Nichtsthun
zu verbringen. Dann hängt der Bettler seinen Krummstab zu deu etwa schon
vorhandenen andern an die Wand, legt die Lumpen ab und wird Gentleman.
Heute trifft dieser, morgen jener von der Zunft ein, man macht sich Besuche,
erzählt sich von seinen Erlebnissen in Livadien, Thessalien, Makedonien.
Kleinasien', und rühmt sich der Kniffe, mit denen man gearbeitet. Denn als
Arbeit wird das Geschäft allgemein angesehn, und der gilt in der Gemeinde
am meisten, welcher die meisten ^erlaufenen Stäbe an der Wand hängen hat.
So viel Liezen anf dem Rock des Peteranen, so viel Feldzüge; so viel Krumm-
stäbe an der Herdmauer des Kluznnioten, so viel sommerliche Bettclreisen.
Am nächsten Morgen nahmen wir von unserm guten Doctor — er führt
den brillanten Namen Diamantopulos, Diamantensohn — und seinen gast¬
freien Verwandten Abschied, erfreuten uns des Anblicks unserer Maulthiere,
welche in der Nacht eingetroffen waren, und wendeten uns in das Thal,
welches von solos und den übrigen Dörfern der Nonakris nach dem See
von Pheneos (jetzt Phonia) führt. Der See nahm sich mit seinem grün und
blan schillernden Spiegel unter den schwarzbewaldeten, von weißen Wolken
umflogenen Aroaniagebirg ungemein schön aus. Er stand in dieser Jahreszeit
sehr hoch, und war nach Spiros Meinung unergründlich tief. Derselbe Ge¬
lehrte wußte ferner, daß der See keine Fische habe, daß er überhaupt nichts
Lebendes in seinen Fluten dulde, und daß er durch unterirdische Kanäle ab¬
fließe, die sein Wasser jenseit des Gebirges in der Ruhla wieder zu Tage treten ließen.
Wir lassen dies dahingestellt. Gewiß ist nur. daß der See durch zwei von Norden
kommende Bäche gebildet wird, die kurz vor ihrer Mündung in denselben sich
vereinigen, daß er im Südwesten unterirdische Abflüsse, sogenannte Katavothren.
hat, und daß, je nach dem Zustand dieser Kanäle, welche die Mythen auf
Herakles zurückführen, der Spiegel des Sees bald höher, bald tiefer steht. Im
Alterthum müssen die Abflüsse stets offen gewesen sein, da Stellen, wo jev,t Wasser
findet, bebaut waren, und im Nordwesten unter einem isolirten Hügel mit
Ruinen sogar eine Stadt sich ausbreitete. Auch Leake fand 1800 nur einen,
sehr kleinen See. In den zwanziger Jahren aber verstopften sich die Katavo¬
thren, und der See verdoppelte seine Ausdehnung und seine Tiefe. 18:;4
floß er abermals zum großen Theil ab. Jetzt, im Juni 1858, war wieder
mehr als die Hälfte des anderthalb Meilen langen und durchschnittlich andert¬
halb Stunden breiten Thalbcckens mit Wasser bedeckt, und von den Kata¬
vothren nichts zu sehen.
Von ähnlicher Beschaffenheit ist der drei Stunden von hier entfernte
stymphalischc See, den wir am nächsten Tage erreichten. Er hatte für uns
kein anderes Interesse als seine Beziehung zu der Heraklessrge. Von der
Waldung, welche in der mythischen Zeit die Ufer des Sees, der zur Hälfte
ein Sumpf ist. bedeckte, ist nichts mehr vorhanden. Von den menschen-
sressenden Vögeln mit eisernen Schwingen, mit Federn so spij, und scharf wie
Pfeile, stieß uns ebenso wenig etwas auf, nicht einmal das Schlvßenwetter.
welches nach modernster Mythendeutung früher hier geniste! haben und das
Urbild des Vogelschwanns gewesen sein soll, und so gewrgtcn wir wohl-
behalten über die Grenze Arkadiens und hinab nach Sikyon, von wo wir
am nächsten Morgen nach Korinth und am Abend mit dem Lloyddampfer
Die seit einigen Tagen im Gebäude der Kunstakademie ausgestellten Pro-
i^te zu einer Börse für Berlin") geben ein lehrreiches und interessantes Bild
unserer heutigen architektonischen Zustünde und Bestrebungen, Es sind im
Ganzen 28 Entwürfe auf etwa 160 Blättern, von denen die überwiegende
Mehrzahl der berliner, zwei der dresdner, einer der Münchner Schule angehören;
Ncugothiker haben sich bei der Concurrenz nicht betheiligt, wol aber ist ein
Plan im maurischen Stile erschienen. Die modern französische, von Labronste
beeinflußte Architekturrichtung ist gleich der englischen nicht vertreten. Suchen
wir nnn zunächst nach dein Resultat jener zahlreichen Bearbeitungen, so fin-
den wir auch nicht ein Project, das der gestellten Aufgabe wirklich und wahr¬
haftig entspräche, das die Anforderungen, die wir an ein Bvrsengebäude
stellen können und müssen, erfüllte, das des ersten Preises, soll er in Rücksicht
en>f das erreichbare Resultat und nicht im Verhältniß zu den eingegangenen
Arbeiten und der darauf verwandten Mühe verliehen werden, würdig wäre.
Wir finden wol, daß den Bedingungen des aufgestellten Programms meist
genügt ist, aber wir suchen vergebens nach einer Arbeit, die den Stempel einer
bedeutenden Schöpferkraft trüge, die uns packte, überzeugte, ein „so und nicht
anders" abnöthigte, vergebens nach einer Arbeit, die jene Lust, Liebe und
Hingabe, die allein ein freudiges Gelingen verbürgt, jenes innige Versinken
w Geist und Wesen der Aufgabe, in die speciellen Verhältnisse und Bedin¬
gungen, ohne welche die ganze und volle Lösung der Aufgabe im Ganzen und
sollen, in räumlicher Anordnung wie im äußern Aufbau unmöglich ist, geschaffen
hätte. Durchwandern wir die Ausstellungssüle, von brillant gemalten Per¬
spektiven, die das Auge der Laien blenden, unbestochen, überall finden nur
das Allgewöhnliche, das du sollst, du kannst, du sollst nicht, darfst nicht
der Schule. Die Klippe, an der sämmtliche Bearbeitungen scheiterten, ist der
völlige Mangel an wahrhaft monumentaler Erfassung und Durchdringung der
Aufgabe, der Mangel, wenn wir so sagen dürfen, historischen Sinnes.
Die besten und vorzüglichsten Arbeiten gehören der berliner Schule um.
Aber der Fehler jener Schule ist eben der, angeknüpft zu haben an das, was
wir als das Menschliche bezeichnen möchten, das dem Altmeister Schinkel pas-
sirte, an jene Architektur des Putzes und Mörtels; des Scheins und der Un¬
wahrheit, die eine wahrhaft monumentale Entwicklung zur Unmöglichkeit
macht. Sehen wir am Schauspielhause den mächtige Monolithen vorstellen¬
den Kalkbewurf herunterfallen und hinter ihm rohe Ziegclbögcn zum Vorschein
kommen, so finden wir uns getäuscht, betrogen, jene Massen zerfallen in Nichts,
aus den gewaltigen Quadern lugt Hohlheit und Lüge hervor, raubt uns
Halt und Sicherheit, zerfällt vor unsern Augen in Schutt und Staub.
Lei Schinkel dem Meister finden wir es erklärlich, daß er zu solchen Mitteln
seine Zuflucht nahm; war doch seine Aufgabe die, das Formenwesen der Ar¬
chitektur zu reinigen und zu läutern, hingewiesen auf die ewigen endgiltigen
Gesetze griechischer Bauweise. Und diese Aufgabe hat er erfüllt, treulich er¬
füllt. Betrachten wir die Bauten der Meister seiner Zeit, der Gilly und Wein-
brenner und vergleichen sie mit Schinkels Schöpfungen, so staunen wir vor
der Kraft und Größe des Genius, der Werke solcher Reinheit und Keuschheit
hervorzubringen vermochte. Der Verwässerung und dem Ungeschmack gegen¬
über eine neue, reine, wahre, edle Formensprache gewissermaßen neu geschaf¬
fen zu haben, das ist Schinkels unsterbliches Verdienst, das wir uns nicht
rauben lassen können noch dürfen. Aber Schinkel war ein Kind seiner Zeit,
ein Schüler der Winckelmann und Lessing, ein Mitstrebender der Schiller und
Goethe, die Wiedererweckung der Antike, die Reproduction derselben in ihrem
ganzen Wesen und Inhalt galt ihm gleich jenen als Letztes und Höchstes und
mit ihnen vergaß er den Boden, darauf er stand und schuf. Den Glanz und
die Herrlichkeit des Alterthums wollte er erwecken, wie er sie geschaut und ge¬
dacht, und in seiner Begeisterung übersah er, daß er nicht pentelischen Mar¬
mor, nur Kalk und Backstein zur Verfügung hatte. Die Fehler des Genius
ahmen wir nach, weil sie das Endliche, leicht Begreifliche an den Werken der
Meister sind. Die Schüler und Nachfolger Schinkels hielten fest an jener
Architektur des Mörtels, verbreiteten sie von Berlin ans über Deutschland,
und hier wie dort zerfiel nach kurzen Jahren trügerischer Herrlichkeit die aus
Nichts gezauberte Architektur in Nichts.
Aber weiter; die antike Baukunst, die Schinkel begeisterte, war eine eng
begrenzte, nur die engen Kreise antiker Cult- und Lebensverhältnisse erfüllende;
indem Schinkel sie in ihrer Beschränktheit den vielgestalteten, tausend verschie¬
denen Bedürfnissen modernen Lebens anpaßte, ward er Vater jener Lang¬
weiligkeit, welche die Architektur Berlins kennzeichnet, jenes JndisferenUsmus,
der seinen vollendetsten Ausdruck im neuen Museum gefunden hat. Die Fä¬
higkeit einer umfassenden, wir möchten sagen physiognomischen Charatterisnk.
die innerste Wesenheit monumentaler Baukunst, ging ihm verloren über dem
Schema und so blieb nur das Schema, dem sich alles fügen mußte. Und
das Schema ist es, das die Schüler dem Meister abgesehn und dieses Schema,
was jene berliner Concurrenzentwürfe so leer und langweilig macht. Wol
bemühte sich Schinkel monumental zu wirken. aber die Mittel antiker Bau-
Weise beschränken sich nur auf die Säule. So sehn wir Schinkel die Säule
M Kolossalsäule ausdehnen und zwischen sie die Geschosse quetschen, kannten
doch die Alten nur den einstöckigen Porticus: — also mußte jenem Vorbild
gemäß, auch das mehrstöckige Gebäude als eine Süulenstellung wenigstens
erscheinen. Alles ward dem Schema geopfert; mußten auch die charakteri¬
stischen Merkmale weichen, das Schema war gerettet, das Haus präsen'tiree
sich. Wenn auch nur von vorn, als mächtiger Porticus. als Abbild der grie¬
chischen Tempelhalle. Jene kolossalen Säulenstellungen aber sind es, die bei-
^usig gesagt, trotz -himmelweiter Verschiedenheit in der Detailsbildung. Schin¬
kel mit seinen Vorgängern verknüpfen, den Uebergang der Bauweise des
18- Jahrhunderts zu der des 19. bilden. Ward der Mörtel zur Lüge am
Material, so ward das Schema zur Lüge am Wesen des Bauwerks. Gleich
wie Schiller das Wesen der Poesie als dem Leben feindlich begriff, die Tren¬
nung von Kunst und Leben verlangte, so saßte auch Schinkel die Architektur
als clous vom Boden, darauf es doch wachsen, von den Verhältnissen, unter
denen es doch nur erwachsen konnte und sollte. Unabhängiges. Freies auf und
ward unwahr. Und dies der andere Irrthum des nach dem Höchsten stre¬
benden Künstlers. Vermochte nun aber Schinkel nicht das Wesen des Bau¬
werks von Innen heraus zu monumentaler Bedeutung zu entwickeln, trug er
vielmehr das, was ihm zur monumentalen Erscheinung desselben erforderlich
schien, von Außen hinzu, so erreichte er auch eine wahrhaft monumentale
Raumdisposition nicht. Das Innere ward dem Anbau, das Sein dem
Schein geopfert, die Ineinsbildung von Sein und Schein blieb Schinkel ver¬
schlossen und damit der Kern und das Wesen monumentaler Baukunst über¬
haupt. Nicht auf das Nacheinander folgender, sich steigernder Eindrücke, die
auf das Letzte vorbereiten, zu ihm hinführen, mit ihm sich zu harmonischer
Stimmung, zu einer mächtigen Gesammtwirkung verbinden, nicht auf perspec-
tivische Wirkungen, die schon beim Eintritt das Kommende ahnen, das Ganze
in mächtiger Anrede zusammenklingen lassen, die nichts kosten als eine künst¬
lerische Anordnung, acht auf.solche Compositionsgesctze basirte Schinkel seine
Raumbildung. Die vor das Haus gestellte gewaltige Säulenhalle gibt den
Maßstab, läßt alles Folgende klein und ärmlich erscheinen. Statt erhoben zu
werden, fühlt der Beschauer sich gedrückt, das Innere hält nicht, was das
Aeußere versprochen. Wir erwarteten hohe, lichte Räume und finden niedere
Zimmer, wir fühlen uns getäuscht, wir sind verstimmt.
Was dem Vorgänger nicht gelang, gelang den Spätern ebenso wenig.
Eine wahrhaft organische Durchbildung des Grundplans, eine feste rhyth¬
mische Gliederung desselben, eine weise Ökonomie der zu verwendenden Mittel
in Rücksicht auf den zu erreichenden Zweck, eine Steigerung des beim Ein¬
tritt angeklungenen Effects bis zu seiner Erfüllung, mit einem Wort eine gro߬
artige, wahrhaft monumentale Naumorduung suchen wir bei der berliner Schule
umsonst. Vollgültigen Beweis hierfür bietet die Planordnung des neuen Mu¬
seums, bieten die Pläne zur berliner Börse. So macht die Bauthätigkeit der
berliner Schule nach der monumentalen Seite hin durchweg den Eindruck einer
dilettantischen. Man bemüht sich in der überkommenen Schablone und nur
in dieser stilgerecht zu bauen und glaubt das Höchste erreicht zu haben, wenn
das Haus von Außen nur recht zierlich und weißwaschen aussieht. Daß aber
mit solchem Scheinwesen eine rechte und wahre Architektur nicht bestehn kann,
das unterliegt doch wahrlich keinem Zweifel. Das Dauernde, Unvergängliche
ihrer Werke ist es ja eben, was die Baukunst unter den Schwesterkünsten zur
ausschließlich monumentalen Kunst macht; in seinen Bauwerken legt ein Volk
Sein und Denken, Wollen und Können nieder, überliefert in steinerner Sprache
geschrieben kommenden Zeiten und Geschlechtern Kunde von sich und seinen
Bestrebungen. So erzählen uns nach Jahrhunderten noch heute Griechenlands
Ruinen von der Hellenen Herrlichkeit, die Bauten Roms von der Römer Größe,
erzählen uns des Mittelalters Tempel und Hallen von des Mittelalters Fröm¬
migkeit, von seiner Blüte.' Und wir? — wir kleben und nageln aus Mörtel
und Gyps, aus Holz und Blech eine Architektur zusammen, die schon nach
Wenig Jahren durch Wind und Wetter zerstört und zerfressen ist. eine Archi¬
tektur, die, weil ohne innere Berechtigung einem auf ganz anderen Construc-
tionsverhältnissen beruhenden Material rein äußerlich und willkürlich auf¬
gezwungen, nur hohl und unwahr sein kann und sein muß. Das sieht aus
wie Schminke auf dein Antlitz einer Leiche. Der sittliche' Ernst, die weltge¬
schichtliche Bedeutung der Baukunst wird so zu Boden getreten, wir belügen
uns selbst und betrügen uns um die monumentalen Merkzeichen unserer Zeit
und unseres Strebens in der Zukunft.
Schink'el theilte mit seiner Zeit den Irrthum, die Schönheit einzig und
allein in der Form zu suchen, diese als etwas für sich Bestehendes zu betrach¬
ten. Die griechische Schönheit galt ihm für absolute Schönheit, nach ihrem
Vorbild suchte er daher in cousequenter Verfolgung jener Voraussetzung seine
Werke zu modeln. War aber die Schönheit eine absolute, so mußte sie, weil
absolut, überall in Anwendung gebracht werden, das Wesen der Schönheit
war ja etwas für sich Bestehendes, vom Inhalt Geschiedenes, Freies, Un-
abhängiges. Und wiederum mußte die Schönheit als absolute überall Gel¬
tung finden, so war es auch gleichgiltig, in welchem Material sie realisirt
wurde, handelte es sich ja eben nur und wieder nur um die sür absolut er¬
klärte griechische Schönheit. — Das Lebensprincip der griechischen Kunst wie
aller wahren Kunst ist es. in der Form eines Gebildes dessen innerstes Wesen
auszusprechen. Indem Schinkel die relative Schönheit für absolute Schön¬
heit hielt, sie in ihrer Totalität nachzuschafsen sich bemühte, verletzte er das
Lebenspriucip derselben auf das tödtlichste. Nur das Wahre ist schön. Ein
Monolithenbau über Ziegelbögcn durch Kalkputz bewerkstelligt ist unschön, weil
unwahr. Die griechische Kunst ist schön, weil sie zum Reflector des dem grie¬
chischen Volk inwohnenden Gnstes wurde, die griechische Gedankenwelt in
'hr zum vollen, rückhaltlosen Ausdruck gelangte. Das Bestreben. dle Gricchen-
kunst in ihrer Totalität zur unseren machen zu wollen, muß Schiffbruch lei¬
den, denn unsere Cult- und LebcnSverhültnisse. unsere ganze geistige An¬
schauung (weil durch das Christenthum gegangen), ja Klima und Material
sind ganz anderer Art als die der Griechen. Wie die Griechenkunst als der
ideale Abglanz des griechischen Seins durch die Wahrheit zur Schönheit ge¬
langte, ganz ebenso muß die Baukunst unserer Tage wahr werden, um ein
monumentales wahrhaftiges Zeugniß des Gedankens, der uns bewegt und
'nncwohnt. zu geben, und den Inhalt desselben zur Schönheit zu verklären, zur
relativen Schönheit, der griechischen gleichberechtigt, denn er wird das Abbild
unseres Denkens und Strebens werden; tiefer und inhaltsreicher denn grie¬
chische Kunst, wie unsere Anschauung eine tiefere, geistigere ist. denn die der
Griechen war. Das Singuläre. Einseitige der griechischen Kunst ist der Mo¬
nolithenbau, das Dauernde und Giltige das Darstcllungsprincip derselben,
dauernd und giltig. weil identisch dem Gcstaltungsprincip der schaffenden
Natur, in der Form den inliegenden Begriff zur Erscheinung zu bringen.
»Hob aber die griechische Kunst die körperliche Darstellung zur Höhe der
Natur selbst und macht ein weiteres Aufschwingen unmöglich, weil es über
die Grenzen der Natur nicht hinaus kann." so wird ihr Formenprincip „jedem
kunstliebenden Geschlecht, je nach dem Material, aus dem es bildet, ein
Kanon sein müssen, um sür seine in ihm auftauchenden Begriffe Werte und
Formen auf gleichem Wege und nach gleichem Princip, in gleicher allgemei¬
ner Wahrheit und gesetzlicher Giltigkeit hervorzubringen." Daß Schinkel den
griechischen Monolithenbau vom griechischen Formenprincip untrennbar glaubte,
war sein Irrthum, daß er uns aber jenes Formenprincip wieder erweckte, sein
unsterbliches Vermächtnis;, das wir festhalten, aus das wir bauen wollen und
müssen, wenn anders wir die Lösung der uns gestellten Aufgabe wahr zu
sein, um schön zu werden, versuchen wollen.
Grund aller Kunst und insbesondere der Baukunst ist Wahrheit. Wahr
soll die Baukunst sein in der Darstellung und Behandlung des gebotenen
Materials, wahr aber auch in der Charakteristik des Bauwerks, in der Art
und Weise, wie sie dessen inneres Wesen in den äußern Formen zur Anschau¬
ung bringt. Die Ueberzeugung, daß das Wahre der schönen Darstellung
Subig sei, muß den Muth und die Kraft geben, wahr sein zu wollen.
Das dem Norden Deutschlands von Natur wie Tradition zugewiesene
Material ist der Backstein. Das Kriterion des Backsteinbaues aber ist die
aus dem geringen Volumen des gebrannten Steines und seiner Fähigkeit sich
in seinen einzelnen Theilen durch Mörtel zu einem continuirlichen Ganzen zu
verbinden, beruhende Möglichkeit, ein jedes Planschema frei und ungebunden
in beliebigen Breiten- und Höhenverhältnissen zu realisiren. Die Ueberspan- >
mung aller Wandöffnungcn bewerkstelligt der Backsteinbau durch den Bogen¬
bau, die Ueberspannung aller Naumöffnungen durch den fortgesetzten Bogen-,
den Gewölbebau. Gewährt nun aber der Bogenbau dem Starren. Bedingten
des Monolithenbaues gegenüber einerseits die größte Freiheit, weil Unabhän¬
gigkeit vom Material in mechanischer Beziehung, so gestattet er auch anderer¬
seits in Rücksicht aus die künstlerische Darstellung die umfassendste Charakteristik
des Bauwerks, läßt die subtilsten Nüancirnngen, die verschiedenartigsten Ver¬
hältnisse zu, und erhebt die Ausdrncksfähigkeit der Baukunst zur vollkommensten
Freiheit. Im Bogenbau bietet sonach der Backsteinbau die Möglichkeit, die
verschiedenartigsten Bauzwecke ihrem Wesen nach charakteristisch zur Erscheinung
zu bringen; im Aeußern aber das Innere eines Gebäudes, seinen Zweck,
seine Bedeutung, mit einem Worte seine ganze Individualität auszusprechen,
ist Grund und Bedingung aller wahren, aller monumentalen Baukunst. —
Die Baukunst soll aber auch wahr sein in der Darstellung des Materials,
aus dem sie ihre Werte bildet. „Denn nicht blos in einem gänzlichen Ueber-
winden des Stoffes, nicht blos in einem Zwingen desselben zum todten Sche¬
matismus kann die Größe der Tektonik bestehen, sondern vielmehr darin, daß
man auch dem Stoff, indem man ihn annimmt, sein Recht widerfahren läßt
und ihm selbst durch Bildung und Fügung den Anschein eines höhern idealen
Lebens für den hohen geistigen Zweck, dem er dienen soll, aufzuprägen weiß."
Die Formbildung des Materials, die Darstellung desselben auf sein Wesen,
seine technische Fähigkeit zu basiren, sie darum und demgemäß zu charakte-
risiren ist die Aufgabe; die Lösung derselben im Sinne und Geiste griechischer
Kunst nach dem hellenischen Princip, den Begriff und die Wesenheit jedes
baulichen Gliedes für sich wie für das Ganze, dessen Theil es ist, in seiner
Form zur Anschauung zu bringen, die bleibende Frucht des Studiums grie¬
chischer Kunst.
- i! ,in im,«zS,i-.es?i5>'l ?ö.»t ,>et,nett>^ »»K>r>'!"^ ni^iiigt»'..'.
Es ist eigentlich ein undankbares Geschäft, gegen eine vollendete Thatsache zu
protestiren aber wir können doch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß das neue
Arrangement im Hause der Abgeordneten uns lästig fällt. Wir haben uns einmal
daran gewöhnt mit der Bezeichnung Rechts und Links bestimmte politische Vorstel¬
lungen zu verbinden, und es ist unbequem, daß wir diese Vorstellungen letzt Plötz¬
lich mit andern vertauschen sollen. Wir werden uns schwer daran gewöhnen,
wenn von der Linken die Rede ist, uns dabei die Kreuzzeitung und ihre Parte, zu
denken, und uns selber wird es rechts noch lange ungemüthlich vorkommen. Freilich
sind Rechts und Links Rclativbegriffe. wir haben schon einmal rechts gesessen, als
die Demokratie das große Wort führte, und wir gehören, wenn alle Parteien des
Volks gleichmäßig vertreten sind, weder auf die Recht- noch auf die Linke, sondern
ins Centrum Aber wir sehn nicht ein. warum wir die Plätze gradezu vertauschen
sollen und wir fürchten, der Grund dieser Aenderung liegt in einem M.ßvcrstandmß
der Preußischen Zustünde. .
.Bekanntlich ist es in England zwar nicht staatsrechtlich, schwarz aus weiß,
ab» doch durch langen Gebrauch festgestellt, daß die Führer der Majorität ,in
Unterhaus- die Negierung führen. Die Aristokratie des Landes ist in zw-i Fama.er.
cotcricn getheilt von denen jede bereit ist. der Kron- ihre Dienste anzubieten. Sind
die Whigs am Ruder und die Majorität des Unterhauses spricht sich in einer Frage
von Wichtigkeit gegen sie aus, so erfordert es der Gebrauch, daß sie ihre Entlassung
einreichen ; die Krone — falls sie nicht ein-Parlamcntsauslösung vorzieht — beruft
die Tories ins Ministerium, diese besetzen nun die Ministerbank, die Mitglieder.
Welche die letzte Majorität zu Stande gebracht, scharen sieh um sie herum — gleich¬
viel, aus was für Elementen diese Majorität hervorgegangen war; — die abge¬
tretenen Whigminister gehn aus die andere Seite, und ihre Anhänger füllen die
Oppositionsbänke „Sr. Majestät allcrgctrcuestc Opposition" ist eine Bezeichnung,
die jenseit des Kanals einen sehr realen Inhalt hat; denn die bisherige Form der
Regierung setzt voraus daß bei jeder Niederlage des gegenwärtigen Ministeriums
°me organisirte Partei vorhanden ist. bereit. Sr. Majestät die Majorität des Unter¬
hauses wieder zuzuführen. Wie lang- diese Form der Regierung noch fortdauern
wird, mag dahingestellt bleiben; bei der gegenwärtigen Zersetzung der alten Faun.cn-
vcrbändc ist es wenigstens zweifelhaft. ob nicht auch für diesen Gebrauch eine gewisse
Modification wünschenswert!) wäre.
So ist es in England, im Lande der parlamentarischen Regierung; in allen
übrigen constitutionellen Ländern ist die Praxis eine andere. Hier setzt sich rechts
die Aristokratie, links die Demokratie, beide Worte in der ausgedehntesten Bedeutung
genommen; und je nachdem das Verhältniß dieser Elemente sich ändert, werden die
Nuancen der Partei festgestellt: äußerste Rechte, rechtes Centrum, linkes Centrum u. s. w.
So wurde es seit 1848 auch in Deutschland Sitte, und wenn auch in der
Regel die Negierung ihre Stütze aus der Rechten suchte, so fand man doch nicht
selten eine Opposition von der äußersten Rechten vor. der die Regierung noch zu
liberal war, wie es auch in Preußen vorgekommen ist, ohne daß doch diese Oppo¬
sition sich links setzte.
Nun soll plötzlich der britische Gebrauch bei uns eingeführt werden; und die
Mitglieder derjenigen Parteien, welche — aus sehr verschiedenen Gründen —
gegen das Ministerium Manteuffel Opposition gemacht haben, die Liberalen, die
Katholiken und die Polen (da die Demokraten auch diesmal keine Vertretung ge¬
sunden haben) sollen unter dem neuen Ministerium als „ministerielle Partei" die
rechte Seite einnehmen. Die Polen haben glücklicherweise in Bezug auf sich schon
anders bestimmt, sie bleiben links, und die wcißrothblaue Fahne weht vor den Rit¬
tern des Kreuzes, was uns ein höchst erfreulicher Anblick ist. Die bisherigen „Ka¬
tholiken", die uns über eine Umwandlung ihres Parteiuamcns im anerkannt „pari¬
tätischen Staat" noch im Unklaren gelassen haben, werden vorläufig im Centrum
sitzen; der Tausch beschränkt sich also eigentlich auf die bisherige „Rechte" und „Linke".
Diese Form ist insofern nicht gleichgiltig, als sie eine incorrectc Auffassung der
historischen und der politischen Verhältnisse in sich schließt.
Wir können die Frage, was in Preußen Rechtens ist, ob eine parlamentarische
oder rein königliche Regierung, hier süglich auf sich beruhen lassen, obgleich zwei
Umstünde eine sehr verschiedene Form der Staatsverfassung, im Vergleich mit der
großbritannischen bedingen: einmal die zerstückelte geographische Grundlage der Mon¬
archie, die eine straffe militärische Concentration nöthig macht, so lange sich Preu¬
ßen als Großmacht behaupten will; sodann die staatsrechtlichen und volkswirthschaft-
lichen Beziehungen zu den übrigen deutschen Staaten und zum deutschen Bund,
die eine parlamentarische Leitung der Politik, wie sie nominell (freilich auch nur
nominell) in England besteht, wenigstens in dieser Form ausschließen. Hier kommt
es uns nur aus das Thatsächliche an.
Es wäre ein thatsächlicher Irrthum, das gegenwärtige Ministerium als ein
parlamentarisches aufzufassen. Es ist seinem Ursprung nach kein parlamentarisches;
denn in den vorigen Kammern hatte das abgetretene Ministerium die entschiedene
Majorität, gleichviel wie diese Majorität zu Stande gebracht war, und es ist er¬
nannt, bebor die neuen Wahlen (die Appellation ans Land, wie der technische Aus¬
druck heißt) auch nur ausgeschrieben waren. Der Prinzregcnt hat sich von seiner
Ueberzeugung über das, was die Ehre und das Interesse des Landes erheischt, be¬
stimmen lassen, ohne irgend welche Majorität zu Rathe zu ziehn; — sein Entschluß
war ebenso weise als hochherzig, und die Geschichte wird ihn einst richtiger wür¬
digen, als die geschäftige Mitwelt, die im Eifer ihrer Parteiinteressen leicht vergißt,
wie schwer ein solcher Entschluß grade in jenen Regionen sein mußte; — aber die
Form dieses Entschlusses war gewiß nicht, was man in England parlamentarisch
nennt. — Das Ministerium ist auch in seiner Zusammensetzung kein parlamenta¬
risches; es sind zwar einige Führer der bisherigen Opposition darin (v. Bcthmann-
Hollwcg; v. Auerswald; v. Patow), sie sind aber nicht als Führer der Partei darin
eingetreten, sondern sofern ihre Persönlichkeiten dem Prinzen Garantie für eine
zweckmäßige Verwaltung zu bieten schienen, und neben ihnen sind nicht blos alt-
büreaukratische Elemente, deren Richtung man noch nicht gemein »versehn kann,
sondern auch Mitglieder der alten Negierung, von denen es sehr fraglich' fein wird,
wie weit sie dem neuen Umschwung der Dinge ihre Mitwirkung leihen.
Das wäre der historische Irrthum; wichtiger ist der praktisch-Politische, Wir
haben stets gegen die Bezeichnung „ministeriell" für die liberale Partei protesttrt;
wir freuen uns lebhaft, daß der bisherige Führer derselben. Graf Schwerin, darin
unsrer Meinung ist. Das gegenwärtige Ministerium erscheint uns v,et besser als
das vorige, darum werden wir es aus allen Kräften gegen die Anhänger und Ein¬
bläser des vorigen unterstützen; es ist eine sehr große, mit tiefgefühlten Dank hin¬
zunehmende freiwillige Concession der Krone an das Volk, darum werden wir uns
hüten, ihm irgend welche Verlegenheiten zu bereiten, wir werden mäßig, bescheiden,
zurückhaltend in unsern Forderungen sein; aber es ist nicht der reine Ausdruck
unsrer Partei, darum wollen wir uns nicht mit ihm identificiren. Wir find keine
Whigs, keine Vettern einer „liberalen" Adclscoteric. wir sind die Vertreter der Inter¬
essen des preußischen Bürgerthums, und ebenso unabhängig vom Ministerium, als
es das Ministerium von uns ist. ,
.Wir wollen das Ministerium nicht drängen!" Das ist das allgemeine Stich¬
wort aller liberalen Factionen gewesen, auch der Demokraten, die im Ganzen ge¬
nommen in dieser Bewegung nicht blos einen sehr richtigen Takt, sondern auch ein
warmes vaterländisches Gefühl bewährt haben. Allein dieses Stichwort bedarf einer
bestimmtem Erklärung, weil es sonst die Partei zu einer sehr bedenklichen Lethargie
verurtheilen würde. — Wir wollen das Ministerium nicht drängen in Bezug auf
die organische Gesetzgebung und die auswärtige Politik. Hr. v. Usedom, der,
wie man meint, der Regierung nahesteht, hat in dem Schreiben an seine Wähler
«"gedeutet, daß die meisten organischen Gesetze (Gemeindeordnung, Grundsteuer,
Reform des Ministeriums) diesmal dem Landtag noch nicht vorgelegt werden dürften.
Es sei; die neue Regierung muß sich erst mühsam in die Verhältnisse einarbeiten,
und es ist besser, die organische Gesetzgebung nach einem wohlüberlegten Plan durch¬
zuführen , als unruhige Experimente vorzunehmen. die denn doch wieder zu
Irrungen Anlaß geben. Wir können warten; das Provisorium kann durch weise
Benutzung der bestehenden Ordnung erträglich gemacht werden.
Aber in einem Punkt tonnen wir nicht warten; Pflicht und Gewissen sprechen
ein zu kategorisches Wort. Wir müssen von der Regierung verlangen, die bisherige
Rechtsunstchcrhcit gründlich aufzuheben. Es ist viel gesündigt worden, und nicht
leicht werden die Folgen der bisherigen Parteihcrrschaft in dem innern Organismus
des Staats verschmerzt werden. Eine schnelle, allseitige und entscheidende Abhilfe
ist dringend nothwendig, und das Ministerium selbst wird sich durch die Worte des
erhabenen Fürsten angeregt fühlen: „Wenn in allen Regierungshandlungen sich
Wahrheit. Gesetzlichkeit und Konsequenz ausspricht, so ist ein Gouvernement stark,
weil es ein reines Gewissen hat. und mit diesem hat man ein Recht, allem Bösen
kräftig zu widerstehn." Diese Worte des Prinzen haben sich tief in die Brust des
V
Das Buch der Mutter für Haus und Erziehung. Herausgegeben von
Agnes v. Bohlen. Berlin. Verlag von Julius Springer. 1859. 8. 436 S. '— An
Erziehungsschristen haben wir Ueberfluß, doch haben die wenigsten Mütter Zeit und
Lust sie zu lesen. Dagegen wird den meisten ein Buch willkommen sein, in dem
sie Aussprüche nicht nur der bewährtesten pädagogischen Autoritäten, sondern auch
der größten Geister unserer und anderer Nationen, die sich auf das ganze Gebiet
der Erziehung beziehen, zusammengestellt finden. „Zwar," bemerkt die Herausgeberin
in der Vorrede fehr richtig, „wird eine verständige Mutter mit gesundem Sinn und
weiblichem Taktgefühl den rechten Weg nicht verfehlen und weder Buch noch Regel
werden ein umwohnendes Verständniß ersetzen können — wol aber vermögen leben¬
dige geistvolle Gedanken anregend und fördernd auf den Geist der Erziehung
einzuwirken; sie werden zu Wegweisern, die leichter und sicherer zu dem vorgesteckten
Ziele führen." Die Herausgeberin hat zu ihrer reichen Sammlung (sie zählt 1000
Nummern) sehr ausgedehnte Studien gemacht. Wir finden nicht nur Niemeyer,
Herbart, Pestalozzi. Dinter, Beneke, Schwarz, Rosenkranz u. s. w., nicht nur Goethe,
Schiller, Jean Paul, Möser, Hippel. Arndt. Rückert. Schäfer. Riehl u. «.. nicht
nur Rousseau und Fenelon, sondern auch Shakespeare und gelegentlich selbst die
Alten benutzt. Die Auswahl ist mit großem Takt gemacht, man wird nicht leicht
eine Seite aufschlagen, ohne durch einen bedeutenden Ausspruch gefesselt zu wer¬
den. Auch ist es der Verfasserin gelungen, durch eine ebenso zweckmäßige als über¬
sichtliche Anordnung die Gruppen der gewählten Lehren und Maximen zu einem
zusammenhängenden Ganzen zu verbinden. Gebildeten Frauen sei dies Buch bestens
empfohlen; es eignet sich besonders zum Geschenk, auch durch seine ebenso zier¬
liche wie solide Ausstattung.
Alterthümer und Denkwürdigkeiten Böhmens. Mit Zeichnungen von
Josef Hellich und Wilhelm Kandler. Text von F. Mikowec. Prag, Kober
rind Markgraf. — Das erste Heft dieses für die böhmische Culturgeschichte sehr
interessanten Werks enthält Otokars Grab in der Domkirche zu Prag; die Ruine
Kokircn und die Se. Stephanskirche auf der Kleinseite von Prag. — Die Ausführung
der Bilder ist vortrefflich, und die Erläuterungen reich an gelehrten Notizen.
Abonnementsanzeige zum neuen Jahr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboren
den^H^UAU. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeration auf denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December 1858. Fv. Ludw. Herbig.
Aus K. L. von Knebels Briefwechsel mit seiner Schwester Henriette (1774—
1813). Ein Beitrag zur deutschen Hof- und Literaturgeschichte. Herausgegeben
von Heinrich Düntzer. Jena, Maule. —
— Wer ists, der dort gebückt
Nachlässig stark die breiten Schultern drückt?
Er sitzt zunächst gelassen an der Flamme,
Die markige Gestalt aus altem Heidenstamme.
Er saugt begierig am geliebten Rohr,
Es steigt der Dampf an seiner Stirn empor.
Gutmüthig trocken weiß er Freud und Lachen
Im ganzen Cirkel laut zu machen,
Wenn er mit ernstlichem Gesicht
Barbarisch bunt in fremder Mundart spricht.
So schildert Goethe in „Ilmenau" seinen ältesten weinen'löcher Freund,
durch dessen Vermittlung der entscheidende Wendepunkt seines Lebens einge¬
treten war. In der Sammlung „Frcundesbilder aus Goethes Leben" (Lcip-
Z'g' Dyk) hat Düntzer, was man aus den Ackerstücken über diese höchst inter¬
essante und liebenswürdige Persönlichkeit wissen kann, mit seinem gewöhnlichen
Reiß zusammengestellt. Die vorliegende Korrespondenz ist eine Nachlese, die,
un Ganzen von viel geringerem Interesse, doch über den herrschenden Ton
der Societät von Weimar und über Goethe selbst einzelne beachtenswerthe
Notizen enthält.
Fräulein Henriette v. Knebel, erzählt der Herausgeber, geb. 1755 zu
Regensburg, war ganz der weibliche Abdruck ihres Bruders. Derselbe edle
Drang, dieselbe Herzinnigreit, dieselbe Sehnsucht nach geistiger Freiheit und
reiner Menschheit, derselbe Ernst der Empfindung, aber auch dieselbe Reiz¬
barkeit, dasselbe rücksichtslose Aufwallen und Uebersprudeln. Auch äußerlich
erschien sie dem Bruder gleich, eine hohe, edle Gestalt; ihr Gesicht war leider
früh durch Blattern entstellt worden, doch blitzten ihre Augen mit unwider-
stehlicher Gewalt und trafen tief in die Seele, wenn sie auch mehr Verehrung
als Liebe zu erwecken wußten. Unter ihrem harten und widerwärtigen Vater
hatte sie viel zu leiden, bis dieser 1787 die Seinigen durch den Tod von
einer schweren Last befreite.
Als der Bruder ihr 1774 einen Gruß von Goethe schickt, antwortet sie,
is. Dec.: „Die Freude, daß ein Goethe weiß, daß auch ich existire, sogar
an mich schreibt'—mir ist noch, als wenn ich träumte, ob ich wol den Brief
schon ganz auswendig weiß." So wirkte schon damals der Zauber dieses
Mannes auch in die Ferne. In jedem Bries erkennen wir das unauslösch¬
liche Gepräge, daß dieser überlegene Geist den Seinigen aufdrückte. Als ein¬
mal Henriette über Verlornes oder nicht gefundenes Glück klagt, tröstet sie der
Bruder (28. Nov. 1784) durch Goethes Lebensphilosophie. „Der Mensch ist
weder zum Glück noch zum Unglück geschaffen; er ist geschaffen, daß er da
sei; die Ordnung der Dinge rief ihn hervor. Das Schicksal, das ihn von
außen treibt, legt ihn zwischen wechselseitige Schalen. Jedem ist nach seinem
Maß eine gute Portion Glück zugetheilt, das er sich nicht gegeben hat; jedem
eine fast unvermeidliche Portion Elend. Selbst dem Unglücklichsten ist ost da
Hilfe, Glück und Genuß zugetheilt, wo wir es nicht errathen, kaum selbst
für ihn suhlen können — z. B. die Zufriedenheit, die ein Mathematiker bei
einem schwer ausgelösten Problem findet; während dem Glücklichen ein un¬
vermeidlich Elend kommt, wo er es nicht voraussehn konnte. Dieses Gesetz
erhalt den Menschen in einer steten Achtsamkeit und Spannung. Er hat stets
Ursache zu hoffen und zu fürchten; das Unwahrscheinlichste ist doch möglich
und hat sich schon ereignet, und das Glück, worauf er am sichersten baute,
ist vor seinen Augen verschwunden. Durch diese Nothwendigkeit zieht sich ein
elektrischer Faden, der das Gute von den Dingen zu erhalten sucht und an
sich reißt, und das Böse von sich stößt. Das ist die Kraft des Geistes. Sie
beweist sich darin, daß sie das Gute fixirt und deshalb, obgleich allem zu¬
fälligen Glück bereit, dennoch nichts zuläßt, was ihr das Gefühl davon zu
einer andern Zeit benehmen könnte. Dadurch erhält sie sich in der glücklichen
Flut des Daseins gemächlich und bewußt, sind hingegen die Wasser enger
und trüber, und sinken zur Ebbe, so wird sie nicht so leicht mit vom Ufer
weggetrieben. Sie hat sich vieler dauerhaften Dinge bemeistert, die ihr das
Schicksal nicht nehmen kann, ihr Geist selbst ist frei und thätig, wie Uluß
in den Meereswogen; sie hat ruhig dulden gelernt und wird also zur Zeit
des zögernden Schicksals nicht erdrückt, und was sie nun noch verlieren kann,
sind meist nur Spiele, die sie nie anders betrachtet, und die sich zur Zeit
des Glücks leicht wieder anhängen." — „Die Fluten des Lebens sind in der
Jugend weit gefälliger; das Leben wird strenger, je länger es sich lebt. Es
wird immer weniger gleichgiltig gegen das, was man sich erwirbt, weil es
fühlt, daß es immer weniger zu verlieren hat. Wem es zu sehr durch die
Finger sieht zur Zeit, da er sich noch zu erwerben hat. dem ist es nicht ge¬
wogen: es arbeitet darauf, vollkommene Greise zu haben/ —
»Wir sollten nie feste Wünsche des Herzens machen. Das Schicksal hat seine
eigne Art zu erfüllen, die oft von der. wie wirs wünschten, sehr verschieden
ist. und doch die vorteilhafteste für uns. Fügen in die Nothwendigkeit ist
wahrer Gehorsam, und nur dieser kann uns am Ende, zumal bei verwirrter
Lage, beruhigen und glücklich machen" (6. Den. 1784). — Das Leben ist
voll eitel Müh und Stückwerk; indem wirs als solches betrachten, kommt uns
noch hier und da eine unerwartete stille Freude entgegen" (31. Jan. 1785).
— »Wir müssen uns stets mit dem Leben etwas verändern; denn wenn wir
stehen bleiben, sind wir zu nichts. . . Leb du nur immer etwas in Leicht¬
sinn und Taumel, wo es möglich ist!" (27. Juni 1786).
Karl äußerte sich der Schwester gegenüber mit unbedingtem Vertrauen;
auch Erlebnisse, die sonst unter Männern bleiben, theilte er ihr unbefangen
mit. Wie wenig sie der Prüderie anzuklagen war. zeigt die Correspondenz
über ArdingheUo. „Die Moral des Verfassers, schreibt Knebel 24. Sept.
"87. ist freilich schwankend, aber das Buch ist voll Leben, und das ist ge¬
nug. Moral ist. denk ich. jedes eigne Sache." „Du wirst mir nicht ver-
"rgen. antwortet Henriette. daß ich mich über Ardinghcllo gefreut habe; denn
seine Unmoralität kann mich nichts angehn. da ich ihn nicht deswegen, weil
ich auch ein Mensch bin. als meines Gleichen betrachten kann, ebenso wenig
als ein fremdes vortreffliches Gewächs; denn so müßten mir die Sitten der
Einwohner von Otahaitc gefährlich sein. Jeden großen, vorzüglichen Men-
schen sehn wir doch am liebsten als freien Wilden, auf den weder sein Zeitalter
noch dessen Sitten viel Einfluß hat. Das Buch hat mir wirklich viel Ver¬
gnügen gemacht." Darauf findet Knebel denn doch zu erinnern (12. Nov.):
»Nur ist in der innern Vorstellungsart eine gewisse Unmoralität, die sich nicht
ganz mit der otahaiteschcn oder thierischen vergleichen läßt. Es ist nämlich
ein ander Ding. einen Wilden in dem freien Gebrauch seiner blos thierischen
Kräfte zu sehn, und ein ander Ding, einen Sophisten mit reizenden und ein-
nehmenden Bildern die Sache so vorstellen zu sehn, als wenn sie wirklich
das höchste Glück des Menschen sei. Letzteres ist nicht wahr, und deshalb
wirds uns widrig; wir verlangen von erhöhten Dcnkkräften auch erhöhte Vor¬
stellungsart." Inzwischen haben die glühenden Bilder Hcinses doch auf ihn
gewirkt: „Wir sollten alle die kalten, spröden Hülsen abstreifen, die uns an
dem Genuß des allzukurzen Daseins verhindern." — „Des Menschen Bestim¬
mung ist Erkenntniß und Genuß. Soll ich ewig nach Schatten laufen? Je
mehr glückliche Momente er zusammenbringt, um desto mehr hat der Mensch'N
gelebt." — „Es wird Goethe schwer. Italien zu verlassen, und ich fürchte,
daß er sich sobald nicht wieder an deutsche Luft gewöhnen möchte. Freilich
ists ja in Deutschland überall schlecht und die Lust wäre noch am ersten zu
ertragen. Aber unser elendes Neichssustem, Vorurtheile aller Art, Dumpf¬
heit, Plumpheit, Ungefühl, Unart, Ungeschmack und Unsinn. Stolz und Ar¬
muth, das sind Dinge, die noch schlimmer sind als die schlimmste Luft"
(18. April 1788).
Mit großer Verehrung spricht er sich durchweg über Frau von Stein
aus. „Sie ist diejenige hier unter allen, von der ich am meisten Nahrung
für mein Leben ziehe. Reines, richtiges Gefühl bei natürlicher, leidenschafts¬
loser , leichter Disposition haben sie bei eignem Fleiß und durch den Umgang
mit vorzüglichen Menschen, der ihrer äußerst feinen Wißbegierde zu Statten
kam, zu einem Wesen gebildet, dessen Dasein und Art in Deutschland schwer¬
lich oft wieder zu Stande kommen dürfte. Sie ist ohne alle Prütension und
Ziererei, gerad, natürlich, frei, nicht zu schwer und nicht zu leicht, ohne En¬
thusiasmus und doch mit geistiger Wärme, nimmt an allem Vernünftigen
Antheil und an allem Menschlichen, ist wohlunterrichtet und hat seinen Takt"
(April 1788). „Sie ist eine gar seltene gute Frau, und lebt eigentlich blos in
der Klarheit, die ihr, bei ihrer reizbaren, feinen Natur, schon die Stelle der
Wärme vertritt. Sie lebt eigentlichst im Verstand, und hat doch so gar keine
Prätension von Verstand" (Oct. 1788).
Ernsthaftes Nachdenken erregt folgende Stelle über die Zustände von
Weimar (Oct. 1788): „Das Seinsollen, mit deutscher Armuth und Elend,
ist mir am Hof und in der Stadt nachgrade unerträglich, ^.ut Laosar g.ut
nilril, sagt das lateinische Sprichwort, und das will nur so viel sagen: Halb¬
heit richtet jeden eh/^chen Charakter zu Grunde." — Das ist doch nicht bloße
Hypochondrie!
Im Mai 1791 folgte Henriette der Einladung ihres Bruders nach
Weimar, wo sie einige Monate darauf die Erziehung der eben fünf Jahr
alten Prinzessin Car oline Luise übernahm. Das gute Verhältniß zwischen
den Geschwistern hörte aber auf. als Knebel Ende 179? sich nach Ilmenau
zurückzog und dort die Kammersängerin Rudorf heirathete. Henriette brach
vollständig mit ihrem Bruder, und ließ sich erst im Sommer 1801 versöhnen.
Im Sommer 1804 nahm Knebel Jena wieder zu seinem Ausenthalt, und
von da an wird der Verkehr lebhafter. Einzelne Urtheile über die herrschende
Literatur sind interessant, weil sie den Ton der guten Gesellschaft charakterisiren.
3. October 1801. „Maria Stuart ist für das Theater zu lang und
ermüdend, und bin ich auch darin unsers Wieland Meinung, der mir unter
andern Aeußerungen der Verzweiflung sagte: wenn ein hübscher Mann von
fünf Fuß und drei Zoll zu mir ins Zimmer tritt, so kann er mir gefallen;
mißt er aber zehn Fuß sechs Zoll, so laufe ich davon. Man sieht daß
Schiller für das Tragische geboren ist, da er die Menschen so malen rann
und es ist unbegreiflich, daß er sich gar nichts Arges dabei denkt, und meint.
man könnte recht gut bis um eis Uhr Nachts so dasitzen. Ich kann es ihm
nie vergeben, wie er mich schon gemartert hat." Aehnliche Klagen über
Schiller ziehn sich durch den ganzen Briefwechsel. - 10. Februar 1803. Man
sieht wohl. daß.er für sich schreibt und wenig an das Pubiimm denkt, daher
seinen langen Stücken doch immer die Grazie fehlt." — 22. Marz 1804.
.-Da ich den großen, man könnte ihn anch den langen Teil nennen, glücklich
ausgehalten habe, so kaun ich ihn auch loben; denn ich dachte, die Hitze
würde mich umbringen, und der größte Spaß an diesem Tag waren die vielen
Kutschen und Reiter, auch Fußgänger, weiche alle die Maische Straße her¬
kamen. ... Im zweiten Act der lange Bund der Eidgenossenschaft,
wobei in der Wirklichkeit nicht der dritte Theil von Worten nöthig war. dann
Zwischen Teils Geschichte noch ein langweiliger schweizer Prophet, den man
lieber hinter dein Theater sterben sahe — denn sterben muß er. man we.ß
nicht warum Dann noch eine Liebesgeschichte eines jungen ausgearteten
Schweizers, den eine Geliebte wieder durch viele hohe Worte zur Raison und
sein Vaterland bringt. Und zuletzt wäre es doch schade gewesen, wenn
Teil, dessen starker Charakter ziemlich gut gehalten war. da er nur handelt
und wenig spricht, nicht auch noch ein langes Monolog halten sollte, woraus.
Wie aus allem, nur Schiller spricht und nicht der Mann selbst." — 15. Mar
1805 über Schillers Tod: „Meiner armen Prinzeß kam dieser Fall zu uner¬
wartet. Sie weinte und schluchzte und konnte sich kaum fassen. obgleich dre
Erbprinzeß, der es auch sehr nahe ging, alles that, um sie zu trösten. Wir
sind fast täglich bei der Schillern, deren Schmerz zwar tief, aber doch sanft
ist- Die Wolzogen ist viel heftiger. Es ist merkwürdig, daß Schiller allem
w seinem schön organisirten Kopf gelebt hat. Die Aerzte stimmen darin
überein, daß sie nie einen so ganz verdorbenen und aufgelösten Körper ange¬
troffen hätten, alles verknorpelt, nur den kleinsten Rest von Lunge, und —
stelle dir vor! — gar kein Herz mehr, nichts als ein Stückchen Haut. Ich
glaube, daher kommt es. daß ich Schiller nie anreden konnte, so gern ich ihn
auch sprechen hörte;,ich habe mich oft über ihn geärgert, aber jetzt muß ich
mich selbst entschuldigen. Aber ich glaube, es lebt sich gut ohne Herz, und
ich gäbe das meinige um ein Leichtes hin." —1?. December 1307. „Goethe
versicherte mich, daß er es selbst bei Schillers Stücken niemals über den
vierten Act habe aushalten können. Daß ich ihn für alle Folgezeiten in
dieser Meinung bestärkte, glaubst du mir wol."
5. April 1803: „Ich war aufgelegt, die natürliche Tochter gut zu
finden, weil mir, im Vertrauen gesagt, die Schillersche Schwere fast unerträglich
wird. Daher haben mir die rührenden Stellen aus der Eugenie, der Jammer
des Vaters über seine todtgemeinte Tochter u. s. w. sehr gefallen. In¬
zwischen hat die Toilette der Eugenie etwas Abgeschmacktes, worin unsre
Harrens, wenn sie leicht und zierlich sein wollen, gar bald versallen."
Die regierende Herzogin hat nicht immer den Beifall ihrer Hofdame;
diese schreibt, 16. Sept. 1802: „sie scheint mehr als jemals zu fühlen, daß
sie aus einem großen Haus ist, so stolz und unzufrieden -sieht sie aus."
„Unser hiesiges geistiges Leben hat etwas Aehnliches mit dem physischen im
Orient, wo die Großen allein im Besitz der Güter sind, mit denen sie ziemlich
despotisch und willkürlich schalten, und die andern auch gar keinen Wunsch
noch Bedürfniß nach irgend einem Eigenthum haben." 23. December 1803
(nach Herders Tod): „Unsre Herzogin zeigt sich wie das ewige Schicksal, doch
sagt Prinzeßchen, daß sie sehr angegriffen wäre und sich mit ihr mit Wehmuth
davon unterhielte. Frau von Staöl aber darf nichts davon gewahr
werden; von dieser ihrer Lebendigkeit läßt sie sich hinreißen und elektrisiren.
Dagegen habe ich nichts, daß sie Geschmack an ihrem Verstand und ihrer
schonen Redekunst findet, doch würde ihr es die Staöl gewiß nicht übel deuten,
wenn ihr die Herzogin auch mehr Gefühl zeigte. Den Herzog ergötzt die
Staöl auch sehr, und er glaubt einen seltnen Mann zu hören, so schnell,
richtig und umfassend ist ihre Rede. . . . Sie hat durchaus nicht das Pre-
ciöse und Pedantische, was unsre gelehrten Weiber oft so fatal macht, nichts
Ueberspanntes, Halbreifes, sondern gesund bei aller ihrer Freiheit. . . . Ihr
Sprechen ist wirklich das seltenste Talent, was mir noch vorgekommen ist; nie
etwas schneidendes, Decidirtcs, was eine Frau besonders oft lästig und un¬
graziös macht; ebenso weit ist sie aber von affectirter Nachgiebigkeit und
Koketterie entfernt — und doch weiß niemand besser als sie nachzugeben und
einzulenken. Das Kennzeichen ihres Talents ist doch gewiß, daß ihr Gespräch
nur ermuntert, nie ermüdet, und wenn unsereins aus Trägheit oder Unge¬
wohntheit sich ihr den andern Tag mit etwas Widerwillen nähern könnte,
so fühlt man sich leicht emporgehoben und die innere Unzufriedenheit ver¬
schwindet. Diese Wirkung habe ich an der Herzogin öfters beobachtet. . . .
Von Goethe sagt sie, q.u'it xouvs.it vero aiirmble, yuauä it 6wie sörieux,
eng-is hu'it no äoit Mais Miss-uter. Eigentlich spricht sie nichts an, als
was Wärme und Gefühl hat. Wenn sie leidenschaftlich ist, so ist sie es doch
mit Liebenswürdigkeit, auch selbst wenn sie sagt: qu'on est toujours iuäöeis
nisus Wut es tzü'on vutröpreuä, yuand on u'oft xas entraiu6 Is xu-S-
sion. . . (19. Januar 1804): „Die französische Sprache wird sich leicht
finden; bei ihr glaubt man, daß es keine andre gäbe. Sie sagte neulich
von Lavater. als der Herzog sie fragte, ob er gut französisch gesprochen hätte:
it L'Lxxi'imM eomme tous les gens ä'esrM, on ooiuvreuä. Sie ist wirt-
lich äußerst gut und liebenswürdig, und ich kann mir kein Jahrhundert denken,
das noch so eine Frau hervorgebracht hätte."
Bei der ersten Aufführung von Goethes Tasso. 4. März 1807: „Er hat
mich, und wol das ganze Publicum, lebhast interesstrt. Ich Hütte selbst nicht
, geglaubt, daß er bei der Aufführung diese Wirkung hervorbrächte, besonders
bei mir; denn ich gestehe, daß ich im Theater fast immer gleich ermüdet bin
und öfters sogar einschlafe. Es ist aber ein großer Vortheil, wenn man
voraus das Gefühl hat. daß nichts Gemeines gesagt wird. Dann hat Goethe
das vor Schiller voraus, daß jeder Charakter sein Eignes behält, und man
nicht überall den Autor hören und sehen muß."
Wie unbedingt Goethe seinen Stempel allen seinen Umgebungen auf¬
prägt, zeigt die enorme Theilnahme, mit der (seit December 1807) der ver¬
schrobene Zacharias Werner besprochen wird, weil Goethe ihn protegirte.
In den abgeschmacktesten seiner Possen findet das gelehrige Dämchen etwas
Geistreiches. In grellem Gegensatz dazu heißt es 5. März 1808: „Ein fürch¬
terliches Lustspiel, was wir am vorigen Mittwoch (2. März) haben aufführen
sehn, und was einen unverlöschbaren unangenehmen Eindruck auf mich ge¬
wacht hat und auf uns alle, ist „der zerbrochene Krug" von Herrn von Kleist
in Dresden. Mitarbeiter des charmanter „Phöbus". Wirklich Hütte ich nicht
geglaubt, daß es möglich würe. so was Langweiliges und Abgeschmacktes
hinzuschreiben. Die Prinzeß meint, daß die Herrens von Kleist gerechte An¬
sprüche auf den Lazarusorden Hütten. Der moralische Aussatz ist doch auch
ein böses Uebel. Ich glaube, bei diesen Herrens hat sich das Blut, was sie
sich im Krieg erhalten haben, alles in Dinte verwandelt. Im nächsten
»Phöbus" tritt dieser selbe Autor auch gleich mit so einer abscheulichen Ge¬
schichte auf. lang und langweilig im höchsten Grad." — Diese Geschichte
war — Michael Kohlhaasü — ». März: „Hier der „Phöbus". Es ist eine
steche Gotteslästerung, daß man eine Pfütze so nennt, die wol auch von der
Sonne beschienen wird. Für solch eine unverschämte Bettelei sollte man doch
gewiß seine Louisdors nicht aufheben."
Sehr interessant werden die Unterhaltungen wieder in der Napoleonischen
Zeit, während des Kongresses zu Erfurt. — 24. September 1808 : „Der
gute Napoleon wird sich wol nach dem kleinen Aerger, den ihm die Spanier
gemacht haben, etwas ergötzen wollen. Da fürchte ich nur etwas für die
Vergnügungen, die er dem Alexander machen wird. In Tilsit schon ließ er
ihn gar nicht zum Wort kommen und sagte: Mi-Ions M8 ä'-iMires, mon
euere trui-o, ni xoMque! 5o veins assuis ein'vn in'g, beaucoup partu
vvtro Keimte, mais on n'g. rien an, 11 taut voll- voll,.. Huoll« dello diritto!
MellLL belles (Misses! Man sagt, es würde eine französische Truppe nach
Erfurt kommen. Wenn wir nur die Ballets nicht auch mittanzen müssen!
Was er sonst mit uns vorzunehmen gedenkt, ist gewiß schon ausgemacht, und
nun ist von unserm Verstand, von unserm Betragen gar nicht mehr die Rede.
Wenn wir nur nicht ganz schwindlicht werden, wenn er uns so die Kopfe
herumdreht! Oder vielleicht besser, wenn wir uns gar nicht besinnen. Doch
no Orions Ms potiti^ne!" — 12. Oct. 1808. „Den Mittag um sechs Uhr
fuhr die Herzogin allein zum Napoleon, ganz ohne Begleitung, und mußte
mit allen den Königen und der westphälischen Königin in der Antichambre
warten. Sie hörte, daß Napoleon sich im Nebenzimmer laut und streitend
mit Alexander unterhielt. Als er herauskam, sagte er zu den beiden Damen:
Lvu ^'our, eng, rollt<z 6<z Wo8trMr1le I bon ^our, Naclg-mo! Ohne ein anderes
Wort ging es gleich zur Tafel und gleich nach der Tafel ins Theater, wo
Mahomet gegeben wurde. Bei Tafel war er freundlich gegen die Herzogin,
bat sie zu essen und zu trinken, wo er ihr selbst einschenkte. Als sie sich
weigerte, sagte er: Uns buvo?: äone, v»u<ki-a,i8 Vous «zirtonÄro äeriusonner!
. . . In dem Theater war in einer kleinen Loge eine Estrade gemacht mit
zwei kleinen Fauteuils; darauf setzten sich der König und die Königin von
Westphalen, doch ohne Kron und Scepter. An der Seite, niedriger, saß unsre
Herzogin, und so freundlich die westphälische Dame mit der Herzogin allein
war, so sah sie sie nun, im Publicum, nicht mehr an, und sprach kein Wort
mehr." — Napoleons Unterhaltungen mit den jungen Damen über die Tanz¬
kunst möge man im Buche selbst nachsehn. — 26. Dec. 1809: „Was sagst
du dazu, daß unser Napoleon wieder heirathet? Die ganze Nacht hab ich
schon von ihm geträumt. Sollten wir unsre theure Princeß ja einmal verlieren
müssen, so wäre es um keinen Preis als daß sie Kaiserin würde. Dann
ziehen wir allesammt nach Frankreich und mein Karl lernt Französisch ohne
meine Kosten." Bekanntlich wurde der Wunsch nicht erfüllt. Princeß Caroline
heirathete den Erbprinzen von Meklenburg, und ihre Erzieherin begleitete sie
nach Ludwigslust, wo sie im Sommer 1813 starb.
„Wir leben, schreibt Knebel 4. Mai 1810, zuviel in Gesellschaften, daher
wir auch meist immer zerstreut und gleichsam nußer uns sind. Bei den Alten,
die große Charaktere geliefert haben, war es nicht so. Die Frauen waren
mehr auf ihr häusliches Wesen beschränkt, und ihre Gesellschaften mochten
wol, wie ihre Feste und Schauspiele, nur etwas Seltenes sein. Nicht daß
nicht eine Freundin die andre öfter besucht hätte, aber dergleichen fast tägliche
Besuche, wie unsre Theegesellschaften, wären ihnen gewiß etwas Gemeines
und unter ihrer Würde gewesen. Wie soll sich ein Charakter bilden, wenn
er täglich nur zu sinnen hat, wie er etwa eine langweilige Unterhaltung noch
mit einer geringfügigen Erzählung oder Neuigkeit zu unterstützen hat? Daher
bei uns die Nothwendigkeit des öftern Reifens, damit man nur wieder etwas
neuen Stoff sammele, wovon doch ihre Frauen nichts wußten."
IN Lauf des September MiMet er seiner SchMster über die MeMö^en
der Mark^räsin von Baireuth. „Ich kann mich nicht enthalten >Mr o"
fatalen Memoiren - denn fatal sind sie doch, da sie uns in eure s^che HvUe
sehn lassen-noch ein allgemeines Wort zu sagen. Unverstand Rose.t.
Gemeinheit. Unartes und Launen bringen mehr Unglück in die Welt als
wirkliche Laster. Vielleicht ist durch diese der Untergang der preuvftchen
Monarchie gelegt worden, wogegen alle Talente des großen Friedrich nichts
vermochten. . Die Memoiren haben mir seit ein paar Tagen den
beinahe zerrüttet. Es ist so viel niedriges und Abscheuliches darin, daß man
selbst fast in eine der ewigen Ohnmachten der durchleuchten Schnftstel w.n
darüber fallen Möchte. Welch eine Familie ! Man könnte sich die des Atreus
und Thyest darunter vorstellen. wenn noch mehr innere Kraft dabei Ware.
Die garstigen bösen Zungen - der Frau Schriftstellerin selbst ^ °re ^er-
Mlungskunst u. s. w. gehören auch dazu. Gott, was konnte in der Folge
daraus werden? Das, was es geworden ist."
le. Juli 1811. ..Es sind jetzt so viel ganz verrückte Bücherschreiber,
daß man es nicht denken sollte; alle wollen Originale sein und was außer¬
ordentliches sagen. Goethe seufzt darüber und sagt, ihr Talent bestehe in der
Verrücktheit, und wenn man ihnen diese nähMe. so bliebe ihnen fast
nichts übrig." „ ,e-
4. November 1811. ..Ich hatte gestern mit Goethe eine artige Unk
«dung, worin er mir sagte, daß >er W Nie in seinem Leben eines zusal.
Ager Glücks habe, rühmen können. und datz er solches auch im Spiel erfah¬
ren, wo ihn das Glück durchaus fliehe. Ich kann ungefähr ähnliches von
Mir sagen; denn das Glück, das sich zuweilen Me- ging wie ein Gespenst
vorüber. Aber in der That, die Glücklichsten im Zufall sind nicht immer die
Glücklichen in der Wahrheit, und ich habe so Manche fallen sehen, die wen.
Weit fester zu stehn schienen." , ., .
einerKrank¬
Ueber Wielands Tod (1813). „Nur in den ersten Tagen
heit, welche in allem zehn Tage dauerte, fühlte Wieland einige schmerzende
Angriffe von KM. Wobei man doch nicht an große Gefahr dachte^
Am 16. Januar sagte er Mit ziemlicher Laune: „Nun hat wol Huschs
Weisheit ein Erbt." Die ironische Laune, die ihm im Leben gewöhnlich
war, verließ ihn zu keiner Stunde, so daß die Mädchen meist immer hao n
lachen Müssen. Immer War er heiter und besonnen, und schien, seines Zu-
standes wohl bewüßt. ihn spielend vergessen zu wollen. Den Tag vor ,einem
Te.de perorirte er noch das or not w be. Und sagte- beides , el iym
nur gleich. Dctrauf sagte 5r in seiner gewohnten Manier, die Götter wen
etwas grob gegen die Menschen, aber die Menschen seien dagegen vernünftig
W es ertragen zulernen. Die letzte Nacht, als er nicht schlasen konnte, ver-
langte er von der Person, die bei ihm wachte, sie sollte ihm durchaus etwas
erzählen. Als diese nichts wußte, sagte er mit Eifer: „hat sie denn keine
Großmutter gehabt, die ihr Märchen erzählt hätte?" Den andern Morgen
wollte er sich heimlich aus dem Bette machen und aufstehen. Die Aufwär¬
terin kam dazu. „Was machen Sie denn, Herr Hofrath?" rief diese. Er im
Zorn: „pank Sie Sich zur Thür hinaus! Sie hindert mich allezeit, wenn ich
etwas unternehmen will." Amalie, seine Enkelin, mußte ihm fleißig auf dem
Clavier vorspielen. Das ergötzte ihn sehr, und er gab genau darauf Acht,
lobte und verbesserte sie. Noch am Abend war er sehr heiter, und sagte noch
ein hübsches Bonmot. Sie verließen ihn um halb zwölf Uhr, hörten ihn
noch ein wenig stöhnen, und als sie nachsähen, war er todt." —
Wenden wir uns nun zu den Concurrenzentwürfen der berliner Schule:
einen Fortschritt über die bisherige berliner Kunstübung zeigen sie nirgend, weder
in Rücksicht auf die Behandlung des Materials, noch auf die Charakteristik des
Bauwerks, noch endlich auf die Bildung des Grundplans. Die schematische
Architekturbehandlung macht die Erfüllung der beiden ersten Anforderungen
unmöglich, die Planbildung aber ist eben überhaupt die schwache Seite der
berliner Schule. Die Plantheilung sast sämmtlicher Projecte, um mit dieser
zu beginnen, ist schon in der Raumbenutzung eine ziemlich willkürliche. Der
gegebene Bauplatz, an der Durchkreuzung der Burgstraße und der Neuen
Friedrichsstraße gelegen, bietet nach beiden Seiten hin Fronte; die Bebauung
des Platzes nach der Straßenflucht ist aber schon ein sehr einfaches baupoli¬
zeiliches Erforderniß. Statt nun demgemäß die Fluchtlinie einzuhalten, läßt
die Gebäudemasse dieselbe meist unberührt und springt in willkürlichen Sprün¬
gen, Vor- und Rücklagen, mehr oder weniger hinter dieselbe zurück. Das
Liegenlassen von Terrain wird aber bei einem so theuern, kostbaren Boden
zur Verschwendung, bei einem so beschränkten Terrain, wie das gegebene,
gradezu zum Fehler, denn nur das Zusammenhalten der Maße kann bei ver¬
hältnißmäßig geringen Längen und der ohnehin durch festgestellte Maße be¬
schränkten Höhenentwicklung eine dem Wesen einer Börse entsprechende monu-
mentale würdige Fa<?abe möglich machen. Das Zerschneiden der Fronte, das
Anlegen von kleinen Vorgärten zwischen vorspringenden Gebäudetheilen, von
Gängen um dieselben ze., alles dies fließt aus einer weniger monumentalen,
mehr lyrischen Auffassungsweise. Sie ist ein Grundzug der Schule, und hat
die letztere nach dieser Richtung hin unleugbar Bedeutendes geleistet. Die
Gärtnerwohnung zu Sanssouci. Charlottcnhof u. a. sind Werke von bleiben-
der Mustergiltigkeit. die edelsten Früchte Schinkelscher Kunstthätigkeit überhaupt.
Ist nun eine derartige BeHandlungsweise bei Villen und ländlichen Gebäuden
vollkommen am Platze, so ist sie es überall da nicht, wo es sich um eine
strenge Architektur handelt, im Monumentalbau. Das freie, ziemlich will¬
kürliche Spiel mit Form und Maß. das um die malerische Erscheinung zum
Gesetz hat. ist mit der monumentalen Baukunst principiell unverträglich, wol
aber einer Richtung zusagend, die in überkommener schematischer Architektur¬
behandlung vergessen hat. dem Wesen eines Gebäudes gerecht zu werden, in
der Architektur eine bloße Decoration sieht, und ebendarum „hübsche Mo-
twe« sucht und findet.
Das Programm verlangte zwei gleich große Börsensäle, den einen für
die Fonds-, den andern für die Productcnbörse, einen großen Vorraum zum
Aufenthalt für Schiffer. Fuhrleute !c.. eine Reihe von Nebenräumen für die
Administration, die verschiedenen Bureaus :c.. von denen man, wie aus dem
Programm nicht undeutlich hervorging, je vier in möglichst enger Verbindung
mit einem jeden der beiden Säle wünschte, einen Haupteingang nach der
Vurgstmße. mehre Seiteneingänge, worunter einer für Anfahrende, eine ent-
sprechende Anzahl von Priveten; der etwa verbleibende Raum sollte mit
Gartenanlagen versehen und so gelegt werden, daß er von beiden Seiten aus be¬
begangen werden könnte. Die Mehrzahl der Projecte wendet die Hauptfronte
des Gebäudes der Burgstraße resp. Spree zu, nur zwei verlegen den Haupt¬
eingang und damit den Schwerpunkt in eine coupirte Ecke, die durch Ver-
brechung des Winkels, in dem die Burg- und Friedrichsstraße zusammenstoßen,
gewonnen ist; eine Anordnung, die schon in Rücksicht auf die andre im schar¬
fen Winkel geschlossene Straßenseite weniger zu empfehlen ist. die aber auch
abgesehen davon der klären organischen Entwicklung des Grundplans vielfache
Hindernisse entgegenstellt, eine großartige Perspective nicht gestattet, eine ein¬
heitliche würdige Fayade schwer macht, Schwierigkeiten, die auch vom besseren
der beiden Projecte „Beuth" keineswegs überwunden sind. Die Bebauung
des Terrains nach der Straßcnflucht war bei dieser Auffassung geboten; einer
jeden der beiden Straßen entlang war ein Börsensaal zu legen. Verschiedene
Eintheilung ließ die andre Auffassung zu. und zwar konnten die Säle ent¬
weder parallel miteinander oder im rechten Winkel aufeinander gelegt wer¬
den; die erstere Weise erscheint als die richtigere und ist in mehren Projecten
vertreten. Was nun freilich die weitere Anordnung des. Plans betrifft, die
Anlage von Vestibülen, die Art und Weise, wie die Säle miteinander und
den übrigen Räumen in Verbindung treten, so sind auch, diese Pläne; nicht
anders denn ungenügend zu y,euren,. Den Mangel, den wir oben qls hen
stereotypen des berliner Grundplan? erkannten, theilen auch diese Pläne,
den Mangel monumentalen Sinnes. Es fehlt ihnen, an klarer, Uebersichtlich'
keit, an organischer Entwicklung,, die Räume sind ohne Zusammenhang und
Zusammengehörigkeit, wie es eben paßte, ohne viel Kopfzerbrechens zwischen
und durcheinander gelegt. Der zu Gartenanlagen, einer sogenannten Som¬
merbörse, benutzte Raum läßt für entsprechende Vorrüuine keinen Platz, durch
ärmliche Gänge oder über ein kleinliches Vestibüle tritt man ohne weiteres in
die Säle. Das, was wir im Allgemeinen über, den berliner Grundplan
sagten, paßt ganz besonders auf diese Börsenpläne.
Im Wesen und Charakter einer Börse liegen große Vorraume. Sie
führen zu den Börsensälen hin, wie sie umgekehrt für den geschäftlichen Ver¬
kehr als die Erweiterung, Fortsetzung derselben zu betrachten sind; sie gewäh¬
ren für eine im Freien gelegene unbedeckte Börse, Sommerbörse, die hier
ohnehin in nur sehr beschränktem Maße möglich und darum ungenügend
wäre, mehr als hinlänglichen Ersatz, da ihre Benutzung von der, Gunst, t>es
Wetters unabhängig, und bei einer über das ganze, GeMude ausgedehnten
Heizungsanlage auch im Winter möglich ist^ Ihre hallenartige Construction,
das von der Höhe fastende Licht, ein leicht anzubringendes springendes Wasser
machen außerdem während der Sommermonate den Aufenthalt in ihnen an¬
genehmer, als im Freien. Vor wenigen Jahren bewogen gleiche Gründe die
cmtwerpner Kaufmannschaft, den offnen Hof ihres, jetzt freilich in Trümmern
liegenden Börsengebäudes durch Ueberdeckung in, einen Saal umzuwandeln.
Eine gut eingerichtete Börse verlangt ferner eine organische Theilung des
Raums in solchen für die Nebenräume, und in solchen für die Haupträume.
Die Räume, für die Bureaus, Administration ze. müssen por den Haupt¬
räumen getrennt sein und doch in, engster Verbindung mit denselben stehe,n,
sie müssen vom Haupteingang aus auch bei deren Schluß, ohne dieselben zu,
berühren, leicht und bequem,, zugänglich sein, ein sür sich bestehendes Ganzes
im Ganzen bilden. Ebenso müssen die Börsensäle mit den verbindenden
Vestibülen so angeordnet sein,, daß sie vorkommenden Falls, zu, einem- gro߬
artigen Fest- oder Versammlungsraum vereint werden können. Die ent¬
sprechende Nauniausnutzung. wird sodann, die umfassende Berücksichtigung per-,
spectivischer Linien und, Sichten verlangen, die für die Gesammtwirkung des,
Innenraums von größter Wichtigkeit sind- Daß, auf d.le richtige Aysage, von
Priveten, versteckt und, doch bequem gelegen., von Licht und Lqft bestrichen,
von Nebentreppen, von PassagM, :c,. mit all der, Presse und PraktifaMtät,
die ein wohldisponirter Plan verlangt. Bedacht genommen werde, ist wol ein
selbstverständliches Verlangen, dem freilich in den Planen wenig Rechnung
getragen worden ist. Bei einem Gebäude von so öffentlichem Charakter
mußte die Raumeintheilung eine gewisse Großartigkeit der Anordnung zeigen,
die diesem Charakter wesentlich entspricht. Die Aufgabe des Architekten war
es. selbst bei mäßigen NaumverlMnissen und trotz derselben eine solche Gro߬
artigkeit zu erzielen. Ein guter Architekt zeigt sich eben ganz besonders rin
Grundplan, in der Art und Weise, wie er ihn ordnet. Den klaren Sinn, der
das Wesen der Aufgabe durchdringt und ihr aus ihr heraus instinctiv Ge-
Währung schafft auf die den gebotenen Mitteln und gegebenen Verhältnissen
entsprechende Weise vermissen wir in diesen Plänen, wie wir ihn in den Planen
d«r berliner Schule überhaupt vermißt haben. Die Poesie der räumlichen
Verhältnisse, die Semper als den Triumph der Architektur bezeichnet, feiert in
diesen Plänen keinen Triumph. Daß aber selbst von Laien öffentlich und zu
wiederholten Malen die Pläne für ungenügend befunden, verzeichnen w>r ein¬
fach als eine vox xoMi, nur mit dem Bemerken, daß wir do Schuld nicht
dem Raume nur den Bearbeitern des Raumes, den Architekten, geben können.
Betrachten wir nun den Aufbau. Mit Ausnahme einer flüchtigen Skizze
"Lr, voluws Mai", behandelt nur ein Project ..Hermes", denselben als
ungeputzten Ziegelrohbau. Die Darstellungsgesetze für den Rohbau sind im
Material gegeben . Schinkel hat in seiner Bauschule ein Beispiel dafür
aufgestellt. Slüter in seiner Marcuskirche. Seller in seiner Michaelskirche
Ad (jedoch mit entschiedener Hinneigung zur mittelalterlichen Bauweise) im
Ganzen glücklich gefolgt; weniger glücklich ist der, Verfasser, des Hermesproiects
gewesen. Nach der Burgstrabe zeigt er uns eine langweilige. Fenster an
Fenster gerichtete Nundbogenfa^abe. eine Kaserne oder Schule könnte ebenso aus¬
sehen; nach der neuen Friedrichsstraße dagegen macht sich in.der hintern Hälfte der-
getheilten Fronte in zwei, großen Bogenfenstern ein dahinter liegender Borsen¬
saal bemerklich. Ueber den Bogenfenstern zieht sich ein gemauerter Architrav
hin. der von gemauerten, mit Fuß und Capital- versehenen Pilastern scheinbar
gelingen wird. Ein Epistylion. d. i. einen von Stütze zu Stütze sich frei tra¬
genden Steinbalken. Monolith, aus einzelnen wagrechten Backsteinschichten auf
w weiten Entfernungen gestellten Pilastern auflegen zu wollen, ist, eine Un-
Möglichkeit ein Unsinn. Der Hermesverfasser behandelt den Backsteinbau nach
der Schablone des Monolithenbaues; daß es für den gebrannten Stein andre
Stilgesetze als- für den gewachsenen Stein gebe, scheint! ihm nicht klar ge¬
worden zu sein. Alle übrigen Projecte führen uns eine durch Putz auf Back¬
stein hergestellte Hausteinarchitektur vor. und was, aw diesem Bestreben wahr
und gut sei. glauben, wir im. Obigen angedeutet zu haben.
So bleibt uns noch, übrig, den Aufbau in.Rücksicht auf die Charakteristik.
die er in seinem Aeußern, der Fayade, wie in seinem Innern gefunden hat, zu
betrachten. Wie die Architekten der in Rede stehenden Pläne einem abstrakten
Schönheitsideal zu Liebe das gebotene Material verleugnen, ganz ebenso geben
sie über demselben die Entwicklung der Fayade aus dem innern Wesen, den
innern Verhältnissen aus. Wir finden, wenn wir von der Aeußerlichkeit und
Unwahrheit der Architektur absehen können, im Einzelnen manches Hübsche,
unter sämmtlichen Fanden aber auch nicht eine, die uns nur entfernt auf
eine Börse schließen ließe; wir würden bei der Mehrzahl derselben auf ein
Etablissement etwa nach Art des Krollschen rathen. Der historische Geist, der
seinen Gegenstand im innersten Kern erfaßt, spricht aus diesen Fa^adenent-
würfen so wenig, als er aus den Grundplänen sprach. Die Leistungen der
berliner Schule nach Schinkels Tod zeigen im Ganzen und Großen eine
gewisse Schüchternheit und Selbstgenügsamkeit, die, eine freie energische Er¬
fassung fliehend, in der Durchbildung des Details ihr Ziel findet, schade nur,
daß sich die für Marmor erfundenen Formen mit Gyps, Mörtel und Oelfarbe
abfinden lassen müssen. Eng hängt mit dieser Richtung auf das Einzelne
das lyrische subjective Moment zusammen, das von Haus aus einen Grund¬
zug der Schule bildete. Daß aber der Monumentalbau einen gesünderen,
kräftigeren Boden verlangt, das haben wir in Vorstehendem zu beweisen ver¬
sucht. Die Schule verbarrikadirt sich hinter der Autorität Schinkels; wahre
Schüler, rechte Nachfolger Schinkels sind wir aber nur dann, wenn wir über
die zeitlichen Schranken, die doch auch ihm, dem so Hochbegabten, gestellt
waren, hinaus fortbauen an dem Werke, zu dem er so herrlichen Grund
gelegt hat, und das Wesen der hellenischen Kunst nicht in dem Copiren
hellenischer Formen, sondern darin suchen, daß wir im Geiste und nach dem
Vorbilde der Hellenen selbstschöpferisch eine Form gestalten, die den Bedin¬
gungen unsrer Zeit in ebenso vollendetem Maße entspricht, als die helle¬
nische Form den Bedingungen der hellenischen Zeit entsprach. Soll die Fayade
nach Wischers treffendem Ausdruck das „Angesicht" sein, „worin der Bau
seine Seele nach außen ausspricht", soll sie das „zunächst verborgene Innere
des Baues, als Hauptsitz der Schönheit, nach außen dem Herantretenden an¬
kündigen," so muß das dem JnneUbau wesentliche Charakteristische im
Außenbau klar und deutlich, gewissermaßen als Nesumv zusammengefaßt, zur Er¬
scheinung kommen. Die äußeren Formen und Verhältnisse, die ganze äußere
Erscheinung liegt in der innern Raumordnung latent, im Keime gegeben. Der
Außenbau soll und darf nichts anders sein, als das naturnothwendig gewordene
Außenbild des innern Organismus. Daß aber die äußere Erscheinung, weil eine
charakteristische, auch eine schöne sein muß, das liegt schon im Wesen der Baukunst
als Kunst ausgesprochen. Schönheit ist die Einheit von Inhalt und Form,
der Inhalt aber ein individueller., demnach kann die Form, in der der Inhalt
aufzugehen hat. keine absolute sein. Absolute Form schreibt das Schema vor
und ist darum mit aller wahren Kunst unverträglich. Von den Verfassern
der Börsenprojeete macht nur der Hermesverfasser einen schwachen Versuch,
den durchgehenden Saalbau im Aeußern zu zeigen; er fehlte, weil er das
Hauptmoment des Baues, den Saalbau. nicht zum Hauptmoment der Fa?abe
machte, es nur als untergeordnetes. Motiv an der hintersten Partie der zer¬
stückelten Friedrichsftrahenfc^abe anwandte. Die übrigen Fanden zeigen besten
Falls eine Reihe von durch schwache Schäfte getrennten Fenstern in zon
Stockwerken übereinander; daß sich keines derselben über die conventionellen
Formen der berliner Schule erhebt, haben wir oben schon erwähnt.
Für die Bildung des Innenraums ist die Art und Weise der Ueberdeckung
maßgebend. Eine Reihe von Plänen construirt das Deckengerüst aus Eisen und
wölbt dasselbe mit Stein aus. Beispiele derselben Art der Ueberdeckung gewähren
die Deckenbiidungen des griechischen Saals im Neuen Museum zu Berlin, wie des
Vibliothetsaales von Se. Geneviöve zu Paris; beide Beispiele geben aber auch
den Beleg dafür, daß derartige Constructionen mit den Anforderungen, die
wir an ein monumentales Bauwerk stellen, unvereinbar sind. Die Verwen-
dung des Eisens zu solchen Constructionen geschieht in der Form von Stäben,
die Construction wird aber um so vollkommener sein, je geringer die Starke
der erforderlichen Stäbe angenommen werden kann. Die architektonische
Schönheit aber ist eine rhythmische, in den Verhältnissen ruhende, ein Mißver-
hältniß zwischen Kraft und Masse darum unschön. Ein solches Mißverhältniß wnd
aber naturnothwendig da eintreten müssen, wo eine gewaltige Last von wenigen
dünnen Stäben gestützt und getragen wird, bei der Eisenconstruction; dem
Getragenen fehlt eben das augenfällig Tragende. Dann aber wird der „Grad
der Naumeröffnung". der in der Eisenconstruction nicht nur ermöglicht, son¬
dern gradezu bedungen ist. eine Alterirung des Wohlverhültnisses herbeiführen,
die. weil den Rhythmus der Verhältnisse störend, der Aufgabe der monumen-
Wien Baukunst diametral entgegenläuft. Dazu kommt, wie Bischer richtig
bemerkt, „daß aus dem Eisen sich das decorative Element nicht organisch ent¬
wickeln läßt; denn eben weil die Leistung mit so wemg Aufwand von Masse
geschieht, eignet sie sich nicht zu einem entsprechenden Ausdruck in kräftig
hervorschwellenden und wieder eingezogenen Gliedern; aus den mechani,chen
Verbindungen durch Schweißen, Schrauben :c. läßt sich keine organisch be-
gründete Symbolik als Ausdruck des Zusammenstoßes entwickeln, und bei der
eigentlichen Ornamentik wird die Dünne übel wirken, wie in den structiven
Theilen." Die gesuchte und spielende Decoration des berliner Gewölbebinders,
die überdies der Zugstange rein äußerlich und willkürlich aufgesetzt ist. liefert
für das Gesagte einen schlagenden Beweis. Die Anwendung des Eisens zu
Ueberdeckungen in der Form von Stäben scheint demnach, sofern sie in sicht-
barer Weise geschieht, in der schönen Baukunst unzulässig, dagegen mag der
Vorschlag Sempers, das Metall nach Vorgang der Alten für monumentale
Bauzwecke in Blechform zu verwenden, hier wenigstens eine Erwähnung finden.
Der stabförmigen Eisenconstruction verbleibt sonach als sichtbarer Raumüber¬
deckung das Gebiet der ausschließlich praktischen Baukunst, und hat sie hier
gewaltige Werke geschaffen, wie die Industrie»aläste, Eisenbahnhallen, Winter¬
garten. Ueberall, wo Eisenconstructionen sonst in Anwendung kommen, erinnern
sie uns durch die primitive, rein praktische Zweckerfüllung unwillkürlich an jene
zugigen Hallen und Räume. Daß auch die berliner Börsensäle die Erinnerung
daran wecken, liegt eben in der Natur der Sache. — Für die weitere Aus¬
stattung der Säle scheint der Vorsatz „etwas los lassen zu wollen" bestim¬
mend gewesen zu sein; die Mehrzahl derselben gleicht eher Tanzsälen, denn
Börsenhallen. Die rechte treffende Charakteristik suchen wir auch hier meist
vergebens.
Nicht allein die Bedeutung, welche Breslau für den ganzen deutschen Osten
hat, sondern vor allem die Eigenthümlichkeit der Bahnen, in welchen sich seine
politische Entwicklung bewegt, sichert dieser Stadt eine gewisse Wichtigkeit,
und so hofft der Versasser des nachstehenden Aufsatzes für diesen Versuch,
die Geschichte der breslauer Verfassungskämpfe unter den Luxemburgern
in kurzen Umrissen zu zeichnen, auch über die Grenzen Schlesiens hinaus ein
gewisses Interesse voraussetzen zu dürfen. Es war ihm auch vergönnt, zu
dieser Arbeit die reichen Schätze des breslauer Nathsarchives benutzen zu
können.
Das alte Breslau hatte schwer gelitten unter den Verwüstungen, die der
schreckliche Mongoleneinsall von 1241 über Schlesien gebracht, und um es zu
neuer Blüte emporzuheben hatte es unmittelbar nachher die Klugheit und
Freundlichkeit der Picistischen Fürsten mit deutschem Recht ausgestattet, v. h.
ihm eine Reihe von Freiheiten gewährt, welche geeignet waren, neue Colonisten,
vorzüglich deutsche, nach der verödeten Stadt zu lockert und neues Leben
aus den Ruinen hervorblühen zu lassen. Hiermit war aber ein gewisser
Grad von Selbstregierung verbunden, es siel nun die Hauptsorge für die
Verwaltung einem Collegium von Nathmännern zu, welches alljährlich neu sich
constituirte. Die Wahl derselben stand ursprünglich unzweifelhaft der Bürger¬
schaft zu. indessen bei der Schwierigkeit eines geeigneten Wahlmodus bildete
sich noch im 13. Jahrhundert die Praxis aus. daß die abgehenden Nath-
münncr am Ende ihres Amtsjahres die neuen für das nächste Jahr vorschlugen
oder factisch erwählten. Damit war nun die Verfassung schon in gewisser
Weise aristokratisch bestimmt, freilich war dabei von einem geschlossenen Adels¬
regiment nicht die Rede; es konnte ein eigentliches städtisches Junlerthum.
das sich auf großen Grundbesitz und auf das Alter der Familien stützte, in
einem Gemeinwesen, das als solches von so jungem Datum war. sich acht
wol finden, es gab hier auch kein Gesetz, welches einen freien Bürger von
der Wählbarkeit in den Rath ausgeschlossen Hütte. Doch wechselte die Wurde
der Rathsherrn oder Consuln. wie sie auch genannt werden, bei jener Praxis
in einem engeren Kreise unter den angesehnern Bürgern, die bei dein schnell
aufblühenden Handel Breslaus meistens dem Kaufmcmnsflande angehörten.
Dieses Verfahren stich aber schnell auf Opposition.
Die Handwerker nämlich, welche in den slavischen Zeiten eine sehr unter¬
geordnete und wenig geachtete Stellung eingenommen, hatten durch den Act.
durch welchen sich die Stadt auf der Grundlage des deutscheu Rechtes neu
gründete. Freiheit und höhere Bedeutung erlangt, und indem nach den An¬
schauungen der damaligen Gewerbepolitik jedes Handwerk auf eine fest be¬
stimmte Anzahl von Berechtigten beschränkt wurde und zur bessern obrigkeit¬
lichen Controle eine besondere gemeinsame Verkaufsstätte seiner Producte an¬
gewiesen erhielt, gab man ihnen einmal durch solche Art von Monopolisirung
bei der schnell sich vermehrenden Bevölkerung die Mittel in die Hände, in
wrzer Zeit wohlhabend zu werden, anderseits constituirte man sie eben dadurch
in ihren Zünften oder Innungen als geschlossene Genossenschaften. Dieselben
hatten auch ihre gesetzmäßigen Vertreter, ihre Tribunen in ihren Zunftmeistern
und Geschwornen, an welche sich der Rath selbst um sachverständige Gutachten
zu wenden pflegte. So war es denn kein Wunder, daß die Handwerker,
wohlhabend und dabei fest organisirt. bald eine Macht wurden in der Stadt,
und wenn wir sie andrer Orten einem auf bestimmte Privilegien oder wenig¬
stens auf uraltes Herkommen gegründeten aristokratischen Regiment sich ver-
hältnißmäßig lange Zeit geduldig fügen sehen, ohne daß sie einen directen
Kampf gegen dasselbe beginnen, so konnten solche Rücksichten sie in Breslau
nicht zurückhalten, wo nur eine weder tief gewurzelte noch rechtlich begründete
Praxis sie von der Theilnahme an der Negierung ausschloß. So vollzieht
sich denn hier jener Proceß der Stündeausgleichung, der anderswo unter blu¬
migen Kämpfen durch Jahrhunderte fortspielt, auffallend schnell und leicht.
Schon etwa ein halbes Jahrhundert nach jener Neugründung der Stadt
pochen die Zünfte an die Thore des breslauer Rathhauses, Sitz und Stimme
verlangend im Rathe, und ohne daß irgendwie Kämpfe vorangegangen zu sein
scheinen, gewährt nur ihnen Einlaß. l3>4 erscheinen sechs Männer aus den
verschiedenen Handwerken erwählt unter den bisherigen acht Mitgliedern im
Rathe, ja im folgenden Jahre machen die zünftigen Beisitzer sogar die Hälfte
aus. Seltsam daß dieses wichtige Ereigniß in keiner der sonst so trefflichen
Darstellungen der breslauer Geschichte eine Erwähnung gefunden hat, obwol
die Nachricht, aus einem gleichzeitigen uns noch in einer Abschrift erhaltenen
städtischen NcehnnngSbuche entnommen, in keiner Weise angezweifelt werden
kann.
Freilich war jenes Ereigniß nichts weniger als der Abschluß der innern
Kampfe; es trat vielmehr eine starke Reaction ein, das aristokratische Element
begann sich jetzt erst bestimmter und bewußter auszubilden, und daß dies ge¬
schah, war im Wesentlichen das Resultat der politischen Verhältnisse und des
Einflusses der luzembnrger Herrscher.
So wie es nämlich dem Kaiser Heinrich VII. gelungen war, seinen Sohn
Johann auf den böhmischen Königsthron zu bringen, strebte dieser danach,
einen Einfluß auf das schlesische Nachbarland zu gewinnen, welches unter
viele Fürsten getheilt in deren Streitigkeiten eine geeignete Handhabe für der¬
artige Einmischungen darbot. , Eben damals regierte über Breslnu Herzog
Heinrich VI., ein wohlwollender und humaner, aber nicht eben sehr energischer
Fürst. Dieser, von seinein habsüchtigen Bruder Boleslaus bedrängt, suchte den
Rückhalt eines mächtigen Fürsten und warf sich endlich ganz in die Arme
König Johanns, den er >?>27 als seinen Lehnsherrn anerkannte und für den
Fall seines kinderlosen Todes zum Erben seines Herzogthums einsetzte. Es
mußte dies nothwendig von dem größten Einflusse sein auf das Schicksal der
Stadt. Der vornehmere Theil der Bürgerschaft, in deren Händen doch noch
immer die Summe der Negierung lag, und welcher hautsächlich aus Kauf¬
leuten bestand, mußte in dem voraussichtlichen Heimfall an einen größern
Staat ein offenbares Glück sehen, welches ihrem Handel bedeutendere Aus¬
dehnung und Befreiung von manchen Fesseln verhieß. Sie waren also sehr
bereit zu einem Arrangement mit dem neuen Herrscher. Und was diesen selbst
anbetraf, so gehörte er keineswegs zu den Fürsten, welche in starrer Auffassung
des monarchischen Princips die Städte um jeden Preis unter ihren Willen
zu beugen und deren Selbständigkeit zu brechen strebten. Solcher Fürsten
hat es überhaupt damals nicht viele gegeben, man ließ sich zu solchem Ver¬
fahren hauptsächlich nur in sehr bestimmten Fällen drängen, wenn es z. B.
vielleicht die eigne Residenz betraf, wo der Fürst sich in seiner unmittelbarsten
Nähe fortwährend gehemmt sah, oder wenn ein fest geschlossenes Patriciat
mit stark ausgeprägtem aristokratischem Bewußtsein herausfordernd dem Landes-
fürsten entgegentrat.
Dies paßte beides auf Breslau nicht, und so galt denn hier der Grund-
sai^. den nur am allerhäufigsten in der Politik der Fürsten gegenüber den
Städten befolg sehen. Die Städte sind das Element im damaligen Staate,
welches die meisten materiellen Mittel, die meiste Steuerkraft hat'
, diese gilt
ermöglichst auszubeuten; man gebe nam alle möglichen Begünstigungen und
Freilisten, wenn sie eS nur dagegen sich angelegen sein lassen, die stets be¬
dürftigen Seckel der Fürsten nach Kräften gefüllt zu erhalten. Und da nun
das breSlauer Patriciat eben wesentlich ein kaufmännisches war. so war das
Geschäft bald abgeschlossen; der König gab Privilegien für den Handel, die
Stadt gab Geld! Nun hing aber etwas Andres damit eng zusammen.
Damit'die Stadt zahlen konnte. mußte die Gewalt des Rathes möglichst
"hohe und die Wahl desselben möglichst unabhängig gemacht werden
von dem zweifelhaften Schicksal der Wahlurne. Da man die politische
Ansicht, das; ein reger Aufschwung des Handels. wie ihn ausgedehnte
fürstliche Privilegien herbeiführen konnten, dem ganzen Gemeinwesen zu
Gute käme, dem großen Haufen nicht zutrauen konnte, so mußte das
Interesse der or.emburger Herrscher ebenso wie 'das der bresiauer Patnncr
einer Ausbildung der Bersassuug nach der demokratischen Seite hin breet
entgegen sein; 'so sehen wir denn, während der brcslauer Nath durch
mehrfache Gesandtschaften in die innigsten Beziehungen zu Prag noch vor
dem Tode Herzog Heinrichs tritt, zu derselben Zeit (1320) die sechs zünftigen Bei¬
sitzer wieder aus dem Rathe verschwinden, indem zugleich die bisherige Praxis,
den neuen Nath durch den abgehenden wählen zu lassen, im Jahre 1327 ge¬
setzlich sanctionirt wird.
Man darf sich nun nicht wundern, daß diese Vorgänge auf Opposition
stoßen, und dies wird um so erklärlicher, wenn wir bedenken, wie sehr damals
die Finanzwissenschaft in ihrer Kindheit war, so daß man es nicht anders
versteht, als daß, wenn in einem Jahre aus Veranlassung des Landesfürsten
eine bedeutende Mehrausgabe nöthig wurde, diese Summe sofort in ihrem
«anzen Betrage von den Bürgern eingezogen wurde. Daher konnte es damals
vorkommen, daß die Zahl der jährlichen Steuererhebungen von vier bis auf
zehn und der Ausgabcetat um das Doppelte, ja das Dreifache der vorjährigen
Summe stieg, so 'daß die Bürger also in manchen Jahren dreimal so viel
Steuern zahlen mußten als sonst. Daß solche Verhältnisse Unzufriedenheit
hervorriefen, kann kaum befremden, und andrerseits gab es auch unter den
Zünften einige, welche besondere Ursache zur Mißstimmung- hatten; so die
durch die Zulassung ihrer Concurrirten vom Lande gereizten Bäcker und vor
allem die Tuchmacher, denen die patricischen Tuchkaufleute den Verkauf ihrer
Producte nicht gestatten wollten.
Diese letztem waren es nun hauptsächlich, welche im Jahre 1333 einen
Aufstand erregten. Die Zeit war günstig gewühlt, denn eben das Jahr vor¬
her war eine solche erhöhte Besteuerung der Bürgerschaft, die das Budget
um mehr als ein Drittel steigerte, dadurch nothwendig geworden, daß die Bürger
König Johann bei Gelegenheit seines Aufenthalts in Breslau dreimal hatten
auslösen, d. h. dreimal für ihn die Bezahlung seiner Schulden übernehmen
müssen, und die neue Art der Steuererhebung, bei welcher der Rath eine eid¬
liche Angabe des Einkommens zum Zweck der Schützung verlangt hatte, er¬
bitterte noch mehr.
Tumultuarisch zog denn eine Schar, an der Spitze die Tuchmacher, vor
den Herzog, um den Nath anzuklagen wegen Vergeudung der öffentlichen
Gelder. „Nicht in Eure Kasse kommt das Geld," sagten sie dem Herzog,
„sondern ihre Töchter und Anverwandten statten sie damit aus." Freilich
vermochten sie auf des Herzogs Frage keine andern Beweise vorzubringen,
als daß der Stärkste unter ihnen um seinen Dolch schlug, und die Rädels¬
führer von 900 Bewaffneten sprachen, die ihres Winkes gewärtig ständen.
Dann fügten sie zur Drohung die Versprechung, vermaßen sich, dem Herzog
ein Faß gefüllt mit Silber und eins mit Gold zu geben, wenn er ihre Partei
ergreifen wolle.
Es ist dies nicht unerhört in der Geschichte der städtischen Verfassungs¬
kämpfe, daß die Zünfte den Fürsten durch Geldversprechungen auf ihre Seite
bringen; in Regensburg haben auf diese Weise die Handwerker den Schutz
der bairischen Herzöge erlangt. Hier aber mußte eine solche Bestrebung noth¬
wendig scheitern; Herzog Heinrich Hütte, selbst wenn er gewollt Hütte, gebun¬
den wie er war durch sein Verhältniß zu Böhmen, nicht wol ein Bündniß
mit der Revolution eingehen und so tumultuarisch angebotene Vortheile an¬
nehmen können. Er hielt ernst und fest den Aufstand nieder. Drei der schul¬
digster wurden enthauptet, sechs des Landes verwiesen.
Schon zwei Jahr darauf starb Herzog Heinrich. den Breslauern unver¬
geßlich durch seine liebenswürdigen, uns urkundlich überlieferten Worte, er
wolle, daß man in Breslau nicht nur lebe und esse, sondern gut lebe und
gut esse.
Nun siel Breslau definitiv an Böhmen und jene oben angedeuteten Ver¬
hältnisse entwickelten sich noch deutlicher als früher. Schon die unmittelbar
darauf folgenden Jahre zeigen uns eine Fülle königlicher Privilegien, durch
welche theils Hindernisse des Handels weggeräumt, theils neue Einnahme¬
quellen der Stadt eröffnet, theils auch die Autorität des Rathes befestigt
werden sollte. Dafür zahlt die Stadt. Der Ausgabcetat erhält sich in diesen
Zeiten auf einer Höhe, die früher nur in ganz außerordentlichen Fällen er¬
reicht worden war, der König leistete selbst viel im Geldverbrauchen, und sein
Sohn, der spätere römische Kaiser, damals noch Markgraf von Mähren, ließ
sich auch nicht selten in Breslau sehn und war sehr geneigt. seine kronprinzliche
Gnade und Wohlgewogenheit in gutes Silber umzusetzen. Was die Bürger¬
schaft anbetrifft, so wiederholen sich wenigstens die traurigen Scenen von
1333 nicht, obwol die jährliche Wahl der Konsuln sicher nicht ohne Aufregung
der Bürger vor sich gehen mochte. Um dieser zu begegnen, erließ Johann
1343 eine Verordnung, nach welcher das Rathsherrnamt auf lebenslang ver¬
liehen werden sollte. Gegenüber dieser Verstärkung des aristokratischen Elements
in der Verfassung war es als eine liberale Concession anzusehn. daß dabei
die Zahl der Rathsmitglieder auf 32 erhöht wurde, welche die Bürgerschaft
wählen sollte, und bei denen man ohne Zweifel auch auf eine Vertretung
der Zünfte rechnen konnte.
Ohne daß es sür uns aus den Rechnungsbüchern ersichtlich wäre, ob
und inwiefern jene Einrichtung einen Systemwechsel in der Negierung hervor¬
gebracht, wissen wir nur. daß dieselbe wenig beliebt war. und daß deshalb
beim Tode Johanns 134K einige Konsuln sich an dessen Nachfolger wandten,
ihm vorstellend. es habe um den Rath. wie um die ganze Stadt besser ge¬
standen, als die Kur der achtjährlichen Konsuln Brauch gewesen.
Karl willfahrtete diesen Bitten, und aufs neue eingelenkt in dre alten
Bahnen bewegt sich das städtische Regiment und nicht zum Nachtheil der
Stadt. Es ist bekannt, daß Karl ein ebenso guter Regent sür seine Erdtaube
war. als ein schlechter für das Reich. Er hat für Breslau in einer wahrhaft
landesväterlichen Weise gesorgt. Mit vollem Rechte trägt noch heut eme
Straße der Stadt seinen Namen; er war es. der. nachdem zwei furchtbare
Feuersbrünste Breslau verwüstet, mit Klugheit und Verständniß den Neubau
anordnete, und die alte Südgrenze der Ohlau überschreitend, die Ringmauern
Zweckmäßig weiter hinausschob, auch durch Steuererlasse und Schenkungen es
der Stadt möglich machte, über die Zeiten der Noth leichter hinwegzukommen.
Für den Handel Breslaus sorgte er in der ersprießlichsten Weise, acht blos
äußerlich, durch Ertheilung wohlbezahlter Privilegien, sondern indem er sich
selbst der Sache annahm, und das Gewicht seines Ansehens in die Wag-
schale warf. Wir finden! daß er in solcher Absicht ernstlich mit dem deutschen
Orden unterhandelt, nach Ungarn hin den Breslauern freien Handel verschafft
und den König von Polen, der Schwierigkeiten machen will, durch Drohungen
einschüchtert. Er achtet nicht der Eisersucht seiner Hauptstadt Prag, welche
den Breslauern den freien Durchzug mit ihren Waaren nicht gestatten ont.
dabei gibt er diesen einen neuen jährlichen Markt und hält selbst dem mäch¬
tigen Klerus, ebenso wie den schlesischen Fürsten gegenüber die Rechte der
Bürgerschaft mit starker Hand aufrecht. Der brcslauer Rath nahm unter
Karl IV. eine so geachtete Stellung ein. daß er mehrfach als gewählter
Schiedsrichter erscheint bei den Streitigkeiten schlesischer Fürsten.
Die Bürgerschaft konnte ihr Auge solchen Verdiensten nicht verschließen,.,
um so weniger da er auch ein Uebersehen des Rathes zu verhindern suchte
und die Konsuln uicht nur wiederholt zur strengsten unparteiischen Gerechtig-
keitspflege ermahnte, sondern auch sehr bezeichnend beifügte, der Nath solle
Unruhen und Streitigkeiten weniger durch Gewalt als durch Klugheit nieder-
linltcn. Hatte er doch auch in einer oftmaligen Zuziehung der Vertreter der
Zünfte, der Geschworenen, ein Mittel in den Händen, den Wünschen der Hand¬
werker einigermaßen gerecht zu werden, und wir sehen den Kaiser wie den
Nath oft davon Gebrauch macheu. Und selbst die Geldopfer, die er von der
Stadt verlangte, und die uicht unbedeutend waren, wurden nicht mehr, so
drückend empfunden als früher, indem mau es inzwischen gelernt hatte, ganz
kunstgemäß Schulden zu machen und städtische Schuldverschreibungen in Cours
zu setzen, so daß die ungeheuern Verschiedenheiten des Finanzctats, die früher
so sehr den Unwillen der Bevölkerung erregt, nun uicht mehr vorkommen.
Freilich hörte die gute Zeit auf, als nach dem Tode Karls 1378 dessen
Sohn Wenzel zur Negierung kam. Zwar nicht augenblicklich ließ sich die
Ordnung des Gemeinwesens erschüttern, es ist auch für uns uicht wahrzu
nehmen, daß etwa besondere Mißbräuche sich jetzt eingeschlichen und das Boll
aufgeregt hätten, es zeigte sich aber doch, wie viel Karl, obwol er scheinbar
die Stadt sich ganz selbst überlassen, durch eine kluge und für Breslau wahr¬
haft förderliche Oberleitung zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe beigetragen
hatte. Der König Wenzel, wie viel Uebles wußte nicht das Volk immer von
ihm zu erzählen, daß er den Beichtvater seiner Gemahlin Jot), v. Nepomuk
in der Moldau ertränken lassen, daß er mit dem Scharfrichter enge Freund¬
schaft geschlossen, und ihm die Tilgung seiner Schulden übertragen, auf die
allerbequemste Weise, indem er seine Gläubiger eiuen Kopf kürzer machen ließ,
daß er sich entsetzliche Bestien von Hunden gehalten, durch welche eine seiner
Gemahlinnen eines Nachts zerrissen wurde. Nun hat zwar die historische
Kritik unsrer Zeit unter jenen Geschichten gewaltig aufgeräumt, etwas ist aber
doch immer geblieben, man muß immer noch zugestehn, daß Wenzel etwas von
einem orientalischen Despoten an sich holte. Was Wenzels Unglück gewesen ist,
war eben jenes Schwanken zwischen auffahrender Gewaltsamkeit und schlaffer
Nachgiebigkeit, Eigenschaften, welche, wo immer sie vereint bei einem gekrönten
Haupte ausgetreten sind, nie verfehlt haben großes Unglück anzurichten. Man
muß sagen, den Brcslauern gegenüber war es vor allein die Schwäche Wenzels,
die viel Unheil verschuldet hat, weil sie eben dann auch eine sehr berechtigte
Strenge im Lichte eine»! Gewaltthat erscheinen ließ.
Es konnte den Brcslauern nicht lange verborgen bleiben, daß nicht mehr
die kluge und feste Hand Karls die Zügel der Negierung halte, und daß der
Schild der königlichen Majestät, der so lange schützend über dem breslaucr
Rath geschwebt hatte, fortan kein sichrer Schirm mehr sein würde, und so
w>e in Böhmen die ersten Unruhen abbrachen, regte sich auch in Breswu
wieder der Geist der Zwietracht. Zwar suchte der Rath der Unzufriedenheit
unen Darum entgegenzusehen, indem er >3L!> die aus den Zünften gewählten
Geschworenen zu einer Art von Tribunat, einer eigentlichen Schutzobrigkeit der
Bürgerschaft bestellend, diese letztere eidlich sich verpflichten ließ, ihre Beschwer¬
de» nur auf diesem gesetzlichen Wege vorzudringen, während nam als letzte
Instanz immer die Appellation an den König offen stehen sollte; aber es gab
doch Elemente in der Stadt, welche sich durch solche Vereinbarung nicht bin¬
den ließen. DaS war einmal der große Haufen, das niedere Volk, dem es
natürlich vollständig gleichgiltig war, ob die verhältnißmäßig kleine Zahl von
»nnftberechtigten Handwerksmeistern Vertretung im Rath fanden oder nicht,
dem aber die unter Wenzel noch gestiegene Steuerlast hinreichenden Grund zur
Unzufriedenheit bot. und welches, wie überall, leicht zu entflammen und auf¬
zustacheln war. Dann aber gab es doch auch, wir wir schon sahen, zwer
Zünste, welche ganz speciellen Grund zur Mißstimmung zu haben glaubten,
"ut zu diese» trat jetzt auch die große Zunft der Fleischer, durch den 1387
an ni»em Tage der'Woche zugelassenen freien Fleischmarkt gereizt, doppelt
gefährlich sowol durch ihre große Anzahl (an einem einzige» Tage werden
1381 77 Schlächter als Bürger eingeschrieben), als auch dnrch ihre im ganzen
Mittelnlter gefürchtete Wildheit und Gewaltthätigkeit; endlich herrschte auch
in der Neustadt wie in den Vorstädten große Unzufriedenheit, indem die dor¬
ten Einwohner sich den altstädter Bürgern gegenüber sehr im Nachtheile
glaubten.
Diese Verbindung brachte 1390 den ersten Aufstand zu Wege. In dem¬
selben Jahre, wo auch in Böhmen sich die Unzufriedenheit gegen Wenzel znerst
Luft machte, begannen auch in Breslau die Kämpfe, die nnn fast dreißig
Jahre fortdauern sollten. Man setzte tumultuarisch den Nach ab und einen
neuen ein. Wie es dieser Härte anfangen sollen, um den widersprechenden
Forderungen der Aufrührer gerecht z» werden, ist nicht nbzuseh»; während der
gemeine Mann über zu hohe Steuern klagte, revolutionirten Bäcker und
Fleischer blos deshalb, weil sie ihr Brot und Fleisch nicht so theuer verkaufen
durften als sie es wünschten. Man verglich sich wol wieder, führte die alte
Nathöwnhl wieder ein. nur daß von jetzt an statt der alten acht Rathsmit-
glieder deren elf oder zwölf erscheinen, wovon drei aus den Zünften gewählt wer¬
den, aber 1494 erneuert sich die Empörung wieder, und Wenzel, der schon dnrch
Gesandte zu vermitteln versucht hat, erläßt nnn ein Decret, durch welches er
wenigstens die neustädter Bürger, die Vorstüdter und das angesehene Gewerbe
der Tuchmacher durch Concessionen zu gewinnen sucht; freilich den Brot- und
Tieischmartt konnte er nicht wol aufheben.
Die Hauptsache war. daß er bei den immer bedenklicher werdenden Ver¬
wicklungen Böhmens mehr als je Geld brauchte, während auch der bres-
lauer Rath, dem immer die unangenehmste Rolle bei dem Geldeintreiben
zufiel, von beiden Seiten gedrängt endlich selbst Schwierigkeiten zu machen,
anfing, so daß Wenzel 1399 zu dem Mittel griff, der Stadt einen Rath zu oc-
troyiren, mit einigen Beisitzern aus den Zünften. Aber weit entfernt, hier¬
durch den Aufstand ganz zu dämpfen, entflammte er ihn vielmehr von
neuem. Die Breslauer hatten bisher zwar alljährlich ihre Steuern
und außerordentliche Contributionen an den König gezahlt, aber dabei
doch ihre vollständige Selbstregierung gehabt; ihnen mußte jenes Ver¬
fahren wie ein Angriff auf ihre althergebrachte Selbststündigkeit erscheinen,
es schien als sollten sie vollständig geknechtet werden, damit man sie in aller
Ruhe aussaugen konnte. Wenzel bewirkte durch jene Maßregel nichts, als daß
sich der Grimm des schon aufgeregten Volkes .von ^den Patriciern ab jetzt
allein gegen ihn wandte. Es fehlt mir um Raum, um die Ereignisse dieser
Jahre hier im Einzelnen vorzuführen, ich bemerke deshalb nur, daß von jetzt
an fast Jahr sür Jahr die Kämpfe sich wiederholen, indem die empörte Menge
den von Wenzel ernannten Rath zur Abdankung zwingt und selbst einen
neuen erwählt, der dann wiederum von dem König verworfen wird. Dieser
letztere sieht auch wol das Bedenkliche seiner Handlungsweise ein und
versucht dann zu widerholten Malen, der Bürgerschaft das Wahlrecht zurück¬
zugeben, aber dann zeigt sich ihm immer der neue Rath so ungehorsam, daß
er wieder zur Absetzung desselben schreiten muß, und als er 1407 der Stadt
eine sehr bedeutende Geldstrafe auferlegt, macht er natürlich das Uebel noch
ärger, besonders da man in Breslau sehr wohl weiß, wie sehr dem König
durch die böhmischen Wirren die Hände gebunden sind. So verwickeln sich
denn die Verhältnisse mehr und mehr. Ein recht Helles Licht auf dieselben
wirft ein im städtischen Archiv zu Breslau befindliches Actenstück, welches den
Verlauf der Ereignisse von 1413—15 schildert. Seitdem Jahre 1412 herrschte
in Breslau eine furchtbare Pest, die unzählige Opfer forderte und im Jahr
1413 auch einen großen Theil der Rathsmitglieder und Schöppen wegraffte,
weshalb die Bürgerschaft den Rath in einem ihr zusagenden Sinne neu con-
stituirte. Dieser neue Rath trat aber sofort in eine oppositionelle Stellung
zum König. „Des Rathes Tisch ist unsern Eltern sauer geworden, ich will
diesen Tisch bei Würden behalten äußerte sich einer derselben. Vergebens
wartet der König auf eine Anzeige der getroffenen Veränderungen, man er¬
wählt gegen seinen ausgesprochenen Willen bei Ablauf des Amtsjahres neue
Consuln, die noch ungehorsamer sind als die früheren; auf wiederholte Mah¬
nungen ihm Gesandte zu schicken, erhält er lange Zeit gar keine Antwort
und endlich nichts als Ausflüchte, es seien die Wege unsicher, der Jahrmarkt
nah,, der Landeshauptmann nicht anwesend. Als Wenzel nun einen neuen
Termin bestimmt, sür den jene Ausflüchte acht mehr gelten können, schicken,
sie endlich zwei Abgeordnete, aber ohne Vollmachten. Es hilft dem König
nichts, daß er in besonderen Schreiben die Kaufmannschaft und die Zünfte
Mu Gehorsam ermahnt, sie erinnernd an den Brief, den sie ihm kurz vorher
gemeinsam geschrieben, und worin sie ihn ihrer Treue versichert. Es half
dies nichts, denn auch jener Brief hatte, was das Wichtigste war. schwere
Klagen enthalten über die hohen Steuern und die Schuldenlast der Stadt
und jetzt .verbreitete der Rath selbst auf das eifrigste das Gerücht, was der
König von ihnen wolle, seien weiter nichts als neue Gelyforderungen. So
sieht sich Wenzel genöthigt, den Rath abermals abzusetzen, und zugleich be¬
fiehlt er. daß der'Brief.'in dem er dieses anzeigt, allen Kaufleuten und allen
Handwerkern votgelegt werde, damit sie durch Namensunterschrift bekennen,
"b sie ihm Gehorsam leisten wollen oder nicht.
Das ganze Document zeigt recht deutlich, wie sich die Verhältnisse ge-
ändert haben; die Zünfte erscheinen hier keineswegs mehr feindlich gegenüber¬
stehend der Kaufmannschaft als dem Patnciat. und der König kann sich auf
diese nicht mehr verlassen, als auf jene. Ju dieser Lage, durch die bös.
wischen Verhältnisse bedrängt und fortwährend in Geldnoth, muß er bald
wieder zur Milde greifen; er erläßt eine allgemeine Amnestie, und damit der
von ihm ernannte Nath nicht gleich wieder abgesetzt werde, verordnet er 1417,
daß vier aus den Kaufleuten, von den Handwerkern gewühlt, und vier aus
den Zünften, von den Kaufleuten gewählt, zur Controle der Finanzverwaltung
zugezogen werde» sollten. Ernstlich warnt er zugleich die Jüngeren aus beiden
Ständen, nicht ihre AeUesten und Geschworenen zum Ungehorsam zu reizen
"der wol gar zu zwingen.
So kam das verhängnißvolle Jahr 1418 heran; die Verhältnisse
waren nicht besser geworden, die Urkunden der letzten Jahre erzählen uns von
bedeutenden Schulden, welche die Stadt machen müssen. Es konnte nun wenig
wehr helfen, daß Wenzel am Anfang dieses Jahres den Bürgern das
Wahlrecht wiedergab, mußte er doch zu derselben Zeit eine neue Steuer auf-
schreiben, eine Einkommensteuer vou mehr als ein Procent. Die Eintreibung
dieses Geschosses zu Johanni gab das Signal zu einem abermaligen, aber
diesmal mit größerer Erbitterung als je unternommenen Aufstande, nicht gegen
die vatricischen Kaufleute, souderu gegen den König und die kleine Partei, die
ihm unbedingt anhing; jene Leute, welche zum Theil schon bei dem letzten
Aufstand entflohen, aber gestützt auf die Drohbriefe Wenzels zurückgekehrt
waren und nun durch Gesandtschaften und Briefe mit diesem in engster Ver¬
bindung standen. Aber mochte schon die Unzufriedenheit allgemeiner verbreitet
sein, die eigentliche Revolution ging, wie es immer zu geschehn pflegt, von
Gr
der niedern Classe aus, und an die Spitze der Bewegung traten wieder die¬
jenigen Zünfte, welche schon bei den früheren Aufständen sich hervorgethan,
die Tuchmacher und die Fleischer.
Da wo jetzt die Kasernen in der Neustadt sich befinden, stand noch in
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine kleine Kirche, Se. Clemens
geweiht. Hier war es, wo an einem Sonntag, den 7. Juli, die Aufrührer
zusammenkamen, für die Ausführung ihres Vorhabens sich untereinander fest
zu gemeinsamem Handeln verbanden und dem frevlen Unternehmen sogar eine
religiöse Weihe zu verleihen suchten, indem ein von ihnen gewonnener Priester
ihre Beichte hören, sie absolviren und ihnen das Abendmahl reichen mußte.
Für den Ausbruch hatten sie den folgenden Tag und zwar die Stunde
des größten Verkehrs, Mittag zwölf Uhr, bestimmt. Das verabredete Signal
sollte der Ruf des Hirtenhorns bei Se. Mauritius sein. Und so geschah es.
Die Tuchmacher und Fleischer an der Spitze walzte sich um jene Stunde der
immer mehr anwachsende Haufen dem Rathhause zu, wo der Rath ohne
Kenntniß von dem ihm drohenden Unheil zur Sitzung versammelt war. Auf
dem Fischmarkte hatte sich eine mit Speeren bewaffnete Rotte aufgestellt, den
Zugang zum Rathhause absperrend, während zu derselben Zeit der Thurm er¬
brochen und die Sturmglocke geläutet wurde. Die Aufrührer drangen indessen
in den Saal, wo der Rath seine Sitzung hielt. Nur einem Theil der Kon¬
suln gelang es, durch die Flucht zu entkommen. Das schreckliche Schicksal,
welches der Rathsherr Megerlin hatte, der, als er sich vor Angst auf den
Nathsthurm geflüchtet, dort gefunden und von seinem eignen Gevatter, einem
Schuhmacher, ergriffen und über den Kranz des Thurmes herabgestürzt wurde,
müssen noch mehre getheilt haben, vier andere vom Rath, den Bürgermeister
Nikolaus Freiberger an der Spitze, zwei der ans der Gemeinde gewühlten
Mitglieder und drei Schoppen wurden auf dem Ringe vor dem Pranger so¬
fort enthauptet. Eine wüthende Menge durchströmte indessen alle Räume des
Rathhauses, erbrach die Schränke, raubte Geld und Kostbarkeiten, zerriß und
zerstach die Freiheitsbriefe der Stadt und rüstete sich mit den hier vorgefun¬
denen Waffen. Dann eilte man nach den Gefängnissen und befreite die wegen
Gewaltthat oder wegen Schulden Verhafteten.
Damit waren aber auch die Gewaltthaten zu Ende, obwol es fünf Tage
lang keine Obrigkeit in der Stadt gab. Weder die Chroniken, noch die offi-
ciellen Klagepunkte bei dem spätern Processe erwähnen etwas von einer Ge¬
fährdung des Privateigenthums, und doch wenn der Aufruhr wirklich seinen
Ursprung in einer Erbitterung der Bürgerschaft gegen die Patricier gehabt
hätte, wäre das schwerlich ausgeblieben. Wer Hütte die entfesselte bewaffnete
Menge zurückhalten wollen, nachdem dieselbe schon durch die Verwüstung des
Rathhauses gezeigt, daß sie auch vor dem Raube nicht zurückbebe? Der Haß
gegen das Patriciat, wenn er auch noch vorhanden war, trat stanz zurück vor
dem weit mächtiger entflammten gegen den König.
Dieser nun, dem eben damals die hussitischen Streitigkeiten mehr und
mehr über den Kopf wuchsen, konnte nicht daran denken, zur Ahndung solcher
Gewaltthat, wie es nöthig gewesen wäre, persönlich in Breslau zu erscheinen;
er begnügte sich im August 1419 durch seinen Unterhauptmann Job. v. Wild¬
berg den nach der Revolution eingesetzten Rath durch einen neuen von ihm
ernannten ersetzen zulassen. Wenige Tage nach dieser Anordnung starb Wenzel
eines plötzlichen Todes, seinem Bruder Sigismund als unerwünschte Zugabe
Mr Erbschaft die breslaucr und die noch schlimmeren böhmischen Händel über-
lassend.
Sigismund, der grade in Ungarn verweilte, berief, nachdem es ihm ge-
lungen war. durch den Sieg bei Rissa für eine Zeit lang vor den Türken
Ruhe zu erlangen, für den Dec. 1419 einen Reichstag nach Brünn, in der
Absicht, von da nach Breslau zu gehen. Aufdie Nachricht von dem Tode Wenzels,
dessen hilflose Lage die breslaucr Rebellen sicher hoch in Anschlag gebracht
hatten, und auf die Kunde von den Gesinnungen Sigismunds, der sich ent¬
schlossen zeigte, bevor er den eigentlichen Herd des Aufstandes. Böhmen, an¬
griffe, in den Nachbarländern das geschwächte königliche Ansehn wiederherzu¬
stellen, sank doch auch hier vielen der Muth. Die Kaufleute konnten unbe¬
sorgt sein; sie hatten zugesehn, wie die Zünfte ins Feuer gegangen waren,
aber diese selbst faßte Schrecken, von den unmittelbar Compromittirten suchte
der größte Theil Sicherheit im Ausland, in Polen oder Ungarn, einige traten
Wallfahrten an. um zu den Füßen des Papstes Absolution zu suchen. Ein
kleiner Theil blieb trotzig daheim, immer noch hoffend, der neue Herrscher würde
doch Bedenken tragen, rechten Ernst zu machen.
Doch Sigismund war in der That dazu entschlossen. Für den Januar
des Jahres 1420 hatte er einen Reichstag nach Breslau berufen, um neben
mehren Reichshändeln auch Streitigkeiten auswärtiger Fürsten, die einen
schiedsrichterlichen Spruch angerufen , zu entscheiden. Er trat hier als Kaiser
auf. umgeben von einer äußerst glänzenden Versammlung geistlicher und welt¬
licher Fürsten, und der Pomp der Majestät, der man hier vor kurzer Zeit so
frevelnd Hohn gesprochen, war recht geeignet, den schuldbewußten Gemüthern
ihre Vergeh» in Hellem Lichte erscheinen zu lassen, und jeden Gedanken an
Widerstand zu verbannen. Wer hätte es wagen sollen, dem mächtigen Kaiser,
dessen Worten hier gekrönte Häupter ehrerbietig lauschten, sich kühn zu wider¬
setzen? Erst nach Erledigung der NeichSgeschäftc schickte er sich an. das ernste
Amt strafender Gerechtigkeit zu üben. Es wurde zu diesem Behuf ein be¬
sonderer Gerichtshof constituirt. in welchem außer den breslauer Rathsherrn.
den Schöppen so wie den gesetzmäßigen Vertretern der Kaufmannschaft und
der Zünfte Deputirte des Rathes aus neun schlesischen Städten saßen. Vor
diesen traten acht schlesische und böhmische Edelleute im Namen des Königs
als Kläger auf. wegen der Verletzung des königlichen Ansehns. wegen un¬
gerechter Tödtung der vom König eingesetzten Nathmänner, wegen Raub und
Gewaltthat. Der Spruch lautete für alle Theilnehmer des Aufstandes auf
Tod und Confiscation ihrer gesammten Habe. Die Geflohenen sollten wenig¬
stens das Letztere erleiden.
23 Männer waren es, die das Todesurtheil traf, zum großen Theil an-
gesehn in ihren Kreisen. Zunftmeister oder Zunftälteste. Am Montag nach
Reminiscere, den 4. März, ward ihnen ihr Schicksal kund gethan; auf offnem
Markte an der Ecke der Oderstraße und Nikolaistraße stand der Tisch der
Richter. hier ward ihnen das Urtheil vorgelesen und der Stab über sie ge¬
brochen. Dann wurden sie nach der kaiserlichen Burg geführt, wo die Exe-
cution vollstreckt werden sollte. Da wo jetzt die Universität sich befindet, an
der Oder stand die alte Burg, hier fielen die 23 Häupter. Aus den Fenstern
sah der Kaiser zu und staunte ob der Standhaftigkeit, mit der alle dem Tode
entgegengingen. Keiner hatte um Gnade gefleht; voll starken Bürgertrotzcs
starben sie mit dein festen Bewußtsein, die Gerechtsame ihrer Stadt verthei¬
digt zu haben gegen die Willkür eines Tyrannen. Ihre Köpfe wurden auf
die Stadtmauer gespießt, ihre Leiber unter den breiten Steinen begraben,
auf denen man vom Ninge nach der Elisabethkirche geht, und diese geben
noch jetzt Zeugniß ab von den traurigen Wirren jener Zeit. Auch zeigt eine
im Rathhause aufbewahrte Thür noch heut die Spuren der Axthiebe, durch
welche sie damals die Empörer gesprengt. Unser wackerer breslaucr Geschicht¬
schreiber Klose bemerkt bei der Besprechung des Aufstandes mißbilligend über
Sigismunds Verfahren: „hätte'er nicht bald anfangs so hart die Böhmen
behandelt, hätte er anstatt der 23 Hingerichteten Menschen in Breslau ebenso
viel 1000 Mark Groschen zur Buße sich zahlen lassen, so hätten ihn die Pra¬
ger mit offnen Armen aufgenommen, so würde der Hussitenkrieg, das wildeste
und grausamste Schauspiel, das je auf der Erde gespielt worden, nicht erfolgt
sein." Wir wollen die Wirkungen, die eine solche Politik aus Böhmen hätte
üben können, dahin gestellt sein lassen, doch das Eine können wir dreist be¬
haupten, sür Breslau wäre es das größte Unglück gewesen, es hätte die kläg¬
liche Politik Wenzels fortgesetzt und mit andern Worten die Revolution ver¬
ewigt; so wie Sigismund den Rücken gewandt, wäre der Aufstand wieder
ausgebrochen. Ich kann nichts von Härte in dem Verfahren Sigismunds
sehn; nach dem. was geschehen war. konnte er nicht anders handeln. Auch
suchte er selbst, nachdem er die unabweisliche Forderung der Gerechtigkeit er¬
füllt, die Stadt auf alle Weise zu gewinnen, die Anordnungen in Betreff der
Zünfte sind so mild, wie sie nur sein können, kaum, daß die Rädelsführer,
die Fleischer, sich einige Beschränkungen gefallen lassen mußten, die Zünfte
stellen nach wie vor ihr Contingent zu dem Nach, und d.e Urkunde, in wel¬
cher er die Privilegien der Stadt bestätigt, enthält eine förmliche Lobrede auf
seine liebe Stadt Breslau, die recht deutlich zeigt, wie viel Werth er darauf
legte, in jener stürmischen Zeit, wo in seiner eigentlichen Hauptstadt der
Aufruhr kühn sein Haupt ers-ob. wenigstens die zweite ^-labt sich zur Freun¬
dn zu erhalten.
Ueberblicken wir nun noch einmal die ganze Geschichte deS Aufruhrs, so
»U'sser wir wiederholen, daß man Unrecht gethan hat. denselben einfach in
die Geschichte der Zunftunruheu. wie sie in jener Zeit so vielfach vorkommen,
"nzuregistriren und ihn aus dem Hasse der Handwerker gegen das kaufmän¬
nische Patriciat herzuleiten. Davon habe ich nirgend in den Urkunden Spu¬
ren finden können. Nirgend tritt der König als Schüler des Patriciats gegen
die Zünfte auf. nirgend klagen diese letztem über jene. Vielmehr richtet
Wenzel seine Briefe immer in ganz gleicher Weise an die Kaufmannschaft wie
an die Zünfte, und beide vereint machen dem König ihre Vorstellungen; bei
allen den Aufständen erscheinen nie die Patricier als solche dem Grimm der
Handwerker ausgeseift, und so wenig wie sie es nöthig haben, den Schutz
des Königs anzurufen, so wenig erscheinen sie auch als Ankläger der Uebel-
thäter. Es konnte ja auch d,as. um was die Zünste sonst zu kämpfen pfle-
Ken. die Theilnahme an der Negierung, hier nicht der Zweck des Aufstandes
sein, da ja schon seit 13»0 auch bei den Nathserncnnungen Wenzels
Wenigstens ein Drittel der Mitglieder aus ihrer Mitte genommen wird.
Der Gegensatz war freilich sicher vorhanden, es war anch. wie wir sahn,
die Unzufriedenheit einiger der Zünfte mit der Negierung das. was zuerst den
Aufstand hervorgerufen, aber im Verlauf der fast dreißigjährigen Kämpfe hatte
"wu die erste Ursache des Streites ganz aus dem Gesicht verloren, und die
Kaufmannschaft, mochte sie nun eingeschüchtert sein oder in schweigendem Ein¬
verständnis,, hielt sich wesentlich neutral und der Kampf wird nur von den
Zünften gegen die Anordnungen des Königs geführt, welche als Eingriff in
dle hergebrachte Selbständigkeit der Stadt erscheinen. Die Hauptschuld an der
Empörung haben aber die halben Maßregeln Wenzels und die Verwicklungen,
in welche ihn zu gleicher Zeit die böhmischen Unruhen stürzen, und welche dre
königliche Autorität allzusehr untergraben, um nicht den Widerstand über-
Haupt herauszufordern.
Seltsam ist dabei immer der ganze Kampf, diese durch dreißig Jahre
immer wiederkehrenden Eruptionen des Volköuuwillcns. nährend doch jedes¬
mal die Reaction sast ohne Widerstand eintritt; diese Mischung der hart¬
köpfigsten Verbissenheit und der vollständigsten Blindheit über die nothwendigen
Konsequenzen, jenes plötzliche und ruckweise Ausflammen eines äußerst reiz-
baren Selbstgefühls, während doch dabei die Energie und Klugheit, die zur
Behauptung des eingenommenen Standpunktes nöthig gewesen wäre, durch¬
aus fehlt. Dies alles scheinen bestimmte Züge im Charakter der damaligen
Breslauer gewesen zu sein; denn einige Decennien später in den Kämpfen gegen
Georg Podiebrad finden sich dieselben in der merkwürdigsten Weise wieder.
Unter den Candidaten, denen der diesmalige Ausfall der Wahlen den
Zugang zum Hause der Abgeordneten verschließt, sind es hauptsächlich zwei,
die wir sehr ungern vermissen: Herr von Gerlach und Herr von Kirch¬
mann. Die Erscheinung des Erstem gehörte wesentlich zur Physiognomie des
Landtags, und es ist für uns nur ein sehr mäßiger Ersatz, daß statt dessen
in der Kreuzzeitung der alte „Nundschaucr" wieder auftaucht. Wenn man es
nicht historisch wüßte, daß diese beiden nur eine Person ausmachen, so würde
man es kaum errathen: der Rundschauer mit seiner ewigen Salbung, seinen
frommen Mienen und seinem Orakelton hat. wenn man sich einmal an sein
seltsames Costüm gewöhnt, etwas Eintöniges und Ermüdendes; während der
Führer der äußersten Rechten in der Kammer, ein vollendeter Weltmann, geist¬
voll, heiter, witzig, fast jeden Tag durch einen neuen Einfall dem Streit der
Parteien eine anmuthige Wendung gibt. Was Herrn von Kirchmann betrifft,
so bedauern wir es nicht blos um des Princips willen, daß er nicht gewählt
ist. sondern weil wir ihn unter allen Mitgliedern der „Nationalversammlung"
von 1848 sür den vorurtheilsfrcisten und originellsten halten. Er ist niemals
in die herkömmlichen Phrasen seiner Partei ausgegangen, sondern hat sich
durchweg ein selbstständiges Urtheil bewahrt. Wenn seine Reformpläne weiter
gingen, als die damalige Sachlage wünschenswert!) machte, so verrieth er
durchweg ein lebhaftes preußisches Gefühl, und war mit seiner ganzen Per-
sönlichkeit recht dazu geeignet, zwischen der „constitutionellen" und der „demo¬
kratischen" Partei ein Verständniß anzubahnen. Denn dieses Verständniß
wird keineswegs durch das Auseinandergchn der Ansichten und Ueberzeugungen
erschwert, sondern, hauptsächlich durch die Leidenschaften, die sich auf be¬
stimmte Stichworte und bestimmte Persönlichkeiten beziehn. Eine politisch^
Reform würde viel einfacher vor sich gehn, wenn man sich der Farben und
Symbole enthalten könnte. So start wir noch immer den Gegensatz gegen
die eigentliche Demokratie empfinden, d. h. gegen diejenigen Männer, die in
des Volkes Stimme Gottes Stimme sehn und die das souveräne Volk rü jedem
Haufen wahrzunehmen glauben, der sich auf den Straßen umhertreibt, so
würde es uns schwer fallen, zwischen demjenigen Theil der preußischen Presse,
der sich heute demokratisch nennt, und der unabhängigen constitutionellen
Presse einen principiellen Unterschied zu entdecken, sobald wir nur von dem
Dogma des allgemeinen Wahlrechts absehn. das ja von beiden Seiten auf
längere Zeit vertagt worden ist. Im Jahr 1848 pflanzten die Grenzboten
die Fahne der „conservativen Demokratie" auf; damals fand diese Verbindung
Zweier Begriffe, die sich dem Anschein nach widersprechen, wenig Beifall;
hole taucht sie in allen demokratischen Zeitungen wieder auf. In der
That ,se das Streben nach rechtlicher Gleichheit der Staatsbürger und nach
Selbstverwaltung in der Geschichte des preußischen Staats tief begründet, und
so verstanden, hat selbst der frühere Ministerpräsident Herr v. Manteuffel die
Demokratie als ein wesentliches Moment des preußischen Staatslebens bezeichnet.
Der Landtag ist freilich nicht der Ort. wo sich dogmatische Gegensätze
hart aneinander'reiben sollen; es ist vielmehr der Ort der praktischen Politik,
d- h. der Kompromisse. Insofern sind wir ganz damit einverstanden, daß
un Gegensak zur Paulskirche. wo die Gelehrten und Staatskünstler das Wort
führten, diesmal der Landtag fast ausschließlich aus Männern des praktischen
^dens zusammengesetzt ist. die aus Erfahrung wissen, daß alle reale Tha-
t'gkeit eine bedingte ist. Indessen wäre es ein ungerechtfertigtes Vorurtheil.
anzunehmen, daß ein Vertrag nur zu Stande kommt, wenn von allen Seiten
cvnciliante Naturen, die in ihren Ansichten wenig auseinandergehn, vorhan¬
den sind. Zuweilen ist es im Gegentheil nöthig, daß. um einen dauerhaften
Frieden zu schließen, vorher ein recht lebhafter Krieg entbrennt, hier natürlich
nur em theoretischer. Das theoretische Moment ist diesmal zu wenig ver¬
treten, und es gereicht uns zur besondern Genugthuung, daß ein Mann wie
Professor G meist seine von dem herkömmlichen Liberalismus sehr abweichenden
Ueberzeugungen in der Legislatur zu vertreten Gelegenheit findet.
Bekanntlich hat Gneist im Anhang zu seinem Werk über das eng¬
lische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, einer der bedeutendsten Leistungen
der letzten Jahre auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte. seine Ansicht über die
gegenwärtige Entwicklung des parlamentarischen Lebens in Preußen ausein¬
andergesetzt. Er findet den wahren Keim der preußischen Verfassung in der
den richterlichen Kollegien nachgebildeten Form der Verwaltungsbehörden, und
stellt eine constitutionelle Parteiregierung, welche aus diese „Amtsgentry" keine
Rücksicht nehme, als einen Abweg von dem wahrhaft geschichtlichen Fort¬
schritt dar.
In der Rede an seine Wähler, wenn wir anders den etwas unklaren
Bericht der Stettiner Zeitung richtig auffassen, stellt er es als die wichtigere
Aufgabe des gegenwärtigen Landtags dar, für die organische Gesetzgebung zu
sorgen, da die Verwaltung, deren Controle außerdem den Ständen zukommt,
vorläufig in guten Händen sei.
Wir sind der entgegengesetzten Ansicht: wir glauben, daß wenigstens in
dieser Session der Landtag sich nicht zu viel mit der organischen Gesetzgebung
zu befassen haben wird, daß es aber wol seine Aufgabe ist, das Ministerium
in seinem Bestreben, die Ausführung der Gesetze dem Sinn der Gesetze ent¬
sprechend zu machen, durch mehr als blos passiven Beistand zu unterstützen.
Was die organische Gesetzgebung betrifft, so Pflegt ein Parlament, das
im Allgemeinen in die Regierung Vertrauen setzt, dieser die Initiative zu
überlassen. Wir glauben nicht, daß die Negierung gegenwärtig schon die hin¬
reichende Zeit gefunden haben wird, in dieser Hinsicht umfassende Vorlagen
vorzubereiten, und wir glauben, daß unter allen Umständen das Provisorium
einer übereilten Gesetzgebung, die nachher doch theilweise wieder zurückgenom¬
men werden-müßte, vorzuziehn ist.
Dagegen ist nicht rasch genug für eine wirkliche Constituirung der obersten
Regieningsgewalt Sorge zu tragen, und wir glauben. daß darin der Landtag
dem Ministerium wesentlich zu Hilfe kommen kann. Zwar halten wir' ebenso
wie Professor Gneist eine Pnrteiregierung im strengern Sinn den preußischen
Zuständen nicht angemessen, aber wir dürfen nicht übersehn, daß wir seit
wenigstens sechs Jahren eine solche wirklich gehabt haben. Bis dahin war
die gutgeschultc, an regelmäßige Arbeit gewöhnte 'und in ihre Amtspflichten
ganz aufgegangene Bureaukratie oder, wenn man will, „Amtsgentry" der
neutrale Boden gewesen, aus welchem die einseitigen Pattcibcflrebungen sich
paralusirten. Seitdem aber Herr von Westphalen am Steuerruder saß, ist
die Gesinnung und der Diensteifer an Stelle der Amtsfähigkeit und der Amts¬
ehre getreten, und ein großer Theil der heutigen Bureaukratie hat von dem
alten preußischen Beamtenthum nichts weiter als den Namen. Zwar.würde
die Sache dadurch keineswegs gebessert, wenn jetzt, wo der Begriff der guten
Gesinnung sich geändert hat, die altministeriell gesinnten Beamten durch neu¬
ministeriell gesinnte Beamte ersetzt würden; seine ganze Stellung nöthigt
das Ministerium, auch in dieser Beziehung so schonend und konservativ als
möglich zu verfahren: aber diese Enthaltsamkeit muß gewisse Grenzen haben-,
wenn nicht die ganze Regierung in Stocken gerathen soll.
Einmal war mit der guten Gesinnung nach den Begriffe» des Herrn on>n
Westphalen eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegen die bestehenden Gesetze ver¬
bunden, dagegen war sie unabhängig von der technischen Vorbildung und
von der Fähigkeit zu Staatsgeschäften. Es ist in der Reinigung des Beamten'
Standes in dieser Beziehung schon manches geschehn, was wir mit um so mehr
Dank anerkennen, je überraschender es den Betheiligten selbst gekommen ist.
Nichts charakterisirt so sehr die Situation, als die naive Sicherheit, mit der
einige der am schwersten Compromittirten auch nach dem Ministerwechsel an
die Fortdauer ihrer Stellung glaubten. Es ist manches Gute geschehn, aber
noch nicht genug.
Viel ernsthafter ist ein zweiter Umstand. Die diesmaligen Wahlen haben
gezeigt, daß ein großer Theil der Bezirks- und Kreisregierungen die Sache
so auffassen, als seien sie die eigentlichen Vertreter der Staatsgewalt, das
Ministerium dagegen eine vorübergehende Erscheinung, aus die man möglichst
wenig Rücksicht zu nehmen, oder gegen die man wol gar energisch vorzugehn
habe. Es ist vorgekommen, daß Regierungspräsidenten nicht blos im Namen
der Regierung sich für Candidaten. die sich offen gegen das Ministerium
Aussprachen, erklärten, sondern daß sie sogar diejenigen Wühler, die für das
Ministerium stimmten, als „Feinde der Regierung" in der alten Weise des
Herrn von Westphalen zu benachtheiligen suchten. Könnte man für einen
suchen Zustand die Möglichkeit der Fortdauer voraussetzen, so wäre es die
ausgesprochne Anarchie, und für das Gedeihn des Staats viel nachts eiliger,
als ein Ministerium im alten Stil.
Endlich fehlt noch sehr viel daran, daß man dem Ministerium eine ein¬
heitliche Zusammensetzung zuschreiben könnte, und diese wird doch wol nöthig
sein, wenn Preußen mit größerer Energie als in den letzten Jahren seine
Stellung innerhalb der Großmächte und namentlich innerhalb des deutschen
Bundes vertreten will.
Die Frage ist nun. wie der Landtag, ohne in die königliche Prärogative
einzugreifen, der einheitlichen Organisation des Staates zu Hilfe kommen
soll? — Es wäre ein entschiedener Eingriff in die königliche Prärogative,
und. einer Negierung gegenüber, die den besten Willen zeigt, höchst taktlos,
wenn man diesen oder jenen Regierungsbeamten als mißliebig bezeichnen
und auf anderweitige Besetzung dringen wollte.
Es wäre noch taktloser, diese Forderung einer Epuration des Ver¬
waltungspersonals allgemein zu halten. Aber schon dadurch, daß die Majo¬
rität des Landtags nicht blind dem Ministerium als solchem anhängt, son¬
dern eine unabhängige politische Ueberzeugung vertritt, wird sie denjenigen
Elementen der Negierung. die diese Ueberzeugung theilen, eine sehr mächtige
Stütze geben. Die Hauptsache ist. daß der Landtag den Weg betritt, der
schon dem alten „Vereinigten Landtag" als der naturgemäße, als der völjigloyale vorgezeichnet"war: den Weg der Beschwerde über bestimmte Uebel-
stände.
Dieses scheint uns die Hauptaufgabe der gegenwärtigen Legislatur und
die wesentlichste Unterstützung des Ministeriums zu sein. Denn von den Mi߬
bräuchen, deren Kunde sich als allgemeine Sage im Volk verbreitet, ist der
Regierung als solcher officiell so manches noch gar nicht bekannt. Ein gro¬
ßer Theil der höchsten Verwaltungsbehörden, auf deren Gutachten sie noth¬
wendig recurriren muß, sind dem neuen System entschieden feind, und die
Presse kann als eine authentische Interpretation nicht betrachtet werden. Mit
Recht hat es unter der vorigen Regierung den größten Anstoß erregt, daß die
Polizei auf Denunciationen der sogenannten gutgesinnten Blätter einschritt, die
neue Regierung muß sich sehr ernstlich hüten, diesem Beispiel zu folgen. Die
Presse ist für das Publicum, nicht für die Regierung. Der gesetzliche Ort,
den Beschwerden, die im gewöhnlichen Instanzenzug nicht durchgehn, einen
unumwundenen Ausdruck zu geben, ist der Landtag, und die Ueberwachung
der Gesetze ist seine heiligste Pflicht. Um aber die unbequeme Form der
Interpellationen möglichst zu vermeiden, gibt es ein sehr einfaches Mittel.
Nur in den seltensten Fällen ist eine offne Gesetzesübertretung der Grund zu
solchen Beschwerden, meistens liegt eine falsche Interpretation der Gesetze vor.
Die Beschwerde wird also fast durchweg dazu dienen können, für das Ge¬
setz eine bestimmte, unzweideutige Fassung zu beantragen, und für künf¬
tige Fülle eine falsche Auslegung zu verhüten. So werden zwei Zwecke
zu gleicher Zeit erreicht: das Gesetz wird verbessert und das Ministerium
wird in den Stand gesetzt, da, wo eine persönliche Abhilfe Noth thut, auf
Documente gestützt einzuschreiten. Je loyaler und rücksichtsvoller im Uebrigen
die Haltung des Landtags ist, desto mehr wird seine Stimme bis zu dem
höchsten Träger der Staatsgewalt dringen, dessen Vertrauen man am wür¬
digsten dadurch erwiedert, daß man ihm seinerseits mit unbedingtem Vertrauen
''
Jahrbuch deutscher Belletristik auf 1859. Fünfter Jahrgang. Heraus¬
gegeben von Siegfried Kapper. Mit dem Bildniß A. E. Brachvogels in
Stahlstich. — Prag, C. Bellmann. — Auch diesmal zeichnet sich das Jcchrbuck
durch Mannigfaltigkeit tüchtiger Leistungen rühmlich aus. — In der Novelle „Sechs
Tage sollst du arbeiten" hat Robert Waldmüller das alte beliebte Thema von
der Bekehrung eines leichtsinnigen Verschwenders durch plötzliche Armuth zum
Sünden Leben auf die modernen pariser Verhältnisse übertragen und durch sauber
ausgeführte Genrebilder illustrirt. — „Der Glassavrikant" von Leopold Schefer
ist nicht arm ein wen feinen psychologischen Beobachtungen, aus die des Dichters
Ruhm sich hauptsächlich gründet das Ganze macht einen trüben Eindruck. Schefer
besitzt eine unheimliche Virtuosität in der Zeichnung schwacher Männer, d.c zu gut¬
müthig sind um Haß. zu unmännlich, um wirkliche Theilnahme einzuflößen. Man
hat ein Gefühl wie beim Fallen der HcrbstblÄtter nach einer plötzlich eingetretenen
kalten Nacht — Sehr gut erzählt ist von Jda von Düringsscld ..Der Mann
W Wollens-
." der spukhaste Ausgang, die Vertauschung zweier Seelen durch Willens-
»'acht, hätte um so mehr vermieden werden können, da die Dichterin selbst sich ihm
gegenüber skeptisch verhält. Ein Fragezeichen ist kein guter Schluß einer Novelle. —
Max Ring charakterisirt im „Actienkönig des vorigen Jahrhunderts" den berühm¬
ten Law. — Außerdem enthält das Taschenbuch ein Märchen von Adolf Gla¬
ser in Braunschweig, und Gedichte von Fr. Bodenstedt. Brachvogel. L. Fog-
l«r. Hansgirg. Hieronymus Lorm. Julius Rodenberg. L. Seeger und
Adolf Stern. —
Vor Tagesanbruch. Erzählungen und Lieder von Amara George. —
Frankfurt a. M.. Meidinger. — Was der ominöse Titel sagen will, was die Wid¬
mung noch weiter ausführt („Nacht war es einst um mich, sternlose dunkle Nacht.
Es war jedoch auch mir ein Morgen zugedacht. Das Glück des Seins, es hat
auch mir gelacht.") — ist bekannt. Die Verfasserin (Gemahlin des Dichters Alexan¬
der Kaufmann) ist dem Beispiel ihres Pflegevaters Danaer. der sich wirklich allen
Ernstes vom Islam zur katholischen Kirche bekehrt hat, gefolgt, und hat sich dein
alleinseligmachenden Licht ergeben, das alle müden Wanderer an sich lockt. — In
'hrer Lyrik erkennt man Danaer leicht heraus:
Wenn Liebe für die Ewigkeit
Sich bindet, und so bald erwacht.
So ist gleichwohl ein Sinn darin,
Der nicht in eitel Trug besteht.
In jeglicher Bcrührungsgluth,
In jeglichem Vcrschmelzungheil
Unsterblich edler Wesen ist
Was Ewiges, das nicht verloren geht.
In den Novellen ist eine große Mannigfaltigkeit; die meisten erinnern an den
Ton der Gräfin Hahn, aber es ist auch eine Humoreske und sogar eine gutcrzählte
Dorfgeschichte darin. Ucbcrcill zeigt sich ein poetischer Hauch, überall aber auchetwas Krankhaftes. Hysterisches, das sich in seltsamen, unvermittelter Sprüngen
äußert. Als Beispiel diene die erste Novelle „ein Wort, ein Mord." Ein Lumpen¬
hund. Albert, ist mit einem Fräulein Franke verlobt; er läßt sie im Stich, sobald
er erfährt, daß sie arm sei, und heirathet ein reiches Mädchen. Nachher begegnet
ste ihm wieder als elegante Salondame. er entbrennt in wüthender Leidenschaft,treibt seine Frau zur Scheidung, und dringt endlich nächtlich auf sie ein; um ihn
fortzutreiben, ruft sie nun zu: „eine reiche Frau ist bequemer zu lieben, als ein
armes Mädchen," was ganz in der Ordnung ist. Er springt ins Wasser, und sie
^begegnet uns wieder im Büßcrgcwandc, barfuß, wirft sich vor dem Vorüber¬
gehenden aus der Straße nieder, und schreibt: „Mein Name ist ausgelöscht aus den
Reihen der Lebendigen, ich selbst wandle nur noch scheinbar unter ihnen als ein
schweigender Schatten; ich bin erdrückt unter der Last meiner Schuld ... als die
Aermste der Armen , als die Friedloseste unter den Friedlosen suche ich nach der
Ruhe im Grabe" u. s. w. — Warum, das mag Gott wissen! — Eine andere
Geschichte, sehr artig erzählt, charakterisirt eine neue Mignon (Ada) ; eine dritte, Viola,
ist zu viel von Harfentönen und Veilchenduft angefüllt und schließt mit einem, spi-
ritualistisch-materialistischen Wunder. — Aber ganz unpoetisch ist keine dieser zier¬
lichen Arabesken. —
An der Grenze. Aus dem Nachlaß von Moritz Reich. — Herausgegeben
von Alfred Meißner.— Zweite Auslage. — Die Dorfgeschichten dieses Nachlasses
nehmen in der Gattung einen anerkennenswerther Platz ein; am meisten aber hat
uns gerührt, was A. Meißner aus dem Leben des armen jungen Dichters erzählt. —
M. Reich ist 1831 in einer Judengemeinde zu Nvkilnitz, an der böhmisch-preußischen
Grenze, geboren. Schon früh zeigten sich Spuren von Schwindsucht. „Arm und
in Gedanken schon dem Tode geweiht, hatte es Reich unternommen, den Fachstudien
Lebewohl zu sagen und allein der Poesie und durch die Poesie leben zu wollen."
„Ein Freund, der ihm von Herzen zugethan und selbst ein poetisches Gemüth
war, beschloß, ihn gewissermaßen durchs Leben zu tragen. Er wollte, da nach
seinem Dafürhalten Reich durch seine Kränklichkeit unfähig war, durch Stun-
dengeben sür sich zu sorgen, den Freund ernähren. Er, selbst mittellos, gab
fortan doppelt so viel Lectionen, die eine Hälfte für sich, die andere für den
Freund, der sich inzwischen ungestört zum Schriftsteller ausbilden sollte!" Freilich
ward ihm die Last zu schwer, Reich ging Herbst 1853 nach Wien, wo er einige
Novellen schrieb, die natürlich für seinen Lebensunterhalt nicht ausreichten.
A. Meißner suchte ihn in einer jüdischen Familie als Hauslehrer unterzubringen,
aber Reich „wollte lieber frei sein und darben, als gebunden sein und in sorgen¬
freien Verhältnissen leben!" „Angestrengtes Arbeiten untergrub seine Gesundheit immer
tiefer, er zwang sich zu einer Anstrengung, der seine zarte Natur nicht gewachsen
war. Ost fanden ihn die Freunde Morgens mit funkelnden Augen und erhitzten
Wangen übernächtig vor dem Schreibtisch sitzen, aus dem das Licht herabgebrannt
war. Er zeigte freudig und wie berauscht aus. die Bogen, die er vollgeschrieben,
und machte sich in seiner Begeisterung gleich daran, das Product der Nacht vor¬
zulesen." Im Februar 1357 wurde seine Krankheit bereits sehr bedenklich. Er
konnte das Zimmer oft wochenlang nicht verlassen. Seine Reizbarkeit verscheuchte
die Freunde, der Erwerb stockte, seine finanzielle Lage ward immer peinlicher. „Der
letzte Funke, schrieb er in dieser Zeil an A. Meißner, fürchte ich, ist erloschen, das
Herz ist ein Prophet, sein eigner Arzt, Priester und — Henker! Ich mache an mir
Beobachtungen, die mir, wenn ich wieder gesund würde, wenn ich wieder schreiben
könnte, freilich sehr zu Statten kämen! Ich steige gleichsam nach und nach die Stu¬
fenleiter der Menschheit herab und versetze mich nun täglich in eine andere Menschen-
seele und finde sie so am klaren Tage liegend, während sie mir, da ich noch un¬
endlich höher war als sie, ein Räthsel blieb; ich sehe täglich einem andern gleich,
aber nur mir selbst nicht! Ich fürchte, ich fürchte, ich werde das letzte Stadium
durchmachen müssen, ehe der Tod diesem Gcrädcrtwcrdcn von Unten nach Oben mit
einem Gnadenstoß ein Ende macht. Wir leben in einer Zeit, in der die Tempe¬
raturen unausgeglichen sind wie nie! Man kommt so leicht in die Zugluft und er«
kältet sich, wenn 'man zarter als andere vom lieben Gott construirt ist, . . W>e
habe ich Angst gehabt vor dem furchtbaren Wort „zu Grunde gehn?" das man so
leicht hinspricht, wie habe ich dagegen mich durch philosophische, sprachliche und
andere Studien zu verbarrikadiren gesucht! . , - Und doch hat mich die Metze Delila
verrathen! . . Wenn man nicht gradezu ein Goethe ist, kann man heutzutage
nichts gegen den Wall von Hindernissen ausrichten, die sich einem Poetischen Streben
entgegensetzen ... Das natürliche Verhalten eines poetischen Menschen, wenn c«
mit der Convenienz, die sich, da sie keine innere Sittlichkeit hat, mit einem Eis-
Panzer von Regeln rüstet, sich nicht verträgt, wird als gemein, als charakterlos ver¬
schrien!" u. s. w. — Gleich darauf- ..Ich bin schon innerlich zu sehr aufgerieben,
zu tief in den Grund der Seele hinein verwundet, um noch zu empfinden ... Ich
habe eine entschiedene Abneigung gegen alle Bücher, mögen sie ernst oder belletri¬
stisch, philosophisch, historisch oder poetisch sein! es ist mir alles unsäglich fade! auch
Menschen wirken nicht mehr aus mich! ... ES ist arg, sich immer mit sich selbst
beschäftigen müssen, und verschlimmert den Zustand.".— Ende Februar verließ er
Wien und kehrte in seine Heimath zurück. Der Empfang war nicht der. den er
gehofft. Das Mädchen hatte sich von ihm abgewandt. Die Bekannten zürnten
ihm. daß er das Dorf und den und jenen in seinen Novellen wie zum Greifen ge¬
schildert ; directe Beleidigungen kamen ihm zu Ohren. Endlich verließ er 26. März
1857 heimlich das Haus seines Bekannten und gab sich in einem einsamen Wald-
plntz den Tod; in einem zurückgelassenen Brief sind folgende Stellen: „Schwach und
reizbar wie ich war, mußte ich meine Natur überspannen, um von der poetischen
Production leben zu können; da aber geistiges und körperliches Hervorbringen an
einer und derselben Quelle fließt, schwächte ich dadurch auch meinen Leib, der eben
nicht im Stande war, der auflösenden wiener Luft, der sitzenden Lebensweise und
andern Einflüssen zu widerstehn. So kam es, daß ich mit der Zeit mein Schöpfer-
Vermögen nach und nach eingehn sah, was mich traurig und ärmer machte. Un¬
natürliche Verhältnisse, in die ich gerieth. reizten mich zum Aeußersten. brachten
eine ewige Unruhe in mein Gemüth und hinderten es. sich zu concentriren. Ich
oft-te stets umher und fischte im Trüben. Meine Thätigkeit war keine geregelte,
wiewol ich fleißig war. Jeder Postbrief. den ich erwartete, zehrte an meinem Leben.
Die Unsicherheit meines Enverbmittelö machte mich stets an die Zukunft denken, an¬
statt ruhig die Gegenwart zu genießen. Als ich meine Naturkraft schwinden sah,
strengte ich mein Denkvermögen aufs äußerste an. um auf dem Wege der Refle¬
xion das zu erreichen, was nur aus dem Born der Natur lauter fließt. Dann
achtete mein Verstand ins Leben hin, was nicht darin war, und die Phantasie
ward überspannt. So kam ich um mein Bestes und suchte es dann in der
Welt herum, natürlich vergebens, wodurch ich das Wenige verlor, was mir übrig
geblieben." — Eine so klare Einsicht in seine Natur, und doch ein so verfehltes
Leben! Unser tiefstes. herzlichstes Mitleid dem Unglücklichen, aber die Stimme seines
Schmerzes möge zugleich eine Stimme der Warnung fein! —
Verloren und gefunden. Roman in 2 Bänden von Theodor Mügge.
Trankfurt a. M.. Meidinger. — Mügge hat ein ungewöhnliches Talent, gut zu er¬
zählen, und die äußere Physiognomie der Figuren und Zustände anschaulich zu
Machen. Auch der vorliegende Roman liest sich leicht, gefällig, man wird angenehm
unterhalten und mitunter gespannt. Wenn es aber einen starken Effect gilt, so
nimmt er es mit der Innern Wahrheit nicht genau; er hat seine Figuren mehr in
ihrer sinnlichen Erscheinung als in dem-innern Treiben ihres Gemüths gegenwärtig,
und wenn es ihm gelingt, oberflächliche Menschen gut zu schildern, so scheitert er
fast jedesmal, wo er in die Tiefe eindringen will. —
Ausgewählte Erzählungen von Robert Heller. — Frankfurt a. M.,
Meivingcr. — Der zweite Band dieser Sammlung enthält die Novelle: „Das Ge¬
heimniß der Mutter", ein Nachtstück aus dem Wiener Salonlcbcn. Der Charakter
der ehrgeizigen Aristokratie ist vortrefflich ausgemalt. —
Dichter und Apostel. Roman in vier Büchern von Ernst Willkomm.—
Frankfurt a. M., Meidinger. — Der Roman behandelt das Leben des unglücklichen
Dichter Günther und des Grafen Zinzendorf, mit Genrebildern aus dem damaligen
gesellschaftlichen Leben. Das Material ist reichlich, die Komposition läßt manches zu
wünschen übrig. Das liederliche Genie soll Mitleid erwecken, aber dies Mitleid ist
zu sehr mit Verachtung zersetzt, wovon die Schuld freilich mehr dem Helden als
seinem Biographen zufällt. —
Aus dem Volksleben. Erzählungen von Fr. Fri abri es. 2. Bd. — Prag,
Bellmann. — Erzählungen im alten wohlmeinenden Stil, wonach jede Schuld ihre
Buße fordert, mit den Localfarbcn der modernen Dorfgeschichten schärfer ausgemalt;
lebhaft erzählt, voll von guten Schilderungen, wenn auch zuweilen ins Blaue gemalt.
Daß das Moorland sich von Westfrankreich bis nach Sibirien durch die norddeutsche
Ebne ziehn soll, ist doch wol geographisch kaum nachzuweisen. Die Geschichten
heißen: Im Moore; ein Bauer; Geführt; der alte Soldat; Wasscrmüllers Friedel;
Ueberwunden; die Wilddiebe. —
Das Lied vom Ewigen. Phantasie über ein unbeliebtes Thema von
Robert Hartmann. — Se. Gallen, Scheitlin. — Der Titel sollte eigentlich heißen:
wunderliche Einfälle eines vernünftigen Mannes. —
Walpurg. Eine Geschichte aus der Zeit Max Emanuels. Von Carl Hei gel.—
Hannover Nümpler. — Die gut erzählte Geschichte behandelt eine Episode aus dem
bairischen Aufstand Plingcmsers und McindlS während des spanischen Erbfolge-
kriegcS. —
Die kleine Millia und ihre Dienste. Aus dem Englischen der Miß Brem¬
se er frei übersetzt von F. T. -—Berlin, Schultze. — Das Original, das bekanntlich in
England sehr viel Beifall gesunden hat, haben wir bereits besprochen; die gute
Gesinnung und die warme Theilnahme für die untern Classen des Volks verdient
eine Anerkennung, die durch den theologischen Beischmack der Schrift nicht wesentlich
verkümmert wird.
Fes und Tschako. Soldatcngcschichtcn von Julius Gundling. Leipzig,
F. L. Herbig. — Enthält: Türkische Schiffe (aus den ersten Tagen der östreichischen
Flotte); Tyrols Erhebung 180!) und das Ende der Tortur (unter Maria Theresia,
durch Sonnenfels Vermittlung). Gut erzählt, und von lebendiger Anschauung ein¬
gegeben.
Schiller-Galerie. Charaktere aus Schillers Werken, gezeichnet von Fried¬
rich Pecht und Arthur von Ramberg. In Stahl gestochen von Fleischmann
Foer, Geyer, Goldberg, Gonzenbach, Jaquemot, Lämmel, Merz, Preiset, Raab,
Nosdorf. Schultheiß, Sichling u. s. w. Mit erläuterndem Text von Fr. Pecht.
2u zehn Lieferungen zu je fünf Blatt nebst dem dazu gehörigen Text. Leipzig,
Brockhaus. — Wenn wir nach der ersten Lieferung urtheilen dürfen, die uns vor¬
legt, wird sich das Unternehmen in Deutschland sehr zahlreiche Freunde erwerben.
Zunächst verdient die schone Ausführung der Stahlstiche alles Lob; es ist nicht Stich
in der eleganten aber charakterlosen englischen Manier, sondern feste, kräftige Züge,
charakteristisch und bedeutend, und die Bilder verdienen auf diese Weise der Phantasie
eingeprägt zu werden. Den Preis verdient der mürrische Gehler, ein bedeutendes,
seiner finstern Brutalität kräftig aufgefaßtes Gesicht; Max Piccolomini und
Luise Miller sind, wie man sich diese Herrschaften etwa vorstellt; dagegen ist Gertrud
Teil ein sinnig und gemüthvoll ausgeführtes Porträt, und Lady Milford sehr fein
gedacht, obgleich Schiller seine Heldin nicht wieder erkennen würde. Der Ausleger
sucht die Auffassung der charakterlosen, wankelmüthigen Kokette sehr geistvoll zu
rechtfertigen; der Dichter hat sich offenbar eine Juno vorgestellt, die mit einer leisen
Handbewegung im Stande war, das gesammte Hofgesinde wegzuwehen. — Das
Ganze gehört nicht in die Classe der Modebilder, sondern in das Gebiet der echten
Kunst, und wir werden uns über den Erfolg aufrichtig freuen. —
Deutsche Ehrcnhalle. Die großen Männer des deutschen Volks in ihren
Denkmalen, mit geschichtlichen Erläuterungen von W. Büchner. Darmstadt,
Köhler). — Die beiden ersten Hefte enthalten: Albrecht Dürer in Nürnberg; Fried¬
lich Wilhelm IV. im Thiergarten; Gutenberg, Schöffer und Fühl in Frankfurt a. M.
Schiller und Goethe in Weimar. Die Ausstattung verdient Lob. Das Ganze er¬
scheint in 25 zweimonatlichen Lieferungen, jede Lieferung (zwei Stahlstiche mit Text)
iU zehn Ngr, —
Von kleineren Monographien auf dem Gebiete der Kunst erwähnen wir noch:
Deutsche Kunstbriefc von Adolf Helsfcrich (Berlin, Springer); 1'oeolo ä'L.nvsrs
6n 18S8 rar ^.äolxks van Sonst (Leipzig, Emil Flatau), und Leonardo da
Vinci von Prof. Stark (aus dem Album des Pädagogischen Seminars zu Jena).—
Neues allgemeines deutsches Adelslcxicon, im Verein mit mehren Histo¬
rikern herausgegeben von Dr. E. H. Kneschkc (Verfasser des Werkes: Deutsche
Graserchäuscr der Gegenwart.) Leipzig, Voigt. Das Werk ist auf sechs Bände,
leder zu vierzig Bogen, berechnet, der Band kostet 5V» Thlr. —
Chronik der Residenzstadt Hannover von den ältesten Zeiten bis auf
die Gegenwart. — Nach den besten Quellen bearbeitet von Dr. W. Andreä. —
HUdcsheim, Finale. — Das Buch erschein- in etwa fünf Heften, das Heft zu
V» Thlr. —
Allgemeine Weltgeschichte in zusammenhängender Darstellung für gebildete
Leser aller Stände von I. F. Faber. 3 Bände. Stuttgart, Metzler. .- Die
Darstellung ist gedrängt, übersichtlich, sehr zweckmäßig gruppirt; die Thatsachen
vollständig und sorgfältig gesichtet; die Gesinnung entschieden liberal. —
Das norddeutsche Bundescorps im Feldzug von 1815, mit besonderer
Rücksicht auf die kurhcssischcn Truppen. Nach handschriftlichen Originalien und andern
Quellen bearbeitet vom Hauptmann Rcnouard. Mit zehn Beilagen und einer
Übersichtskarte. Hannover, Nümpler. — Daran schließt sich- Aus dem Leben des
Offiziers; Anschauungen und Urtheile betreffs militärischer Verhältnisse und Leistun¬
gen vom Hauptmann Rcnouard (Hannover, Nümpler); und: Junge Generäle
und alte Soldaten; zwei Vortrüge, vom Oberstleutnant Hartmann. (Erfurt,
Keyser). —
Die Götter und Heroen des classischen Alterthums. Populäre My¬
thologie der Griechen und Römer. Vom Eonrector Stoll. 2. Bde. Leipzig, Teub-
ner. — Die neuen, mit wissenschaftlicher Strenge durchgeführten Handbücher der
alten Mythologie haben überwiegend einen kritischen Charakter; das vorliegende Buch
wird also für das größere Publicum eine willkommene Ergänzung bilden, da es in
der Weise Ramlers, aber mit dem Resultat der neuen Forschungen ausgestattet, in
einer anziehenden Darstellung und in edlem Stil als fertiges Bild gibt, was der
Kritiker in beständigem Fluß der Begriffe auflöst. Die Ausstattung ist vortrefflich. —
Shakspereschc Dramen. Uebcrseht von Rittmeister Heinichen. (Bonn,
Marcus). 1. Heft: CyMbclinc. 2. Heft: Conolan. — Wir behalten uns vor, über
diese talentvolle Ueberhebung einen eingehenden Bericht abzustatten, sobald mehr
davon erschienen sein wird. —
Dante Alighieri, sein Leben und seine Werke. Von Hertwig Floto.
Stuttgart, Besser. —^ Die Schrift zeichnet sich in der unabsehbaren Dantclitcratur
dadurch aus, daß der Verfasser die allegorischen Grübeleien möglichst bei Seite läßt
und ein sinnlich klares und psychologisch verständliches Bild herzustellen sucht.—
Raymund Luli und die Anfänge der catalonischen Literatur. Von A. Helf-
ferich. Berlin. Springer. — In dem kleinen Büchlein steckt eine Fülle fruchtbarer
Gelehrsamkeit, und es ist nur zu bedauern, daß der Verfasser, der doch schon durch
die blühende Diction verräth, er habe neben den Fachgelehrten auch auf das grö¬
ßere gebildete Publicum sein Augenmerk gerichtet, demselben den Zugang nicht durch
eine größere Vollständigkeit der Erzählung erleichtert hat. —
Abonnementsnnzeige zum neuen Jahr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den^H^ZRI. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandllmg erlaubt
sich zur Pränumeratnm ans denselben einzuladen, lind bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December 1858. Mr. Lndw. Herbig.
I^s, rexublique I^anya-iso et l'Italie VN 1348, recits, Notes et äoouments äivlo-
mkticiuss x»r ^nich Lastiäe, g-neieir inimstre ach s-Mires etrangeres
ac ?iÄnee. — I^eixi-iF, ^. Dürr. —
Die neulichen Vorfälle in Serbien, den Donaufürstenthümern und Mon¬
tenegro verrathen augenscheinlich, daß trotz der pariser Conferenzen — um
wie Kaiser Nikolaus zu reden — „der Mann" noch immer krank ist; kränker
als je. Trotz des Falles von Sebastopol. und obgleich alle Welt weiß, daß
Nußland in den nächsten Jahren an keine aggressive Politik denken kann, ist
bei den „christlichen" Unterthanen der Pforte Rußlands Einfluß in beständigem
Steigen, und zur Abwechselung ist es einmal die Demokratie, die serbische wie die
rumänische, die ihre Fahne erhebt. Vor fünf Jahren wurde Rußlands Ueber¬
gewicht hauptsächlich durch den französischen Kaiser paralysirt, den eigentlichen
Führer des orientalischen Kreuzzugs; und jetzt wirst Napoleon III. das Ge¬
richt seiner Waffen und seiner Diplomatie für Nußland in die Wagschale. Da
^ ihm schwerlich um das Seelenheil der Tschernagorzen, der Ranzen und der
Walachen zu thun ist, da man ebenso wenig vermuthen darf, er denke an einen
neuen Krieg im Orient, der Frankreich wenig Ruhm und Beute verheißt, so
uegt der Grund dieser Politik wol nur in dem Wunsch, eine Gelegenheit zu
eurem Conflict mit Oestreich offen zu halten, der keine französische, sondern
eme weltbürgerliche Färbung habe. Nebenbei läßt sich voraussehen, daß für
die guten Dienste, die ihm Frankreich im'5Orient leistet, Nußland zu Gegen¬
diensten in Italien bereit sein werde.
Ebenso bestimmt wie Rußland, ist Oestreich durch die Natur der Dinge
seine orientalische Politik vorgezeichnet. Was die Pforte an Macht verliert,
gewinnt Nußland, und jeder Fortschritt Rußlands verringert die Garantien,
die den östreichischen Ländercomplex zusammenhalten. Ist Rußland erst voll¬
ständig Herr in Serbien, Montenegro und Rumänien, so ist auch Galizien,
°as Banat. Kroatien — kurz das ganze Vorland Oestreichs in Gefahr, von
dem mächtigen Nachbar absorbirt zu werden. Es muß Oestreich also alles
daran gelegen sein, den Zerfall des türkischen Reichs zu hintertreiben, und
es hat auch in der That in den meisten Fällen die Pforte zu Stufen gesucht.
Freilich ging es in schwachen Stunden von dieser Idee ad; es dachte
an die Möglichkeit, mit Nußland die Bente zu theilen, so namentlich 1790.
Metternich sah zu klar, um sich auf eine so abenteuerliche Politik einzulassen,
aber fein Wille war nicht stark genug, der offnen Gewalt etwas mehr als
diplomatische Intriguen entgegenzusetzen. Das junge, wiedergeborne Oestreich,
das nicht mehr an Erhaltung des Bestehenden, sondern an Eroberung dachte,
arbeitete durch die Sendung des Fürsten von Leiningen entschieden den
Russen in die Hände; ja vielleicht war diese Sendung der Umstand, der
den Kaiser von Rußland, im voreiligen Vertrauen auf Oestreichs Zustimmung,
zu dem herausfordernden Borgehn gegen die Pforte bestimmte. War das
vom wiener Cabinet Macchiavellistische Politik? sehnte es sich, wie Fürst
Schwarzenberg sagte, wirklich nach einer Gelegenheit, um an dem Ueberwinder
Ungarns einen „Act eclatanter Undankbarkeit" auszuüben? Es ist nicht wahr¬
scheinlich; vielmehr war es die nachträgliche, besonnene Ueberlegung, die Oest¬
reich zu der Rolle veranlaßte, die es in den folgenden Jahren gespielt. Und
auch da blieb es nicht streng conservativ; zu deutlich ließ es merken, daß es
in den Donaufürstenthümern mehr begehrte als die bloße Sicherung des Be¬
stehenden. Dem Anschein nach hatte es von den sämmtlichen am orientalischen
Krieg betheiligten Mächten mit den geringsten Opfern das Meiste erreicht;
in der That aber war grade durch den Verdruß der andern über diesen Erfolg
seine Stellung eine sehr bedenkliche geworden.
Es hatte Nußland nicht blos Schaden, sondern eine Kränkung zugefügt,
die man nicht wieder vergibt. Die englisch-französische Politik begriff mau
in Se. Petersburg als natürlich, die östreichische empfand man als einen
Treubruch; dort hatte man es mit einem offnen Feind zu thun, der Gut und
Blut für seine Sache einsetzte, hier mit einem Gegner, der, ohne einen Ein¬
satz zu wagen, dnrch geschickte Schachzüge seine Sache förderte. Mit den
Westmächten konnte wieder eine Verständigung erfolgen, sobald es der Vor¬
theil erheischte; mit Oestreich nicht.
In dem leidenschaftlichen Eifer, aus dem Bündniß mit den Westinächtcn
allein in Deutschland Vortheil zu ziehen, hatte man Preußen, dessen schwan¬
kende unselbstständige Politik allerdings zu dem gerechtesten Tadel Anlaß bot,
ans eine Weise bruskirt, die es immer feindseliger stimmen mußte. Während
vor dem orientalischen Krieg der Einfluß Rußlands entschieden für Oestreich
gegen Preußen in die Wagschale fiel, hatte sich nun das Verhältniß umgekehrt-
Eine innige Allianz mit den Westmächten war nicht zu Stande getönt
men. Die öffentliche Stimmung in England, schon früher dem östreichischen
Absolutismus entschieden abgeneigt, war durch die Haltung Oestreichs was-
rend des Krimfeldzugs keineswegs verändert. Die Volksstimmung. die sich
Hayncm gegenüber so nachdrücklich ausgesprochen hatte, wäre sehr leicht in
eine andere Fährte gelenkt worden, wenn sich die östreichischen und britischen
Feldzeichen zur Seite gestanden hätten. Das war nickt geschehn, das Publi¬
kum sah in Oestreich noch immer das Vaterland der Haynaus, und das
Publicum hat dort einen sehr erheblichen Einfluß auf den Gang der aus¬
wärtigen Politik.
Gegen das Ende des Krieges war es dem Königreich Sardinien gelungen,
sich durch das active Bündniß mit den Westmünster eine Position in Europa
Zu erwerben, die weit über seine Kräfte hinausging. Zum Schluß der pariser
Evnfevenzen durste Graf Cavonr es wagen, im Angesicht Europas eine
offne Anklage gegen die östreichische Politik in Italien zu erheben. Damit
>var gegen den wundesten Fleck Oestreichs die Spitze der europäischen Waffen
gelehrt.
Die italienische Frage spielt unzweifelhaft in der Zukunft Europas eine
ebenso wichtige Rolle als die orientalische, eine wichtigere als die polnische,
weil diese, was auch sentimentale Politiker dagegen sagen mögen, im Grund
der Sache bereits abgeurtheilt ist. Und sie hat in den letzten Jahren für
Oestreich eine um so bedrohlichere Wendung genommen, da sie aus dem Ge¬
riet der Wunsche und Träume in das Gebiet des planmäßigen Wirkens über¬
getreten ist.
Wenn man die Befähigung Italiens, einen unabhängigen Staat zu
bilden, untersucht, so muß man zweierlei unterscheiden. Wie der Italiener,
wenn er einen sogenannten Volkskrieg unternimmt, sich fast durchweg schlecht
schlägt, als Soldat dagegen in einer disciplinirten Armee Glänzendes leistet,
^ ist es auch in der Politik. Dem Italiener die politische Fähigkeit abzu¬
sprechen, wäre gradezu ein Wahnsinn; die größten Politiker Europas sind
aus Italien hervorgegangen, ja Italien ist das eigentliche Vaterland der mo-
dernen Politik. Aber das staatenbildende Princip Italiens leidet an einem
Mangel, den es mit dem classischen Alterthum überhaupt theilt: so viele und ver¬
schiedenartige Völker die Flut der Zeit über den Boden Italiens hinweggeweht
hat, in dieser Beziehung steht es noch immer auf dem Standpunkt Roms
und Griechenlands.
Das staatenbildende Princip des classischen Alterthums ging nicht über
das Weichbild der Stadt hinaus. Zwar haben sich die Städte erweitert, m-
e>u sie die Heiligthümer der eroberten Städte mit den vorzüglichsten Adels-
üeschlechtern in ihre eignen Mauern einführten und das unterworfene Land
eolonisivten, aber auch der fo erweiterte Staat blieb immer nur die Stadt.
Als Rom die Welt eroberte, diente die Welt nur dazu, während der Republik
Adel der römischen Stadt zu bereichern, und nachdem das Kaiserthum
hergestellt war, den hauptstädtischen Pöbel zu unterhalten. In Griechenland,
wo genau dasselbe Verhältniß stattfand, hatte man das System der Sym-
machien: diese hatten ein wirkliches Leben, so lange ein Vorort in der Bundes-
genossenschaft despotisch regierte, Athen, Sparta, Theben; sie verloren sich in
eine leere Abstraction, als sie sich zu gleichberechtigten Eidgenossenschaften ver¬
edeln wollten, wie im achäischen Bunde. So ist im Mittelalter Italien der
glänzendste Boden sür alle politischen Fähigkeiten; man kann sagen, daß in
diesem Wirbel der italienischen Politik Talent und Genie auf eine unerhörte
Weise vergeudet wurden; aber immer ist der Staat nur die Stadt, bis end¬
lich die Entstehung großer Militärmächte außerhalb Italiens die Unterwerfung
Italiens herbeiführt. Als glänzender Ueberrest des alten staatenbildenden
Princips bleibt bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts nur noch Venedig
bestehen. Endlich fällt auch dieses als letztes Opfer sür den Frieden der bei¬
den rivalisirenden Mächte.
Italien ist seit dem Zuge Karls VIII. der Schauplatz für die Rivalität
der Häuser Frankreich und Oestreich. Bald geht man darauf aus, es ganz
oder theilweise dem eignen Ländergebiet einzuverleiben, bald macht man da¬
raus eine Entschädigung sür seine apanagirten Prinzen. Diese Beziehung zu
Italien, und was damit zusammenhängt, zum Papstthum, ist kein unwesent¬
licher Grund dafür, daß die beiden Dynastien katholisch blieben. Das Ueber¬
gewicht scheint sich mehr und mehr für das Haus Bourbon zu entscheiden,
bis endlich der Erbe dieses Hauses, Napoleon I., ein geborner Italiener, den
Plan seiner Vorgänger in großartigem Maßstabe ausführt: der größere Theil
Italiens wird dem französischen Kaiserthum einverleibt, der Rest wird zu
militärischen Lehen umgestaltet.
Der Sturz Napoleons gibt Oestreich in Italien das Uebergewicht; doch
wendet es dasselbe insofern mäßiger an, als es sich nur das lombardisch-
venetianische Königreich einverleibt, und daneben eine Reihe von Secundo-
genituren einrichtet. Mit dem stammverwandten Neapel bleibt die französische
Restauration in Beziehungen.
Aber den Haupteinfluß übt Oestreich in Italien als Vorfechter der Legi¬
timität aus. Legitim ist nach dem Princip Metternichs der durch den wiener
Frieden garantirte Besitzstand der Mächte; wer denselben in Frage stellt, ist
ein Jakobiner, ein Communist, ein Königsmörder-. Jakobiner, Communisten,
Königsmörder sind die Griechen, die Polen, die deutschen Unitarier, die Ita¬
liener. Metternich lehrt und für Europa wird es ein Glaubensartikel, daß
die Fortdauer des östreichischen Besitzstände? in Italien das Symbol des mon¬
archischen Princips überhaupt ist. In Griechenland 1829, in Belgien 183t
muß man freilich ein Auge zudrücken; desto strenger wird das Princip in Ita¬
lien festgehalten. Und in der That, die Partei der Einheit und Unabhängig-
keit Italiens rekrutirt sich hauptsächlich in den unterirdischen Werkstätten der
geheimen Gesellschaften. die mit den französischen Jakobinern in enger Be¬
ziehung stehn. Ein Phantast im größten Stil. Mazzini. gründet für Eu¬
ropa eine revolutionäre Propaganda, die ihren Sitz in Italien hat. Wenn
man seitdem auf einem beliebigen Bilderbogen einen Italiener abmalt, so
hat er stets den spitzen Federhut tief in die Stirn gedrückt, den Mantel fest
zusammengefaltet, doch so daß ein Dolch daraus hervorblickt. Alle Legiti-
misten träumen von italienischen Banditen, und nicht am wenigsten besorgt
ist Karl Albert. König von Sardinien. Als junger Prinz hat er das Trei¬
ben der Carbonari genau kennen gelernt, er ist selber Carbonaro gewesen;
als König bietet er jeder Rcpressivmaßregel die Hand, die von Oestreich gegen
die Einheitsträumer ausgeführt wird; ja er ist in seinen Anforderungen noch
heftiger, in seiner Repression noch härter. Im Uebrigen dauert die alte Riva¬
lität zwischen Oestreich und Frankreich sort: Oestreich findet mehrfach Gelegen¬
heit, den Papst zu retten, und zu diesem löblichen Zweck päpstliche Legationen
militärisch zu besetzen; Ludwig Philipp, der dem Ruhm seiner Nation doch
auch etwas schuldig ist. rückt seinerseits in Ancona ein. Es.will zwar nicht
viel sagen, aber es ist doch immerhin eine Demonstration. Unter den Füh¬
rern der Carbonari zeichnen sich in jenen Jahren zwei Gebrüder Bonaparte
aus. die Neffen des großen Kaisers: der eine von ihnen trägt jetzt die fran¬
zösische Krone.
Es folgt die Aufregung über einen liberalen Papst, dann die Revolution
von 1848: die geheimen Gesellschaften ergreifen in Frankreich das Ruder,
ihre Freunde stehn in Mailand und Venedig auf. der östreichische Feldmarschall
muß weichen, es liegt nahe, daß die revolutionäre französische Negierung
ihren Glaubensgenossen in Italien zur Hilfe kommt. Dann geschieht das Un-
«hörte: Karl Albert, der alte Verbündete Oestreichs gegen die Carbonari.
rückt mit seiner Armee schnell entschlossen in die insurgirten Provinzen ein und
sie huldigen ihm als ihrem König. Zwar wird er zum ersten Mal und zum
Zweiten Mal geschlagen. Oestreich gewinnt seinen Länderbestand wieder und
Karl Albert selbst muß abdanken, aber die Zukunft Italiens hat eine andere
Physiognomie angenommen. Was bisher nur von stillen Gelehrten geträumt
wurde, die Einheit Italiens durch Absorption in einen bereits organisirten
Staat, ist heute das Stichwort der gebildeten Classen Italiens. Der Anhang
Mazzinis besteht zwar fort, aber er ist in den Hintergrund gedrängt; das
neue konstitutionelle Königreich Sardinien, welches auch den päpstlichen An¬
sprüchen gegenüber die Interessen seines Volkes vertritt, ist jetzt der Mittel¬
punkt der italienischen Einheitsidee; nicht mehr der Dolch der geheimen Ge¬
sellschaften, sondern das Schwert der piemontesischen Armee ist gegen Oestreich
gerichtet. Diese Armee hat den orientalischen Feldzug mitgemacht, der Leiter
der sardinischen Politik hat in Paris im Rath der Großmächte gesessen, und
so hat der kühne Entschluß Karl Alberts doch seine Früchte getragen. Es
ist für den Credit eines Staats besser, geschlagen zu werden, als in feiger Un-
thätigkeit die Ereignisse abzuwarten. Die Piemontesen haben gezeigt, daß sie
unter Umständen das Schwert zu ziehn bereit sind, gleichviel ob für Italien
oder für ihren eignen Ehrgeiz, und mit vollendeten Thatsachen muß man rech¬
nen, wie der Fürst Metternich sich ausdrückt.
Welche Stellung hat nun während jener Bewegungen die französische Re¬
publik eingenommen? —
Graf Cavour, dessen leitender politischer Gedanke die enge Allianz mit
dem Kaiser Napoleon ist, hat sie der Gleichgiltigkeit beschuldigt; diese Be¬
schuldigung hat Bnstide, den Minister der auswärtigen Angelegenheiten
unter der provisorischen Regierung und unter Cavaignac, veranlaßt, in einer
ausführlichen Denkschrift zu antworten, die hauptsächlich durch die mitgetheil¬
ten Documente sehr beachtenswerthe Aufschlüsse über dasjenige g ibd, was Ita¬
lien von Frankreich überhaupt zu erwarten hat.
Gleich nach dein Ausbruch der Unruhen in der Lombardei zog die fran¬
zösische Republik an der Grenze ein Beobachtungscorps zusammen. Den
24. Mai beschloß der König von Sardinien den Einmarsch in die östreichischen
Provinzen, um, wie der Marchese von Pareto an den großbritannischen
Gesandten schrieb, die Bewegung zu hindern, republikanische Formen anzu¬
nehmen und dadurch über ganz Italien eine bedenkliche Krisis zu beschworen,
lüvttv torme, heißt es in dem Schreiben, aurait 6t6 Latalv u, 1a cause ita-
licmue, a notro gouvornewovt, a l'augusto äzmastio Ac Lavoiv. Gleichzeitig
protestirte der sardinische Gesandte in Paris, Marquis von Brignoles,
im Namen seines und aller übrigen Höfe gegen jede französische Einmischung'
IWIia Lara <la so, war das Stichwort der Patrioten. Den 29. Mai erklärte
die provisorische Negierung zu Mailand, mit Einwilligung des Volks, die
Einverleibung der Lombardei in das Königreich Sardinien; in Parma und
Modern war es bereits geschehn, Venedig folgte. „Ich wollte nicht, erzählt
Bastide, den Degen ziehn. um eine monarchische Einheit Italiens zu Gunsten
eines Fürsten herzustellen, dessen Ehrgeiz nicht einmal die andern Fürsten-
thümer respectirte; der ihnen vielmehr bedrohlicher erscheinen mußte, als eine
lombardisch-venetianische Republik." In ähnlichem Sinn schrieb Mazzini an
„seinen lieben Bastide". Der Minister selbst richtete an seinen Geschäftsträger
in Turin, Bixio, schon im Juni folgende Vorstellungen. Mus nez voulcms
evrtainvlncllt xas kairv <1o la xolitiyuv soutimsutalv; mais nos xriuoixos «t
vos ivtörüts »aus eoinmaväout d'nerv vu garclv eontrv evnx qui vonäraiout
Lonävr an cicla äos ^.Ixes uno monarekio italicuru« . . . II no taut xas
lüdarlos-^ldort s'imagmv pu'it pone so Lairo roi Äo I^owlbaräio; it no taut
Pas qu'it so tlatto us xouvoii- traitvi- avec 1'^.utrieno, <lui lui eöäerait vo-
Iouti(>i8 1e Nilnnnis n eoilditiun c^u'it I'ni<Ieinit -V conserver Venise . . .
(^ne le l'iemout reste mvunieliie, pui8<iue teile est su volout^; unis
Me 1a I^omKni <lie, sjue Veni^e soient mnitresses d'elles-memes. Ausführ¬
licher sind die Instructionen um den neuen Bevollmächtigten, Bois-le-Comte,,
U>. Juli. „Wir wünschen aufrichtig die Befreiung Italiens, aber wir
können nicht zugeben. pu'it s'^ etndlit, nu i>rc>ut ä'une puiLSNnee itnlieitne,
Uno üomiuation x v u t-«1 t 1- v xlns inquivtanto xour In, pvnill »ulo q.us
Ac 1'neun celle lie 1'vVntiieIie elle-nreme. Wir können nicht ruhig
die ehrgeizigen Pläne Karl Alberts mit ansehn. <ne semit de^jn, j?c>ni- In
I'rnnee et pour I'tenue, un Lg.it uffe^ grnve, c^no In erüation, an xioü <1of
^lpvK, ä'une inouarvlüv <le 11—12 millions d'Iiaditants, apM^o »ni- «leux
wer«, Lormnnt n tous egnräs une inriLLNuee iedoutnl>1e, fünf c^ne co non-
^Vl 6tat, ainsi eouLtituü, und vueoro absorbor Jo i'vsto <le 1'Itnlle. (Also
ttanz wie Kaiser Nikolaus zu Sir Hamilton Seymour in Bezug auf den Plan
Wies griechischen Kaiserthums!) ^vus pouriiouZ nclmetti-e (man höre!)
1'nunc itnlieuue, unis sous In Leime et sui- 1v xiineipe d'une Lederntion
^nerv 6kath iun<.wen<1aues (wie im deutschen Bunde, oder wie — bereits in
<^>
^ratur!), n^und leur seuverninete propre, s'elinililu'und (d. h. ihre Macht
^^alysirend) nutnut yue xossidle, et neu xoiitt uno nunc c^ni xlneernit
^tgUe. sous In domiuntion et 1e geuvvinemeut d'un seul cle ees etre8, le
tun« xuiss-me lie tous!*) (Wie fein! die lombardische Nation soll uicht unter
die Botmäßigkeit der piemontesischen kommen! die dessauische Nation nicht
unter die Botmäßigkeit der preußischen!)
Um das nun richtig zu versteh«, vergleiche man die Anmerkungen ut'er
Deutschland. Der republikanische Minister betrachtet die frankfurter National¬
versammlung mit dem höchsten Mißtrauen. Nachdem er ihre sonstigen Er-
obevungspläne aufgezahlt, schließt er: l'oru- evurcnmer sestrnvaux, 1'nssem-
Le resumn tout eutiei'e dnils 1v vote ^ni 61corn n in i>i'eLideuev de in
vovtüüvi'atiov, e'est-n-dire, daus La pensee, n 1'emM'e d'^IIemngue, capile
pu'elle voulait tiöreditaire, (im Juli!) un xrinee de la maison d'^utrieke.
I7u tel vots 6<iuiva1ait a une declaration üveutuelle de guerre
contre 1s. I'rauoeü — Wir haben immer die östreichische Reichsverweser¬
schaft für einen Act falscher Politik gehalten, aber eine solche Sprache im
Mund eines Fremden zeigt doch, wie nöthig es war, alle conservativen Kräfte
um jeden Preis zu vereinigen. — In diesem Sinn instruirt der Minister,
5. August, den Gesandten in Berlin: I/nullo allsinaude est ^un excellent
piiueixe taut hu'it so reukerine daus les limites de 1a krateruite
deweeraticiue eutie les dikkereuts veuxlvs (!) qui eomxosent 1a grande
kamillo germaui<iue. (Wie patriarchalisch!) Nais, si sous xrötexte d'nunc'
et de kraternite, on veut adsorder 1e Llesvig, c^ni est dauvis, 1e Limvourg-,
q.ni est livllaudais (also der Boden der wiener Verträge!), Ja Lomdardie et
Venise, Mi sont italieuues, I'pfer, c^ni est xolouais (also der Boden der
Nationalität!), et xeut-etre, 1'^.lsaee et 1s. I^orraine (wem ist das ein¬
gefallen?), 1'nunc alleuiaude devient un ks.it gu'it kaut eorn-
battre. 0r, eoniiue cette tendanee est manifeste, it kaut, «mant ä rireseut,
encourager (doch wol mit dem Versprechen eventueller Hilfe) 1a?russe et
1s Laviere et les autres etats (nur Oestreich fürchtete man) a eousei-vel- leur
iudexendauee et leur irs.lions.like. >Ze ne pense pss <in'i1 v ait lieu de
notre xsrt ä ecrire aueuuv note a cet eZard; uisis usrle daus ce sens.
Le sera bien. (Es liegt in der diplomatischen Sprache eines republikanischen
Ministers doch etwas erstaunlich Gemüthliches! Daß aber Diplomatie Diplo¬
matie bleibt, lehrt das Folgende:) Loutiuuv a maintenir les uriueives en
ce (M regsrde 1s. I>oIvAue (Theorie). Nais, coiume 1'a u'est xoiut 1a
vis-le question en ce uioiueut, use d'une ^raube moderatieu; (Praxis; denn:)
it ne taut xviut jeter 1a ?russe daus cette grande eoukederatieu de 45 mil^
liviis d'^lleuiauds o.ni ne se koudera xas, ensis gui xourrait, en s'essavant,
nous taire du mal. (Also: um die Einheit Deutschlands zu hintertreiben,
wird Polen im Stich gelassen!)
Eine Intervention in Italien war unthunlich; alle Welt war dagegen-
Es blieb also die Mediation übrig. — Den 24. Mai hatte der östreichische
Bevollmächtigte in London, Hummelaer, folgende Vorschlüge seines Cabi-
nets übergeben: „Oestreich verzichtet auf die Lombardei, die sich nach Belieben
einem andern Staat anschließen darf, dafür aber einen Theil der östreichischen
Nationalschuld übernimmt; Venedig bleibt bei Oestreich, erhält aber eine selbst'
ständige Verwaltung und Volksvertretung. Auf diese Grundlagen kam 9. Aug-
zwischen Frankreich und England ein Vertrag zu Stande, und es wurden
Unterhandlungen eröffnet, die von England ernst gemeint waren, von Frank¬
reich aber nicht. Bastide erklärt wiederholt, er bestehe keineswegs aus jenen
Bedingungen; er setzt hinzu, daß er sie nicht einmal billige. Cavaignac er-
klärte. 3. August, offen den italienischen Abgeordneten, <iue 1a rrauee i-e-
puolieaiue ne xouvait voir ä'un bon oeil ce ivvaume ac 1a uautv Italie^,
M'vu vou1a.it ütadlir sur ses troutieres; ear on avait lieu ac eiaiuäre
ein'unetvis les ^uti ielrieus exvuls^s, 1e roi ac 1a. Iiaute Italie ne se ki^nat
avve eux an äetiimeut ac 1a repMiiue trau^aise. — Bastide fordert Parma
und Modena auf (29. August), sich lieber mit Toscana zu vereinigen, als mit
Sardinien. Mittlerweile hatte Mailand capitulirt (5. August). Sardinien
hatte Waffenstillstand geschlossen (9. August). Den Franzosen kam es nicht
darauf um. den Italienern jetzt, wo sie es bedurften, Hilfe zu leisten; Bastide
spielte vielmehr den Beleidigten"); es kam ihm nur darauf an. die
Negierung des Reichsverwesers von den Unterhandlungen auszuschließen. Zu
diesem Zweck, erzählt er, it nous laikan,, sans eveiller les suseextimlites ac
^^UemaZue, üelairer eevanäaut les Missauees germauiq.ues et 1e cabinet
<le Vienne lui-nome (dahinter war man endlich gekommen!) sur 1e äauser
resultaut pour eux as cet emxiie ac ?rauetort, gui, xresiäe var un irrem'-
une (das gilt Preußen!), voula.it, Wut absoider an nom as 1a äemoei-alle
(das gilt Oestreich!) et ac 1'nun6 allemauäe. In Preußen erlebt Bastide
seine Freude; der Waffenstillstand von Malmoe erfüllt ihn mit Jubel; er
schreibt 20. September an den Gesandten in London, es sei ihm gelungen,
üeweuer 1a I>russe ac 1'^llemaLue, aoud eile serait 1a plus grauäe doree,
ac l'kugaAer a ne xoiut se taire plus louZtemvs 1'lnsel-unent ne 1a cou-
l^äerativu ac I'rauctoit contre 1e rvvaumo ac vauemarlc. (Daran wenig¬
stens war Oestreich unschuldig!) I.e cabinet ne Lerliu a montre une rvso-
lutivn a. 1g.a,ne11e on ne s'attenäait xoiut . . . I.al>russe s'est neu-
^ce, et cet vmxire Z6rmani<z.ne, o.ni meuaoait ac veser sur nous an voiäs
45 millions ä'nommes, se trouve äesormais r6aun aux proportions ä'une
^vuteäeratiou mal nule et sans äauger serieux pour 1a ?rauee . . . I^ors-
Me ig «irbiuet ac Vienne nous a vroxose, it v a Cuelczues jours, ä'aä-
wettre l'euvove ac 1'arelüäue äeau aux eouterenees, sai xu lui rexouäre
Me je ne savais pas ce q.ne c'etait qus 1'empire ac I'ranet'ort ... I So
wurde die deutsche Einheit vertreten! — Oestreich trat jetzt, 16. September, durch
Weissemberg mit andern Vorschlägen auf: die Lombardei und Venedig sollten
zu einem „Staat" vereinigt werden: Constitution, die Armee und Verwaltung
mit Italienern besetzt, getrenntes Budget, das Vicekönigreich eines Erzherzogs.
Diese Vorschlüge begrüßte Bastide als einen wichtigen Fortschritt gegen die des
24. Mai! Und als Grund dieser Befriedigung führt er in der Depesche vom
11. October an den Gesandten in London ausdrücklich an, daß unter diesen
Umständen eine Vergrößerung des Hauses Savoyen vermieden wird.
Von minderem Belang sind die Verwickelungen von Venedig und Sicilien.
Nachdem Venedig durch den sardinisch-östreichischen Waffenstillstand feinem
Schicksal überlassen war, schrieb Lord Palmerston, in dessen Absicht es nie
gelegen hatte, dies Gebiet von Oestreich loszureißen, den 16. October an
den Dictator Menin, daß er von England nichts zu erwarten habe. Bastide
versprach noch am 17. November, freilich unter der Bedingung, daß seine
Negierung am Ruder bleibe, den^Venetianern jede Hilfe; offenbar aber war
es eine Absurdität, auf die Länge Venedig gegen Oestreich behaupten zu
wollen, wenn Mailand verloren war. Was Sicilien betrifft, so haben beide
Mächte ein falsches Spiel getrieben. Freilich ist Englands Rolle dabei noch
gehässiger als die Frankreichs, da das letztere wenigstens einige Anstalten
machte, den Angriffen Neapels zu widerstehn. Uebrigens gingen auch hier
die Interessen beider Staaten auseinander. England hätte am liebsten ge¬
sehn, wenn Sicilien unter seiner Protection einen eignen Staat bildete, wäh¬
rend Frankreich die Fortdauer der neapolitanischen Oberherrschaft. doch mit
zu Grundlegung der Verfassung von 1812. vorzog. Eventuell schlug es den
Sicilicmern wie den Einwohnern von Parma und Modena die Vereinigung
mit Toscana vor.
Am schlechtesten ist die Rolle, welche die Republik in Rom gespielt hat.
Wie man auch über deu Charakter Pius IX. denken mag. er hatte für Italien
sehr viel gethan und sein vollständiger Abfall von der Sache des Vaterlandes
war die gerechte Reaction gegen eine Folge von Schandthaten. Die Ermor¬
dung Rossis war der schändlichste Frevel, mit dem sich der italienische Auf¬
stand befleckt hat, und diese Ermordung war wenigstens indirect durch die
Agenten der französischen Republik hervorgerufen. Die Erhebung Rossis in
das Ministerium war die glücklichste Wahl, die Pius treffen konnte, und als
die französische Republik diese Wahl für eine offene Beleidigung erklärte,
4. August, that sie damit den ersten Schritt, der endlich zum gewaltsamen
Einmarsch in Rom führte.
Der Eindruck dieses ganzen Berichts ist deutlich genug. Welche Regiemngs-
form sich Frankreich geben mag. die auswärtige Politik, namentlich gegen
Italien, bleibt dieselbe. Die Zertheilung Italiens in eine Reihe unbedeuten¬
der Staaten, deren gegenseitige Eifersucht ein gemeinschaftliches Wirken aus-
schließt, liegt ebenso im französischen wie im östreichischen Interesse; es han¬
delt sich nur darum, welche von den beiden Mächten über diesen Staaten-
complex die Hegemonie führen soll. Die Bildung eines mächtigen, freien und
einheitlichen Staats, zunächst in Ober- und Mittelitalien, um dann für alle
cmiservative Elemente Italiens das Centrum zu bilden, ist Frankreich ebenso
unbequem als Oestreich, gleichviel ob in Frankreich die Bourbons, die Jakobiner
oder die Bonapartes herrschen. Das weiß Oestreich jetzt sehr gut. und daher
seine sonst völlig unbegreifliche Gleichmütigkeit dem Unwetter gegenüber,
das sich immer näher und drohender von allen Seiten zusammenzieht.
Allein es könnte sich doch verrechnet haben. Es liegt in dem Charakter
des französischen Kaisers etwas, das sich dem gemeinen Maß entzieht. Na¬
poleon III. wird unter Umständen eine That, die ihm und der französischen
Armee Ruhm bringt, ausführen, auch ohne einen unmittelbaren Nutzen davon
in haben; er wird ferner, sobald er einen Zweck will, auch mit großer Ent-
schiedenheit die angemessenen Mittel wollen. Es kann sein, daß der Ruhm
eines siegreichen Feldzugs gegen Oestreich ihm wichtiger ist, als ein unmittel¬
barer Ländergewinn; will er aber in Italien etwas erreichen, so muß er ein¬
sehn, daß dies nur im Bunde mit Sardinien geschehn kann. Der Entschluß
würde ihm erleichtert, wenn Sardinien sich zur Abtretung von Savoyen ver-
stände.
Mit Recht hebt man an ihm seine Verschlossenheit hervor; aber zugleich
versteht er es sehr geschickt, auf die kommenden Ereignisse durch dunkle Ge¬
richte vorzubereiten. Daß im December 1851 ein Staatsstreich bevorstand,
war mehre Monate voraus angezeigt; Napoleon selbst stellte es freilich in
Abrede, und niemand wollte es glauben. Jetzt hört man von allen Seiten,
daß in den Monaten März und Mai ein Feldzug gegen Oestreich vorbereitet
wird; der Kaiser sagt bei einer Festlichkeit, wo man es am wenigsten erwar¬
tn sollte, dem östreichischen Botschafter unangenehme Dinge, und läßt es
"Ach' sonst an Demonstrationen nicht fehlen. Eine Absicht hat das gewiß,
welche, das ist freilich schwer zu bestimmen, aber möglicherweise ist der Zweck,
^ne passende Gelegenheit zu einem Bruch zu finden. Die Entschlüsse des Kai¬
sers werden schnell ins Wert gesetzt und Oestreich hat alle Ursache auf der
Hut zu sein. Unter den Großmächten hat es keine, auf dre es mit Be¬
stimmtheit rechnen könnte, auch England nicht, wie das schon die Verhand¬
lungen über die Donaufürstenthümer gezeigt haben. Kein englisches Ministerium
wird es wagen, in einem Unabhängigkeitskampf der Italiener, namentlich
wenn Frankreich auf jeden directen Gewinn verzichtet. Partei für Oestreich zu
nehmen. Nußland steht entschieden auf Seiten Frankreichs und Sardiniens,
und so bleibt nur noch Preußen übrig, der natürliche Verbündete Oestreichs.
^ sehr sich Frankreich zu allen Zeiten bemüht, durch ein Bündniß mit
Preußen und durch Vortheile, die es diesem in Aussicht stellt, die Einigung
Deutschlands zu hintertreiben, zeigt die ganze Geschichte von 1795 bis auf
den heutigen Tag; wie erheblich die Vortheile sind, die Preußen aus dieser
Combination erwachsen können, liegt auf der Hand. Seit zehn Jahren hat
Oestreich alles, was in seinen Kräften stand, gethan, um sich Preußen feind¬
lich zu stimmen; wird es nun zu der Einsicht kommen, daß seit der Regierungs¬
veränderung die Mittel, auf Preußen zu wirken, nicht mehr dieselben sind,
und daß es seinerseits sich zu Zugeständnissen bequemen muß, wenn es von
Das deutsche Gaunerthum in seiner social-politischen, literarischen und linguistischen
Ausbildung zu seinem heutigen Bestände von Friedrich Christian Benedict
AvL-Lallemand. Leipzig, Brockhaus. 1858.
Das Werk wird aus drei Theilen bestehen, von denen bis jetzt zwei aus-
gegeben sind. Der erste enthält eine Uebersicht der geschichtlichen Entwicklung
des Gaunerthums und seiner Literatur seit dem fünfzehnten Jahrhundert;
der zweite das moderne Gaunerthum: Praxis, Künste und Hilfsmittel. Der
dritte soll die Sprache behandeln. Der Verfasser dieses Werkes besitzt zwei
Eigenschaften, deren Vereinigung nicht häusig zu sein scheint, er hat durch
seine amtliche Stellung eine umfassende Kenntniß der Aufgaben unsrer Cri-
minalpolizei erworben und hat sich mit Liebe und Ausdauer auch um die
Sprache und die Geschichte der deutschen Gauner gekümmert, so hat sein
Werk nicht nur für Polizeibeamte und untersuchende Juristen, sondern
auch für Historiker und Sprachforscher Interesse. Der zweite Theil, welche
die modernen Zustände ausführlich charakterisiert, die einzelnen Thätigkeiten
der Verbrecher mit ihren Handwerksnamen und Kunstgriffen darstellt, und
schätzenswerthe Winke über Reformen unserer Entdeckungspolizei gibt, hat
sicher auch für den Laien keine geringe Bedeutung, uns fehlen die Kenntnisse,
welche zu kritischer Beurtheilung nöthig sind; wir müssen uns mit dem Be'
kenntniß begnügen, daß uns die zahlreichen Abbildungen z. B. der Nach'
Schlüssel und Sicherheitsschlösser durchaus imponirt haben. Der dritte Theil,
welcher Lexikon und Grammatik sowol der jüdisch-deutschen Sprache, als
des Rotwelsch enthalten soll, verspricht nach der häusig sichtbaren Dialekt'
kenntniß des Verfassers der Haupttheil des Werkes zu werden, er wird, zweck¬
mäßig angeordnet, unsrer Sprachwissenschaft eine nicht selten fühlbare Lücke
ausfüllen.
Für den Zweck dieser Blätter war der erste Theil. Geschichte und Literatur,
der ausgiebigste. Der Verfasser hatte nicht die Absicht, die frühern Jahr¬
hunderte und ihre Literatur ausführlich zu behandeln, und dankbar für das.
was er gegeben, wird der Leser schwerlich mit ihm darüber rechten, daß er
einiges übergangen oder daß ihm nicht alles Findbare bekannt war. Hier
sollen einige Bemerkungen folgen, welche zur Ergänzung seiner Mittheilungen
dienen können.
Unzweifelhaft ist eine zunstmäßigc Verbindung der Gauner mit bestimmten
Erkennungszeichen und Eigenthümlichkeiten der Sprache so alt. als die Staaten
des Mittelalters. Möglich, daß schon die Römer den Fahrenden und Gehren¬
den eine Erbschaft von Kunstgcheimnissen und stillen Bräuchen hinterlasszn
haben. Seit dem neunten Jahrhundert sind die ehr- und rechtlosen Kinder
des Elends über das ganze bekehrte Deutschland verbreitet, eine bunte, wilde
Genossenschaft, vom lustigen Spielmann und seiner Dirne bis zum unge¬
selligen Räuber der Landstraße, vielfach mit seßhaften Menschen verbunden,
von denen einzelne Classen. Hausirer. Roßtäuscher. Reisige, sogar unheilige
Pilger und räuberische Edelleute, später Bettelmönche. fahrende Schüler und
Lohnsoldaten manches aus ihrer Sprache und Sitte angenommen haben.
Am frühesten aber und innigsten war ihre Verbindung mit den Juden, den
vielgcplcigten Hehlern des gestohlenen Gutes, denn jüdische Worte bilden von
je einen Hauptbestandtheil ihres Jargons. Dagegen ist die Verbindung der
deutschen Gauner mit den Zigeunern, so weit sich aus der Sprache schließen
läßt, wenigstens vor dem dreißigjährigen Kriege nicht so innig gewesen, als
man im siebzehnten Jahrhundert glaubte. Denn die Zigeuner waren in der
Minorität und haben mehr aus der Gaunersprache aufgenommen, als die
Landfahrer aus dem indischen Dialekt der Zigeuner.
Die Zigeuner nun sind nicht, wie der Verfasser annimmt, erst im Anfang
des fünfzehnten Jahrhunderts nach Deutschland gekommen/) Die sprachlichen
Untersuchungen von Pott haben ergeben, daß sie ein Stamm des nördlichen
Vorderindiens sind, der Heimath und Zusammenhang mit seinen indischen
Stammverwandten erst zu eiuer Zeit verloren hat. wo die Umbildung des
Sanskrit in die jüngern Völkersprachen bereits erfolgt war. und ferner, daß
sie auf ihrer Wanderung nach Europa mit Völkern des vorder« Asiens, Ara¬
bern, Persern, Griechen in dauerndem Verkehr gelebt habe» müssen, weil die
Sprachen derselben sichtlich ans die ihre eingewirkt haben. Dies wird durch
historische Nachrichten bestätigt. Sie sind möglicherweise um 430, wahr¬
scheinlich um »40 in Persien. Sie zeigen sich um 1100 als „Jsmaeliten"
und „Kaltschmiede" in Oberdeutschland, sie sind im vierzehnten Jahrhundert
aus Cypern, im Jahr 1370 in der Walachei (als Unfreie) angesiedelt. Der
Name Zigeuner ist aus ihrer Sprache verderbt, sie nennen sich noch heute
sinke, Jndnsbewohner; anch ihre Angabe (im Jahr 1417 und den folgenden,
wo sie in größern Banden durch Deutschland ziehen), daß sie aus Kleinägypten
kamen, mag richtig sein, da Klcinägypten damals nicht das Nilthal, sondern die
asiatischen Grenzländer bezeichnet zu haben scheint.
Im 15. Jahrhundert beginnen ausführlichere Aufzeichnungen über Trei¬
ben und Sprache der deutschen Gauner. Es ist mit Dank hinzunehmen, daß
der Verfasser die beiden ältesten Quellen, das dahier Nathsmandat gegen die
Gilm und Lamm (wahrscheinlich Anfang des 15. Jahrhunderts) und die
erste erhaltene Ausgabe des Liber Vagatorum, eine berühmte Bibliothekseltcn-
heit. wortgetreu abdrückt. In diesen Berichten erscheint die Thätigkeit der
deutschen Ganner so raffinirt. ausgebildet und vielseitig, und ihre Sprache
bereits so sicher und den Laien so interessant, daß man wol berechtigt ist,
auf eine lange und thatenreiche Vergangenheit jeder Art von Schurkerei zu
schließen. Schon vor Luthers Ausgabe war der Liber Vagatorum eine be¬
liebte, oft aufgelegte Lectüre, die Literatur des merkwürdigen Werkes ist vom
Verfasser fast vollständig zusammengestellt.*)
Wenn Kaiser Maximilians Landfrieden und das Reichskammergericht im
16. Jahrhundert den Räubereien adliger Wegelagerer und ihres Gesindels
allmälig em Ende machten, so erhielt das Gaunerthum in den fahrenden
Fußsöldnern einen neuen Zuwachs und noch lange vermochte der neue Polizei¬
sinn der deutschen Tcrritorialherren wenig gegen das gewaltthätige Treiben
auf der Heerstraße. Die Unsicherheit der Personen und des Eigenthums
blieben noch durch zwei Jahrhunderte bedenklich groß. Auch ein zeitweiliger
Wechsel in der Hauptthätigkeit der Frevelnden ist bereits zu erkennen, wie bei
den herrschenden Krankheiten. Am merkwürdigsten ist die Mordbrennerzcit von
1540—42. Im mittleren Deutschlands besonders in dem Gebiet der prote¬
stantischen Häupter, des Kurfürsten von Sachsen und des Landgrafen von Hessen
erschien plötzlich fremdes Gesindel. Kassel, Nordheim, Göttingen, Goslar,
Vraunschweig (damals im Streit unt dem Herzog). Magdeburg wurden an¬
gesengt. Nordhausen zum Theil, Einbeck bis auf den Grund verbrannt, dabei
350 Menschen. Dörfer und Scheunen wurden überall angezündet, freche Brand¬
briefe und Drohung regten die Bevölkerung auf. endlich auch die Fürsten. All¬
gemein wurde das Geschrei, die katholische Partei habe mehr als 300 Mord¬
brenner gedungen. Papst Paul III. sollte den Rath gegeben, Herzog Heinrich
der Jüngere von Braunschweig sollte das Gesindel nach Sachsen und Hessen
gesandt haben. Allerdings war dem gewissenlosen Herzog vieles Arge zuzu¬
trauen, Papst Paul III. aber, hatte grade damals kaum ein näheres
Interesse, als die Protestanten schonend zu behandeln. Denn ernsthaft wurde
von beiden Seiten an einer großen Aussöhnung gearbeitet, und in Rom die
Sendung des Cardinal Contarini zum großen Neligionsgespräch in Regens-
burg vorbereitet. Es konnte sicher den Römern in diesem Jahr nichts Un¬
gelegneres kommen, als neues Mißtrauen und Zorngeschrei der Protestanten.
Doch Angst und Zorn war' anhaltend und groß. Ueberall spürte man nach
den Brennern, überall fand man ihre Spuren, viele Haufen Gesindel wurden
gefangen, peinlich verhört und gerichtet. Luther beschuldigte den Herzog
Heinrich öffentlich des ruchlosen Frevels, der Kurfürst und der Landgraf ver¬
tagten thu wegen Mordbrennens auf dem Reichstag vor dem Kaiser, und um¬
sonst vertheidigte er sich mit seinen Getreuen in seiner heftigen Weise. Zwar
dem Kaiser, der damals vor allem innern Frieden und Hilfe gegen die Tür¬
ken suchte, galt die Schuld für unerwiesen, aber in der öffentlichen Meinung blieb
dem Fürsten der Makel. Uns sind außer Luthers bekannter Invective auch zahl¬
reiche Zeitungen, Pamphlete, Anklage- und Vertheidigungsschriften erhalten, und
es ist möglich, aus ihnen belehrende Schlüsse auf das Wogen und Wandern der
damaligen Fahrenden zu machen.*) Die Aussagen der Verhafteten sind in ihnen
') Einige dieser Flugschriften seien hier verzeichnet:
Der Mordbrenner Zeichen und iLosungc, etwa bei dreihundert und vierzig, auö-
Seschickt, 1540. 4». 8 Bl, Enthält Zinken in Holzschnitt und Signalements,
newe zeittnng von Rom. Woher das Mordbrenner kome, 1S41, 4», 8 Bl. — Mit
°nur Pasquillus in Versen.
Supplication: an Kaiserliche Maiestat, der Mordbrenner halben, aufs dem Reichstag,
in Negensvurg, kaiserlicher Maiestat vberantwort ze. Wittenberg, 1541. 4°. 54 Bl, — Die
Anklageschrift des Kurfürsten und Landgrafen, enthält noch zwei andere Anklageschriften gegen°°n Vraunschweiger.
Hertzog Heinrichs von Braunschweig Antwort, der Keiserlichen Maiestat, auff»>e vergebene Supplication, der Mordbrenner halben, gegeben. 1541, 4°. 14 Bl.
Warhafstige entschüldigung vnd Verantwortung, der Erbarn vnd Besten Chri-
unvollständig und ungenau mitgetheilt, und es ist nicht zu entscheiden, wie viel
die Folter in die Bekenntnisse hineingedichtet. Aber Einiges ist sehr deutlich, die
erschreckende Menge des fahrenden Gesindels. ferner daß sie zum Theil mit ihren
Genossen in festem Zusammenhange stehn, daß sie keine stetigen Banden bilden,
sondern für die einzelnen Unternehmungen geworben werden, und zwar, wie sie
mehrfach aussagen, von nicht >zu ermittelnder Unbekannten um Geld, endlich daß
ihr geheimer Verkehr durch Zeichen vermittelt wird, welche sie an auf¬
fallenden Orten, Wirthshäusern, Wänden, Thüren u. s. w. einkratzen oder
einschneiden. Diese Zeichen sind zum Theil dieselben uralten deutschen Personen¬
bezeichnungen, welche Michelsen in seinen sehr dankenswerthen Untersuchungen
„Hausmarken" genannt hat, zum Theil aber auch besondere Spitzbubenzinken.
Vor allem das charakteristische Zeichen der Fahrenden: der Pfeil, einst das ankün¬
digende Symbol der Feindschaft; die Richtung seiner Spitze zeigt den Weg,
den der Zeichner genommen, kleine Striche senkrecht auf ihm, oft mit Nullen
darüber geben wahrscheinlich die Personenzahl an. Noch heute sind dieselben
Zeichen zuweilen an Bäumen und Mauern der Landstraße zu sehen, und sie
bezeichnen noch setzt wie damals dem Mitglied einer Bande, daß der Einge¬
weihte mit seiner Kawrusse den Weg gegangen sei.
Der große „deutsche" Krieg im 17. Jahrhundert war die goldne Zeit
aller Vagabunden. Diebe. Einbrecher, Wegelagerer. Die schnelle, fürchterliche
Demoralisation der Heere ist zum großen Theil dem Einstromen der Gauner
in die Heerhaufen zuzuschreiben. Wir besitzen vortreffliche Gaunererzählungen
aus jener wilden Zeit von Grimmclshausen: „den lustigen Springinsfeld" und
„die Landstörtzerin Courage", zwei Biographien, deren Helden zwar mit freier
Laune von dem weltkundigen Verfasser des Simplicissimus ausgeschmückt,
deren Einzelheiten aber sämmtlich charakteristisch für jene Zeit und von einer
furchtbaren realistischen Wahrheit sind. Besser, als in Philander und den
spätern Schelmenromanen, erkennt man aus ihnen, wie innig das Soldaten-
leben und das Treiben der Gauner zusammenhing. — Es sind die Nach'
kommen jener alten Landstörzer, welche bis in den Anfang dieses Jahrhun¬
derts die deutschen Landschaften unsicher machten.
Seitdem haben Eisenbahnen, der künstlichere Geldverkehr und die An¬
strengungen der Sicherheitspolizei auch dem Gaunerthum eine andere Physiog¬
nomie gegeben; die größten Gauner sind nicht mehr, welche in der alten
Spitzbubensprache zueinander reden.
Möge das Werk Lallcmcmts die Theilnahme finden, welche der fleißige
Stoffeln von Oberge und Christofftln von Wrisberg, — der Mordbrenner halben. 1542. 4°
Zwei Parteigänger des Vrnunschwcigers, welche als Mitschuldige bezeichnet waren.
Andere Notizen über die Mordbrenner von 1540 in Bechstein, Museum I. und II.
Die Unreife hinauf nach Theben und den nubischen Höhlentcmpeln und
wieder stromab war vollendet, und unsre Dcchabie ankerte wieder im Angesicht
der Minarets von Kairo. Wir hatten uns in den letzten Wochen der Fahrt
ungeduldig nach den Genüssen der Civilisation zurückgesehnt. Das Heimweh
war von Tage zu Tage brennender, die Langeweile, welche das beinahe
wechsellose Einerlei der Niloase hervorruft, mit jedem Morgen unerträglicher
geworden. Widrige Winde, Sandbänke, die uns festhielten, unfreundliches
Wetter hatten ein Uebriges gethan, um die Stimmung der Gesellschaft auf
der Barke niederzudrücken und sie dem Tage, wo sie den Strom verlassen und
die enge Kajüte mit einem guten Gasthaus vertauschen sollte, als einem Tage
der Befreiung entgegenblicken zu lassen. Jetzt, wo es uns nur eine Nachen¬
fahrt quer über den Fluß kostete, um zu jenen Genüssen zu gelangen, war
die Sehnsucht nach ihnen erloschen. Wir fanden plötzlich, daß wir warten
könnten, daß der wunderliche kleine Hausstand, der sich in unserer Kajüte
herausgebildet, seine Reize habt, und daß es unverständig sein würde, den
Becher der Freuden, den wir uns eingeschenkt, als wir uns zu der Tour ver¬
einigt, nicht bis auf die Neige zu leeren. Unser Contract mit dem Besitzer
der Dcchabie lautete aus sechzig Tage. Achtundfünszig waren verflossen.
Keiner von uus hätte eine Woche vorher geglaubt, daß wir nach der Ankunft
vor Kairo auch nur eine Minute zweifelhaft sein könnten, ob es in der Stadt
angenehmer als auf dem Schiffe sei. Jetzt gestanden wir uns gegenseitig,
daß wir ungern von der guten alten Barke und ebenso ungern von dem
halbwilden Leben unsrer Streifzüge am Ufer schieden, und das Ergebniß der
hieraus sich entspinnenden Berathung war. daß dem Rheder nur der letzte
Tag unsres Vertrags geschenkt, der vorletzte aber zu einem Ausflug nach den
Pyramiden von Giseh verwendet werden sollte.
» Für meine beiden Gefährten war dies ein passender Schluß der Nilfahrt.
Ich hatte die Pyramiden bereits früher besucht und bestiegen. Indeß lassen
sie sich recht wohl zweimal sehen, und da ein romantisch gestimmtes Gemüth
unter uns den Vorschlag machte, des Nachts dahin aufzubrechen, um sie zuerst
im Mondschein zu haben und dann auf der Spitze der Chevpspymmide den
Aufgang der Sonne zu genießen, so war ich um so lieber von der Partie.
Gesagt, gethan. Unser Schiffsvolk machte zwar saure Gesichter, als ihnen
die Chowadschi die Aussicht eröffnen ließen, noch vierundzwanzig Stunden
vor den Schenken von Bulak und Masr Atika und vor der Thür ihrer Frauen
oder Schätzchen liegen zu müssen, ohne hinein zu dürfen. Indeß fanden sie
sich bald in dieses trübe Geschick, da sie wußten, daß es ihnen bei den Clw-
wadschi nichts geholfen hätte, wenn sie sich nicht hineingefunden hätten.
Allah ist groß und der Chowadschi freigebig — mit Bakschisch, wenn er Ge¬
horsam, mit dem Kurbadsch, wenn er Ungehorsam findet. Mit dem Oel
dieser einfachen Philosophie ebneten sie die anfangs ziemlich hochgehenden
Wogen ihres Zornes und halfen uns und dem Dragoman bis nöthigen Vor¬
kehrungen zu möglichst bequemer Ausführung unsres Planes treffen. Zwei
von ihnen ruderten hinüber nach Altkairo, um Reit- und Packesel zu holen.
Andere trugen uns, nachdem diese gekommen, durch die seichte Flut, in der
das Schiff vor Giseh lag, aufs Trockne. Wieder andere schafften Betten,
Decken, Gewehre und Eßwaaren ans Ufer. Zum Mitgehen wollte sich an¬
fänglich keiner entschließen, ich vermuthe, weil sie die Pyramiden für Geister¬
wohnungen hielten und die Gespenster fürchteten, welche der Aberglaube der
Araber dort die Schätze Salomos hüten läßt. Endlich ließen sich zwei von
ihnen durch den Dragoman, dem das Unternehmen selbst nicht geheuer schien,
überreden, der Gefahr, von einem Dschin zerrissen zu werden. Trotz zu bieten,
holten aus dem Schiffsbauch die Prügel, mit denen bewaffnet die Matrosen
der Nilbarken an den Orten, wo angelegt wird, Nachtwache halten, und stellten
sich uns zur Verfügung. „Bismillah!" — in Gottes Namen — rief ihnen
der alte Steuermann nach, schüttelte den Kopf und breitete seinen Ueberwurf
zum Nachtgebet aus, in das er die thörichten Chowadschi schwerlich ein¬
geschlossen haben wird.
Es war nach neun Uhr Abends. Die Pyramiden liegen zwei starke
Stunden westlich von Giseh und zwar hart am Saume der Wüste. Der Weg
dahin ist für den, der dort gewesen ist und einiges Ortsgedüchtniß hat, leicht
wieder zu finden. Zudem war der Himmel wolkenlos, und es gab Mond¬
schein nicht blos im Kalender. Gefahren konnte die Unternehmung keine mit
sich bringen. Dragoman Hassan sprach zwar, da Geister bei uns nicht ver¬
fingen, von räuberischen Bidauis. und in der That wäre zehn Jahre vorher
Leuten, die es vorziehen, ihren Kopf zwischen den Schultern statt zwischen
den Beinen zu haben, eine nächtliche Tour nach den Pyramiden kaum zu
rathen gewesen. Jetzt war nichts zu befürchten. Der aufgeklärte Despotis¬
mus der Vicekönige. von den Consuln gelegentlich durch einen gelinden Rippen¬
stoß zu größerer Energie ermuntert, hält in Aegypten aus gute Polizei, die
Beduinen sind bei jeder Überschreitung ihres Wüstengebiets mit blutigen
Köpfen heimgeschickt worden, die Fellahin endlich, welche in den Dörfern
unter den Pyramiden wohnen, sind sicherlich keine Muster der Bescheidenheit
und Ehrlichkeit, aber friedfertiger Natur. Sie sind es schon deshalb, weil
Gewaltthaten an Europäern verübt, ihnen von Kairo her Bastonaden ohne
Ende zuziehen würden, sodann weil Ungebührlichkeiten von ihrer Seite die
Ausflüge hierher vermindern und so ihre Einnahme als Führer und als
Händler mit Mumienschmuck, alten Münzen und ähnlichem Leichcnraub schmä¬
lern müßten, endlich aber, weil sie den Unterschied zwischen ihren Waffen und
denen der Franken zu gut kennen, um erst durch Proben lernen zu müssen,
daß ein Revolver seinen Besitzer reichlich sechsmal so gut vertheidigt, als eine
jener gichtbrüchigen, vom Rost des Alters zerfressenen Bundukien, mit denen sie
of Feld rücken könnten.
Nach meiner Rechnung mußten wir kurz vor Beginn der Geisterstunde
«in Fuße der Erhöhung anlangen, auf der sich die Pyramiden erheben. Wir
hatten dann noch sechs Stunden bis zum Aufgang der Sonne, und da es
der Hunde und Flöhe wegen nicht gerathen war. in einem der Dörfer ein
Nachtlager zu suchen, so hatte ich den Vorschlag gethan, eines der Felsen-
gräber/weiche sich in langer Reihe vor den Pyramiden hinziehen, als Schlaf-
gemach zu benutzen. Dieselben eignen sich zu diesem Zwecke vortrefflich. Die
Mumien, welche früher hier schliefen, sind längst herausgeholt und bruchstück¬
weise verkauft worden. Der Wind hat in die Höhlen den feinsten Sand
geweht, den man sich zum Unterbett wünschen kann. Die Eingänge sind
Ühmal und mit einer Decke leicht gegen die Nachtluft zu verwahren. Außer¬
dem, welch ein prächtiger Gedanke für unsern romantisch gestimmten Gefährten.
Nacht in einem mit Hieroglyphen verzierten Bett, in der Gruft eines
Hofraths. Geheimen Finanzraths oder Oberappellationsrathes oder gar eines
erlauchten Prinzen vom Hofe des Königs Cheops zuzubringen! Denn man muß
Wissen, daß der Theil des großen Friedhofs von Memphis. der die unmittelbare
Umgebung der Pyramiden bildet, nur Mumien von Geblüt und Rang rü
sieh barg.'
So war denn alles, wie es schien, aufs beste bestellt, und als die Esel
beladen waren, brachen wir auf.
Ich ging. mit einer Büchsflinte, die in dem gezogenen Lauf eine Spitz-
kugcl. in dem glatten eine Ladung Rehposten hatte, und mit einem Stockdegen
bewaffnet, als' Führer voraus. Dann folgte mit seinem Prügel der eine
Matrose, der Esel mit den Betten und Eßwaaren und der eine- der Esels¬
buben. Das Gros der Karavane bildeten die beiden Gefährten, beide zu
Ael, der eine ebenfalls mit einer Büchsflinte, der andere mit zwei Revolvern
ausgerüstet, der zweite Esclsjunge. der zweite Matrose und Hassan Hasenfuß.
unser braver Dragoman.
Der Markt von Giseh war noch hell erleuchtet und voll Leben, tue Kaffee-
schenken noch dicht mit Gästen besetzt. Auch die griechischen Wein- und Aqucwit-
händler lockten noch mit ihren im Achte der Lampen strahlenden Flaschenreihen,
und sie lockten nicht vergebens. Ich war eben in eine der dunklen Gassen
eingebogen, welche aus dem Orte hinaus und nach dem ersten Dorfe auf dem
Wege nach den Pyramiden führen, als ein „Halt!" hinter mir erschallte.
Der Romantiker kam an mich herangeritten und bat mich zu warten. Er
habe gefunden, daß unser Weinvorrath — er bestand in vier Flaschen —
nicht ausreichen werde, und zudem halte er es für schicklich, den Moment des
Sonnenaufgangs wenigstens mit einem Glase Champagner zu begrüßen.
Hassnn sei bereits abgeschickt, das Fehlende zu besorgen. Ich möge mit
meinem Esel und meinen beiden Arabern langsam vorausziehen und die
Uebrigen bei der ersten Wegscheide erwarten. Einwendungen waren ver¬
gebens, unser Romantiker litt keinen Widerspruch, am wenigsten hier gegen
den Einfall, auf dein Gipfel der Pyramide in seinem Lieblingsgetränk der
Sonne von Memphis ein Trankopfer zu spenden. Umsonst stellte ich ihm
vor, daß die Nacht keines Menschen Freund sei. daß ich zwar den Weg zu
kennen glaube, aber in der Dunkelheit der Palmcnpflanzungen, die wir zu¬
nächst zu passiren hätten, schwerlich jeden Kreuzweg bemerken werde, daß
Hassan, auf dessen Kenntniß der Gegend er baue, ebenso einfältig als furcht¬
sam sei. Er bat, ihm seine schone Idee nicht zu stören, versprach den Wein¬
kauf möglichst zu beeilen, zu schießen, wenn sie sich verirrt — und damit
lenkte er um, in das Marktgewühl hinein, ohne auf meine Erwiederung zu
hören, in der ich ihm wenigstens mit geflügelten Worten die Hauptmerkzeichen
der Straße, so gut ich sie selbst noch im Gedächtniß hatte, angegeben haben würde.
Etwas verdrießlich trieb ich meine Araber zum Weitergehen an. Wir
kamen vor den Ort hinaus auf den breiten Dammweg, der, links von Tama¬
risken und Sykomoren beschattet, am Saume der Palmenpflanzungen hinter
Giseh hinführt. Der Mond schien mit weißem Licht durch die Wipfel. In
dex Ferne flackerte die rothe Flamme eiues Herdfeuers zwischen den Palmen¬
stämmen. ES war das erste Dorf. Da war der Baumstumpf, an dem mich
beim ersten Besuch der Pyramiden ein mit der Elephantiasis Behafteter um
eine Gabe gebeten. Dort die kleine sumpfige Wiese, auf der ich den ersten
Ibis erblickt. Am Dorfe wurden wir von einem Rudel wüthender Hunde
angefallen, die von ihren Eigenthümern nicht eher zurückgerufen wurden, als
bis der Prügel eines Matrosen den einen niedergeschlagen hatte. Eine Un¬
zahl von Schimpfworten und Verwünschungen aus kreischenden Wciberkehlen
folgte uns in die Finsterniß der Palmenschatten nach, in die uns der weitere
Weg führte. Ich wußte, daß ich die rechte Straße ging. Allein in der Ver¬
wirrung, welche der Angriff der Hunde verursacht und bei dem blendenden
Scheine des Feuers, welches aus der Dorfgasse herausstrahlte, hatte ich über¬
sehen, daß sowol rechts als links andere Wege abzweigten, und das Unglück
wollte, daß meine Freunde, als sie eine halbe Stunde später hier eintrafen,
grade einen dieser Seitenpfade wählten.
Nichts ahnend von der Möglichkeit dieses Mißgriffs, der. wie man sehen
wird, eine gute Anzahl von Verlegenheiten im Gefolge hatte, ging ich mit
meinen Arabern weiter, überschritt den großen Kanal, bei welchem der erste
Palmenwald ein Ende nimmt und gelangte nicht weit von hier an eine Weg¬
scheide. Ringsum beschien der Mond Saatfelder. In einiger Entfernung
dunkelte der Palmenwald des zweiten Dorfes. Hier wollte ich warten. Ich
feste mich aus einen Erdhügel, hielt die Hand ans Ohr und horchte nach der
Gegend hin, aus der die Gefährten kommen mußten. Alles war still. Plötzlich
schlug fernes Hundegebell an mein Ohr. Es waren mehre Bestien, vielleicht die¬
selben, die uns angegriffen. Ein andrer Ton folgte — das Yahaho eines Esels.
Eine Viertelstunde nachher Getrappel schneller Hufe — es kam näher, und ich war
getäuscht. Es waren Fellahin. die vom Markte heimkehrten. Wieder verfloß
eine Viertelstunde in banger Erwartung. Die Nacht sing an kalt zu werden.
Nebel stiegen aus dem Boden. Thau siel auf das Gras am Wege. Meine
^aber hatten die Kaputzen ihrer Mäntel ni'er den Kops gezogen und hockten
schweigend neben mir. Der Esel, jedenfalls den Tag über tüchtig benutzt,
hing traurig den Kops, schnoperte ein wenig an dem Grase herum und
legte sich dann mit sammt dem Gepäck seiner ganzen Länge nach ans die Seite.
Ich rief ein Halloh in der Richtung, von wo die Freunde kommen mußten.
Keine Antwort. Ich veranlaßte meine schlaftrunkenen Begleiter, sich mit mir.
M einem zweiten zu vereinigen. Keine Antwort als ein schwaches Echo
Ich schoß den einen Lauf des Gewehres ab und horchte, ob das Zeichen er-
widert werde. Hundegebell erschallte von drei, vier verschiedenen Seiten, und
ein Schwarm Tauben brauste, aus den Wipfeln der Palmen aufgescheucht,
über uns hin, aber ein Schuß war nicht zu vernehmen. M'ßmuthig befahl
ich den Arabern, mit denen ich mich nur durch abgebrochene Worte und Ge¬
berden verständigen konnte, weirer zu gehen. Murrend gehorchten sie. und
'es folgte, nachdem ich den abgeschossenen Laus vorsichtig wieder geladen.
Eine Viertelstunde weiter ein zweiter Kreuzweg und dasselbe Verfahren wie
beim ersten. Wieder hüllten sich die Araber in ihre Kaputzen. Wieder legte
sich der todmüde Esel mit sammt seiner Last. Wieder Halloh ohne Antwort,
wieder ein Signalschuß, der von den Geführten ungehört blieb, wieder Hunde-
gebell von allen Richtungen her und das Ausflattern eines" in seiner Nacht-
Whe gestörten Taubenvolkes.
Ob sie sich verirrt hatten, die Freunde? Ob sie in einem der Sümpfe
stecken geblieben waren, welche die Ueberschwemmung des Nil hier zurück-
läßt? Oder hatten sie ein anderes Unglück gehabt? Oder waren sie, überzeugt
von der Unmöglichkeit, Hassan als Führer zu brauchen, nach dem Schiff
umgekehrt?
So kamen wir über das zweite Dorf und den letzten Palmenwald
hinaus. Die Pyramiden erschienen wie dunkelgraue Niesenzelte am matt¬
blauen Horizont vor uns. Rechts und links streckten sich einsam im falben
Mondlicht weite dämmernde, weißen Dunst aushauchende.Gefilde. Ich dachte
daran, daß die Araber die Pyramide des Cheops den Thron des Pharao
nennen, und ich sah den alten König, das Antlitz mir zugekehrt, in Gigan-
tcngestalt droben sitzen, und mir mit dem ägyptischen großen Auge drohen.
Ich dachte auch an den Geistcrkönig Salomo und seine Dschinnen. Ich er¬
innerte mich an die Heiligkeit der Todten bei den Aegyptern. und an Ge¬
schichten aus der Kindheit, in denen es als Vermessenheit bestraft wurde, des
Nachts sich Gräbern zu nahen. Dann drängten sich wieder prosaischere Be¬
fürchtungen in Betreff der Freunde auf. Ich feuerte wiederholt mein Gewehr
ab, ließ ein Halloh nach dem andern erschallen. Alles Vergehens. An dem
letzten großen Kanal angelangt, der bei unserm ersten Besuch mit Wasser
gefüllt gewesen, jetzt aber ausgetrocknet war, beschloß ich, die Flinte noch
einmal rufen zu lassen. Ich schoß, — schoß dann in der Hast unvorsichtig auch
den zweiten Lauf ab, den ich bisher gespart, lud wieder, und siehe da, das
lange nicht gereinigte Rohr gab den Ladestock nicht wieder heraus. Umsonst
zog ich mit aller Macht daran, umsonst zogen und zerrten die Araber. Der
Ladestock rückte keinen Zoll von der Stelle, und ich war wehrlos. Allein
mit zwei Burschen, mit denen ich mich nur halb verständigen konnte, und die
mir in der letzten Stunde nur mit Widerwillen gefolgt waren, eine unnütze
Flinte auf der Schulter und einen Degen in der Hand, der höchstens gut
war, die Hunde abzuwehren, dachte ich jetzt auch an Räuber. Wie gescheidt
kam mir Hassans Einfalt vor, und wie einfältig die Klugheit, die seine
Warnungen in den Wind geschlagen! Wie ingrimmig verwünschte ich die
durstige Kehle des Romantikers, und wie unbehaglich erschien mir alle
Romantik überhaupt!
Einen Augenblick meinte ich umkehren zu müssen. Aber im nächsten
begriff ich, daß dies nicht blos seig. sondern auch thöricht sein würde. Feig
unter anderen, weil ich dann möglicherweise die Freunde im Stich ließ,
thöricht, weil der Weg von hier nach der Barke zurück dreimal so lang, als
der nach dem Grabe unter den Pyramiden war, in dem wir schlafen wollten.
So schritten wir denn weiter. Bisher hatte mir die Aufregung und die Auf¬
merksamkeit, mit der ich nach einem Zeichen von den Gefährten horchte,
meine Ermüdung nicht fühlen lassen. Jetzt, wo ich alle Hoffnung ausge¬
geben, begann ich sie doppelt zu empfinden, und zu der Abspannung der
Nerven gesellte sich nun auch ein heftiger Durst. Ich fragte, ob man Wasser
mitgenommen. Die Gullis (langhalsige, irdene Wassergefäße) wären bei den
andern Flaschen, antwortete verdrossen der Eselsbube. Bei den andern
Flaschen! und das so gelassen — ich Hütte vier Hände haben mögen, um
ihn genugsam zu prügeln, den Schlingel — nicht für seiue Vergeßlichkeit,
ändern für diese impertinente Gelassenheit. Bei näherem Nachdenken fand
ich indeß, daß es edler und nebenbei weit praktischer sei, seine Ruhe mir
selbst anzueignen, und der Versuch gelang recht leidlich.
In dieser Stimmung kamen wir über die allmälig sandig werdenden
Felder nach El Kom El Aswcd, dem letzten Dorfe, welches noch etwa fünfhundert
Schritt von dem Rande des Plateaus liegt, auf dem die Pyramiden sich erheben.
Es mochte um die Mitte der Geisterstunde sein. Die Hunde schwiegen hier, als
uiir vorüberzogen. Wir konnten glauben, ganz allein zu sein. Da schlich
etwas hinter einer Lehmwand hervor. Es war eine weiße Gestalt. Sie
kam ans uns zu, und unser Eselein trat scheu einen Schritt zurück.
Wars einer aus den Grüften? Dann half der Stockdegen, den ich un¬
willkürlich locker gemacht, nicht viel. Es war indeß nicht so übel gemeint.
Der Geist hatte noch sein Leibliches, grüßte artig mit „Salam Alejkam!" und
sprach, als er des Chowadschi ansichtig wurde, sogar ein erträglich gutes
Englisch. Es war einer der Bewohner des Dorfes, die sich als Anwohner
der Wüste schon in die weißen Gewänder kleiden, welche die Beduinen tra¬
gen. Weshalb er so spät noch wach war, blieb unerklärt. Vielleicht wars
der Nachtwächter, vielleicht auch war er früh aufgestanden, um den Nachbarn,
die sämmtlich aus dem Führerhandwerk ein Geschäft machen, den Rang ab¬
zulaufen. Letzteres schien das Richtigere, da er sich mir sofort zum Führer
antrug, im Mondschein ohne Verzug einen Handel mit Münzen und Mumien¬
schmuck, den er aus dem Busen zog, zu beginnen sich anschickte und, ganz in
der Weise seiner Genossen, die mich bei dem ersten Ritt hierher bis zum
Tollwerden gepeinigt, nicht eher loszuwerden war, als bis ich das letzte
"Bukra"") mir einem Griff nach der Flinte begleitete. Vor diesem Mittel
entwich der Geist eiligen Fußes. Es war indeß angenehm, daß er uns auf
en Fersen blieb. Ich hatte im Aerger über seine Zudringlichkeit vergessen,
daß er uns in der That schon heute einen Dienst leisten konnte. Wir brauch¬
en Wasser, und als er sich, rasch wieder dreist geworden, uns von neuem
^ Diensten stellte, wurde ihm der Auftrag, einige Gullis herbeizuschaffen.
^ ging und brachte in Kurzem das Verlangte, und mit dieser Erfrischung
auch meine gute Stimmung wieder. Der Geist verlangte ein Trink¬
geld, wurde aber auf den Morgen verwiesen, da der Chowadschi selbst kein
elo bei sich haben wollte, womit jener sich zurückzog und wir aller
nächtlichen Besuche von ihm und andern vielleicht weniger sriedsamen Geistern
^ Dorfes von vornherein entledigt waren. Wir stiegen den sandigen Ab-
sang nach den Pyramiden hinauf und gewahrten bereits die schwarzen Höhlen¬
öffnungen in der Gräberwand, als der Esel erschöpft zusammenbrach. Meine
Araber schienen das als ein „bis hierher und nicht weiter" zu betrachten.
Emsig lösten sie dem Thiere die Stricke, welche die Last auf seinem Rücken
hielten, bauten mir ein Bett in den Sand und legten sich, unbekümmert um
meine Geberden, mit denen ich ihnen die Gräber wies und den Esel
wieder zu beladen befahl, neben das Granaden in den Wüstensand hin.
Mit Gewalt war hier nichts auszurichten, und so versuchte ichs im Wege
der Güte, gab jedem ein Brot und eine Orange, ließ sie eine Viertelstunde
essen und ausruhen und wiederholte dann meinen Befehl. Etwas willfähriger
gestimmt, gehorchten sie jetzt, weckten den Esel, der mit einem ungeheuren
lautschallenden Gähnen auffuhr, beluden ihn und folgten mir die noch übrigen
zweihundert Schritte nach den Grüften. In der ersten hatten, wie wir beim
Schimmer der Sterne sahen (der Mond war inzwischen in die Wüste hinter
den Pyramiden versunken) Reisende gekocht und der Boden war voll Kohlen.
Aber schon die zweite war ganz für meinen Zweck geeignet. Es war eine
schöne Doppclhöhle, hoch genug, um darin aufrecht zu stehen, und mit dem
feinsten, reinlichsten Sande bestreut. Rasch war die eine Kammer in ein
Schlafgemach für mich verwandelt, in der andern nahmen der Esel und meine
arabischen Begleiter Platz. Meister Burrito*), dem es klar geworden, daß
hier für heute seine Noth ein Ende nehmen sollte, stieß ein dankerfülltes
Uahaho-o-oh aus, welches von nachbarlich angesiedelten Eulen und Schakalen
mit schauerlichem Geheul und Gekreisch beantwortet wurde, und siel auf die
Seite. Die Araber baten noch um einen Trunk Wasser und schnarchten sich
dann gegenseitig in Schlaf.
Ich war ermüdet, aber nicht schläfrig, und so hörte ich noch geraume
Zeit das Concert der Käuze und Fledermäuse, welche bei den benachbarten
Grabgrotten aus und einschwirrten, und in deren Piepen und Kreischen sich
bisweilen ein Schakal mit seinem heisern Geheul mischte. Einmal kam das
Geheul näher, ich vernahm, wie etwas vor der Gruft trockne hohle Gegen¬
stände klappernd durcheinanderwarf, und als ich die Decke, die als Vorhang
diente, wegschob und hinaustrat, huschte von einer etwa drei Schritt ent¬
fernten Erhöhung des Bodens, wie es schien, einem Holzhaufen, ein Etwas
wie der Schatten eines kleinen Hundes weg. Die Nacht war bitter kalt ge-
worden, und ich dachte an die Möglichkeit, daß die Gefährten sich in der
Nähe befinden und sehnlich nach den Decken verlangen könnten. Eine Weile
horchte ich auf ein Signal. Dann beschloß ich, einen der Schutthügel über
unserm Lager zu besteigen, und durch Halloh meine Ankunft anzuzeigen.
ließ es indeß, da nach dem Untergang des Mondes Wolken den Himmel
überzogen hatten, und ich mich zu rechter Zeit erinnerte, daß ich in der Fin¬
sterniß in einen der tiefen Mumienbrunnen stürzen konnte, deren wir früher
in dieser Gegend mehre angetroffen.
Wieder legte ich mich hin zu einer Art Halbschlummer mit Phantasien,
die halb Träume, halb Gedanken waren. Wie ein langsam gedrehtes Rad
mit Figuren glitt eine Reihe von Bildern mir durch den Sinn. Sie tauch¬
ten auf aus der Tiefe, senkten sich zum Verschwinden und kehrten bald deut¬
licher, bald nebelhafter wieder. Der Traum wies mir die Gefährten unter
dem Yataghan Abdurachmans. des Räubers, vor dem Hassan in Oberägyp¬
ten gewarnt. Vergebens krachten die sechs Läufe des Revolvers. Hohnlachend
warf der schwarze Beduine, durch einen Talisman geschützt, die sechs Kugeln
W die Höhe.
Der Traum führte mich auf die Barke zurück und dann stromaufwärts
ZU der Sandbank, wo wir die ersten Drachen des Nil erblickt, vor den gelben
Tempel von Luksor, vor die grauen Pylonen von Karnak und auf das Insel-
Paradies von Philä. Ueberall suchte ich die Freunde umsonst.
Ich war in Theben, sah die mit Grabgrotten zu Tausenden durchbroch-
nen Felswände des Wcstufers. durch deren Thüren das Volk der Pharaonen
SU Osiris hinübergewandert, sah den Gott der Unterwelt selbst, ernst, steif,
ein Steinbild, wie ich ihn auf den Wänden der Königsgrüfte des Biban El
Moluk wirklich gesehen. Da waren die 48 Todtenrichter und dort die Seelen-
wcige. auf welche eben ein sverberköpsiger Gott ein Herz legte. Niemand
naht dem Herrscher der Todten, er sei denn todt. Mir war, als ob es mein
Herz sei, und siehe da, es war das meine. Hassan sagte es, der als getreuer
Führer dem Chowadschi in das Reich der Abgeschiedenen gefolgt war. und
die Achtundvierzig nickten Bestätigung.
Und ich war wieder am Lichte des Tages und stand vor dem klingenden
Memnon und fragte nach den Gefährten. Er schwieg, aber von ferne stöhnte
eine Sakiah das Klagelied. das wir während der Stromsahrt allabendlich
gehört, und ich wußte, daß sie mir geantwortet.
Der Traum entrückte mich aus der Wehmuth, in die ich versunken, und
ließ mich wieder auf die Pyramiden zuwandern. Ich feuerte mein Gewehr
ab, die Freunde herbeizurufen. Deutlich sah ich den Pulverblitz vor der
Mündung des Rohres, aber ein Knall war nicht zu hören. Ich schoß wieder,
und wieder ein Blitz ohne Knall. Noch einmal, und jetzt löste sich die Stimme
der Büchse, und wie Kanonendonner krachte der Schuß über die Ebne hin.
Es war. um die Todten zu wecken, und ich hatte die Todten geweckt. Der
Sphinx erhob sich auf seine vier Füße und stieß aus seiner steinernen Riesen¬
lunge ein rauhes Gebrüll aus. Die drei Pyramiden klafften auseinander
und zeigten in ihren Grabkammern goldstrahlende Särge, in denen sich Gekrönte
aufrichteten. Ich blickte hinab nach den Pyramiden von Sakkarah und Da-
schur, und auch sie glühten von Auferstehungsfeuer. Ich sah wieder nach
der Cheopspyrcnnide. Der alte König hatte sich seiner Mumienhülle ent¬
wunden und saß auf seinem Sargdeckel. Vor ihm aber stand — wahnwitzige
Komik des Traumgeistes, der uns Austern singen und Krokodille Walzer tan¬
zen lassen kann — unser Romantiker und schenkte ihm in ein hohes Kelchglas
von dem in Giseh gekauften Champagner ein. Deutlich hörte ich den Pfropf
knallen.
Da wehte ein Windstoß, der den Vorhang der Höhle lüftete, das Wunder-
gespinnst hinweg. Ich rieb mir die Neste des Traumes von den Augen, und
trat hinaus, um mich vollends zu ermuntern. Es war der lebhafteste Traum
gewesen, den ich je geträumt. Vielleicht träumt man nur so in Gräbern,
in Mumiengrüsten, vielleicht hatte der alte Aegypter. der vor mir hier ge¬
ruht, in seinem Sarkophag ähnliche Wunder geträumt. Ich war in Schweiß geba¬
det, und das fast hörbar klopfende Herz bewies, daß es erst seit wenigen
Minuten wieder an der rechten Stelle saß. Draußen wars noch immer kalt,
und noch immer führten die Eulen und Schakale ihre gespenstische Sym¬
phonie auf.
Ich ging wieder auf mein Lager und suchte mir die Bilder des Traumes
zu fixiren. Es fiel mir ein, daß er weniger, als ich anfänglich geglaubt, ein
bloßes Gewebe der Einbildungskraft und der Erinnerung gewesen sein könne.
Ein Rest von Aberglauben, der sich vielleicht in vielen bei ähnlicher Lage geregt haben
würde, ließ mich aus dem Bilde des Romantikers vor dem Sarge des Königs
Cheops schließen, daß die Freunde in der Nähe seien. Der Donnerschuß,
den ich nach zweimaligem stillem Feuer gethan, selbst das Gebrüll des Mannlöwen
und das Knallen des Chamvagnerpsropfens konnte Wirklichkeit gewesen sein,
die Gefährten konnten ihren Weg hart an unserm Lager vorbeigenommen und
dabei wiederholt geschossen haben. So erhob ich mich nochmals, um durch
Rufen unsre Anwesenheit zu verkünden. Aber mein Halloh wurde vom Winde
verweht, niemand antwortete — es war ein bloßer Traum gewesen.
Jetzt forderte die Natur energisch ihre Rechte, und ich fiel in einen Schlaf,
den Phantasie und Erinnerung mitschliefcn, und aus dem ich erst erwachte,
als die Gelegenheit, die Sonne vom Gipfel der Pyramide ausgehen zu sehen,
vorüber war.
Noch war aber das Abenteuer, in das der Romantiker uns gestürzt, nicht
ganz vorüber. Als ich hinaustrat, fand ich, daß wir mitten unter Todten¬
gebeinen unser Lager ausgeschlagen hatten. Die Erhöhung, von der ich des
Nachts den Schatten des kleinen Hundes aufgescheucht, war ein Haufen von
Menschenknochen und Schädeln, der kleine Hund ein Schakal gewesen. Unter
meinem Kopfkissen und weiter hinten in der Höhlengruft lagen ebenfalls der¬
artige Memento Mori. Es war gut. daß der Mond nicht Heller geschienen,
mein Traum wurde düsterer gewesen sein. Beim Sonnenlicht nahm sich das
leichter, und zu Hamletsgedanken hatte ich nicht mehr die Stimmung und
noch viel weniger Zeit. Die Freunde mußten sich, wenn sie überhaupt da
waren. jetzt finden, und sie fanden sich. Ich durchstrich die Vertiefungen
zwischen den Sandwehen und Schutthaufen der Nachbarschaft, wobei ich bei
einem Haar in einen jener Mumienbrunnen gestürzt wäre, deren ich mich,
vielleicht zu meinem Glück, des Nachts erinnert. Er war mindestens vierzig
Schuh tief, und -als ich hinabsah, funkelten mir von dem Absatz in der Mitte die
unheimlichen gelben Augensterne des Concertmeisters der nächtlichen Musikanten,
ungeheuren Uhus entgegen. Ich kam in die Nähe des Sphinx, wo ein paar
andere Concertgeber der Nacht, zwei graue Schakale, aufgejagt wurden. Da
hörte ich deutlich einen Schuß von der großen Pyramide her. Rasch arbei¬
tete ich mich durch Schutt und Steinbrocken dorthin, und als ich den letzten
Hügel passirt. erblickte ich. was ich gesucht. Es waren 5le Freunde, munter
und wohlbehalten um ein lustig flackerndes Feuer gelagert und bereits um¬
geben von den Fcllahin, welche uns auf die Cheopspyramide führen sollten.
Ein freudiges Hurrah gab das andere. Dann kam das Warum und Um
Gotteswillen wie nur und das So und Darum. Die Gefährten hatten nichts
un't Abdurachman und vorläufig auch noch nichts mit König Cheops zu thun
gehabt. Auch Ehren-Hassan war nicht bei Osiris gewesen. Man hatte sich,
wie schon gemeldet, bei dem ersten Dorfe links, statt rechts gewendet und
war dann einige Stunden in der Irre herumgeritten, durch Sümpfe, durch
Klee- und Gerstenfelder, endlich grade auf die große Pyramide zu, an deren
Nordostecke man gegen zwei Uhr eingetroffen war. Mein Schießen hatte man
uicht gehört, noch weniger natürlich mein Rufen, und da Hassan nicht ge¬
wußt, wo die Felsengräber sich befinden, so hatte die ganze Gesellschaft ohne
Betten und Mäntel unter freiem Himmel campirt.
Bei einigen Tassen vom besten Mokka, zu dem Hassan der Weise ein
Glas sehr trinkbaren Cognacs kredenzte, wurde das Ungemach der Nacht bald
vergessen. Ich erzählte meinen Traum, um den der Romantiker mich natür¬
lich beneidete, und dann machten wir uns in der heitersten Laune bereit, die
Pyramide zu besteigen. Dieselbe war ursprünglich auf allen vier Seiten mit
polirten Steinplatten belegt, von denen man an der zweitgrößten oben noch
beträchtliche Spuren sieht. Jetzt sind diese Platten von der größten ganz ab¬
gefallen, und so Präsentiren sich ihre Kanten aus nicht zu großer Entfernung
betrachtet, gezähnt wie eine Säge, ihre Seiten wie nach oben zu schmaler
werdende Freitreppen. Die Spitze ist heruntergestürzt, oder wie böse Zungen
wissen wollen, von großbritannischen Kiselacks, die allenthalben ihren werthen
Namen einschneiden und überall ein Stück Alterthum als Andenken mitneh¬
men müssen, allmälig abgcschnitzelt worden. Die Procedur, durch die man
in der Regel auf das solchergestalt entstandene kleine Gipfclplatcau gelaugt,
ist ziemlich dem Verfahren ähnlich, durch welches der Reisende an den Seiten
des Aschenkegels des Vesuv emporbefördcrt wird. Zwei Fellahin fassen den
Chowadschi bei den Händen, steigen voran und ziehn, ein dritter schiebt von
hinten, und so geht die Klettertour über die durchschnittlich drei Fuß hohen
Stufenblöcke, mit ziemlicher Schnelligkeit von Statten. Der Weg ist, da die
Stufen mehr als, fußbreit und das Material rauher Stein ist. welcher den
Sohlen einen festen Halt bietet, zwar für kurz gespaltene Menschenkinder be¬
schwerlich und ermüdend, aber nichts weniger als gefährlich. Sollen ihn
doch wiederholt englische Damen ohne Unfall zurückgelegt haben. Ueberaus
peinlich ist dagegen die dreiste, durch nichts zurückzuschreckende Bcttclhastigkcit
der Führer, die sämmtlich ein wenig französisch und englisch sprechen, und
deren behende Zudringlichkeit ich bereits früher übler als sie mir beschrieben
worden, gefunden hatte.
Wie früher bedürfte es vor dem Aufbruch nach oben eine reichliche halbe
Stunde, ehe wir ihre Ansprüche hinsichtlich des Führerlohnesauf das, was die Ge¬
wohnheit als Recht festgestellt hat, das heißt, auf einen Thaler für den Mann,
herabgehandelt hatten. Wie früher verlangten sie beim ersten Ausruhen auf
der Hülste des Weges erst schmeichelnd, dann ungestüm ein Extrabakschisch.
Wie früher wiederholte sich das bei der zweiten Raststelle und bei der dritten.
„Was geben Sie, wenn Araber laufen in fünf Minuten Pyramid auf, Py-
ramid ab?" fragte das eine Roß, das mich zog. „Was geben Sie, wenn
Araber Hurrah schrein für Chowadschi. wenn oben stehn?" erkundigte sich, den
Kopf auf die Seite gelegt und das eine Auge zukneifend, der andere Gaul.
„Mich nicht vergessen, o Chowadschi, ich armer Mann, o so arm, und du
reicher Lord!" stöhnte kläglich der dritte, dem das Amt des Schiebens zuge¬
fallen war. Oben wurde das alles wiederholt. Unbegehrt wurde das an¬
gebotene Hurrah auf uns ausgebracht, und nachdem es honorirt worden, noch
eins für jeden einzelnen von uns. Einer bot mir an, auch „das Geheimniß
meines Hauses" d. h. meine Frau mit einem Hurrah zu ehren, ein anderer
meinte, ich solle wenigstens meiner Mutter eins gönnen. Ein Knabe brachte
Wasser um Backschisch, ein zweiter stellte sich, den gleichen Zweck im Auge,
mit Hammer und Meißel ein. damit der Chowadschi seinen Namen in den
großen Kalender der Kiselacks eintragen könnte, in den die Thorheit der Rei¬
senden den Gipfel der Pyramide verwandelt hatte. Endlich kam noch ein
steinalter Derwisch keuchend heraufgeklettert, der für das Bakschisch, welches
er beanspruchte, nichts als sein ungewöhnlich verwittertes Aussehn und den
Einfall zu bieten hatte, sich auf dieser Höhe ein Almosen zu holen.
Für den Verdruß, den diese unersättliche Bettelei verursachte, entschädigte
die Aussicht von der Höhe, die man uns endlich, nachdem wir die immer-
wiedcrkehrcnden Quälgeister jeder ein halb Dutzend Mal zum Teufel gehn ge¬
heißen, zu genießen gestattete. Man überblickt im Osten zunächst eine grüne
Ebene, zwischen deren Feldern und Palmenhainen großen Ameisenhaufen gleich
graue Fellahdörfer liegen — das Siegcsseld der Schlacht, in welcher der Ge¬
neral Bonaparte am 21. Juli 1798 den glänzenden Triumph erfocht, der
das Heer der Mameluken vernichtete. Jenseit des Nil. den man nur in
der Zeit der Überschwemmung sieht, zieht sich fast geradlinig die gelbe Wand
des Mokattamgebirgs unter dem Blau des Horizonts hin. zeigt sich neben
dem röthlich schimmernden Dschebel Achmar die Citadellenmoschee mit ihren
Kuppeln und ihren nadeldünnen Minarets, leuchtet unten mit seinen dreihun¬
dert Moscheen das weiße Kairo. Flußaufwärts, auf diesseitigen Ufer begeg¬
nen dem Auge des Nundschauers die dunklen Palmenhaine der Stätte, wo
Memphis stand. Mehr nach Süden erheben'sich gleich den Dächern ver-
sunkener Thürme einer Niesenzeit die Pyramidengruppen von Sakkarah,
Abusir und Daschur. Unmittelbar zu unsern Füßen streckt sich die große
Trümmerstätte hin, zwischen deren Schutthügeln sich im Süden Kopf und
Rücken des Sphinx, im Südwesten die Pyramide des Chephren und hinter
dieser die des Mykerinos Herodots erheben, während sich ringsum aus der
nut Sand und Steinen bedeckten Felsenplatte die Grabmale der Hofbeamten
aneinanderreihen, welche nicht in den weiter nach Osten gelegenen Felsen-
gruften beigesetzt wurden. Es sind gestreckte, aus mächtigen Quadern zusammen¬
gefügte Gebäude mit plattem Dach und pyramidal geneigten Wanden, bald
Stößer, bald kleiner, alle selderweis geordnet. Westwärts endlich schweift der
^n'et über eine in Rostbraun und Gelb gekleidete, von allem Pflanzenwuchs
entblößte Einöde, den Anfang der lybischen Wüste.
Von fern gesehen, erscheinen die Pyramiden so ungeheuer, wie sie wirk¬
tet) sind. Näher kommend und nun gewahrend, daß man zuerst ihre natür-
lche Unterlage mit veranschlagt hat, die sich etwa hundert Fuß über die Nil-
ne erhebt, glaubt man sich getäuscht zu haben. Hart vor und noch mehr
"uf ihnen wird man staunend wieder inne, welche Riesenwerke sie sind. Die
genauen Maße mag der geneigte Leser im Conversationslexikon nachschlagen.
genüge hier, zu bemerken, daß wir, wie man uns gerathen, den Versuch
nrachten, von oben einen Stein nach dem Fuß der Pyramide zu werfen, und
aß derselbe, obwol wir nicht zu den Schwächsten zählten, bereits auf dem
in " ^ Stufen niederfiel; daß ferner der Thurm des Straßburger Münsters
^tels Innere der Pyramide gesetzt, mit seiner äußersten Spitze noch nicht
Zu dem Plateau gereicht haben würde, auf dem wir standen; daß die
S valtige Peterskirche Roms im Kern der Pyramide vollkommen Platz fände;
daß die Grundfläche des Wunderbaus fast ein Viertel des Raumes ein¬
nimmt, welchen die innere Stadt Leipzigs bedeckt, und daß die Pyramide
nicht hohl (die kleinen Grabkammern und der zu ihnen führende Gang
kommen kaum in Betracht), sondern von der Basis bis zum Gipfel mas¬
siv ist. Man könnte von den Steinen eine Mauer von dreißig Fuß Hohe
und sechs Fuß Dicke um ganz Berlin bauen, und es würde, wenn man
nur die äußern Lagen wegnähme, noch immer eine Pyramide übrig bleiben,
die mit ihrer Grundfläche vier bis fünf preußische Morgen bedeckte.
Das Hinabsteigen war leichter, als das Hinaufklimmen, und während
ich zur Erreichung des Gipfels elf Minuten bedurft, brauchte ich, um wieder
an den Fuß zu gelangen, nur etwas mehr als sechs, der eine der Gefährten
sogar nur fünf Minuten. Nachdem wir ein zweites Frühstück eingenommen,
bereiteten wir uns vor, das Innere der Pyramide zu besuchen. Die mitge¬
brachten Stearinkerzen wurden ausgepackt und an die Araber, welche voran¬
gehn sollten, vertheilt. Dann brachen wir nach dem in der Mitte der Nord¬
seite befindlichen Eingang auf. Es ist ein pyramidal geneigtes Portal, ge¬
deckt von einem gewaltigen Querblock, über dem sich andere fast ebenso große
giebelförmig gegeneinander stemmen, um die obere Last zu tragen — eine Art
zu bauen, die ich später am Thor der Burg von Mykenä und am sogenann¬
ten Schatzhaus der Atriden wiederfand. Die Lichter wurden angezündet, und
nun ging es in einen Stollen von etwa 4 Fuß Höhe und Fuß Breite
hinab, dessen Wände von Kerzen- und Fackelrauch geschwärzt sind und dessen
Fußboden stark geneigt und von den Tritten der Reisenden in sehr unbequemer
Weise abgeschliffen ist. Nachdem wir auf diesem Wege etwa dreißig Schritt
bergab gestiegen waren, begann sich der Schacht links aufwärts zu winden.
Wir kletterten, halb gezogen, halb geschoben von den Fellahin, über glatte
unregelmäßige Blöcke mit Händen und Füßen weiter, bis sich der schmale
niedrige Gang plötzlich zu einer großen, fast dreißig Fuß hohen und sechs Fuß
breiten Galerie erweiterte, die in derselben Richtung wie der Stollen unter
ihr nach oben führt, während rechts von da, wo sie beginnt, ein wagerecht
laufender Gang nach der sogenannten Kammer der Königin abzweigt. Es ist
ein mit Granitquadern ausgelegtes Gemach von doppelter Manneshöhe, gegen
20 Fuß lang und etwa 16 Fuß breit. Die Königin lag nach neuern Fo»
Scherr nicht darin, sondern es war der Raum, wo der letzte Act der könig¬
lichen Leichenfeier spielte. Die Luft war hier überaus dick und schwül, kaum
zum Athmen und überdies mit dem penetranten Duft von Fledermäusen ge'
schwängert, welche sich familienweise hier wie in allen alten Tempeln AegYp'
tems angesiedelt hatten und ineinander verbissen oder verkrallt als greulige
Bündel, ungeheuren Trauben vergleichbar, von Schleim tropfend, von der
Decke herabhingen.
In die Galerie zurückgekehrt, gelangten wir endlich durch eine schmale
niedrige Thür in die Königsgruft. Dieselbe ist beträchtlich länger als die geschil¬
derte, ebenfalls mit Granitblöcken ausgesetzt undebenfalls voll Fledermausgeruch.
Man befindet sich in ihr fast 140 Fuß über der Basis der Pyramide. Das
Gemach enthält nur den einfachen, sehr zerkratzten Sarkophag des Königs
Cheops, aus dem sich selbstverständlich wieder eine Unzahl von Schülern Kise-
lncks verewigt haben.
Den König selbst ließ schon das neunte Jahrhundert unsrer Zeitrechnung
auferstehn. Der Khalif Mamun hatte gehört, daß in der Pyramide ein gro¬
ßer ScrM verborgen sei, und ließ nachgraben. Mit unsäglicher Mühe arde
n¬
te man sich, da der alte Gang zur Königskammer damals noch durch den
Mantel von polirten Platten verborgen war, welchen der Bau einst trug,
von einer andern Seite hinein, stieß endlich auf eine hohle Stelle, brach durch
Und kam in den Stollen, die Galerie und die Grabkammer, wo der Sarko¬
phag stand. Was man hier gefunden, ist zweifelhaft. Nach Abd El Holm
^ar darin eine Statue, die einem Menschen glich, und in der Statue (dem
hölzernen Mumienkasten) ein Leichnam mit einer goldnen Brustplatte, auf
welcher unbekannte Zeichen (Hieroglyphen) standen. Andere lassen die Brust¬
platte mit Juwelen besetzt gewesen sein. Noch andere erwähnen einer kost¬
baren Smaragdurne von ausgezeichnet schöner Arbeit. Prosaischer, aber
T^aubwürdiger klingt ein andrer Bericht, nach welchem der Schatzgräber Ma¬
mun, das Vorbild aller der Tausende von Resurrection-Mer, welche sich jetzt
^n Nil entlang von Gräberraub nähren, in dem Sarge gar nichts fand,
da man schon früher in die Pyramide eingebrochen und alles Werthvolle ge-
^übt hatte, und nach dem Khalif Mamun. um das Volk zu beschwichtigen,
Elches über seine Habgier, oder vielleicht richtiger über die Kosten murrte,
die es verursacht, die taube Nuß zu öffnen, heimlich eine Summe Geldes
die Pyramide schaffen und dann als werthvollen Fund wieder heraus¬
fordern ließ.
Aehnliche Täuschungen erlebten die, welche sich als erste Entdecker der
^önigsgräber bei Theben betrachteten, und ein noch näheres Beispiel bietet
d^ zweite Pyramide. Lord Münster fand in dieser die Knochen eines Ochsen,
er sorgfältig verpacken und nach England schaffen ließ. Es waren die
heiligen Neste eines Apis, wie man annahm, und vielleicht werden sie noch
^ in irgend einem Museum mit ehrfurchtvvller Bewunderung vor ihren
herlaufend Jahren gelegentlich angestaunt. Niemand aber hat bewiesen,
sie wirklich von einem jener göttlichen Stiere sind. Für den Glauben
^ das, wie unsre Reliquienschreine zeigen, gleichgiltig. verehrt der doch mit
^"brunst Sprossen der Leiter, die Jakob im Traume sah. Die Archäologie
" nimmt es genauer, wenn auch in ägyptischen Angelegenheiten noch man-
eher Schwindel und manche Selbsttäuschung mit unterläuft. Die Wissenschaft
hat sich bei jenen Ochsengebeinen zu fragen, ob sie nicht, auch einem modernen
profanen, prosaischen Gliede der Familie Rindvieh angehört haben konnten,
welches, in einem der benachbarten Kleefelder gefallen, von Schakalen und
Hyänen fortgctragenund respcctwidrigin demKönigssarkophag, in dem dieBcstieu
Quartier gemacht, geborgen wurde. Die beiden andern Pyramiden zu be¬
steigen oder gar in ihr Inneres einzudringen, hatten wir weder Zeit noch
Neigung. Sie sind, von der geringern Größe abgesehen, der Cheopspyramide
fast ganz ähnlich. Die zweitgrößte ist gegenwärtig einige zwanzig Fuß höher
als die des Cheops, da ihr nicht wie dieser die Spitze genommen worden ist.
Sie hat, wie bereits bemerkt, vom Gipfel herab noch ein beträchtliches Stück
ihres glatten Plattenmantels, und ist deshalb nur mit Mühe bis zur obersten
Stcinlage zu erklimmen. Auch in das Innere zu dringen ist nicht jeder¬
manns Sache, da der Gang zum Kern so niedrig ist, daß man nur kriechend
emporkommt.
Die dritte Pyramide ist nicht ganz halb so hoch, als die erste. Um sie
zu bauen, hat man den nach Nordosten abfallenden Felsboden mit riesigen
Quadern zur Terrasse umgestalten müssen. Der Sarkophag, der von Oberst
Vyse, welcher 1837 hier Forschungen anstellte, in der Königskammer gesunden
wurde, war von braunem Basalt und kunstreich gearbeitet. Neben ihm lag
die Mumie des Königs Mykerinos in Stücke gerissen. Sie ist jetzt im briti¬
schen Museum, der Sarg aber mußte, um das in Noth gerathene Schiff, das
ihn nach England bringen sollte, zu erleichtern, über Bord geworfen werden,
und dient jetzt vielleicht einem Mittclmecrpolypen. einem stachligen Rochen
oder Klippensisch zur Wohnung.
Ueber die Bestimmung der Pyramiden herrscht jetzt wol kein Zweifel
mehr. Während man sie früher für Sonnenuhren, für Göttertempel, für
Wasserschöpsmaschinen hielt, während die hebräische Volkssage in ihnen die
Kornspeicher Josephs, die arabische Schatzhäuser des Geisterkönigs Saloi"0
oder Sulciman erblickt, weiß man jetzt, daß diese künstlichen Berge von Kb<
nigen aufgethürmt wurden, welche damit ihre Mumie und in dieser, dem
Glauben der Zeit gemäß, die Existenz ihres Ich zu sichern beabsichtigten-
Was sonst über Cheops, Chephren und Mykerinos (Neuere schreiben sie Chus»,
Chafra und Mencheren). über die Zeit des Baues der einzelnen Pyramide'''
über die Kosten des Arbeiterhcercs, welches sie ausschichtete, berichtet wird, ist
Sage und Fabel. Man weiß mit ziemlicher Bestimmtheit nur das Eine, daß
die Pyramiden um mehr als fünfzehn Jahrhunderte älter als alle beglaubigte
Geschichte sind, und daß also der General Bonaparte einmal nicht übertrieb,
als er seinen Soldaten vor jener Mameluckenschlacht zurief, daß von de'
Spitze dieser Pyramiden vier Jahrtausende aus sie herabschauten.
Nachdem wir uns aus der Königskammer der CheopSpyrnmide heraus-
gearbeitet, wo die Araber uns mit einer „Fantasia" d. h. einem nörgelnden
Gesang, bei dem sie im Kreise hockten und mit den Händen den Takt klatsch¬
ten, regalirt hatten, füllten wir zunächst die Lungen mit einigen Zügen frischer
Luft und machten dann eine Promenade durch die Gräberzeilen bei der
großen Pyramide. In mehren derselben finden sich Abbildungen aus dem
Leben der alten Aegypter. die im Stil denen in den Gräbern und an den
Säulen und Wänden der Tempel und Paläste von Theben vollkommen gleich
sind, obwol ein Jahrtausend zwischen diesen und jenen sich ausdehnt. Es
sindidieselben ungeheuren Augen, dieselbe falsche Prosiistellung, dieselben zu hoch
stehenden Ohren und dieselbe steife Haltung. Man trifft diese Bilder, die
zum Theil noch sehr deutliche Reste ihrer bunten Färbung zeigen, namentlich
>n den kleinen Todtenl'apcllen. die auf der Ostseite der Grabmale angebracht
sind. Hier erscheint der Todte stehend oder sitzend in erhabener Arbeit auf
der Wand, und hat vor sich auf einem Haufen verschiedene Opfer, gerupfte
Gänse, Ochsenkeulen u. a. Eine weibliche Gestalt, die hinter ihm steht und
seine Gemahlin sein mag. legt den Arm um ihn, sie ist gelb, er als Aegypter
vraunroth von Geficht. Hieroglyphen, welche der eine Gelehrte so, der zweite
anders, ein dritter wieder anders liest, mögen seine Würden und Titel oder
die ihm dargebrachten Todtenopfer aufzählen. Andere Räume zeigen Scenen
«us dem gewerblichen Leben und aus dem Landbau des alten Aegypten.
Der Raum, wo die Mumie selbst beigesetzt war, befindet sich stets im Westen
des Grabmals; denn der Todte war zu Osiris eingegangen, dessen Reich man
sich —. durch die Wüste und den Sonnenuntergang darauf gelenkt — im
Westen dachte.
Von den Felsengräbern unter dem Plateau der Pyramiden ist das inter¬
essanteste das sogenannte Grab der Zahlen. Der Mann, den man hier be-
Kwb, scheint nicht zu den Hofräthen und Kammerherren gehört zu haben,
sondern ein reicher Landedelmann gewesen zu sein, schwer tragende Furchen
pflügend und breitwandelnde Rinder hudert. Jedenfalls war er ein Lieb¬
haber der Niehwirthschaft. sonst hätte er sich wol nicht in sein Grab stellen
^sser, umgeben von seinem Herdcnbesitz. Er steht in großer Figur auf seinen
Stab gelehnt, hat einen Hund neben sich und läßt seine vierfüßigen Lieb¬
linge, wie es scheint, Revue passiren. Die Herden sind in verschiedenen Rei¬
ben übereinander sehr klein dargestellt, und gelehrte Männer haben aus den
danebenstehenden Hieroglyphen herausgelesen, wie viel Stück jede Herde hat,
^4 Ochsen und Kühe, 7L0 Esel u. s. w.
Andere Gräber, die drei kleinen Pyramiden östlich von der größten, die
^ste der Chaussee oder des Dammwegs, auf welchem die Steine zu den
bauten dieser Gegend herbeigeschafft wurden, gewährten nur ein flüchtiges
Interesse. Dagegen wurde vor dem Sphinx aus diesmal länger verweilt.
Auch er gibt keine Räthsel mehr auf. Man weiß, daß er ein Bild des
Sonnengottes Ra oder Re war, man weiß sogar seinen vollen Namen: Ra
Ma Schol. der Sonnengott am Horizont. Man glaubt endlich zu wissen,
daß der Erbauer der zweiten Pyramide auch der Schöpfer des Sphinx ge¬
wesen ist. Die Schlüsse, die dahin führten, gehören nicht hierher. Auch eine
ausführliche Beschreibung des Kolosses möge mir erlassen sein. Es möge ge¬
nügen, zu erwähnen, daß das Antlitz des Mannlöwen (der Sphinx hat einen
Bart gehabt, daher der ungewöhnliche Masculinartikel) 28 Fuß in der Höhe
mißt, und daß das ganze Steinbild eine Länge von 172 Fuß hat, daß das
Gesicht, jetzt sehr verstümmelt, einst braunroth bemalt war, daß nur der Kopf
ein Werk des Meißels, alles Uebrige aber natürlicher Fels, oder, wie eine
griechische Inschrift auf einer der Tatzen des Ungeheuers sagt, ein Bildwerk
der Götter ist/)
Eine wichtige Entdeckung, die nicht allen Lesern bekannt sein möchte, hat im
Jahre 1852 der Franzose Mariette gemacht. Derselbe fand, daß der Sand
rings um den Sphinx eine große Mauer und mehre größere und kleinere
Gänge bedeckt, welche nach einem vor dem Sphinx gelegenen Tempel führen.
Das Material dieser jetzt wieder verschütteten Bauten besteht aus rosenfarbenen
Granit und Tafeln von gelblichem Alabaster, dessen Politur das Licht der
Kerzen in zauberhafter Weise abspiegelte. Leider war nirgend eine Inschrift
oder ein Basrelief zu finden, welches über das Alter dieses Prachtbaus Aus¬
kunft gegeben hätte.
Das Bewußtsein, auf unterirdischen Geheimnissen zu wandeln, wirkt
sast noch mehr, als das was man sieht, auf die Stimmung, die dieser Fried¬
hof mit der Riesenhaftigkeit seiner Grabmonumente und seinen Erinnerungen
an das Uralterthum erweckt. Alles so antcdiluvianisch, so unverständlich vor¬
zeitlich. Alles solch ein gigantisches Aufthürmen von Wehren, und Wällen
gegen die Vergänglichkeit, und doch überwunden und versunken! Sie kannten
einen Gott am Horizont, aber es war der Horizont des Sonnenuntergangs.
Noch lagert er als Wächter an den Königsgrübern, aber die Grüber sind
leer, ohne daß ihre Todten auferstanden wären, wie die Todten von Juda und
Hellas, und die Araber nennen ihn Löwe der Nacht!
Seit den ersten Anlaufen zum parlamentarischen Wesen in Preußen, also seit
dem Vereinigten Landtag von 186-7, ist keine Landesvertretung mit einem so ent¬
gegenkommenden Vertrauen des Volks begrüßt worden, als die gegenwärtige. Zu
andern Perioden — 1847 und 1848 — war die Hoffnung und Erwartung ge¬
spannter, aber sie war mit Unruhe und Mißtrauen zersetzt, die Zustände selbst waren
problematisch und das Volk sah sich einer in gewissem Sinn fremdartigen Macht
gegenüber, die es zu prüfen noch keine Gelegenheit gehabt. Die Majorität der
Mutigen Kammer hat bereits eine ausgeprägte Physiognomie, man weiß ziemlich
genau, was und wie viel man von ihr zu erwarten hat; und die Veränderungen
>n der Regierungssphärc haben eine so allgemeine Zufriedenheit hervorgerufen, daß
selbst Me gerechten Wünsche mit Geduld und Mäßigung überkleidet sind.
Es ist das sür die Wirksamkeit des Landtags eine höchst günstige Vorciussetzuug;
'udcß sind auch einige Umstände vorhanden, die seine Aufgabe erschweren. Auf
diese gleich von vornherein hinzuweisen, scheint uns um so nöthiger, da nichts die
politische Entwickelung so stört, als eine sanguinische Stimmung, der die Enttäu¬
schung folgt.
Zunächst müssen wirnocheinmal aufcincnPunkt kommen, den wirschonvor einigen
lochen erwähnt haben, der aber viel böses Blut machen wird, obgleich — oder
weil er blos die Form betrifft. Wir meinen die Sprachverwirrung in Bezug aus
Rechts und Links. Der Landtag verliert dadurch sehr an Popularität, denn populär
^ nur, was dem Volk in handgreiflicher Bestimmtheit entgegentritt. Was bis jetzt
rechts und links war, hatte es sich ganz wohl gemerkt; nun soll es seine Vorstel¬
lungen plötzlich umschmelzen; und warum? Es ist wieder der leidige Nachahmungs¬
trieb der Deutschen ; sollen wir etwa von den Engländern auch die Sitte annehmen,
aß eine Erbschaft den Namen verändert? daß bei dem Todesfall eines Verwandten
^"s Lytton Bulwer ein Bulwer Lytton wird, aus Lord Stanley ein Lord Derby?
^'r Deutsche sind einmal gewöhnt, uns bei einem Namen, auch eine bestimmte
P"son zu denken, und unser Gemüth hält den Namen fest. wie die Person. Weil
wir die Männer lieb haben, wollen wir auch die Namen Vincke, Schwerin u. s. w.
'«behalten, und weil wir links nicht unrühmlich den Uebergriffe'n des Feudalismus
U"d des Polizciregimcnrs Widerstand geleistet haben, wollen wir links bleiben. Dem
"d kostet es einige Mühe, rechts und links zu unterscheiden; warum will man
"us wieder in die politische Kinderstube schicken? — Und es liegt noch mehr darin,
cum wir aus einmal die ministerielle Partei sein sollen, so macht man das Mini¬
mum für das verantwortlich, was wir sagen (es geschieht ohnehin schon mehr
genug!), und uns macht man für das verantwortlich, was das Ministerium
Me und nicht thut. Es wird sür beide Theile bequemer und wahrer sein, wenn
ir unabhängig bleiben. Bis jetzt wjssen wir von dem, was das Ministerium
">le und will, nur durch das Organ der „Preußischen Zeitung", und ob man
Un die Grundsätze-derselben für richtig oder unrichtig hält, jedenfalls sind es nicht
die Grundsätze, die Graf Schwerin, Wantzel, Kühne und andere Führer der „Linken"
so oft und so klar ausgesprochen haben. Die Ansichten stehn sich nahe, aber sie
sind nicht identisch.
Leider kommt der Rath zu spät; wenn dieser Brief gedruckt ist, werden die
Abgeordneten schon ihre Plätze eingenommen haben. Vielleicht lassen sie sich doch
durch das Mißvergnügen des betheiligten Publicums, das ziemlich allgemein zu sein
scheint, bestimmen, ihr unzweckmäßiges Vorhaben wieder aufzugeben.
Ueber einen andern Uebelstand spricht sich die „Preußische Zeitung" mit aner-
kennenswerther Offenheit aus.
„Die Landesvertretung wird in den allgemeinen Ergebnissen einen Grund mehr
finden, das Ministerium, indem sie ihm mit Vertrauen entgegenkommt, nicht in der
Bahn der Politik, die es betreten hat, die es aber zugleich bei der kurzen
Zeit seines Bestehens in vieler Beziehung kaum erst mit einem Blick
hat ins Auge fassen können, zu beirren." „Das Ministerium gibt sicher
einen Beweis seiner Gewissenhaftigkeit, wenn es sich enthält, vor den Landtag mit
Vorlagen zu treten, deren Vorbereitung in wenigen Monaten unter dem Andrang
aller Geschäfte nicht in der erforderlichen eingehenden und umfassenden Weise hätte
stattfinden können." Die Feststellung größerer Organisationen soll also einer spä¬
tern Zeit vorbehalten werden. „Wenn aber die Regierung die ihr zustehende
Initiative der Gesetzgebung, welche die naturgemäßesie ist, in Bezug auf die be¬
sondere Lage, in welcher sie sich befindet, für diese Session nur in eingeschränkter
Weise üben dürfte, so steht gewiß auch zu erwarten, daß die Landesvertretung im
Vertrauen zu dem Ministerium von ihrem Recht der Initiative nicht einen Gebrauch
machen wird, welcher die Regierung mit einer Masse verschiedenster Aufgaben und
Anforderungen überhäuft und, ohne wirkliche Resultate für das Land erzielen zu
können, der Regierung nur Schwierigkeiten in den Weg legt."
Das ist eine offne, ehrliche Sprache, die eine ebenso offne Antwort verdient.
Was zunächst das jener Ermahnung zu Grunde liegende Princip betrifft,
können wir mit demselben nicht einverstanden sein. Wenn das Ministerium noch
nicht Muße gesunden, über einen bestimmten Punkt eine Gesetzvorlage auszuarbeiten!
diese Muße ist aber Mitgliedern der dem Ministerium nahestehenden Partei zu Theil
geworden, und es ist ihnen gelungen, einen verständigen Entwurf zu Stande zu
bringen: so ist es nicht immer eine Verlegenheit sür die Regierung, sondern zuweilen
eine sehr erhebliche Unterstützung, wenn dieser Entwurf zur Berathung kommt.
Das geschieht in England nicht selten; aber selbst in Preußen hat zuweilen daS
Ministerium Manteuffel einem Gesetzentwurf, der von der „unabhängigen" NcchtcU
eingebracht wurde, nachträglich seine Zustimmung gegeben. Aber auch wenn der
Entwurf nicht durchgeht, ist dadurch die Einsicht des Landes in die Sache, vielleicht
auch die der Regierung vermehrt, und dadurch die spätere Initiative der Regierung
erleichtert. — Indeß soll dieser Einwurf nur dem Princip gelten; in praktischer
Beziehung stimmen wir mit dem Wunsch der „Pr. Ztg." überein: der Landtag
möge sür diese Session von seiner Initiative in der organischen Gesetzgebung
keinen Gebrauch machen, weil er etwas Wichtigeres zu thun hat. Er hat nämlich,
wie wir bereits auseinandergesetzt haben, auf die Mißbräuche hinzuweisen, die abge¬
stellt werden müssen, wenn das hochherzige Wort des Prinzregcnten von dem Gou-
verneinend. das consequent ist und ein reines Gewissen hat, eine Wahrheit werden
soll. Möchten sich die Abgeordneten zu dieser heiligen Pflicht gehörig vorbereitet
haben!
Wenn man aber den Vorlagen der Regierung, auch wenn sie sich bis zur
nächsten Session verziehen, mit Geduld und Vertrauen entgegensieht, so wäre es
"n großes, ein verhängnißvolles Unglück, wenn sie einen Gesetzentwurf einbrächte,
dem die ^Landesvertretung ihre Zustimmung versagen müßte. Wir enthalten uns.
auf das. was von dem neuen Ehegesetz verlautet, näher einzugehen, weil uns das
bekannte Material dazu nicht genügt; aber die Regierung muß bereits erkannt ha¬
be», daß es, abgesehen von seiner innern Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit.
U"es allen Seiten hin unpopulär ist. Und grade auf einem Gebiet, wo es am
nothwendigsten ist, dem Jnstinct des Volks Rechnung zu tragen! Noch ist es Zeit,
die Sache ruhen zulassen; hat man sich bisher mit den vorhandenen Bestimmungen
begnügt, so kann es auch noch länger geschehen; eine Niederlage der Regierung in
dieser Frage aber wäre für sie ein Stoß, der schwer zu überwinden sein würde.
Mit großer Anerkennung haben wir die Auseinandersetzung der officiösen Zei¬
tung über die Angelegenheit der Herzogtümer Schleswig-Holstein gelesen. Viel¬
leicht wird diese Frage früher in den Vordergrund treten, als man glaubt. Was
auch die Erörterungen zwischen Frankreich und Italien zu bedeuten haben mögen,
so viel steht fest, daß überall reichlicher Zündstoff verbreitet liegt, daß man mit dem
L'ehe sehr unvorsichtig umgeht, und daß plötzlich der Augenblick eintreten kann, wo
Preußen sein Wort mitzusprechen hat. Die Aufgabe Preußens ist weder, den
Italienern die Freiheit zu sichern, noch den Oestreichern ihre italienischen Besitzungen
zu garantiren; es wird aber auf dessen Seile treten müssen, der ihm seine eigne
Aufgabe erleichtert. Preußens Ehre ist durch den dänischen Krieg von 1343—50
verpfändet, und die einzige befriedigende Lösung dieser Frage ist: Aushebung des
londoner Protokolls, durch welches die Großmächte, im gemeinsamen Haß
gegen Deutschland, ein politisches lebensunfähiges Monstrum geschaffen haben; jenes
Protokoll, das Preußen in einer bösen, sehr bösen Stunde nachträglich unterzeichnet
hat! Preußen wird in der Macht seinen Freund erkennen, die ihm hilft, dieses
Blatt Papier, das Zeugniß seiner schlechtesten Stunde, zu beseitigen; und seine
Freundschaft ist ein vollwichtiger Preis. Alles andere, was in Bezug auf die Her-
Aus dem Wandcrbuchc eines östreichischen Virtuosen. Von M.
»user. 2. Bd. Leipzig. Fr. L. Herbig. 185». Wir haben vor e.engen Wochen
'reits auf diese Schilderungen als dictirt von einem guten Auge und verständiger
etrachtungsweisc aufmerksam gemacht. Auch dieser zweite Theil, der d,c Ericbmsse
und Beobachtungen des Verfassers in Australien enthält, ist reich an interessanten
Mittheilungen. Besonders gelungen sind die Schilderungen aus dem Mincndistrict,
aus Melbourne und aus Adelaide. Wir geben als Probe eines der Bilder aus
letzterer Stadt:
Adelaide — wie schon der schone Name zeigt — von Deutschen gegründet,
steht wie ein junger, lebensfrischer Baum in der Maienblüte vielversprechender Ent¬
wickelung. Noch hat der Ort nicht die Ausdehnung und Zahl der Bevölkerung
wie Melbourne und Sidney erreicht — die Attracticm des Goldes macht diese Städte
zu Centralpunkten des Landes — aber als Hauptstadt von Südaustralien, wo die
Macht des tropischen Himmels alle Reichthümer der Erde segnet, wo außer den
Herrlichkeiten des Südens auch alle Früchte der gemäßigten Zone gedeihen, und der
Ackerbau sich rascher und blühender entfaltet, wie im nördlichen Theil des Landes,
genießt Adelaide eine schönere Bedeutung, als ihre Schwesterstädtc, und auch die
Bevölkerung, die viele deutsche und nicht gar so abenteuerliche Elemente zählt, hat
schon eine höhere Stufe der Cultur erstiegen.
Die Stadt liegt malerisch schön, an der Schwelle des Südens, im Hintergründe
von himmelnahcn Höhen begrenzt, die bis zum Rande des Oceans sich hinziehen,
und mit den Blue Mountains vereinigt nach Norden laufen. Die Straßen, nach
amerikanischer Art mit schattenkühlcn Norfolkpalmcn bepflanzt, sind größtentheils
mit Stein gepflastert; einzelne imposante Gebäude, Kirchen mit Kuppeln und Thür¬
men, wachsen stolz und fabelhaft schnell aus dem Boden, der vor kurzem nur
Brettcrhäuser und Leinwandzeltc trug; deutscher Fleiß und britische Gediegenheit
walten hier in überraschend günstiger Weise und die zierlichen ein- auch zweistvck-
hohen Wohnhäuser, nach moderner Bauart sehr geschmackvoll mit Balkonen, Blumen-
gärtchen und grünen Jalousien geschmückt, blicken mir so traulich entgegen, daß
ich, heiter gestimmt, die entlegenen Freunde und das Heimweh vergesse. Ist es doch
das erste Mal in diesem Welttheile. daß ich deutsches Leben, ein Schiff voll reicher
Ladung auf offener See, bei günstigem Winde, mit geschwellten Segeln stolz dahin-
fahren sehe, denn überall auf meinen Wanderungen fand ich das vaterländische
Element gleich einem gebrechlichen Fahrzeuge schlecht gesteuert und cntmastct von
den schwankenden Wellen, getragen hin in das Ungewisse, unter sich den Abgrund,
hinter sich die Launen des Windes, immer umherirrend, zerstreut und ohne Ziel.
Und Adelaide ist der Zufluchtshafcu der über den Ocean gewebten Volksthümlichkeit.
Man findet hier ein Thusnclda-Casino, ein Friedrich Schiller-Theater, mehre Lese-
vereine, Handels- und Asseeuranzgcscllschaftcn, kurz es ist hier, wie nach den classi-
schen Phantasien des Astronomen Gruithuisen, als ob ein Stück Deutschland plötz¬
lich vom Monde herabgefallen wäre.
Alle Mundarten des deutschen Reiches klingen durch das schnarrende Straßen-
gcschwätz, und war sollte es nicht freudig überraschen, wenn ihn zwölftausend Mei¬
len fern vom Vaterlande so liebe heimathliche Erinnerungen umschmeicheln? Wandelt
man durch das meist von deutschen Gastwirthcn, Kaufleuten und Handwerkern
bewohnte Germcmiavicrtcl, wo das Völkchen der Krämer und Makler mit Bienen-
emsigkeit durch die Straßen wimmelt, so glaubt man sich im Traume in irgend
ein handelshcflisscncs Seitengäßchen der freien Stadt Frankfurt versetzt. Was das
merkantilische Genie des vaterländischen Soll und Habens nur Erfinderisches aus-
zudenken vermag, und was das löbliche deutsche Zunftwesen nur Drolliges auszu¬
weisen hat, findet sich da beisammen. Vor den ärmlichsten Kaufbuden, in welchen
^lbst das anspruchslvscste wiener Stubenkätzchen mit Mühe ihren Sonntagsputz
finden dürfte, prahlen große Aushängeschilder, wie: „Modebazar der fashionablen
Welt von James Mayer und Adolf Paricser"; „Erste deutsche Goldwechsclstube und
elegante Waarcnhallc des William Stern und Moritz Stieglitz", oder „Gasthaus des
Hermann Fink zur deutschen Treue". In der Eingangspforte des letzteren, unter
farbigen Draperien, Nationalflaggen und patriotischen Allegorien hängt ein grell
gemaltes „Willkommen", unter welchem mit großen Lettern wörtlich geschrieben steht:
»Alle soliden Landsleute können hier zu jeder Zeit kalt und warm gespeist werden."
Gleich daneben hält der Chirurg und Haarkräusler „Fritz Schaible" aus Berlin
seinen Laden. Eine fürchterliche Maria Stuart, auf dem Schaffottc kniend, dient
'h>n als artistisches Waarenschild, das, von erläuternden Randbemerkungen und
vielen Anzeigetafeln umgeben, bald deutlicher erklärt, was das Schild denn eigentlich
"n Schilde führt. Der Haarkräusler nämlich hat es selbst gemalt, und mit Beschei¬
denheit gibt er zu verstehen, daß er einer der geschicktesten Porträtkünstler im Lande
Er macht die billigsten Bedingnisse: wer ein halbes Jahr lang im vorhinein
aufs Frisiren abonnirt, den will er umsonst malen, und jeden, der sich malen läßt,
verspricht er eine Zeit lang unentgeltlich zu frisiren. Nebenbei versichert er mit
classischer Bildung, er sei ein geflüchteter Patriot, deutscher Demokrat, und als ehe-
'»aligcr Freischnrensührcr der badischen Bürgerwehr, will er allen deutschen Brüdern
as Fechten und Turnen lehren. Der consequente Windbeutel fährt noch lange fort,
Mre wunderlichen Tauscndkünste anzupreisen; aber zum Schluß läßt ihn seine an¬
gestammte deutsche Aufrichtigkeit nicht länger ruhen, und in einem merkwürdigen
Manifeste an alle Krämer und Geschäftsfreunde der Stadt warnt er: seiner Frau,
>e wegen häuslicher Liederlichkeit von ihm getrennt lebe, in keinem Falle auf sei-
"en Namen etwas zu borgen, da er ihre etwaigen Schulden niemals bezahlen werde.
Stundenlang streifte ich vergnügt umher und fand in allen Straßen das
^shea Leben. Es lachte und hüpfte zwar nicht immer dieses Leben, es seufzte auch
Zuweilen und stöhnte unter den Lasten fchwerdrückcndcr Armuth, aber es lebte und
"vagen sich. Denn in diesem Lande, wo das Glück gutgelaunt bei offener Tafel
">>t jedem kecken Spieler würfelt, wo der Besitz eine Laune des abenteuerlichen Zu-
6 und die Hoffnung eine Schmeichlerin des Mangels ist, verliert das Elend jene
"Ugcbvrne bleiche Farbe der Ohnmacht, die Noth hilft sich auf, der Hunger scherzt,
" Armuth wird vergoldet.
Als ich meine Wanderungen durch die Stadt beendet hatte, miethete ich ein
abrivlet und fuhr nach „Cumberland-Park". Cumberland-Part, ein englischer
Anm voll Pittoresker Scenerie mit gigantischen Wäldern, brausenden Sturzbächen
'"d schattenkühlcn Lustlaubcu, ruhte im Strahlenglanze der Abendsonne. Eine
' c Allee reizender Baumgänge führte mich durch das bunte Gewimmel der Spa-
^gangcr, die von allen Seiten herbeiströmten, um das Geburtsfest des englischen
ouvcrneurs dieser Kolonie zu feiern. Schöne und geputzte Damen, von galanten
andys umschwärmt, spazierten durch die duftenden Blütcnbüschc, fröhliche
«ben und Mädchen in lichten Sommerkleidern hüpften spielend im Grase umher,
p"ngqucllcn rauschten, die Luft wurde kühler, tausend tropische Wohlgerüche dus-
deten durch den abendlichen Garten, und in dunklen, abgelegenen Lauben seufzten
mondschcindurstigc Verliebte. Das holde zauberische Lied Beethovens an Adelaide
kam mir nicht aus dem Sinne; ich trillerte es den ganzen Abend vor mir her,
und fortgezogen von Erinnerung zu Erinnerung, schlenderte ich vergnügt durch
das fröhliche Treiben.
?<zr1«z äst ?g,rng.so ItaUäno, cuno in luce; äirl oav. I'abio k'adbruoei.
Berlin, Enslin. — Eine geschmackvolle Sammlung italienischer Lyrik von Petrarca
bis auf unsere Zeit. —
In der Verlagshandlung von O. Spamer in Leipzig und Mit ebenso reicher
Ausstattung erschien: Hellas. Das Land und Volk der alten Griechen. Bearbeitet für
Freunde des classischen Alterthums, insbesondere die deutsche Jugend von Dr. Wil¬
helm Wügner. 1. Bd., 150 Abbildungen, 5 Tonbilder. — Umfaßt Schilderung
des Landes, Sagen der hellenischen Vorzeit, Geschichte i Zeit der Staatenbildung,
Leben und Cultur, Zeit der Blüte, höchste Blüte (bis zum peloponnesischen Krieg)!
aus dieser Periode vieles Kulturgeschichtliche, Poesie, bildende Kunst, sociale
Verhältnisse, sogar Proben der Dichtkunst in zweckmäßiger Auswahl. Die Holz¬
schnitte (zum Theil recht gut) geben in bunter Reihe Landschaften, componirte Bil¬
der aus dem griechischen Kulturleben, z. B. Wageurenncn bei den olympische» Spie¬
len, Opfcrseencn. Theater (wobei die malerische Wirkung natürlich in erster Reihe
stand). Ferner aber auch Umrisse nach antikem Grundriß, Säulenordnungen, Por¬
träts nach Büsten :c. Es ist eine reiche Auswahl, anziehn für das Auge, nicht
ungefällig auch dem Lesenden, immerhin nützliches Geschenk für Kinder. Ferner von
demselben Verleger eingesandt!
Das Buch vom Feldmarsch all Radetzky. Mit Benutzung eines hinter¬
lassenen Manuscripts v. ^Dr-. F. I. A. Schneidawind, bearbeitet von Dr. Wilhelm
Wagner. 1859. 8. — Viele Illustrationen, Tonbilder :c., Schlachtscenen. Por¬
träts, vorn ein Stahlstich, gutes Porträt Radetzkys. Das Buch ist für Oestreich"
geschrieben.
Zeitgenössische Geschichten von Dr. Adolf Schmidt, Professor an der
Universität Zürich. — 1) Frankreich von 1815 bis 1830, 2) Oestreich
von 1830 bis 1848. — Berlin, Duncker und Humblot. —
Diese Mittheilungen gehören zu dem Anziehendsten und Geistvollsten,
^as in den letzten Jahren über den Gegenstand veröffentlicht worden ist. Zu
Grunde liegen die Berichte der eidgenössischen Bevollmächtigten in Wien und
Paris, die manches enthüllen, was der Presse unbekannt oder unverständlich
^ich; doch hat der Verfasser dabei auch die übrigen zum Theil seltenen
Quellen zu Rathe gezogen und namentlich über die Zustände Oestreichs von
I83y^ig-ig ein abgerundetes Gemälde zu Stande gebracht, so weit das
"wgljch jhe, wo die Hauptquellen noch immer unzugänglich sind. Den ersten
Abschnitt des Buchs, die französischen Zustände vor der Julirevolution, über-
^'du wir. da diese bereits vielfältig anderwärts beleuchtet sind.
Wie sich noch in unsrer aufgeklärten Zeit der Oeffentlichkeit Mythen bil-
zeigt die populäre Vorstellung über das Verhältniß Metternichs zu Kaiser
Manz. Fast allgemein sieht man in Metternich eine dämonische Natur, einen
Mann von eisernem Willen, der den Kaiserstaat ungefähr in der Weise des
ardinnl Richelieu regierte, in Kaiser Franz dagegen einen schwachen aber
gutmüthigen Fürsten, der seinen Minister gewähren ließ. In der Wirklichkeit
^ar es anders: Kaiser Franz erinnert in mancher Beziehung, freilich nicht
und den Glanz seiner Herrschaft, an einen stammverwandten Monarchen,
°" König Philipp II. von Spanien, nur daß sich in Bezug auf die Form
" spanische Grandezza in wiener Gemüthlichkeit auflöste. Kaiser Franz
der Herr und Metternich der Diener; freilich ein glänzend begabter Diener.
^ sich aber doch nur dadurch an der Spitze hielt, daß er in allen ernsthaften
vllisionsfällen dem Willen seines Herrn sich fügte. Durch seine Anlage und
Erziehung ein Diplomat im größten Stil, war er die rechte Hand des
"'fers in Bezug auf die auswärtigen Angelegenheiten, aber selbst hier war
sein Wille nicht souverän, sondern nur so weit seine Ideen mit denen des
Kaisers übereinstimmten, was nicht durchweg der Fall war. Schon im Cha¬
rakter bestand ein scharfer Gegensatz. In sittlicher Beziehung hegte Franz
die allerstrengsten Grundsätze, Metternich dagegen die allerlaxesten, deren An¬
wendung zuweilen ans Frivole streifte. Der Kaiser war von Gemüth bis
zur Unbeugsamkeit herbe und hart, der Minister bis zur Weichheit biegsam
und elastisch. Sagte doch Franz einmal selbst, „im Verzeihen bin ich ein
schlechter Christ, es kommt mir gar schwer an; der Metternich ist darin viel
milder." — Der Kaiser war ein strenger Katholik, geneigt sich jeder Forde¬
rung der Kirche zu fügen, und den Jesuiten zugethan; Metternich hatte gar
keine Religion, er war entschieden gegen alle Uebergriffe der kirchlichen Gewalt
und betrachtete die Jesuiten mit Mißtrauen. Was zu seiner Zeit in diesen
Beziehungen geschah, war einer höhern Willensmeinung, was nicht geschah,
war ihm zu danken. Der Kaiser war aus Jnstinct ein unerbittlicher Feind
jeder Neuerung, gleichviel welcher Art; Metternich, dem das Interesse über
alles ging, bekämpfte nur diejenigen Neuerungen, die man als abgetrotzt an¬
setzn konnte. Metternichs Hauptfehler, wie der Verfasser ganz richtig bemerkt,
war die moralische Schwäche in der Durchführung dessen, was er als noth¬
wendig oder zweckmäßig erkannte. Aus diese Schwäche sind die wichtigsten
Motive seiner Politik zurückzuführen: seine übertriebene Nevolutionsangst, seine
Liebe zum Frieden um jeden Preis; durch sie wurde seine Besorgniß vor ern¬
sten Conflicten mit seiner Umgebung bedingt. Was seiner Stellung Dauer
gab, war nicht blos die tief eingewurzelte Meinung, daß er der Unentbehr¬
liche oder der Unvermeidliche sei, sondern eben die Schwäche seiner Natur,
vermöge deren er, zumal bei Anlässen, wo jedes Mitglied der kaiserliche»
Familie mitreden zu können glaubte, ebenso rasch im Angriff als im Wider¬
stand erlahmte. Er war seiner Natur nach weder Intrigant noch Despot!
dazu war er geistig und sittlich viel zu wenig straff geartet, viel zu sehr ein
galanter, entgegenkommender und redseliger Lebemann. In der innern Ver¬
waltung wurde er selten geHort und absichtlich fern gehalten. Das war das
Gebiet, worin der Kaiser selbst wie ein Bureauches arbeitete, so emsig, daß ^
sich das Zeugniß gab, er hätte wol ein brauchbarer Hofrath werden können-
Das politische Princip, das bei dem Kaiser aus der Ueberzeugung, den'
Herzen und dem Gewissen hervorgegangen war, entsprang bei Metternich aus
der Reflexion, der Erfahrung. Um Oestreichs Integrität und seine Fortdauer
als Großmacht sicher zu stellen, lag ihm vor allem daran, den Bestand der
Dinge, die vertragsmäßig geordneten Territorialverhältnisse unverbrüchlich an^
recht zu erhalten, keinerlei Versuche einseitiger Veränderung zu dulden, auch
dem leisesten Trachten der Cabinete nach einer Vermehrung ihrer Macht Wid^"
stand zu leisten. An einem einzigen Punkt der europäischen Verhältnisse rue-
kein. hieß nach seinem System. Oestreichs Integrität in Frage stellen. Als
Diplomat von Fach übertrug er alle Gesichtspunkte seiner auswärtigen Politik
auf die innere: er betrachtete die Parteien im Verhältniß zur Staatsgewalt
ebenso als rivalisirendc Mächte wie die auswärtigen Staaten. Wie jeder
Krieg in Europa als ein wenn auch nur indirecter Angriff auf Oestreichs
Machtstellung, so wurde jede revolutionäre Bewegung auf irgend einem Punkt
von Europa als ein wenn auch nur indirecter Angriff auf die Regierungs-
gewalt in Oestreich betrachtet. Mettemich war nicht eigentlich Absolutist wie
sein Herr, sondern nur conservativ. Er spricht sich selbst in einem Brief da¬
hin aus: „Das Ziel in unsern Zeiten ist nichts mehr und nichts weniger
als die Aufrechthaltung dessen, was vorhanden ist; darunter verstehn wir nicht
nur die alte Ordnung der Dinge, sondern auch alle neuen gesetzlich geschafft¬
en Institutionen. Die Rückkehr vom Neuen zu dem, was nicht mehr vor¬
handen, ist mit ebenso viel Gefahr verbunden als der Uebergang vom Alten
Ma Neuen, beides kann den Ausbruch von Unruhen herbeiführen, welche um
jeden Preis zu vermeiden sind." So unternahm die Negierung zu seiner Zeit
niemals. die doch sehr unbequemen Freiheiten Ungarns zu beeinträchtigen.
Allein der conseauenten Durchführung seines künstlichen Friedenssystems
Kar seine eigene Friedensliebe hinderlich. Dem russischen Eroberungszug in
der Türkei von 1829 setzte er sehr geistvolle Doctrinen — wie er denn über¬
haupt gern über sein System sich vernehmen ließ — aber keine Thaten ent¬
gegen. Ebenso war es mit der Julirevolution. Schmidt theilt über diese
Periode einige sehr bemerkenswerthe Depeschen des schweizer Bevollmächtigten
'"it. Kaiser Nikolaus war im Anfang zu strengen Maßregeln geneigt; seine
Gereiztheit war „hauptsächlich durch die bittern Gefühle veranlaßt worden,
welche die zu Anfang des Sommers in Sebnstopol ausgebrochene Verschwö¬
rung in seinem Gemüth zurückgelassen hatte, eine Jnsurrection. die mit einiger
Mühe gedämpft wurde und tiefere Wurzeln gefaßt zu haben scheint, als man
Ausland überhaupt ahnte." Metternich ging in der Anerkennung des
neuen gesetzlichen Zustandes in Frankreich den übrigen Mächten voran, weil
^e Legitimität des Thrones nur „bis an die Grenzen der Möglichkeit" zu
vertheidigen sei. Dies war fortan sein Stichwort. Als nach der polnischen
Jnsurrection Kaiser Nikolaus den constitutionellen Staat Polen dem russischen
Absolutismus einverleibte, und damit ein russisches Heer hart an die offene
östreichische Grenze führte, ließ es sich Metternich in mürrischem Schweigen
^fallen.
Warschau war eben gefallen, als Ludwig Napoleon, dessen Entwürfe
Italien gescheitert waren, auf sächsischem Gebiet auf einer Reise nach Po-
^n begriffen war. Ueber die Umtriebe des Vonapartismus. die sich in jener
noch an die Person des Herzogs von Reichstadt knüpften, gibt die schwei-
zer diplomatische Correspondenz, wenn man Montbels Bericht damit ver¬
gleicht, beachtenswerthe Aufschlüsse. — Der Zweck des östreichischen Cabinets
war, den Sohn Napoleons als östreichischen Prinzen, vielleicht als künftigen
Eugen zu erziehn. Er zeigte entschieden kriegerische Neigungen; der Ruhm
seines Vaters war der Leitstern seines Lebens. Als man ihn vor den Um¬
trieben der Bonapartisten warnte, erwiederte er: „Niemals kann der Sohn
Napoleons zur verächtlichen Rolle eines Abenteurers herabsteigen." Die alten
Generale Napoleons wagten es, selbst mit Metternich zu unterhandeln; sie leg¬
ten ein Programm des projectirten Kaiserreichs vor, das ungefähr der Wirk¬
lichkeit von 1852, durchaus aber nicht den offnen Verheißungen der Partei
entsprach. Metternich hörte sie an, ging aber nicht darauf ein. „Ohne Bo¬
naparte Bonapartismus machen, ist eine durchaus falsche Idee . . . Gebleir
det durch die Stetigkeit seiner Triumphe, glaubte Napoleon an sich selbst;
aber eine derartige Gewalt konnte nur vorübergehend sein, eben weil sie durch
die Beständigkeit der Erfolge bedingt war." Der Herzog von Neichswdt.
von Unruhe und Ehrgeiz verzehrt, versuchte vergebens bei dem Ausbruch
der italienischen Unruhen ein Kommando zu erhalten, man ließ ihn nicht aus
Wien. Als er am 21. Juli 1332 starb, war der schweizer Artillenecapitän,
der Verfasser der „politischen Träumereien", Chef der Familie Bonaparte.
Mit besonderer Wachsamkeit verfolgte Metternich alle Nationalitäts- und
Einheitsideen; ein Staat schien ihm um so sicherer und mächtiger, je schwä¬
cher seine Nachbarn. — Sehr geistvoll seht A. Schmidt diese Ideen weiter
auseinander. — Wo sich große staatliche Massen in antagonistischer Stellung
entwickeln, da waltet immer die Tendenz, zwischen sich, an den Kanten und
Ecken, schwächere Schöpfungen liegen zu lassen oder zu bilden, die als terri¬
toriale Brücket, als staatliches Geröll, als weiches Geschiebe die Zwecke der
Fütterung oder der Polsterung versehn und die harten Zusammenstöße der
großen Massen verhindern oder abstumpfen sollen. Darum bedauerte Oese'
reich von jeher die Beseitigung des polnischen Polsters; darumwar es immer
gegen eine Zusammenschließung des staatlichen Gerölls an der Donau zu
einem compacten und kräftigen Dasein; darum schien ihm nichts erwünschter,
als daß in Deutschland die Lockerheit der territorialen Bröckel, in der Schweiz
das weiche cantonale Geschiebe aufrecht erhalten bleibe. Dort oder hier eine
größere Centralisation zulassen, galt sür Oestreich als eine doppelte Beein¬
trächtigung seiner Sicherheit und seines Einflusses, und Metternich war ent¬
schlossen, wie den deutschen Einheitsbestrebungen so auch den schweizerisch^
die wiener Verträge als unwandelbare Normen entgegenzuhalten. Der Schweiz
gegenüber machte er in einer Circularnote vom 5. Juni 1832 an die Groß'
machte diese Ansichten geltend; um diejenigen Cantone. welche gegen die
herrschenden Centralisationsbestrebungen auf Erhaltung der alten Bundes'
einrichtungen bedacht sind, in ihrem Widerstand gegen Neuerungen zu schützen
sollte man der Schweiz erklären: wenn sie sich herausnähme, durch Tag-
satzuugsbcschlüsse die Grundbestimmungen der Verträge von 1815 zu ändern,
so würden die Großmächte diesen neuen Zustand als einen rechtlichen nicht
anerkennen. — So war im Voraus der „Sonderbund" unter den Schutz der
Großmächte gestellt.
Der Kaiser wie sein Diener beobachteten seit der Julirevolution die Ent¬
wicklung der öffentlichen Meinung mit immer größerer Furcht. Das Cha-
rakteristische dabei ist. wie A. Schmidt sehr treffend hervorhebt, der Unglaube
Metternichs an sein eignes Princip. Lautete doch seine Devise: ..die Zeit
nickt unter Stürmen vorwärts; ihren Ungestüm aufhalten zu wollen, würde
vergebliches Bemühen sein." Unaufhörlich sprach er von dem „Tage der Ge¬
fahr;" die ..Rettung" galt ihm. selbst wo er „hoffen" zu können glaubte,
doch nur als eine Möglichkeit, mehr als einmal sprach er die Behauptung
aus. daß es bei diesem oder jenem Anlaß „nur einer unbedeutenden poli¬
tischen Verwicklung bedurft hatte, um die gesellschaftliche Ordnung völlig um¬
zustürzen." Nach der Julirevolution bezeichnete er die Zeit als eine solche,
^e zur gänzlichen Niederlage der königlichen Gewalt führen könne. Ein!paar
Jahre später, überall nur eine gegen die monarchischen Institutionen anrin-
Kende Partei erblickend, rief er den Fürsten zu: „wird den hier und da schon
M'ungenen Erfolgen dieser Partei nicht ein hemmender und rettender Damm
entgegengesetzt, so könnte in kurzem selbst das Schattenbild einer monarchi¬
schen Gewalt in den Händen mancher Regierungen zerfließen." Am Buudes-
ließ er mit dürren Worten die Ueberzeugung verkünden: „in Deutschland
«ehe die Revolution mit starken Schritten ihrer Reife entgegen."
Noch charakteristischer war, daß. wo ein Feuer wirklich brannte — in
Belgien, in Polen, in der Türkei — die „Löschanstalten" ausblieben, daß
dagegen, wo ein Schornstein rauchte, die ganze Gegend unter Wasser gesetzt
wurde. Ueber das hambacher Fest erklärte Metternich (Mai 1832) dem Bun-
dcstagspräsidium. es könne, gut benutzt, das Fest der Guten werden! Das
abgeschmackte frankfurter Attentat (?. April 1833) führte zu den karlsbader
Beschlüssen, dem Culminationspunkt der Reaction. Metternich, den man in
Andenken der napoleonischen Zeit an den deutschen Höfen in allen diplo¬
matischen Angelegenheiten als Orakel ansah, hat der Monarchie mehr ge¬
badet als alle Jakobiner, weil er ihr das Selbstgefühl, den Glauben an
'hre Wahrheit nahm.
Vor der Julirevolution hatte Oestreich die kleinen deutschen Fürsten auf
das eindringlichste vor dem Eintritt in den preußischen Zollverein gewarnt,
obgleich es mit Preußen darin übereinstimmte, daß von Bundeswegen für die
organische Gesetzgebung nichts geschehn könne; nach 1830 gab es seine Oppo¬
sition auf, um Preußen zu bestimmen, sich allen Repressivvorschlägen Oest¬
reichs aus dem Bundestag anzuschließen, was ihm in der That gelang. Die
Theilnahme Oestreichs an diesen Bestrebungen behandelte man als eine Chi¬
märe. Der Grund war die Furcht vor jeder Berührung mit dem „Ausland";
der Glaube, daß das commercielle Prohibitivsystem eine nothwendige Ergän¬
zung und eine Stütze des geistigen sei. und das angenehme Gefühl, in aller
Ruhe und Behaglichkeit für sich sein und bleiben zu können, ohne sich in
einen Strudel unabsehbarer Geschäfte, peinlicher Zweifel und langer Unbe¬
quemlichkeiten stürzen zu müssen. ,
Die Flucht vor allem Neuen, der Argwohn, daß es unvermerkt in seine
eigensten Handlungen hereinschlüpfen könne, bewirkte, daß Kaiser Franz über¬
zäh im Erwägen und mehr als langsam im Entschließen wurde. Daher der
schleppende Gang der Staatsmaschine; daher die unzähligen endlosen Ver¬
zögerungen kaiserlicher Entscheide, ohne daß die Verzögerung an sich einer be¬
sondern Ungunst beizumessen war. Von Tag zu Tag kostete es ihn immer
größere Mühe, über irgend eine Angelegenheit zum Entschluß zu gelangen;
die Zahl der Geschäfte, bei denen seine Unterschrift nothwendig war, grenzte
ans Unglaubliche, und da er aus Gewissenhaftigkeit alles auf das genaueste
prüfen wollte, so reichte selbst seine unermüdliche „hofrüthliche" Arbeitsamkeit
für den Bedarf bei weitem nicht aus. Die Nummern der auf Erledigung
harrenden Antrüge hatten sich im Beginn des Jahres 1829 zu vielen Tausen¬
den aufgehäuft, und bei allen Behörden waltete die Klage, daß die dringend¬
sten Maßregeln unterbleiben müßten, weil die kaiserliche Unterschrift nicht zu
erlangen sei. Die Maschine gerieth endlich so sehr ins Stocken, daß der
Kaiser in der höchsten Noth (März 1829) sich entschließen mußte, einen Theil
der Regierungsgeschäfte auf den Kronprinzen zu übertragen.
Von absoluter Regierungsgewalt konnte in den meisten Kronländern nicht
wol die Rede sein; die Stände hatten wenigstens die Befugniß. die Regie¬
rung in jeder freien Bewegung zu hemmen. Andererseits schnitt die Regie¬
rung den Ständen jede sreie Wirksamkeit ab. Zwischen den patriarchalischen
und absolutistischen Neigungen der Staatsgewalt ergaben sich sehr bedenkliche
Widersprüche. Die Scherereien der Censur und die Plackereien im Paßwesen
wurden ebenso wenig als gemüthlich empfunden, als die Pedanterien lo
Schulfach und das Gezänk mit den Stünden; dagegen führte die patriarcha¬
lische Maxime zu einer so laxen Observanz in der Handhabung vieler Gebote
und Verbote, daß dadurch der Polizei alle Augenblicke ein Schnippchen ge¬
schlagen wurde. Darauf bedacht, alles zu beeinflussen, bei den geringfügig'
sten Angelegenheiten mit ihrer Autoritüt zu intervcniren und selbst die persön¬
lichen Interessen zu bevormunden, erschöpfte die Negierung im Schweiß ihres
Angesichts ihre beste Kraft in den kleinlichsten Vorschriften aller Art, die dann
doch großentheils nicht gehandhabt wurden und unbeachtet blieben, oder gar
Spott und Murren erregten. — Der Regierungsorganismus begriff das bunte
und weite Getriebe eng unter sich verschlungener Aemter und Behörden, die
nach verschiedenen Seiten hin in die Leitung der innern Angelegenheiten ein-
griffen. Neben dem Staatsrath und den Ministerialconferenzcn standen
sieben Hofstellen, die collegialisch eingerichtet waren und nach Stimmenmehr¬
heit entschieden; doch konnte durch den Präsidenten die Entscheidung des Kolle¬
giums umgangen und die des Kaisers unmittelbar eingeholt werden. Später
stellte Kaiser Franz den persönlichen Verkehr mit den Chefs der Hofstellen mehr
und mehr ab, ließ sich alles schriftlich vorlegen und zog nur nach Belieben
bald diesen bald jenen Conferenzrath zu Rathe. So sanken die Hofstcllen zu
bloßen Verwaltungsbehörden herab, und jede bewegte sich in ihrem Kreise,
ohne Rücksicht auf die Bewegung der andern. Ebenso zerfiel der Staatsrath
w seine Sectionen. Die Idee des Gesammtstaatsraths war einzig und allein
in der Person des Kaisers vertreten; nur er konnte alles wissen; nur er konnte
die Anträge der verschiedenen Hofstellen und die Gutachten der verschiedenen
Staatsrathsscctionen vermitteln, wenn sie untereinander abwichen oder gar
unverträglich waren. Der Kaiser sollte und wollte alles sein und alles allein
sein, und das war selbst für die größte Kapacität zu viel.
Die seltsamen Abgrenzungen in den Competenzen der Hofstellen führten
5» einer mehr als peinlichen Ueberwachung ihrer Protokolle durch den Kaiser.
Die Weise der allerhöchsten Handbillete war vollends darnach angethan, die
Hofstellen scheu und unsicher in ihrer Haltung zu machen. Weil es mit der
absoluten Herrschergewalt uicht für verträglich erachtet wurde, Rechenschaft
über die Motive eines kaiserlichen Beschlusses zu geben, so wußten die Hof-
stellen in allen Fällen, wo ihre Anträge gar nicht oder nur mit Abänderungen
angenommen wurden, nicht den Grund der Verwerfung oder Amendirung.
Und waren auf die Vollziehung dessen beschränkt. waS ihnen in dem todten
Buchstaben des Befehls zu liegen schien. Mißverständnisse, Gleichgiltigkeit
Segen die Folgen der Ausführung, Kränkung des Selbstgefühls, ja manch¬
mal Schadenfreude über den nicht günstigen Erfolg eines gegen ihren An-
^ag an sie gelangten unmotivirten Entschlusses blieben nicht aus, so daß oft
^ Hofstcllen in moralischer Opposition gegen ihren Herrn standen. — Von
alter Zeit her war das Volk gewohnt, jede väterliche Fürsorge für sein Wohl
dem geliebten Herrscher. jede mißliebige Maßregel dagegen den Ministern und
denjenigen Beamten beizumessen, mit denen es in unmittelbare Berührung
kam.')
Der Necurszug war durch alle Instanzen offen. In rein administrativen
Dingen konnte man sich von der Entscheidung der Ortsbehörde an das Kreis¬
amt, vom Kreisamt an die Landesstelle, von der Landesstelle an die Hofstelle, von
der Hofstelle an den Kaiser wenden. Fand dieser sich veranlaßt, die Beschwerde zu
signiren d. h. behufs seiner eignen Entscheidung Aufklärung zu begehren,
1o ging sie wieder die ganze Stufenleiter der Behörden hinab, behufs der Bei¬
legung sämmtlicher Acten oder auch neuer Erhebungen; und dann wieder bis zum
Thron herauf, um endlich mit der kaiserlichen Schlußfassung denselben Weg
zurückzunehmen. Metternich selbst sah ein, daß mittelst dieser Staatsmaschine
gar nicht regiert würde, und daß in diesem Nichtregieren das Hauptübel des
Staats liege. Aber die legislativen Arbeiten wurden in eine Masse divergi-
render Anträge zersplittert, welche im Centrum der Entscheidung, die Uebersicht
erschwerten, und da auch hier kein leitender Gedanke vorherrschte, so blieben
die durchdachtesten Vorschläge in den Archiven aller Verwaltungsbehörden ein¬
gesargt.
Als Kaiser Franz, 2. März 1835 starb, hinterließ er ein politisches
Testament, in welchem er seinen Nachfolger ermahnte, sich in keiner Weise auf
Veränderungen einzulassen und ohne den Fürsten Metternich nichts zu unter¬
nehmen. Ferdinand folgte den Rathschlägen seines Vaters; neben Metter-
nich blieb um der Negierung hauptsächlich sein Rival Graf Kollowrat,
ein vornehmer Aristokrat, der dem Staat umsonst diente, die innern Angelegen¬
heiten leitete, und sich ebenso zu fügen wußte als Metternich. und der mil>
liebigste aller Minister, Sedlnitzki, der allmächtige Chef der Polizei, betheiligt-
Der neue Kaiser, geb. 1793, zeichnete sich durch eine seltene, man kann sagen
rührende Herzensgüte aus; leider war seine Gesundheit seit 1829 durch epi¬
leptische Zufälle angegriffen, die auch auf seine Geisteskräfte sehr nachtheilig
einwirkten. Da nun sein Wohlwollen vielfältig gemißbraucht wurde, indem
man ihm in unbewachten Augenblicken seine Namensunterschrift ablockte,
mußte ein Weg gesunden werden, die entscheidende Stelle in der Regierung
ans eine ordnungsmäßige Weise zu ergänzen. Nach sehr lebhaften Kämpfe»
zwischen Metternich und Kollowrat einigte man sich endlich Dec. 1836 übe»'
die Bildung einer Staatsconscrenz, bestehend aus jenen beiden Minister"
und dem Erzherzog Ludwig, der in allen Collisionsfällen die entscheidende
Stimme hatte. Da er im Princip ganz mit dem verstorbenen Kaiser überein¬
kam. blieb im Wesentlichen der Gang der Negierungsmaschine ungeändert,
doch wurde in den Geschäften manches verbessert. Die Entscheidungen wur¬
den nicht mehr so verschleppt, in den Bureaus zeigte sich eine größere Thätig¬
st, es traten viele Begnadigungen ein und die bestehenden Gesetze wurden
"ut großer Milde gehandhabt. Die alte mehr persönliche als principielle
Rivalität zwischen den beiden Ministern dauerte fort, doch so, daß Erzherzog
Ludwig meistens auf Metternichs Seite stand. Wenn die streng kirchliche
Partei sich bemühte, das verlorene Terrain wiederzugewinnen, und darin von
drei hohen Damen, der Erzherzogin Sophie, ihrer Schwester der Kaiserin
Mutter und der regierenden Kaiserin beschützt wurde, so scheiterten doch im
Großen ihre Bestrebungen an dem vereinigten Widerstand Metternichs und
Kvlowrats; wie denn überhaupt bei jeder Reform, gleichviel ob nach rechts
"der nach links, derjenige sicher war, sein Ziel zu erreichen, der der Neuerung
widerstund leistete. Auch bei der Staatscouferenz wurde bald das schriftliche
Abstimmen üblich, und so war sie im Grunde nichts weiter als ein neues
'^ad in der Staatsmaschine, die sich nach dem Gesetz der Trägheit fort¬
bewegte.
Dagegen fing in den einzelnen Provinzen eine kräftigere Regsamkeit der
stände an. In Ungarn forderte und erlangte man nicht unerhebliche Con¬
cessionen; die niederöstreichischen Landtage folgten diesem Beispiel, und es
schien, als ob sich das politische Leben aus der Centralgewalt in die einzelnen
Gliederungen der Monarchie zurückzöge.
Um die Kraft des Staats zu conserviren, sah Metternich ein, daß man
"uf zeitgemäße Reformen denken müsse. Ja so seltsam es klingt, es ist
Metternich, der jetzt als Mann des Fortschritts auftritt, und der um der Durch¬
führung seiner Entwürfe nur durch die Schwäche seines Charakters oder, was
vielleicht ebenso wichtig ist, durch seiue Arbeitsscheu gehindert wurde.
Zuerst dachte man an einen Anschluß Oestreichs an den deutschen Zollverein.
Metternich verfolgte dabei vorzugsweise einen politischen Zweck, er wollte
^gen Preußen in die Schranken treten, er fand aber eine wesentliche Stütze
"u K ub cet, dem Schneidersohn, der seit 1840 als Präsident der allgemeinen
H°ste»n>ner die östreichischen Finanzen zu reguliren suchte. Beide veranlaßten
Ende des Jahres 1841 die Niedersctzung einer Commission, um die Mög-
Meit eines Anschlusses zu untersuchen. Als Gegner des Entwurfs traten
^uptsächlich Kolowrat und Graf Hurtig auf, und es gelang ihnen, der
^taatsconferenz die Unmöglichkeit des Anschlusses darzuthun, wobei Haupt-
Schlich geltend gemacht wurde, daß man die ungarischen Stände niemals zur
uncrhlne der Negierungsentwürfe werde bewegen können. Fast ebenso
'adlig war der Widerspruch der östreichischen Handelskammern. So mußten
Ach denn Metternich und Kübeck mit einigen Reformen des Tarifs begnügen,
" in der Hauptsache nichts entschieden. Man tröstete sich mit der Idee, in
einer unbestimmten Zukunft nicht blos einen deutschen, sondern einen deutsch'
italienischen Zollverein gründen zu können.
Nachdem Metternich auch bei Gelegenheit der griechischen Konstitution
genöthigt war, von seinem Princip der Legitimität abzuweichen, veranlaßten
ihn die galizischen Unruhen zu einem noch bedenklicheren Schritt. Durch die
Einverleibung Krakaus wurden thatsächlich die wiener Verträge zerrissen, das
Recht der Eroberung anerkannt und damit alles in Frage gestellt, was
Metternich so mühsam aufgebaut hatte.
Aber Metternich sollte mit den Concessionen an den Zeitgeist noch weiter
gehn. Mit großem Mißtraun betrachtete man die Versuche König Friedrich
Wilhelms IV., auf Grundlage der Provinzialstände wenn auch nur allmälig
eine organische Verfassung sür Preußen hervorgehn zu lassen. Auf der Kon¬
ferenz zu Koblenz, September 1842, suchte Metternich den König zu warnen,
aber ohne Erfolg. Schon im August 1844 hatte die östreichische Regierung
vom Inhalt des königlichen Entwurfs Kenntniß, der 1847 wirklich in Aus¬
führung kam. Obwol mau zugab, daß die Verfassung durchaus conservativ
gehalten sei, fanden die Entwürfe doch bei dem Cabinet keinen besondern
Anklang; vielmehr riefen sie sofort wohlmeinende Vorstellungen hervor über
die Schwierigkeit, ans der einmal begonnenen Bahn sich nicht von den No'
ständen fortreißen zu lassen, und überdies noch andere Bedenken. Man sagte
sich nämlich, daß die unwiderrufliche Einführung des constitutionellen Prin¬
cips in Preußen, sie möge in noch so durchaus conservulivcm Sinn geschehn,
eine außerordentliche Rückwirkung aus ganz Deutschland ausüben müsse-
Ungeahnte Erscheinungen dürsten in den öffentlichen Zuständen auftauchen
und das konstitutionelle Deutschland darauf hingewiesen werden, sich vorzugs¬
weise an Preußen anzuschließen, das auf Viefe Weise mit den, überwiegenden
Ansehn, das ihm der Zollverein verleihe, noch eine andere Art von Supre¬
matie verbinden würde. Um so mehr feste man in Verbindung mit dem
Petersburger Cabinet alle Hebel ein, um die Verwirklichung dieser Verfassung
zu verhindern.
In der That ließen die Eindrücke auch in Oestreich nicht auf sich warte»,
ES traten angesehene Schriftsteller auf, welche die Regierung in dieselbe Bahn
zu lenken suchten, die man in Preußen mit so vieN Erfolg zu betreten schien,
und diese Wünsche fanden im nicderöstreichischen Landtag einen kräftigen Aus¬
druck. Ablösung der Grundlasten, Milderung der Censur. Veröffentlichung
des Staatshaushalts, Beirath der Stunde in allen wichtigen Landesangelegen-
heiten und Vertretung, des Bürgerstandes in den Ständeversammlungen, das
waren die Stichworte der Opposition. Als das Februarpatent von 184? er¬
schien, wurde die Regierung selbst stutzig. Die Berichte des eidgenössischen
Bevollmächtigten sind voll von Eröffnungen über daS Bestreben Metternich^
auch nach dieser Seite hin mit Preußen zu rivnlisiren. Oestreich schloß sich
den Absichten Preußens an, von Seite» des Bundestags den einzelnen Staa¬
ten das Recht zur Einführung der Preßfreiheit zuzugestehn. Zugleich sprach
Metternich im Februar 1847 in der Staatsconsercnz offen die Ueberzeugung
aus, daß Oestreich dringende Veranlassung habe, nunmehr auch in Verfassung-
angelcgenheitcn dem Beispiel Preußens zu folgen. Er legte zwei von
ihm selbst entworfene Pläne vor. die beide darauf Ausgingen, sowol die neckte
der schon seit Jahrhunderten bestehenden Ständeversammlungen der deutschen
Provinzen als die der italienischen Congrcgativncn von 1815, und besonders
ihre innere Selbstverwaltung nach einem allgemeinen System auszudehnen, um
dadurch die Grundlagen zu erhallen, auf denen in einer spätern Periode eine
allgemeine Reichsverfassung sich aufbauen lasse. Vom finanziellen Standpunkt
unterstütze Kübeck diese Anträge; sein Verlangen ging dahin, sämmtliche Pro-
vinzialstände aufzufordern, aus ihrer Mitte Deputirte nach Wien zu senden,
um dort über den Zustand der Finanzen die vollständigste Aufklärung zu er¬
halten, und mit der Finanzverwaltung die Mittel und Wege zu berathen,
welche zur Herstellung des Gleichgewichts zwischen den Einnahmen und Aus¬
üben führen dürsten. — Diese Borschläge fanden bei der Staatsconserenz
^inen Anklang; Erzherzog Ludwig wies nach, daß Reform und Revolution
Bundesgenossen seien, und Metternich — fügte sich.
Die Bemühungen der Kirche, die Josephinische Gesetzgebung zu beseitigen,
scheiterten an Metternichs Widerstand. siegte er aber im Princip, so war
" zu schwach, an allen Consequenzen desselben festzuhalten. Vielmehr war
^ bedacht, die principielle Entfremdung durch ein Entgegenkommen in der
Pwxis abzustumpfen, die Spannung zwischen ihm und der Gegenpartei durch
Concessionen bei bestimmten Anlässen nach Möglichkeit zu lösen. Die Jesuiten
wurden, freilich unter sehr drückenden Bedingungen, zugelassen, und Mute
^'i5 mürbe ihnen selbst die Concurrenz in den Erziehungsanstalten geöffnet.
Der Widerspruch seines conservativen Princips gegen seinen Jesnitenhaß trat
'n bedenMcher Weise in den schweizer Sonderbundsangelcgenheiten hervor.
Im Princip war Metternich entschieden auf Seiten des Sonderbunds,
""d suchte alle Großmächte zu einer gemeinsamen Einwirkung auf die Eid¬
genossenschaft zu vermögen, um diese zu verhindern, auf gesetzlichem Wege
Ü°gar die rennenden Cantone einzuschreiten. Es war ihm auch gelungen, bis
Berufung der Jesuiten nach Lucern erfolgte. Vergebens suchte er nach
allen Seiten hin abzumahnen; die Jesuiten bestanden auf ihrem Recht, und
"ach langem, sehr ernstlichem Schwanken, auf welche Seite er sich wenden solle,
'^schloß er sich endlich, dem conservativen Princip zu Liebe die Jesuiten mit
den .Kauf zu nehmen (20. Mai 1845). Aber es gelang ihm nicht, Eng-
l"ut und Frankreich mit fortzureißen, und zwischen Drohungen und Nach-
giebigkeit schwankend, wurde er endlich dadurch erlöst, daß die krakauer Frage
die Schweizer in den Hintergrund drängte. Den 20. Juli 1847 erfolgte der
entscheidende Schritt, die Auslösung des Sonderbunds durch die Tagsatzung,
und als Metternich einen neuen diplomatischen Sturm vorbereitete, kam den
4. Den. die officielle Nachricht von der militärischen Ausführung dieses Beschlusses.
Selbst der Petersburger Hof erklärte, durch verspätete Demonstrationen würden
die Mächte nur ihrer Würde vergeben; die Maschine war einmal im Gang,
und noch viele Wochen Hindurch wurde an den abzugebenden Noten sorgfältig
corrigirt.
Es hatte in den Regierungskreisen nicht an Stimmen gefehlt, welche die
vollständige Aufhebung der ständischen Verfassungen anriechen, besonders seit
dem stürmischen Reichstag zu Preßburg 1844. Aber noch zu Ende 1844 hatte
Metternich erklärt, der richtigste Weg, den Ungarns König einzuschlagen habe,
sei nicht, daß er die freie Repräsentativverfassung zu Gunsten des Absolutis¬
mus aufzuheben suche, sondern daß er die Initiative ergreife und selbst mit
Nesormvorschlägen vorangehe. Bisher habe man den Ständen die auszuar¬
beitenden Vorschläge überlassen; diese Passivität sei ungehörig und gefährlich.
Jedes Land bedürfe vor allem, regiert zu werden: versiege die Regierungs-
gewalt in den obersten Regionen, so bilden sich Gewalten in den untern,
Vor allem drang er auf materielle und juristische Verbesserungen. Ein in
diesem Sinn redigirtes Programm erhielt Januar 1847 die königliche Sanction '-
es sollte u- a. auch die Zolleinigung, die Metternich'noch immer nicht auf¬
gegeben hatte, anbahnen.
In den ersten Tagen des Februar 1848 wurden auch die alten Projecte
in Bezug auf ständische Ausschüsse der Provinzialvertrctungen wieder auf¬
genommen, diesmal mit mehr Aussicht auf Erfolg. Die Schwierigkeiten waren
freilich groß. „Schon jetzt, schreibt der schweizer Bevollmächtigte 13. Februar
1848, bedürfe es großer Gewandtheit, um so verschiedenartige Nationen zu
einem Ganzen zusammenzuhalten. Die Aufgabe würde sich weit schwieriger
gestalten mit einer Menge von besondern Verfassungen, die jedem Volksstamm
eine gewisse Selbstständigkeit verleihen, das nationale Bewußtsein erhöhen,
Rivalitäten erzeugen und die monarchische Gewalt schwächen müßten." Trotz'
dem wurde der Plan vom Erzherzog Ludwig genehmigt, sämmtliche Provin-
zialstände aufzufordern, Deputirte aus ihrer Mitte nach Wien zu senden, uM
mit den Behörden zu berathen. Da trat plötzlich, unerwartet, ein Zögern ein-
Auf die Kunde von der französischen Revolution erklärte Metternich, jeHt
dürfe man keine Concessionen machen, die als abgedrungen erscheinen würden-
Der Erzherzog Ludwig trat ihm bei; vergebens eiferten Kollowrat, Kübeck und
der herbeieilende Erzherzog Johann dagegen. Mit den letztern verbanden sich j^'i^
diejenigen Mitglieder des Hofes, die früher auf Seite der klerikalen Partei gegc"
Metternich gestanden hatten. Ihr Wortführer. Erzherzog Franz. eröffnete
Unterhandlungen mit der ständischen Opposition, und als ihre Meinung im
Familienrat!) nicht durchdrang. wurde schon am 6. März, gemeinschaftlich mit
jener Opposition, eine Adresse entworfen, die einem Mißtrauensvotum gleich¬
em. Aus dem Ständesaal pflanzte sich die Bewegung auf die Straße fort,
und Metternich war schwach genug, sich am 1,2. März zu Concessionen, und
Zwar zu ungenügenden zu verstehn. Eine Nachgiebigfeit folgte der andern;
aber sein Sturz war beschlossen — nicht blos auf der Straße! Er
schied mit den Worten: „Ich sehe voraus, daß sich die falsche Mei¬
nung verbreiten werde, ich hätte die Monarchie mit mir davongetragen.
Dagegen lege ich feierlichen Protest ein, Weder ich noch irgend jemand hat
Schultern breit genug, um einen Staat davonzutragen. Verschwinden Reiche,
s" geschieht es nur. wenn sie sich selbst aufgeben." Er schied mit der
Haltung eines vollkommnen Gentleman, ünßcrlich gefaßt und noch das Lächeln
"uf seinen feinen Lippen; aber innerlich gebrochen, denn er hatte seine Rolle
Indem wir im Folgenden eine Mittheilung geben, welche uns ans dem
östreichischen Feldlager in Mailand zuging, bemerken wir. daß dieselbe aus
^ Feder eines Offiziers dieses Lagers stammt. Wie weit wu> und den poli¬
tischen Ansichten des ^Verfassers übereinstimmen, wie weit etwa nicht, brauchen
den Lesern der ..Grenzboten" nicht auseinanderzusetzen. Wir glaubten
s" nicht weglassen zu dürfen, weil sie zeigen, wie sich der eine und der andere
denkende Militär im Heere des Kaiserstaates zu der vom wiener Cabinet in
^'n letzten Jahrhunderten innegehaltenen Politik verhält, wie der eine und der
^"dere bei aller Loyalität und allein Eiser für die Erhaltung des nun einmal
feststehenden der Meinung sein kann, diese Politik hätte von Anfang an einen
andern Weg einschlagen sollen.
Unser Correspondent glaubt. Oestreich hätte, statt nach Erweiterung se.nes
^nflusses und Besikes im Süden zu streben, vielmehr seinen Beruf darin er-
^'Acker sollen, sich nach Osten hin auszudehnen. Werfen wir. sagt er un Ver-
lauf seiner Darstellung, einen Blick auf die Entwicklung des Kaiserstaates zu
einer europäischen Großmacht, so sehen wir. daß nebst der Erlangung der
deutschen Kaiserkrone hauptsächlich die Enterbung Ungarns den Grund zur
Machtstellung des Hauses Habsburg legte l denn der Besitz des großen König¬
reichs verlieh dem östreichischen Staat jenen materiellen Zuwachs an Land und
Leuten, der im Beginn allerdings von nicht sehr großer Bedeutung schien, in
der Folge aber, als die deutsche Krone sich immer mehr als eine bloße Würde erwies
und endlich,^ganz abgelegt werden mußte, Oestreich seine Stellurg als Staat ersten
Ranges im europäischen Staatencomplcx sicherte. Mau braucht siedet nur aus die
Anstrengungen hinzuweisen, welche Oestreich unter Maria Theresia und später
gegen Napoleon machte und zu denen es nur durch die beinahe unerschöps"
liehen Hilfsquellen befähigt wurde, die es in seinen östlichen Besitzungen sand.
Das Reich war zwar aus den heterogensten Elementen zusammengesetzt, erstellt
sich aber trotzdem, wie die letzten Jahrhunderte bewiesen haben, eines ziemlich
hohen Grades von Lebensfähigkeit, Es stand Ferdinand I. nach Erwerbung
Ungarns frei, den Schwerpunkt Oestreichs nach diesem eben gewonnenen, großen,
halbcivilisirten Lande zu verlegen oder seine Größe in der Behauptung der deutsche»
Kaiserwürde zu suchen. Er hatte ein Königreich gewonnen, dessen Besitz zwar wie
der der deutschen Krone nicht vollkommen erblich, noch vollkommen sicher war,
welcher aber seine übrigen Erbländer an Ausdehnung nahezu um das Doppelte
übertraf und Oestreich die entscheidende Rotte im Osten Europas zuwies.
Hätte Ferdinand die Idee aufgefaßt, Ungarn als sein Hauptland zu betrachten,
so wäre seine Aufgabe gewesen, die Factionen im Lande und die Türken, die
sich damals nach der unglücklichen Schlacht von Mohacs in Ungarn auszU"
breiten anfingen, mit Hilfe seines im Zenith seiner Macht befindlichen Bru¬
ders zu bekämpfen, niederzuschlagen lind die Größe Oestreichs dort zu be¬
gründen, wohin es ja schon sein Name wies. Der deutschen Kaiserwürde,
der Suprematie in Deutschland hätten die Nachkommen Ferdinands nllerdin^
entsagen und diese Rolle einer anderen Macht überlassen müssen. Ferdinand,
welchem der Besitz Ungarns nur als ein zweifelhafter erschien, zog es vor, das'
selbe nur als einen secundciren Theil seiner Hausmacht zu betrachten und ciA
Anstrengungen auf die Behauptung und Bcrmehruug des Einflusses seines
Hauses in Deutschland zu verwenden. Die größere Hälfte des Landes, selbst die
Hauptstadt fällt in die Hände der Türken, fünfundzwanzig Meilen von Wie»
sind türkische Grenzfestungen; Wien wird zweimal belagert; Oestreich selbst
steht in größter Gefahr in ein Paschalik verwandelt zu werden; und der
Kaiser von Deutschland und König von Ungarn zahlt einen Tribut nach K"»'
stantinopel um Frieden zu erhalten, und mit Muße wegen einer Grenzfestung e>n
Rhein oder wegen des Hoheitsrechtes über irgend eine entfernte Besitzung
lange und blutige Kriege zu führen, oder diejenigen Deutschen zu unterdrücken,
welche die Unfehlbarkeit dos Papstes zu bezweifeln wagen. Dies das Wesen der
von Oestreich eingeschlagnen Politik, die in der Vermehrung der östreichischen
Hausmacht durch wenig bedeutende Erwerbungen und in der möglichsten Aus¬
beutung des Schattens der kaiserlichen Gewalt ihr Ziel suchte, und durch diese klein¬
lichen.'theilweise falschen Bestrebungen sich und Deutschlano in Neligionswirrcn
und zahllose Fehden stürzte, welche die Kräfte einer edlen Nation aufrieben
und zur Uneinigkeit Deutschlands den Grund legten. In den .Kriegen mit
Schweden, Holland und Frankreich vergaßen die Regenten Oestreichs, daß
"n Osten ein weites Feld für die Befriedigung des größten Ehrgeizes
offen stand. Unter Leopold I. am Ende des siebzehnten Jahrhunderts
war noch einmal ein besonders günstiger Augenblick, der Politik des Hauses
?V^estreich diese Richtung zu geben. Nach der zweiten Belagerung Wiens es82
wurden durch eine Gesammtanstrcngung der Christenheit die Türken aus dem
Roßten Theil Ungarns endlich vertrieben und Ofen wiedergcnommen. Alles for¬
derte dazu aus und einen Augenblick schien anch das wiener Cabinet den Plan
5« hegen, die Vernichtung der schon in ihrem Verfall begriffenen osmanischen
Macht'in Europa zu vollenden, durch die Eroberung aller Provinzen an der
Donau die Herrschaft im Osten sich anzueignen und so ein mächtiges Reich
»u schassen, welches auch im Stande gewesen wäre, der damals immer drohender
werdenden Ausbreitung der französischen Macht in Mitteleuropa Schranken zu
setzen. Dies unterblieb, Leopold I. und Josef I. verwendeten alle ihre Kräfte,
um das Uebergewicht in Deutschland und Italien zu behaupten, und die
ganze spanische Erbschaft ihrem Hause zu erwerben. Dem letzteren Bestreben
kann die Anerkennung nicht versagt werden, daß es einigermaßen begründet
war durch die gegründete Hoffnung, die sich das Haus Habsburg machen
kannte, seine Macht im Fall der Durchführung dieses Planes auf eine Höhe
sU bringen. die ihm. wenn sich die Interessen der beiden Linien des Hauses
weht getrennt hätten, das entschiedene Uebergewicht in Europa zugewiesen
Und dasselbe befähigt hätte. dann auch die angedeutete Rolle im Osten zu
Übernehmen. Die im spanischen Erbfolgekrieg gemachten Anstrengungen ver¬
schafften jedoch Oestreich nur den wenig Segen bringenden Besitz Italiens.
es fortwährend abhielt, seinen wahren Interessen nachzugehen. Noch ein-
wal. unter Karl VI.. wäre es möglich gewesen, die Rolle des Eroberers un
Dsl>in zu übernehmen. Es war immer klarer geworden, daß der Glanz der
"Um Kaiserkrone allen, dem Oberhaupt des deutschen Reiches diesen Rang
Wehe mehr sichere, daß sich Oestreich, um den moderneren und kräftigeren
westlichen Staaten gleich zu sein, eine eigne selbstständige Macht schaffen
wüsse. Ohne genöthigt zu sein, seine Bedeutung als Staat Mitteleuropas
Kanz aufzuopfern, höchstens auf das entfernte Belgien und die italienischen
^Sitzungen verzichtend, hätte Oestreich die Gelegenheit ergreifen können, den
Sturz der türkischen Herrschaft zu vollenden, die sämmtlichen Donauländer
und mit ihnen sich eine Stellung zu gewinnen, in welcher dem Kaiserstaat
jener Nang zugefallen wäre, den Rußland jetzt in der Reihe europäischer Staa¬
ten einnimmt. Weder Polen, noch Rußland, noch die Seemächte, noch
endlich Frankreich hätten damals Oestreich gehindert, dem Erzfeind der Christen¬
heit diese Provinzen, die außerdem großentheils früher der Krone Ungarn
geHort hatten, abzunehmen; keine Westnmchte würden wegen der Integrität
des osmanischen Reiches einen Krieg begonnen haben. Karl VI. ließ diese
günstige, nie wiederkehrende Gelegenheit vorübergehn; am Ende seiner Re¬
gierung unternahm er zwar einen .Krieg gegen die Türken, aber ohne die er-
forderliche Energie, und so endigte dieser mit dem Verlust Belgrads und der
kleinen Walachei. Unter Maria Theresia wäre es noch möglich, wiewol schon
viel schwieriger gewesen, diesen Projekten nachzugehen; die Beute hätte jetzt
schon mit Nußland getheilt werden müssen, und die übrigen europäischen
Mächte würden einer solchen Störung des Gleichgewichtes auch nicht ganz
ruhig zugesehen haben. Maria Theresia zog es jedoch vor, wegen Schlesien
einen siebenjährigen Krieg zu führen, der zwischen den zwei deutschen Groß'
Staaten eine Spannung erzeugte, die noch nicht verschwunden ist. Joseph II. hatte,
wie mit seinen andern Unternehmungen auch mit seinem Türkenkrieg wenig Glück.
Die französischen Revolutionskriege und die Kämpfe gegen Napoleon zogen
Oestreich von dieser Richtung ganz ab, und in unserm Jahrhundert ist es zu
spät, im Osten erobernd auftreten zu wollen. Ebenso sehr fast wie durch
Deutschland wurde Oestreich durch Italien von der ihm durch die Natur vor¬
geschriebenen Bahn abgelenkt. Wir sehen es zum ersten Mal in die Schicksale
der Halbinsel entscheidend eingreifen, als infolge des Aussterbens der Habs'
burgischen Linie in Spanien der größere Theil Italiens der östreichischen
Linie zufiel. Der Besitz Neapels, Toscanas und Mailands sicherte dem Ein¬
fluß Oestreichs in Italien das entschiedene Uebergewicht, das weder von de>n
Papst, noch von der Republik Venedig angefochten werden konnte; selbst gegen
einen Angriff von außen konnte man Italien vertheidigen, ohne die
der andern Provinzen in Anspruch zu nehmen. Das Land, von Gouver¬
neuren regiert, wie es noch unter der spanischen Oberhoheit der Fall gewesen
war, empfand keinen Widerwillen dagegen, von einem Fürsten beherrscht
werden, der in Wien residirte. Es befand sich in einem ruhigen, wiew^
etwas erschlafften Zustand, und man kann behaupten, der Besitz Italien^
verlieh damals Oestreich einen wirtlichen Zuwachs an Macht. Diese günstig
Machtstellung, gab Karl VI. freiwillig auf. Man könnte es billigen, wen»
er einen Theil seiner Länder aufgeopfert hätte, um im Uebrigen stark zu si'l»,
das Erbtheil seiner Tochter zu sichern und im Osten sich zu befestigen u»d
auszubreiten. Ttatt dessen sehn wir ihn bemüht, seinen Einfluß in Deutsch'
^ut ängstlich zu bewahren und wenigstens einen Fuß in Italien zu behal-
^n. Warum gab er die Stellung in Italien nicht ganz auf? Warum behielt
^ südlich von den Alpen das einzige Mailand, durch welches Oestreich in
alle Berwickluugen der Halbinsel hineingezogen wurde, und fortwährend eine
Annee daselbst zu unterhalten gezwungen war? Toscana wurde ebenso in¬
konsequent von der Monarchie getrennt. Warum gab man nicht auch Mai¬
land an diese Secundogenitur des Hauses Habsburg-Lothringen und entsagte
damit jedem directen Besitz in Italien? Oestreich wäre dann auf einem andern
Schauplatz stärker und dennoch mächtig genug gewesen, um einer Ausbreitung
der französischen Macht in Italien mit Hilfe seiner stammverwandten italie¬
nischen Linie Schranken zu sehen. Oder wenn Oestreich Italien nicht aus¬
üben wollte, wäre es nicht weiser gewesen, nebst Mailand auch Toscana zu
schalten und den jüngern Sohn mit einem andern Fürstentum auszustatten,
^as in dieser Epoche, wo das Täuschen der Länder Mode war, ohne Au-
st""d auszuführen gewesen wäre? Dann wäre der Besitz in Italien bedeu¬
tender geworden, und die Anstrengungen zur Behauptung desselben würden
^es eher haben rechtfertigen lassen. Sich aber auf Mailand allein zu be-
schränken, in diesem den Keim unaufhörlicher Unruhen zu übernehmen und
^'gleich die Suprematie in Italien behaupten zu wollen, war eine der belieb-
halben Maßregeln östreichischer Politik, die überall sein wollte und nir¬
gend se^k war. Daß in diesem Umstand auch bei weitem die größte Schuld
den Unglücksfällen zu suchen ist, welche Oestreich in seinen Kriegen gegen
Frankreich erlitt, kann kaum geleugnet werden; nach Italien wurden ebenso
' arke Armeen gesendet als an den Rhein, und die Behauptung dieser einen
^°vinz absorbirte die Kräfte, welche zum Schutz Deutschlands und Wiens
"°klug gewesen wären.
Nach der auf dem wiener Congreß bewirkten Ordnung der Gebietsverhältnisse
^ Europa finden wir Oestreich im Besitz des lombardisch-venetianischen König¬
liches, aber trotz des Zuwachses an Land weniger sicher und stark als vor-
^ ^ Im vorigen Jahrhundert ertrug Italien die im Ganzen ziemlich milde,
°M italienischen Charakter angemessene Herrschaft der Fremden so willig als
^ der einheimischen Fürsten. Für Toscana war sogar das Ende des vori-
Jahrhunderts eine Epoche des Glanzes gewesen, und in der Lombardei
'"d noch jetzt die Zeiten von Maria Theresia unvergessen. Erst durch die
^Publiken, die von der französischen Mutterrepublik gegründet wurden, um dann
^ französische Königreiche umgewandelt zu werden, wurde der Factionsgeist im
°tke geweckt. Es tauchten Demagogen auf, an denen Italien jetzt ebenso reich
> als im Mittelalter. Der HoH gegen Fremdherrschaft und Absolutismus,
^publikcmismus, die Idee des einigen Italiens entwickelte sich, und in
^ Revolution Neapels und in der Carbonariverschwörung machte sich dieser
Geist zuerst Luft. Oestreich fand sich durch die Umtriebe, welche die ganze
Halbinsel umfaßten, bald gefährdet, es mußte, um die aufgeregte Stimmung
niederzuhalten, in Italien stets gerüstet stehn. Ohne dem vormärzlichen Sy'
Stein eine Lobrede halten zu wollen, darf man behaupten, daß das schickst
der italienischen Provinzen Oestreichs weder absolut genommen, noch vergÜ'
chen mit dein anderer Länder, ein drückendes war. Italien wurde immer
mit einer gewissen Rücksicht behandelt; im Gebrauch der eignen Sprache
ungestört, die bis in die höchsten Stellen Amtssprache blieb, in allen An¬
stalten gepflegt, von den schlechten Valntaverhältnissen, die auf Oestreichs
übrigen Provinzen lasteten, verschont, in Kunst und Wissenschaft und nicht
minder in den materiellen Interessen gefördert, hatte es kaum Grund
klagen; lediglich der Wunsch nach Unabhängigkeit von fremder Herrschaft konnte
als Grund geltend gemacht werden, wenn man gegen Oestreich erbittert wa^
Dieses beruft sich dagegen auf sein durch Verträge geheiligtes Recht auf de»
Besitz dieses Landes, welches mit dem Blute seiner Soldaten erworben. u»d
das es nicht aufgeben wolle. Allerdings liegt hierin ein unheilbarer Wider'
Spruch, und macht sich der dem östreichischen Kaiserstaat angehörende Theil d6
italienischen Nation nicht mit der Idee vertraut, daß es besser sei, von eine»'
deutschen Fürsten gut, als von einem italienischen schlecht regiert zu werde»-
so ist an eme günstigere Gestaltung des Verhältnisses zwischen Oestreich u»d
seiner italienischen Provinz nicht zu denken.
Das Jahr 1848 ist in frischem Gedächtniß. Italien erhob sich zur
treibung der Fremden. Das Heer Oestreichs, durch RadetM sorgsam gepflegt
und in Voraussicht dieser Ereignisse tüchtig ausgebildet, rettete durch sei^
Tapferkeit und Ausdauer Italien für Oestreich. Oestreich beschloß seine Seel'
lung in dem zurückeroberten Lande noch energischer zu behaupten: militärisch'
indem es ein starkes, stets schlagfertiges Heer in Italien unterhielt, indem ^
verschiedene neue Befestigungen anlegte, und indem es einige fremde Gebiets'
theile besetzte; auf dem Civilwcge, indem es die Besiegten durch Milde n>^
Mäßigung zu gewinnen strebte. Italien litt infolge seiner von so vielen A^'
schreitungen begleitet gewesenen Erhebung nur wenig. Das von der Reg^'
rung befolgte System zeigt keinen Versuch, die Nationalität anzugreifen, >^
in Galizien und Ungarn. Trotz der in Oestreich herrschenden Sucht alles ^
centralisiren und zu nivelliren, bleiben die Eigenthümlichkeiten der ProM»»
unangetastet. Mit Munificenz wird jeder Wunsch nach Förderung der in>^
rielleu Interessen erfüllt. Das Land erhält sogar eine Art ständischer
tretung, deren die treugebliebenen Provinzen nicht werth gehalten werde>^
Das Schicksal, sich nicht aller constitutionellen Freiheiten zu erfreun, welev
der Geist der Gegenwart fordert, theilt es mit dem übrigen Oestreich
manchen andern Staaten.
Trotz alledem ist ein nicht geringer Theil des Volks in Ocstreichisch-Jta-
Uen der Regierung feindlich gesinnt, und die Stellung der letztem unsicher.
Oestreich kann gegenwärtig in Italien bedroht werden, entweder blos durch
eine revolutionäre Erhebung, die entweder ganz Italien umfaßt oder sich
"in auf Oestreichisch-Jtalien beschränkt; oder durch einen Angriff Sardiniens,
der eine nationale Erhebung in der Lombardei unterstützte, ohne eine solche
kaum recht möglich wäre; endlich drittens durch Frankreich mit Sardinien
verbunden, wenn das französische Cabinet sich zu einer Einmischung in die
italienischen Angelegenheiten entschlösse, in welchem Falle auch ein Theil der
italienischen Nation mitzubekämpfen sein dürfte.
Gegen eine Erhebung der Bevölkerung allein, wozu diese infolge des leicht
^baren. sanguinischen Nationalcharakters, der die Italiener zu schlcchtrech-
uenden Politikern macht, geneigter ist. als man glauben sollte, und welche,
begünstigt von Piemont. durch die italienische Emigration angezettelt würde,
ist die in Italien befindliche Militärmacht, besonders nach der soeben erfolg¬
en Verstärkung der Armee mehr als genügend. Die Festungen sind mit star¬
rn Garnisonen versehen, die meisten offnen Städte, wie Mailand. Brescia.
^rgamo. Pavia haben überdies feste Citadellen, aus frühern Zeiten stam¬
mende Schlösser, jetzt zu dem Zwecke hergerichtet, den Truppen ein Neduit
et°gen etwaige Aufruhrsversuche der Bevölkerung zu verschaffen, um die Stadt
°Ah ihnen ' wirksam zu beherrschen, selbst, wenn die Garnison sür einige
Zeit weggezogen werden müßte und nur eine kleine Besatzung zurückbleiben
könnte. An der Spitze der Militär- und Civilbehördcn stehen Männer, welche
^ Gefahr kennen, auf selbe vorbereitet sind, und ihr zu begegnen wissen
werden. Die ackerbautreibende Bevölkerung (die Colonen) hat Oestreich nicht
^gen sich. Nur der Adel und der Bürgerstand, überhaupt die Städtebewohner
^'d gegen die Negierung entschieden feindlich gesinnt, und diese Classen allein
Ziegen nicht schwer genug, um ernste Befürchtungen einzuflößen. Jsolirt. ohne
°'ner Unterstützung von außen sicher zu sein, werden sie gewiß auch nicht den Ver¬
buch eines Krawalls machen; denn gegen die starke militärische Stellung
Oestreichs hätte ein Aufstand nicht die geringste Aussicht auf Erfolg, und
jenem Ueberfluß von Muth, der die Vorsicht aus den Augen läßt, leidet
Italiener durchaus nicht
Anders stellt sich die Frage, wenn Sardinien, der erklärte Gegner Oest¬
reichs, die Stütze und Hoffnung aller die Befreiung von den Deutschen hoffen¬
de» Lombarden, abermals einen Versuch macht, Oestreich aus Italien hinaus¬
drängen, wobei wir den für Piemont günstigern und in der That auch
^brscheinlichern Fall annehmen, daß dieser Versuch von Sardinien eben-
nicht isolirr, sondern in Uebereinstimmung mit der nationalen Partei in
Oestreichisch-Jtalien und in einem sür die Ausführung geeigneten Moment
unternommen wird, wo möglich, wenn Oestreich — etwa wie 1848 und 1849
— auch anderwärts beschäftigt und nicht alle seine Kräfte zur Behauptung
Italiens aufzubieten in der Lage ist.
Die gegenwärtige Lage bietet einen solchen günstigen Fall nicht. Oest¬
reich ist aus einen Krieg, den die Organe Cavours täglich predigen und zu
dem das turiner Cabinet sich möglicherweise verleiten lassen könnte, gefaßt-
Die in Italien stehende Armee ist zwar nicht auf dem Kriegsfuß, aber der
Art mobil organisirt, daß sie jeden Augenblick in Bewegung gesetzt werden
kann (Beweis der eben erfolgte, in wenigen Tagen bewirkte Einmarsch eines
Armeecorps von Wien nach der Lombardei), und sodann genügend stark, no
selbst nach Besetzung aller wichtigen Punkte des Königreiches im freien Felde
für einige Zeit den Piemontesen die Spitze bieten zu können. Durch Ein¬
berufung der Urlauber und Reservisten können sich die in Italien stehen¬
den Regimenter mit Benutzung der Telegraphen und der Eisenbahnen binnen
14 Tagen aus den Kriegsstand ergänzen, und dies nicht mit Rekruten, son¬
dern mit gutgeübten Mannschaften. In noch kürzerer Zeit können aus den an
Italien anstoßenden, so wie aus den innern Provinzen Truppen auf dem etwaigen
.Kriegsschauplatz erscheinen und der östreichischen Armee eine numerische Über¬
legenheit verleihen, die jede Aussicht aus einen selbst nur ephemeren Erfolg Sar¬
diniens schwinden macht. Allerdings hat nun Sardinien den Vortheil M
sich, daß es kaum zu fürchten braucht, selbst angegriffen zu werden, sondern
den Moment für die Eröffnung der eignen Offensive sich auswählen und so
die Aussichten, welche eine Ueberraschung des Gegners bietet, benutzen kann; wäh¬
rend Oestreich, zu einer fortwährenden Wachsamkeit genöthigt, eine Abspannung
seiner Kräfte erleiden muß. Hierauf ist denn auch das Benehmen Sardiniens
berechnet; sein Angriff wird den Charakter eines Ueberfalls tragen, der
mont im Beginn das Uebergewicht verleiht, und den plötzlich auszuführen es
in seinem außerordentlich richtig angelegten Eisenbahnnetz das Mittel findet-
Sind wirklich in Turin schon Borbereitungen für einen Krieg getroffen, und
ist der Entschluß zu einem Kampf mit dem Aufgebot aller Kräfte gefaßt,
kann Sardinien seine ganze Armee in wenigen Tagen an der Grenze concen-
triren und vom Ticino Mailand bedrohen, welches so nahe der Grenze liegt'
daß die italienische Armee bei ihrer gewöhnlichen Dislocation nicht zeitig
genug concentrirt sein dürfte, um den Uebergang über den Grenzfluß zu verthu
tigem. Nun hat für Oestreich in militärischer Beziehung die Behauptung Mailands
wenig Werth, aber in politischer Hinsicht ist dieser Besitz von hoher Bedeutung, da
eine auch nur temporäre Räumung der Hauptstadt dem Feinde einen immensen Z"'
wachs an moralischer Stärke verleihen, die Bewegung über das ganze Land ver-
brcitenund endlich die Hilfsquellen einer reichen Provinz dem Feind überliefe^
würde. In militärischer Beziehung wären die Stellungen am Ticino, an de^
Adda. oder an einem andern der Flüsse, welche von den Alpen herabströmend
die Lombarde, bewässern und in den Po münden, nicht zu vergleichen mit
der sorgfältig vorbereiteten, außerordentlich festen Aufstellung in dem Festungs-
Viereck-
. Verona, Mantua, Peschiera. Legnago; hätten demnach nur mili¬
tärische Rücksichten Einfluß auf den Entschluß des Feldherrn, so winde dieser
^i erfolgter Kriegserklärung Mailand und die Lombardei räumen, sich bis
an den Mincio zurückziehn. dort seine Kräfte sammeln und entweder in diesem
Bollwerk, in welchem die beste Garantie für den Besitz Italiens liegt, den
Angriff des Feindes erwarten oder von dieser Operationsbasis aus selbst die
Offensive gegen denselben ergreifen, um-sich der für einige Zeit ausgegebenen
Lombardei wieder zu bemächtigen. Wie erwähnt, erscheint es aber wün¬
schenswert!), auch nicht einen TheU des Landes selbst nur sür kurze Zeit räu¬
men zu müssen; die Armee muß also Mailand halten und zu dem Ende, da
Mailand eine offene Stadt ist, eine Aufstellung am Ticino nehmen und an
dieser Linie den Feind aushalten. An eine der übrigen Linien zwischen Ticino
und Mincio ist nicht zu denken, weil die Aufstellung an einer derselben schon
ohnehin die Räumung Mailands bedingt, und weil es dann mehr als un¬
nütz wäre, diese halten zu wollen, wenn sich wenige Meilen rückwärts eine
°er besten Positionen der Welt vorfindet. Um Mailand gegen einen plötzlichen.
Mit überlegenen Streitkräften unternommenen Angriff Sardiniens zu decken,
dachte man einen Augenblick daran, die Stadt mittelst detachirtcr Forts zu
^festigen und so einen großen Waffenplatz an der Grenze, zu schaffen; man
kam aber von dieser Idee ab, theils wegen der Kosten, welche die Ausführung
^fordert hätte, theils deshalb, weil die Zahl der großen Festungen Oestreichs
"us dem kleinen Raum in Oberitalien zu sehr vermehrt worden wäre, und
endlich, weil dieses verschanzte Lager zu seiner Behauptung auch wieder eine
^deutende Armee erfordert Hütte. Hat Oestreich aber eine solche Armee bei
Mailand stehn, so braucht auch die Stadt nicht geräumt zu werden;
denn man kann alsdann bis zum Eintreffen der Verstärkungen versuchen, die
Ticinolinie zu vertheidigen. Die wesentliche Schwierigkeit für Oestreich be¬
geht nur darin, die Streitkräfte an der piemontesischen Grenze, welche den
"sten Stoß des Feindes gegen Mailand abzuwehren haben, zeitig genug auf
k'Ac solche Stärke zu bringen, daß eine Defensive am Ticino möglich ist.
dies zu erreichen, muß in die Städte der Lombardei stets ein großer
Theil der Armee verlegt bleiben, und man muß diese Orte, so wie auch die
Garnisonen im Venetianischen für einige Zeit ohne Gefahr räumen können,
UM die Truppen mit Hilfe der Eisenbahn in kürzester Frist an die Grenze disponiren
^' können. Wird der zwischen civilisirten Staaten übliche Termin von einigen
^en zwischen der Kriegserklärung und der Eröffnung der Feindseligkeiten
Machtet, so hat Oestreich Zeit, die Truppen aus dem Lande hcrbcizuziehn.
um vor Mailand Widerstand leisten zu können; in wenigen Tagen können
Regimenter aus Kärnthen, Krain, Steiermark u. s. f. nachrücken, die Ergän¬
zungen da sein und die Armee die Offensive ergreifen. Von einer Erhebung
des Landes oder vielmehr der Städte im Rücken der Oestreicher ist unterdessen
wenig zu befürchten; so lange die sardinische Armee keinen Erfolg errungen
hat und Mailand noch in den Händen der Oestreicher sich befindet, würden
Versuche kaum gemacht und, würden sie gemacht, durch die Besatzungen der
Citadellen, so wie die fortwährend nachrückenden Verstärkungen leicht nieder¬
geschlagen werden.
Die Stellung am Ticino, welche wir hier hervorheben, und die für
Oestreich bis zum Moment, wo es selbst die Offensive ergreifen kann, von
höchster Wichtigkeit ist, erstreckt sich von dem langgestreckten, in das schweizerGcbiet
reichenden Lago maggiore bis an den Po, in einer Ausdehnung von etwa
zwölf Meilen. Als Hauptübergangspunkte, über welche eine sardinische Ar¬
mee in das östreichische Gebiet dcbouchiren muß, können bezeichnet werden:
Sesto Calende, am See selbst, die Brücke bei Buffalora, auf welcher die
Hauptstraße nach Mailand in die Lombardei tritt und die auch von der nahezu
vollendeten Eisenbahn benutzt werden wird, dann Vigevano und Pavia; üb¬
rigens bietet der Ticino für den Uebergang nirgend unüberwindliche Schwie¬
rigkeiten. Das Dcbouchiren auf der kürzesten nach Mailand führenden Linie
wird durch eine, auf dem mit dem Flusse parallellaufenden Niveau, zu bei¬
den Seiten der Eisenbahn vorbereitete Stellung vor Magcnta verhindert;
die in derselben concentrirte östreichische Armee kann von hier aus dem an
einer andern Stelle über den Fluß gegangenen Feinde entgegengehen und muß
überhaupt durch Beweglichkeit in der Vertheidigung die anfängliche Ungleichheit
der .Kräfte zu ersetzen und jede Blöße, die sich der Feind bei seinem Haupt¬
übergang, eine im Angesicht des Feindes immer etwas gefährliche Operation,
geben sollte, mit Blitzesschnelle zu benutzen suchen. — Pavia, in dem Winkel
gelegen, den Po und Ticino bei ihrer Vereinigung bilden, ist für die östreichische
Armee wichtig und muß wegen der Deckung Mailands gehalten werden, was,
obschon es nur eine offne Stadt ist bei der festen Bauart italienischer Städte
für einige Tage nicht unmöglich sein wird. Den weiteren Lauf des Po deckt
Piacenza, wo Oestreich bekanntlich das Besatzungsrecht besitzt und wo durch
einige, einem unvollendet gebliebenen Befestigungssystem angehörende Forts
eine Art Brückenkopf am rechten Pouser gebildet wird, der den Uebergang
an diesem Punkt zu sichern geeignet sein dürfte. Am rechten Flügel der öst¬
reichischen Stellung könnten Diversionen, welche die piemontestsche Armee
das Gebirge zwischen den Seen versuchen würde, in kurzer Zeit kaum vo»
entscheidenden Folgen begleitet sein. Die Besatzung des Castells in Mailand,
so wie eine daselbst zurückgelassene Reserve würden Mailand bis zur Ankunft
anderer Truppen nicht nur gegen jeden Handstreich sichern, sondern, wie bemerkt,
auch Ausstandsversuche der Bevölkerung zu unterdrücken im Stande sein.
Will der östreichische Feldherr sich mit einem Theil seiner Truppen
nicht der Gefahr aussetzen, am Ticinv geschlagen zu werden, und dann
den Rückzug über Mailand nehmen zu müssen, sondern zieht er es vor. dem
Feind einiges Terrain einzuräumen, um ihn dann mit vollkommner Aussicht
auf Erfolg anzugreifen; oder treten andere Umstände ein, welche Oestreich
Zwingen, die Lombardei aufzugeben, oder wird endlich die Ticinolinie von der
piemontesischen Armee forcirt, und die östreichische Armee zurückgedrängt, so
findet diese noch eine zweite bessere, d. i. jene Aufstellung. in welcher sie schon
einmal ganz Italien Widerstand leistete. Gegen eine von dem Süden etwa
ausgehende Bewegung ist Oestreich durch die Besatzungen einiger Punkte
der päpstlichen Staaten wie Ferrara. Bologna gedeckt, weiche hauptsächlich
dadurch die Stellung Oestreichs zu verstärken geeignet sind. weil sie den Herd
der revolutionären Umtriebe aus dieser Seite von der Grenze mehr entfernt
halten. Venedig, von einem Gürtel in weitem Umfang angelegter Werke um¬
geben, unter denen nur eine mäßige Zahl bedeutender ist. hat einen hohen
strategischen Werth für die Operationen einer Landarmee, welche dort ihre
Verbindung mit dem Meere, ihre Magazine, Depots und Marineetablissements ge¬
sicherter hat, als es in einem gewöhnlichen Seeplatz der Fall wäre, der nicht
so wie Venedig durch die Lage auf den Lagunen fast unnahbar ist. Venedig
Un feindlichen Besitz, würde die Verbindungen der in Italien stehenden Armee
auf das höchste gefährden, und diese zu einer langwierigen Blockade auf der
Landseite zwingen; es darf daher unter keiner Bedingung der Jnsurrection
"der einem von der Seeseite angreifenden Feind überlassen werden. Der
letzte in der Reihe der festen Plätze des lombardisch-venetianischen Königrei¬
ches ist endlich Palmanuova. eine kleine Festung, auf der Straße von Görz
'n das Veneticurische gelegen. Zwischcnpunkt und Dcpotplatz ans der Straße
aus den innern Provinzen, welche von dem Nachschub an Ergänzungen, Ver¬
stärkungen u. s. f. meist eingeschlagen zu werden pflegt.
Fassen wir die Bedeutung der Festungsgruppe näher in das Auge, von
welcher wir sagten, daß sie der Hauptstützpunkt der östreichischen Stellung in
Italien sei. so werden wir finden, daß dieselbe auch einer schwächeren Armee
d'e Möglichkeit bietet, in ihrem Schutze einen Angriff, der von Westen oder
Süden kommen sollte, abzuwarten und den Feind hier so lange aufzu¬
halten, bis es die Verhältnisse wieder möglich machen, aus der Defensive in
^ne kräftige Offensive überzugehen, um den Feind aus dein eigenen Gebiet
hinauszuwerfen. Eine Armee, welche zwischen den Flüssen Etsch und Mincio auf
d'e Festungen gestützt eine Stellung einnimmt, versperrt einer sardinischen oder
^nzösischm Armee nicht nur den directen Weg aus Italien nach den deutschen
Provinzen Oestreichs, sondern beherrscht auch die Straße nack Tirol und
sichert somit die so wichtige Verbindung mit Deutschland. Diese Festungs¬
gruppe, in einem Terrain gelegen, welches am Fuße der Gebirge von drei
bedeutenden Flüssen, Po. Mincio und Etsch durchflossen wird, besteht aus fol¬
genden Plätzen, welche wir in allgemeinen Umrissen zu skizziren versuchen
wollen.
Den Kern des Systems bildet Verona, auf beiden Ufern der Etsch, nahe
der Stelle gelegen, wo diese aus dem Gebirge tritt, eine starke Festung, deren
einzelne Theile aus den verschiedensten Epochen, theilweise noch aus dem
Mittelalter stammen; das Meiste jedoch von dem jetzt noch Bestehenden wurde
erst in diesem Jahrhundert, in der nachnapoleonischen Zeit gebaut. Der Plai)
erhielt seine wahre Stärke durch das im Jahre 1848 am rechten Etschufer im
Drange der Ereignisse begonnene und seitdem vervollständigte verschanzte
Lager, welches von einer Kette großer detachirter Forts gebildet wird,
die im permanenten Stil ausgeführt, auf dein bekannten Plateau von Santa
Lucia sich hinziehn und beiderseits an den Fluß anschließen. Am linken Ufer
läuft die Umfassung des Platzes um die sogenannte Veronena herum und
schließt das citadellartige Castell mit ein; die diesem vorliegenden, Einsicht
nehmenden Anhöhen sind mit vorgeschobenen Werke besetzt; ein verschanztes
Lager für 50.000 Mann wird auf diesem Ufer auch projectirt, um die Wirk¬
samkeit des Platzes gegen diese Seite zu vervollständigen, von welcher unter
den Umständen, die jetzt hauptsächlich in das Auge gefaßt worden, keine Ge¬
fahr zu befürchten ist. Verona, als der militärisch wichtigste Punkt Oberitaliens
von Oestreich gewürdigt, alle Depots, Magazine der italienischen Armee ent¬
haltend, Sitz der Militärbehörden, ist auf diese Art ein großer moderner
Manvvrirdepotplatz, genügend stark gegen einen regelmäßigen Angriff, und
ebenso sähig einer Armee, die ihren Rückzug hierher genommen hat, die Gelegen¬
heit zu geben, sich zu erholen, zu verstärken, und von hier aus gegen den
Feind zu manövriren, oder denselben doch vor dem Platze festzuhalten. Durch
seine günstige Lage in der Nähe des Debouches der aus Tirol kommenden
Hauptstraße vertheidigt es endlich nicht nur hauptsächlich den Weg in das Vene-
tianische, sondern in Verbindung mit den in dem Etschthal (bei Rivoli, der
Etschklause) angelegten Befestigungen beherrscht es auch die für Oestreich
außerordentlich werthvolle Communication nach Tirol.
Mantua. durch seine Lage an einer seeartigen Erweiterung des Mincio
und in einem Terrain, welches vollkommen überschwemmt werden kann, se^'
fest und fast nur durch Aushungerung zu nehmen, ist der zweitwichtigste Plaß
des Festungssystems. Wiewol eben die Unnahbarkeit des Platzes auch sei^
Offensivwirkung lähmt, indem ein Debouchiren aus demselben ziemlich er>
schwere ist, so kann doch der Werth Mnntuas nicht genug geschätzt werden-
^kein hüte es schon ein der Garnison überlegenes, zur Einschließung ersorder-
uches Corps vor sich fest; für die auf die Defensive beschränkte eigne Armee.
Kelche im Schutz des großen verschanzten Lagers bei Verona vorausgesetzt
wird, bietet aber Mantua einen gesicherten Uebergangspunkt über den Mincio
und die Möglichkeit, sich in den Offensivopcrationen gegen die feindlichen, zwi¬
schen dem Mincio und der Etsch befindlichen Streitkräfte auf diese Festung zu
basiren, von dort aus im Verein mit der innern, ziemlich bedeutenden Garni¬
son Mcmtuas die Stellung des Feindes in der Fronte zu fassen. Die Kriegs¬
begebenheiten des Jahres 1848 zeigen, wie ein geschickter Feldherr diese Fe¬
stungen zu benutzen vermag; wir erwähnen nur noch, daß seit 1849 die
Dichtigkeit des Festungssystems zur Verstärkung der militärischen Stellung
Oestreichs immer mehr anerkannt wird, und dasselbe seitdem eine Vollendung
Edicte, welche es befähigt, wirklich der Haltpunkt der östreichischen Herrschaft
Italien zu sein.
Peschiera, der dritte Platz unserer Festungsgruppe, eine kleine Festung
dem Austritt des Mincio aus dem Gardasee, ist als Uebergang über den
Mincio, der übrigens an sehr vielen andern Stellen leicht zu passiren ist,
^um zur Beherrschung des Sees und der Straße nach Tirol (Trient) einiger¬
maßen wichtig, doch aus die Kriegsoperationen schwerlich von entscheidenden
Einfluß. In den letzten Jahren hat man es durch einige detachirte Forts
verstärkt, die im Halbkreis beiderseits an den See sich anlehnend angelegt
send und ein kleines verschanztes Lager bilden; dies ermöglicht, daß ein Theil
^r Armee bei dem Rückzug über den Mincio sich in dasselbe zieht, um von
^ aus gegen den Feind zu manövriren und ihn in seiner Flanke zu be-
^"hen, wcmri er an Peschiera vorbeigehn sollte, oder ihn schon vor Peschiera
^stzuhalten. Ob es aber ganz rathsam ist, die operirende Armee in die
^uzelnen verschanzten Lager zu vertheilen, statt sie in Verona concentrirt
"ud zu einem großen Schlage bereit in der Hand zu behalten, ist sehr
^ Zweifel zu ziehn; der Werth des verschanzten Lagers bei Peschiera dürfte
'es also nur auf den momentanen Schutz beschränken, den es der eig¬
nen innerhalb des Festungsvierecks manövrirenden Armee zu bieten geeignet
1 ' und daß es den Feind zu einer Vermehrung seiner Belagerungsarbeiten
Zrvingt.
Der vierte Platz des veroneser Festungssystems ist Legnago, an der Etsch,
e was unterhalb Veronas, der unbedeutendste und schwächste Punkt der Gruppe,
un Verein mit Peschiera ein Beleg, wie wenig nütze die zahllosen kleinen Plätze
! welche unsere Vorfahren auf Stellen hinbauten, an denen sie häusig sehr
erflüssig waren. In der jetzigen Kriegführung sind nur große Plätze, wie
^'ora, von Bedeutung und von entscheidenden Einfluß. Legnago wird bei-
behalten, weil es eben daist, allein es ist ein werthloser Platz, selbst in Ver¬
bindung mit den drei vorhergenannten Festungen wenig brauchbar. Es gibt
wol einen gesicherten Uebergang über die Etsch, es kann jedoch ein solcher
eine Meile ober- oder unterhalb der Stadt mit der größten Leichtigkeit ge-
Wonnen und derselbe mittelst Feldschanzen zu einem Brückenkopf gestaltet wer¬
den, der sür die Dauer des Feldzugs bessere Dienste leistet als Legnago. Dieses
selbst ist einen kräftigen Angriff auszuhalten kaum im Stande; übrigens welcher
Feind könnte Mantua, so wie Verona bei Seite lassen, um Legnago zu nehmen-
Sind aber Mantua und Verona gefallen, so ist auch Legnago. sowie ganz
Italien verloren. Bei Verona ist also die Entscheidung über den Besitz Ober¬
italiens auszukämpfen; der Feind muß die östreichische Armee in dem ver¬
schanzten Lager vor Verona aufsuchen, diese dort schlagen, Verona und
Mantua nehmen — eine für die piemontesische Armee gewiß nicht allzuleichte
Aufgabe.
Es erübrigt noch, den dritten, für die Behauptung der Stellung Oestreichs
in Italien jedenfalls gefährlichsten Fall zu betrachten, daß Oestreich in Italien
einem Volksaufstand, der nicht nur von Piemont, sondern auch von Frankreich
unterstützt würde, entgegenzutreten hätte. Es setzt dieser Fall, wie wir die
Dinge hier auffassen, einen allgemeinen europäischen Krieg voraus, in welchem
nicht blos Oestreich, sondern auch Deutschland gegen Frankreich stände. Es
hätte dann Oestreich in Deutschland die Aufgabe, das Donauthal zu behaupten,
während am Rhein Preußen die Hauptrolle zufiele, die Operationen der östreichische»
Armee in Oberitalien und in Deutschland müßten dann im Einklang erfolgen-
Bliebe Deutschland bei dieser Entwickelung der politischen Verhältnisse neutral,
so wäre Oestreich um so mehr darauf angewiesen und hätte auch mehr die
freie Hand hierzu, alle seine Kräfte in Italien zusammenzufassen. Es könnte dies,
da es nur hier mit Frankreich unmittelbar in Berührung kommen kann, und
sonach hier die Entscheidung des Kampfes erfolgen muß. Höchst kritisch wür¬
den sich die Verhältnisse sür Oestreich gestalten, wenn die Kriegserklärung
Frankreichs an Oestreich nicht nur die italienische Emigration mit Hoffnung^
erfüllte, sondern zugleich in den übrigen Provinzen der Monarchie oder auch nur
in Serbien und der Walachei revolutionäre Bewegungen hervorriefe,
dem es dann nothwendig sein würde nach allen diesen Seiten hin militärisch?
Vorsichtsmaßregeln anzuordnen, die nur durch Schwächung des italienisch^
Heeres zu ermöglichen wären.
Bei einem Kriege mit Frankreich hat Oestreich, da die Eröffnung desse^
den nicht so überraschend plötzlich erfolgen kann, zweifellos Zeit, seine militä¬
rischen Kräfte auf jenen höchsten Stand zu bringen, den die Verhältnisse dew
Ausland gegenüber und im Inlande gestatten. Einen von Sardinien
dem Eintreffen französischer Hilfe isolirt unternommenen Angriff, um die Lot"
beeren allein zu pflücken, würde Oestreich, wie wir bei Betrachtung des vori¬
gen Falles gezeigt zu haben glauben, zurückzuweisen im Stande sein. Oest¬
reich kann sogar seine Macht zeitig genug am Ticino concentriren, um dem
französischen Heer entgegenzugehen und den Krieg in das piemontesische Ge¬
biet hinüberzuspielen, und es würde sich dann das Schicksal des Krieges in
den Ebenen Piemonts entscheiden, wo schon so viele Schlachten zwischen Oest¬
reich und Frankreich geschlagen worden sind. Will sich aber Oestreich in Ita¬
lien nur auf eine kräftige Defensive beschränken, oder ist es im Fall eines
unglücklichen Ausganges seiner Offensive gezwungen zurückzugehn, so findet es
in dem Festungsviereck Verona, Mantua, Peschiera, Legnago eine Stütze, und
es wird dieses seinen Werth bewähren, die östreichische Armee wird un¬
ier diesen Umständen jenen großen Nutzen daraus zu ziehn im Stande sein,
den ein wohldurchdachtes Festungssystem zu bieten fähig ist. Innerhalb des
Raumes von einigen Quadratmeilen, den die vier Festungen einschließen, be¬
findet sich die Armee wie in einem Bollwerk, das ihre Stärke verdoppelt, frei
und sicher in allen ihren Bewegungen, stets im Besitz der innern Operations¬
linie, während der Feind sich auf dem äußern Umfang eines Kreises bewegen
"ob, dessen Mittelpunkt die Vertheidigungsarmee einnimmt. Das feindliche
Heer wird durck diese Stellung gefesselt und verliert dem Vertheidiger gegen¬
über alle seine bisherige Überlegenheit; greift es eine der Festungen an, so
Uluß es die Belagerung durch Corps gegen Unternehmungen der in dein Rayon
der Gruppe befindlichen feindlichen Armee schützen, und da die zwei Haupt¬
plätze des Systems, Mantua und Verona, nie vollständig eingeschlossen wer¬
den sonnen und immer nach der einen Seite hin ihre Verbindung offen be¬
halten, so hat der Angriff wenig Aussicht, den einen oder den andern der
Plätze bald zum Fall zu bringen. Oder greift die vom Westen gekommene
^Mee die östreichische im verschanzten Lager selbst an. so hat letztere alle
^theile für sich
unter die Kanonen einer Festung ersten Ranges zu bieten vermag.
ii>'^nzn»Kölet^'^i.'-
Zwei Entwürfe: „Lu^e <lui8<iun! k01tun.1v kadsr" und „Leinxor üm-va-t
al-elüteeturu", denen als dritter im Bunde der Plan: „Lini voluere kirtg." an¬
zureihen wäre, gehören der dresdner Schule an. Gründer und Meister dieser
Schule ist Gottfried Semper, von dessen Berufung nach Dresden im Jahre
1834 dieselbe datirt. An Stelle der Wcinbrennerschen Schule,'die bis dahin
die herrschende in Dresden gewesen, legte Semper seinen Schöpfungen den
Renaissancestil zu Grunde. Die gewonnene Ueberzeugung, daß der Renais¬
sancestil als der architektonische Ausdruck einer unseren Tagen geistig ver-
wandten Zeit auch den Ausgangspunkt für die modernen Bestrebungen bilden
müsse, wird ihn hierbei geleitet haben.
Die Renaissance erscheint als das architektonische Resultat jener in der Früh-
zeit des 15. Jahrhunderts vollzogenen Sinneswandlung, die sich gleichmäßig
über alle Gebiete des Lebens, über Kirche und Staat, Wissenschaft und Kunst
erstreckte. — Das Mittelalter war eine Zeit des unvermittelter Gegensatzes einer
rohen, gewaltsamen Sinnlichkeit auf der einen, eines überschwenglichen, welt¬
vernichtenden Spiritualismus auf der andern Seite. Im ruhelosen Kampfe
bäumte sich die niedergetretene Natur gegen die Herrschaft eines in starrer Ob¬
jektivität sich selbst äußerlich gewordenen Geistes auf, ohne daß das Zeitalter
in sich selbst die Kraft zur Ueberwindung dieses Dualismus gesunden hätte.
Der dem germanischen Geiste ureigene Individualismus tritt in Widerspruch
theils mit sich selbst, theils mit dem Staat. In freier, genossenschaftlicher
Vereinigung sucht er die Macht zu energischer Vertretung gleicher Interessen
zu gewinnen, in Mönchswesen, Ritterthum und Zünften. Der Staat selbst
aber baut sich solcher Gestalt aus einzelnen freien Gliedern aus, die, weil
ohne einheitliche Staatsgewalt, im permanenten Kampfe aufeinander pralle».
„Ueberal! finden wir den Geist des Individualismus in seiner mächtige»'
gruppenbildenden, isolirenden Thätigkeit, stets neu und unerschöpflich in seine»
Gestaltungen. Aber diese Gruppen stehn dem tiefer Blickenden nicht lose u»d
vereinzelt nebeneinander. Ein gemeinsames Bewußtsein, dasselbe Gcsammt-
ziel verbindet die scheinbar Getrennten nur um so inniger, und über das Ge¬
wirr luftig und kühn aufsteigender Glieder und Theile legt sich vor allem l»
imposanter einheitlicher Ruhe wie ein schirmendes Dach die Kirche." Seinen
vollendetsten Ausdruck, seine höchste künstlerische Verklärung fand der mittel¬
alterliche Geist in der gothischen Architektur. „Je weniger das Mittelalter in
seinen mannigfachen Lebensäußerungen zu einem befriedigenden, festen Ab¬
schlüsse gelangte, je spröder sich unter dem Kampfe die geschilderten Gegen¬
sätze, die verschiedenen Elemente zueinander verhielten, um so bedeutsamer
gestaltete sich das architektonische Schaffen. Daß eine Zeit wie jene, voll sub-
jectiven Gefühles, aber auch voll inneren Widerstreites, gerade in der Archi¬
tektur am meisten Gelegenheit fand, ihrem kühnen aber dunklen Ringen einen
Ausdruck zu geben, liegt nahe." „Frei und unabhängig von den Gesetzen der
organischen Natur wandelt sie ihren eignen Weg nach eignen Gesetzen." Allen
früheren Bauweisen diametral entgegen löste der gothische Stil „die strenge
Mauerumgürtung, welche bei allen früheren Stilen den Innenraum umschloß
und in deren künstlerischer Durchbildung sich der Geist der verschiedenen
Bausysteme offenbarte; statt der Mauer ordnete er eine Anzahl vereinzelter
Pfeilcrmassen an, welche nur durch dünne Füllwände zum Theil ver¬
bunden, den Nahmen für die ungewöhnlich großen und weiten Fenster ab¬
geben und dem Bau den Charakter eines ungeheuren Glashauses verleihen.
Dasselbe Gesetz macht sich auch bei Ueberdeckung der Räume geltend. Diese
werden durch ein System kräftiger Gewölbrippen geschlossen, zwischen welche
"is leichte Füllungen dreieckige, dünn gemauerte Kappen eingespannt sind.
An diesem Streben, die Massen aufzulösen, die Einheit des Baues in eine
Anzahl freier selbstständiger Einzelglieder zu zerlegen, den Horizontalismus,
diese unerläßliche Grundbedingung der Architektur, zu verleugnen und durch
einen extremen Verticalismus zu verdrüugcn. ja den Gesetzen der Natur
gleichsam zum Trotz, durch einen aus die äußerste Spitze getriebenen Calcül
ein wie durch ein Wunder aufschießendes Bauwerk hervorzuzaubern, in dieser
ganzen schrankenlosen Vergeistigung der Materie kommt der naturfcindlichc
Spiritualismus des Mittelalters zur architektonischen Erscheinung. In dieser
Hinsicht ist der gothische Stil unbedingt die Spitze der mittelalterlichen Bau¬
entwicklung. Er spricht die erdverachtendc Ueberweltlichkeit jener Epoche in
glänzendster Consequenz. aber auch in schroffster Einseitigkeit aus."
Das Mittelalter hat sonach das vollbracht, was die Antike zu erreichen
"icht vermochte: die Ueberwindung der Schranken, die das Material der freien
Überspannung beliebiger Raumgrößen setzte, im Gewölbebau. Und hierin
baben wir das Dauernde und Giltige der mittelalterlichen Baukunst zu suchen,
^scheint nun aber.der gothische Stil als der vollendetste Ausdruck des christ-
l'es-mittelalterlichen Geistes, so muß das Formenwesen jenes Stils, in dem
sich eben jener mittelalterliche Geist aussprach, ein nur dem Mittelalter ent¬
sprechendes, angehöriges sein; denn es ist das einseitige Spiegelbild einer ein-
fertigen Geistesrichtung. Die Höhe und Größe einer Tektonik erkannten wir
aber darin, daß sie auch dem rohesten Naturstoff ein höheres Sein, ein kos¬
misches Leben einzuhauchen wisse. Jene Formensprache hat das Mittelalter
nicht gefunden; „dem Mechanismus fehlt die Spiegelung der ewig wahren
Natur.". Die hellenische Kunst, im Monolithenbau befangen, schuf eine voll¬
endete, ewig giltige Formensprache, die mittelalterliche Kunst überwand die
Materie im Gewölbe, ohne jedoch über einen conventionellen Schematismus
hinauskommen zu können. Die Verklärung des Gewölbebaues durch eine
auf dem hellenischen Princip ruhende Formensprache, das ist die Aufgabe der
modernen Baukunst.
Das Bestreben aber. das neuerdings mit so großer Prätension aufgetre¬
ten ist, die gothische Kunst als solche für unsere baulichen Zwecke wiederzu-
erwecken, muß als ein durchaus abenteuerliches mit aller Entschiedenheit zurück¬
gewiesen werden. Wenn wir in der Versöhnung von Geist und Natur das
Princip des modernen Ideals finden müssen, werden wir unmöglich den archi¬
tektonischen Ausdruck dieses Ideals in einer Bauweise suchen können, die ihrer
innersten Wesenheit nach auf dem Widerstreit beider beruht. Wol vermögen
wir es, uns vermittelst der Reflexion jenen mittelalterlichen Geist begreiflich
zu machen, nun und nimmer aber in jenem Geiste selbstschöpferisch thätig zu
sein. Erlosch aber schon gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts jene Flamme
hinreißender Begeisterung, übermächtigen Spiritualismus', welche die leben¬
dige Seele des gothischen Stils ist. und verfiel eben darum der gothische Stil
unaufhaltsam und unwiderruflich seiner Auflösung, so wird eine Wiederbelebung
desselben um so weniger gelingen können, als die Zeit seiner Auflösung eben
diejenige war. die das moderne Ideal ins Dasein rief. — Die patriotischen
und praktischen Gründe aber, mit denen die Vorkämpfer für gothische Bau¬
weise Proselyten zu machen suchen, können nur als haltlose Scheingründe
bezeichnet werden. Denn wenn schon die Gothi? in Deutschland ihre
consequcnteste. darum aber auch einseitigste Ausbildung erhielt, so ge>
hört sie doch ihrem Ursprung nach, nicht Deutschland, vielmehr Frankreich
an. Ob aber, in architektonischer Beziehung, Werke wie die Kathedrale
von Rheims ohne weiteres deutsch-gothischen Bauten unterzuordnen sind, das
ist eine Frage, die nur der voreilig bejahen möchte, der jene Monumente
gar nicht oder doch nur durch die gefärbte deutsch-gothische Brille gesehen hat-
Was nun jene praktischen Gründe betrifft, um deretwillen man uns die
Gothik anpreist, so finden wir zwar die horizontale Gliederung nach einem
steilen Winkel abgeschrägt, auch mit tiefen Unterscheidungen und Einkchlungen
versehen, können aber hierin nur eine Consequenz des verticalen Stilprincips
erkennen, um so mehr, als jene Abschrügungen und Unterschneidungen auch im
Innern und hier doch wol nicht aus Rücksicht auf das nordische Klima an'
gebracht sind. Daß es der Gothik nicht darum zu thun war, klimatischen
Erfordernissen Rechnung zu tragen, das beweisen die unzähligen Einzelglieder
wie ihren Thürmchen und Giebeln. Spitzen und Blumen, in die der gothische
Bau sich auflöst, die ohne schützendes Dach in ihrer endlosen Zerklüftung dem
unvermeidlichen Verderben entgegenstreben. Durchbrach man doch selbst, ohne
auch nur die mindeste Rücksicht auf Zweckmäßigkeit und aus die Natur des
Materials zu nehmen, den steinernen Thurmhelm nach geometrischen Mustern,
dnn zerstörenden Einfluß der Witterung eine willkommene Stätte bereitend.
Ob aber der gothische Stil in dem auf dem künstlichsten Gleichgewicht der
Gegensätze beruhenden, hart an die Grenze des technisch Möglichen streifenden
Bogen- und Pfeilerbau Zweckmäßigkeitsrücksichten erfüllt oder auch nur ver¬
sagt, möchten wir um so mehr bezweifeln, als durch das Schadhaftwerden
eines baulichen Gliedes, das überdies durch seine Formation gutem provocirt
^u-d, die Existenz des ganzen Organismus in Frage gestellt ist. Der Brand
^s Dachstuhls hat schon oft die ganze Kirche in Trümmer geworfen. Daß
^es aber die Gothik zu Ermöglichung ihrer steinernen Effecte des haltenden
Und klammernden Eisens bedienen muß, darf hier um so weniger verschwiegen
^den. als eben das Eisen durch Oxydation zum gefährlichsten Gegner des
Steines wird.
Die freie Naumüberdeckung im Gewölbebau war die technische Errungen¬
schaft des Mittelalters. Den Bogen- und Gewölbebau hatten wir aber schon
"ben als ein unerläßliches Moment der monumentalen Baukunst erwiesen,
^kennen wir aber im gothischen Spitzbogen den bedeutendsten Factor zur
Verwirklichung des mittelalterlichen Baugedankens, so sind wir doch weit me-
s^'ut. in ihm die absolute Vollendung des Wölbprincips finden zu wollen.
Spitzbogen ist jener rücksichtslose Berticalismns gegeben und bedingt,
^ wol das nothwendige Ergebniß der mittelalterlichen Geistesrichtung, darum
""er auch der zweifellose Ausdruck jener schroffsten Einseitigkeit geworden ist.
^er Rundbogen dagegen gestattet, wie wir oben darzulegen bemüht waren,
nach Seiten hin eine freie, ungehinderte Bewegung; im Rundbogen
'egt aber auch das allgemeine, statisch natürliche Princip der Naumüberspcm-
^ung durch Fügung einzelner Theile ausgesprochen. Drückt sich aber im
^chitrav der Horizontalismus, im Spitzbogen der Verticalismus in seiner
2"uzen Entschiedenheit aus, so liegt im Rundbogen die Synthesis gegeben.
^ eine Verschmelzung des Giltigen und Berechtigten in beiden Stilprincipien
Abglicht. Hierin aber erkennen wir eben die Aufgabe der modernen
Baukunst.
Dauerndes aber entsteht nur im Anschluß an das Wesenhafte der Ver¬
legenheit, ein Abweichen vom historischen Boden führt zur Willkür. Darum
essen auch wir nach einem Anknüpfungspunkt suchen, um jenen mittelalter-
liehen Baugedanken der antiken Formensprache zu vermählen. Diesen An¬
knüpfungspunkt bietet uns Italien im dreizehnten, vierzehnten und fünfzehnten
Jahrhundert.
Der Landtag hat sich nun constituirt und, wenn wir die äußere Physiognomie
des Hauses der Abgeordneten ins Auge fassen, so könnten wir uns zu den schönsten
Hoffnungen berechtigt glauben. Die bisherige Opposition, bestehend aus dem Cen¬
trum, den Liberalen und den Katholiken, gebietet über eine ungeheure Majorität
des Hauses. Das Präsidium ist aus den drei Führern der drei Fraktionen zusam¬
mengesetzt, und zwar ist der Führer der Liberalen, Gras Schwerin, mit 274
Stimmen zum Präsidenten, der Führer der Katholiken, Reich ensp arger, mit 232
Stimmen zum ersten, der Führer des Centrums, Matthis, mit 217 Stimmen
zum zweiten Vicepräsidenten ernannt. Der Gcgcncandidat des Grafen Schwerin,
von Arnim-Heinrichsdorf, hat nur 39 Stimmen erhalten; aus diese Zahl ist
also die ehemalige Rechte reducirt, die im vorigen Jahr aus mehr als 20V Mit'
gliedern bestand! Das Zahlenverhältniß der drei verbündeten Fractionen ist su^
die liberale Partei sehr günstig. Wenn man die Katholiken davon aussondert, deren
Verbindung mit den übrigen eine mehr zufällige ist, so bleibt immer eine Zc>h>
von wenigstens 200 Abgeordneten übrig, die in den Principien zusammen gehören,
und die sich nur nach dem Grade der Selbstständigkeit voneinander unterscheiden,
welche sie dem neuen Ministerium gegenüber behaupten. Wenn unter den'VorsitzcN'
den der sieben Abtheilungen, in welche das Haus zerfällt, fünf der liberalen Partei,
einer den Katholiken und einer dem Centrum angehört, so drückt das wenigsten^
annäherungsweise die Stärke der verschiedenen Fractionen aus.
Wenn aber dieses Resultat allgemeine Befriedigung hervorruft, so halten w>c
es doch in politischen Dingen für nothwendig, sanguinische Hoffnungen zu bekäm¬
pfen. Die Geschichte unserer Ständeverfassung, obgleich sie erst acht Jahre umfaßt
ist doch im Ganzen wenig in das Bewußtsein des Volks eingedrungen und es dürste
daher nicht unzweckmäßig sein, aus einige Thatsachen der früheren Periode zurückzu¬
weisen. .
e
Wir lesen in den stenographischen Berichten vom 22. Novbr. 1850 folgend
Ergebniß der Präsidentenwahl. Graf Schwerin wurde mit 20!) Stimmen zu"'
Präsidenten, Simson mit 195 zum ersten, Leusing mit 197 Stimmen
zweiten Vicepräsidenten ernannt. Der Gegencandidat des Grasen Schwerin,
Arnim-Boitzenburg, erhielt 68 Stimmen, außerdem stimmten gegen ihn n^.
14 Katholiken. In seiner Antrittsrede sagte Graf Schwerin unter anderem:
geht ein fester, kühner Geist durch unser Vaterland. ... In diesem Hause werden
sich die Parteistandpunkte zu dem höheren vaterländischen Standpunkte erheben und
Deutschland wird inne werden, daß in dem großen Vaterland- eine neue Zeit ange¬
brochen ist, die Zeit der Freiheit, seitdem Preußen, dieses Land so fest gewurzelt in
Treue und Anhänglichkeit an seinen Thron, in die Reihe der verfassungsmäßig re¬
gierten Staaten eingetreten ist."
In derselben Kammer lesen wir eine u.a. vom Vicepräsidenten Simson unter¬
zeichnete Jnterpellation folgenden Inhalts:
Der Redacteur der Constitutionellen Zeitung, ein preußischer Staats¬
bürger, ist gestern aus Berlin ausgewiesen worden. „Es scheint für seine Aus¬
weisung kein anderer Grund zu bestehen, als daß man ihn als den Redacteur eines
oppositionellen Blattes hat entfernen wollen: eine Maßregel der Willkür, die um
s° auffallender ist. da die Constitutionclle Zeitung sich stets in den Grenzen gehalten
hat, welche Recht und öffentliche Sitte vorschreiben, und eine politische Richtung
vertritt, welche im Volk und in den Kammern von einer zahlreichen Partei getheilt
wird. Die polizeiliche Ausweisung des Redacteurs stellt sich unter diesen Umständen
als ein gegen die Preßfreiheit gerichteter Angriff dar, welcher gegen den Grundsatz
verstößt, daß der Mißbrauch der Presse nur durch die Gerichte zu ahnden ist; als
eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, welche selbst im Sinn der polizeilichen
Ausnahmegesetze nur gegen nahrungslose oder unsittliche, gemeingefährliche Personen
in Anwendung gebracht werden könnte."
Der Vertreter des Ministeriums des Innern, von Puttkammer, äußerte u. a.,
daß jener Redacteur (ein preußischer Staatsbürger!) sich durch Annahme
einer Aufenthaltskarte selbst in die Qualität eines Fremden gestellt habe! Er schloß
seine Auseinandersetzung mit folgenden Worten: „Der dritte Punkt der Jnterpella¬
tion enthält die Frage, ob das Ministerium den jetzt versammelten Kammern einen
Gesetzentwurf über die polizeilichen Ausweisungen vorzulegen beabsichtige. Die An¬
sichten der Herren Minister sind in dieser Beziehung nicht definitiv festgestellt und
'es kann mich in diesem Augenblick nicht bestimmt aussprechen; ich muß aber glau¬
ben, daß es nicht der Fall sein wird, weil es so viele wichtige und dringende Dinge
S'de, über welche Gesetzvorlagen nothwendig sind, daß dieser Gegenstand, der schon
durch Gesetze begründet ist. zunächst keiner legislatorischen Maßregel bedürfen wird."
Damit war nach dem Wortlaut der Geschäftsordnung die Sache vorläufig
^ledige. Mit Bezugnahme auf denselben Fall nahm man am 15. Januar 1851
den Antrag des Abgeordneten Simson auf sofortige Vorlage der provisorischen
Verordnung über die Presse vor. der am 2. Decbr. gestellt war. Von Seiten der
"beraten Partei wurde sehr lebhaft dafür gekämpft. Auf den Antrag des Abgeordneten
^eppcrt dagegen ging die Kammer mit 166 gegen 127 Stimmen zur Tagesordnung
"ber. Zur Minorität gehörten unter andern Graf Schwerin und Simson.
Der Grund, warum wir auf diese alte Thatsache hinweisen, ist leicht ersichtlich.
Das Centrum, welches damals über die Majorität entschied, stimmte in den Prin¬
zen mit der liberalen Partei im Wesentlichen überein, und drückte diese Ueberein¬
stimmung auch bei der Präsidentenwahl aus; sobald es aber darauf ankam, eine
sreiheitsfeindlichc Maßregel des Ministeriums offen zu bekämpfen, stimmte es für das
Ministerium, fest überzeugt, durch ein entgegengesetztes Verfahren demselben Verlcgcn-
seit zu bereiten und dadurch die Bildung einer reactionären Regierung zu befördert
So ging man Schritt für Schritt weiter, unter fortwährenden Seufzern und Ver¬
sicherungen seiner guten Gesinnung, bis endlich 1855 auch im Landtag die streng
reactionäre Partei, dieselbe Partei, die 1850 nur über K8 Stimmen verfügte, und
die heute auf 39 herabgesunken ist, die Führung übernahm.
Freilich ist heute die Lage besser. Wir können dem heutigen Ministerium mit
mehr Vertrauen entgegenkommen, als dem Ministerium vom November 185V.
Aber es handelt sich eben doch vorläufig nur um Vertrauen d. h. um eine un¬
bestimmte Vorstellung, denn ein klares Bild von seiner künftigen Haltung hat das
neue Ministerium noch nicht gegeben. Nun ist unter den Mitgliedern der Majorität
eine nicht kleine Zahl, welche sich ihr Verhältniß zum Ministerium Hohenzollern
ungefähr ebenso vorstellt, wie das Centrum von 1850 sein Verhältniß zum Mi'
nistcrium Manteuffel; eine Fraction, deren Glaubensbekenntnis) ungefähr durch die
„Preußische Zeitung" ausgedrückt wird. Die vorläufige Fractionsbildung stellt zwar
bessere Resultate in Aussicht, da sich um Matthis nur 41, um Schwerin über
100 Abgeordnete versammelt haben, aber das alles ist nur vorläufig, und erst
die Abstimmungen werden zeigen, was wir an den Einzelnen haben.
So arge Dinge wie 1850 werden hoffentlich nicht wieder vorkommen, aber
Uebelstände gibt es noch genug abzuschaffen, und namentlich liegen die Angelegen¬
heiten der Presse noch sehr im Argen. Jener Grundsatz, daß man einen preußischen
Staatsbürger durch Ertheilung einer Aufenthaltskarte ohne Weiteres zum Fremden
stempeln, und ihn, wenn er Schriftsteller ist, ohne Weiteres durch PolizeiverfüguNg
in seine Heimath, vielleicht in ein masurischcs Dorf an der russischen Grenze, aus'
weisen kann, jener unerhörte Grundsatz besteht noch heute fort. Noch heute würde
man Herder, sobald er unbequem wäre, ohne Weiteres aus Berlin nach Morun-
gen ausweisen können.
Also ganz abgesehen von Gcmeindegesetzen und ähnlichen organischen Einrich¬
tungen bleibt dem Landtag noch sehr viel zu thun übrig, und diejenigen Abgeord¬
neten, die überall dem Ministerium die Initiative lassen wollten, würden dem Lande
sehr schlechte Dienste leisten.
Auch das Prcßgesctz selbst bedarf einer Revision; das haben die kürzlich erfolg'
den Verurtheilung.er zweier berliner Zeitungen gezeigt. Wenn wir die Referate
richtig verstanden haben, so ist eine strenge Beurtheilung von Anordnungen der
Obrigkeit auch in dem Fall unerlaubt, wenn man mit Bestimmtheit voraussehe»
kann, daß sie in der nächsten Zeit durch eine besser berichtete Obrigkeit werden ni»f'
gehoben werden. Das preußische Prcßgcsetz hat manche Vorzüge vor den Prcßge'
setzen anderer deutschen Länder, aber dieser Punkt widerspricht doch dem Begriff jed^
naturgemäßen Entwickelung, da die Uebelstände der bestehenden Zustände der Pre^'
nothwendig früher in die Augen springen, als der Legislatur.'
Werfen wir noch einen Blick auf die Zusammensetzung des Hauses der Abge
ordneten. Den Stamm bilden 10K Grundbesitzer; in einem nicht ganz richtiges
Verhältniß schließen sich 27 Kaufleute und Fabrikanten, 9 unabhängige Privatleute
an. Sehr stark ist die Justiz vertreten: neben 95 Justizbcamtcn ist die Zahl d-r
41 Regierungsbeamten, 28 Landräthe und 19 Communalbcamtcn in dem richtig^
Verhältniß. 10 katholische, 6 protestantische Geistliche, 4 Professoren, 4 Lehrer und
3 Aerzte geben eine ziemlich spärliche Vertretung des Gelehrtenstandes. Von diesen
Abgeordneten sind 183 seit Feststellung der Verfassung noch nicht in den Kammern
gewesen. 19 polnische Abgeordnete gehören nach der officiellen Erklärung keiner
Partei des preußischen Staatslebens an, sondern beschränken sich auf die Vertretung
der Interessen ihrer Provinz. Je entschiedener wir der Ansicht sind, allen poli¬
tischen Träumereien der Polen entgegenzutreten, desto wichtiger scheint es uns. ihren
gerechten Anforderungen Rechnung zu tragen, damit wir mit gutem Gewissen ein
sie die Forderung stellen können, sich als preußische Staatsbürger zu betrachten, gleich¬
viel ob sie diese Forderung erfüllen oder nicht. Die bisherige katholische Fraction geht
wol. seit der preußische Staat als ein paritätischer anerkannt ist, einer Neubildung
entgegen, was wir schon im Interesse der katholischen Kirche wünschen, da es für
diese kein günstiges Vorurtheil erweckt, wenn sie durch 50 gegen 300 vertreten wird.
Was die reactionäre Partei betrifft, die ehemalige Rechte, fo hat sie in der neuen
ausführlichen Rundschau, in der Predigt Hcngstenbcrgs und in dem Streit zwi¬
schen Wagen er und Mone über das neue Gcscllschaftslerikon einige interessante
Kundgebungen von sich ausgehn lassen, auf die wir ausführlich zurückzukommen
gedenken. Vorläufig sind ihre gefährlichsten Mittelpunkte das Herrenhaus und die
Lcmdrathsämtcr, und es ist uus noch nicht ganz deutlich, wie diese Klippen bei der
Entwickelung unserer Verfassung umschifft werden können. Weit geringere Schwie¬
rigkeiten bietet das Institut des Obcrkirchcnraths, das in seine natürliche Grenze
zurücktreten wird, sobald die bürgerlichen Einrichtungen eine zweckmäßige Grundlage
"halten.
Die Thronrede verräth wieder den edlen Sinn des Prinzen, ohne in politischer
Beziehung etwas wesentlich Neues zu bieten. Es hat uns gefreut, daß von den
deutschen Herzogtümern des Königreichs Dänemark die Rede ist, da wir unter die¬
ser Bezeichnung auch Schleswig verstehen. Mit Recht haben die holsteinischen Stände
sich nicht auf ihre localen Beschwerden eingeschränkt, sondern auf ihren Zusammen¬
hang iM Schleswig hingewiesen. Zwar wird man in Dänemark auf diesen Hin¬
weis keine Rücksicht nehmen, aber daraus kommt es eben um. daß kein voreiliger
Kompromiß eingegangen wird, bis eine günstigere europäische Constellation uns erlaubt,
^Uf den Kern der Sache, auf eine Revision des londoner Protokolls einzugehn.
In dieser Beziehung könnten sich schon jetzt die östreichischen Blätter ein großes
Verdienst erwerben. Wenn sie sich jetzt fortwährend über Preußen sehr schmeichel¬
est ausdrücken und uns auffordern, die alten Zmistigkeiten zu vergessen-, so sind
wir mit diesem Wunsch ganz einverstanden, aber es handelt sich nicht blos um
^te. der Geschichte angehörige Zmistigkeiten, sondern um Uebelstände. deren Folgen
"°es fortdauern. Oestreich hat uns mit Hilfe seiner Verbündeten, namentlich Nuß-
^nds, in den schimpflichen Vertrag von Olmütz getrieben, dessen Hauptpunkte
waren, daß Schleswig-Holstein an Dänemark, Hcssenkasscl an Hassenpflug ausgeliefert
^"rde. Oestreich hat bis jetzt noch nichts gethan, diese Versündigung an der deut¬
schen Ehre wieder gut zu machen. Wenn Oestreich jetzt in der festen Hoffnung
^'t. daß in der italienischen Verwickelung, deren Aussichten seit der letzten Woche
durch die Thronrede des Königs von Sardinien und die Verlobung des Prinzen
^apolcon sich keineswegs aufgehellt haben. Preußen der blinde Schildträger der
östreichischen Politik sein werde, so ist das wenigstens naiv. Erst bethätige Oestreich
seine deutsche Gesinnung, es verfechte mit Preußen gemeinschaftlich die Rechte der
deutschen Herzogtümer gegen Dänemark und es lasse von den kleinen Intriguen
gegen Preußen in Deutschland ab, dann wird ein für beide Theile fruchtbares
Altes und Neues aus den Ländern des Ostens. 2. Bände. Von
Onomcmdcr. — Hamburg, Perthes, Besser und Maule. 1859. — Schilderungen einer
Reise durch einige Theile Indiens, Aegyptens und Kleinasiens, vermischt mit ge¬
schichtlichen Abhandlungen: über den Aufstand in Bengalen, über den Kampf Mehe-
med Alis mit der Pforte u. a. Eigentlich Neues vermochten wir mit Ausnahme einer
Anzahl entschiedener Unrichtigkeiten in dem gutgemeinten Buche nicht zu finden,
wol aber trafen wir auf manches Veraltete, was darauf hinweist, daß der Ver¬
fasser seine Reise schon vor geraumer Zeit gemacht hat. Ein besonders gutes Auge,
und die Gabe, das Gesehene so wiederzugeben, daß der Leser sich vor den Gegen¬
stand versetzt findet, treffen wir bei ihm auch nicht, und so wird sein Buch Andern
schwerlich die Befriedigung gewähren, die es ihm gewährt zu haben scheint. —
Südafrika. Geschildert durch die neuesten Entdcckungsrcisenden. Herausge¬
geben von Karl Andrae. — Leipzig, Verlag von C. B. Lorck. 1859. — Der erste
Theil eines auf vier Bände berechneten Werkes über Afrika, welches das enthalten
wird, was die Entdeckungsreisen der letzten achtzig Jahre in Betreff dieses Welttheils
erschlossen haben. Hier erhalten wir einen Auszug aus dem bekannten Werke Li-
vingstones über die Landschaften des innern Südafrika, an welchen sich Mittheilungen
über Madagaskar, wir vermuthen nach dem Buche von Ellis, knüpfen sollen. Dann
wird der Herausgeber die Länder der Westküste, Guinea, die Gegenden am Niger
und die Reiche der Fcllatah nebst Bornu schildern. Hierauf gedenkt er eine Beschrei¬
bung der Osthälste des Erdtheils, Aegyptens, Nubiens, Abyssiniens, der Striche «M
rothen Meer und am indischen Ocean, und zuletzt eine Uebersicht von Nordafrika
und der Sahara zu geben. Wir behalten uns eine ausführliche Besprechung für
die Zeit nach Erscheinen der ganzen Kompilation vor und bemerken nur noch, daß
jedem Band eine Karte beigegeben werden soll. —
Nordische Reise. Sommer- und Wintcrbildcr aus Schweden, Lappland
und Norwegen. — Leipzig, Voigt u. Günther. 1858. — Der Verfasser hat sich durch
ansprechende Schilderungen indischer und afrikanischer, centralamcrikanischer und an¬
derer Landschaften einen guten Namen gemacht, und auch diese Reise liest sich
angenehm, als es die dürftige Natur der in ihr beschriebenen Gegenden erlaubt-
die Mittheilungen ganz zuverlässig sind, ob nicht bisweilen auch hier, wie in
der Tour durch Aegypten und Nubien Flüchtigkeiten und Verwechselungen der Wahr¬
heit mit der Dichtung vorkommen, lassen wir dahingestellt. Es gibt liebenswürdige
^ente, denen man das nicht zu hoch anrechnen darf, und der Verfasser selbst macht
wol mehr Anspruch darauf zu unterhalten, als zu belehren. —
Eine Reise durch die neapolitanische Provinz Basilicata. Von
5>r. E. W. Schnarf. — Se. Gallen. Scheitlin u. Zollikofer. 1859. — Das Gegen¬
teil des obigen Buches von Taylor, ein wenig trocken, nichts oder wenig von
Abenteuern, nichts von Flug der Phantasie, aber augenscheinlich getreue Schilde¬
rungen von Land und Leuten, vermischt mit archäologischen Untersuchungen. Bei¬
des hat um so mehr Werth, als nur sehr selten Reisende in diese Gegenden kom¬
men und die Provinz selbst vielen Neapolitanern sast ganz unbekannt ist. —
Naturstudien am Seestrande. Küstenbildcr aus Devonshire, den Scilly-
Wsclu und Jersey. Von G. H. Lcwcs. Uebersetzt von I. Frese. — Berlin. Verlag
Franz Duncker. 1859. — Daß ein Schriftsteller, der uns mit dem viel und
>n vielen Beziehungen mit Recht gelobten Buch über Goethe beschenkt, auch als
iatursvrscher thätig sein könne, und zwar nicht in der Weise eines Dilettanten,
etwa Michelet, erklärt sich vielleicht aus einer gewissen geistigen Verwandtschaft
Mit dem, in dessen Leben er sich einst vertieft. Das Buch ist nicht, was man nach
em Titel in Verbindung mit dem Namen des Verfassers erwarten mag, eine Schil-
erung von Landschaften und dergleichen, sondern ein sehr in die Details eingehcn-
er Versuch, die Wunder des oceanischen Thierlebens und besonders die Organisation
"nzelner Gattungen zu schildern. Dieser Versuch ist, da dem Beobachter mehr das
drehen, in die verwickelten Gesetze des Lebens einzudringen, als die Freude an den
änlichen Dingen leitete, auf ernste Arbeit und angestrengte Forschung (namentlich
^es auf anatomischem Wege) begründet, und so wendet sich das Buch mit seinen
Ergebnissen nicht so sehr an das größere Publicum, als an Physiologen vom Fach.
^ Wissenschaftliche Vorträge, gehalten zu München im Winter 1858. —
aunschwcig, Vieweg. — Die Sammlung ist dem König Maximilian, „dem Schöpfer
'ut Lenker einer neuen wissenschaftlichen Aera in Baiern" gewidmet. — Mit aufrichtiger
uerlcnnung und Verehrung begrüßen wir den Eifer des Königs für die Wissenschaft,
^ die erfolgreichen Bestrebungen König Ludwigs für die Kunst rühmlichst fortsetzt.
Achten die Männer, die wir in diesem edlen Verein versammelt finden, die Auf-
^thauten des wohlgesinnten Fürsten auf einen Punkt hinlenken, der im übrigen
Deutschland den guten Eindruck dieser wissenschaftlichen Bestrebungen nicht wenig
beeinträchtigt. Die Zairischen Gerichte verfolgen der deutschen Presse gegenüber
eine Praxis, die, ganz abgesehn von ihrem materiellen, rechtlichen Inhalt, in den
Formen etwas Verletzendes hat. Das neulich? Verfahren gegen E. M. Arndt,
den „Schriftsteller in Bonn", ist nicht geeignet, die deutsche Gesinnung Baierns in
ein vortheilhaftes Licht zu stellen. Es mag sein, daß es sich hier nur um ein ein¬
zelnes Gericht handelt, allein jedermann weiß, daß bei Preßvcrfolgungen die Re¬
gierung durchweg ein Wort mitzusprechen hat und dieses Recht auch ausübt.
Den neunzigjährigen Sänger des Vaterlandsliedes, den Mann, der vielleicht unter
allen deutschen Schriftstellern nach seinem Altersgenossen Alexander von Humboldt
die meiste Verehrung genießt, zu zwei Monat Gefängniß zu verurtheilen — hier
hört der Spaß aus! — Die vorliegende Sammlung enthält eine Reihe interessanter
und werthvoller Beiträge. — Heinrich von Sybel setzt seine Untersuchungen über
die Geschichte der Kreuzzüge fort; an diese schließt sich die Abhandlung des Fr.
von Vocldcrndorfs über die Assisen des Königreichs Jerusalem. Die Literatur-
geschichte ist vertreten durch Bodenstedt (Marlowc und Green), Paul Heyse (Vin-
cenzo Monti), Franz Löser (Hrosvitha); die Rechtswissenschaft durch Bluntschli
und Windscheid; die Physik durch Justus von Liebig, L. Seidel. Bischoff,
Jolly, Pcttenkoser und Knapp. Die übrigen Vortrüge sind von Riehl,
Franz v. Kobell und Moritz Carriere; ein stattlicher Verein, dessen Beiträge
dem guten Ruf der Redner völlig entsprechen.
Auch von dem wissenschaftlichen Verein zu Berlin, der für die Münchner Vor¬
lesungen das Vorbild gewesen zu sein scheint, ist Einzelnes im Druck erschienen!
wir zeichnen darunter den Vortrag des Prof. Erdmann „über Gewohnheiten und
Angewohnheiten" aus. (Berlin, W. Hertz). — In dieselbe Kategorie gehört „die
Schule des Willens", ein Beitrag zur Erziehungslehre von Adolf Helfserich
(Berlin, Springer); „Winkes als Vorläufer der Reformation," Antrittsvorlesung des
Superintendenten Dr. Lachter zu Leipzig (Leipzig, Fleischer), und ,>,ein StrcifzUg
in die Bilderwelt" (die im Volk verbreiteten Illustrationen und ihren Einfluß auf
die Sitte) von F. Otterberg (Hamburg, Agentur des rauhen Hauses.) — 2"
der Schrift! „Die hohe Schule. Ein Traum. Den Jugendfreunden zum Willkommen
und Andenken" (Berlin, Schneider) scheint Maßmann den so oft wiederholten
Vorwurf Heines, er verstehe kein Latein, entkräften zu wollen; die Hälfte der¬
selben besteht aus lateinischen Citaten. Von den sonstigen Beziehungen ist uns vie¬
les entgangen.
Nach dem Vorbild der englischen Essays haben einige Schriftsteller ihre Aufsätze
aus Zeitschriften gesammelt; der eine derselben, Hermann Grimm (Hannover
Rümplcr) hat sogar den englischen Titel beibehalten (Essays); es fehlte nur, daß er
sagte: Essays und Etudes von H. Grimm! Man lasse sich aber durch den sonder¬
baren Titel nicht abschrecken, die Sammlung enthält sehr bcnchtcnswcrthc Aufsätze,
gut geschrieben und zuweilen tief gedacht! Alfieri und die Ristori; die Venus von
Milo; Lord Byron und Leigh Hunt; die Erwartung des jüngsten Gerichts von Cor¬
nelius; die Bearbeitung von Shakespeares Sturm durch Dryden und Davcnant!
deutsches Theater im 16. Jahrhundert; Rafael und Michelangelo; Macaulays Frie¬
drich der Große ; Schiller und Goethe. (Damit vergleiche man die Abhandlung des
Oberlehrer Wiedasch über Schillers Glocke im Osterprogramm des Lyceums zu
Hannover). In den Ansichten Grimms über Goethe und Schiller freuen wir uns,
e>ne fast völlige Uebereinstimmung mit den unsrigen anzutreffen. Nur Einzelnes
roa're zu berichtigen. Daß in den Freiheitskriegen diejenigen Männer, welche den
Kern des Volkes bildeten, in Goethes Schule gebildet sein sollen, ist ein factischer
Irrthum. Körners Freundschaft ist viel zu gering angeschlagen, Schillers Beschei¬
denheit gegen Goethe übertrieben. Je länger die Freundschaft dauerte, desto selbst¬
ändiger fühlte sich Schiller, und er hatte Ehrgeiz genug, sich mit seinem großen
freunde zu messen. Wir sind vielmehr der Ueberzeugung, daß Goethes Neigung zu
Schiller inniger war als umgekehrt, und daß er durch den Tod desselben mehr ver¬
ölen hat, als der Verfasser meint. Im Uebrigen ist das Verhältniß der beiden
Dichter sehr schön und richtig gewürdigt.
Eine ähnliche Tendenz verfolgen die Studien von Kar l Frenzcl: Dichter und
Frauen (Hannover, Nümpler). Sie enthalten Monographien über Dante, Tasso,
^cnnoizns, Calderon, Bertram de Vorn, Ncgnard und einige berühmte Damen aus
beiden vorigen Jahrhunderten; gut geschrieben und in der Hauptsache richtig
"ufaefaßt.
Mehr in das wirkliche Leben greifen die Lebensbilder und Erfahrungen
Fr. von Schön holz. Geschichtliches, novellistisches und Humoristisches (Ber¬
lin, Gubitz). Die Schilderung einer Heirath nach der Mode, eines Balles mit seinen
Vorbereitungen und Aehnliches ist ganz vortrefflich durchgeführt mit gesundem Hu-
Deutsche Geschichte für das deutsche Volk. Von K. A. Mayer, Prof.
'u Mannheim. Zweiter Band. Leipzig, Verlag von G. Mayer. 1853.— Wir haben
ereits nach Erscheinen des ersten Bandes dieses Werkes Gelegenheit genommen, das-
'e>be warm zu empfehlen als dictirt von einem hellen Verstand und einem warmen
^fühl für Volk und Vaterland. Nachdem das Buch jetzt beendigt ist, können wir
'ehe Empfehlung nur wiederholen. Männliche Gesinnung, ein politisches Bekannt-
">b. welches im Wesentlichen das Bekenntniß dieser Blätter ist, Nüchternheit und
Schwung, Lob und Tadel an rechter Stelle, geschmackvolle, für alle Classen lesbare
Erstellung. geschickte Vertheilung des Stoffes machen das Buch zu einem der besten
keiner Art. Ansprüche auf den Werth eines gelehrten Werkes, auf neue Entdeckungen
'"acht es nicht, wol aber befriedigt es alle Anforderungen, die wir an die populäre
)>siorische Literatur stellen. Möchte es recht viele Freunde finden, möchte namentlich
recht vielen Schulen darnach vorgetragen werden.
Statistik des zollvc rc in den und nördlichen Deutschlands. In Ver¬
ödung mit dem Herrn Berghauptmann von Dechen, Prof. Dove, Akademiker
"Ksch und Prof. Ratzeburg unter Benutzung amtlicher Aufnahmen herausgegeben
'°n Vr. Georg v. Viebcchn. Erster Theil: Lcmdcskunde. Berlin, Georg Nenner.
»58. ^. Daß dieses Werk ein Bedürfniß unserer Zeit erfüllt, bedarf keines Ve¬
rses; daß der Herausgeber für das Unternehmen als Finanzmann, als früherer Di-
^calor der deutschen Gcwerbcausstcllung, als Vorsteher der Commission der Zollvcrcins-
eg'erungen bei der londoner Ausstellung und als langjährigerdac Netcur des preu-
>^)en Haudclsarchivs vorzugsweise befähigt war, konnte vorausgesetzt werden, und
s Buch selbst bestätigt es. Es verspricht durch seinen ersten Theil ein echtes Na-
tionalwcrk zu werden, basirt auf die gründlichsten Untersuchungen und die umfas¬
sendste, genaueste Kenntniß des Einzelnen, auch des Kleinsten, gefördert durch das
Zusammenwirken von Kräften ersten Ranges. Wir behalten uns für die Zeit nach
Vollendung des Ganzen eine ausführliche Besprechung vor und begnügen uns für
jetzt mit einer einfachen Anzeige. Der uns vorliegende erste Theil zerfällt in zwe>
Bücher, von denen das eine den Gcbictsbcstand des Zollvereins und der nicht zu
demselben gehörigen norddeutschen Staaten, die Entwickelung derselben zu ihrer ge
gcnwürtigen Größe und Gestalt, die Geschichte und Verfassung des Zollvereins und
anderer Verbände u. a. schildert, während das zweite die Naturbeschaffenheit und
Erzeugungsfähigkeit der betreffenden Landstriche, deren Oberflächengestalt, Strow-
systemc, nutzbare Mineralien, deren Witterungsverhältnisse, deren Pflanzenreichthm»
und deren Thierwelt behandelt. Ein zweiter Theil, der bereits gedruckt wird, ent¬
hält die Statistik der Bcvölkcrungsvcrhältnisse, der Land- und Viehwirthschaft, der
Forsten, Bergwerke und Gewerbe. Ein dritter und letzter soll sich mit einer
Darstellung des Handels, der Verkehrsanstalten, der Rechtspflege, der Verfassung^
und Vcrwaltungsvcrhäitnisse, der Institute von Kirche und Schule beschäftigen. Für
die, welche noch ausführlichere Nachweise (der erste Theil enthält über tausend zuo
Theil enggcdrucktc Seiten gr. 8) bedürfen, ist die betreffende Literatur beigefügt'
Wir empfehlen das Werk allen, die es angeht, und es geht alle an, welche das
rechte Interesse am Wohle Deutschlands nehmen. Nur wer bei jeder Frage sich ge-
nau bewußt ist, welche Nebenfragen dabei ins Spiel kommen, weiß, welche Antwort
auf sie zu geben ist, und nur der wird sich dessen bewußt sein, welcher, so weit dies
. möglich ist, das Gebiet der Statistik übersieht, die ihm sagt, was wir sind und was
wir bedürfen, was wir können und was wir nicht können. —
Der Bau des Himmels. Oder anschaulichste Darstellung des Weltsystems in
dem. NachPrf. Smith in Neuyork bearbeitet von Mayer-Meng. Zweite Auflage.—Stutt¬
gart, W. Nitzschke. — Eine Reihenfolge von Tafeln mit Abbildungen aus dem Reiche der
Stern- und Himmelskunde, begleitet mit kurzen, sehr faßlich gehaltenen
klürungcn in Frage und Antwort. Der Titel sagt nicht zu viel, es ist in der
That eine außerordentlich praktische, höchst anschauliche, in jeder Beziehung für
Schule und Haus zu empfehlende Darstellung des Gegenstandes, ebenso gefällig fü^
das Auge als klar für das Verständniß.
In Ur. 1. des Artikels über die architektonischen Bestrebungen der Ncuze^
haben sich folgende Druckfehler eingeschlichen: Seite 31, Zeile 8 von unten Ver¬
sinken statt Versenken, S. 33, Z. 12 v. u. Anbau statt Aeuszern. S. 33, Z-/
v. u. in mächtiger Anrede statt in mächtigem Accorde, S. 33, Z. 3 v. u. S'^
statt raubt.
Das Morgenblatt gibt unter der Überschrift: „Aus dem Leben einer
Dichterin" biographische Mittheilungen über Frau von Chezy aus der Feder
U)res eignen Sohnes. Diese Mittheilungen zeigen uns deutlicher als die unsitt¬
lichsten Romane unsrer Zeit, wie nothwendig es ist. der heillosen Verwirrung
in unsern sittlichen Begriffen ein Ziel zu setzen; nicht was hier erzählt wird,
sondern daß es der Sohn ist. der so über seine Mutter zu sprechen wagt,
bringt jenen peinlichen und widerwärtigen Eindruck hervor, dem man die
stärksten Worte leihen möchte.
Gleichzeitig erscheinen nun die eignen Denkwürdigkeiten der Dichterin,
die sie kurz vor ihrem Tode (28. Februar 1856) in Genf ihrer Muhme
Vertha Borngräber dictirt hat. Sie war schon lange blind und lebte
von einer kleinen Pension des Königs von Preußen. Varnhagen hat das Manu-
script durchgesehn, aber nichts Wesentliches zu ändern gefunden. Das Buch
verbreitet über manche Seitenpfade der Literaturgeschichte ein dankenswerthes
Licht, aber es macht einen sehr trüben Eindruck. Es ist nicht blos ein ver¬
fehltes Leben, das uns in demselben entgegentritt: derselbe Grundirrthum
sieht sich durch drei Generationen hindurch. Frau von Chezy ist zweimal
geschieden, ihre Mutter ist zweimal geschieden, ihre Großmutter, die berühmte
Karschin, ist zweimal geschieden. Es sieht wie eine Art Prädestination ans;
^nur man aber genauer aufmerkt, so findet man, daß überall gleiche Ur¬
sachen gleiche Wirkungen erzeugen. Und grade darum sind diese Memoiren
lesenswerth, denn sie weisen auf ein Uebel hin, das weit über den Kreis
dieser Familie hinausgeht.
Der Vater der Karschin, der Schenkwirt!) Dürrbach, lebte aus einer
einsamen Meierei zwischen Züllichau und Krossen, nahe der niederschlesischen
Grenze. Anna Louise, geboren den 1. December 1722, verlor ihn schon
im sechsten Jahre, ein Großoheim nahm sie zu sich auf seine Landbesitzung
Tirschtiegel, wo das junge Mädchen Gelegenheit fand, sich in der Bibliothek
zu thun zu machen, sehr zum Mißfallen ihrer Großmutter, die zu sagen pflegte:
„ein Mädel muß nicht schreiben können, das führt sie nur zu Liebesbriefen, zu
weiter nichts Gutem." Als sie gar anfing, Latein zu lernen, wurde es ihrer
Mutter zu viel; sie nahm sie wieder zu sich. „Kein Cherub war es, der das
wehrlose Kind aus ihrem Paradiese vertrieb; es war das verjährte Vorurtheil,
das feindlich den Frauen jedem geistigen Ausschwung entgegenwirkte. In der
Wüste des Lebens sollte das Weib nur Kameel und Dromedar sein, das ging,
so lange es seine eigenste Bestimmung nicht kannte." Es war für sie eine
Zeit großer Entbehrungen; der Wohlstand des Hauses ging zu Grunde und
sie war zuweilen genöthigt, das Vieh zu hüten. Doch las sie nicht blos heim¬
lich, sie versuchte sich auch eifrig in Versen.
Als sie 16 Jahr alt war, verheirathete man sie an einen jungen Tuch¬
macher Namens Hirsekorn. Er hatte auf eine Mitgift gerechnet, und war
verdrießlich, darin getäuscht zu sein. „Dazu kam noch ihre Unerfahrenheit in
der Haushaltung und ihr zerstreutes Wesen, welches sie nicht überwinden
konnte. Das arme junge Weibchen war zu bedauern. Bei dem besten Willen
konnte sie doch nicht das Geringste handhaben, wobei sie nicht etwas ver¬
schüttet im Wege liegen ließ, aus etwas trat, oder etwas verkehrt machte.
Das verdroß ihren Mann sehr." Bald kamen Kinder. „Ihr Mann störte
sie mürrisch, wenn sie beim Warten des Kindes in einem Buche las." Er
veranlaßte sie, ihn bei seiner Profession zu unterstützen, „indeß ihre Gefühle in
tausend poetischen Bildern herumflatterten." Nur Sonntags, wenn ihr Mann
ausgegangen war, „nahm sie, ihre Kleinen neben sich, eine Feder oder Buch
in die Hand und erleichterte ihren Geist in dem freien Felde der Ideen."
Die Nachbarschaft in Schwivus, wo sie wohnten, erfuhr sehr bald, daß die
Hirsekorn Verse machen könne. Einen höhern Aufschwung nahm ihre Muse,
als Friedrichs Thaten das Vaterland aufregten, und namentlich als ein alter
Jugendfreund nach Schwibus zog und sie mit Büchern versorgte. Ihr Mann
warf zuweilen die Bücher ins Feuer. „Tief gekränkt, wurde nun auch si?
nachlässiger in ihrer sonst so rastlosen Sorge ihm zu genügen, und versäumte
in schmerzlicher Zerstreuung die Sklavenarbeit, welche er ihr täglich auflegte."
Eines Tages kam er von seinem Ausgang mit einem Räuschchen zurück,
welches ihn sonst immer guten Muthes machte. Er warf beim Hereintreten
mit lustiger Geberde den Hut auf den Tisch, schwang sich auf einem Bein
herum, und rief: „Vivat, es lebe der König von Preußen! Höre, Louise! weißt
du was Neues? Der König hat in seinen Landen die Erlaubniß zur Ehe¬
scheidunggegeben; was meinst du, wenn wir die ersten waren, die sich schei¬
den ließen?" Seine äußerst erschrockene Frau konnte ihm hierauf nicht ant¬
worten, und er fuhr fort: „Na du hast doch nichts dawider, wenn wir den
Anfang machen." „Ach Gott, du wirst doch das nicht thun!" war ihre Antwort.
„Ja ja das werde ich wol thun!" erwiederte er. „Und was ist denn für ein
Unglück dabei, wenn man einander nicht leiden kann, ists nicht besser als da¬
von." Die Frau weinte jämmerlich, aller er sagte: „Höre Louise, weine nur
nicht, das Weinen kann zu nichts helfen, es wird nicht anders, ich habe
meinen Sinn darauf gesetzt."
Kurz die Scheidung erfolgte; 11 Jahr hatte die Ehe gedauert. Ais sie,
ohne zu wissen wohin, zum nächsten Thore hinausging, begleitete sie ihre
Schwiegermutter dreiviertel Meilen weit, schluchzte und weinte neben ihr her,
streckte oft ihre gefalteten Hände vor sich ans und rief: „ach meine liebe
Schwiegertochter! daß Gott sich erbarme! du wirst recht aus dem Hause ge¬
stoßen!" Sie lebte dreiviertel Jahr hauptsächlich von den Almosen, die ihr
ihre Gedichte eintrugen, als ein junger Schneidergesell Namens Karsch ihr
seine Hand antrug. Sie willigte ein und zog mit ihm nach Fraustadt. „Sie
überwand den Widerwillen,, den ihr Mann ihr vom ersten Augenblick ein¬
flößt hatte;" er fand keine Arbeit und „sein Mißmuth wurde durch die un¬
verkennbare Kälte seiner Frau vermehrt." Er nahm seine Zuflucht zum
Trinken und es kam zu heftigen Schlägereien. Mittlerweile verbreitete sich
ihr poetischer Ruf nach Großglogau und auf den Nach ihrer Freunde zog sie
5755 mit ihrem Mann und ihren Kindern dorthin. Sie fand Zugang in
vornehmen Häusern, in ihrem eignen Hause war Noth und Elend. Ein Feld¬
prediger, der sie 1758 besuchte, erzählte: „Wir fanden sie in einer armseligen
Wohnung. Zwei ihrer Kinder, die ältesten, gingen in zerrissenen Kleidern in
der Stube umher. Das dritte saß vor ihr, und das vierte ganz kleine auf
ihrem Schoß. Sie selbst aber saß unter dem Getümmel dieser Kinder und
Machte eben eine Predigt, die sie in der reformirten Kirche gehört hatte, in
Verse. Indeß wir uns mit ihr unterhielten, hatte sie einen halben Bogen
"griffen, mit dem sie uns beschenkte. Hier ist sein Inhalt:
Ihr Freunde von den Wissenschaften!
Ihr kämet mich zu sehn, von der ihr viel gehört.
Ihr fast die Dürftigkeit. — Ich wurde nie belehrt,
Und keine Regel bleibt mir im Gedächtniß haften,
Ich bin nur von Natur der zweiten Schöpferin,
Von ihr allein aus bin ich, was ich bin.
Vier Kinder stören mich; doch das Geräusch von Kindern
Kann nicht den Trieb in mir und nicht das Feuer mindern.
Mein Glück ist klein, doch groß genug für mich,
Und im Gesang ist mir der Gram nicht hinderlich.
Ihr Freunde, die ihr euch die große Mühe mahnet,
Und mich so niedres Weib zu sehn nach Glogau kämet,
Euch geb' ein solches Glück freundschaftlich das Geleit.
Als euer Herz verdient und eure Redlichkeit,
Die ich aus euren Augen kenne,
Und die ich mich bereit zu euren Diensten nenne."
Wir können uns bei diesem Bericht doch der Bemerkung nicht erwehren,
daß Frau Karschin lieber die zerrissenen Kleider ihrer Kinder hätte flicken
sollen, statt eine Predigt in Verse zu bringen. — Ein edler Freund brachte es
dahin, daß Karsch von Glogau entfernt wurde. „Die Vermittlung ging zwar
nicht den Weg Rechtens, allein die Karschin wurde dadurch frei und der schwer¬
sten Sorgen entladen." Obgleich ihr Mann wieder zurückkehrte, fand sie Ge¬
legenheit, ein Gedicht an einen Baron Kottwitz zu richten, der sie reich be¬
schenkte und ihr eine Bitte frei stellte. Sie antwortete augenblicklich, ihr
heißester Wunsch wäre, nach Berlin zu kommen. Bald daraus kam ein statt¬
licher Reisewagen sie abzuholen. Ihr Mann machte unterwegs eine leiden¬
schaftliche Scene, aber Kutscher und Bedienter achteten nicht darauf. So kam
sie 25. Jan. 1761 in Berlin an, wo sie von der Aristokratie und der Literatur
als berühmte Dichterin glänzend empfangen wurde. Ihre Kinder wurden
durch die Fürsorge der Freunde anderwärts untergebracht. Am thätigsten
nahm sich Gleim in Halberstadt ihrer an. Er gab eine Auswahl ihrer Ge¬
dichte aus Subscription heraus, die einen Reinertrag von 2000 Thlr. abwarf.
Den 24. Oct. 1703 erhielt sie Audienz beim König. Sie hat dieselbe in
einem langen Gedicht beschrieben, von dem wir hier einiges mittheilen.
Er frug- wer lehrte dich Gesang?
Wer unterwies dich in Apollos Saitenzwang? —
Held! sprach ich, die Natur und Deine Siege machten
Mich ohne Kunst zur Dichterin. —
Er lächelte und wollte wissen,
Woher ich Nahrung nahm; da sagt ich: Freunde müssen
Mich nähren, täglich geh ich hin
Zum niemals stolzen Stahl, der stets mich gerne siehet
Und eine zweite Sängerin
In meiner Tochter Dir erziehet. —
Ich sprach«, und Friedrichs Blick schien meinen Freund zu loben.
Nach meiner Wohnung frug er mich.
Monarch, sprach ich, die Sterne grenzen nachbarlich
Mit meinem Winkel unterm Dache hoch erhoben! —
.... Der König lachte laut, und ich beherzt und frei
Wie eine Römerin, ich zog der Stirne Falten
Sanft auseinander, lachte so
Wie einer, den ein Bret hat in dem Meer erhalten
Und jetzt die Sonne sieht, und ihren Strahlen froh
Entgegenblickt, und vor Entzücken
Das Lächeln auf der Lippe trägt. . . .
Des Vaterlandes Vater sprach
Zuletzt, er würde mir das Leben sorglos machen,
Und alle Musen sprachcns nach.
Leider hielt der König sein Versprechen nicht, so unablässig sie ihn daran
erinnerte; einmal schickte er ihr zwei Thaler, die sie mit dem bekannten Spruch:
"Zwei Thaler gibt kein großer König n. s. w." zurücksandte; im Januar
schickte er ihr drei; sie quittirte mit folgendem Gedicht:
Seine Majestät befahlen,
Mir anstatt ein Haus zu baun,
Doch drei Thaler auszuzahlen.
Der Monarchbcfchl ward traun
Prompt und freundlich ausgerichtet,
Und zum Dank bin ich verpflichtet.
Aber für drei Thaler kann
In Berlin kein Hobclmann
Mir mein letztes Haus erbauen,
Sonst bestellt' ich ohne Grauen
Heute mir ein solches Haus,
Wo einst Würmer Tafel halten
Und sich ärgern übern Schmaus
Bei des abgcgrämtcn alten
Magern Weibes Ueberrest,
Das der König darben läßt.
Als dcrKönig starb, richtete sie an seinen Nachfolger eine poetische Schuldforde-
umg. Sie wurde in das Haus des Oberhofdruckers Decker beschieden. die Flügel¬
thüren sprangen auf, und mitten in einer glänzenden Gesellschaft „trat ein
stattlicher Herr im schwarzsammtnen Kleide, woran ein Kreuz flimmerte, ihr
^tgegen und rief ihr zu:
Freu dich, Deutschlands Dichterin,
Freu dich hoch in deinem Sinn!
Der König hat befohlen mir,
Ein neues Haus zu bauen dir.
Es war — der Staatsminister v. Wöllner!" — Die Dichterin genoß
lange ihres neuen Hauses, sie starb 12. Oct. 1.79l, und wir finden es
""r schicklich, daß mit ihrem Tode, wie ihre Enkelin berichtet, mehrere Wunder-
zeichen verknüpft waren. — Aus ihren letzten Jahren sind indeß noch einige
weniger erfreuliche Züge nachzuholen.
Ihres ältesten Sohnes, Christian Hirsekorn, hatte sich ein unbekannter
Wohlthäter angenommen. Unglücklicherweise hatte Christian, im Briefschreiben
wenig geübt, seiner Mutter einen Brief geschrieben, der ihr nicht gefiel; und
sie schrieb dem unbekannten Wohlthäter: „sie hätte ein Billet von ihrem Sohn
empfangen, wo weder Stil noch Gedanke darin wäre, und sie könnte sich nicht
entschließen, einen Menschen von 16 Jahren, der noch kein Billet an seine
Mutter schreiben könnte, auf fremde Kosten studiren zu lassen" —! Infolge
dessen ward der Sohn ihr zurückgeschickt, und „keines Menschen Güte hat sich
serner um ihn bekümmert" —! Es war derselbe Sohn, dessen Kleider sie
ungeflickt ließ, weil ihr Genius sie trieb, Predigten zu versisicircn!
Caroline, ihre Tochter aus zweiter Ehe, geb. 1754. scheint in der Pen¬
sion schlecht gehalten zu sein: „nie wurde die kleine Karsch an Festtagen nach
Hause geladen!" Ihre Mutter mußte dichten! 176g ließ die Karschin sich
bereden, „sie ihrem Oheim (Dürrbach) zu verloben . . die Kleine brachte mit
blutendem Herzen das Opfer, das ihr tyrannisch abverlangt wurde." „Nach
einer neunjährigen Ehe (1778) gelang es ihr, die Kette von sich zu wälzen,
unter der sie hilflos geschmachtet hatte." 1782 heirathete sie einen Herrn
v. Klencke, der sterben wollte, wenn sie ihn nicht erhörte; die Tochter Helmina
(Wilhelmine) wurde 26. Januar 178J geboren; gleich darauf wurde auch
diese Ehe gelöst. „Ich ziehe, erzählt Haiama, einen Schleier über diese Be¬
gebenheit, die mich im Mutterschoß zur Waise machte — doch nicht ver¬
schweigen will ich hier ein Lied der Karschin an den Schwiegersohn," (doch
wol im Namen ihrer Tochter?) „den sie mit solcher Muttertreue geliebt."
Wiederkehren willst du nun?
Denkst der Tochter zu genießen
Und in meinem Arm zu ruhn,
Wenn du erst zu meinen Füßen
Hundertmal gesunken wärst, und dich
Einem Wurme gleich gekrümmet,
Bis du endlich mich
Hättest umgestimmet?
O du Falscher! schäme dich,
Kannst du neue Schwüre finden,
Meinen Abscheu icht zu überwinden
Der so unauslöschlich ist? u. s. w.
Die Heftigkeit der alten Dichterin scheint viel dazu beigetragen zu haben,
das Verhältniß zwischen den beiden Eheleuten zu verwirren; als wenigstes
später Helmine mit ihrem Vater wieder anzuknüpfen suchte, erwies er sich
liebenswürdig genug.
Aus ihrer berliner Kindheit erzählt Helmine einige bezeichnende Züge.
Schon früh gab es Liebesbriefe; dann hatte man eine Freundin, mit der
Theater gespielt wurde. „Eines von Gellerts Schäferspielen wurde einstudirt.
Wir zwei Mädchen trugen weiße Reifröcke mit Rosenguirlanden und grüne
Kränze in den Haaren, die in ungepuderten Locken um unsere Schultern flat¬
terten. Unsere zwei Schäfer hatten uns schöne Stäbe geschnitzt. Wir sagten
unsere Verse mit Grazie her, unser Publicum war überaus mit uns zufrieden.
Wir hatten auch Schäferhunde mit rothen Halsbändern." „Minchen hatte
s>var wenig oder gar keine Ideen, aber viel uatürlichea Verstand . . . Ich
Erlangte, sie möchte mit mir über verschiedene Gegenstände disputiren; es
^Schah im Garten. Wir vertheidigten jede unsere Meinung wegen der Trauer
UUi geliebte Verwandte: Minchen wollte die Trauer, ich verwarf sie. Ich
^innere mich noch, daß ich einmal, wegen öffentlichen Hinrichtungen auftrat.
Zuweilen auch im Ernst eine Predigt hielt. Minchen predigte gegen meinen
S"b-" „Bei allem, was ich vornahm, schwirrten die Bilder aus den Bü¬
chern, die ich gelesen, um mich herum, und ich lebte durchaus nicht in der
wirklichen Welt. Das gewöhnliche Leben war mir nackt und dürr; ich er¬
ahnte Menschen und Dinge, wie sie in meinen Büchern standen." Ihre Lieb-
^"gsbücher waren — Karl von Karlsberg!! Hippels Lebensläufe; Karl Fer-
Mer; J^an Pauls unsichtbare Loge und Hesperus; dann „Karl Pilger,
^onem meines Lebens" (von K. Spazier, später Jean Pauls Schwager).
")odoviecki, der Freund ihrer Großmutter, gab ihr Unterricht im Zeichnen,
^)ne erheblichen Erfolg. — Bei der Einsegnung wollte sie in Thränen zer-
neßen: „mein einfaches Kleid dünkte mich ein Staat, die Glasperlen um
^eilf und Nacken waren mir königlicher Schmuck. Mein von Thränen über¬
schwemmtes Angesicht schien mir im himmlischen Glanz zu leuchten. O,
"Hie ich, wenn mich die Welt so sehn könnte, wie würde mich alles bewundern!"
^ Den 1,9. August 1799 — 16 Jahr alt — heirathete sie einen Baron
'^stfer. „Er verschwendete unsinnig, Schulden wurden gemacht und nicht
eMt. Ich sah die Gefahr dieses Treibens nicht ein. Die Bälle und Pick-
Uicks gefielen mir; ich kam mir in meinem weißen Ballkleid, mit dem Kranz
^^"cri braunen Locken, wie eine blendende Schönheit vor. Ueber meine
^'dichte hörte ich Schmeicheleien." Allmälig stellte sich heraus, daß der Herr
nrvn ein vollständiger Gauner war. Frau von Genlis, die sich damals,
^>ahr alt, in Berlin aushielt*) und für Helmine ein mütterliches Interesse
hegte, trieb lebhaft zur Scheidung. Helmine floh zu ihrer Mutter (Mai 1800),
die Gerichte verordneten eine Probezeit, die sie bei ihrem Mann zubringe»
mußte; nach Ablauf derselben wurde 28. Oct. 1800 die gerichtliche Scheidung
ausgesprochen. Frau von Genlis, die kurze Zeit nach Paris zurückkehrte,
forderte sie aus, ihr dahin zu folgen und als Kind bei ihr zu leben.
Schon 1799, nach der Lectüre des Hesperus, hatte Helmine an Jean
Paul geschrieben; als er nun nach Berlin kam, begann zwischen ihnen ein
sehr lebhafter poetischer Verkehr. Noch lange Zeit darauf bewahrte sie sorg¬
fältig seine kleinen Billette auf; hier einige davon: „Nose' Lilie, Nelke, Ver¬
gißmeinnicht! Ich komme zwar, aber um eine Fünsviertelstunde später, da
ich die Freude habe, bei Ihnen eine Stunde langer zu sein, weil ich nicht
ins Schauspiel gehe. Man muß die Freude verkürzen, um sie zu verdoppeln.
Ich bin eigentlich schon bei Ihnen, aber auf dem Parnaß — unter Ihren
Versen." „Warum müssen selbst unsere Himmelsträume Lichter und Farben
bei der Erde borgen? Warum müssen die Engel eine Leiter haben, um zu
Jakob herunterzusteigen?" Auch mit Jean Pauls Freundinnen, der Hofdame'
Karoline v. Berg, Auguste v. Haake, Minna v. Knebel u. s. w. wurde Hel¬
mine bekannt. Seine Verlobte, Karoline, die Tochter des Tribunalraths
Meyer (die ältere Schwester Minna heirathete den Hofrath Spazier), „sah
streng auf die Form in allen Lebensverhältnissen, wie Minna in dieser Hin¬
sicht nachlässig war; sie übte großen Ernst und gefiel sich im Beifall der Welt'
an welchen die Schwester gar nicht dachte."
Auf die „Schwestern von Lesbos" von Am alle v. Jmhoff machte Jen»
Paul die junge Freundin aufmerksam. „Im antiken Silbenmaß und im an¬
tiken Geist, doch kalt vor lauter Vollendung. Aber sie ließ uns nicht kalt,
als sie die Dichterin las. Alles was Weimar von geistigen Größen in si^
saßt, war um sie her versammelt'; Amalie war noch sehr jung, wol noch nicht
zwanzig. Sie trat in den Dichterkrcis im weißen griechischen Kleide, mit
goldenen Spangen, ihr braunes wunderreiches Haar geflochten, gescheitelt,
griechisch gewunden, ihre großen blauen Augen strahlend vor innerer Bewe¬
gung, die Wangen glühend, der Busen flog und wallte; welch ein Marin^'
war lebendig geworden? Sie hatte ein Gesicht so classisch wie ihre Dichtung/
Man sah die schöne Hofdame sonst ruhig abgemessen; heute erschien uns d>e
Sängerin wie die griechische Muse selbst. Der Olymp war offen, und se>^
anmuthstrahlendste Göttin lebte!"
Der nicht so ernst gemeinten Einladung der Frau v. Genlis folgen^
verließ Helmine 23. Mai 18«1 Berlin und ihre Mutter, die für diese Re^
schwere Opfer gebracht hatte, und kam 2. Juni in Paris an, offenbar ihr^'
neuen Beschützerin unerwartet, deren Hoffnungen nicht erfüllt waren. Sie s^l
wenig Gesellschaft, darunter Kosciusto und andere Polen, Leclerq und Fi6v^>
mit dem ersten Consul führte sie eine geheime Correspondenz, wurde aber
nicht in seine Cirkel gezogen. Helmine hatte sich verpflichtet, sür Feßlers
„Eunomia" „Empfindungen und Erfahrungen einer jungen Deutschen in Pa¬
ris" „in Sternes Manier" zu schreiben; Frau v. Genlis lächelte über diese
Naivetät, indessen wurden du' Sachen doch gedruckt. Außerdem übersetzte sie
die Novellen ihrer Beschützerin, die der Ersparnis? wegen aus einige Zeit nach
Versailles zog. bis ihr März 1802 der erste Consul eine Wohnung im Arse¬
nal anwies. Helmine, die sich mittlerweile mit dem jungen Philologen
Schweighäuser verlobt hatte, war ihr immer unbequemer geworden; es
kam zwischen den beiden Damen zu ziemlich unangenehmen Scenen, bis Hel¬
mine endlich (Juli 1802) eine Zuflucht bei dem Grasen Escherny in Ver¬
sailles sand. Hier lernte sie u. a. Mesmer kennen, der sie in die Geheim¬
nisse des Magnetismus einweihte. Ihr Bräutigam war ihr untreu geworden.
»Die empörenden Umstände dieser Begebenheit werden mir zartfühlende Leser
gern erlassen, sie gehören nicht für das unentweihte Auge der blühenden Ju¬
gend. Ich glaube jedoch eine ernste Warnung nicht zurückhalten zu dürfen
und einer Unthat erwähnen zu müssen, von der ich viele Opfer weiß, an
deren Möglichkeit aber nur wenige glauben: es ist die Bereitung eines Ge¬
tränks, dessen Genuß die vortrefflichsten Menschen sich selbst entfremdet, die
Sinne verwirrt und die heftigste Leidenschaft für die Vergiften» erzeugt, die
^ ihrem Opfer beigebracht hat. Möge niemand diese Warnung belächeln, sie
'se auf Wahrheit begründet und so wichtig, daß ich es für Gewissenspflicht
halte, noch öfters darauf zurückzukommen. Mögen verdienstvolle Aerzte sie be¬
herzigen und als Menschenfreunde eine neue Spur zu Maßregeln entdecken für
Wissenschaft und Sittlichkeit!"
Im Hause des Grafen Escherny erhielt sie Besuch vom Kapellmeister Rei¬
nhardt und lernte den Grafen Schlabrendorf kennen, wie denn überhaupt
Anhänger der Fran v. Staöl sich hier zusammenfanden. Von dem wich¬
tigsten Einfluß wurde sür sie der Umgang mit Fr. Schlegel, der im Som¬
mer 1802 mit seiner neuen Gemahlin Dorothee und seiner Schwägerin
Henriette Mendelssohn nach Paris kam. Die Töchter Mendelssohns
hatten natürlich an der Enkelin der Karschin großes Interesse, und der Um¬
gang wurde bald sehr intim. Als Helmine vor zwei Jahren Fr. Schlegels
Fragmente'im Athenäum kennen lernte, rief sie aus, das müsse ein Wahn¬
sinniger geschrieben haben: „und ich blieb dabei, bis ich ihn in Paris kennen
lernte und nach und nach begriff, daß es eine andere Welt der Ideen gebe,
als die in meinem Dunstkreis lag." „Ich fand Menschen, wie ich mir noch
^'"e geträumt hatte." ..So schnell als Dorothea sah Fr. Schlegel ein, was
fehlte und es ergötzte ihn. Meine Unkunde aller Dinge des Lebens war
^in neu und erfreulich , er drehte mich gleichsam in seiner Hand herum, wie
ein Bildhauer den Marmorblock, den er beschauen will." „Er selbst war ein-
klanglos: weich wie ein Kind und schroff wie ein Gigant, hinwogend im
Aether und wühlend im Boden nach Vergnügungen, die ganz irdischer Natur
waren. Er war zu sehr von Selbstgefühl erfüllt, zu fleißig und zu bequem,
um Schritte zu machen, die ihn zur Erreichung einer Absicht hätten führen
tonnen." „Er sagte zu Dorothee, der Markos sei noch lange nicht undurch¬
dringlich genug dargestellt und er hätte beim Dichten nur mehr Opium neh¬
men sollen, so würde er das erreicht haben, was er gewollt. Er sagte
vieles aus reiner Ironie; er sagte auch mit vollem Bewußtsein und absicht¬
lich viel Unverständiges. Ueberhaupt war das Eckige und Schroffe, das öfters
bei ihm hervortrat, Willkür; denn wenn er irgend Lust hatte, konnte er die
feinste und anmuthigste Haltung annehmen und durchweg behaupten."
Zum Verkehr gehörte damals auch Achin von Arnim, „einer der we¬
nigen, die mich mit einem Bruderherzen liebten, meine unbeschirmte Lage nie
durch selbstische Anmaßungen tränkten." ,,Jm Umgang suchte er seinem tie¬
fen Gefühl hier durch Spott, der selten anmuthlos war, dort durch Ernst
einen Damm zu setzen." „Er geriet!) oft in Streit mit Fr. Schlegel, und
kam mir alsdann etwas bitter vor; sein schönes Herz glich jedoch bald alles
wieder aus." Ferner Eharles Villers, der Schlegels Vorlesungen besuchte.
Bekanntlich nahm Schlegel Unterricht im Sanskrit bei Hamilton, tag'
lich drei Stunden; Persisch lernteer bei Chözy (geb. 1773, Schüler von S-
te Saty und Langes, seit 1799 Conservator der orientalischen Handschriften
bei der Nationalbibliothek), der die Damen zuweilen in der Bibliothek um-
herführte und Helminen sofort ein lebhaftes Interesse einflößte. — Im Haust',
wo Schlegels wohnten, wurden einige Zimmer frei; sie lagen im Garten,
den ein Treibhaus und zwei Reihen hoher Bäume schmückten. Diese Zimmer
nahm Helmine ein; sie führten alle gemeinsamen Haushalt/ Dazu käme»
im Herbst 1803 auf neun Monate noch drei Gäste aus Köln, die Gebrüder
Boisscrüe und ihr Freund Bertram (geb. 177«), die bei Schlegel ein
Kollegium bestellten und es in vollwichtigen Gold vorausbezahlten; an diesem
Collegium nahm auch Helmine Theil. Sehr häufig besuchte sie Frau von
Krüdener, die alte Freundin Jean Pauls, damals die gefeierte Weltdame,
deren eben erschienenen Roman Valürie Dorothee und Helmine gemeinsch"!^
lich übersetzten. ,,Dorotheas vorsorglicher Sinn wußte die Häuslichkeit an¬
genehm zu gestalten. Immer wars bei ihr heimlich und traulich; noch heu^
verstehe ich nicht, wo sie Zeit zum Schreiben fand. Allein die Getreue, deren
flinke Hand Friedrichs Wäsche nähte und in Stand erhielt, war auch die Ko¬
pistin aller seiner Schriften. Sie arbeitete damals vieles vom (nicht erselM
neuen) zweiten Theil des Florentin aus, schrieb für die Europa (^^
auch Helmine), übersetzte den Merlin, führte eine ausgebreitete CorrcspondenZ
und fand noch Zeit, die merkwürdigsten Gegenstände in Paris zu betrachten.
Concerte und Theater zu besuchen, neue Schriften zu lesen, die Abende durch
Geselligkeit zu erheitern, durch Vorlesungen zu beseelen. Hinreißend las sie,
und war immer stark, freudig und heiter." Zu den Arbeiten der Damen in
inner Zeit gehören auch die Übertragungen der „Euryanthe" und anderer
^französischer Romane. — Ein wesentliches Mitglied des Kreises war Hen-
^edle Mendelssohn. — Inzwischen blieben auch Störungen nicht aus. Hel-
Mine schwärmte sür Bonaparte, den sie im Nov. 1303 in einem großen Hel¬
dengedicht zu feiern unternahm, während Schlegel, der vergebens nach einer
Anstellung suchte, sich immer mißtrauischer über ihn aussprach. Zudem wurde
!wie Vorliebe für den Katholicismus immer heftiger.
Im Frühling 1804 ging Schlegel mit seinen drei Freunden nach Köln;
Dorothee folgte in einigen Wochen. Sein Bruder wurde, wie Helmine versichert,
uur durch Frau v. Staöl abgehalten, sich ihm anzuschließen. Einen Abend
!)"ete, wie Helmine versichert, das Urbild zu Goethes natürlicher Tochter, in
^Ac Verschwörung Pichegrus verwickelt, bei Schlegels Zuflucht gesucht.
Einen Ersatz fand Helmine an Frau von Wol zogen; auch mit
Frau von Genlis knüpfte sie wieder Verbindungen an. Nach Doro-
^ees Abreise lebte sie bei Madame Recamier in Clichy; man suchte
^r, nach Gründung des neuen kaiserlichen Hofhalts, eine Stelle in dem
^ihm als Gouvernante zu verschaffen, doch schlug es fehl. Anfang November,
Madame Recamier Clichy verließ, miethete sie sich in einer englischen
Pension ein; in derselben Zeit kehrte Fr. Schlegel nach Paris zurück, und
erklärte, daß er des Aufenthalts in Köln herzlich satt wäre, so edel seine
Freunde für ihn gesinnt seien. Er hoffte noch auf einen Wirkungskreis in
^"us, allein es war keiner zu ermitteln, obgleich er den ganzen Winter da¬
rbst blieb. Damals schrieb Helmine ihre Schrift. „Kunst und Leben in Paris
>°'t Napoleon I."
Im folgenden Jahr (1805) heirathete Helmine ihren orientalistischen
nennt v. Chezy. Dieser hatte „Medschnun und Leila" ins Französische
übersetzt; eine deutsche Uebertragung des Gedichts von Hartmann (1807)
^urbe von Helmine recensirt. Sie hatten einige Kinder, aber das Glück in
^' Ehe war der Familie einmal nicht bestimmt; schon im Sommer 1808
^ le Chezy „vergessen, was ich vor wenig Jahren noch seinem Herzen, sei-
°w Geist und seinen Mußestunden gewesen!"") Sie zog von ihm nach Montmo-
rency, wo sie vonChamisso, Z.Werner, Oehlenschläger und andern be¬
sucht wurde (180»); auch Henriette Mendelssohn blieb ihr treu; endlich 1810
hatte sie alle Hoffnung aufgegeben, sie verließ ihren Mann mit dessen Ein¬
willigung und begab sich nach Heidelberg. Sie hat ihn nicht wiedergesehn.
„Schwer war mein Schicksal; blutarm kam ich nach Deutschland." In der¬
selben Zeit war ihre Mutter gestorben.
In Heidelberg war das angesehenste Haus das der Generalin Helwig
(ehmals Amalie von Jmhoff), deren Schönheit auch diesmal einen mächtigen
Eindruck auf sie machte. „Ihre Gesichtszüge waren antik, sie glich der Hen¬
riette Herz." In diesem reichen Hause fand sich die Aristokratie des Geistes
zusammen, die Boisserüe und Bertram, die ihre Galerie nach Heidelberg ver¬
pflanzt, Frau v. Schiller, die sich vorübergehend daselbst aufhielt, Caroline
Rudolphi, die bald darauf starb, Karl Thorbecke, der Dichter von „Beatus",
Graf Haugwitz, Karl von Raumer und die Professoren Daub, Creuzer,
Nägele u. s. w. Wichtiger noch für den allgemeinen Ton Heidelbergs war
die Ankunft des Prof. Zachariä. „Sein Haus stand allen Studirenden offen,
er zog sie nach und nach in die Familienkreise der Stadt und entfernte die
Scheidewand, die den Studenten vom Philister trennte. Ehedem konnte kein
achtbares Mädchen unbeschimpft über die Gasse gehen oder sich auf den Spa¬
ziergängen sehen lassen." — Schlosser und Frau v. Gualla (Meline Bren¬
tano) beredeten Helmine (die in FouaMs Musen über die Boisseröesammlung
referirte) auf einem Besuch in Heidelberg, nach Frankfurt zu gehn; von d«
begab sie sich (1811) nach Aschaffenburg, wo ihr Windischmann die eben fer¬
tigen Originalzeichnungen Cornelius' zum Faust vorlegte, und wo der Fürst
Primas ihr Beschützer wurde. „So hatte mich das Schicksal gleichsam un
das Sterbelager der Aristokratie geführt; denn man lese nur den Gothaisch^
Kalender, so wird man sehen, daß sie nur noch ein Scheinleben hat."
Austrag des Fürsten mußte sie den durchreisenden Napoleon ansingen; in s^'
nem Auftrag dichtete sie das Drama „Eginhard und Emma", das erst'"
Aschaffenburg, dann im Privattheater des Fürsten von Leiningen vor höchst^
Personen ausgeführt wurde. Zugleich legte sie sich aufs Spanische und über¬
setzte den Calderon.--In den Unruhen des Jahres 1812 verließ sie Aschaffen¬
burg und ging nach Darmstadt, wo sie wieder im Schoß der Aristokratie lebte,
ihre vertrauteste Freundin war Henriette v. Montenglout, Schauspielerin und
Sprachlehrcrin, Die Noth der durchziehenden Verwundeten trieb sie. sich thätig
Hilfe anzunehmen: dies wurde nun das große Geschäft ihres Lebens. Sie unter-
suchte im Juni 1815. ourch eine Art Cabinetsordre autorisire. die belgischen Lazn-
Mhe. und richtete über den schlechten Zustand derselben (10, Jan. I8to)eine
Beschwerde an den General Gneisenau. infolge deren sie der Verleumdung
angeklagt und vor das Kriminalgericht citirt wurde. Sie ging (Febr. 181K)
nach Berlin, wo sie sehr kalt empfangen wurde — wir es scheint, nicht blos
wegen ihres Processes, den T. A. Hoffmann führte, und in dem sie endlich
(Juli 1817) vollständig freigesprochen wurde. In Berlin verkehrte sie haupt¬
sachlich in dem Hoffmann-Hitzigsehen Kreise, und schrieb den Roman „Emmas
Prüfungen": „Ich hatte den stolzen Gedanken gehegt. Deutschland zu schildern,
wie die unsterbliche Swei in Corinna Italien geschildert." Ihre Gönnerin
War die Princeß Wilhelm, die sich später auch der Frau Paalzow so huldvoll
annahm.
7. Oct. 1817 siedelte Helmine nach Dresden über, wo sie von der roman¬
tischen Schule sehr ehrenvoll empfangen wurde: Louse Brachmann, Therese
aus-dem Winckel, Ernst v. Malsburg. Graf Loben, der sie schon 1814 auf
einer Rheinreise begleitet hatte: eine weiche Seele. Aristokrat aus Romantik.
Herrnhuter und zugleich Lobsänger der Jungfrau Maria. Graf Kalkreuth u. a.
Dazu kam der Liederkreis: K. M. v. Weber, Theodor Hell. Karl Förster.
Hr. Kind. A. Kühn, E. Gehe, Böttiger u. s. w. Es war eine seltsame
Reihe wohlwollender, sentimentaler und verkümmerter Persönlichkeiten. Später
kam Tieckdazu. „Im Gegensah zu Fr. Schlegel, der am liebsten das Gespräch
"uf politische und religiöse Zustände lenkte, blieb aus Tiecks Unterhaltungen
Religion und Politik weg. Sie enthielten nur Ansichten über Poesie und
^reratur, und zwar nicht von der ernsten Seite, sondern von der erheiternden
Und spöttischen. Ein Freund und Verehrer der Fraucnpoesie war er nicht.
^ hatte mit Fr. Schlegel gemein, daß er seine Opfer erbarmungslos schlachtete.
°hre ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen." — In dieser mit Calderon
^schwängerten Atmosphäre wurde die Euryanthe gedichtet. Auch der alte
^eunt Jean Paul fand sich zuweilen ein. Doch wurde auch in Dresden Helmine
öUKtzt unruhig, sie ging 1823 nach Wien. Dort schrieb sie für Franz
Schubert die'Oper Rosamunde, die aber nicht durchdrang, weil der junge
^amponist durch die Webersche Partei angefeindet wurde, und das Lustspiel
"der Wunderquell". Auch ihr Sohn Wilhelm trat bereits als Dichter auf.
^ Von neuern ließ sich Helmine in Dinge ein, die ihr verdacht wurden: auf
ihren Reisen durch das Salzkammergut sammelte sie die Beschwerden der Be¬
wohner über die Verwaltung; man witterte demagogische Umtriebe und stellte
Untersuchung um. die indeß mit ihrer Freisprechung endete. Aber ihr
S°du Wilhelm hatte sich bei der Gelegenheit „von den Einflüsterungen ge¬
wissenloser Menschen hinreißen lassen, und sah die Sacke in einem schiefen
Licht an> Als sein Hauptversührer wird Spindler angegeben, der seine eigne
^"Wr in „Boa Constrictor" geschildert haben soll. Ein anderes seiner Opfer.
der Philolog Braun, äußerte in Heidelberg im Wirthshaus in ihrer und ihres
Sohnes Gegenwart iheilt nach der Geschichte mit dem heiligen Rock): „Der
Kampf wird jetzt ernster als je, und es ist hohe Zeit, daß er es werde! Wir
haben den Protestanten große Concessionen gemacht, diese müssen alle auf¬
hören. Bald wird sie schlagen, die große Stunde, wo die neue Bartholo¬
mäusnacht gefeiert wird: keine pariser Bluthochzeit, keine europäische — "
nein! die Bartholomäusnacht der Welt. Und da will ich zuschlagen, so lange
ich den Arm rühren kann. Vertilgt müssen sie werden bis auf den letzten
Mann, Gott wird seine heilige Sache schützen." „Mir schauderte, erzählt
Helmine weiter, ich war keines Wortes sähig. Ich sah auf meinen Sohn
Wilhelm hin, ich hoffte ein tröstliches Work von ihm, er schwieg mit der
ruhigsten Miene." Als sich nachher lebhafter Widerspruch erhebt, entfernen
sich die beiden Herrn schweigend, sie rächen sich dadurch, daß sie ihre starke
Weinrechnung unbezahlt lassen.
Im März 1831 hatte sie Oestreich verlassen und war ihrem Sohn nach
München gefolgt, wo sie der Hof sehr huldreich empfing. Hier traf sie ein
Mißgeschick „wie ein Donnerschlag aus heiterer Luft. Das Bubenstück war
mit der größten Schlauheit entworfen. Als ich die Grundfäden des Gewebes
durchschauen konnte, erfaßte mich ein Ekel; meine Kraft, dagegen zu kämpfe»,
erlag, denn die Verfolgung gegen mich kam von einer Seite her, wo man
es nicht erwarten konnte. Man wollte mich vernichten. Was davon gelang,
konnte nur durch die schnödesten Mittel erreicht werden." „Ich ersehnte und
erstrebte mit Recht volle Genugthuung, und würde sie erlangt haben, wen»
ich gewußt hätte, wer mich verfolgte. Die wahren Urheber und Leiter des
Angriffs waren und blieben verborgen, sie standen hinter ihren Werkzeugen,
die durch eine höllische List einen höhern Schutz zu erlangen gewußt. Es ist
nicht Mangel an Muth, wenn ich schweige .... Noch immer sind dieselbe»
Hände thätig, bittere Tropfen in die Neige meines Lebensbechers zu schütte»,
aber ich murre nicht."
1832 starb CH6zy an der Cholera; Helmine eilte nun nach Paris, u>»
seine Bücher und Manuscripte zu verkaufen und sich eine Pension auszuwirken!
mit was für Schwierigkeiten sie zu kämpfen hatte und wie wenig sie lo
Ganzen ausrichtete, mag man im Buch selbst nachsehn. — Daß es im Gan¬
zen eine trübe Lectüre ist, hat der Leser wol gefühlt; sie legt uns zugleich
Frage nahe: worin wol das Vorurtheil gegen Schriftstellerinnen seinen Grund
hat? — Die Scheu vor der Concurrenz, wie man zuweilen meint, ist es
nicht; auch handelt es sich nur um ein Vorurtheil, d. h. um ein Bedenken,
das im bestimmten Fall die Erfahrung aufheben kann und öfters wirklich aus"
hebt. — Jenes Bedenken stützt sich auf zweierlei. Einmal liegt in dem spe^
fisch „literarischen Leben" an und für sich etwas Ungesundes, Ungeordnetes;
eine Richtung auf das Persönliche im Menschen und eine Verwechselung des¬
selben mit den Gegenständen, welche der Mann, an Kämpfe jeder Art ge¬
höhnt und dazu geschaffen, leichter ins rechte Geleise bringt als das Weib,
das oft nur aus Kosten der Weiblichkeit jene Schwierigkeiten überwindet, in
seinem Gefühl sie übertreibt und dadurch von der Welt und der eignen Be¬
deutung eine falsche Auffassung sich bildet. — Dann fehlt dem Weib jene Be¬
obachtung der Wirklichkeit (wir möchten sie die historische nennen), die nur
dem .Mithandelnden möglich ist: sie ist daraus angewiesen, entweder das
e'gue Herz zu öffnen, oder ihre ganz äußerlichen Beobachtungen zu copiren.
beides geschieht nicht ohne Gefahr. Um Stoff zu haben, forcirt man leicht
die Regungen des Herzens, man setzt sich vor sich selber in Positur, man
^kettirt; und jene rein äußerliche Beobachtung, die nicht im Sinn der Cha¬
rtere schafft, sondern nur daguerrcotypirt, ist zuweilen vom Klatsch schwer
ZU unterscheiden. — Freilich gibt es starke oder edle weibliche Naturen, die
' das überwinden; freilich gibt es männliche Schriftsteller, die sich weibischer
üeberden als alle Weiber — und wie viele haben wir jetzt in Deutschland!
"ber daß die Gefahr für das Weib näher liegt als für den Mann, wird nie-
Wcind bereitwilliger zugestehn, als ein edles Weib. — Nirgend aber ist uns
er Gedanke so widerwärtig entgegengetreten, als in den „Erinnerungen für
^dle Frauen", die der modernste Herausgeber als ein Ideal bezeichnet! ,
Elisabeth Fischer, geb. 11. April 1761 in Königsberg, heirathete
^780 den Juristen Graun, den Sohn des bekannten Kapellmeisters; zu ihren
^eundem und Verehrern daselbst gehörte ein älterer Herzog von Holstein-
^lücksburg und zwei jüngere Leute, Gentz (geb. 1764; .bis 1786 in Königs-
und v. Stägemann (geb. 1763). Der Letztere erzählt in seinen „Er-
""'erungen" (1840): „Eine junge Frau in der Blüte einer anerkannten
ehönheit, ging sie wie die Dame von Fayel streng und still an der Schar
r Verehrer vorüber, wenn sie auch, wie jene, mit zartem Sinn eines scho¬
ben Liedes sich freuen mochte. Der Eindruck des ersten Herzschlages (1785)
puderte sich in der nächsten Zeit, da ich anfangs nur selten Gelegenheit fand,
^ sehn, auch bei meinem fast gleichzeitigen Eintritt in den Staatsdienst
des o^"^ hatte, einer Leidenschaft nachzuhangen, die dennoch im Anfang
ick ^"^'6 1786 in vollen Flammen stand. Erst im folgenden Jahr wagte
zen"",^ ^ dichten, meistentheils in einer Gattung bald längerer bald tür-
fisteln, deren eine ziemliche Zahl von ihr selbst noch aufbewahrt wor-
^ ist. In demselben Jahr (1787) ward ihr Mann nach Berlin versetzt,
halt ^ '"^ ^"^ern in Königsberg zurück, um zuvor seinen Haus-
sch,^.^°ug Zu ordnen. Elisabeth, die sich mit ihrer Mutter zu einer gemein-
Uii^'^" Oekonomie vereinigte, fing nun ein Stillleben an, worin sie sich,
->>t der Sorge sür die Erziehung der Kinder, ihrer Neigung zur Kunst,
zur Musik. Malerei und Literatur mit Bequemlichkeit überließ. Dies unfrei¬
willige Stillleben währte, um keiner Seite in solcher Dauer geahnt, fast acht
Jahre; erst 1795 folgte sie ihrem Mann nach Berlin. Eine höhere Hand
fügte es hier anVers, als sie dachte. Beider entschiedensten Abneigung gegen
eine Trennung ihrer Ehe, auf deren Glück sie früh verzichtet hatte, sah sie
sich dennoch bald nach ihrer Ankunft zu diesem Schritt unausweichlich ge¬
zwungen. Sie hatte, wie sie mir schrieb, nur zwischen Wahnsinn oder Tod
zu wählen. Sobald ihr Entschluß ausgeführt war, kehrte sie nach Königs¬
berg zurück, und im Sept. 1796 erhielt ich ihre Hand, die sie mir bereits in
Berlin zugesagt hatte." Nach einer langen glücklichen Ehe starb sie 12. Juli
1835; Stägemann folgte ihr 1340.
Um der Farbe willen, theilen wir unter den zahlreichen Briefen von
Gentz an Elisabeth einen aus dem December 1793 mit; wobei wir daran er¬
innern, daß Gentz ein Jahr vor ihrem Mann nach Berlin abreiste.
„Es gab einst (also vor 1786) eine furchtbare Verabredung unter uns,
die meine Verdammniß, meine unwiederbringliche Verdammniß entschied, wen»
ich in einem Termin, den ich längst gar weit überschritten habe, Ihrer z»
vergessen scheinen sollte. . . Es war eine Zeit (also vor 1786), wo unsere
Herzen sich verstanden, auf leise Winke sich verstanden, eine Zeit, wo Sie
in meinem Umgang fanden, was Ihnen rund um Sie her versagt war, und
wo ich mein Dasein nur achtete, weil ich es wagen durfte, Sie grenzenlos
zu lieben. . . Sie wissen, daß wir tausendmal (vor 1786!), wenn wir unse^
Verhältnisse berechneten, dem unerbitiiichen Schicksal vorhielten, daß es uns
nicht füreinander geschaffen hatte." — „Nach einem Stillschweigen von zwe>
Jahren klingt es fast wahnsinnig, was ich Ihnen sagen werde, aber ich si^
es doch: wenn Sie meine Stelle in Ihnen irgend einem andern vergebe"
hätten, es wäre eine unaussprechliche Ungerechtigkeit gewesen." — „Gr«u»
war Ihnen nie werth; er ist es hier, bei Gott, nicht mehr geworden.
mag sein Ankläger nicht sein. Es gibt weniger Uebel, es gibt auch wenige
Fehler als man denkt. Sie nicht zu achten, ist ein ungeheurer, weil er
in die Mitte trifft, so unleugbar das im Menschen' voraussetzt, als tausend
einzelne Vergehungen, die den edelsten Charakter beflecken können. Die^
Sünde ist ihm längst im Gericht der besten Menschen angerechnet. Was e^
hier gethan, ist im Grunde nur eine andere Form dieser alten Sünde, unä)
meiner Berathung eben deshalb nicht wichtig, und ganz unbedeutend, nM"
die Welt nicht anders rechnete, anders urtheilte, und in ihrer Blindheit l^
über das Kleid wegsehn könnte. Blos in der letzten Betrachtung hat sein jetzig
Leben — eine gewisse widrige Wichtigkeit." — So schreibt — Genjz! "
darf er an Elisabeth schreiben, drei Jahre bevor sie ernsthaft an ScheidnUÜ
denkt! — Sie antwortet in einem sehr langen Brief „mit gerührtester Freude
»Was meine Plane betrifft, so muß ich Ihnen bekennen, daß ich gar keine
habe . . . Was die Gründe betrifft, warum Graun immer noch meine Herüber-
°unse (nach Berlin) verzögert, so glaube ich, sind die hauptsächlichsten — Ca¬
price gegen seine Mutter und die Idee, bei seinen jetzigen Einkünften kein
Haus etabliren zu können — wenigstens find diese allein in seinen Briefen,
vielleicht handelt er nach seiner besten Erkenntniß — ungeachtet es freilich
schlimm ist, daß er so sieht und nicht anders. Rochefoucauld sagt u. s. w."
Aus den Reminiscenzen dieser Ehe, vielleicht zum Theil aus den wirk¬
lichen Briefen, ging 1799 das vorliegende Buch hervor. Die vollständigen
Briefe können es (Gott sei Dank!) nicht sein, denn die Hauptmnstände sind
anders, obgleich die drei Hanptanbeter kenntlich genng gezeichnet sein
wogen. Der Titel ist von Huber, dem Elisabeth 1804 das Manuscript zur
iheilwcisen Benutzung mittheilte; ihre „Fragmente" erschienen schon 1800.
Vollständig wurden die „Erinnerungen" erst nach Slngemanns Tod 1846 von
^orow herausgegeben.
Es ist (Gott sei Dank!) nur ein Roman; obgleich eine Masse persönlicher
^uspiclungen, die für das Nomaninteresse werthlos sind, sich erhalten haben,
"und Namen oder Chiffern, die nur auftraten, um wieder zu verschwinden.
^ sind zerstreute Papiere, hingeworsne Seibstbetrachtungcn im Reich der
Möglichkeit. Die wirkliche Elisabeth hatte keine Freundin: „und so schuf
s'es meine Phantasie ein Wesen, dem ich meine innersten Empfindungen und
^danken mittheilen konnte. Ich suchte Dichtung und Wahrheit, so gut sichs thun
^iZ. in der Unterhaltung mit ihr zu verschmelzen, und fand eine sonderbare
^fnedigung darin, über meine Gefühle mich aussprechen zu können, ohne
mir selbst zu reden." „Ich lebte in meiner erdichteten Welt, und ließ
^ Freundin, welche meine Phantasie sich schuf, oft die Stimme der Vernunft
."ihren, während ich mich ganz den Eingebungen und Ergießungen meines
Httzens überließ." — Mit Recht können wir daher annehmen, daß die wirk¬
te Elisabeth besser war, als die Elisabeth des Buchs.
»Ich ward frühe vor dem Egoismus der Männer gewarnt, ihre Anbetung
annee mir kein Vertrauen, ihre Bemühungen keine Liebe einflößen; dennoch
Glossen sie sich mir an, und ich konnte mich dem Antheil'und Einfluß, den
auf mein Leben hatten, nicht entziehn." „Ich ward Gattin und Mutter,
^et die Thätigkeit in einem idealischen Wirkungskreise blieb immer noch Be¬
dürfniß fin meinen Geist, der zwischen seiner selbstgeschaffenen Welt und den
»orderungen, die nun in der Wirklichkeit von allen Seiten auf ihn eindrangen,
^ Art von Vergleich zu stiften hoffte; denn ich konnte meine gewohnten
^chästjgungen nicht entbehren und auch die Grenze nicht finden zwischen
was ick lassen müßte und was ich mir zugestehn dürfte. Ich quälte
ich in einem vergeblichen Streit meiner Kräfte und Neigungen."
Schon der Bräutigam erscheint, obgleich brav und rechtschaffen, als eine
prosaische Natur. „Selbst wenn er der Gegenstand nicht wäre, tröstet die
verständige Meta, der von Seiten des Herzens dich befriedigte, glaubst du
nicht, daß dir das Verdienst vorbehalten sein könne, etwas von dein Reich¬
thum deiner Empfindung auf ihn zu übertragen?" „Du wirst finden, daß die
Männer gewöhnlich nur bei sogenannten reellen und recht in die Augen fallen¬
den Anlässen an unsern Bekünnncrnisscn Theil nehmen; von den stillen Leiden,
denen uns unser zarterer Sinn unsere Phantasie aussehe, und die unendlich
schwerer und schmerzhafter zu ertragen sind, nehmen sie meist gar keine No¬
tiz." „M. fühlt deine Zurückhaltung und Kälte, diese gibt ihm bei aller Liebe
einen Dcpit gegen dich, und diesen aufzuheben, gibt es nur ein Mittel: jene
Kälte, wenn auch mit einiger Anstrengung, zu überwinden oder zu verstecken."
—!—Nebenbei ist zu bemerken, daß die Anbeter fortdauern und sich ziemlich
viel herausnehmen. Elisabeth ist unordentlich und läßt sich in der Sorge für
ihren Mann selbst von andern Frauen beschämen. Einmal gesteht sie doch-
„Ich bin weit entfernt, mich davon freizusprechen, daß nicht auch in mir selbst
der Grund des Mißmuths liege, der mich drückt. Ich bin zu wenig H^'
meiner Empfindungen und jedes augenblicklichen Eindrucks; man hat vielleicht
meine Fehler zu sehr geschont." — Sie ist in der That so wenig Herr darüber
daß sie einem fremden Mann Gelegenheit gibt, ihr unter Händedruck zuz»'
rufen: „Theure Frau, Sie sind nicht glücklich!" — Dieser Vorfall gibt denn
doch der verständigen Meta zu der Bemerkung Gelegenheit: „Ueberhaupt
fürchte ich nur zu sehr, daß bei dem Beifall, den deine Gestalt, dein ganzes
Benehmen finden, du leicht die Theilnahme irgend eines Freundes gewinne»
könnest, der deinen Zustand verschlimmert, indem er ihn zu verbessern denkt,
und doch ist wol selten einer von diesem Geschlecht, der nicht gegen sein en?
nes Weib sich eben der Vernachlässigungen schuldig machte, über die er de>
jeder andern liebenswürdigen Frau Augen und Hände zum Himmel erhebt-
Als ihr Elisabeth den feurigen Brief eines Verehrers mittheilt, bemerkt Meta-
„Gebe der Himmel, daß die Liebe deiner Freunde dir nicht einst noch null-
Leiden bereite, als die Kälte und Scheelsucht deiner Neider . . . Mich dünkt,
du wirst eine gewaltige Sophistin, meine Elisabeth, aber es kostet dich keine
Mühe, mich alles glauben zu machen was du willst. Gewiß bist du un»^'
zuerst getäuscht, ehe du andere täuschest."
Endlich stirbt der Mann plötzlich, am Schlagfluß; Elisabeth, herbeigerufi'»'
steht an der Leiche und hebt die Augen zum Himmel. „O wie wohl thut es
mir jetzt, sagte sie, indem sie wieder auf ihn niedersah, immer sanft und nach
gebend gegen dich gewesen zu sein. Wenn er nicht immer gut gegen mich wal¬
fuhr sie fort, indem sie sich gegen uns wendete, so war es ja mehr die Schuld se>n^
Kränklichkeit als eines bösen Willens; er hat mich gewiß nie absichtlich gekränkt-
Möchte mau vor dieser Heiligen nicht gleich anbetend niederfallen? Und
es geschieht in der That! — Es war doch ein schönes Zeitalter, das Zeit¬
alter der schönen Seelen!
„Wie der Sklave, der seiner Ketten entledigt," kehrt sie jetzt zu ihren
frühern Beschäftigungen zurück; sie nimmt von den verschiedensten Seiten Hul¬
digungen um. prüft'und erwägt vielfach. „Ich kann nur das Unbehagliche
eines solchen Zustandes denken; die Seele nimmt darin nur schwankend und'
undeutlich die Umrisse der Gegenstande auf, die sich uns darstellen. Die
Gründe, welche unsere Handlungen bestimmen sollen, verschwinden mit den
wichtigsten Zweifeln; wir können uus aus die Wahrheit der Bilder, welche
dieser Spiegel zurückwirft, so wenig als auf die verlassen, die eine bewegte
Quelle uns zeigt." — Ein gewisser Gerson, der Hingebcndste unter den
Anbetern, wird vorgezogen; aber auch ihn behandelt Elisabeth zweideutig.
-.Auch die besten Männer, schreibt Meta, verblendet der Egoismus in ihren
Forderungen, und die vorzüglichsten Menschen haben Seiten, die wir nicht
sur gegen sie selbst und noch weniger gegen andere berühren mögen. Indeß
hattest du ihm bei der jetzigen Lüge der Dinge die Eisersucht gegen einen an¬
dern lullig ersparen sollen. ' O meine Elisabeth, kannst auch du dich ganz
"an dem Tadel deines eignen Herzens freisprechen? Hast du. indem du blos
den Eingebungen einer schmerzlich errungenen Klugheit gefolgt, dir nicht viel¬
leicht das Ansehn der Ettelkeit. des Leichtsinns gegeben?" Der Bruch erfolgt,
"ber noch nach demselben schreibt Gerson an Elisabeth: „Werden Sie etwa
^ in eine Lage geworfen, in der Sie einen Freund brauchen, der Leben,
Glück und Ruhe für Sie aufzuopfern im Stande sein muß. so vergessen Sie
U'ehe, daß ich so lange meine unsterbliche Seele dauert, Sie höher schätze
"is Ehre, Glück und Leben." — Mehr als die Ehre! Das ist der
Recht,,
Noch Einiges aus den Fragmenten.
..Es liegt in der menschlichen Seele, daß wir nur für das Interesse ge¬
winnen, wovon wir uns sagen können, es ist unser Werk. Ueberall aber for¬
dert der Mann, überall greift er unsern Einrichtungen vor; er denkt für uns
"ud oft ohne Erklärung.' warum er so und nicht anders denkt, verlangt er,
d"b wir seinem Willen den unsrigen unterwerfen. Die Herrschaft der Männer
ouest uns sorglos; außerdem lieben wir nie, wo wir beherrscht werden, (? ?)
hier, kann weder unsere Neigung noch unsere unterdrückte Ehrbegierde
^nten, und wir müßten mehr Philosophie haben, oder weniger als Menschen
^u- um unsere Pflichten mit Freudigkeit zu erfüllen."
..Warum sind so viele Frauen so wenig häuslich? Vielleicht wen sie -
^'"'n sie ihre Mäuner zu lieben fortführen - doch eine Zeit lang durch dle
^'Sießnngcn eines immer vollen Herzens so verwöhnt werden, daß sie spütcr-
hin eine Leere fühlen, welche sie durch innern Stoff nicht auszufüllen im
Stande sind. Da der Zustand der ersten Liebe, auch der vernünftigsten, nicht
ohne Spannung ist, so kann er schon seiner Natur nach nicht dauern." —
Wenn uns vor zu viel Patschuli schlimm und weh wird, greifen wir in
der Noth zu allein was herzhaft riecht, wenn auch nicht schön, allenfalls zum
Knoblauch. Nach Elisabeths Bekenntnissen hat uns die Naturgeschichte von
B ogumil Goltz, einen erfrischenden Eindruck gemacht, der wol hauptsächlich
aus dieser Zusammenstellung herrührt. Ist auch die grobe Form zu mi߬
billigen, an Humor und Beobachtung fehlt es nicht, wie die folgende Scene
zeigen mag, die gewiß komisch ist — komisch nach zwei Seiten!
„Der Mann kann reden was er will: das Wort ist für ein richtiges
Frauenzimmer keine geistige Macht. So lange sie leidenschaftlich bewegt ist-
scheinen ihr die Vernunftgründe, welchen das Wort dient, eine von den
Männern erfundene Schulpedantcne zu sein. Gründe gelten ihr als unaus¬
stehliche Zumuthung, als eine Veeinträchtiguug ihres Gefühls. Ihre Logik
ist der Affect, sie fühlt nur ihre Stimmung, ihr Interesse; sie bezieht Dinge
und Verhältnisse nur eben auf ihre Person Während der bündigsten Aus¬
einandersetzung ist die ZuHörerin nur mit ihrer Alteration und Opposition
beschäftigt, nicht mit dem Gegenstand. Das Wort ist ihr, sobald es absolute
Geltung haben soll, nur Schall. Sie läßt höchstens Pathos, Emphase und
Declamation an sich kommen, wie in einem Schauspiel. Die Darlegung
wirkt auf sie allenfalls rednerisch, mimisch, plastisch, selten als überzeugende
Macht. Wenn alle Beweisgründe erschöpft sind, und der Sprecher die Wu'"
kung entgegenzunehmen vermeint, um derentwillen er all seine Logik in beide
Hände genommen hat, so kommt Madame auf denselben Punkt zurück, vo»
dem sie ausgegangen war. Nun geräth der Mann außer sich: die geharnischte»
Gründe werden nochmals an zitternden Fingern, mit haben-der Lippe, »ut
blitzenden Augen, mit von Ingrimm gepreßter Stimme hergezählt; jedes
Wort wird so betont, als wenn es Geister beschwören und Gestorbene er¬
wecken soll. Die Argumente werden der Hartnäckigen in Daumschrauben an¬
gesetzt; die ganze Beweisführung wie eine Pistole auf die Brust gehalten!
die Vernunft wird ihr auf den Kopf zugesagt und gleichwol wieder abgese^
dert, wie man einem Menschen, der im Verdacht des Irrsinns steht, die Be¬
glaubigung seiner fünf gesunden Sinne abverlangt. Madame soll sich kM'j
und deutlich erklären, ob sie begriffen hat; sie soll gar nicht sagen was
thun oder lassen will, das Object des Streits und dessen Erfüllung
Nebensache bleiben: der Mann will nur die Satisfaction haben, daß er Recht
hat. daß seine Ehehälfte Menschenvernunft besitzt und respectirt. Es
nicht mehr ein materielles Interesse, Frau Gemahlin sollen factisch ihr Stiw
durchsetzen: es soll nur im Interesse der Wahrheit, der Logik, der Menschl
Würde eine Erklärung abgegeben werden! Das aber ist zu viel gefordert, es
dreht ihr das Herz. Sie hat vor Alteration nur Worte gehört und ist als
Tragödin nur mit-ihren Leidenschaften beschäftigt gewesen. Sie begreift nur
'hr grenzenloses Elend, die dialektische Barbarei der Männer. Jetzt brechen
"und die langverhaltenen Thränen hervor und schwemmen alle Rhetorik, Logik
und Erörterung fort."
Das Büchlein von Guhl enthält eine zweckmäßige Zusammenstellung
^r Frauen, die sich in der Kunstgeschichte ein wirkliches Verdienst erworben
haben.
Eine Philologcnversammlung in Wien: das war etwas mehr als eine
^"er sich fortwährend häufenden jährlichen Zusammenkünfte von Fachgenossen,
^um sich die Theilnahme des größern Publicums immer mehr entzieht —
^ war ein Ereignis;. In frühem Zeiten ließ Oestreich mit instinctiver Ein-
^Uigkeit einzig und allein den Naturwissenschaften eine aufmerksamere Pflege
^'gedeihen, neuerdings schien es durch das Concordat sein kaum ausblühendes
chulwesen dem Erbfeind aller Geistescultur Preis gegeben zu haben, und jetzt
^">ten in dem Herzen desselben Oestreich die Vertreter der Wissenschaft sich
^'reinigen, welche ebensowol den Ausgangspunkt aller geschichtlichen Forschung
'det wie sie naturgemäß die Herrschaft über den Jugendunterricht nicht auf-
G^'" ^" östreichische» Unterrichtsministerium nahestehender
^ehrter auf der vorangehenden Versammlung in Breslau die Wahl Wiens
^ das folgende Jahr mit warmen Worten empfahl, fühlte jedermann die
Deutung einer solchen Einladung. Offenbar wollte die Partei, welcher die
.rgerung deutscher Wissenschaft und deutscher Gymnasia ernr.chtunge
Östreich am Herzen liegt, nus der Verbindung mit ihren auswärtigen .re -
neue ,rast schöpfen und zugleich ihren Gegnem deutlich vor Aug ^"n- daß sie noch nicht ganz .machtlos sei. Darum aber kamen auch ^ d '
'Listen der fremden Gäste in einer ungewöhnlichen Stimmung nach ^en.
Die Erwartung eines unbestimmten Etwas, sei es Furcht on>r einer « ornng
^ ganzen Unternehmens von fcrndseligcr Seite, sei es Hoffnung an span¬
ende Kämpfe, lag so nahe; daß sie nicht in Erfüllung g.ng. "'^d"Hmrp-
U'sache der unbefriedigten Aeußerungen sein, die wo. h.er und da über dr.
Versammlung laut geworden sind. In den Debatten der pädagogischen Sec-
tion wurden durch die geschickten Anordnungen des Präsidiums solche Erör¬
terungen vermieden, welche den Gegensatz zwischen philologischer und klerikaler
Pädagogik in principieller Schärfe zum Ausdruck hätten bringen müssen; das!
es aber um einem direct gegen die Versammlung als solche gerichteten Ver¬
such nicht gefehlt hat, hat man nachträglich erst erfahren. An den im Octobtt
und November vielfach verbreiteten Gerüchten über ein kaiserliches Verbot zu-
künftiger Gelehrtencongresse hat sich als der wahre Kern ergeben, daß der
Reichsrath, jene dem östreichischen Staatöorganiömlls eigenthümliche Zwischen¬
behörde zwischen Ministerium und Krone. über den Antrag des Uuterrichts-
ministcrs, für die Zwecke der Phiiologcnversamnilung siebentausend Gulden
aus Staatsmitteln zu bewilligen, ein ablehnendes Gutachten abgegeben hatte
und dieses dem Minister mitgetheilt worden war.^) Kein Unbefangener wird
glauben, das Gutachten verdanke blos der ängstlichen Sorge für die östrei¬
chischen Finanzen und dein Gedanken an die^bei früheren ähnlichen Gelegen¬
heiten vorgekommene Verschwendung seinen Ursprung. Auch war die Frag?
des Staatszuschusses in dem besonderen Falle keineswegs eine untergeordnete.
Für die Zukunft ist es ohne Zweifel sehr wünschenswert^ — wir wenigstens
bekennen uns auf das entschiedenste zu dieser Ansicht —, daß die Gelehrte»'
congresse den Staaten, auf deren Gebiete sie zusammenkommen, keine kostspn''
ligen Allsgaben mehr verursachen; allein ebenso sehr wäre es zu bebauet
gewesen, wenn grade hier der Reichsrath mit seinem ablehnenden Vorschlag
durchgedrungen wäre. Die östreichische Regierung hatte die deutschen Philo¬
logen nach Wien eingeladen, um offen vor aller Welt ihr Interesse an de>
Sache der Wissenschaft und des höheren Unterrichts zu bekunden, und wär«-'
in eine eigenthümliche Stellung gerathen, hätte sie zuerst sie nicht als ih>c
Gäste empfangen und behandelt. Eine solche Niederlage ist dem Grase»
Thun erspart worden: die geforderte Summe, zu welcher die Stadt
noch eintausend Gulden hinzufügte, wurde an höchster Stelle zugestanden,
die Philologenversammlung blieb, wie beabsichtigt, eine Demonstration
Sinne der von ihm in das Leben gerufenen und beschützten Bestrebungen.
Durch letzteren Umstand erhielt sie ihr unterscheidendes Gepräge, inde»'
unwillkürlich ihre festliche Seite als die Hauptsache hervortrat, die Verbum^
lungen verhältnißmäßig zur Nebensache wurden. Eine. Anzahl der trefflich^
Männer, welche mit der Bestimmung die philologischen Studien zu heb^'
durch den gegenwärtigen Unterrichtsminister nach Oestreich berufen waren, d">'
unter der um das dortige Schulwesen hochverdiente Bonitz, war in de>"
Conn«; thätig und gab ihre Freude über den fremden Besuch in jeder Wen
auf das unzweideutigste zu erkennen. Wie das Comitö um seine Gäste sich
bemühte, kann der ewe Umstand beweisen, daß es an dem ersten Tage der
Versammlung und den zunächst vorhergehenden bei allen ankommenden Zügen
auf den Lahnhöfen vertreten war. was in Wien etwas Anderes heißen writ
als in einer deutschem Mittelstadt. Ließen auch bei der Schwierigkeit des
Terrains, den grade in Wien so mannigfach sieh durchkreuzenden Rücksichten,
d'e zu nehmen waren, den die Geschäftsführung auf das äußerste erschweren¬
den weiten Dimensionen des Ortes einzelne Versäumnisse sich nicht vermelden.
s° hat es doch den Dank aller uicht ganz unbilligen Mitglieder der Versamm¬
lung in reichem Maße sich erworben; auch wurde der Festcharakter des Gau-
l°u würdig gewahrt und den Fremden eine Reihe edler Genüsse geboten.
Daß unter diesen eine Fahrt nach dem Semmering nicht fehlte, war na¬
türlich; denn Oestreich läßt nicht gern eine Gelegenheit vorübergehen, auf d>e
^waldige Eisenstraße 'hinzuweisen, mit deren Anlage es bis jetzt in Europa
unerreicht dasteht. Auch handelte es sich nicht blos um eine Befriedigung
d^ östreichischen Stolzes, sondern zugleich um eine Gelegenheit. Auge und
'Wz an dein Anblick großartiger Naturschönheiten zu erlaben, die als Erho¬
lung von dem betäubenden großstädtischen Treiben um so willkommener war.
Am Morgen des zweiten Versammlungstages, eines Sonntages, traf man
aus dem Südbahnhofe zur festgesetzten Zeit zusammen und vertheilte sich in
die bereitstehenden Waggons, welche bald, da ein Zug für die große Zahl acht
hinreichte, in zwei Züge geordnet sich in Bewegung setzten. Erbarmungslos
duschten die ^üge an denStationen vorüber, von denen mancher sehnsüchtige
^kick ihnen folgte, bis nach zweistündiger Fahrt Halt gemacht wurde. Gesang
"'tönte zur großen Überraschung der Gäste, denn keiner hatte in der Eile des
Ansteigens aus dem wiener Bahnhof bemerkt, daß der erste Waggon den wie-
U" Männergcsangverein aufgenommen hatte, dessen geübte Stimmen jetzt durch
bntre Lieder die Pause verschönte,!. Gleichzeitig wurden auch Zunge und Magen
d" Luftfahrer dnrch köstliche Früchte erquickt, die in reicher Auswahl an den Wag¬
ens herumgereicht wurden. Nicht lange, so bliesen die gigantischen Locomotiven
^eder stöhnend ihre Dampfwolken aus und traten ihren mühsamen Weg i»
das Gebirge an. Der Himmel, der bis dahin trübe darein geschaut und
ängstlichen Gemüthern Besorgnisse eingeflößt hatte, wurde heiterer und ge¬
riete zuletzt den freiesten Umblick in die herrliche Gegend. Die Schienen
Rührten merklich aufwärts; den kleinen Hügeln folgten hohe Berge; hier las"'«u in lieblich grünende Thäler, dort in steile Felsschluchten; dann wandte
s'es die Straße wieder, nach der entgegengesetzten Seite den Blick in die jüngstv^-i,.^
^cssjene Ebene gewährend. Immer höher und höher stieg sie, in rascher
EhrenbFol
- ^ bald dnrch nächtlich dunkle Tunnel bald über riescnhohe Viaducte
von denen aus vor den, entzückten Auge die großartigste Nunosicht
sich ausbreitete. Wahrlich, hiev mochte manches Philologcnherz im Stillen
der modernen Industrie das ihr gethane Unrecht abbitten und anerkennen,
daß auch sie zur Erfrischung und Erhebung des menschlichen Geistes ihr Theil
beitragen könne. Nach vierstündiger Fahrt war der höchste Punkt der ganzen
Strecke, die Station Semmering, erreicht. Von da durchflog man nur noch
den langen Tunnel, der unter der Pahhöhe fort auf die steirische Seite hin¬
überführt, um einen Blick in das weithin sich erstreckende freundliche Mürzthnl
zu gewinnen, und machte dann den Rückweg über den Berg zu Fuße. In¬
zwischen waren unter und neben der Halle des einsamen Statioushauses zu
Semmering gedeckte Tische aufgeschlagen worden, an denen jeder einen Plus
suchte, um durch Speise und Trank sich sür die Heimfahrt zu stärken. Die
Conjectur einiger mehr gastronomischen als philologischen Kritiker, es möäite
der auf diesem Raume unumschränkt gebietende Restaurateur den Wünschen
des gastfreien Comitäs nicht ganz entsprochen haben, störte den Frohsinn der
Gesellschaft nicht: wußte man doch, daß man dreitausend Fuß über de»>
Meer in abgelegener Gebirgsgegend sich befand, und hob doch der Reichthw»
der vorangegangenen Eindrücke die allgemeine Stimmung. Wieder ließ der
Mäunergcsnngvcrein seine kräftigen Lieder erschallen, in welche allmälig die
ganze Versammlung einfiel: so ertönte aus mehren hundert vollen Kehlen el»
heitres Lied nach dem andern, unter deuen weder des Deutschen Vaterland
noch das Gaudeamus fehlte. Unversehens schlug die Abschiedsstunde, und
der einbrechende Abend fand die> reich befriedigten Luftfahrer wieder in Wien>
Führte der zweite Versammlungstag den Philologen eine der besten Schöp'
sungen Oestreichs vor. so wurde am dritten die Glanzseite Wiens benutzt,
würdig zu unterhalten: denn am Abend dieses Tages wurde für sie eine Fe^
Vorstellung im Kürnthnerthorthcater veranstaltet. Wol schüttelte mancher de»
Kops, als er hörte, daß auf den dingenden Wunsch des Grafen Thun, ^
den einheimischen Dichter geehrt sehn wollte, Halms Iphigenia in Delp!^
Gegenstand der Aufführung sein solle; jedoch zeigte sich, daß die Wahl
einer Beziehung keine ungeschickte war. Das an dramatischer Entwicklung
arme Stück bot den Kräften der Schauspieler im hohen Grade Gelegenhe^
sich zu entfalten. Schwerlich hat einer der ältern Fcstgcnosscn jemals ein^
vollendeteren, schwerlich einer der jüngern einer auch nur annähernd so ip
lungenen Darstellung beigewohnt. Besonders traten die Damen Frau Nee^
(Elektra), Frau Hebbel (Pythia) und Fräulein Nudloff (Iphigenia) servo>-
von denen letztere von Prag gekommen war, um mitzuwirken. Neben den'
unvergleichlichen Klänge des Organs, wodurch namentlich Frau Rettig se
auszeichnet, war es nicht allein die Sicherheit und Angemessenheit des B"'
trags, nicht allein die saubere Stilisirung der einzelnen Rollen, was die
Schauer entzückte; es war vor allem die plastische Rundung der Gruppen,
denen die Darstelln der jedesmaligen Situation körperlichen Ausdruck gaben.
Keine simwvllcre Huldigung konnte den Kennern des Alterthums dargebracht
werden als das Hervorkehren dieser plastischen Seite der Schauspielkunst: war
i>e doch ohne Zweifel diejenige, welche auf der Bühne Athens am höchsten
ausgebildet war und am meisten geschätzt wurde.
Der Vorstellung im Theater ging das Festdiner im Svphienbadsale um-
»uttelbar vorher, eine Einrichtung, die mannigfachen Tadel erfuhr, aber viel¬
leicht nicht abzustellen war. Bei ihm kam die Bedeutung der ganzen Va-r-
kuugung am reinsten zum Ausdruck. Die Ausbreitung der wissenschaftlichen
^wcguug Deutschlands über den Kaiserstaat, die Nothwendigkeit warmer
Förderung dieses Zieles von beiden Seiten, die Anerkennung des dafür Ge¬
schehenen bildeten den Grundton, der alle Trinksprüche durchdrang. Zuerst
Nach jhtt Brüggemann aus Berlin aus, indem er in wohldurchdachter Rede
den Grafen Thun feierte, der ein ungleich schmierigeres Werk begonnen und
durchgeführt (? d. Red.) habe als der Bau der gestern bewunderten Semmeringbahn
gewesen, das Werk der geistigen Wiedergeburt Oestreichs; vor allem wies er
"Uf den diesem Lande durch Berufungen von Gelehrten erwachsenen Gewinn
^ni, dn ihm von Herzen gegönnt werde, obwol grade Preußen dadurch
Manche treffliche Kraft entzogen sei. Allein der Glanzpunkt des Festes war
'e Erwiederung Thuns. In würdig einfacher Sprache hob er die Bedeutung
,Philologie für die Gegenwart, die Bedeutung der Philologie für Oestreich
Uisbcslzndere hervor und schilderte die Vortheile, welche die methodisch aus¬
bildete deutsche Wissenschaft dein vielsprachigen Kaiserstaat und dieser mit
seinen mannigfach noch unerforschten monumentalen Schätzen der Wissenschaft
^währen könne. Er warf einen kurzen Rückblick auf die Geschichte Oestreichs,
^»inerte an die enge Gemeinschaft, in der dasselbe früher mit dem übrigen
kutschend auch aus geistigem Gebiete gestanden, an die unglückliche Isvli-
ung der Metternichschen Periode, und begrüßte in dem zahlreichen Besuche
kr Versammlung ein Unterpfand dafür, daß die seitdem reger gewordene
emeinsamkeit wissenschaftlicher Bestrebungen in beiden Ländern allseitige
Teilnahme finde. Seine Rede ist nachher in der Wiener Zeitung vom 2. Oct.
"ud in dein Verhandlungsbericht der östreichischen Gymnasialzeitung abgedruckt
»rden; eiber freilich ließ sich dem Abdruck die Hauptsache nicht mittheilen.
^ Ton der Wahrheit, durch den die gesprochenen Worte des Ministers in
" ^ersnmnilung zündeten. Ob die von ihm erfaßte und ausgesprochene
^Ufgcibe nicht eine allzu schwierige sei. ob er nicht sogar durch eigne Schuld
^ Hindernisse ihrer Lösung erhöht habe, diese Bedenken kühlerer Momente
^stuniintcn in den Herzen der Festgenossen und machten ganz dem Hochgefühl
das uns allemal ergreift, wenn wir einem rein auf ein würdiges Ziel
gerichteten menschlichen Dasein begegnen. In dem lautesten, kaum endenden
Beifall äußerten sich die Empfindungen aller.
Aus der großen Zahl der übrigen Trinksprüche heben wir noch einen heraus,
der als charakteristisch für das, was die Versammlung bewegte, besonders leb¬
hafte Beistimmung fand: es ist der Halms aus München auf die philologischen
Seminare Oestreichs. Nachdem er an das Große erinnert hatte, das die Se¬
minare der verschiedenen deutschen Universitäten gewirkt haben, wandte ersieh
zu den kürzlich in Oestreich begründeten ähnlichen Anstalten und wünschte
ihnen frisches, blühendes Gedeihen. Auch hier waltete der Grundgedanke'-
Einbürgerung der Lebensformen der Wissenschaft, die in Deutschland sich be¬
währt haben, in dem Kaiserstaat.
Wir würden von der geselligen Seite der Versammlung nur ein unvoll¬
ständiges'Bild geben, wollten wir nicht mit einem Worte der beiden andern
Zusammenkünste im Sophienbadsale gedenken, wo man auch am Tage der
Eröffnung und am Tage des Schlusses der Verhandlungen gemeinschaftlich zu
Mittag aß. Hier, wo jeder für sein Geld war und die Mitglieder sich nur
unter sich bewegten, sielen alle Rücksichten des officiellen Festes fort; und doch,
welch ein Unterschied zwischen beiden Tagen! Während am ersten ein ziemlich
steifer Ton die sich vielfach fremde Gesellschaft auseinanderhielt — saßen ewa)
deutsche Schulmänner und Professoren unter unbekannten Oestreichern von theil'
weise geistlichem Stande und theilweise slawischer Abstammung, — herrscht
am letzten volle Ungezwungenheit und gemüthliche Wärme, ein deutliches
Zeichen, daß man durch die Versammlung einander näher geführt worden
war. In der Reihe der Toaste, die in raschem Wechsel aufeinander folgten-
wurde Schleswig-Holsteins nicht vergessen; ein Schulmann aus Siebenbürgen
sprach den Wunsch aus, es möge auch in seinem Lande, das standhaft >»>
äußersten Osten deutsche Gesittung aufrecht halte, einmal eine Philologen'
versammlnng tagen; und allseitig trennte man sich mit Ausdrücken der Ge'
sinnungsgemeinschast und der Hoffnung auf künftiges Wiedersehen.
Was die wissenschastlichen Debatten der Versammlung betrifft, so
die dafür verfügbare Zeit, die Vormittage des ersten, dritten und vierten
geh bis gegen die vierte Stunde, zu ziemlich gleichen Theilen für die Se^
tionsarbeiten und für die allgemeinen Sitzungen bestimmt. Ueber die B^'
Handlungen der orientalischen Section wird man es uns wol erlassen, new"
zu berichten; aber auch die der pädagogischen enthielten nichts, was sie
denen anderer Jahre unterschied, da alle speciell das östreichische Gymnap"
Wesen angehende Fragen ausgeschlossen blieben, ein Umstand, der ihnen
nöthigen neutralen Charakter wahrte. Dagegen verdient das Hanptsächu^
der allgemeinen Sitzungen um so mehr eine Erwähnung, als doch auch dal
die Tendenz des ganzen Unternehmens erkennbar war. Sie wurden in de^
selben Local gehalten, welches 1848 unter dem Namen der wiener Aula eine
s" eigenthümliche Berühmtheit erhalten hat. dem gegenwärtigen Festsaal der
Akademie der Wissenschaften: Graf Thun wohnte ihnen von Anfang bis Ende
bei. Die Eröffnungsrede des Präsidenten, des rühmlichst bekannten Slawistcn
Miklosich. bewegte'sich um das Verhältniß der classischen Philologie zu den
modernen Philologien und hob den reichen Gewinn hervor, welchen die erstere
mit ihrer fest ausgeprägten kritisch - hermeneutischcn Methode ihren jüngeren
Schwestern bringe. Hierauf berichtete Halm aus München über den 'NresÄU-
i'us Imgu^a l^til^v, der unter der Oberleitung eines aus ihm. Ritschl und
Fleckeisen bestehenden Comites von Franz Bücheler herausgegeben werden soll.
Die Gründung eines auf neuer selbstständiger Durchforschung der Schriftsteller
^ruhenden, den ganzen lateinischen Sprachschatz von den ältesten Zeiten bis
"uf die Mitte des sechsten Jahrhunderts nach Christus umfassenden Lexikons
ist längst ein Bedürfniß der fortgeschrittenen Wissenschaft; jedoch sind, um es
»u erfüllen, große Geldmittel und ausgedehnte Vorarbeiten vieler erforderlich.
Augenblicklich ist die Beschaffung der erster» wenigstens in so weit gesichert,
daß der Versuchter Ausführung gemacht werben kann, indem der regierende
König von Baiern eine Summe von zehntausend Gulden dafür aus seiner
Cabinctskasse angewiesen hat und die Gewinnung eines thätigen Verlegers
in Aussicht steht;' daß die letzteren zu Stande kommen, muß vor allem durch
"ne nichtige Theilung der Arbeit unter den Fachgenossen erreicht werden. Auf
SpcciallcM zu wichtigeren Schriftstellern. Auszüge aus minder wichtigen
kommt es zunächst an; für manche sind auch noch kritisch berichtigte Texte her¬
zustellen. Dergleichen theils selbst zu übernehmen, theils nach Möglichkeit an¬
legen und zu fördern, damit das große Ganze gelinge, legte der Redner
^'n Versammelten dringend an das Herz und verband damit den sehr berech¬
nen Wunsch, daß auch das Beispiel des Königs von Baiern anderweitig in
Agierenden Kreisen Nachahmung finden möge. Ohne Zweifel verspricht dieses
^ert. wenn es dem gemachten Plane gemäß zur Ausführung gelangt, das
bedeutendste Denkmal zu werden, das die deutsche Philologie des 19. Jahr¬
hunderts sich stiftet; ohne Zweifel war seine Empfehlung der weitaus wich¬
tigste Gegenstand, der einem Philologencongreß vorgelegt werden konnte, um
^ mehr da dabei an eiuer gut geregelten Vereinigung der Kräfte nicht we¬
niger als alles gelegen ist. Nichts natürlicher daher, als daß das Präsidium
der Zeitfolge diesem vor allen andern den Vorrang gab; und dennoch
Mitten wir fast gewünscht, es wäre nicht geschehn. Wenn schon alle Ver¬
sammlungen einer gewissen Zeit bedürfen, um die erste Sprödigkeit zu über¬
winden und Gcmeinsamkeitsgefühl und Empfänglichkeit in sich auszubilden,
'° war dies, wie schou hinsichtlich der Geselligkeit erwähnt wurde, bei einer
'° bunt gemischten ganz besonders der Fall. Wir meinen nicht, daß die su-
sehen und warmen Worte Halms eindruckslos verhallt sind, aber wir möchten
glauben, daß sie in einer spätern Sitzung lebhafter gezündet haben würden.
Abgesehn von der hohen Bedeutung seines Inhaltes schlug dieser Vor¬
trag einen Ton an, der durch ein eigenthümliches Zusammentreffen in den
nachfolgenden Verhandlungen nicht wieder verlassen wurde, indem die soge¬
nannte formale Seite der Philologie, welcher das großartige Unternehmen
des lateinischen Thesaurus angehört, an den beiden letzten Versanunlungstage»
den entschiedensten Vorrang behauptete. Einzig der letzte, wegen Mangels
an Zeit nicht zu Ende geführte Vortrag, der überdies die Aufmerksamkeit der
Anwesenden nickt mehr stark fesselte, der A. W. Zumpts aus Berlin, bewegte
sich im Gebiet der Realien des Alterthums. Von den vorangehenden be¬
schäftigten sich zwei, von Schenk! aus Innsbruck und Leopold Schmidt aus
Bonn gleichfalls am letzten Versammlungstage gehalten, mit literar-geschiclst-
liehen Fragen und riefen vcrhältuißmüßig nur kurze Discussionen hervor;
dagegen wurde die ganze Disputirsucht der Mitglieder rege, als am vor¬
letzten Linker aus Wien und Lauge aus Prag Stellen alter Schriftsteller,
jener eine des Tacitus, dieser eine des Sophokles, cmendirt.en und erklärten,
Die lange Ausdehnung dieser Debatten wurde den Hörern durch die gedie¬
gene Klarheit und die classische Form eines Mannes versüßt, der tara»
einen hervorragenden Antheil nahm, Haases aus Breslau, aber imiue^
hin hat sie etwas Auffallendes, denn im Allgemeinen gibt es wol keinen
ungeeigneteren Gegenstand für große Versammlungen als kritisch exegetische
Erörterungen. Durch sie, so wie überhaupt durch das völlige Ueberwiegen de>
einen Seile der philologischen Wissenschaft wurde die Physiognomie der dies¬
maligen 'Verhandlungen bedingt. Hierbei ist nicht etwa an eine Absicht des
Präsidiums zu denken, das mit Ausnahme des dem Halmschen gegeben"'
Vorzuges sich in der Anordnung der Vorträge nach der Reihenfolge der A»'
Meldungen richtete und Discussionen da eintreten ließ, wo sie begehrt wurden,
wol aber wird man vielleicht nicht fehl gehen, wenn man die Erklärung
einem instinctiven Zug oder in einen: stillschweigenden Einverständniß des
zu thätiger Aeußerung gestimmten Theiles der Versammlung sucht, der s>^
vorherrschend aus Fremden und aus nach Oestreich Berufenen bestand. Denkst^
Alterthllmswissenschaft soll in Oestreich immer mehr heimisch gemacht, w''
eigenthümlichen Bildungen dahin verpflanzt, ihre Methode dem Unterricht
Wesen so wie der Pflege der Nationalsprachen und Nntiouallitcraturcn zu Gelo^
gelegt werden; der Förderung und Ermuthigung dieses Gedankens galt da
ganze Unternehmen. Dazu gehört aber vor allem, daß jene strenge, selbst^'
wußte Kritik und Hermeneutik der Schriftsteller, die unsere Seminare einübt
und welche die Gruudlnge aller unserer gefunden Forschungen bildet, auch in"^
halb des Kaiscrstaats als der nothwendige Ausgangspunkt theoretisch u"
praktisch anerkannt wird. Was der Unterrichtsminister und der Präsident
Miklosich in ihren Reden andeuteten, was Halm in seinem Toast auf die
östreichischen Seminare aussprach, wirkte unwillkürlich auch als Triebfeder
in dem Eifer, mit dem man in den Sitzungen Proben einer methodischen
Behandlung der Schriftsteller zu geben suchte.
So begreiflich dies ist. so lag doch darin eine Einseitigkeit. Me die
Verhandlungen waren, ruhten sie auf der mehr oder minder bewußten Vor¬
aussetzung, daß bei der erstrebten Gemeinsamkeit Oestreich einzig der empfan-
Mide° das philologisch geschulte Deutschland der gebende Theil sei. und es
sollte uns nicht wundern wenn das hier und da verletzt hätte. Die Festrede
des Grafen Thun ließ die Sache mehr im Lichte der Gegenseitigkeit erscheinen,
'ndem sie auf die noch »»ausgebeuteten Schätze römischer Alterthümer in
Siebenbürgen, Ungarn. Dalmatien. Jstrien hinwies, welche Oestreich neben
seinem Sprachenreichthum der Philologie gleichsam als Aequivalent biete.
Trifft auch der Begriff eines Aequivalents nicht durchaus zu. so ist der
no.unnentale Reichthum des östreichische« Bodens jedenfalls ein Moment,
das schon um des daran sich knüpfenden Interesses der Bewohner willen n.ehe
"ußer Auge» gesetzt werden darf, wenn das Ziel erreicht werden soll; aber
für die wiener Sitzungen war er nicht vorhanden. Und doch kam es auch
Halms Bericht zur Erwähnung, welche Erweiterung die Kenntniß des la¬
unische» Sprachschatzes vo» Ritschls und Mommsens bald vollendeten epi-
graphischen Arbeiten'zu erwarte» liabe. u»d Mommsen hatte ror weniger
"is Jahresfrist einen großen Theil des Kaiserstaats durchwandert, um Ju¬
risten zu sammeln. Sollte außerdem die hier n»d da gemachte Beobach¬
tung, daß Süddeutsche vermöge der in ihnen stärker wirkenden Anschauung
v°'hältnißmüßig einen lebhafteren Zug zu archäologischer Beschäftigung haben
norddeutsche, nicht vielleicht auch ans die Oestreicher Anwendung finden?
Und wenn, läge dann nicht auch darin ein Mittel, das selbstthätige Studium
d°s Alterthums bei ihnen zu wecken? Wir wünschen auf das dringendste.
im Lause ctuiger Jahre einmal wieder in ni»er östreichischen Stadt eine
Philvlogenversammlung sich vereinigt und das auf der vorigen mit so vieler
?arn,e hingestellte Ideal der Verwirklichung um einen Schritt näher gerückt
s'ndet: als ein erfreuliches Zeichen davon würden wir es begrüßen, wenn
^"n »eben geschulten Erklärern alter Schriftsteller aus beiden Ländern ge¬
borene Oestreichs aufträten. die im wissenschaftlichen Geiste von den Museen
Ungarns, den Inschriften Siebenbürgens oder den architektonischen Resten
Salonas und Polas berichteten.
Die serbische Revolution — wenn man will, Restauration — ist vollen¬
det, gegen den Willen Oestreichs, halb zur Zufriedenheit Frankreichs, ganz
nach dem Wunsch und Interesse Rußlands. Fürst Alexander hat seiner ovo
Volke beschlossenen Absetzung durch seine Abdankung das Siegel beigedruckt,
das Land geräumt und sich mit den ersparten Millionen nach Wien zurück¬
gezogen. Die Pforte hat nach einigem Zögern die Wahl seines Nachfolgers
gut geheißen. Die Großmächte werden nichts dawider haben, Oestreich wenig'
fleus nichts dawider thun.
Der ganze Vorgang war kurz charakterisiert folgender: Fürst Alexander,
schwach an Verstand, noch schwächer an Willen, in auswärtigen Fragen zur Ren'
tralität geneigt, inconsequent und überdies zu nachgiebig gegen die Ansprüche
seiner Verwandten auf gute Stellen, hatte sich allgemein unbeliebt gemacht. Ein?
Partei unter den Vornehmen strebte ihn zu entfernen, um den einen oder den
andern ihrer Führer, den alten echtserbischen Wutschitsch, den französisch g°'
sinntcn Garaschanin, den reichen Salzhändler Mischn Barlowetz, oder
tausig alle drei zusammen an seine Stelle zu bringen. Der Versuch mißlang
anfangs, er wurde wieder aufgenommen, und das Volk, der Bauer, soll^
dabei helfen. Er half und gab den Ausschlag, aber nicht nach dem Würfel)^
der Herren im Senat. Die Skupschtina kam zusammen, sie forderte, wie ^
im Senat gewünscht war, den Fürsten zur Abdankung auf und setzte ihn,
ersieh weigerte, sich zum Convent gestaltend, ab, aber sie gab ihm zum
Solger auf dem Fürstenstuhl weder Garaschanin, noch Wutschitsch, noch eine"
andern der Senatoren, sondern den alten, seit ziemlich zwei Jahrzehnten »
der Verbannung lebenden, einst von ihr selbst verstoßenen Milosch Ob>^
nowitsch.
Ein Blick auf das Leben des alten Herrn, namentlich auf die Jah'^
wo er den serbischen Fürstcnstuhl innehatte, scheint eher das Erstaunen lib^
diese Bevorzugung erhöhen zu müssen, als sie zu erklären.
Fürst Alexander hatte im Ganzen und so weit das überhaupt auf ^
bische Angelegenheiten Anwendung leidet, constitutionell regiert. Wutsch'w
war eine rein serbische Natur — kann er, der Senator und Appellativ
gerichtspräsident, doch nicht einmal schreiben — er hatte den Frciheitstan'^
angekämpft und sich verschiedene Verdienste erworben, die auch in den A»^
der Bauern schwer wiegen. Garaschanin hatte als Minister mancherlei s
Hebung des Landes gethan, er galt für sehr klug und' gewandt, er
sich des Wohlwollens und der Unterstützung des französischen Consuls. Arde
konnten andere Verdienste für sich anführen, und wenn sie deren keine hatten,
>o hatten sie Dukaten, mit denen man in Slawen- und Türkentauber auch
^'nee noch erfolgreicher speculirt, als mit anderen Verdienst. Milosch hatte,
so weit er konnte, als Pascha regiert, die Verfassung, so lange er vermochte,
"vn sich fern gehalten, den Adel beschränkt, das Volk durch Monopole beein¬
trächtigt. In seiner Jugend Ochsenhändlerknccht, hatte er sich, als er ins
^'>l ging, ein Vermögen erübrigt, welches auf mindestens zwanzig Millionen
dulden veranschlagt wird — alles Dinge, die nach unsern Begriffen einem
Staatsoberhaupt nicht wohl anstehn. serbische Begriffe aber sind ungleich
den Begriffen civilisirter Volker. Der slawische Geist, insbesondere der Geist
>e»er Halbwilden an der unterm Donau. welche Jahrhunderte unter türkischer
Zucht standen und dabei bis aus den Glauben und die Sprache zu Türken
wurden, empfindet ein Pascharegiment, wenn es von einem Glaubens- und
Stanungenosscn geübt wird, keineswegs übel, er findet es sogar in der Ord¬
nung, s^de nichts Unanständiges darin, wenn ein Machthaber sich „die
Hand vergolden läßt", nichts Ungehöriges, wenn er sie andern vergoldet.
^e»n gegen Willkür Opposition gemacht wird, so ist es nur aus persönlichen
Zünder, nur. um einen Pascha, einen Despoten dnrch einen andern zu er¬
setzen. Ci,^ Verfassung hat hier stets zur Folge einen polnischen Reichstag.
^ Bauer versteht sie nicht, mag sie nicht, mag sie so wenig wie vom Staat
^erhaltene Schulen und Spitäler und andere geldkostendc Neuerungen und
Störungen seiner primitiven.Existenz. Die Woiwoden betrachten sie lediglich
Mittel zur Anknüpfung und Forderung von Intriguen zu Zwecken der
' elbstsucht. Von der Bedeutung eines Staats, von Pflichten gegen denselben
^ß man so gut wie nichts, und so findet man auch an dem Bestreben eines
pursten sich zu bereichern nichts auszusetzen, es wäre denn, daß er allzu direct
^ gar zu tief in den Beutel des Volkes griffe. So war es im alten Po-
so im neuen Hellas, so im Numänenlande, so früher und bis heute in
Serbien.
her damit nur erklärt, weshalb die Serben dem alten Milosch seine frü-
Mißregierung »erziehn, oder weshalb sie ihm eigentlich nichts zu ver-
so kommt dazu noch ein anderes Moment. Milosch hat, nach-
. ^ die vom schwarzen Georg errungene Befreiung vom Türkenjoch wieder
man wordeu, dem Lande die Unabhängigkeit von neuem erkämpft. Er
^ nationale Held der Serben, die personificirte Türkenfeindschaft in den
^'gen des orthodox und national gesinnten gemeinen Volkes. In seinem
Uein"°" Nuhm. Es ist ihm, um Großes mit Klei-
SU vergleichen, in gewissem Sinn ergangen wie der Dynastie Napoleon.
^> nur die Maße sind kleiner, die Formen roher. Hier wie dort waren es
untern Classen, das allgemeine Stimmrecht, die Bauer», welche den Aus-
schlag gaben. Hier wie dort vergaß man über dem Ruhm des Feldherrn die
Wunden, welche der Herrscher durch seine Verwaltung geschlagen. Hier wie
dort war es mehr das Gefühl als der Verstand, welcher die Wahl bestimmte.
Hier wie dort, dürfen nur hinzufügen, gingen der Entscheidung Jahre lang
Ranke von Seiten des Prüteudeuteu, dem Erfolg mehre mißglückte Versuche
voraus. Daß Milosch seine Dukaten dabei nicht gespart hat. ist bekannt,
aber doch nur Nebensache.
Der eine und der andere weitere Erklärungsgrund wird sich im Nach'
stehenden finden. Der letzte und wichtigste endlich, vor dem diese ganze
reactionäre Revolution zur bloßen Scene im zweiten Act des großen Schau¬
spiels der orientalischen Frage zusammenschrumpft, ist in der Hand zu suchen,
welche die Drähte lenkt, an denen steh bewußt und bezahlt oder unbewußt
und getäuscht die Puppen des großen panslawistischen und griechisch-ortho¬
doxen Puppenspiels von der serbischen Donau bis zum schwarzen Meer u»d
von den östlichen Ausläufern der Karpathen bis zu den Küsten der Adria
drehen.
Man hat die Türkei den kranken Mann genannt und mit Recht. Sie
ist todtkrank und Oestreichs und Englands Bemühungen werden sie nicht heile»'
Ein Serben- oder Südslawenreich aber, wie es im Plan der einen und der
andern Großmacht liegen mag und wie mau sichs in Belgrad träumt, würde
von vornherein ebenso krank sein. Die Rohheit des Volkes, die Selbstsucht
der Kuchen und Wojwvden bliebe, an der Stelle des panslawistischen Einheits-
gcfühles würde, wenn der Gegensatz wegfiele, der im Islam und dem Türke»'
volk liegt, sofort die Stauuneseisersucht hervortreten, und das Streben Oese'
reichs nach dem schwarzen, das Streben Rußlands nach dem Mitteln!^'
fände keinen andern Damm, als den es schon jetzt im Widerstand der ander»
Großmächte findet. Die Zeiten Stefan Nemanjas und Stefan Duschn»^
des Scrbenkaisers, sind vorüber. Auch dieses neue Reich wäre keine LöstM
der orientalischen Frage, sondern nur der letzte Act vor der Katastrophe.
Serbiens Befreiung begann 1801 mit einem Aufstände, der nicht tiree
gegen die Pforte, sondern wie der im verflossenen Jahre von den Bosnien
versuchte, gegen die Willkürherrschaft eines türkischen Soldatenadels , der D^)''
gerichtet war. Führer war der Schweinehündler Kara oder Czernn. Geo^ß'
ein Naturmensch tapfersten, aber zugleich rücksichtslosesten und wildesten Sinnes
Schon früher hatte er eine Erhebung versucht; diese war fehlgeschlagen, ^
hatte über die Scwe nach Oestreich fliehen müssen und dabei seinen Vate>'
der nicht mehr fortkonnte, ohne Weiteres niedergeschossen — aus Mitleid, ^
mit er nicht den Türken in die Hände fiele. Später ließ er seinen Bru^'''
der einem Mädchen Gewalt angethan, sofort an seiner eignen Thür anfb,""
gen und untersagte seiner Mutter, den Todten zu beweinen. Die Dahl w»>
den von den Serben im Einverständniß mit dem Pascha von Belgrad bekämpft.
Nachdem sie aber besiegt und vertrieben waren, nahm die Pforte ihre Partei.
Die Dahl kehrten zurück; verstärkt durch Freunde aus Bosnien und Albanien,
schlugen sie die Gegner in mehren Gefechten, nöthigten sie in die Wälder zu
^ehen, spießten und köpften, wen sie betrafen, und plünderten die von ihren
Bewohnern verlassenen Gehöfte. Bald indeß erholten sich die Serben von
^)re,n Schrecken, jagten die Dahl abermals aus dem Lande und nahmen auch
Festungen ein. Vergeblich beauftragte Sultan Selim erst den Pascha von
N'sah, dann die Paschas von Skutari und Bosnien mit ihrer Unterwerfung,
'^ara Georg gewann den großen Sieg bei Schabalz, und als bald nachher
Rußland der Pforte den Krieg erklärte, kam zwischen dem Sultan und den
Serben ein Vertrag zum Abschluß, in welchem den letztern beinahe die volle
uMhärigigkeit, das Recht, die Festungen zu besehen und eine eigne Regie-
^'Ug zugestanden wurde. Ein jährlicher Tribut von 1800 Beuteln (400,000
v"-) und die Suzerünetät war alles, was der Unterhändler der Pforte dieser
^'behielt. Der Vertrag wurde in Konstantinopel zwar nicht ratificirt, aber
>e Serben wußten sich selbst zu helfen, und im Juni 1807 waren sie im
^sitz nicht blos des platten Landes, sondern auch aller Festungen des Pascha-
l'ks Belgrad.
Weniger glücklich war man mit der Aufgabe, dem Lande eine feste Or¬
ganisation zu geben. Kara Georg war thatsächlich Herrscher, außerdem gab
°s einen Senat, der aus Vertretern der zwölf Kreise des Landes bestand, und
^ure Wojwodenversammlung, die alljährlich zusammentrat, um über wichtigere
^'"gen ihre Stimme abzugeben. Aber die Eifersucht der Wojwoden weigerte
"H. Kara Georg als Fürsten anzuerkennen, und dieser wieder hielt sich nur
c>, wo er mußte, an den Willen der Landesvertretung. Ein Kriegszug nach
niam, den Kara Georg 1800 unternahm, lies unglücklich ab und würde
der Vernichtung des serbischen Heeres geendigt haben, wenn ihnen nicht
neuer russisch-türkischer Krieg zu Hilfe gekommen wäre. Der Friede vonBos
Mit
ein
Bukarest ordnete auch die serbische Frage: er verbürgte den Serben die we-
"uichstcu Forderungen innerer Unabhängigkeit, doch mußten sie sich beque¬
mn, in ihre Festungen türkische Garnisonen aufzunehmen.
> Wie früher war es der Druck Rußlands gewesen, der Serbien die Aner-
Ninung seiner Unabhängigkeit von Seiten der Pforte verschafft hatte. Als
'°ste Druck bei Napoleons Einrücken in Nußland aufhörte, bereute der Sul-
seine Nachgiebigkeit. Ein starkes Türk'cnhecr zog gegen Serbien heran,
nach einem viermonatlicher Kampfe war das ganze Land in seiner Ge-
"le. Die Wojwoden. auch Karn Georg, flohen auf östreichischen Boden;
einer blieb zurück, Milosch Obrenowitsch, der in der Folge die Erbschaft
lieu'n , ' " '
Georgs anzutreten bestimmt war.
Milosch, der Sohn eines Tagelöhners Tescho im Dorfe Dobrinje und
einer Frau Wischnja, die früher mit dem Bauer Ohren verheirathet gewesen,
wurde im Jahre 1779 oder 178U geboren. Als Knabe mußte er sich mit
seinen Brüdern Jefrem und Jowan sein Brot durch Viehhüten erwerben.
Später diente er bei seinem Stiefbruder Milan Obrenowitsch als Knecht. und
als dieser, ein wohlhabender Ochsenhändler, beim Ausbruch des Kampfs
mit den Dahl den Befehl über einige Kreise erhielt, folgte ihm Milosch ins
Feld, wo er sich bald durch Klugheit und Tapferkeit einen Namen macht«-''
Milan scheint eine friedlichere Natur und wenig zum Kriegshandwerk' geeignet
gewesen zu sein, und so ging seine militärische Stelle in kurzer Zeit an
loses über, und als der Bruder 1810 im russischen Lager, wohin er als Un¬
terhändler gegangen, starb, wurde Milosch, der inzwischen Wojwode gcworde»
war und nun den Namen Obrenowitsch annahm, auch der nichtmilitäriM
Theil der Geschäfte des Verstorbenen übertragen. Im Jahre 1311 entzweit
er sich mit Kara Georg, und da er sich, vermuthlich im Vertrauen auf d>c
mit dem Türken Aschin Bej geschlossene Bundesbrüderschaft, die beide vel'
pflichtete, sich gegenseitig zu warnen, vielleicht auch in der Hoffnung, durch
Vergolden der Hände des Pascha von Belgrad Amnestie zu erlangen, ziemlich
sicher wußte, so flüchtete er 1812 nicht mit nach Oestreich, sondern legte nach
kurzem Widerstand beim Flecken Nawanje die Waffen nieder. Die TürkeN-
die durch einen Vertrag mit ihm das Land rascher beruhigen zu können glaub'
ten, nahmen seine Unterwerfung an und ließen ihm selbst seine Stelle
zweifelsohne mit dem stillen Vorbehalt, ihm bei passender Gelegenheit doch
noch den Kopf zu nehmen, wogegen Milosch sich vorbehalten mochte, ilM"
zu geeigneter Zeit das Prävenire zu spielen. Diese Zeit trat bald ein.
Türken verübten in dem eroberten Lande zahlreiche Greuel: sie führten
Maßregeln der früheren Bedrückung wieder ein, hohe Steuern, schwere Froh»'
dienste, köpften, pfählten, brieten gelegentlich den einen oder den andern
dächtigen am Bratspieß, mißhandelten die Frauen und jagten eine große Ä»'
zahl vermögender Leute von Haus und Hof in die Wälder, wo sie Rau^
wurden. Milosch wartete noch seine Zeit ab, hielt es offen mit den Tink'c"'
heimlich mit den Serben, versuchte scheinbar eine Versöhnung zwischen beide"
zu vermitteln und schritt sogar einmal mit den Waffen gegen seine Lar^'
lente ein. Endlich sah er aber ein, daß auch für ihn der Säbel oder d^
Pfahl bereit war, und so erhob er Ostern 1815 von neuem die Fahne ^
Aufstandes. Derselbe war von Erfolg begleitet. Die Türken waren uneiiNil'
ihre Paschas bestechlich. Milosch wußte beides klug zu benutzen. Er verso"
es, sich bei den Gegnern einen Rest von Vertrauen zu bewahren, ließ
chen Türken, den er hätte todten können, lentschlüpfcn. Wo es sein
nicht that, that es sein Beutel, der durch den Pacht von Steuern und
.,,, . > I^k » V »Iir.ünstl^ki ze7<n^ 1?!^ <^k SdllÄPolen schon damals in den Stand gesetzt war, harte Herzen durch Dukaten-
tt»en zu ni'Mieder Entschlüssen zu befruchten. Und während er sich auf diese
Weise mit den Türken zu stellen wußte, gelang es ihm zugleich, seine Aner¬
kennung als Oberknes bei seinen Landsleuten durchzusetzen — natürlich auch
hier nicht blos mit Gold, sondern auch mit Eisen. Mancher Nebenbuhler
büßte seine Opposition mit dem Leben, unter andern auch Kara Georg, der
l8N in das Land zurückgekehrt war. um die Türken vollends zu vertrei¬
ben. Milosch meldete seine Pläne nach Belgrad, der Pascha verlangte seinen
Kopf. Milosch, der Biedermann, schickte ihn.
So standen die Angelegenheiten Serbiens bis zum Vertrag von Akjcr-
wnn. Die Pforte schien den Zustand des Landes, eine Art Waffenstillstand,
stillschweigend gut zu heißen; eine förmliche Anerkennung war zwar nicht zu
langen, indeß hatte man. schon wegen der Aufstände um Rumänenlandc und
w Griechenland, auch keine kriegerischen Maßregeln von Stambul her zu
Westen. Milosch befestigte sich den Kuchen gegenüber mehr und mehr in
seiner Stellung und war nebenbei fleißig. Dukaten zu ernten. Der Vertrag
Zu Atjerman wiederholte die den Serben im bukarester Frieden ertheilten Zu-
sichnungen der Friede von Adrianopel stellte sie als endgiltige Ordnung des
Verhältnisses Serbiens zur Pforte fest. Milosch. zwei Jahre vorher von
einer Se'upschtina in Kragujewatz zum erblichen Fürsten Serbiens erwählt, er¬
hielt jetzt die Bestätigung seiner Würde von Seiten des Sultans. Er ließ
"un. um eine Verfassung angegangen, eine Nationalversammlung berufen und
von dieser eine Commission ernennen, welche eine Konstitution entwerfen sollte,
und zu gleicher Zeit wurde nach dem Muster des Code Napoleon ein Gesetz¬
buch für das Land geschaffen. Die Verfassung wollte geraume Zeit nicht zu
Stande kommen, und das Gesetzbuch schien für alle da zu sein, nur nicht für
^n Fürsten. Die Bauern allerdings waren ihm zugethan. Er schlug zwar ver¬
schiedene Gemeindewaldungen zu seinem Privatbesitz und machte den Schweine¬
handel, einen der Haupterwerbszweige des Landes, zum Monopol, aber er
hatte die Frohnden aufgehoben, und das entschädigte für diese Beeinträchti¬
gungen. Dagegen wuchs die Unzufriedenheit der Kuchen und Wojwoden über
Nichtbeachtung ihrer Ansprüche aus Mitregierung und Mitgenuß der penn-
"lären Vortheile der fürstlichen Herrschaft von Jahr zu Jahr. 1835 erhoben
sie unter der Führung von Wutschitsch. Petroniewitsch. Protitsch und sunt,es
°le Fahne der Empörung. Der Aufruhr hatte zur Folge, daß Milosch nach-
^b. Er wollte erst das Land verlassen. Die Häuptlinge aber, d.e befürch¬
tn Mochten, sich über die Beute nicht verständigen zu können, erklärten, so
sei es nicht gemeint, man verlange nur die versprochene Verfassung. Mi¬
loschgab sie, und er gab mit vollen Händen. Volkssouveränctnt. verantwort-, " Vl>>^ ^1 t^no HIN vo>I>.>i >^>Il^>>. O^I,to^it>^l»>>>.^t4. l^lNIIltvvll-
^e Minister. Preßfreiheit und dergleichen stand auf dem Papier, welches er
Ende 1835 der Pforte zur Bestätigung vorlegte. Die Pforte versagte ihre
Zustimmung, da Oestreich und Nußland es widerrathen, und schickte erst 1836
eine verbesserte Auflage in Form eines Hatischerif zurück. Auch diese Ver¬
fassung war sehr freisinnig, wurde indeß von Milosch so wenig gehalten, als
jene erste von ihm gehalten worden Ware. Er regierte nach Belieben, ve.r«
nachlässigte die Pflicht, die Skupschtina zu berufen und verwandelte noch mehr
Handelszweige als früher in Monopole. Nußland, das ihm stets wohlgewollt,
ließ ihn warnen, den Bogen nicht zu straff zu spannen. Er indeß beachtete
die Warnung nicht, vielleicht weil er sich sehnte, auf dem ersparten und au¬
ßer Landes geschafften goldnen Segen seines bisherigen Regiments ein paar
Jahre auszuruhen.
In letzterem Falle wurde seinem Wunsche Erfüllung. 1839 ging vom
Senat eine Bewegung aus, die ihn zur Abdankung zwang. Wutschitsch, der
1835 das Land verlassen hatte und jetzt zurückgekehrt war. kündigte ihm kurz
und hurtig an. man wolle ihn nicht mehr. Milosch erwiderte ebenso kurz
angebunden, dann werde er gehen, übertrug die Regierung seinem ältesten
Sohne Milan und verfügte sich zu seinen Dukaten nach Wien und später
auf seine Güter in der Walachei.
Die Abgeordneten haben nun zum größeren Theil einen Mütz in den Fr^
livrer gefunden: die liberale Partei zählt 148 Mitglieder (wir erlauben uns den
verehrten Präsidenten noch immer dazu zu rechnen, obgleich er formell an de»
Sitzungen nicht mehr Theil nimmt), das bisherige protestantische Centrum 41, d«6
neue katholische Centrum 5K, die Polen 17, die reactionäre Partei 39. Wie si^
nun diese Fraktionen zu den bestimmten staatswirthschaftlichen Fragen verhalte»
werden, bei denen es sich mehr um eine concrete Einsicht in die Sache als um eine
allgemeine politische Farbe handelt, kann man noch nicht ermessen. Die Wah^
Prüfungen haben wenigstens ein sehr erfreuliches Resultat gehabt: der Minister des
Innern hat das vielfach angefochtene Verfahren einiger unter den WahlcommissarieN,
die sich wenigstens indirect auf seine Autorität den andern Ministern gegenüber be>
riefen, entschieden gemißbilligt und Abhilfe und Untersuchung versprochen. Die^
Einigkeit innerhalb des Ministeriums, die von unsern Gegnern so häufig angczwcife
wurde, verspricht eine gedeihliche Entwickelung unseres Rechtszustandes.
Mit großer Freude haben wir auch in diesen Vorverhandlungen eine Selin^
begrüßt, die leider seit drei Jahren verstummt war. Wir haben uns von der Zw^'
Mäßigkeit des Platzwechsels, den, wie es heißt, hauptsächlich der Freiherr v. Vi"»^
angeregt, nicht überzeugen können, und wir werden vielleicht noch manchmal ^
^ Lage kommen, einzelnen Ansichten desselben zu widersprechen, und doch bleibt
^' unter all den ehrenwerthen Männern, die im Allgemeinen unsere Sache vertreten,
""ser Stolz und unsere Freude. Wenn das freie Wort einer der wichtigsten Vor-
)"le ist, die sich an das parlamentarische Wesen knüpfen, so muß uns eine Stimme
Unschätzbar sein, die sich im Ernst vernehmlich macht. Im vereinigten Landtage
W'beide es sich zuweilen um politische Fragen, die dein deutschen Ausland nicht
ganz verständlich waren; was aber Vincke sagte, war allen vollkommen deutlich,
Zeigte sich allen tief ins Gedächtniß ein; und so wars wiederum in der Paulskirche.
" wars in der zweiten Kammer seit der Einführung unserer Verfassung, und schon
" den wenigen Tagen, die seit der Einberufung des neuen Landtags verstrichen
'Ad, heil sich gezeigt, wie viel ein rücksichtsloser und unumwundener Ausdruck dessen,
"c>s alle Welt im Stillen denkt, werth ist. Mehr als irgend ein anderes Volk sind
"',r Deutschen zur Undankbarkeit geneigt, und so hat man auch an dieser schroffen
"'gen Natur vielfach Anstoß genommen; man sollte aber nicht vergessen, daß eine
>"lebe Natur dazu gehört, dem Unrecht überall ins Gesicht zu schlage», wo es sich
^'ge und daß man es einem kräftigen Arm, dessen man in den Zeiten der Noth
^ er'f, schon nachsehen muß. wenn er mitunter unnöthige Kraftproben anstellt.
Die erste Handlung des neuen Landtags ist der Entwurf einer Adresse gewesen,
un mir uns im Allgemeinen der Ansicht derjenigen anschließen, die gegen die
"»»fische- Manier einer jährlichen Adreßdcbatte protestiren, so war sie diesmal nicht
°s erlaubt, sondern geboten. Es handelte sich zunächst darum, dem Regenten den
hell^' den heißen Dank der Nation auszusprechen für das, was er gethan. Er
bereits sehr viel gethan, viel mehr als man jetzt anerkennen will, da es sich in
Mre kleinere Zeiträume zerspaltet; und er hat es gethan ohne irgend einen
Drang, nach seiner eigenen fürstlichen Ueberzeugung von Recht und Pflicht.
^ handelte sich ferner darum, im Namen des gesammte» Landes feierlich zu er-
^u, daß alle Insinuationen gegen die liberale Partei, die Majorität des jetzigen
"dtags, als gehe sie darauf aus die Rechte der Krone zu verkürzen, auf Lüge und
^ eumdung beruhen; daß niemand eifriger darauf bedacht ist, den altpreußischen
°'se. die altprcußische Tradition zu erhalten und die Macht und das Ansetzn der
"Maden Krone zu erhob» als wir.
^ loge von dem richtigen Takt der Mehrheit, daß sie für diese Erklärung eine
^ ^ gefunden, der sich alle Parteien anschließen können. Die Herrn von der
r^"^"wng gaben sich in der letzten Woche das Ansehn. als habe sie die Thron-
>vel/°^ befriedigt, als sei sie eine schlagende Widerlegung all der Hoffnungen.
das Land aus die neue Regentschaft gesetzt. Wir finden vielmehr, daß diese
hab ^ vollkommenen Einklang mit den Thaten stehn, über die wir uns gefreut
sbr ^ ^'eitles spricht und sieht ein Fürst anders. als wir, die Bürger sehn und
eben^"" Standpunkt ist ein anderer und muß ein anderer sein. Es ist aber
dqg "" Glück für Preußen, daß wir von diesen verschiedenen Standpunkten aus
""'nuche Ziel vor Augen haben. Die Macht und das Ansehn der Krone ist
Und ^ ^ Preußischen Bürgers, sondern die Garantie für sein Wohl,
bildet ^"^"i ""d Zufriedenheit des Bürgers, der zugleich das Heer Preußens
g ° ' d'e sicherste Bürgschaft für die Macht der Krone. Wir haben angekämpft
^ jenen bösen Geist des Mißtrauens, der aus blöder Gespensterfurcht vor der
Revolution unsere Freiheit beeinträchtigte, unser Rechtsgefühl abstumpfte, der in
hastigem, unruhigem Erpcrimcntiren fortwährend an den Grundfesten des Staats
rüttelte, die bestehenden Verhältnisse nach romantischen Doctrinen umzuformen suchte,
und zu dieser Umformung Mittel und Werkzeuge anwendete, die noch schlimmer
waren als der vorgestellte Zweck. Dieser böse Geist ist jetzt gebannt, und mit vol-
lem Vertraun stehn wir dem Fürsten gegenüber, der uns so reiches Vertraun ge¬
schenkt hat, und der in seinem strengen Pflichtgefühl, was er für recht und noth¬
wendig hält, uns frei gewähren wird, ohne zu glauben, der Krone etwas zu ver¬
geben. Thun wir nun auf unserm Standpunkt unsere Pflicht, wie er die seinige
thun wird.
In der Thronrede waren die Beziehungen zu den auswärtigen Mächten als
freundlich bezeichnet. Diese Erklärung hat im Ausland um so mehr Sensation ge¬
macht, da sie in einem Augenblick gegeben wurde, wo der politische Horizont von
schweren Wetterwolken bedroht schien. Zwar sind diese jetzt im Begriff sich zu ver¬
ziehen, aber nur für den Augenblick, und grade die momentane Ruhe macht es mög¬
lich und wünschenswerth, uus offen über ein Verhältniß auszusprechen, mit wclchcw
die Ehre des preußischen Staats, das Wohl aller seiner Bürger auss innigste ver¬
knüpft ist.
Die öffentliche Meinung hat sich bereits laut dahin ausgesprochen, daß dein,
was in den letzten Wochen vorging, ein schwerer Frevel zu Grunde liegt. We>^
für eine Absicht vorlag, die Leidenschaft der Italiener aufzustacheln, wenn man dont>
entschlossen war, nicht Ernst zu machen, können wir nicht entscheiden, vielleicht h^
da« Börsen spiel einen nicht unerheblichen Antheil daran. Der vorläufige Erfolg ^
eine Befestigung der östreichischen Herrschaft in Italien, die man diesmal dem kräf¬
tigen Austreten der Oestreicher wol gönnen mag. Indeß ist dieser Erfolg nur cM
vorübergehender, da die Ursachen des Zerwürfnisses, die Unzufriedenheit der Italiener,
der anarchische Zustand der Donauländer und die Eifersucht Rußlands und Frank¬
reichs auf Oestreich fortbestchn. Preußen hat sich also klar zu machen, welche See^
in diesem Conflict, der früher oder später ausbrechen muß, seiner Ehre und scinew
Interesse zukommt.
Preußen hat an dem Ruhm des siebenjährigen Krieges ein reiches politisch^
Capital, aber auch eine Last. Durch das Gefühl dieses Ruhmes hat es nament¬
lich innerhalb Deutschland Ansprüche und Befürchtungen rege gemacht, die über de»
wahren Sachverhalt hinausgehn. Es ist namentlich seit 1814 officiell in den Rar>)
der Großmächte ausgenommen, und hat damit nicht blos das Recht, sondern an»'
die Pflicht übernommen, auch in denjenigen europäischen Angelegenheiten
Stimme abzugeben, die mit seinen unmittelbaren Interessen nichts zu thun habe"'
Der wiener Congreß hat einen Staat geschaffen, der in seiner geographischen Gru"^
läge auseinandergerissen ist, und daher nothwendigerweise das Streben haben wu>^
sich abzurunden, seis in der Form der alten Arrondirung, oder durch orgam! )
Bündnisse, kurz durch eine Union in der Weise von 1849, wenn wir auch le>"^
wegS gemeint sind, die ungeschickte Form dieses Versuchs zu vertreten. Durch c>g
Kraft kann Preußen nicht daran denken, sich zu erweitern- seitdem die Eisenbahn
erfunden sind, würde auch ein Friedrich der Große durch die Uebermacht in ein
halben Jahr erdrückt werden. So ist es auf Allianzen angewiesen und es lieg
"".he, daß es seine Stellung als Großmacht zu seinen Privatjwccken ausbeutet, daß
^ in Angelegenheiten, die seinen eigenen Vortheil nicht berühren z. B. in Italien
"der im Orient, denjenigen Großmächten seine Stimme gibt, die ihm einen realen
Gewinn in Aussicht stellen.
So und nicht anders wird jedes preußische Ministerium die Sache auffassen, so
hat sie auch d^s Ministerium Manteuffel aufgefaßt, nur daß es von dem falschen
Princip ausging, es auf die Entscheidung des Zufalls ankommen zu lassen. Diese
'^t von Politik empfiehlt sich der Furchtsamkeit, da man sich stets überreden kann,
der letzte entscheidende Augenblick sei noch nicht gekommen; wie gefährlich sie aber
'se. lehrt das Beispiel von 1805 und 18V6. Oestreich konnte 1812 eine solche
Politik verfolgen, weil es stark genug war, dem Anprall ohne Gefahr des völligen
Untergangs Widerstand zu leisten; Würtemberg weil es zu schwach war, um Neid
»u erregen; Preußen ist in der gefährlichen Mittelstellung, die den Neid herausfordert
"h»c zum letzten entscheidenden Widerstand zu befähigen. Wenn Preußen aus sci-
Lage Vortheil ziehen 'will, so darf es den letzten Augenblick nicht abwarten.
-, ^u der gegenwärtigen Gruppirung der Großmächte treten nun unter den preu-
v>!chen Staatsmännern drei verschiedene Ansichten hervor.
Die eine, bis setzt die Minorität, räth zu einer Wiederaufnahme der altcnfritzi«
<s^" Po^til, d. h. zu einem Bündniß, welches, aus die Erweiterung des eignen
Staats
Bündrgerichtet, die Spitze gegen Oestreich kehrt. Die Möglichkeit eines solchen
^undnisses wird niemand bestreiten, ebenso wenig die Gefahren, die es für Dcutsch-
hat, denn als letztes Resultat einer solchen Combination hätten wir einen
^eg, mie wir ihn seit 45 Jahren nicht gekannt haben und der Ausgang entzieht
''es der Berechnung.
^ Die zweite Ansicht fordert einen strengen Anschluß an Oestreich. Wenn wir
"u den Gefühlspolitikcrn abschn, die sich vom bloßen Jnstinct leiten lassen, so
et"stelzte Zweck eines solchen Bündnisses durch die Broschüre „Politik der Zu-
fass ausgedrückt. Der Verfasser geht zwar weiter, als man bei nüchterner Aus-
, ng der Dinge gestehn mag, aber der Sinn bleibt doch immer, daß Preußen
O^> ^'derspruch Oestreichs etwas in der Art der Union einrichtet und seinerseits
u. . ^ überläßt, die ihm angehörigen Elemente an sich zu ziehen. Auch hier
Oese-.'^ ^^lebten auf der Hand. Freilich ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß
hebt ' ^° lange es sich nicht um seine Existenz handelt, zu einem solchen Vor-
P^. ^. ^ Hand bieten werde. Darum war grade im gegenwärtigen Augenblick
teri . ^ so schwierig. Daß es absurd gewesen wäre, von Preußen zu ver¬
setzen"^' ^ Bundespflicht hinausgehn und Gut und Blut daran
>"stung"ten, wäre keine leichte Aufgabe gewesen.- um den östreichischen Besitzstand in Italien zu sichern, ohne irgend eine Gcgen-
fui/"^ Seiten Oestreichs, sieht jeder ein: aber diese Gegenleistung genau zu
"'"Mulirc
gibt für Preußen noch einen dritten Weg. Die norddeutsche Union liegt
gege"" Interesse aller Betheiligten, daß nnr das Mißtrauen der deutschen Fürsten
>le.^"lere Uebergriffe Preußens sie zu Feinden derselben macht. Dieses Mißtraun
ferti ^ hauptsächlich auf die Zwittcrstcllung Preußens. Preußen hat ein schlag-
tcre q ^ ^'"^ natürlichen Kräfte hinausgeht, bei dem man also wei-
^»wende voraussetzen muß, wenn man der preußischen Regierung nicht eine falsche, Es
'° sehr
Rechnung zutraun will. Dieses Mißtrauen würde aufhören, sobald Preußen M
eines Theils seiner kriegerischen Rüstung entkleidete und eine offne und consequente
Friedenspolitik verfolgte. Sobald die mittlern und kleinern Staaten Deutschlands
aufhören würden Preußen zu fürchten, sobald sie an ihm einen Schutz gegen M
Unruhe fanden, so würde der Zollverein in seinem ganzen gegenwärtigen Umfauö
nicht blos in Hnndclsbeziehung eine Wahrheit werden, und so lange Preußen W
im Verein mit den übrigen deutschen Regierungen bereit erklärt, seine Bundespflieh'
ten zu erfüllen, die über den Umfang des deutschen Bundes nicht hinausgehn,
würde auch Oestreich keinen rechtlichen Einspruch dagegen erheben können. Vielleicht
ist dieser Weg der sicherste, allein ihm widersprechen die altpreußischen Traditionen
Es scheint eine Erniedrigung, sich aus dem großen europäischen Kongreß in die de<
scheitern deutsche Reichs Versammlung zurückzuziehn und Gefühle sind zuletzt ein
lor, der bei politischen Combinationen auch in Rechnung kommen muß.
Jeder dieser drei Wege ist möglich, jeder hat seinen Vortheil, jeder seine ernste"
Bedenken. Für heute machen wir, ohne uns auf eine nähere Untersuchung einzU'
lassen, nur aus eins aufmerksam : Preußen kann nur dann fortschreiten, wenn ^
einen dieser drei Wege wählt und dann mit rücksichtsloser Entschiedenheit ohne U'
gerd einem Bedenken Gehör zu geben, auf demselben verharrt. Das Abspring^
von einem Weg auf den andern, welches Preußens Politik namentlich seit 184'
charakterisirt, hat dem Staat keinen Segen gebracht, und würde bei jedem ernstes
Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Von I. Falke. 2 Theile. — Le»"
zig, Verlag von G. Mayer. 1858. — Eine Geschichte der deutschen Kleidertrach^'
von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, die sich dadurch vor andern
zeichnet, daß der Versasser die Moden nicht als bloße Geschöpfe des Zufalls, l""'
dern als Züge der geistigen Physiognomie der jedesmaligen Zeit, als ÄusprägU^
des Charakters der einzelnen Entwicklungsperioden ansieht und demgemäß deha»^
Neben vielem Treffenden laust bei dieser Auffassung manches Willkürliche mit u»t^
>- ->n>,>ü-.>«.,t.»»Q ,->'i-,,6„!,>>n^, ^n>-<. i-i-i-^i s/ni^L'^. et!«it^^ ./!>'V»' «>>
se'
Ststrreebbungen, welche sich an das germanische Museum in Nürnberg knüpfen, ^Im Ganzen aber muß das Werk als eine fleißige und geschickte Arbeit und als ^
willkommener Beitrag zur deutschen Culturgeschichte bezeichnet werden, der den
en
macht.
^litt pill Ire av it? ?isiLtraius (Zg-xtsn (Sir Da^ra Luwer ^t-
eor). voxz'ri^In Däition. 4 La. I^eirMg, 'lauelrnit?. (volleetion ok Lritisd
^-utdors.)")
Der neue Roman Bulwers, der ungefähr in der nämlichen Zeit erschien,
sejn Verfasser Minister wurde, veranlaßt uns, über den Dichter, der eine
^'u lang in Deutschland unbillig erhoben, dann ebenso unbillig herabgesetzt
winde, eine wenn auch nur kurze allgemeine Charakteristik zu geben. Einen
öU'ßer Dichter wird ihn wol niemand mehr nennen, aber er vertritt eine
Unkunde Stufe unserer europäischen Culturentwicklung, und er vertritt sie
't Anstand. Er hat viel Verfehltes geschrieben, aber auch in seinen schlech¬
tsten Schriften erkennen wir den gebildeten Mann heraus und haben das
. ^fühl. uns in guter Gesellschaft zu bewegen. Er besitzt ferner eine Eigen-
^se. die man heutzutage zu gering anschlägt, die aber nothwendig ist, wenn
eine nachhaltige Wirkung auf seine Zeit ausüben will, im hohen Grade:
^ Fruchtbarkeit. Er ist jetzt 56 Jahre alt und hat 20 große Romane ge-
nineben, außerdem epische und lyrische Gedichte. Theaterstücke, weitläufige
^M)e und gelehrte Werke u. w.; daneben sitzt er feit seinem 28. Jahr
^ '^'ugen Unterbrechungen im Parlament und lebt in Mitte der feinsten
in ^ ^utar seinen zahlreichen Schriften sind wenigstens einige, die
^ Augenblick ihres Erscheinens ein außerordentliches Aufsehn machten und
noch jetzt mit Interesse gelesen werden können; fast durchweg regen sie
^ Nachdenken an und verrathen ernsthafte Studien. Das alles sind Eigen-
^"sten. die ihm in der Literaturgeschichte einen Platz sichern, und in der That,
^'es die englische jNomanliteratur ist und so groß die Zahl talentvoller
Schriftsteller, so sind es doch nur vier, die man als eigentliche Führer be¬
zeichnen muß und zu diesen ist unzweifelhaft Bulwer zu rechnen. Die drei
andern sind Scott, Dickens und Th ackern y; jeder von ihnen versinnlicht
eine neue Physiognomie der Gesellschaft und des Lebens.
Bulwer ist 1803 geboren, aus einer sehr ansehnlichen, wenn auch bürger¬
lichen Familie. Seine ersten Gedichte und Erzählungen erschienen 1826, vo»
ihnen ist nur die eine Erzählung, Falkland, von Interesse, weil sie den Kern¬
punkt seines Schaffens im Gegensatz zu seinem nächsten Vorgänger W. Scott
charakterisirt. Es betrifft die Theorie der „gemischten Charaktere", von der auch
in Deutschland viel die Rede gewesen ist, ohne daß man sich indeß klar ge-
, macht hätte, was diese Bezeichnung heißen soll. Wenn man einfache Charak¬
tere "im tadelnden Sinne diejenigen nennt, die nur eine abstracte Eigenschaft
ausdrücken, so läßt sich dieser Vorwurf auf W. Scott gewiß uicht anwenden-
Wir dürfen nur auf seinen Ludwig XI. oder auf seinen Alterthümler auf¬
merksam machen, um zu zeigen, wie mannigfaltige, ja anscheinend entgegen¬
gesetzte Eigenschaften er in seinen Figuren zu einer lebensvollen Einheit Z»
verknüpfen versteht. Aber grade auf diese Einheit bezieht sich der Vorwurf
W. Scott, der die Farben seiner Schilderungen fast durchweg ans der Be¬
obachtung des wirklichen Lebens oder aus der Geschichte nimmt, weiß si^
sehr schnell und entschieden in den innersten Kern eines Charakters zu ver'-
setzen, oder was bei der Dichtung dasselbe sagen will, diesen Kern zu erfin¬
den. Von diesem Kern aus versteht er seinen Charakter in allen scheinbare»
Widersprüchen, in allen labyrinthischen Windungen seines Handelns vollkom¬
men, es bleibt ihm nichts in seinem Herzen unklar, und diese Klarheit ver'
breitet er auch über seine Leser. Damit hängt aufs engste zusammen, de>s>
ihm sein Sittengesetz feststeht; in hohem Grade mild und tolerant, ist ^
doch keinen Augenblick zweifelhaft, ob und wie weit eine bestimmte Handlung
zu loben oder zu tadeln sei. Darum legt man fast durchweg seine Romane-
auch wo sie einen greulichen Ausgang haben, mit einem versöhnten Gesi^
aus der Hand, den» dem unverbildeten Leser kommt es doch hauptsächlich da>'
auf an. daß Recht Recht bleibt. Mit einem Wort, W. Scott ist ein gM
biger, oder was dasselbe sagen will, ein innerlich geordneter Geist, der nic^
erst nöthig hat, sich beim Anfang seines Schaffens ein Register aufzusehen-
nm jedesmal nachzusehn, ob er nicht gegen seine ursprüngliche Anlage eine»
Verstoß begehe. So wie äußerlich seine Landschaften in seiner Phantasie ^
feststehn, daß man sie nicht blos abzeichnen,, sondern in einem Grundriß
auf alle Details wiedergeben könnte, so ist es auch mit dem innern Lebe»
seiner Menschen, und darum hat man oft den Uebermuth mißverstanden,
thu er sich selber über den Leichtsinn seines Schaffens ausspricht.
Gegen diese Ordnung des Geistes hat man neuerdings einen schwed
Vorwurf erhöht»: mein klagt ihn des Mangels an Tiefe an. Es soll eine
gewisse Nüchternheit und Beschränktheit verrathen, sowol wenn man überfeinen
Charakter vollkommen klar ist. als wenn mau um die Festigkeit des Sitten-
gesetzes glaubt. Bis zu dein Hexenspruch „schon ist häßlich" erhebt man sich
-war selten, aber je näher ein Dichter demselben kommt, für desto tiefer sieht
man ihn an. Schon zu den Zeiten W. Scotts gab es in England eine
Schulz die darauf ausging, in der wohlgcschasfeustcu Seele den Abgrund
nachzuweisen, in dem der Bose sein Spiel treibt, und auf das Sittengejetz
Goethes Worte anzuwenden: „Vernunft wird Unsinn. Wohlthat Plage; weh
dir. daß du ein Enkel bist!" Der Führer dieser Schule war Godwrn,
Shelleys Schwiegervater; sein Hauptroman Catch Williams er,chien 17V4.
und W. Scott, der sonst in seinen Recensionen außerordentlich mild ist. be¬
kämpfte ihn mit jener Bitterkeit, die ans den, Bewußtsein eines entgegen¬
gesetzten Princips hervorgeht. Erst durch Bulwer gewann diese Schule einen
Platz in der allgemeinen'Literatur. wobei freilich in Anschlag zu bringen ist.
daß vorher bereits Lord Byron das Publicum darau gewöhnt hatte, beim
^theil paradoxe Gesichtspunkte geltend zu machen. ,
Der erste Erfolg, durch deu sich Bulwer Bahn brach, bezog sich freilich
mehr auf das äußerliche als aus das innere Leben. 5-ein Pelham oder
d^ Abenteuer eines Gentleman erschien 1828. also in einer Zeit, wo
Scott den Culminationspunkt seines Ruhms bereits überschritten und wo
^oopcr mit seinen Indianerbildern den Reiz der Neuheit verloren hatte.
2u Bezug auf Composition war der Roman ebenso schwach wie später daS
^stlingswerk von Dickens, „die Pickwickier"; überhaupt ist es bemerkenswerth.
nicht grade die künstlerische Form über den Erfolg eines Werks entschei¬
de, das eine neue Richtung einschlägt; auch Banity-Fair läßt in dieser Be¬
gehung sehr viel zu wünschen übrig. Was bei Pelham die allgemeine Aus-,'Nertsamkeit aus sich zog. war die neue Form, in welcher sich die sociale
^istokrntie dem bürgerlichen Publicum vorstellte. Zwar hatten schon in frü-
Zeit die Damen aus der feinern Gesellschaft dafür gesorgt. Enthüllungen
^er ihre Kreise dem uneingeweihten Auge mitzutheilen, und so finden sich"unrentlich bei Lady Charlotte Vury und der Gräfin Blessington
^'uge, die mon in dem Roman einer Dame kaum erwarten sollte. Aber
°Maal waren diese Werte uicht recht durchgedrungen. und dann waren es doch
^ grade die idealen Figuren, die man als gemischte Charaktere darstellte,
^lhcnn enthält nicht blos eine Satire gegen die vornehme Welt im Allge-
"^"en. die übrigens zum Theil sehr treffend ist, sondern der Held selbst, das
^°al des Dichters, tragt eine Maske und zwar die Maske eines Gecken;
^de man freilich näher zu, so kommt man bald dahinter, daß es uicht blos
^te ist. Ueber diese Bilder qerieth nun das lesende Publicum in ein un-
geheucheltes Entzücken. Zum Theil galt dies der unverkennbaren Naturwahr¬
heit, zum Theil aber auch dem glückseligen Gefühl, wie leicht es sei, sich als
vornehm zu zeigen. Die Welt erfüllte sich seitdem mit Pelhams, die sich
nach der neuesten Mode kleideten, der Gesellschaft bald durch ungeheure
Fadäsen, bald durch Citate aus dem Horaz imponirten, die sich nicht blos
im Rapier, sondern auch im Knittel übten, und die möglichst viel Unver¬
schämtheit zur Schau trugen. Bulwer hatte für Recepte gesorgt; wie z. B-
die Geschichte mit der Uhr, daß ein Gentleman keine Uhr brauche, weil die
Dame, die ihn zum Rendezvous bestelle, auch auf ihn warten könne. Der
alte englische Gentleman aus der Schule W. Scotts war schwerer nachzuah¬
men, denn um vornehm zu scheinen, mußte er auch vornehm sein. Guy
Mannering (1815) ist zwar ein entschiedener Tory, er gibt sehr viel aufs
Blut, hat für alte Familiensitze eine romantische Vorliebe und behandelt un¬
verschämte Lakaien wirklich als unverschämte Lakaien; aber nicht darin liegt
seine Vornehmheit, sondern in der Abwesenheit alles leeren Scheins, in jener
Mischung von Stolz und Bescheidenheit, die jede offene ehrliche Natur aner¬
kennt und nur der Heuchelei gegenüber ihre Verachtung nicht verhehlt. Ueber-
haupt ist es ein sonderbares Vorurtheil, wenn man W. Scott der aristokra¬
tischen Gesinnung beschuldigt, wenigstens wenn man diese Beschuldigung im
schlechten Sinn nimmt. Grade als offener gläubiger Tory ist er in dieser Be¬
ziehung viel unbefangener, als manche moderne Demokraten, die zwar gern
den gesammten Adel ausrotten möchten, denen aber nicht blos jeder Edel¬
mann, sondern jeder Stiefel eines Edelmanns imponirt. Man stelle einmal
Sir Robert Hazlewood neben Sir Leicester Dedlock. Beide solle»
den einfältigen hochmüthigen Landjunker darstellen, aber W. Scott, der An¬
hänger der Aristokratie als einer gesellsä)astlichen Einrichtung, der die Bedeu¬
tung des Adels keineswegs an die Gentilität aller Landjunker geknüpft sieht'
schildert ihn ganz unbefangen als einen Hanswurst, während Dickens, der
leidenschaftliche Feind der Aristokratie, der von demselben Bestreben ausgeht-
wider seinen Willen endlich dahin getrieben wird, den Baronet, dessen Stand
ihm mehr imponirt als er selber glaubt, zuletzt als den einzigen Gentleman
inmitten der, Canaille darzustellen. So ist der Unterschied. Früher hielt man
auf die Einrichtung der Aristokratie, ohne an eine mystische Einwirkung der¬
selben zu glauben. Gottfried Bertram ist ein Dummkopf, Robert Hazlewood
ein Einfaltspinsel; gleichviel! ihre Söhne sind so gute Edelleute, als wen"
sie die geistreichsten Eltern von der Welt gehabt hätten. Heute haßt man
die Aristokratie, hat aber eine abergläubische Scheu vor ihrer Wirkung, lind
es ist namentlich dem Vorbild Pelhams zu danken, daß man, wie schon-be¬
merkt, in jedem Stiefel eines Edelmanns ein n<z sais <moi" entdeckt, wa¬
ches der Noturier trotz des geschicktesten Schusters nie erreichen wird. 3"
Frankreich hat namentlich Balzac, in Deutschland die Gräfin Huhn-Hahn
für diesen Cultus des aristokratischen Scheins Propaganda gemacht.
Auf Pelham folgten 1829 zwei Romane, die zwar auch Beifall fanden,
aber doch ihren Vorgänger lange nicht einholten: der Enterbte und De-
vereux. Im ersten ist eigentlich nur ein Nebcncharat'ter von Interesse,
Talbot, der als ein vortrefflicher Mann dargestellt wird, der aber doch vor
Eitelkeit fast den Verstand verloren hat. In diesen und ähnlichen Charakter-
pwblemen zeigt sich recht deutlich, wie einseitig Bulwers gemischte Charaktere
gedacht sind. Den springenden Punkt des Lebens hat er freilich nicht gefun¬
dn und insofern bleibt etwas Räthselhaftes, aber die Form der Seltsamkeit,
des Widerspruchs ist so mit dem Verstände ausgeklügelt, daß das Ganze aus¬
übt wie eine Reihe von Variationen über ein gegebenes Thema. Im De-
^reux begibt sich Bulwer auf das historische Gebiet, er schildert die Zeit der
^bnigin Anna und bemüht sich, von den Berühmtheiten jener Periode ein
vollständiges Gemälde zu entwerfen. Hier ist nun freilich viel mehr historische
^calfarbe als bei W. Scott, der immer nur Fresco malt und sich damit
^gnügt, die Celebritäten, die nicht wirklich zur Handlung gehören, flüchtig
6u erwähnen. In neuerer Zeit ist das Raffinement viel weiter gegangen,
^'gleicht man z. B. Thackerays Henry Csmond mit Devereux, so merkt
wan ebenso wenig, daß man sich in derselben Periode befindet, als wenn
'""n Kingsleys Wcstward Ho neben Keiiilworth stellt. Die jüngern Roman-
Treiber sind viel genauer im Detail, sie versinnlichen viel schärfer den Ab¬
stand der Zeiten, aber, wie uns scheint, uicht zum Vortheil des Kunstwerks.
^Ul Vulwerschcn Roman ist der Held im Ganzen ein in eine frühere Periode
verlegter Pelham; charakteristisch für den Dichter ist der jüngste des Geschlechts,
^ dessen anscheinend schöner Seele sich ein Abgrund von Schlechtigkeit ver-
^'ete, der doch wieder nicht ganz schlecht sein soll.
, Das folgende Jahr 1830 brachte den Paul Clisford. Hier sind wir
'u jener Verbrccherromantik, die unter den spätern Novellen namentlich der
Engländer so viel Unheil angerichtet hat. Das Interesse der Romanschreiber
Mr djx Spilwubcn geht aus verschiedenen Gründen hervor. Zum Theil ist
^ der Reiz des Fremdartigen, das phantastische Colorit, dasselbe Motiv,
elches Scott unter die Zigeuner und Hochländer, Cooper unter die Indianer
die modernste Literatur in die Dorfgeschichten führt; ferner der angenehme
Mner vor gräßlichen Dingen, die'Spannung und das Geheimniß, das
^ut cjntt Criminalgeschichte verbunden ist. Aber es kommt noch ein anderes,
^'ger unbefangenes Motiv dazu: der geheime Krieg gegen den Organismus
^ Gesellschaft, der zuerst den Pharisäern d. h. den scheinheiligen gilt, sich
""n aber auf den innern Kern des sittlichen Lebens erstreckt. Das ist ja
im Grunde das Motiv bei Schillers Räubern. Individuell aufgefaßt
ist gegen Schillers Urtheil nichts einzuwenden; Karl verdient wirklich in seinen
schwersten Verirnmgen, selbst als Räuber und Mörder, unsere Theilnahme
mehr als sein Bruder, der kalte heuchlerische Schurke. Inzwischen liegt solcher
individuellen Darstellung gewöhnlich die heimliche Neigung zu Grunde, den
Fall zu verallgemeinern. Karl und Franz sollen Typen sein, der eine für die
aufbrausende Jugend, welche die Eingebungen ihres Herzens über das geschrie¬
bene Recht stellt, der andere für die verdorbene Civilisation, die sich mit dem
Schild eben dieses Gesetzes deckt. Was bei Schiller in jener Sturm- und
Drangperiode wie ein lyrischer Stoßseufzer aussah, wird in den Jahren, die
unmittelbar der Julirevolution vorausgingen, zu einem ganz ernsthaft gemein¬
ten Kampf gegen das bürgerliche Recht. Durch die Socialisten war die Leiden¬
schaft, auch wo sie über die Grenze des Rechts hinausging, ja bis zu einer
gewissen Grenze das Laster selbst rehabilitirt, und V. Hugo, damals noch
im vollen Feuer der Jugend, schrieb 1829 den letzten Tag eines Verur-
theilten, angeblich nur gegen die Todesstrafe, in der That aber gegen das
Recht der Gesellschaft überhaupt, den Verbrecher zu richten. Auf dasselbe geht
Bulwer im Paul Clifford aus. Noch härter als Schiller stellt er den Straßen¬
räuber dem Mann der guten Gesellschaft, den Verbrecher dem Richter gegen¬
über: jener ist ein liebenswürdiger Mann, der, als er der Todesstrafe ent¬
geht, in Amerika ein sehr nützliches Glied der Gesellschaft wird; dieser ist ein
Schurke. Bei Schiller sind es zwei Brüder, hier ist es Vater und Sohn.
Aber Bulwer ist weit raffinirter als der deutsche Dichter. Bei ihm sollen wir
nicht blos mit dem Verbrecher Theilnahme empfinden, sondern auch sür den
Schurken, seinen Vater und Richter. Dieses Charakterproblcm ist sehr inter¬
essant angelegt, aber die Ausführung ist mißlungen, weil der Dichter den
springenden Punkt des Charakters nicht entdeckt hat. Es wird uns frag/
mentarisch eine Reihe bedeutender Züge mitgetheilt, die aber einander wider¬
sprechen und sür die wir vergebens nach einem Lcitton suchen. Wenn sclM
dieser Charakter keinen Glauben in uns erweckt, so ist die Räuberbande voll¬
ständig eine phantastische Spielerei; hier ist nicht einmal der Schein der Wahr'
heit gegeben. Uebrigens enthält der Roman einzelne vortrefflich ausgeführte
Nachtstücke, wie wir sie in Bulwers Werken nicht leicht wieder antreffen, ^
namentlich der Anfang.
Auf die Spitze getrieben ist die Verbrecherromantik im Eugen AraM
1832. Künstlerisch betrachtet ist es Bulwers gelungenstes Werk, und verdient
von Seiten der Composition noch heute das Studium jüngerer Dichter. Der
Inhalt aber ist ebenso abscheulich als unwahr. Bekanntlich hat Bulwer einen
wirklichen Criminalsall zu Grunde gelegt, der seine Phantasie so beschäftigt
daß er ihn früher schon einmal dramatisch zu behandeln versuchte. Aber in¬
dem er diesen empirischen Fall idealisirte, hat er ihm die Wahrheit genommen
und sein eignes Rechtsgefühl in ein sehr zweideutiges Licht gestellt. , Denn
wenn er auch den Raubmord Eugen Uranus keineswegs billigt, so gibt er ihm
doch eine so starke moralische Rüstung und zeigt seine Verfolger in einem so
schlechten Licht, daß man deutlich sieht, auf welche Seite seine Neigung sich
wendet. Er mißbilligt das Verbrechen, aber er mißbilligt ebenso die Strafe.
Sein Gefühl würde befriedigter sein, wenn der Mörder straflos ausginge.
Eugen Aram bleibt verstockt bis zum letzten Augenblick, wenn ihm seine That
leid thut, so sind es ganz zufällige Umstände, die ihn dazu bewegen. Dem
Recht beugt er sich nicht, der Welt gibt er leine Genugthuung, ja er entzieht
A) noch im letzten Augenblick der Strafe durch einen Selbstmord: das alles
wie Beifall seines Dichters. Die psychologische Unwahrheit liegt darin, daß
ein Mann von so. erhabenen Empfindungen und einem so weiten wissenschaft¬
lichen Blick, wie Eugen Aram geschildert wird, niemals auf die Idee eines
Verbrechens kommen kann, welches die öffentliche Meinung wie das Gesetz
wie dem Makel der Infamie behaftet. Mit unsichtbarer Gewalt dringen durch
die ästhetische Vermittlung die sittlichen Principien bei uns ein: ein Mann
^n der Bildung Eugen Uräus kann vielleicht einen Mord, aber ebenso wenig
^nen Raubmord als einen Diebstahl begehn.
Seit 1831 saß Bulwer im Parlament. Er fand als Redner keinen Bei¬
fall und seinem skeptischen Geist genügten auch die organisirten Parteien nicht,
^gleich er sich im Allgemeinen zu den Liberalen hielt. Ein Ausdruck dieser
Verstimmung ist das Buch „England und die Engländer", das freilich
einen sehr unbefriedigender Eindruck macht, aber heute vielleicht auch in
Deutschland mehr gewürdigt werden würde, als zur Zeit seines Erscheinens,
^eil es zuerst die Schattenseiten der britischen Politik aufdeckte, die sich heute
^Acht mehr verhehlen lassen.
Bulwers folgende Versuche im phantastischen Genre „die Pilger des
Rheins" 1834 und Znuoni 1842 sind entschieden mißlungen. Das letz¬
te, in dem sich starke Reminiscenzen an unsern Hossmnnn finden, ist gradezu
Abgeschmackt. Ueberhaupt ist der Einfluß der deutschen Literatur auf ihn nicht
ki^de wohlthätig gewesen. Die beste Frucht derselben ist seine Uebersetzung
Schillerschen Gedichte 1844, obgleich er es sich darin zu leicht gemacht
^"t und von treuem Uebersetzern bei weitem Übertrossen ist.
Bei weitem anerkennenswerther sind seine historischen Romane: die letz¬
en Tage von Pompeji 1834, Rienzi 1835. die Belagerung von
Canada 1840, der letzte der Barone (Warwick der Königsmacher) 1843,'^roid der Sachsenkönig 1848. Sie verrathen durchweg sehr respectable
^üblen, aber die Romane W. Scotts erreichen sie bei weitem nicht, weil
bulwer über dem Bestreben, geistreiche und ungewöhnliche Gesichtspunkte aus¬
arten, dasjenige übersieht, was auf der Hand liegt. Und dabei ist er weit
mehr als Scott von seinen unmittelbaren Vorgängern abhängig. So erinnert
z. B. Rienzi sehr stark an Mcmzonis Verlobte, und durchaus nicht zum Vor¬
theil des britischen Nachahmers. Außer diesen Romanen hat Bulwer auch
eine Culturgeschichte Athens geschrieben 1837, und den alten König Arthur
in einem sehr langweiligen Heldengedicht bearbeitet 1848.
In seinem wahren poetischen Gebiet war er wieder im Maltravers
angelangt 1837 — 38. Der leichtfertige Pelham ist jetzt durch ein anderes
Ideal erhebt/ Maltravers, Parlamentsmitglied und berühmter Schriftsteller,
hat alle Philosophien durchstudirt und hegt für das Menschengeschlecht im All¬
gemeinen eine ausgezeichnete Vorliebe, während er allen bestimmten Mensche"
mit dem ganzen Stolz und der Unnahbarkeit einer in ihren heiligsten Em¬
pfindungen mißverstandenen Seele entgegentritt. Zwar wird er zuletzt bekehrt/
aber von dem Zustand nach seiner Bekehrung erfahren wir wenig; seil»!
ideale Schilderung fällt in die Periode seines Hochmuths. In der äußern Er¬
scheinung hätten wir wieder unsern Guy Mannering, aber das Wohlwollen, das
bei diesem Natur ist, geht bet Maltravers aus der Reflexion hervor, und der
literarische Ruhm ersetzt, was die Farbe betrifft, die Feldzüge in Ostindien
nur sehr unvollständig. Uebrigens finden sich in diesem Roman wieder se^'
feine Züge über die gute Gesellschaft Englands, und wenn das Bild des He^
den selbst starke Lücken zeigt, so ist dagegen der raffinirte Egoist, der kalte,
herzlose Weltmann (Lord Vargrave) musterhaft geschildert, es ist ein Charakter'
typus, der bleiben wird.
Der folgende Roman: Nacht und Morgen 1841 ist im Ganzen eine
schwache Reminiscenz aus Bulwers frühern Werken. Die Falschmünzerbande
ist viel weniger amüsant als die frühern Straßenräuber, und Philipp, der si^
aus einem Lehrling derselben zu einem vollkommnen Gentleman herausarbeitet,
noch viel unwahrscheinlicher als Paul Clifford. Was sich Bulwer vollends
dabei gedacht hat, in den Kindern der Nacht eine ganze Giftmischcrbande
dem Publicum vorzuführen, ist schwer zu sagen. Der Roman fiel vollständig
durch und der Dichter, der überhaupt gegen jeden Tadel außerordentlich e»'-
pfindlich war, fand sich veranlaßt, an das Publicum ein sehr heftiges Nach'
wort zu richten.'
Bulwer hatte mittlerweile sehr ernsthafte Schicksale durchgemacht, er W^
von seiner Frau geschieden, und wenn diese auch durch die Bosheit ihre^
Romans Cleveley 1839 hinlänglich zeigt, daß es ihm an Veranlassung
nicht gefehlt hat, so bleibt doch sein späteres Verhalten gegen sie unvercn^
wörtlich. Seit dem Tod seiner Mutter 1843 im Besitz eines fürstlichen Ber"
mögens, ließ er sie doch in bittrer Noth, und sein Versuch, sie im vorige
Jahr ins Irrenhaus sperren zu lassen, obgleich sie vollständig bei Sinne''
war, gibt einen schlimmern Einblick in das, was in England möglich ist, "
seine Romane. Sein Reichthum setzte ihn in den Stand, der Mäcen aller
Künstler und Schriftsteller zu werden und in der Gesellschaft eine sehr an¬
gesehene Stellung zu behaupten, zugleich trieb er ihn aber in das Lager der
Tones. Diese Parteistellung hat ihn gegenwärtig zum Minister gemacht, und
da ihm für das Unterhaus die Gabe der Rede abgeht, so zweifeln wir nicht
daran, daß er als Lord enden wird.
Von seinen Theaterstücken sind zu erwähnen: die Dame von Lyon, Riese-
^en und die Herzogin von Lavalliüre. Außerdem ein^Lustspiel „Uol so daä
^ >v«z «vom, or Nun)' siglrls ok g, eiuncwi'," 1851, welches seinen alten
Zündsatz von den gemischten Charakteren nicht eben glücklich versinnlicht.
Noch bijeb ihm aber vorbehalten, auf dem Gebiet des Romans eine neue
^ahn und zwar mit entschiedenem Erfolg zu betreten.
Trotz der großen Zahl sehr talentvoller Schriftsteller, die für die Bedürf-
des Lescpublicums arbeiteten, war Bulwer bis zum Erscheinen der Pick-
^ickier 18Z5 entschieden in der ersten Reihe geblieben; seitdem war Dickens
Held des Tages. Man kann sich nicht leicht zwei entgegengesetztere Naturen
dicken. Was Bulwer gleistet hat, verdankt er fast durchweg der Beihilfe der
Flexion und die Bildung ist seine achtungswertheste Eigenschaft; wo Dickens
dagegen mit der Reflexion arbeitet, mißlingt ihm seine Aufgabe fast durchweg,
^n Moralischer Beziehung steht er ganz auf dem Standpunkt W. Scotts,
^'otz seines Abscheues vor allen Pharisäern, die fast in jedem seiner Romane
verhöhnt werden, versteht er in Bezug auf die Gebote des allgemeinen Sitten¬
gesetzes keinen Scherz; ja er ist zuweilen härter als W. Scott, vielleicht weil
ihm der Sinn für Geschichte abgeht. Trotz seines Radicalismus in politischen
^Algen ist er ein echter Engländer aus der alten Schule, und wenn man von
^inen spätern Romanen absieht, die leider eine gereizte ungesunde Stimmung
^>gar, so lernt man aus ihm vielleicht mehr als aus irgend einem andern
Schriftsteller die Gemüthlichkeit des englischen Herdes lieben. Es gab eine
^eit. too man die Gemüthlichkeit für ein Vorrecht des Deutschen ausgab,
^er aber nicht vollständig blind ist, muß durch Dickens widerlegt werden,
^cum er auch den Lcmdpredigcr von Wakefield vergessen haben sollte. In
^ Zeichnung ist Dickens weniger correct als seine beiden Vorgänger; man
M sich nur dadurch tauschen, daß er so viel Details und so helle Farben
^br. in der That aber hat man bei ihm es nur mit Phantasiegemälden zu
'Un. bei denen das eigentlich Poetische die Stimmung ist. So unvereinbar
"'deß die beiden Naturen schienen, so war doch Bulwer viel zu beifallslüstcrn
^d viel zu bestimmbar, um nicht auch von Dickens Eindrücke zu empfangen,
^d in der That enthalten seine neuen Romane ganze Scenen, die von einer
Unbewußten Nachahmung Dickens' ausgehn. nnr daß der Hauptreiz des jüngern
Achters, die Gemüthlichkeit fehlt.
Einer verwandteren Natur begegnete Bulwer in d'Jsraeli. dessen
Conningsby 1844 wol ohne das Vorbild von Pelham und Maltrcwers nicht
geschrieben worden wäre. Hier wurde nun ein Programm für die jüngere
Schule der Tones gegeben, wie im Pelham für die jüngere Schule der Whigs-
Die beiden Standpunkte haben sich spater vereinigt und die beiden Novellisten
gehören gegenwärtig zu den einflußreichsten Führern der sogenannten constt'
vativen Partei.
Noch viel auffallender war die Verwandtschaft mit Thackeray. dessen
Vcmity-fair 184 7 der Poesie eine neue Bahn öffnete. Jetzt erst wurde die
Theorie der gemischten Charaktere von einem glänzenden Talent verwirklicht-
Was bei Bulwer aus einer gewissen Doctrin hervorging, ist bei Thackeray
Natur: ein Virtuos in der Zersetzung. wie ihn vielleicht die Literaturgeschichte
noch gar nicht kennt, weiß er die kleinen Niedrigkeiten im Gemüth des Guten
und Edlen mit einem Scharfsinn aufzuspüren, der etwas Bezauberndes, aber
auch etwas Unheimliches hat. Auch Thackeray ist trotz seines gewaltige»
Realismus ein subjectiver Dichter, denn sein psychologischer Reichthum dient
nur dazu, seine melancholische Stimmung zu illustriren. Daher ist der Ein¬
druck dieses Dichters ein so sehr abweichender: er erregt entweder Absehen
oder Entzücken, je nachdem der Leser ihm eine verwandte oder widersprechende
Stimmung entgegenbringt. Aber schon aus diesem wechselnden Eindruck
sollten seine Bewunderer erkennen, daß ihm doch jene höhere Dichterkraft ab'
geht, welche die Herzen zwingt.
Aus dem doppelten Einfluß dieser beiden jungem Schriftsteller ist die
neue Phase in Bulwers Schaffen zu erklären. Die drei neuesten Romane
„Hr<z LaxtcwL 1847—49; Novkl ol- varivties ok Imirum like« 1851 »ut
der soeben erschienene Roman erinnern in der äußern Form durchweg an Tha¬
ckeray. Bulwer hat seine alte künstlerische Methode vollständig aufgegeben
und bemüht sich geflissentlich, die Elemente seiner Erzählung so viel als mög'
lich durcheinandcrzuwerfen. ja sie durch Excurse. die gar nicht hineingc'
hören, zu unterbrechen. Wenn die Symmetrie seiner frühern Schriften mit'
unter nach der Schablone aussah, so strebt er jetzt vielmehr nach einer rei'
zenden Verwirrung, der man freilich auch wieder die Kunst ansieht. Gleich
Thackeray späht er jeden Augenblick nach den kleinen Schwächen seiner Lieb'
linge. wobei ihn freilich sein Scharfsinn nicht im gleichen Grade untersM
Und dann findet man wieder einen Humor und eine Localfarbe, die offenbar
einen Wetteifer mit Dickens ausdrückt. Grade wegen dieser verschiedene"
Bestandtheile reichen die neuen Werke nicht an seine früheren besseren Lei'
stungen. Aber sie enthalten doch einen nicht geringen Schatz feiner und selbst
bedeutender Beobachtungen. Trotz der Nachahmung im Aeußern erkennt ma»
die Physiognomie seiner alten Charakterbildung wieder heraus, und wen"
i- B. der alte Herr, der mit seiner Enkelin in der Welt umherzieht, wenn
Jahrmarktsbuden und Aehnliches an bekannte Scenen aus Dickens er¬
innern, so haben wir in dem eigentlichen Helden des Romans (Lionel ist
nur eine Figur zweiter Classe, wie man sie allenfalls auch in W. Scotts so¬
genannten Romanhelden wiederfindet) das alte Ideal des Dichters. Guy
Darrell ist wiederum Maltravers im höheren Alter, ja fast in dem Alter
seines Dichters; aber ebenso jugendkräftig, liebcsfähig, und stolz als Mal-
Xavers in seiner aristokratischen und menschenfeindlichen Periode; seine Um¬
gebungen zittern ebenso vor ihm als vor seinem Vorgänger und seine Men¬
schenscheu ist ebenso eine Folge versetzter Sentimentalität. I asper L osely
'se Lord Vargravc in einer niedern Sphäre; wiederum vortrefflich gezeichnet
und ein Bild, das sich der Einbildungskraft einprägt, ebenso wie seine lie¬
gende Verfolgerin, die dämonische Arabella. Ganz verfehlt ist dagegen
der „gemischte Charakter", Jaspcrs Vater, von dem eine Reihe der wider¬
sprechendsten Charakterzüge mitgetheilt werden, ohne daß man auch nur eine
Ahnung erhält, wie sie untereinander zusammenhängen. Der neue Roman
bestätigt also den Eindruck, den eine unbefangene Lectüre der frühern Werke
hervorbringt: Bulwer hat seinem eigentlichen Talent durch seine Doctrin und
durch sxjn Haschen nach geistreicher Paradoxie sehr geschadet. Sein Talent ist
g''oß in dem Entwurf einseitiger Naturen, seine Beobachtung scharf in Bezug
^uf die gemeine Welt. Wäre er also bei seinen Charakterproblemen von ein¬
gehen Charakterbestimmungcn ausgegangen, und hätte dieselben durch den
^abthun des Lebens, so wie durch durchgreifende Bildung zu vertiefen ge¬
weht, s„ mare es ihm besser gelungen als jetzt, wo er schon über sein eig¬
nes Problem erstaunt und dasselbe durch noch erstaunlichere Motive zu erklä¬
rn sucht. Wie er nun aber wirklich vor uns steht, gibt er uns das Bild
e>ner skeptischen Periode, welche die drei Culturvölker gleichzeitig durchgemacht
^ben, einer Periode, die wir hoffentlich bald überwunden haben werden,
, ^ sich aber aus unserem Bildungsgang nicht wegwischen läßt, und der daher
der Literatur eine Vertretung gebührt.
Im Anfang des 12. Jahrhunderts schrieb Bischof Hildebert von Tours,
der live oder 1107 in Rom war, eine rührende lateinische Elegie auf den
damaligen Zustand der Stadt. Darin kommen folgende Verse vor:
Ach die Stadt ist gefallen, von der, um würdig zu reden.
Das nur sagen ich darf- Roma wars, die du schaust!
Doch nicht hat der Jahre Gewalt, nicht Schwert und nicht Flamme
Diese Herrlichkeit je ganz zu vernichten vermocht:
So viel steht noch, so viel ist gefallen, daß beides unmöglich,
Tilgen was steht, und zu baun, was in die Trümmer versank.
Auch wer gegenwärtig durch die alten Theile von Rom wandelt, mag
sich wol zweifelnd fragen: ob er mehr die Größe und Herrlichkeit bewundern soll,
deren stumme Zeugen die erhaltenen Neste jener alten Zeit sind, oder ob er
mehr staunen soll über die Gewalt der zerstörenden Kräfte, denen so mächtige
und kolossale Werke haben erliegen müssen. Solche Fragen werden uns leicht
beschleichen, wenn wir nach langer und einsamer Wanderung unter Wein- oder
Kohlpflanzungen, zwischen verlassenen Kirchen und einsam stehenden Klöstern
plötzlich durch die majestätischen Thürme und die vereinzelte Wache eines an'
eilen Thores daran erinnert werden, daß wir uns nur innerhalb der alten
und gegenwärtigen Stadtgrenze bewegt haben. Steigen wir hinauf auf
den Thurm des Capitals oder eine andere emporragende Höhe, und verfolgen
den schmalen Streifen Leben, der sich durch den ummauerten Riesenkörper der
ewigen Stadt zwischen Gärten und Trümmern hinzieht. Hier zeigen sich un¬
seren Blicken neben bewohnten Bezirken und ncugcbauten Häusern, neben
belebten Plätzen, glänzenden Palästen und prachtstrahlenden Kirchen nicht
nur Neste der Republik und der Kaiserzeit, Ruinen aus allen Jahrhunderte»
des Untergangs und des Mittelalters, Werke der zerstörenden Zeit bürgerlich^
Unruhen und barbarischer Naubsucht der Einwohner; wir nehmen auch ver'
lasiene und verödete Häuserreihen aus den letzten Jahrhunderten wahr; und
neben vielen Zeichen frischen und gegenwärtigen Lebens sehen wir die ve»
fallenden Schöpfungen der Pracht des 16. und 17. Jahrhunderts, hier die
zerstörten Anlagen der Barberinischcn Gärten beim Vatican, dort die nackten
und einsinkenden Wände der fürstlichen Anlagen der Farnese auf dem Palatin,
dort endlich die nur nothdürftig gegen Wind und Wetter geschützte Ma!^
des wüsten Herrschersitzes Sixtus V. im Lateran. Oder werfen wir endlich
von der Höhe der anmuthigen Albaner- oder Sabinerbcrge einen Blick aus
weite Ebene der Campagna, die sich bis ans Meer erstreckt. Einst
^igte sich hier dein Blick des stolzen Römers ein unübersehbarer, von dem
Abhang der Berge bis zum Meer hinlaufender Kranz bebauter Hügel und
Thäler, die Wiege weltcrobcrnder Krieger und Feldherrn, die Heimath glück¬
licher Bürger, die Erholung reicher Städter, der Spielraum für die Baulust
"ud Prachtliebe der Großen und der Kaiser, denen alle Schönheiten der
Mischen Natur offen standen. Die Villen unter den tusculanischcn Höhen
Frascati) stießen vor 1800 Jahren an die Häuserreihen, welche nach
der kaum erkennbaren Grenze der Stadt hinliefen, während sie sich fast gleich
Ununterbrochen auf der andern Seite bis zum Meere hinzogen; zum Theil
^'baut auf den Trümmern uralter Städte, die einst Roms Nebenbuhlerinnen
^arcu. Die zerstreuten Landhäuser gleichsam durchschneidend waren längs
°er von Schiffen wimmelnden Tiber ähnliche Linien von Häusern mit reich-
gebauten Feldern, Gütern und prächtigen Denkmalen der Gestorbenen um-
K^en. Und was sieht das Auge jetzt an der Stelle dieses regen Lebens?
^>n Morgen die schönen natürlichen Linien einer ungeheuern leishügeligcn
^bene. die im Sommer aus dem Nebel wie der Grund eines Landsces aus
dem Wasser hervorsteigt. am Tage den Rauch und am Abend den Glanz rings
Sucher angezündeter Feuer, die wie hohe Opferflammen auf diesem großen
^klar brennen, die spärlichen Bewohner gegen die verderbliche Fieberluft
^ schützen. Mit geringen Ausnahmen ist die ganze vom Meer und Gebirg
grenzte Ebene um Nom nur von Hirten in Kleidern aus rohen Schaffellen
^d von Herden herrlichen Viehes- durchzogen und spärlich von siebcrbleichcn
tuschen bewohnt, die sich meistens in die Neste der Warten und Naubburgen
^ Mittelalters oder in die thurmartigen Massen der alten Grüber eingenistet
^l>en. Ja oft- sind in langen Strecken, z. B. ans der via ^Vnpia selbst, die
^Nvertilgbaren Trümmer der ehemaligen Weltstraße, die an derselben entlang
'-Senden Gräber und die noch in ihrer Zerstörung Staunen erregenden malerisch
^'es die Campagna zerstreuten Bogen der alten Wasserleitungen die einzigen
puren, daß je menschliches Leben hier gewaltet habe. Und doch ist Rom
He, wie andere einst blühende Weltstädte, wie Ninive und Babylon, nnr
^Ne Stätte des Todes und der Verwüstung. Zerstört und neu auflebend steht
da. eine versunkene Weltstadt und ein glänzender Fürstensitz und Mittelpunkt
^ katholischen Christenheit; neben Augusteischen Tempelsäulen und Hallen die
> ^bee und gcschmücktcste Kirche der Welt, die reichen Trümmer antiker Kunst neben
°u herrlichen Schöpfungen eines Raphael und Michel Angelo. Die riesen-
ltcn Bogen des Colosseums sind mit üppiger Vegetation überwuchert, aber
»n? ^ sich der elektrische Drath, der die Verbindung zwischen Nom
^ Neapel vermittelt; neben den Trümmern der alten aqua (AauÄnr, braust
° Locomotive aus dem Schienenweg hin, der jetzt freilich erst Nom mit
Frascati, aber bald wol mit Neapel verbinden wird. Nirgend auf der be¬
kannten Erde ist ein so unaufhörlicher Kampf des Lebens mit dem Tode ficht'
bar als hier, wo trotz unaufhaltsamer Verödung des Bewohnten sich immer
wieder im Laufe der Jahrhunderte frische Versuche zeigen, neue Mittelpunkte
des städtischen Lebens zu bilden, ja wo selbst der Umfang der Kaiserstadt auf
dem rechten Tiberufer im Mittelalter und in der neuern Zeit noch erweitert
worden ist.
Hier sei nur von dem Geschick die Rede, welches auf Rom seit dem
Ausgang der alten Welt, das ist seit dem Beginn der christlichen Zeit gelastet
hat. Denn wie furchtbar auch immer z. B. der große Neronische Brand in
Rom gewüthet haben mag, welcher ununterbrochen sechs Tage währte, und
als man ihn eben gelöscht glaubte, von neuem ausbrach, und dann wahr'
schcinlich noch drei Tage gedauert hat, und in welchem von den damalige»
vierzehn Regionen Roms drei bis auf den Grund zerstört, sieben andere so voll-
ständig verwüstet wurden, daß von ihnen nur wenige halbverbrannte Häuser
stehen blieben, während nur vier Regionen größtentheils erhalten wurden
so war damit freilich die Vernichtung manches ehrwürdigen republikanischen
Denkmals verbunden; doch im Großen und Ganzen führte dies nur zu einer
prächtigeren und glänzenderen Wiederherstellung der Stadt. —
Bekanntlich ist Rom im fünften und sechsten Jahrhundert wiederholt von
germanischen Völkern erobert und geplündert worden, viele neuere, namentlich
italienische Schriftsteller haben die Gothen und Vandalen lange als die eigene'
liehen Zerstörer der Herrlichkeit Roms angegeben, so daß Vandalismus eine
allgemeine Benennung geworden ist, um fühllose Vernichtung von MonU'
merken und Alterthümern zu bezeichnen. Allein eine unbefangene Betrachtung
zeigt, daß die Römer selbst viel größeren Vandalismus geübt haben, als jene
Scharen des Manch und Genscrich. Der Schaden, den die sogenannte»
Barbaren Rom zufügten, bestand nicht sowol in Zerstörung von Gebäude"
und öffentlichen Denkmälern, und nicht in der Wegschleppung von Kunstwerke»
und Statuen, für die sie in der That wenig Sinn und Geschmack habe»
mochten, als vielmehr in Plünderungen der Gcldschätze und Kostbarkeiten.
Die erste Eroberung Roms durch germanische Völker geschah durch den gro'
ßer König der Westgothen. Als Manch zuerst im Jahr 408 vor Roms M«"
am erschien, glückte es für diesmal den Einwohnern, die längst des römisch^
Namens unwürdig waren, ihn durch eine Contribution zum. Rückzug j» be'
wegen, die außer einigen anderweitigen Lieferungen aus 5000 Pfd.
und 30,000 Pfd. Silber bestand. Um aber bei dem erschöpften Zustand de
öffentlichen Schatzes diese Summe aufzubringen, wurden goldene und silbern^
Götterbilder und das Gold und Silber von den Zierrathen der bronzenen u»
marmornen Tempelstatucn eingeschmolzen, wie der heidnische Zosimus rür
Wehmuth berichtet; vor allein beklagt er die Vernichtung der Bildsäule der
^ngst von Rom entwichenen Tugend der Tapferkeit als eine böse Vorbedeu¬
tung. Doch jene Opfer gewährten der Stadt nur eine kurze Frist. Denn
Zwei Jahre darauf, im Jahr 410, ward Rom, weil der Kaiser Honorius
Alarichs Forderungen nicht bewilligen wollte, von den Gothen erobert und ge¬
plündert. Doch verfuhr nach allen gleichzeitigen Nachrichten, namentlich des
^wsius und Zosimus, Alarich menschlicher, als die Römer selbst es mochten
^wartet haben. Außer einigen vom Feuer zerstörten Gebäuden, heißt es in
^'n glaubwürdigsten Berichten, war bald nachher von jenem Vorfall keine
Spur mehr zu bemerken. Die Gebäude, die. bei dieser Gelegenheit zerstört
wurden, standen ohne Zweifel größtentheils in der Nähe des salarischen Tho-
^; denn von Nordwesten her kamen die Gothen und bei der Porta Salaria
^stürmten sie Rom (die Mauer und Stadtthore schon damals dieselben wie
l^in). Procopius, der im 6. Jahrhundert nach Rom kam, berichtet, daß da¬
mals bei dem Sturm des Alarich das im Alterthum berühmte Haus des Sal-
lust und dessen Gärten, wovon noch jetzt einige Reste in der Vigna Barbarini
Achtbar sind (nahe bei Porta Salaria), verwüstet worden seien, er fand die
Zarten des Sallust noch in verwüsteten Zustand. Im Allgemeinen jedoch
scheinen die Gothen sich mit der Plünderung von Schützen und Kostbarkeiten
^'gnügt. aber nicht viel zerstört zu haben. Auch blieben sie im Ganzen nur
^)s, nach andern nur drei Tage in Rom, und wenigstens aus dem äußern
^sehn der Stadt war die Spur ihres Besuches gewiß bald wieder verwischt.
Ein weit härteres Unglück traf Rom im Jahr 455, als es durch die
^ndalen unter Gcnserich eingenommen wurde. Die Feinde, ungleich roher
^ud wilder als die Gothen, verweilten vierzehn Tage in Rom; die Kirchen,
^ Alarich verschont hatte, wurden ihrer goldenen und silbernen Geräthe be¬
hubt, der kaiserliche Palast auf dem Palatin ward rein ausgeplündert, die
halste der vergoldeten Bronze vom Dache des Tempels des capitolinischen
^Apner weggenommen, und unter einer Masse von andern Schätzen auch, der
Titus im Tempel zu Jerusalem erbeutete goldene siebenarmige'Leuchter
^ Bogen des Titus im Relief) nach Afrika geführt, von wo ihn im fol¬
genden Jahrhundert Belisar nach Konstantinopel brachte. Ein Schiff mit
^raubten Statuen — vermuthlich goldenen, silbernen oder bronzenen, da
" nur das Material, nicht der Kunstwerth die Begierde der Feinde reizen
unde —. gi,,g auf der Fahrt nach Karthago unter. Doch ließ Genscrich —
^ es heißt auf Bitten des Papstes Leo I. — kein Feuer anlegen, und die
eliäude Roms litten daher auch bei dieser Plünderung gewiß nur verhält-
^Müßig geringen Schaden. — Daß Genserich Rom den Flammen übergeben
Al ^' ^ ^""^ unbegründete und erst spät aufgekommene Behauptung.
^' Wenig davon zu halten sei, beweist zur Genüge das glänzende Bild,
welches gleich nachher Cassiodorus von dem Zustand der Stadt zur Zeit des
Theodorich hinterlassen hat. Er schildert die kostbaren Säulen ihrer Gebäude,
die Menge bronzener Bildsäulen auf allen Straßen und öffentlichen Plätzen,
die öffentlichen Bäder und Brennen, den Cirkus Maximus mit seinen beiden
Obelisken und andern Verzierungen, insbesondere aber das Capitol und das
Forum Trajans als Wunderwerke, die alle menschliche Einbildung überträfen. ^
Es folgt die Zeit der ostgothischen Herrschaft in Italien, die namentlich
so lange Theodorich regierte, eine glänzende und glückliche Epoche für das
Land zu begründen schien. Auch sür die Stadt Rom war die Zeit des Theo¬
dorich günstig, obwol er selbst seine Residenz meistens in Ravenna oder Verona
hatte. Als er in Rom einzog, ließ er sich in der Curie mit einer zierlichen
Rede von Boöthius bewillkommnen, er schien selbst noch einige Achtung vor
der freilich zum Schattenbild gewordenen alten Majestät des römischen Volkes
zu haben. Aber in der That war er erfüllt von Bewunderung von Roms
alter Größe, und eifrig bemüht um die Erhaltung und Wiederherstellung der
öffentlichen Gebäude und Denkmäler, zu deren Schutz er nicht allein Gesell
erließ, sondern auch bedeutende Geldsummen aussetzte. Seine Tochter Am«-
lafunda folgte solchem Beispiel; und wir dürfen mit Recht behaupten, daß
die Herrschaft dieses ostgothischen „Barbaren" die letzte Zeit war, in wel¬
cher Rom. wenigstens in der äußern Erscheinung, in seinem alten Glan^
bestand, wo mit Sinn und Verständniß für die Erhaltung der alten MonU'
mente gesorgt wurde. —
Um die Mitte des K. Jahrhunderts aber folgte eine Zeit des äußerste"
Elends, jener lange Krieg (536—553) der Ostgothen mit Justiuicin, welche
mit der Vernichtung der ostgothischen Herrschaft in Italien endigte. Während
dieses Krieges ward Rom fünfmal erobert; zweimal von Belisar, zweimal
ward es von dem Gothenkönig Totila zurückgewonnen. Zuletzt ward es den
Gothen wieder durch Narses abgenommen. Von den Verwüstungen wahrend
dieses erbitterten Kampfes haben wir nur äußerst unvollständige Nachrichten.
Aber aus einzelnen Zügen läßt sich auf die allgemeine Wirkung dieses Ereig'
nisses schließen. Bei jener denkwürdigen Belagerung (537), in welcher Bei>'
sar mit einer geringen Macht Rom über ein Jahr gegen 150,000
then vertheidigte, war es, wo zuerst das Grabmal des Hadrian als FestttNg
benutzt wurde, eine Bestimmung, die es seitdem behalten hat, da es bekannt
lich die jetzige Engelsburg ist, und bei dieser Gelegenheit wurden die znh^
reichen Statuen, mit denen dieser Prachtbau des kunstliebenden Kaisers gez>^
war. zerstört, indem die belagerte Besatzung die Bildsäulen auf die belagert
den Gothen herabstürzte. Um den Belagerten das Wasser abzuschneiden, ließ de
Gothenkönig die Aquäducte unbrauchbar machen; doch wird man hierbei nicht a
eine völlige Zerstörung derselben zu denken haben, da für die Zwecke
Gothen schon die Durchbrechung eines Bogens von jeder Wasserleitung
genügte. — Nachdem Totila im Jahr 54L Rom erobert hatte, beschloß er die
gänzliche Zerstörung der Stadt; zwar schreckte er vor der Ausführung seines
Vorhabens zurück, und vielleicht mag ein noch erhaltenes Schreiben Belisars,
Worin dieser ihn warnt, sich nicht durch die Vertilgung der Königin der
Städte zum Fluch der kommenden Geschlechter zu machen, nicht ohne Einfluß
auf die Entschließung des Gothenkönigs geblieben sein. Doch damit die
Feinde sich nicht wieder in Rom festsetzen könnten, ließ der Gothenfürst die
Stadtmauern an vielen Stellen niederreißen, ungefähr den dritten Theil der¬
selben. Während dieser verschiedenen Belagerungen wütheten außerdem auch
Pest und Hungersnoth in Rom, und am Ende dieses Krieges mag die Stadt
schon in hohem Grade entvölkert und verwüstet gewesen sein.
Neben diesen Zerstörungen durch die nordischen germanischen Eroberer
Roms laust gleichzeitig in der ersten Zeit des christlichen Roms eine andere
Art der Verwüstung, die nicht in einzelnen großen Ereignissen hervortritt,
aber durch ihre Dauer um so wirksamer gewesen ist, nämlich eine Ver¬
wüstung durch das Christenthum. Der Hauptgrund war nicht ein frommer Eifer
Segen die Denkmäler des heidnischen Götterdienstes. In der Regel begnügte
wan sich, die Statuen aus den Tempeln zu entfernen und sie der öffentlichen
Verehrung zu entziehen, dagegen benutzte man sie als Verzierung der öffent¬
lichen Plätze und Gebäude. Allein die alten Christen zerstörten die antiken
Gebäude, zwar nicht weil sie zu zerstören wünschten, wol aber aus Bedürf¬
niß' weil sie Baumaterial, namentlich Säulen und architektonische Ornamente
hauchten. Dazu wenige Worte über die Geschichte des ältesten christlichen
Kirchenbaues.
Versteht man unter Kirchen Gebäude, die in einem eigenthümlichen, durch
Disciplin und Liturgie bestimmten Stil erbaut waren, an welche die Ver¬
achtung des Gottesdienstes mit innerer Nothwendigkeit geknüpft war. und
d'e deshalb als dem Herrn geweihte Stätten betrachtet wurden, so muß man
verneinen, daß es vor Konstantin in Rom Kirchen gegeben habe. Denn es
s^)lec der christlichen Gemeinde die Ruhe und Sicherheit, die zur Entwicklung
°mer eigenthümlichen Bauform nothwendig ist. Auch kann von den römischen
Kirchen keine einzige urkundlich hoher hinauf verfolgt werden. Mit Konstan¬
tin aber beginnt die Periode des eigentlichen Kirchenbaues, und eine Reihe
bedeutendsten Kirchenbauten füllt der ursprünglichen Anlage nach bereits
'u seine Zeit, so S. Giovanni in Laterans, S. Pietro in Vaticano (natür¬
lich die alte Peterskirche; die jetzige ist aus dem 16. Jahrhundert), S. Paolo fuori
^ aum. S. Croce in Gerusalemme, S. Lorenzo fuori le aura. S. Maria
^ Trastevere und andere. Als nun nach der Einführung des Christenthums
"is Staatsreligion das Bedürfniß, gottesdienstliche Gebäude zu besitzen, sich
fühlbar machte, sollte es scheinen, daß zumal in der damaligen Zeit, wo die
schöpferische Kraft in der Kunst fast ganz erloschen war, es das Natürlichste
gewesen wäre, schon vorhandene Gebäude, die jetzt nutzlos gewordenen
heidnischen Göttertempel. zu christlichen Kirchen umzugestalten. Allein
dies ist nur in äußerst seltenen Füllen geschehen. Das bekannteste Beispiel
ist das Pantheon (im Jahr 608 zur christlichen Kirche umgestaltet, und wol
deshalb so vollständig erhalten), allein das Pantheon ist auch als antiker
Teinpelbnu eine durchaus eigenthümliche und von der Regel abweichende Er¬
scheinung. Außerdem sind mir nur der Tempel der Fortuna virilis und der
des Antonin und der Faustina bekannt, welche beide durch ihre Umwandlung
in Kirchen zugleich greulich verunstaltet sind. Denn die Kirche S. Stefano ro-
tondo und S. Teodoro, welche häufig auch für Umgestaltungen antiker TeM'
pel gehalten werden, sino ursprünglich christliche Bauten. Sonst hat man es
immer vorgezogen, selbstständige neue Anlagen zum Zweck der christliche»
Kirchen zu machen. Der Grund hiervon liegt einfach darin, daß die antiken
Tempel als christliche Kirchen unbrauchbar waren. Der alte heidnische Te>n>
pel hatte eigentlich nur den Zweck, dem im Bilde anwesenden Gegenstand
religiöser Verehrung, der Götterstatue, als Obdach und Wohnung zu dienen,
er hatte nicht den Zweck, eine Gemeinde zu gemeinsamer Andacht und Er¬
bauung in sich zu versammeln; daraus erklärt sich ganz leicht manche uns
bei der ersten Beschauung antiker Tempelbauten oft auffallende Erscheinung¬
namentlich die außerordentliche Kleinheit des innern Raumes, der sogenannte»
Cella. wo das Götterbild stand, im Verhältniß zu der dieselbe umgebende»
meistens großartigen Säulenstellung. Einen ganz andern Zweck hatte det
christliche Kirche von Anfang an. Hier war ein Gebäude erforderlich, i»
welchem sich eine im Glauben verbundene Gemeinde zu gemeinsamer Andacht
und Gottesverehrung versammeln konnte. Für diesen Zweck war in de»
Wohnungen der alten Götter kein Runen, und man mußte nach einer ander»
Bauart für die Kirchen suchen. Nun war aber andrerseits die schöpferisch^
Kraft in der Kunst zu Konstantins Zeit bereits so vollständig erloschen, dan
man nicht im Stande war, eine eigenthümliche, aus der Idee des christliche»
Gottesdienstes hervorgegangene Bauart zu erfinden. Man war deshalb
nöthigt, eine andere zu einem ganz fremdartigen Zweck bestimmte Sorte vo»
Gebäuden zum Muster beim ältesten Kirchenbau zu nehmen. Dies sind d«e
Basiliken, die im alten Rom hauptsächlich als Gerichtshallen, zum Theil ana)
als Versammlungsort der Kaufleute und als Börse dienten. Der gebrauch'
liehen Form dieser Basiliken wurden die meisten ältesten Kirchen in Rom u»d
überhaupt in Italien bis gegen die Mitte des 1?. Jahrhunderts nachgebildet-
In Rom hat sich noch eine große Anzahl von den in dieser Form gebaute»
Kirchen erhalten, freilich keine ohne mannigfache spätere Veränderung u»
Umgestaltung; doch läßt sich durch eine Vergleichung der einzelnen basiliken-
artigen Kirchen und durch Combination der einzeln in ihnen erhaltenen alter¬
thümlichen Bestandtheile mit ziemlicher Genauigkeit und Vollständigkeit der
älteste christliche Basilikenstil wieder herstellen. — Nun aber entlehnte man
von den antiken Gebäuden nicht allein den Baustil, sondern auch das Bau¬
material. Die Staatskasse, der Hof und die Privatpersonen waren bei weitem
nicht mehr reich genug, Süulcnmarmor über das Meer herkommen zu lassen;
abgesehn davon war die schöpferische künstlerische Kraft und auch die künst¬
lerische Technik in Konstantins Zeit bereits fast völlig verloren gegangen. und
sank natürlich immer mehr in den folgenden Jahrhunderten. Also man hatte
nicht die Mittel sich Marmor zu verschaffen, und man war nicht mehr im
Stande, aus dem Marmor Säulen und architektonische Ornamente zu bilden.
Es war daher nichts natürlicher, als daß man die jetzt verlassenen Tempel
als herrenloses Gut betrachtete, und den in ihnen befindlichen Baustoff für
die Kirchen verwendete. Schon im Zeitalter Konstantins war es in Gebrauch
^kommen, vorhandene Gebäude zu zerstören, um mit den Ornamenten der¬
selben neue Gebäude zu zieren. Der schlagendste uns noch vor Augen liegende
beweis dafür ist der Triumphbogen des Konstantin selbst, errichtet nach sei¬
nem Sieg über den Maxentius, zu welchem die zahlreichen schönen Reliefs
von dem Bogen des Trajan genommen sind (auch beziehen sie sich aus Tra-
j<ins dänische Feldzüge und andere Ereignisse aus dem Leben dieses Kaisers),
Während die wenigen, aus Konstantins eigner Zeit herrührenden Sculpturen
an diesem Bogen von unglaublicher Rohheit der Arbeit sind. Um so mehr
Mußte diese Praxis herrschend werden, als man bei den ältesten Kirchenbauten
wünschte, den Gotteshäusern der neuen Religion eine den Tempeln der alten
ahnliche Pracht zu verleihe«. Die Zahl der antiken Säulen, welche zu diesen
bauten gebraucht ward, ist ganz unglaublich groß; fast alle alten basiliken-
"Algen Kirchen Roms sind angefüllt mit antiken Säulen; alle Beschreibungen der
un Jahr 1823 abgebrannten alten Basilika S. Paul sprechen mit Bewunderung
von dem Snulenwald dieser herrlichen Kirche; von den noch jetzt stehenden Kir-
^n will ich nur nennen S. Maria Mnggiore, S. Maria in Trastevere.
S- Sabina auf dem Aventin. S. Agnese fuori le aura. S. Lorenzo und viele
andere. Zuweilen sind die sämmtlichen Säulen einer Kirche von gleicher Form
und Arbeit, und sind daher ohne Zweifel von demselben antiken Gebäude
SMommen. So ruht z. B. in>S. Sabina das Mittelschiff auf 24 schönen
cannelirten Säulen von parischem Marmor, alle von gleicher Form und Ar-
beit. Ebenso wird in S. Maria Maggiore das Mittelschiff von 12 schönen
K"nz gleichen Säulen von ionischer Ordnung getragen. Dagegen in andern
hundelt hat man von verschiedenen alten Gebäuden ganz unzusammengehörigc
^anstücke ohne allen Sinn für Symmetrie zusammengerafft. So sind z. B.
die 22 Säulen, welche in S. Maria in Trastevere das Mittelschiff tragen,
theils aus rothem, theils aus grauem Granit, von ganz verschiedener Dicke,
mit ganz ungleichen zum Theil korinthischen, zum Theil ionischen Kapitalen und
mit ganz ungleichen Basen. Am buntesten sieht es in dieser Hinsicht in der auch
sonst sehr interessanten Kirche S. Lorenzo fuori le aura aus. Hier ist eine
kleinere sehr alte Kirche durch ein vorgebautes größeres Schiff in eine größere
Kirche umgewandelt, in der Weise, daß die ältere Kirche jetzt den Chor der
größeren bildet.' Beide Theile dieses sonderbaren Baues aber sind aus bunt
zusammengewürfelten antiken Architcktnrstückcn gebaut. Die Hintere kleinere
und ältere Kirche wird von einer doppelten Säulenreihe, eine über der andern,
auf drei Seiten umgeben. Die obere Kirche bildete ohne Zweifel ursprünglich
eine Emporkirche, wie wir sie noch jetzt in S. Agnese sehen. Die Säulen
der unteren Reihe stehen bis weit über die Hälfte in dem erhöhten Fußboden
und sind erst in diesem Jahrhundert wieder bis an ihre Basen ausgegraben!
sie sind sämmtlich schöne cannelirte Säulen von Paonazzetto (phrygischer
nor); die ihnen aufgesetzten Kapitäle aber gehören ursprünglich nicht zu ihnen
und sind aus verschiedenen Zeiten und von verschiedenem Werthe der Arbeit,
zum Theil von korinthischer, zum Theil von ionischer Ordnung; die viel klei¬
neren Säulen der obern Reihe sind von weißem Marmor und theils
gerade, theils gewunden carmelirt; zwei von ihnen aber sind von grünem
Serpentin. Das reich verzierte Gebälk zwischen diesen beiden Säulenreihen
ist gleichfalls aus verschiedenen, meistens sehr schön gearbeiteten, aber gM
unznsammengehörigen antiken Architekturstücken zusammengesetzt. Auf ähnliche
Weise wird das vordere größere Schiff der Kirche von 22 antiken Säulen,
theils von Granit, theils von Cipollin (karystischer Marmor) getragen, die
auch sämmtlich von ungleicher Stärke und Arbeit sind. Aus dieser BesäN'^"
dung kann man sich ein annäherndes Bild davon machen, von wie vielen
antiken Gebäuden man diese Baustücke genommen haben mag. Ich
nicht mit der Aufzählung andrer Kirchen ermüden. Nur das will ich noch
erwähnen, daß von den mehr als 300 Kirchen des gegenwärtigen Rom fast
alle diejenigen, deren Anlage in Yie frühern Zeiten des Mittelalters hinauf'
reicht, von antiken Architekturstücken angefüllt sind. Außerdem baute man
noch einen Porticus von der alten Peterskirche bis zur Engelsbrücke, und
einen andern sogar von S. Paul bis zum Thor, gleichfalls natürlich aus a»'
eilen Säulen. Man mag daraus schließen, wie außerordentlich groß die Z"y
der also verwandten Säulen gewesen sein muß. Waren nun die Säulen
von dem antiken Gebäude weggenommen, so stürzte dasselbe natürlich
oder spät zusammen; und die noch übrigen Baumaterialien eines solclM
herrenlos untergehenden Gebäudes griff dann jeder an und benutzte sie.
er konnte und mochte. Aus diese Weise haben die alten Christen Jahrhu"'
derte lang still und unbemerkt an der Zerstörung des alten Roms gearbeitet;
und gewiß viel nachhaltiger und wirksamer die antiken Gebäude vernichtet,
als es die (Rothen und Nandalen in einer Plünderung von wenigen Tagen
haben thun können. —
Die Zeit, welche wir bisher betrachtet haben, und welche wir etwa von
Konstantin bis aus Karl den Großen und dessen Kaiserkrönung in der Peters-
en'che rechnen können, dürfen wir ansehen als den Uebergang des antiken
Roms in das des Mittelalters. Das wahre Mittelalter der Stadt dürfen
Wir rechnen von Karl dem Großen bis auf das Ende des großen Schisma
oder bis zur Wiederkehr der Papste aus Avignon im Jahr 1417. Dieser
Zeitraum hat nicht minder zerstörend gewirkt, als der eben besprochene. Trotz
aller Zerstörungen der vorangegangenen Zeit war doch noch vieles vorhanden,
was jetzt entweder spurlos verschwunden, oder doch nur trümmerhaft erhalten
ist. und Karl der Große wird Rom noch in einem viel glänzenderen Zustand
Stehen haben, als es uns jetzt vergönnt ist. Das Colosseum muß damals
"och wenig gelitten gehabt haben; die Kaiserpaläste auf dem Palatin, wo jetzt Kohl
wächst, müssen damals noch in einem so weit bewohnbaren Zustand gewesen
sem. daß Karl der Große dort Hof halten konnte; und in den Beschreibungen
s"ner Krönung werden noch manche Gebäude erwähnt, die jetzt spurlos ver»
schwunden sind. Aus dieser Zeit, aus dem Anfang des 9. Jahrhunderts
stammt eine unsrer wichtigsten Quellen zur Kenntniß des alten Roms, man-
i'es der sogenannte Anonymus von Einsiedeln. Hierunter versteht man zwei
Kloster Einsiedeln erhaltene Handschriften, in welchen ein Unbekannter, der
Wahrscheinlich im Anfang des 9. Jahrhunderts Rom besuchte, topographische
^tizen doppelter Art zusammengestellt hat. Die eine ist eine Sammlung von
Inschriften von öffentlichen Bauwerken und Denkmalen, auch von christlichen,
"ber vorzugsweise von altrömischen, in topographischer Ordnung zusammen¬
heilt. Die andere Handschrift ist eine Beschreibung verschiedener Wege
durch die Stadt. Der Verfasser gibt jederzeit den Punkt an, von dem er
ausgeht, und das Ziel seiner Wege und nennt nun die ans demselben zur
Rechten und Linken am Wege liegenden bedeutenderen Gebäude, namentlich die
"Aelter Bauwerke. Wir sehen daraus, daß er noch viele jetzt verschwundene
Denkmale gesehen haben muß. und manche schwierige topographische Frage
^ um- durch die Angabe des Anonymus von Einsiedeln mit Sicherheit zu ent¬
scheiden. Namentlich ist die richtige Benennung mancher am Forum liegenden
Gebäude erst durch seine Angaben festgestellt; so der Ruinen der acht Säulen
^emvel des Saturn), der drei Säulen (Tempel des Bespasian). und der daneben-
^gente jetzt verschwundene Tempel der Concordia. dessen Inschrift er noch abge¬
schrieben hat. Ueberhaupt muß damals das Forum noch eine ganz andere Gestalt
^ jetzt gehabt haben. Denn während es in spätern Jahrhunderten bis zu
einer Höhe von etwa dreißig Fuß verschüttet ist und zu einem Aufenthalts'
ort für Schweine, Kühe und Büffel wird (Campo Vaccino), hat zur Zeit
Karls des Großen und auch noch einige Jahrhunderte später noch da? antike
Pflaster des Forums blosgelegen. Denn bei Ausgrabungen, durch welche in
diesem Jahrhundert wenigstens ein Theil des Forums wieder aufgedeckt ist,
hat man unmittelbar auf dem alten Pflaster Münzen aus den Zeiten der
fränkischen Kaiser, also aus dem 11. Jahrhundert gefunden. —
Betrachten wir nun kurz die zerstörenden Ursachen während des Mittel'
alters. Auch während dieser Zeit ward Rom mehrmals von fremden Truppe"
eingenommen und geplündert. Die furchtbarste Verwüstung der Art erlitt die
Stadt gegen das Ende des 11. Jahrhunderts während der Streitigkeiten zwi¬
schen Papst Gregor VII. und dem Kaiser Heinrich IV. Nach wiederholten ver>
geblieben Versuchen drang Heinrich IV. im Jahr 1084 in Rom ein. belagerte
den Papst in der Engelsburg, zerstörte das Capitol. wo sich die Corsi. eine
adlige Familie von der Partei des Papstes, festgesetzt hatten, und verwüste^
einige andere Theile der Stadt. Endlich mußte er sich aus Rom zurückziehn,
als Robert Guiscard, der normannische Herzog von Apulien. dem Papst
Hilfe eilte. Robert Guiscard drang in. Rom von der Port« Flaminia (d^
Popolo) herein. und als die Römer sich ihm widersetzten, bahnte er sich durch
Feuer den Weg, wobei ein großer Theil des Campus Martius vom Tho^
bis etwa zur Kirche Se. Agostino eingeäschert wurde. Dann setzte er si^
beim Lateran fest; und als die Römer nun noch die Belagerung der Engels
bürg fortsetzten und selbst die Soldaten des Robert Guiscard beunruhigte»'
steckte dieser alle Gebäude vom Lateran bis zum Colosseum und von da west'
lich bis zum Aventin in Brand, und zerstörte so fast das ganze Gebiet des
Caelius und Aventin. Es ist dies die furchtbarste Zerstörung, die Rom
Totila betroffen hat, und seit jener Zeit ist der ganze südliche Theil von Re»»'
der Caelius und Aventin. die bis dahin noch städtisch bebaut waren. ^
durchaus unbewohnt, und es finden sich dort nur noch einige Landhäuser odei
Vignen und einige einsame Kirchen und Klöster, Ueberhaupt ist die Zeit,
welche von der Zerstörung des Robert Guiscard bis zur Rückkehr der PaB
aus Avignon folgte, die dunkelste und traurigste der römischen Stadtgeschichte. ^
Doch viel mehr als solche einzelne, wenn auch furchtbare Zerstörung^
wirkte auch in diesem Zeitraum der allgemeine Charakter der Zeit. Die
schichte der Stadt Rom im Mittelalter beruhte auf der Wechselwirkung
drei Gewalten des Papstthums, des Kaiserthums und der städtischen ^'
meinte. Der Gegensatz des Papstthums und Kaiserthums stellte sich in
lien bekanntlich in den Parteien der Guelfen und Ghibellinen dar. Den
Parteien finden sich auch in Rom wieder und bekämpfen sich Jahrhunder
hindurch mit äußerster Erbitterung. Namentlich theilten sich die Familien de
höheren Adels, die großen Barone in die päpstliche und kaiserliche Partei.
Koni Ende des 10. bis etwa zum Ende des 13. Jahrhunderts und selbst bis
'us 14. bestand nun in Rom das System, daß man die großen antiken
Massiven Gebäude, so weit sie noch erhalten waren, als Festungen benutzte,
^de der großen adeligen Familien wußte sich entweder durch eigenmächtige
önvaltsame Usurpation, oder zuweilen auch durch päpstliche Verleihung in
Besitz eines oder mehrer solcher Gebäude zu setzen, brachte dann auch die
Zunächst liegenden Straßen und Stadttheile in ihre Gewalt, und suchte sich
"un hier so viel als möglich zu befestigen. So enthielt Rom im Mittelalter
"Uierhaib seiner Mauern eine Menge von einzelnen Raubburgen und Fe¬
stungen, welche sich alle gegenseitig bekämpften und befehdeten-
Vor allen andern ragte damals an Bedeutung das Geschlecht der Colonna
hervor. Bei diesem zeigt sich durchgehends eine antipäpstliche Gesinnung, und
^ waren stets eine Hauptstütze der kaiserliche» oder ghibelliuischen Partei in
Rom. Zu besonderem Glänze gelangte dieses Geschlecht durch Steffano Co-
^una. den Freund des Petrarca und von diesem vielfach gefeiert. Der
Mittelpunkt der Macht der Colonna und ihr hauptsächlichster Waffenplatz war
^"lestrinn (Prüneste); in Rom selbst erstreckten sich die befestigten Wohnungen
^ Colonna von der Piazza Se. Marcello bis nach Santi Apostoli gegen
ku Quirinal hin, da wo noch jetzt der Palazzo Colonna liegt. Auch scheint
^' daß sie sich in den Thermen des Konstantin verschanzt hatten, die in
^'Um Kämpfen wol meist verwüstet sein mögen. Anfangs besaßen sie auch
as Mausoleum des August ldamals ^.uAust-a, se. clomuö genannt); aber diese
'adlige Feste, die an Bedeutung allein dem Mausoleum des Hadrian oder
^ Engelsburg nachstand, ward zweimal von den Römern zerstört, im Jahr
und 1241. Jetzt wird die Grabstätte des ersten römischen Kaisers als
)eater benutzt, und gar oft erschallt darin der Musus, den sich Augustus
Erbend erbeten haben soll. — Nächst den Colonna waren das wichtigste Ge-
)lebt die Orsini, die im Gegensatz zu den Colonna meistens zur päpst-
'chen guelsischen Partei gehörten. In Rom hatten diese ihre Wohnsitze auf
de^ ^""^ Giordano, einem aus altem Schutt und Trümmern in der Nähe
Ponte S. Angelo gebildeten Hügel (wo noch jetzt am Eingang des Pa-
ir ^ ^"brielli die beiden Bären als Wahrzeichen der Orsini stehn), ferner
ein seitdem zerstörten Theater des Pompejus, wo jetzt der Palazzo Pio
^. und überhaupt auf dem Campo ti siore. Auf dem rechten Tiberufer
^ ^u sie einen Palast bei Se. Peter, und außerdem war meistens die wich-
^ Engelsburg in ihrer Gewalt. Wie also die Colonna den Theil Roms
dem Corso bis nach Port« del Popolo hin beherrschten, so die Orsini
u Theil der Stadt, welcher sich vom Campo ti siore nach Ponte S. An-
" ^ehe und von da an den Weg nach Se. Peter. — An Macht standen
diesen beiden Familien zunächst die Gaetani, ein Geschlecht, dem Papst
Bonifacius VIII. angehörte; ihre wichtigsten Festen in Rom waren die Tone
delle milizie (oder Torre ti Nerone) und außerdem das Grabmal der Caeci-
lia Metella (oder Capo ti Bove). — Anfangs sehr bedeutend, aber seit den
Zeiten des Kaisers Friedrich II. (im 13. Jahrhundert) sehr geschwächt war
die Macht der Frangipani. welche das Colosseum, den Triumphbogen des
Titus, deu sogenannten Janusbogen. den Circus Maximus, das Septizoniuw
des Severus. den Bogen des Konstantin und den Tempel der Venus und
Roma besaßen, also die ganze Gegend zwischen Palatin, Esquilin und Cae-
lius. — Demnächst sind die Savelli zu nennen, welche eine Burg auf dein
Aventin, eine andere hinter der Cancelleria hatten, wo noch jetzt der Vicol»
dei Savelli ist; aber ihre Hauptfestung war das Theater des Marcellus, wei'
ches jetzt den Orfini gehört und in dem Niebuhr gewohnt hat, als er preu'
ßischer Gesandter in Rom war. — Ich konnte noch die Conti, die Arni'
baldi und manches andere minder bedeutende Geschlecht nennen, welche alle
die Denkmäler des Alterthums, wegen ihrer festen Bauart, als Verschanzunge"
benutzten. — So bildeten die Wohnungen der einzelnen großen Geschlecht
ebenso viele besondere Festungen innerhalb Rom. Diese waren dann we>'
fleus noch durch Gräben und durch ein ringsumherlaufendes Pfahlwerk (loss»'
t.um und stLceg-wen) vertheidigt, und bei Kämpfen wurden die angrenzende»
Straßen durch Ketten, Holzwerke und aufgeworfene Barrikaden gesperrt. ^
herrschte durch das Mittelalter hindurch in Rom der Zustand des wildeste"
Faustrechts; in fortdauernden blutigen Kriegen befehdeten sich die Barone
untereinander, und rücksichtslos ward vou ihnen die Stadtbevölkerung l>ele>'
tige und verletzt. Aus den fortwährenden Streitigkeiten des Adels untere«»'
ander und aus dem Haß der Volkspartei gegen den Adel erklärt sich auch d>^
furchtbarste Gewaltthat, welche je gegen die Denkmäler des alten Roms ab'
sichtlich verübt worden ist. Dies ist die bekannte Verwüstung des Senats
Brancaleone aus Bologna. Als nämlich vorübergehend einmal un 13. Ja^'
hundert die Volkspartei in Rom die Oberhand gewonnen hatte, übertrug die"
die höchste städtische Gewalt unter dem Namen eines Senators dem Braun»'
leone. und dieser faßte im Jahr 1257, um die Macht des Adels durch ^
nichtung seiner Burgen zu brechen, den Entschluß, die sämmtlichen festen
bunte des Adels in Rom niederreißen zu lassen. Und dies ward in der Hauy^
sache ausgeführt. Durch Brancaleone wurden 140 bis 150 feste Gebäude-
gewiß zum großen Theil aus dem Alterthum, vollständig niedergerissen. W"^
scheinlich ist, daß er auch einen Theil des Colosseums niedergeworfen l)"t'
und wahrscheinlich rühren von seinem Vorhaben, das Ganze zu schleifen, d'^
vielen von oben bis unten eingebrochenen Löcher her, die jedem Besch"^
dieses Baues so räthselhaft sind. Offenbar sind diese Löcher durch die heran '
gebrochenen eisernen Klammern entstanden, und es war das Natürlichste, hier¬
mit das glücklicherweise nicht vollendete Zerstörungswerk zu beginnen.
(Jedenfalls nicht die Gothen und Vandalen). Am tiefsten ist Rom gesunken
Und verödet in dem Jahrhundert von der Verlegung des päpstlichen Stuhls
nach Avignon (1305) bis zum Ende des großen Schisma (1417). « Die an¬
schaulichste Schilderung des damaligen Zustandes der Stadt finden wir in den
Ehrenden Klagen Petrarcas, der im Jahr 1335 nach Rom kam. Er hatte
^es schon in früher Jugend mit feuriger Begeisterung dem Alterthum zuge¬
wandt. Wie sein Geist hingerissen war von der Sprache und Denkweise der
Rassischer Schriftsteller, so erhob sich derselbe auch von der Zerrissenheit, der
^erderbtheit, dem Elend und der Schwäche der Gegenwart über Jahrhun¬
derte hinweg in das Gebiet des Alterthums, wo er mächtige Thatkraft und
die edelsten Tugenden der Großmuth, des Edelsinns und der Vaterlandsliebe,
welche in dem damaligen Italien erstorben zu sein schienen, erblickte. Aus den
Schilderungen in den Briefen Petrarcas und den Darstellungen der Revo¬
lution des Coka ti Nienzo läßt sich annäherungsweise ein Bild des dcuna-
u^en Rom gewinnen. Die Stadt schien einer völligen Entvölkerung entgegen-
üUgehn; ^se alle Kirchen waren verlassen und standen mit eingestürzten Dach
Und sinkenden Mauern da; unregelmäßig zerstreute Hütten bildeten den be¬
lohnten Theil von Rom; nach einer Notiz, deren Glaubwürdigkeit freilich be¬
ritten ist, betrug die Einwohnerzahl von Rom kurz vor der Rückkehr der
^"pste von Avignon nur 17,000. Mit Ausnahme des Capitols. wo schon
damals der Sitz der Municipalität war, waren die andern Hügel des alten
N'ins gänzlich verödet, besonders auch wol infolge der Zerstörung der Wasser-
Zungen, welche früher das Wasser auf die Höhen geführt hatten. — So
man auch wol behaupten, daß damals die Denkmäler des Alterthums
'w Wesentlichen denselben Zustand der Verlassenheit und Zerstörung zeigten,
^ welchem wir sie bei der Wiederherstellung der Päpste im 15. Jahrhundert
luden. Petrarca hat keine andern hervorragenden Gebäude des Alterthums
lehr gesehn, als die auch noch jetzt existiren; wenigstens nennt er keine mit
usnahme des Septizonium des Septimius Severus. welches erst Sixtus zer-
hat. Auch an Bildwerken hatte sich nur weniges über der Erde erbat¬
en; die Bronzestatuen waren längst eingeschmolzen; die Marmorwerke waren
on Kalk verbrannt, oder in Stücke geschlagen und als Bausteine verbraucht,
""d die Sarkophage dienten als Wassertröge für das Vieh. Die Meister¬
werke der Sculptur. welche wir jetzt in Rom bewundern, hatte damals zum
^»ßten Theil ein günstiges Geschick unter der Erde vergraben. Von bedeu-
enderen Kunstwerken wird aus jener Zeit nur die schöne bronzene Reitersta-
Ue des Marc Aurel erwähnt, welche jetzt auf dem Platze des Capitols steht,
'"d die damals beim Lateran stand. Und diese hat wahrscheinlich nur die
im Mittelalter verbreitete irrthümliche Meinung, daß es eine Statue des Kon¬
stantin, des christlichen Kaisers sei, vor dem Schicksal des Einschmelzens be¬
wahrt. —
Mit der Rückkehr des damals unermeßlich reichen päpstlichen Hofes nach
Rom (1447) beginnt freilich für die Stadt ein neues Leben; die wieder zu¬
nehmende Bevölkerung machte das Bedürfniß von Wohnungen fühlbar, und
alle jetzt bewohnten Stadttheile sind erst seit jener Zeit und namentlich erst
seit dem 16. Jahrhundert entstanden. Aber da die Römer damals im hoch'
sten Grade barbarisch waren, so ward die Herstellung des Verfallenen wieder
eine neue Ursache der Zerstörung. Nämlich man benutzte jetzt wieder die an¬
tiken Bauwerke einfach als Baumaterial. Um zu zeigen, in'welchem Umfange
dies geschah, genügt es die eine Thatsache anzuführen, daß in der nächst'
folgenden Zeit drei der größten Paläste des gegenwärtigen Rom zum großen
Theil aus Steinen gebaut sind, die man vom Colosseum weggenommen
hatte, nämlich der venetianische Palast, die von Bramante gebaute Cancel-
leria Necchia und der Palast Farnese. Um bei dieser Gelegenheit die Ge'
schichte des Colosseums gleich zu Ende zu führen, will ich noch erwähnen,
daß Sixtus V. in demselben eine Tuchfabrik anlegen wollte, eine Absicht, an
deren Ausführung ihn nur der Tod hinderte. Im Anfange des vorigen Jahr'
Hunderts kam Clemens XI. auf den Einfall, das alte Mauerwerk des Colos¬
seums zur Gewinnung von Salpeter zu benutzen; er ließ deshalb die unteren
Bogengänge zumauern und zur Erzeugung des Salpeters mit Mist anfüllen-
Auch wurden die Steine des Colosseums noch zum Bau des Hafens an der
Nipetta verwandt. Erst dem gelehrten Papst Benedict XIV. gebührt der
Ruhm, die trotz aller Verwüstung noch gewaltigen Trümmer dieses riesenhaf'
ten Baues vor weiterer Zerstörung bewahrt zu haben. Aehnliche Züge von
Barbarei, wie die eben erwähnten, ließen sich noch manche einzelne aus den
letzten Jahrhunderten anführen. So ist z. B. das Pantheon, der schöne und
in der Hauptsache gut erhaltene Bau des Agrippa, noch im 17. Jahrhundert
unter Papst Urban VIII. schmählich verunstaltet und beraubt. Dieser Papst
nämlich ließ vorn an beiden Seiten der Kuppel die beiden geschmacklosen
Glockenthürme aufführen, deren Angabe von Bernini herrührt, und die der
römische Volkswitz deshalb die Eselsohren des Bernini nennt. Ebenderselbe
Urban VIII. ließ aus der Vorhalle des Pantheon den aus mächtigen Balken
von vergoldeter Bronze gebildeten Dachstuhl — etwa 450,000 Pfund Mta»
— wegnehmen, um daraus theils Kanonen für die Engelsburg zu gieße"
und theils daraus das ebenso kolossale als geschmacklose Tabernakel über den'
Hauptaltar der Peterskirche zu verfertigen. Dieser am Pantheon verübte
Raub gab zu dem noch jetzt im Munde der Römer lebenden Spottverse de ^
Pasquiuo Veranlassung „Huvd non t'eeerunt. Lardari, leevrunt LarverllU
mit Beziehung darauf, daß Urban VIII. aus der Familie der Barbe-
nniroar. —
Doch so durchgreifende Zerstörungen, wie in früheren Jahrhunderten,
haben die Reste des Alterthums seit der Rückkehr der Päpste aus Avignon
nicht wieder erfahren. — Im Anfang des 16. Jahrhunderts, unter den
kunstliebenden Päpsten Julius II. und Leo X. war die glänzendste Zeit des
Modernen Rom; in dieser Zeit war Rom der Sitz der höchsten Blüte, welche
die bildende Kunst je wieder seit den Zeiten des Alterthums gehabt hat.
Natürlich hatte man damals auch Sinn und Interesse für das Alterthum;
und Rafael selbst machte den großartigen Entwurf zu einem planmäßigen Auf-
graben der alten Stadt; wir besitzen noch das ausführliche Schreiben, welches
Rafael zur Motivirung seines Planes an Leo X. richtete. Leider kam dieser
Plan damals nicht zur Ausführung, und das große Unglück, welches bald
darauf Rom betraf, als es von den Truppen Karls V. unter dem Connctable
von Bourbon erstürmt und geplündert wurde (im Jahr 1527), ließ den gan-
i°n Plan in Vergessenheit gerathen. An eine umfassende planmäßige Aus¬
grabung ist in Rom seitdem nur noch im Anfang dieses Jahrhunderts unter
der Napoleonischen Herrschaft gedacht worden. Sonst beschränkt man sich in
«eueren Zeiten auf Erhaltung dessen, was noch nicht zerstört oder verschüttet ist.
Aehnlich erging es drei Jahre später dem Nachfolger Miloschs. Milan
unde, da er auf den Tod krank lag, die Regierung nicht übernehmen. So folgte
^chael, der zweite Sohn, dem Vater auf dem Fürstenstuhl. Die Pforte be¬
ugte ihn, aber nur auf Lebenszeit. Er ließ sich, auf abendländische Weise
^ogen. weniger grobe Willkürlichkeiten zu Schulden kommen, als sein Vater,
^ „alte Wolf der Wälder"; versuchte, nachdem er sich mit Ministern von
wer Bildung umgeben, Ordnung in die Verwaltung zu bringen und wußte
) durch geschicktes Laviren sowol mit der Pforte, als auch mit den aus-
^Migen Mächten, welche jetzt immer mehr directen Einfluß auf die serbischen
Angelegenheiten übten, in gutem Vernehmen zu erhalten. Er unterließ je-
die Skupschtina zu berufen, stellte verschiedene Fremde an und sah sich
'^dies genöthigt, die Steuern zu erhöhen. So machte er sich den Wojwoden
^„d zugleich dem Volke mißliebig. Wutschitsch. das personificirte böse Ver-
^ngniß der serbischen Fürsten, erhob seine Stimme gegen ihn, es entstanden
ruhen, Michael sah sich auf dem Wege gegen die Empörung von seinen
Truppen verlassen und mußte abdanken. Im September 1842 fuhr ihn der
Fährmann von Belgrad nach Semlin. von wo er sich zu seinem Vater und
später auf Reisen nach Novddeutschland, Italien, Frankreich, England und
Nußland begab. In letzterem lebte er 1847, und es ist bezeichnend, daß er
von hier im Nevolutionsjahre nach den Südslawenländcrn übersiedelte.
Nachdem er sich entfernt, erklärte eine Versammlung der Notabeln des
Landes in Uebereinstimmung mit dem Pascha von Belgrad, die Erblichkeit
der Fürstenwürde in der Familie Obrcnowitsch für aufgehoben, und nun
wühlte man Alexander, den Sohn Kara Georgs, zum Fürsten. Ein Versuch
der Anhänger Miloschs zu einer Gegenrevolution mißlang, und Alexander er»
hielt die Bestätigung der Pforte, wenn auch nicht als Fürst, sondern nur als
Baschbcg. d. i. oberster Herr. Rußland legte nun Einsprache gegen den Um¬
schwung der Dinge ein und verlangte mit Berufung auf die Verträge und
das Princip der Legitimität die Wiedereinsetzung Miloschs. Der eigentliche
Zweck des Protests war jedoch die Entfernung der nationalen, wenigstens
nichtrussischcn Partei Wutschitschs und Petronicwitschs und Zugestündnisse des
neuen Fürsten. Nachdem Rußland beides erreicht, gab es seinen Widerstand
auf. und Alexander, nun von einer Skupschtina nochmals zum Fürsten ge¬
wühlt, erhielt die Bestätigung der Pforte. Neue Erhcbungsversuche zu>n
Zweck einer Zurückführung der Familie Obrcnowitsch scheiterten. Das Land
begann sich allmnlig zu erholen, die Negierung machte einige Anstrengungen,
Verbesserungen einzuführen, und das Volk ließ sie sich gefallen, ohne go^
dankbar dafür zu sein. Nach außen hin lavirte der Fürst, indeß schien ^
sich zu Oestreich hinzuneigen. Die Bewegung von 1348 pflanzte sich nach
Serbien nur in so weit fort, als der Fürst den Oestreichern — genauer den
östreichischen Serben — gegen die Ungarn ein Hilfseorps unter Knischan»'
sandte. Diese Mannschaften haben sich tapfer geschlagen, aber noch tapset
gestohlen und gewürgt. Ihre Betheiligung an dem Nacenkampf wührte
rigens nicht lange, da sie schon im Februar 1849 vom Fürsten den Befehl
zur Heimkehr erhielten. Indeß war dieser Krieg für Serbiens Entwicklung
nicht ohne Bedeutung, indem sich die panslawistische Partei durch ihn
stürkte und sich deutlicher ihrer Verbindung mit Rußland, dem Stamm- un
glaubensverwandten, bewußt wurde. Die Negierung dagegen suchte die alte"
Verbindungen mit der Pforte zu befestigen und die Civilisation des Landes'
die Ausbeutung seiner Hilfsquellen durch Fremde, namentlich Deutsche, ^
fördern.
Der Krieg der Pforte mit Montenegro erweckte in Serbien lebhafte Sy>"'
pathicn für die letztern. aber die Negierung enthielt sich der Parteinah^'
Mit Elias Garaschanins Ernennung zum Ministerpräsidenten kam französisch
Bildung an das Nuder der ^Verwaltung. Garaschcmin machte sich durch ^>"'
schreiten gegen russische Agenten und überhaupt durch antirussische Gesinnung
unangenehm in Petersburg, und so mußte der Fürst ihm schon im März 1353
seine Entlassung geben. An seine Stelle trat Alexander Simitsch. Auch mit
diesem war, als bald darauf der russisch-türkische Krieg ausbrach, vom Für¬
sten nicht mehr, als eine strenge Neutralität zu erlangen, worüber der russische
^"nsul das Land verließ. Die Neutralität wurde energisch bewahrt und durch
ste eine Umgehung der Stellung Omer Paschas bei Wiodin verhindert. Das
Volk war entschieden auf Seiten der Russen, seine Führer aber mochten einer¬
seits fürchten, daß der alte Milosch, der unter den Augen der russischen Ge¬
nerale in der Walachei ein Freicorps gegen die Türken organisirte. damit zu¬
gleich die Wiedereroberung seines Fürstenstuhles in Belgrad beabsichtige,
andererseits, daß. sobald Serbien Front gegen die Pforte machte. Oestreich
°as Land besetzen und womöglich behalten werde. Letztere Macht zog im
Frühjahr eine so beträchtliche Streitkraft an der Donau und save zusammen,
die serbische Regierung sich veranlaßt fand, in einer an die Pforte ge¬
richteten Denkschrift zu erklären, sie werde einen Einmarsch der Oestreicher
N>ehe dulden, und zu gleicher Zeit die Mobilisirung des serbischen Volksheercs
Zuzuordnen. Da sich indeß die Russen jetzt aus der kleinen Walachei zurück-
ü°gen und Oestreich die Erklärung abgab, es werde nur in dem Falle einer
Körung der legitimen Ordnung in Serbien einrücken, so stellte man die Rü-
"ngen wieder ein. und es war fortan von diesem Theil der türkischen Lehns-
wndcr während des Kriegs nicht mehr die Rede.
Nach wiederhergestelltem Frieden begannen die Parteien im Innern wieder
Hr Spiel. Es gab eine Wojwodcnpartei. die ihr Organ im Senat fand
"ut nach Beschränkung des Fürsten durch den Willen der Aristokratie hin¬
arbeitete. Es gab eine nationale Partei, welche sich hauptsächlich gegen die
"Schwaben", d. h. die Deutschen im Lande kehrte. Es fanden sich ferner:
e>Ne Partei, die sich nach den Obrenowitschs nannte, eine russische, eine frau-
^l'sche, eine kleine östreichische Partei. Endlich hatte auch Fürst Alexander
°wige Anhänger. Eine wirklich patriotische Partei existirte nicht. Alle hatten
°s Vaterland und die Freiheit im Munde und sich, ihren Vortheil und ihren
"geiz im Sinne. Der erste Angriff auf den Fürsten ging von der Ovpo-
"'on im Senat aus. Die aristokratische Coterie, die hier das Wort führte,
Mr ihm einen Theil seiner Rechte und versuchte ihn dann durch einen Meu-
^elrnörder zu beseitigen. Der Plan wurde entdeckt, die Urheber bestraft.
Ad einen Augenblick schien es. der Fürst werde die ihm entzogenen Rechte
Machtvollkommenheiten sich wieder aneignen können. Der Senat indeß
^bee unter, Wutschitschs Führung mit solchem Geschick zu operiren. daß die
se? Organisation sej^. Körperschaft die Macht des Fürsten noch mehr be¬
dankte. Jetzt wurde der Ruf nach einer Skupschtina laut, zuerst im Senat.
wo namentlich Wutschitsch und Garaschanin an einen Entscheid des Volkes
gegen den Fürsten Hoffnungen für sich knüpften, dann im ganzen Lande, wo
die Partei Miloschs in der letzten Zeit ganz in der Stille eine große Thätig'
keit entwickelt hatte. Der Fürst schwankte einen Augenblick, ob er in die Be¬
rufung der Skupschtina, welche ihm offenbar feindlich sein mußte, willigen
sollte, ebenso die Pforte, welche die Hand Rußlands im Spiele sehn mochte.
Beide gaben indeß nach, und am Andreastag 1858 fanden sich die Vertreter
des Volkes, nach Landesgebrauch bis an die Zähne bewaffnet und von zahl'
reichem ebenfalls bewaffneten Gefolge begleitet, zu Belgrad ein, um zu be¬
rathen, was zu thun sei.
Der Präsident der Versammlung, die beiläufig in einem Brauhause tagte,
war der zu Anfang erwähnte Senator Mischa Barlowetz, der Vicepräsident,
Stephtsche Michailowitsch, ein entschiedener Anhänger der Familie Obrere
witsch. Die Verhandlungen begannen' damit, daß Mischa ein langes Sünden¬
register des Fürsten vortrug. Er habe, hieß es, sich zu den Schwaben und
Türken hingeneigt, dem Lande willkürlich verfahrende Beamte gegeben, si^
in die Verwaltung gemischt, die ihm nichts angehe, sich schwach und ängstlich
bewiesen, die Familie seiner Gemahlin ungehörig bevorzugt u. a. in. Die
Skupschtina rief zu allen diesen Anklagen: Ja wol, so ist es. Ein zweite
Sprecher belehrte sie, daß in ihr die oberste Gewalt des Staates vertreten
sei, was ihr zwar kaum ganz verständlich gewesen sein wird, trotzdem aber
wohl gefiel und sofort zur Anwendung gebracht wurde, als der Vicepräsident
jetzt den Namen Miloschs" nannte. Man beschloß, dem Fürsten seine Stelle
zu kündigen, ihn aufzufordern, er möge abdanken, und zu dem Zweck nuper'
züglich eine Deputation an ihn abzuordnen. Alexander antwortete erst an^
weichend, dann willigte er in das Verlangte, dann, von seiner energisch^
Gemahlin wieder umgestimmt, schwankte er von neuem zu dem Entschluß
zurück, sich zu behaupten. Letzteres war nicht unmöglich, da der größere The>
des Militärs anfangs treu bleiben zu wollen schien. Aber der arme Fürst
verlor wieder den Muth , und so floh er in der Nacht in die Festung Belgrad
die zwar mitten in der Stadt liegt, aber als türkischer Boden betrachtet wird-
Tags darauf verurtheilte ihn die Skupschtina in eonwmaeiam zur Entfernung
von seiner Stelle und zur Verbannung. Garaschanin, der ihn fortgebracht
Wutschitsch, der die Agitation gegen ihn geleitet, Mischa Barlowetz, der ihn
vor der Volksversammlung angeklagt, mochten noch hoffen, an seinen Post^
zu gelangen. Aber schon die nächste Stunde sollte sie eines Bessern belehre"'
Umsonst verwendete sich des Essaxds, der französische Generalconsul, für ^
raschanin. Er stattete den Herren Volksvertretern' einen Besuch ab, versieht
sie des Wohlgefallens seines Kaisers an ihrer Revolution und schloß mit en>c
förmlichen Liebeserklärung an das serbische Volk, „ich liebe und schätze eM
^ sehr, daß ich selbst ein Serbe sein und euren Glauben annehmen könnte."
^ half nichts: die Bauern wollten keinen Aufklärer, keinen Freund des
^ichtslawischeu, nichtorthodoxen) Auslandes, keinen Doctrinär. Ebenso täuschte
s'es Wutschitsch. Die Bauern wollten auch keinen andern Senator, keinen
^"dern Aristokraten. Sie wollten Milosch. und da dieser nicht zugegen war.
^' wählte man eine provisorische Regierung, um das Land bis zu seiner An-
"uft und seiner Bestätigung durch die Pforte zu verwalten.
Der Senat, das Militär blieb noch einen Tag hindurch schwierig. Letz-
^ ging truppweise über, nachdem es einmal fast zum Kampf zwischen ihm
und den Anhängern der Skupschtina gekommen wäre. Der Senat dagegen
Klärte erst, daß er mit der Absetzung Alexanders einverstanden sei, dann,
aß er diese Erklärung als durch Einschüchterung abgedrungen widerrufe, bald
a»auf wieder, daß ihm dieser Widerruf durch die Bayonette der Soldaten,
welche hartnäckig die Sache des Fürsten festhielten, abgepreßt worden. Endlich
K'ug auch er einzeln zur Partei Milvschs über. Damit war die Revolution
^ Ende, und die Skupschtina konnte sich jetzt andern Geschäften widmen.
le Verhandlungen über Reformen, die sie pflog, sind überaus bezeichnend
>ur den Geist der Versammlung und für die Culturstufe des Volkes, welches
e vertritt. Alles läuft echt bäuerisch auf eine wohlfeile Negierung hinaus.
. Wurden — allerdings nur in Vorberathungen — Anträge gestellt auf Ab¬
fassung der Pockenimpfung als einer kostspieligen und zugleich gottlosen Ein-
^chtung. Abschaffung der mit öffentlichen Mitteln gegründeten und erhaltenen
^ankenhäuser, Absetzung der aus der Staatskasse besoldeten Aerzte. Entfernung
°r Gehalt beziehenden Beamten von ihren Stellen und Ersetzung derselbe»
,,^es vom Volke gewählte unentgeltlich dienende Freiwillige, endlich auf Er-
imung eines geeignet großen Credits bei der Staatskasse, um jedem
upschtmar den Dank des Vaterlandes sür seine patriotischen Bemühungen
es Veschcerung eines Wcihnachtsschweinchens ausdrücken zu können.
, Wels die nächste Zukunft bringen wird? Milosch wird zurückkehren und
^ pas weniger als Pascha regieren. Aber Milosch ist ein Mann von fast
ko»/^ fahren, und „des Menschen Leben währet siebzig Jahr, wenns hoch
fol "^zig." Dann wird sein Sohn Michael ihm folgen ober auch nicht
denn noch ist sein Erbrecht von der Pforte nicht restituirt. Milosch
b/I' sich geneigt finden lassen, einen Streit mit der Pforte vom Zaun zu
>n"n ' ^chael vielleicht ebenfalls. Sie werden sich aber dann beeilen
^ 'Isen. Schon jetzt beginnen die durch den Ausgang der Revolution getäuschten
d^'en gegen die Obrenowitsch zu intriguiren. Gegen den Vater suchen sie bei
^ Türken Befürchtungen rege zu machen. Gegen den Sohn wenden sie sich an das
arventhum. Die Gemahlin des letztern ist keine Serbin, nicht griechischen
auvens und obendrein kinderlos. Er selbst ist durch den langen Aufenthalt
in der Fremde entnationalisirt. Er würd eeinst mit Recht vertrieben, er wird
sich zurückgekehrt rächen wo er kann. Das sind Momente genug, um Arg'
wohn zu erregen und dem Fürsten von vornherein einen schlimmen Stand zu
bereiten. Indeß sind sie vorläufig wenigstens der russischen Unterstützung sicher-
und sie werden bedacht sein, sie sich nicht zu verscherzen, dafür aber auch den
russischen Interessen dienen müssen.
Ob die sardinischen Rüstungen ernst gemeint sind, ob die Heirath in Turin ein
Schutz- und Trutzbündniß zwischen Frankreich und Piemont bedeutet, wird die nächst
Zeit zeigen. Wir glauben hier (der Verfasser ist in Mailand), daß zunächst Friede
bleiben wird. Aus alle Falle ist die Lombardei jetzt vollkommen ruhig, und d«6
möchte bei dem sanguinischen Wesen der Italiener bedeuten, daß sie sobald r>va>
nichts zu hoffen haben. Ich benutze diese Pause, die mich Ihnen nichts von Ereign
rissen berichten läßt, noch einmal auf die Zustände hier zu Lande zurückzukommen'
Die Unzufriedenheit war in den letzten Monaten des verflossenen Jahres fast allgemein
geworden. Das strenge Rckrutirungsgcsctz, die Herabsetzung des Werthes einigt
Münzsorten, die Verwirrung, welche mit der Einführung der neuen Währung v^'
bunten war, in der alle Zahlungen an den Staat geschehen sollten, während kei^
andern Wcrthzeichen sichtbar wurden, und bei den alten ein nicht unbedeutender
Verlust stattfand; dies alles traf die gewerbetreibenden und ärmeren Classe"
der Bevölkerung relativ am härtesten und erzeugte in der Masse des Volks gi^
Erbitterung gegen die Regierung. In den andern Provinzen Oestreichs hatte rü""
die mit dem Uebergang zu einer andern Währung verbundenen Verluste leicht
verschmerzt, weil man dadurch eine Regelung der Valutaverhältnisse und eine Bess^
rung der Finanzlage des Staates angebahnt sah; in Italien fiel das Interesse
dem Wohle Gesammtöstreichs weg. Die piemontesischen Journale thaten das Jhr>^'
die Gemüther aufzustacheln; dazu kam die Sprache der französischen Blätter, rvel^
eine Betheiligung Frankreichs an den italienischen Angelegenheiten in Aussicht se^'
und indem sie Illusionen weckte, der anfänglichen Unzufriedenheit mit einzelnen ^'
gierungsmaßrcgeln einen revolutionären Charakter gab. Die Aufregung war best"'
ders bemerkbar in Mailand, so wie in den Städten der Lombardei; geringer
sie im Venetianischen, das Landvolk blieb theilnahmlos. Hervorzuheben ist bei die^
Stimmung der Bevölkerung, daß sie besser disciplinirt war als in den Jahren t^
und 1854; es erfolgte kein unzeitiger, unüberlegter Ausbruch, die Bewegung ^
organisirt, und erhielt ihre Leitung aus Piemont; dahin blickten die mana»
Jtälianissimi, nur wenn sie eines Beistandes von dorther und von Frankreich N^
waren, wollten sie losschlagen; bis dahin galt es durch Demonstrationen die H^^'
der östreichischen Regierung zu erproben und ,die Gemüther für die kommenden
cignisse vorzubereiten.
Die verschiedenen Demonstrationen, die sich manche Journale die Mühe geben
°u verheimlichen und zu leugnen, indeß andere sie übertreiben, waren der Art, wie
sie eben in Italien häufig vorkommen, und es wird ihnen an Ort und Stelle durchaus
Nicht jene Wichtigkeit beigelegt, wie in der Ferne. In erster Reihe sind die Borfälle
"°n Pavia zu nennen, einer Stadt, die. hart an der Grenze gelegen, von jeher die
"«ruhigste Bevölkerung hatte, welche mit den Flüchtlingen in Piemont in fortwäh¬
render Verbindung steht und in der zahlreichen Studentenschaft der Universität cur
tnrbulentes Element besitzt. Man machte hier wiederholt (beiläufig sehr ungeschickte)
Urhunde, durch mit Pulver gefüllte Flaschen das Eastell und Magazin in die Luft
«n sprengen. Ernster war die Ermordung eines Professors, der seine Studenten
"'"'"Hut hatte, die Opposition gegen das Rauchen auszugeben, und einem derselben
jetzt allgemein übliche weiße Thonpfeife wegnahm. Am nächsten Tage wurde
Professor auf offner Straße erdolcht, ohne daß es möglich gewesen wäre, den
Thäter zu entdecken. Doch nimmt man an. daß eS kein Student, sondern ein mit
Ausführung von Mazzinis Einschüchterungsmaßrcgeln beauftragter Mörder war.
^>n weitesten Umfang verbreitet war die Demonstration gegen das Rauchen der
Darren; fast durchgch-nds enthielt sich die Bevölkerung deren, namentlich in Mai-
U'ut war die Eigarrcnfcindschnft. die anfangs nur Verdruß über die Preiserhöhung
^n'en. sehr bald als patriotische Kundgebung organisirt. denn es wurden Personen
^haftet, welche ans der Gasse rauchende Personen aufforderte«, wenn sie gute
wiener wären die Cigarren wegzuwerfen, wofür sie ihnen Tabak und Pfeife an-
die^N' ^"ö^uni Soldaten, meist jedoch nurunbewnffnetcnOsfiziersdicncrn, wurden sogar
frui/Ä"^" ""^ Munde geschlagen. Am meisten Aufsehen machte der auch inCig
'«»fischen Zeitungen erwähnte Nvrfall am Weihnachtsfeiertage, wo in der Und
Kaserne Soldaten von Civilpersoncu Cigarrenranchcns halber insultirt wurden,
e arretirten die Beleidiger, und es entspann sich eine Schlägerei, welche in dem
s,. ten Stadtviertel nicht verfehlte, den Zusammenlauf von einigen hundert Mcn-
zu veranlassen. Als aus der nahen Kaserne eine kleine Abtheilung Militär
^ drückte, ging das Volk auseinander, und die Individuen, welche den Vorfall
ti>^"^ hatten, wurden auf die Wache geführt. Die Civilbchörden behandelten
Ge- ein Einschreiten des Militärs war bei den nur geringfügigen Excessen nir-dcse
.^Ngniß. Die Militärbehörden verhielten sich bei allen Vorfällen dieser Epoche° und ähnliche Fälle als Acte öffentlicher Gewaltthätigkeit und bestraften sie mit
Nothwendig; ja es war nicht einmal statthaft, wenn es von der Civilbehörde nicht
. ^naht wurde. Der östreichische Soldat aber ist zu gut an Disciplin gewohnt, um
Hort" Bevölkerung übermüthig aufzutreten und Händel zu suchen; in der That
do>» 2^lien äußerst selten von Schlägereien der Soldaten mit Leute»
» ^Mstand. Nur wenn er, wie jetzt hin und wieder, herausgefordert und an-
Ai»/ Nu'rd, antwortet er, wie es dem Soldaten ziemt, und vertheidigt sich,
ges et^'^ hcM" aber auch weder Offiziere noch Mannschaften mit der Bevölkerung
T° '6°n Umgang. Sie wissen, daß sie gehaßt sind als Stützen der kaiserlichen
'alt im Lande und verzichten darauf, sich Sympathien zu erwerben als ans ein
>v 6 der Unmöglichkeit. Zweifelsohne gibt es eine zahlreiche Classe der Bewohner.
^ Segen Oestreich nie etwas unternehmen werden, welche selbst der Regierung
Vorzug vor einer andern geben; aber selbst diese haben keine Sympathien für
den östreichischen Soldaten, und wenn sie deren hätten, so dürften sie sie nicht zei¬
gen, um nicht als unpatriotisch zu gelten; denn hierin findet, wie es bei Politische«
Bewegungen immer geschieht, eine Terrorisirnng der großen gleichgiltigen Mehrzahl
durch die lauten Wortführer statt. Ueber ihre Stellung gegenüber der Einwohner¬
schaft des Landes also macht sich die Armee keinerlei Illusionen. Um der Regierung
insbesondere unter den jetzigen Umständen keine Schwierigkeiten zu bereiten und siel)
nicht mit Recht noch verhaßter zu machen, vermeidet sie es sorgfältig, Anlaß j»
Reibungen zu geben; andrerseits vergißt sie nie, daß es in letzter Instanz ihre Auf¬
gabe sein wird, diese Provinz der Monarchie zu erhalten. —
Der kaiserliche Hof ist in den letzten-Jahren beharrlich bemüht gewesen, den höher»
Adel der italienischen Provinzen, welcher sich im Jahre 1848 zum größten Theil
stark compromittirt hatte, und seit damals eine feindselige Haltung gegen die Re¬
gierung beobachtete, durch Entgegenkommen zu gewinnen. Zahlreiche landesflüchtig
Nobili wurden amncstirt, in den Besitz ihrer Güter wieder eingesetzt, alle an den
Hof gezogen, dort mit der größten Zuvorkommenheit behandelt, ja ausgezeichnet.
Kaiser Franz Joseph that in dieser Beziehung bei Gelegenheit seines Besuches in
Italien 1857 alles, was dem Monarchen entfremdeten Unterthanen gegenüber
thun möglich war. Erzherzog Ferdinand Max bot nicht minder die größte Artigkeit
aus, die Aristokratie günstig zu stimmen, er war vielleicht nur zu artig. Der Ver¬
such schlug fehl. Die Nobili setzten, indem sie erkannten, daß man einen g«»i
besondern Werth daraus lege, sie bei Hofe erscheinen, und dadurch ihre Aussöh»u>'ö
mit dem gegenwärtigen Zustand der Dinge beurkunden zu sehen, den Höflichkeiten
des Erzherzogs fast ohne Ausnahme einen hartnäckigen Trotz entgegen, schmollte»,
erschienen selten und dann mit sichtbarem Widerwillen bei Hofe, und verriethen e>»
ängstliches Bestreben, ja nicht für kaiserlich und unpatriotisch gesinnt gehalten
werden. Der venezianische Adel benahm sich bei dieser Art Opposition doch ge>»^
ßigt und mit Anstand, der Mailänder hingegen beobachtete sehr wenig Takt. Zw^
nur ein geringer Theil der Aristokratie zog sich ganz und beharrlich von dem
und der Regierung zurück; die meisten erschienen an den Empfcmgstagcn und de>
den Bällen des in Mailand residirenden Erzherzogs, doch fuhren sie fort, mit de»
andern der Regierung offen entgegenstehenden Standesgenossen Opposition zu mache"'
der Negierung Schwierigkeiten zu bereiten und durch kleinliche Demonstrationen,
denen man wußte, daß die Regierung dagegen nicht mit Strenge einschreiten werd^-
sich den wohlfeilen Ruf von kühnen Patrioten zu erwerben. An der Spitze dies^
Cotcric stehn die jungen Elegants Mailands, die Söhne der ersten Familien ^
Landes, welche, während in andern Provinzen der Monarchie die Glieder der '
sten Familien in der Armee oder dem Staate in der Verwaltung dienen, hier 'h^
Jngend ohne irgend eine Beschäftigung so rasch als es in Italien möglich ist, i"
verleben trachten. Nur äußerst wenig Italiener von vornehmer Abkunft dienen e>
Offiziere oder im Civil, sie ziehn das Theater und Kaffechauslebcn Mailands r>c>l,
wo sie nun bei dem Mangel jeder Beschäftigung Politik und Revolution maä)U''
sich in Unarten gegen den Erzherzog gefallen (den auf der Straße nicht zu grüß^"'
eine besondere Force der „Gicwonottos" ist) die statt der Cigarren eingesüpr
weißen Thonpfcifchcn rauchen und endlich ohne grade zu conspiriren, mit den
lianissimi anderer Kategorien mitwirken, Italien als aufgeregt erscheinen zu ^
hin. Die italienische Frag- ist für sie. wie für viele andere, etwas Unbestimmtes,
Schwankendes; eigentlich wissen sie kaum, was sie wünschen und wofür sie sich be¬
mühen sollen; es gilt ihnen nur Opposition zu machen, und hierin werden sie von
d°M schönen Geschlecht wirksam unterstützt. Um aufrichtig zu sein, sind die so¬
genannten gutgesinnten, sich offen zur östreichischen Partei bekennenden Damen meist
nicht mehr in der ersten Blüte ihres Alters. Die Jugend der weiblichen Aristokratie
steht an der Spitze der für Italiens Freiheit Schwärmenden, leidenschaftlich in der
Vaterlandsliebe, wie die Italiener es in allem sind. Eine der elegantesten derselben
äußerte sich bei einer Gelegenheit, sie bedauere, Frau zu sein und für die Freiheit
nicht auch kämpfen zu können, worauf uralt ihr erwiederte: ihre schönen Augen
waren auch gefährliche Waffen, mit denen., sie viel Unheil stiften könne, welchen
Nath sic. wie die böse Welt behauptet, in der That befolgte. Eine andere Dame
»hält die Einladung zu einem Diner bei Hofe; um ihrer Partei zu zeigen, wie
unangenehm ihr dieselbe gewesen sei. und daß sie für die Folge dem Erscheinen bei
Hofe ausweichen wolle, fährt sic unmittelbar von dem Diner auf das Land. Fürst
Pvrcia, einer der ersten Adeligen Mailands, der viel bei Hofe erschien, sich dort als
sehr gutgesinnt darstellte, überdies Kümmerer war, aber trotzdem auch mit der
Oppositionspartei in Ver'binduug stand, kam eben zur Zeit der höchsten Aufregung
Segen Ende des vorigen Monats in die für ihn unangenehme Lage, daß er und
"Uhren jungen Leuten der eben geschilderten Eliguc vor einem Kaffeehause stand,
°is der Erzherzog Generalgouvemeur mit seiner Gemahlin vorüberging. Fürst
Porcia. genirt durch die Gesellschaft, in der er sich befand, hatte nicht den Muth,
b'° einfache Pflicht der Artigkeit, die für ihn als Kämmerer übrigens Schuldigkeit
w^. zu erfüllen, und den Erzherzog, wie es sich ziemt, zu grüßen; er ruckte ver-
'°gen etwas an seinem Hut und kehrte sich um. Infolge dieser Ungezogenheit, welche
^ ihn viel unangenehmere Folgen hätte haben können, wurde ihm bedeutet.
Mailand binnen 24 Stunden zu verlassen.
So waren und so sind noch theilweise die Zustände im lombardisch-pence.a-
"'schen Königreich beschaffen; eine starke Aufregung war unleugbar vorhanden und
^seWc hatte ihren Höhepunkt in den ersten Tagen des neuen Jahres erreicht. Einen
Zusammenhang zwischen der Bewegung in Italien und der gleichzeitigen kriegerischen
Stimmung, welche in Paris ihren Ursprung hatte, zu constcitiren, würde vielleicht
'"ehe unmöglich sein. — Mailand wimmelte an diesen Tagen von allerlei aus
P'emont herübergekommenen Gesindel; die bekannten Jtalianissimi verhehlten ihre
Hoffnungen gar nicht daß die Revolution in den nächsten Tagen ausbrechen werde,
für den 6. Januar war Ermordung der Offiziere. Ueberfall der Garnison und
Erhebung der Stadt angesagt. Von Seite der Behörden beugte man c.nem
'"chen Versuch, der von einigen hundert verzweifelten Leuten doch haM aller-
"°'unen werden können und bei einer Anzahl leichtgläubiger Italiener vielleicht
"uterstützu„g gefunden haben würde, durch zahlreiche Arrctirungen. Eonsign.ruug°" Truppen in den Kasernen und Aufführung von Geschützen am Castell vor. Es
"s°We am 6. Januar nichts; am andern Tage ward bekannt, daß das dritte
."Meecorps aus Wien zur Verstärkung in die Lombardei rücke, am 10. Januar«räh»« <>»fer die
^'ter folgten und in die Städte der Lombardei einrückten. Gleichzeitig wurden- ersten Truppen dieses Corps in Mailand ein, denen täglich andere Na
Abtheilungen nach Pavia zur Verstärkung der dortigen Garnison, dann nach Ma-
gcnta, an die Brücke von Buffalora vorgeschoben, andere rückten nach Como zur
Beobachtung der Grenze gegen den Canton Tessin, nach Lavcno, einem befestigte»
Punkt am langen See, endlich nach Piacenza. Alle diese Bewegungen, so wie das
Factum, daß am 20. Januar die italienische Armee durch ein vollständiges Armee-
corps von 25,»00 Mann mit completer Artillerie verstärkt war, blieben weder D
die Bevölkerung noch sür Sardinien ein Geheimniß: in der Lombardei selbst war
die Bewegung mit dem 7. Januar wie abgeschnitten, die unruhige Physiognomik
Mailands gänzlich umgewandelt, zahlreiche Trupps verdächtig aussehender Jndivi-
duen hatten die Stadt verlassen, und* als friedlichere Nachrichten aus Paris ein-
trafen, fiel die Siegeszuversicht der Italiener ganz und gar, und die sardinisch°
Thronrede machte hier, so weit wir sehn konnten, nicht den geringsten Eindruck-
Oestreich hat jetzt zwei Armeecorps in Mailand und in der Lombardei wenige
Tagemarsche von der Grenze und um Mailand herum concentrirt stehn ; ein drittes
befindet sich in Verona, Mantua und Umgegend, ein viertes im Venetianischen'
Diese vier Armeecorps sind zwar nur auf dem Fricdensstand, und gegenwärtig u>
der Gcsammtstnrke von etwa 90,000 Mann; durch Einberufung der Ergänzunge»-
welche in acht bis vierzehn Tagen aus beinahe allen Theilen der Monarchie
Italien eintreffen können, ist es aber möglich, die Regimenter zu completiren und
die Armee ans einen Stand von 140,000 Mann zu bringen. Endlich kann co
fünftes Armeecorps aus den deutschen Provinzen mit derselben Leichtigkeit auf
italienischen Schauplatz disponirt worden, als soeben geschah.
Oberitalien ist jetzt vollkommen ruhig, und wird es auch für einige Zeit die>'
ben; denn wir wiederholen es, und legen einen besonderen Nachdruck darauf, ^
nur die Aussicht auf fremde Hilfe die Gährung der letzten Zeit gefährlich erschein^
ließ. Die Vorfälle in Pavia sind vereinzelt geblieben, und nirgend weiter die Ort'
Immer mehr lichten sich die Reihen jener Veteranen, die uns an die gute
unserer Literatur erinnern. In kurzen Zeiträumen nacheinander sind EichcndorN-
Varnhagen und Bettina gestorben; alle-, drei derselben Generation angehör'^
der erste von 1788, die beiden andern von 1785. Herr von Varnhagen und
von Arnim haben so lange gemeinsam in Berlin eine nicht unerhebliche Rolle
spielt, daß es uns hier erlaubt sein mag, mit einigen Worten auf ihre gerne"'
schaftliche Beziehung hinzudeuten.
Beide zeigen uns, was eine bedeutende und anziehende Persönlichkeit auch .
productives Talent in der Literatur vermag. Herr v. Varnhagen stellt uns in l
mein Leben in schönster Harmonie jene Geistesrichtung dar. die Goethe in WiM
Meister schildert, nur mit dem Unterschied, daß er ein vollendeter Gentleman w '
Von frühster Jugend war es sein Trachten, Herz und Geist nach allen Seiten
mäßig auszubilden. Er hat medicinische, juristische und philologische Studien
trieben, er ist in Kriegsdiensten und Staatsgeschäften gewesen, er ist der Entwicklung
deutschen Dichtkunst und Philosophie mit unablässiger Aufmerksamkeit gefolgt
"ut bekannte sich als Hegelianer, obgleich er sich weder den Stil dieser Schule an¬
briete noch sich überhaupt auf metaphysische Speculationen einließ. Wie sein Ver¬
hältniß zur Poesie mehr ein empfangendes war, so erscheint er auch Rahel, dem
Angebeteten Weibe gegenüber, und wenn uns der Bericht in seinen Denkwürdigkeiten
über seine Liebe rührt — der beiläufig in dieselbe Zeit fällt, in der Bettina mit
Goethe correspondirt — so zeigt uns sein Cultus der Verstorbenen, ein wie rieb-
'ö» Jnstinct seine Wahl geleitet hat. Varnhagens Haus war in Berlin der Sam¬
melpunkt aller alten und jungen Freunde d?r Literatur; hier fand jedes, auch das
Abweichendste Streben seine Geltung und Pflege, wenn es nur von einer eigen¬
tümlichen Persönlichkeit getragen war. Seine Denkwürdigkeiten sind für die Pc-
Nvde von 1803—1814 unschätzbar; wir hoffen, daß man sie aus seinen Papieren
^ganzen wird. Im Uebrigen ist seine schriftstellerische Bedeutung von seinen Freun-
°,n überschätzt, namenilich müssen wir dagegen protestiren, daß man seinen Stil
^ classisch ausgibt. Im Gegentheil zeigt sich nirgend so deutlich das Unheil, wei¬
tes Goethes spätere Manier angerichtet hat.
Auch Bettina hatte einen zahlreichen Kreis von Verehrern, und wenn es einem
^selben gelingen würde, uns von der hochbegabten Frau, die mit den bedeutend¬
en Männern Deutschlands in Verkehr stand, ein einfaches und schlichtes Lebens-
° ZU entwerfen. so würde er sich um die Literaturgeschichte ein wahrhaftes Ver-
>erst erwerben. Es wäre namentlich jetzt, wo alle Persönlichen Rücksichten schwin¬
gn, an der Zeit, urkundlich festzustellen, ob wir in dem Briefwechsel eines Kindes
Wahrheit oder Dichtung haben.
So entgegengesetzt sich Bettina und Varnhagen waren, dieser milde und ans¬
uchend, jene schroff und excentrisch, so hatten sie doch eine große Vorliebe für-
ander. In einem frühern Jahrgang der Grenzboten findet sich ein Aufsatz: ein
.^and bei Rahel, in welchem sich der Verfasser — Varnhagen selbst — geflissentlich
' Schatten stellt, um die mächtige Persönlichkeit seiner Gemahlin im vollsten Licht
^'°""ten zu lassen. In dieser Erzählung tritt auch Bettina auf. noch immer
Schild'""^ ^ 'hrcr Wunderlichkeit.er mit herzlicher Theilnahme ge-
deih ^ werden wol auch wir ihrer gedenken müssen, mit dem Vorbehalt,
Kerb ^^rung der Bedemar eben nur in einer bestimmten Individualität gedacht
^ er kann und sich zur Nachahmung nicht eignet. Vor dem Erscheinen ihrer
ten 5.'^^ Ge>else zwar schon lange verehrt und ihn als Deutschlands größ-
^ >edler begrüßt, .aber Bettina hat zuerst gezeigt, wie er geliebt worden ist und
^ "an ihn lieben muß. Es ist ein sehr allgemeines Vorurtheil, Goethe in der
^^^harten eines kalten, antiken, aus Marmor gebildeten Gottes zu betrachten, den
G "ur aus der Ferne anschauen dürft. Und so malt man ihn namentlich im
Alter" Schiller ans. Seine Porträts stammen fast durchweg aus seinem
Zeit 's "'^ ^ Mitlebenden haben ihn meistens nur als Minister gesehn. In der
Und s ^ war es aber anders; kein Dichter hat so viel Liebe empfangen
ge»> / ^ verdient, wenn man einem herzlichen, warmen und offenen Ent¬
recht ^ Verdienst zuschreiben darf. Es ist Bedemar nicht gering anzu-
daß sie dies Gefühl in der spätern Generation wieder aufgefrischt hat und
Goethes neuester Biograph, Lcwcs, der vorzugsweise darauf ausgeht, Goethes all¬
gemein menschliche Liebenswürdigkeit und seine Herzensgüte an den Tag zu bringe«,
sollte weniger hart über Bettina urtheilen, die doch, wenn auch in sehr excentrische»
Formen dasselbe gethan hat. Seitdem der Briefwechsel mit Jacobi, Lavater u. s-
veröffentlicht ist, haben wir freilich über diese Liebenswürdigkeit bessere Urkunden,
aber auch durch diese Urkunden wird die reizende PhaMsmagvric des Kindes nicht
in den Schatten gedrängt.
Bor dem Jnbel, der sich in diesem Augenblick durch ganz Preußen erhebt, und
überall widerklingt, wo man an Preußens Zukunft glaubt, verstumme» vorlaut
alle politische Streitigkeiten. Das Volk hat ein neues Unterpfand für die Fe'^
dauer des Königshauses, unter dem es groß geworden, und die Freude konnte u>»
so reiner sein, da das Vertraun stärker ist als seit langer Zeit. Nur wenige Ta^
früher, so wäre das freudig ersehnte Ereignis; an dem Geburtstag Friedrich ^
Großen'eingetreten. Die Menge liebt solche symbolische Beziehungen, und, um >^
einigen Ersatz zu geben, hat ein gelehrter Herr dem jungen Prinzen das Horoskop
gestellt und nachgerechnet, welchen Platz um jene Stunde das Sternbild Friedrichs
Ehre am Firmament einnahm.
Denn noch immer regt sich von Zeit zu Zeit das dunkle Gefühl im Vor¬
der Staat, der durch die gigantische Kraft eines Einzelnen in die Reihen der Gro^
machte eingeführt ist, müsse durch eine neue überlegene Kraft in seiner Stellung
befestigt werden i es harrt auf die Ankunft eines neuen Friedrich. Aber darin lieg
eben die Große jenes Königs, daß er einen Staat mit einem wirklichen Schwcrpun
geschaffen hat, mit einem Schwerpunkt, den er zuweilen im Taumel zu verlief
scheint, den er aber sofort wieder findet, sobald die naturgemäße Bewegung eintrugEs war nicht blos die Krone, sondern das gesammte Volk, das diesen Schwere»»
1808, das ihn 1812 wiederfand; und wir glauben, daß für den gegenwärtige»
Zeitpunkt die richtigste Bezeichnung die ist, daß Preußen seinen Schwerpunkt w>et^
gewonnen hat. ^
Man überlegt nicht recht, was man wünscht, wenn man die Geburt ein
neuen Friedrich erwartet. Ist es ein Unglück, wenn dem Träger einer wcltgcsäM
liehen Krone die..Kraft fehlt, sie mit Würde zu tragen, so ist es zuweilen ein )
geringeres Unglück, wenn er zu stark sür sie ist. Das Jahr 1740, das Jahr ^
gab der überschwellender Kraft, dem souveränen Entschluß, und sagen wir es
grade heraus, der Willkür einen großen Spielraum; heute sind nicht "
die Naturbedingungen, sondern auch die sittlichen Bedingungen enger.
positiver. Ein Geist von den Dimensionen Friedrichs würde vielleicht "
ihnen erdrückt werden, wenigstens ist es zweifelhaft, ob eine solche ^
mung der Zeit zum Heil gereichen würde. Noch lebt in unserm Andenken
Geschichte des Gewaltigen, der auf Se. Helena endigen mußte. Spätere 2«h^
sende werden diese Gestalt verherrlichen, wenn unsere kleinen politischen Stre>
Zeiten und Bestrebungen längst vergossen sein werden; wir, die Zeitgenossen aber dürfen
s°gen- es ist ihm sein Recht geschehn!
Gleichviel wie groß oder wie gering der Grad der Freiheit sein mag, den das
""zelne Volk erlangt, die Völker sind jetzt eine Thatsache, sie sind die Factoren der
Weltgeschichte, und derjenige König wird nicht blos der beste, sondern auch der
i^ovec sein, der eins ist mit seinem Volk. Besser vielleicht als diplomatische Schlau¬
st, als kriegerischer Glanz steht einem Regenten unserer Tage ein reines Gewissen,
°w strenger sittlicher Ernst, der mit den Worten, der mit den Pflichten nicht spielt,
eilen Leben eins ist mit seiner Ueberzeugung.
Die Antwort des Prinzregcntcn aus die Adresse der zweiten Kammer hat, wie
^ Präsident sich ausdrückte, bei den Abgeordneten allgemeine Begeisterung hervor¬
rufen. Begeisterung ist wol nicht der rechte Ausdruck-, wir möchten es eher
""c mit Ehrfurcht gepaarte ernste Rührung nennen. Der Prinz hat den innersten
seiner Gedanken blosgelegt, und nur der böse Wille kann ihn noch ferner
"Ußverstchn. Zwar hat der Regent sich die Freiheit des Handelns ausbedungen,
'e sein Gewissen erheischt, er will das Unrecht beseitigen, das Recht schirmen, er
Ul die Fahne Preußens hoch halten, und die Tage, an denen diese Fahne gebe-
'""thigt wurde, z. B. den Tag von Olmütz, aus dem Andenken wegwischen. Aber
dem Vollgefühl dieser Freiheit erinnert er sich an seinen Bruder, den kranke»
""'S- und hat den festen Entschluß, in den Verhältnissen, die nicht unbedingt durch
^ Gewissen und durch die Ehre Preußens vorgeschrieben werden, so zu handeln,
der König, wenn er im Stande ist, den Thron wieder zu besteigen und ihm
^ Verhältnisse klar gemacht werden, sagen muß- mein Bruder >hat Recht gethan!
° 'pill der Prinz handeln, auch wenn dieses Ereigniß nie eintreten sollte.
^ wird es eifrige Freunde des Fortschritts geben, denen diese Form des
>ssens zu zart, zu ängstlich erscheint. Aber diese mögen bedenken, daß derselbe
^'"se. der an den Pflichten gegen den König festhält, uns auch die Treue gegen
^^"'fassung verbürgt. Die Familienpietät des Hauses Hohenzollern ist nicht
n,'i' schöne Erscheinung, sie ist auch eine Bürgschaft für die Einheit der Fe>-
. '" mit dem Volk. Die Hohenzollern haben Preußen geschaffen — der Ausdruck
>"ehe zu stark; aber das Volk Preußens ist auch von der Art, daß jetzt das stol-
' ° Geschlecht mit Stolz die Krone dieses Volkes tragen darf.
Weis ^ Rede des Prinzen möchten wir noch besonders hin-
"Und jetzt, meine Herren, gehn Sie hin und thun Sie Ihre Pflicht!" Es
« schicklich, daß der Landtag seine Thätigkeit mit Worten des Dankes und der'v>rr
Tret
ÜUte
'»el,,Wen su""^^' °der jetzt ist es genug. Volk und Fürst haben sich über ihren
">eil, verständigt, sie haben ihr gegenseitiges Vertrauen ausgesprochen: „jetzt,
° Herren, gehn Sie hin und thun Sie Ihre Pflicht!"
sich d ^ Phe'ehe ist einfacher und bestimmter als man sich vorstellt. Es handelt
«der ^ Vorlagen der Regierung gewissenhaft zu prüfen, es handelt sich
k^^llleich darum, die Regierung mit den gerechte» Beschwerden des Landes be-
chu» ^ "rächen. Wir haben bereits darauf aufmerksam gemacht, daß die Bcspre-
c>«r ^ ^ eingegangenen Petitionen dazu die passendste Gelegenheit bietet. Hier ist
rez^ s^"" ""^ s"'" Verwaltung in der vollsten Sphäre der Freiheit. Das Un-
abgeschafft werde»; dazu ist aber nöthig, es vorher aufzudecken und zu
prüfen. Für die Partei, welche seit sechs Jahren oder länger Opposition gemacht
hat, ist es nicht blos ein Recht, sondern eine Pflicht, die bestehenden Uebelstände
aufzudecken; denn wenn ihr das nicht gelingt, so war ihre Opposition eine frivole.
Wenn es sich blos darum handelte, ob der Vorsitzende des Ministeriums Man-
teuffel oder Auerswald heißt, so kann kein preußischer Staatsbürger Interesse
daran nehmen, der nicht etwa ein Persönlicher Freund eines dieser Herren ist. Es
ist freilich eine Pflicht der Courtoisie, wenn Herr v. Patow die Verdienste seines
Vorgängers, den er so lange und lebhaft bekämpft hat, hervorhebt, aber hoffent¬
lich wird er sich nicht damit zufrieden geben, er wird nachweisen, was besser z»
machen sei, um seine frühere Opposition nachträglich zu rechtfertigen. Die jetzige
Opposition, die, obgleich im Ganzen nur 39 Mitglieder stark, doch noch in drei
Fractionen zerfällt, scheint sich aus ein verdrossenes Stillschweigen zu beschränke«,
vielleicht weil ihr das Sprechen sauer wird, denn auch ihre Führer, Herr v. Ar-
nim und Herr v. Manteuffel sind keine Redner; vielleicht auch, um außerhalb
des Landtags besser zu wirken. Es ist gut, von Zeit zu Zeit auf das zu achte»,
was draußen vorgeht. Ein wenig beachtetes Actenstück ist der Streit innerhalb der
bisherigen Redaction des neuen Gescllschnftslerikon, welches bekanntlich von Herr»
Wagen er, dem ehemaligen Redacteur der Kreuzzeitung und späteren Führer der
äußersten Rechten unternommen ist, um die angeblich conservative Partei mit den
für eine Partei nöthigen Kenntnissen zu versehn. Herr Wagener erbietet sich
seiner Replik, jedem beliebigen Schriftsteller die Manuskripte seines jetzigen Gegners
und frühern Mitarbeiters Mone vorzulegen und nachzuweisen, daß derselbe «ick)'
schreiben könne. Das ist Unnöthig, denn was Herr Mone selbst hat drucken lassen,
genügt .vollkommene so etwas ist wirtlich noch nicht dagewesen. Aber Herr Wagens
vergißt" daß er diesem Mann selbst einige der wichtigsten Artikel übertragen hat,
die dazu bestimmt waren, seine Partei mit Kenntnissen zu versehn; und er ist '"
seiner Antwort in einen rühmlichen Wetteifer mit seinem Gegner getreten. Seine
Entgegnung fängt folgendermaßen an: „Der Dr. Mone, Privatdocent der Geschichte
in Heidelberg — wie er sich nennt — hat sich uns seiner Zeit als Mitarbeiter
für unser Staatslexikon angeboten und nahmen wir sein Anerbieten an, weil e
uns daran lag, auch die katholische Anschauung in der Redaction vertreten Z"
sehn, uns weil wir in seinem Titel als Privatdocent genügend
Garantien zu finden glaubten." — Das ist für den Herausgeber eine
Gcscllschastslcrikons eine wahrhaft bezaubernde Gemüthsverfassung! Und dieser M"'
hat wirklich eine Reihe von Jahren hindurch die Junkerpartci mit souveränem Wille
beherrscht — man sieht, mit wie wenig Verstand die Welt regiert werden kann!"'
Ein andrer Führer der äußersten Rechten, Hr. v. Bismark-sah önhause
bekanntlich eifriger Anhänger der französisch-russischen Allianz, soll für den Gesang
schaftsposten zu Se- Petersburg bestimmt sein; eine Stellung, für welche ihn se'^
Persönlichkeit und selbst seine politische Gesinnung (in Rußland sind die große'
Städte nicht zahlreich) in hohem Grade befähigen würden, falls wir nur vora'U^
setzen dürften, daß innerhalb des Ministeriums und seiner bedeutendsten Beamte» >
der Haltung nach außen Einigkeit herrscht; daß der leitende Gedanke durch se".
Organe auch wirklich ausgeführt wird. Denn wenn auch in diesem Jahr d»r
das Spiel des Zufalls der Friede erhalten wird: das Schiff Europas treibt unaul'
sattsam dem Kriege entgegen; jeder Augenblick kann ihn bringen, und Preußen ka>
nicht schnell genug sich klar mache»
sein muß.
Der letzte, im November und December 1858 abgehaltene mecklenburgische
/Mdtag ist von großer Bedeutung geworden, weil auf ihm die langjährigen
lUihern Zwistigkeiten zwischen dem adligen und bürgerlichen Theil der Ritter-
>»)äst wieder aufgenommen worden sind, welche sich vornehmlich über die
orpseigenschaft des Adels und gewisse mit derselben zusammenhängende Rechte
Recht der Neception ins Adelscorps, die ausschließliche Wählbarkeit zu
andesämtern, den ausschließlichen Genuß der Landesklöster u. a. in.) ent-
^'kom hatten. Kurz vor dem Schlüsse des Landtags war von dem Guts-
^tzer Maneke der Antrag gestellt, „daß Ritter-- und Landschaft die der Cor¬
poration
vnterzu
^it n
Bedenkdes Adels zu Grunde liegende Vereinsacte einer genauen Prüfung
^ttziehcn, eventuell Schritte ergreifen möge, damit dieselbe annullirt werde."
nun aber theils der nahe Schluß des Landtages diesen Antrag in seiner
ung nicht hervortreten ließ, theils es dem mit der Specialgeschichte
ins Landes minder Vertrauten überall nicht möglich ist, dessen Tragweite
^ zu erkennen (wie u. a. die Referate verschiedener Zeitungen beweisen),
oller wir im Folgenden eine historische Uebersicht der betreffenden Verhält-
bur werden nicht nur eine interessante Episode des neckten-
^g'schen Staatslebens darzustellen haben, sondern auch' eine solche, aus
das ^ mannigfache Lehren für unsre Zeit gewinnen lassen; wir werden
Endziel einseitig aristokratischer Bestrebungen kennen lernen.--
ut mecklenburgischen Landtage sind entstanden aus den frühern öffent-
Rechstagen; schon im Jahre 1277 fand ein „Tag" vor Sternberg statt.
^den ersten beglaubigten Zeiten (Anfang des 16. Jahrhunderts) nahmen
^nneistcr) Theil, und die Gesammtheit dieser drei Stunde hieß") die „Nitter-
Jhr Zweck war „über wichtige Gerichtshündel zu entscheiden undBii^^" ^ Prälaten, die Lehnmänner und die Vertreter der Städte (Vögte,
Schafs.
über nothwendige Gegenstände, welche beide Fürsten (die Herzöge von Meck¬
lenburg-Schwerin und Güstrow) und deren Regierung, Land und Leute be¬
trafen, einmüthig zu berathschlagen.*) — Als aber infolge der Reformation
unruhige Bewegungen in den deutschen Ländern entstanden („weil sich nu»
zur Zeit im heiligen Reiche viel Aufruhr und Beschwerungen begaben, und
künftig täglich mehr zu besorgen")""), fürchteten die Landstände, daß dieselben
sich auch nach Mecklenburg hin ausbreiten mochten; sie traten deshalb -
wahrscheinlich auf besonderen Betrieb der Prälaten — zusammen und grün¬
deten in Anerkennung des kürzlich aus dem Reichstage zu Worms (1521) be¬
stätigten Landfriedens vom Kaiser Maximilian (v. I. 1495) eine unter dew
Namen der Union für Mecklenburg höchst wichtig gewordene Verbindung. Es
lag im Geiste der damaligen Zeit, daß diese Verbindung nur den persönlichen
Schutz zum Zweck hatte (öffentliche und Staatsrücksichten kannte man damals
noch nicht) und daß der ausdrückliche Zweck dahin ging, „jedem, der sich über
Verletzung seiner Rechte beklagen würde, gemeinsame Hilfe zu Theil werden
zu lassen." Zur Erleichterung dieses Zweckes wurde ein beständiger Ausschuß
von 23 Personen (drei Prälaten, zwölf Lehnmünnern und acht Stadtdeputü"
ten) erwühlt, welcher in wichtigen Fällen sofort die ganze Ritterschaft zusammen¬
zurufen befugt und verpflichtet war. Hierin sehen wir die erste Gestaltung
der Landtagsverhültnisse nach der Weise, wie sie noch heute bestehen; aus
dem gedachten Ausschusse entstand später der aus neun Personen bestehende
„Engere Ausschuß".
Der Prälatenstand trat infolge der Reformation bald aus, er wurde se'i
dem Jahre 1552 nicht mehr zu den Landtagen gerufen. Es bildeten
Lehnsmänner und Vertreter der Städte allein die Ritterschaft und die Union-
Als aber Mecklenburg in den Zeiten des dreißigjährigen Krieges namenlos
litt, als die Herzöge sich immer von neuem genöthigt sahen, zur Entrichtung
der Kriegslasten und ihrer persönlichen Schulden die Hilfe der Landstände
Anspruch zu nehmen, da gewöhnten sich diese — besonders der für seine HU'
fen rechtlich immune Grundadel — an den Widerstand gegen die fürstlich"'
Forderungen, und beständige Streitigkeiten waren die Folge. Der adlige Land'
stand wurde dabei offenbar von der Absicht geleitet, die principiell freiwillige"
Beitrüge, welche er hier und da bewilligt hatte, nicht zu nothwendigen werde"
zu lassen, zu welchen er verpflichtet sei, und war insofern — angesehen
Zeit — in seinem guten Rechte. Indessen haben jene langwierigen Geld¬
verhandlungen und Streitigkeiten dem Lande doch großen Nachtheil gebracht'
Es war schlimm, daß die Stunde sich durch sie an eine systematische Wibel'
^suchten gegen die Landesherrn gewöhnten und noch weit schlimmer, daß sie
bald den Vortheil ziehen lernten, nur gegen Bewilligungen zu ihren Gunsten
größere Summen zu Landeskosten herzugeben. Den ersten größern Vortheil
dieser Art hatten sie schon errungen, als im Jahre 1572 der gesammten Ritter¬
schaft für eine Summe von 400,000 si. die drei Landesklöster Dobbertin,
Malchow und Ribnitz überlassen wurden. Mit dem Erringen solcher Vortheile
^t das Streben nach weiteren und nach besonderen Privilegien natürlich um
1° mehr ins Leben, genährt durch die Rechtlosigkeit der damaligen Zeit.
So wurde im Jahre 1607 auf dem Landtage zu Güstrow entschieden, „daß
°^ Bauern im Lande überall bloße Kolonisten seien, welche dem Grundherrn
^uf Verlangen ihreAccker abtreten müßten, „selbst wenn sie auch seit undenk-
Hcn Zeiten im Besitze gewesen wären." Diese Entscheidung kam natürlich
ausschließlich den Lehnsbesitzern, welche damals durchweg Personen vom Adel
"^u. ^ Gute. Und hier erkennt man nun auch zum ersten Mal historisch
Wie hartnäckig ein einmal gefaßter Gedanke festgehalten wurde; denn
es sich nun wieder um eine Geldzahlung an die Landesherrn handelte,
tourbe den Ständen wirklich im Jahre 1621 das bekannte Recht der „Legung
^ Bauern" (d. i. deren Verdrängung aus ihren Hufen), welches rechtlich (!)
"°es heute besteht, zugestanden. Aber es ereigneten sich Umstände, durch welche
/ durch die Union geschlossene Vereinigung der Stände zum Selbstschutz
'reck gegen den Landesherrn selbst geübt wurde. Der Herzog Christian
°uis I.)») nämlich, welcher 1658 zur Regierung von Schwerin gelangte,
^ sehr souverän auf, weigerte sich die Rechte der Lmidstände anzuerkennen,
keine Landtage, schrieb einseitig Abgaben aus und trieb solche gewalt-
ein, brach die Verhältnisse mit dem Güstrowschen Hofe ab — kurz, schien
dem Plane einer völligen Trennung Schwerins und Güstrows umzugehen.
" traten die Landstände ^) am 6. Juli 165» ungerufen zusammen und
^^ten ihre Union in der offen ausgesprochenen Absicht, jeder Trennung
^Landes entgegentreten zu wollen. Hier nun war dies Bündniß von gro-
ßem Segen und erhielt nicht nur den Gesammtbestand des Landes, sondern
auch später (1701), als sich Schwerin und Strelitz trennten, deren noch be¬
stehende Gemeinschaft in Verfassungsangelegenheiten. Die nächste Folge der
erneuerten Union zeigte sich darin, daß der Herzog — freilich erst aus eine
Beschwerde der Stunde beim Reichshofrathe — deren Gerechtsame (1662) an¬
erkannte, und nun zeigten sich auch diese durch Bezahlung seiner sämmtlichen
Schulden dankbar. Freilich übernahmen sie damit keine Verpflichtung des
Beitrages zu den Staatskosten, so daß die eben beseitigten Streitigkeiten
gleich wieder beginnen mußten. Diese aber gereichten ihnen zum Vortheil-
sie erkannten und befestigten ihre Machtstellung mehr und mehr, vorzüglich
dadurch, daß sie sich bei jedem Zwiste an den Reichshofrath wandten, von
welchem sie — im Besitz größerer Mittel als die Fürsten — ihre Zwecke
leicht erreichten. Blieb aber der ständische Beitrag zu den Staatskosten ein
freiwilliger, der ohne Kampf nie geleistet wurde, so mußte hieraus ein Bruch
früher oder später nothwendig entstehen. Der Herzog Friedrich Wilhelm er¬
hielt die Sachen noch einigermaßen in der Schwebe; unter seinem Bruder und
Nachfolger Karl Leopold aber trat jener Bruch ein, welcher, da man von
beiden Seiten an ein Nachgeben nicht dachte, und der Herzog höchst roi^
kürlich und eigenmächtig verfuhr, im Jahre 1732 mit dessen Absetzung
und der Einsetzung seines Bruders Christian Ludwig (zunächst als kaiser'
licher Commissarius) endigte. Dieser Fürst war unter den obwaltenden Um¬
ständen ein wahres Glück für das Land, da er große Willensfestigkeit und
hinreichende Klugheit besaß. Er stand in der kaiserlichen Gunst und operirt^
so weise, daß im Jahre 1755 zwischen ihm und den Ständen der sogenannte
landesgrundgesetzliche Erbvergleich zu Stande kam, welcher noch heute
Staatsgrundgesetz Mecklenburgs ist. Der Herzog gab zwar in demselben de"
Ständen in manchen wesentlichen Punkten nach; wer das aber tadeln
der bedenke, welche Lehren ihm Karl Leopolds Schicksal hatte geben müsste
und berücksichtige, daß dieser Erbvergleich lange Zeit hindurch dem La"^
zum großen Segen gereicht hat.
So bildete und festigte sich die Macht der Stände, oder — was h'^
gleichbedeutend ist — des Adels in Mecklenburg. Mit dem Anfange des 18. I"^
Hunderts trat aber ein neues Element ins Staatsleben, welches in Schrei
Folge anwachsen und sich dem Bestehenden in mancher Hinsicht feindlich ^
Seite stellen sollte, wir meinen die bürgerlichen Gutsbesitzer, deren es 1^
schon 30 gegen 680 adlige gab. Man muß es als einen Beweis von ^
Staatsklugen Voraussicht des Adels erkennen, daß ihm schon jetzt die Mögt^
keit einer Gefahr von dieser Seite vorgeschwebt zu haben scheint. Wir sah^
ßer das nämlich daraus, daß schon auf dem Landtage des Jahres 1706
Antrag gestellt wurde, „es solle niemand zu den Landtagen zugelassen werd^'
sicher nickt entweder zum eingebornen Adel gehöre, oder in das Corps
desselben recipirt sei." Und hier treten denn auch die Begriffe eures ein¬
gebornen und recipirten Adels, welcher ein Corps bilde, zum ersten Mal in
unsrer Landesgeschichte auf. Jener Antrag selbst war von vornherein ganz
unhaltbar; denn so wie ein Bürgerlicher in den Besitz eines Gutes trat (alle
""altenburgischen Güter sind ursprünglich Lehne oder werden doch als solche
^trachtet), so hatte er damit die am Gute haftenden Rechte gewonnen, und
de>b das Recht der Landstandschast an dem freien Gute, nicht aber an der
Person des Besitzers haste, das weiß seit ältester Zeit niemand so gewiß und
baar hält niemand so fest, als eben der Adel selbst, wenn er es auch immer¬
hin hinsichtlich andrer Rechte (z. B. der Immunität) nicht zugesteht. Sogar
einem fast ausschließlich adligen Landtage konnte also jene Forderung nicht
unerkannt werden; aber wäre sie es auch, es hätte sie niemals em Fürst
bestätigt. Indessen ist diese Frage hier an sich nur insofern von Bedeutung,
uls sie erklärt, wie man nun. da das Mißtrauen einmal erregt war. eme
Unterscheidung in dem Jndigenat festzustellen suchte, welche in ihrer Corse-
n>uenz die vielleicht noch in den Besitz von Gütern gelangenden Bürgerlichen
von der Ausübung wesentlicher Vorrechte ausschloß. Indem man diese Unter¬
scheidung feststellte, mußte man sich damals in den Bestrebungen, welche rem
udlige Gerechtsame umfaßten, genügend gesichert glauben. Im Jahre 1703
^"nee vernünftigerweise niemand ahnen, daß 150 Jahre später die Mehr-
öuhl der mecklenburgischen Gutsbesitzer aus Bürgerlichen bestehen werde.
Das sogenannte Jndigenat. welches in dieser Weise kein anderer deutscher Adel
^sitzt. entstand auf Anregung des hannoverschen Ministers von Bernstorf und
dänischen Ministers von Plessen. welche beide in Mecklenburg begütert
^'en. nach dem Muster des dänischen Jndigenats. Es wird durch dasselbe
^ alter eingeborner Adel festgestellt, welcher das Recht besitzen soll, aus dem
lväter eingewanderten und mit Gütern ansässig gewordenen Adel nach seiner
Willkür solche Familien, welche die Ahnenprobe bestehen, in seine Zahl auf¬
nehmen (das Reccptionsrecht). Damit der alte Adel dann auch etwas Reelles
voraus habe, was zum Eintritt in ihn reize, beschloß man aus dem Landtage
daß er das ausschließliche Recht an die 1572 der gesammten Ritterschaft
"berlassencn Landesklöster habe, „weil er dieselben acquiriret, gestiftet und
"enesicirt habe." Anfänglich mag das Reccptionsrecht in den gleich folgenden
turbulenter Zeiten') unter Karl Leopold wenig geübt worden sein; indessen ist es
°°es ins Leben getreten und die dadurch hervorgerufene Unterscheidung fand auch
'dren Weg in den L G G. Erbvergleich, wo der §. 10? wörtlich lautet:
erledigten Landrathsstellen wollen Wir der Ritter- und Landschaft und
zwar desjenigen Herzogthums, in welchem sich die Vacanz ereignet, den untcr-
thü'nigstcn Vortrag dreier im Lande angesessenen Personen von dem eingebornen
oder recipirten Adel zu jeder vacirenden Stelle gnädigst gönnen und aus sol¬
chen I^-aesentatis jedesmal einen zum Landrath sofort hinwiederum ernennen" :c.
Nach welchem Modus die frühesten Reccptioncn geschahen, ist unbekannt!
erst auf dem Landtage 1771 wurde beschlossen, daß derjenige, welcher sechzehn
Ahnen nachweisen könne, für die Aufnahme mindestens 4000 Thlr., wer
das aber nicht vermöge, mindestens 8000 Thlr. zum Besten der drei Landes'
klöster zahlen solle. Es versteht sich von selbst, daß die Ausführung dieses
Beschlusses sich als unmöglich erweisen mußte. Unser sehr altes Fürstenhaus
slawischer Abstammung stand damals in der neunzehnten Generation seit dein
Jahre 1130, der mecklenburgische Adel aber ist, mit wenigen unsichern Aus¬
nahmen, im Lause des 13. Jahrhunderts und später mit den Voreltern der
heutigen Bevölkerung sächsischen Stammes eingewandert und brachte es da¬
mals in seinen ältesten Familien höchstens auf vierzehn Ahnen. So war
man denn zu einer Aenderung jenes Beschlusses bald genöthigt und schon aus
dem Landtage des Jahres 1774 wurde festgestellt, daß diejenigen Familien,
welche im Jahre 1572 (dem Ueberweisungsjahre der Klöster an die Landstände)
mit einem Gute angesessen waren, zum alten Adel gehören sollten. Von nun an
wurden die Reccptioncn zahlreicher, wurden jedoch nicht lange ohne Anfechtung
ausgeübt. Der erste Angriff begann im Jahre 1778 aus der eignen Mitte
des Adels durch den Baron von Langermann auf Spitzkuhn, welcher jedoch,
da er bei seinem Streit ganz allein stand, schließlich sich beruhigte und D
die Neception gefallen ließ.
Man berücksichtige jetzt, welche Machtstellung der Grundadel schon errungen
hatte, und man wird sich nicht wundern, daß eine specielle Anerkennung des
Reccptionsrcchtes von Seiten der Fürsten niemals stattfand. In dem ange¬
führten K. des L. G. G. Erbvergleichs, der einzigen Stelle desselben, in welcher
sich der eingeborne und recipirte Adel erwähnt findet, ist von jenem Rechte
nicht die Rede. Heute beruft man sich auf ihn und schließt aus der Erwäh¬
nung des recipirten Adels, daß deshalb die jetzige Art der Reception die Be¬
deutung eines uralten rechtlichen Herkommens habe. Jnterpretiren wir den
gedachten §. aber genau nach seinem Wortlaut, so finden wir Folgendes (wo¬
bei zu berücksichtigen ist, daß der Landtag schon 50 Jahr vor Abschließung
des Erbvergleichs die Unterscheidung zwischen eingebornem und recipirten Adel
beschlossen hatte, das bercgte Verhältniß also ein thatsächliches war): „B^
erledigten Landrathsstellen wollen wir der Ritter- und Landschaft . . - de"
Vorschlag dreier . . . Personen von dem (zur Zeit der Abfassung dieses Ver¬
gleiches) eingebornen oder recipirten (nicht: in Zukunft zu recipirenden!)Ade
Es ist hier offenbar einer vorliegenden Thatsache als solcher, nicht aber
^r Neception als eines Rechtes gedacht. Freilich ist es bekannt, daß die im
Lauf der Zeit gewonnenen sogenannten historischen Rechte als wirkliche Rechte
betrachtet werden müssen, wenn ihnen nicht wesentliche Rechtsmerkmale nach¬
weisbar schien. Dies ist aber hier doch der Fall, es fehlt nicht blos die
Anerkennung der Fürsten"), es steht vielmehr fest, daß diese der Ausübung
Rechtes mehrfach entgegentraten und überdies war es ein altes Herkommen
"'ehe. Wahrscheinlich wurde vielmehr der Modus der Neception, zum ersten
^al nach Abschluß des Erbvcrgleichs festgestellt, durch die Erwähnung in
angeregt. —
Wir fahren jetzt in dem historischen Ueberblick fort. Im Jahre 1785
der Herzog Friedrich Franz I. zur Regierung; in die ersten Jahre seiner
Herrschaft fiel die vom Baron von Langermann erregte Streitigkeit. Vielleicht
hierdurch zu einer Meinungsäußerung veranlaßt, erklärte der Herzog 178» das
^digcnat gradezu für „ein Unding, welches in seinen Landen nicht bestehe."
^ suchte vielmehr die bürgerlichen Gutsbesitzer zur Ausübung ihrer ständischen
Rechte zu ermuntern und erließ am 18. Nov. 1793 ein Rescript, worin er
dem Engeren Ausschusses der Ritterschaft ausdrücklich untersagte, sich als
^'gan eines Theiles der Ritterschaft zu betrachten und als solches zu handeln.
^ erklärte ferner, daß landesgrundgesetzlich jeder Gutsbesitzer das Recht habe.
^ allen landständischen Handlungen Theil zu nehmen und daß es nur eine
^theilbare Ritterschaft gäbe. Damit trat also eine Gefahr nahe, welche
^adezu auf das Corps des Adels abzielte. 1795 hatte sich die Zahl der
^gerlichcn Gutsbesitzer schon auf 77 vermehrt; jetzt wollten auch die adligen
^'f Kräftigung durch Vermehrung ihrer Zahl und festes Zusammenhalten
teilen gegenüber bedacht sein. Sie vereinigten sich also nach einem schon auf
°w Landtag 1794 gefaßten Beschluß am 3. Dec. 1795 dahin, daß (nur
^)) die hundertjährige Ansässigkeit adliger Voreltern zur Aufnahme jedes
Wie einem Gute angesessenen Adligen (auf den Landtagen waren nur diese
^ Werth) in das Corps des eingebornen Adels erforderlich sei, und daß
^ die Aufnahme eine Recognition von (nur noch) 1500 Thalern an die Lan-
öklöster erlegt werden solle. Man setzte ferner unter demselben Datum eine
Vereinsacte auf, welche sämmtliche anwesende Adlige für sich und in Vollmacht
des ganzen Adels unterschrieben, „um die Rechte des Corps der mecklenbM'
gischen Ritterschaft (d. h. hier des Grundadels) gegen alle Angriffe und Ein¬
flüsse (!) so viel möglich sicher zu stellen." In dieser Acte, welche der Adel
so geheim hielt, daß sie erst 1843—44 allgemein bekannt wurde, stellte man
zunächst den Begriff der Körperschaft des eingebornen Adels fest, alsdann
wurden die eben erwähnten „Grundreguln und Formen der Aufnahme" in
jene erwähnt, und schließlich unterschrieben und besiegelten „sämmtliche (96)
Anwesende für sich und ihre Nachkommen, so wie in Vollmacht des ganzen
Adels, diese Vereinsacte, versprachen auch für sich und ihre Erben, darob
nicht nur stets fest und unverbrüchlich zu halten, sondern auch allem demjew'
gen willig die Hand zu bieten und mit Person und Gut mitzuwirken, was
nach gemeinsamer Beliebung zur Aufrechthaltung der Gerechtsame des Standes
die Zeitläufte erheischen werden, wowidcr sie dann keine Ausflucht oder El»'
Wendung, keine Rechtswohlthat schützen soll, weil sie ihnen allen, gleich als
wären sie hier namentlich benannt, sammt der Rechtsregul.. die eine solche all'
gemeine Verzicht ungiltig machen könnte, entsagen und die genaueste Erfi>t'
lung bei adeligen Wort und Ehren sich wechselsweise zusichern."
Diese Acte mußte jeder zu Recipirende vor der Aufnahme unterzeichne»'
Man beschloß zwar, die Sache dem Landesherrn zu „entamiren und hoffte
sie durch dessen Beifall beglückt zu Ende zu bringen." Ob aber Ersteres g^'
Seschen, ist zweifelhaft, Letzteres ist nicht behauptet, viel weniger nachgewiesen-
also wol sicher nicht erreicht. — Auf diesem Landtage gaben einige Guts'
bescher vom Adel zugleich auf die schon erwähnten Ncscripte des Herzogs
Friedrich Franz I. von 1789 und 1793 folgendes, im Hinblick auf späte"
Verhandlungen sehr interessante Dictamen zu Protokoll: „Der Schutz, dessen
sich diese Herrn (die bürgerlichen Gutsbesitzer) abseiten der hohen herzogliche"
Negierung zu rühmen wagen (!), und der nach den vorgelegten und sonst be'
kannten Ackerstücken nur zu wahrscheinlich ist, kann für sie nicht die mindeste
und keine andere Wirkung haben, als daß er die Ritterschaft (soll heißen: den
adligen Theil derselben!) mit einem betrübten Staunen erfüllt und in ihr e>»
in den Geist öffentlicher Handlungen eindringendes nachtheiliges Mißtraue"
erregt. Rechtliche Wirkungen kann dieser Schutz nicht haben. Die herzoglich^
Negierung ist kein Justizcollegium. Sie muß ihre Handlungen da schließe"'
wo Erörterung streitiger Rechte unter den Landeseinwohncrn anhebt. Dies
bieten ihr die Gesetze." ze.
Abgesehen von der Ausdrucksweise ist der Inhalt dieses Dictamens N«'
türlich dahin richtig, daß die Regierung nicht einseitig einem Theil bei
Stände Rechte verleihen kann, welche derselbe bis dahin nicht besaß od^ausübte; sie kann aber ältere Rechte in Erinnerung bringen. Beim Stre
über rechtliche Befugnisse steht ihr eine Entscheidung nicht zu, sie kann nur
vttmitteln und muß, wo dies nicht hilft, die Rechtsentscheidung den Gerichten
überlassen.
Die Streitigkeiten, welche — wie wir gezeigt haben — jetzt im Ent-
waren, wurden durch die Nachwirkungen der französischen Revo¬
lution und die folgende Kriegszeit unterbrochen. Der Adel blieb zwar bei
^r Ncceptivn nach dem neuern Modus, aber es geschah dies jetzt längere
^'le hindurch ohne allen Widerspruch. Nach dein pariser Frieden schien der
^mdesherr nicht geneigt, neue Weiterungen hervorzurufen, zumal auch die
bürgerlichen Gutsbesitzer hinsichtlich ihrer landständischen Pflichten und Rechte
völlig in Indolenz versunken waren. Indessen nahmen sie fortwährend an
^"hi zu und gegen Ende der dreißiger Jahre waren sie den adligen numerisch
^wende gewachsen. Zu dieser Zeit war denn auch durch die Bemühungen
Gutsbesitzers Pogge auf Zierstorf, welcher fast zufällig durch ein Mitglied
^ recipirten Adels, zum Zweck einer speciellen Abstimmung, auf den Land-
"3 gerufen wurde, das ständische Bewußtsein der bürgerlichen Ritter wieder
Zwecke worden. Eine nähere Erforschung der Verhältnisse war die Folge und
^' kam es, daß namentlich seit den Jahren 183» und 1838 letztere sich in
Arm,er steigender Zahl auf den Landtagen einfanden. 1843 waren sie den
Öligen Rittern fast, 1844 völlig gleich. 1845 um Zahl überlegen; in diesen
-^dren nahmen denn auch die merkwürdigen Verhandlungen ihren Anfang,
Weiche, damals nicht zum Abschluß gelangt, wie es scheint, in nächster Zu-
^^se wieder aufgenommen werden dürften.
Die oben erwähnte Vereinsacte des Adels hatte nämlich zunächst den
oweck, daß durch sie eine Corporation zur Wahrung bestimmter Gerechtsame
^bildet wurde. In der Gesannutvereinigung lag zugleich die Kraft des Wi-
Landes gegen jegliche Opposition sowol. wie die Garantie der Wahrung
kr j^er — wirklichen oder angemaßten — Gerechtsame. So wie man
^ 'in seit ,844 auch officiell von einem „Corps der Ritterschaft vom einge¬
hen und recipirten Adel" sprach, so wurde auch die Reception mehr und
, ^ zu einem wirklich rechtlichen Herkommen äußerlich gestaltet, die eine um
icübave Ritterschaft zerspaltete sich in zwei Theile und — wie bei jedem
"U'leise^b^ — mußte die endliche Folge nicht blos die Erhaltung der altem
^den auch die Erringung neuer Gerechtsame sein. Bedachten die bürger¬
en Gutsbesitzer dies nur oberflächlich, so mußte ihre Opposition direct die
^'einscicte, die Corporation selbst, die Grundlage der exclusiv adligen An-
^"uung angreifen. Bestritten sie einzelne Rechte, so waren sie fortdauernd
^! ^stspieligen Processen genöthigt. Jene Vereinigung aber konnten sie be-
Mn, weil dies eine nothwendige Vorbereitung für den Rechtsweg sein
>ire, and — wie das oben angeführte Dictcunen so schön sagt — eine Ent-
Scheidung konnte ja nur auf diesem kommen. Um so bemerkenswerther mus^
es sein, daß trotzdem eine anderweitige Entscheidung wenigstens versucht
wurde; wahrhaft wundern mußte man sich aber, daß der Adel diese — nicht
richterliche — Entscheidung mit aller Kraft als solche darzustellen sich bemüht
Ais nämlich die bürgerlichen Gutsbesitzer in größerer Zahl die Landtag
besuchten, glaubten sie bald zu erkennen, daß ihnen einige Berechtigung^'
wiederrechtlich vom Adel vorenthalten würden. Dahin gehörte u. a. die vcu-
sive Wählbarkeit in den Engeren Ausschuß, der Mitgenuß an den Revenue»
der Landeöklösier .'c. Hieraus entstanden seit 1828 hartnäckige Kämpfe; is^
hatten die bürgerlichen Gutsbesitzer erreicht, daß die adligen auf das vo»
ihnen bisher in Anspruch genommene Vorrecht der ausschließlichen passive»
Wählbarkeit zu deu Deputirtenstellen des Engeren Ausschusses verzichtete»'
Man gab sich schon einer gewisseren Zuversicht aus Erringung aller landstä»'
dischen Rech e, so weit sie nicht durch den L. G. G. Erbvergleich ausdrücklich
dem Adel vorbehalten waren, hin, als ein regiminellcs Rescript einlief, wee'
ches den ganzen Streit mit doppelter Gewalt entzündete, als es den bürget
liehen Landständen 1844 bekannt wurde. Dies Rescript (d. d. 23. Nov. 18^
seinem wesentlichen Inhalt nach wiederholt d. d. 18. Sept. 1844) accepti'^
durchgehends die Bezeichnung „Gutsbesitzer vom eingebornen und recipirt^
Adel" und erkannte die Ncception in die Gemeinschaft desselben als ^'"
herkömmliches Recht an. Es stellte ferner hin und erkannte an i) die ausschli^
liebe passive Wählbarkeit des Adels zu deu Landrathsstellen, ein Vorrecht'
welches in Beihalt des unbestreitbaren Wortlautes im H. 1L7 des L. G.
Erbvcrgleichs gar nicht war angefochten worden; 2) den ausschließlichen lÄc'
alß der Klosterstellen und die ausschließliche Administration der Klöster vo»
Seiten des Adels, ein bestrittenes Vorrecht — freilich unter Vorbehalt de^
Rechtsweges für die bürgerlichen Gutsbesitzer; Z) die Befugniß des eingeht
nen und recipirten Adels, „nach wie vor andere adlige Personen und Fe»'"'
lieu in herkömmlicher Art durch Aguition oder Reception zur Gemeinsch^
an den dem eingebornen und recipirten Adel ausschließlich zustehende"
Rechten (d. i. in die Corporation des eingebornen ?c. Adels, deren Keil"'
zeichen eben jene ausschließlichen Vorrechte bilden—s. die Vereinsacte, wclä^
übrigens diesem Rescript zu mehrer Beglaubigung unserer Ausfassung beilcig)
aufzunehmen." —
Hatte noch ein Zweifel über die wirkliche Meinung und Tragweite dicsi
Nescriptes stattfinden können, so mußte derselbe durch eine weitere Verfügung
vom 2. Dec. 184:; gehoben werden, in welcher die Negierung, „um ^
Schlußbesiimmuug des Nescriptes vom 23. Nov. (sud 3) Folge zu gebe»,
den eingebornen ze. Adel zur Wahl von Deputirten aufforderte, mit dene"
sie die gedachte Berechtigung (der Reception) und deren Ausübung wolle
^then und feststellen (!) lassen. Die erwähnten sind Rescripte der schwerin-
schen Regierung, von der strelitzschen gingen gleichlautende ein. Auf sie
vergab der Adel ein Verzeichnis^ der zum eingebornen ?c. mecklenburgischen
^del gehörigen Mitglieder, jedoch mit Vorbehalt der Vervollständigung des¬
selben. — Die gedachten Rescripte hatten gewiß den Zweck, die in der Ritter¬
schaft entstandenen Streitigkeiten auszugleichen; es ist aber leicht ersichtlich,
ihre Anerkennung des Adels als politischer Corporation mit besondern
Vorrechten, in Grundlage der die Verbindung zusammenhaltenden Vereinsacte,
>^e Ausgleichung erschwerte oder gar unmöglich Machte. Durch die Anerken¬
nung des Selbstregierungsrechtes wurde eine Corporation nicht nur auf un-
gnnessene Dau.er conservirt, sondern zugleich der Geist gekräftigt, welcher eben
^ehe Dauer verbürgt. Durch Anerkennung einer Gemeinschaft, welche poli¬
tische Gerechtsame und Vorrechte zu erhalten verbunden ist, hat man eine
^vlitische Macht im Staate sanctionirt, ein zu allen Zeiten gefährliches Unter-
Uchmen; da die einzelnen Mitglieder dieser Gemeinschaft sich aber bei adligen
^"l'te und Ehren nicht nur für sich, sondern auch für ihre Nachkommen ver¬
nichten, so hat man eine erbliche politische Macht anerkannt, ohne zu berück¬
sichtigen, daß deren Corporationspflichten und Zwecke mit den Staatspflichten
Und Staatszwecken in Conflict gerathen müssen. Jene Corporation ist über-
eilte solche, welche dem Bundesbeschluß vom 5. Juli 1832, in dem
^Ub 2) politische Vereine untersagt sind, gradezu entgegensteht.
Ehe jedoch diese Negieruugsrescripte allgemein bekannt wurden (es ist
lchon gesagt, daß dies erst im Jahre 1844 geschah) trat noch ein anderes
Aufregendes Moment zwischen die bürgerlichen und adligen Gutsbesitzer. Die
^'cinlassung gab ein scheinbar geringfügiger Umstand, die Berathung dar-
ab im Deliberations- oder im Directorialzimmer verhandelt werden
°Ac. Durch mancherlei Zwischenfälle wurde dieselbe sehr stürmisch und schließ-
) enthielten sich die bürgerlichen Gutsbesitzer der Abstimmung. Dies gaben
^ von ihnen zu Protokoll „im Namen aller zur Vertheidigung ihrer ver-
llungsmäßigen Rechte verbundenen bürgerlichen Gutsbesitzer". Dadurch aber
'Arde ein adliger Gutsbesitzer zu dem Antrage bewogen) „das Landtags-
'^torium möge den großherzoglichen Commissarien eine Anzeige hierüber
feilen, damit die Landesherrn erführen, daß sich eine Verbindung zwischen
"^'u herausstelle." Wer hätte nun glauben sollen, daß das Direktorium sich
^'f diesen rein privaten Antrag einlassen würde? Aber es geschah und schon
^, ^'r nächsten Sitzung machte dies dem Plenum die Anzeige — dasselbe
^ect^riuui/) welches damals die Corpsanerkennung des Adels sammt der
Vereinsactc schon kannte, während die denuncirte Vereinigung der bürgerlichen
Gutsbesitzer durchaus keine Verbindung, sondern nur ein durch Besprechung
ihrer Interessen hervorgerufenes, vorübergehendes, cimnüthigcs Streben und
Handeln war! Das gab natürlich zu manchen Protesten und Neprotesten An¬
laß, wobei sich die gesammte Landschaft den bürgerlichen Gutsbesitzern an¬
schloß und erklärte, das Directorium habe seine Befugnis; überschritten. Es
erfolgte aber doch unterm 5. Dec. ein landesherrliches Rescript. welches jene
aufforderte, sich über die denuncirte angebliche Verbindung zu erklären, da¬
gegen bald darauf am 8. Dec. ein weiteres Rescript producirt wurde, welches
eine Vervollständigung" des Verzeichnisses der Eingebornen und Necipirten f^'
derte, imMeiw also abermals die Corporation des Adels anerkannte (wenige
Tage nach der Denunciation eines thatsächlich gar nicht einmal bestehenden
Vereines der Bürgerlichen und während landesgrundgesetzlich alle Landstände
gleichberechtigt sind!). Aber der Adel schlug auch noch dem alten Herkommen
eine Wunde, indem am 9. Dec. von drei adligen Gutsbesitzern ein Antrag
zur Beschlußnahme für den nächsten Landtag (1845) intimirt wurde, welche»'
eine Erleichterung der Reception bezweckte. Es wurde nämlich vorgeschlagen
und demnächst angenommen, daß — ohne grade den frühern Modus (hundert¬
jährige Ansässigkeit u. s. w.) umzustoßen — 1) „eine fünfzigjährige ununter¬
brochene Ansässigkeit mit einem und demselben Gute den Anspruch auf Agn^
lion Hinsort begründen solle; 2) der Besitz eines von einem verstorbenen
Vorgänger zu dauerhaftem Fideicommiß errichteten Gutes Anspruch auf Agn>'
lion begründe, auch, wenn das Gut noch nicht 50 Jahre in der Familie ge'
Wesen sein sollte; 3) daß bei der Neception das Erforderniß der Unter-
schrcibung der Vereinsacte vom 3. Dec. 1795 sür die Zukunft aufgehoben
werde" (womit aber nicht gesagt ist, daß jene Acte nicht mehr bindend sei"
soll, und noch weniger ein Verzicht aus die Corporationseigenschaft ausgesprochen
ist); 4) daß von jeder Agnition und Neception Anzeige an die Landesherrn
gemacht werden solle.")"
Man fragt vielleicht verwundert, warum der Adel überhaupt in den all¬
gemeinen Landtagsversammlungen und nicht vielmehr privatim diese Ange¬
legenheiten verhandelt? Darüber gibt ein Generalprotest des Adels, welcher
um Schluß des Landtags 1844 auf die Protestationen der bürgerlichen Guts¬
besitzer erfolgte. Aufschluß. Es heißt in diesem nämlich sud 1): „Wenn Einzelne
der Ansicht sind, daß Beschlüsse über Neceptionen in den eingebornen Adel
u»f den Landtagen nicht vorgenommen werden dürfen, weil dadurch die
Stinnnberechtigung derer, welche über Neceptionsangelegenheiten nicht mitstim-
Men. beschränkt werde, so widerspricht Dies dem klaren (?) Inhalt des
§. .147 des Erbverglcichs. nach welchem bei Ausübung von Stand und
Stimme auf den Landtagen die Beobachtung des Herkommens nicht ausge¬
schlossen, vielmehr ausdrücklich vorgeschrieben ist. Daß aber das Herkommen,
wonach über Neeeptiouen nur die Mitglieder des eingebornen :c. Adels stim¬
men können, ganz abgesehen von seiner viel ältern (?) historischen (??) und
rechtlichen (???) Begründung, scho» zu Zeiten des Erbvcrgleichs bestanden (!)
bat. erhellt aus den klaren (!!) Worten des §, ni7 desselben, welcher Begriff
lÜ!) und Namen (ja, aber nur diesen) des ciugebomcn und recipirten Adels
"«erkennt," Vergleiche man nun den oben angeführten dz. 167 mit dein
§- 147 des L. G. G. Erbvergleichs, welcher letztere lautet: §. 157: „Ge¬
stalt dem zu Folge alle und jede eingesessene Landstände aller dreier Kreise
in den Landtagen durch landesfürstliche Ausschreiben berufen und auf den
Landtagen, dem Herkommen gemäß, bei den darauf vorfallenden Handlungen
Ungehindert Stand und Stimme haben und behalten sollen."
Wir interpretiren diesen §. nun freilich nach der Auslegung, welche ihm
der Adel gibt, dahin, daß alle Handlungen, welche auf den Landtagen bis¬
her vorgenommen waren, dein Herkommen gemäß auch ferner geschehen dür¬
fen, obwol eine andere Art der Auslegung nahe liegt. Aber weiter kann das
Zugeständnis) nicht gehen; die Reception war im Jahre 1755 weder ein Her¬
kommen, noch ein altes rechtliches Herkommen, selbst — wie schon erwähnt
^ wahrscheinlich noch gar nicht näher bestimmt. Die Entscheidung über die
Rechtliche Seite der Neceptionsangelegcnheit steht einzig und allein einer, von
den bürgerlichen Gutsbesitzern mehrfach beantragten, unparteiischen historischen
u>'d darauf juristischen Untersuchung offen. —
Hatte nun der Landtag 1844 die Differenz zwischen den beiden Theilen
der Ritterschaft um ein Bedeutendes erweitert, so geschah dies in noch höherem
^'abe auf dem Landtag von 1845, welchen die bürgerlichen Gutsbe-
st^er in solcher Anzahl besuchten, daß sie wirklich — ein bis dahin nnerhör-
^6 Ereignis; — die Majorität bildeten. Hierzu hatte aber vornehmlich ein am
^> Oct.. also kurz vor der Eröffnung des Landtags, erlassenes landesherr¬
liches Rescript beigetragen, durch welches erklärt wurde, „daß zwar die de-
theiligten bürgerlichen Gutsbesitzer die förmliche Organisation einer Verbin¬
dung in Abrede stellten, daß sich aber eine große Anzahl von ihnen durch
eine Vollmacht (et. Vereinsacte!) verbunden und vereinigt halte, um durch ge¬
meinschaftliche Maßregeln diejenigen vermeintlich verfassungsmäßigen (also nicht
wirkliche? eine Entscheidung, über welche in. vgl. das Dictamen der adligen
Gutsbesitzer S. 248) Rechtsansprüche geltend zu machen, welche seit einigen
Jahren die MißHelligkeiten in der Ritterschaft herbeigeführt und genährt, da¬
durch zugleich den ständischen Versammlungen eine die Würde derselben beein¬
trächtigende und die bewährte Landesverfassung gefährdende j!) Richtung ge¬
geben haben. Jene Vollmacht aber habe durch das Rescript vom 18. Sept.
1844 seine Endschaft erreicht. Ueberdies sei eine auf Geltendmachung ver¬
fassungsmäßiger Rechte abzweckende, ohne landesherrliche Genehmigung be¬
stehende Verbindung") den gesetzlichen Bundesbestimmungen entgegen und nicht
zu dulden." :c. (Folgt eine Warnung.)
Es war nicht anders möglich, als daß dieses Rescript. welches durch
seine Publication im grvßh. Verordnungsblatt eine schwere öffentliche Rüge
geworden war, die bürgerlichen Gutsbesitzer auf das tiefste kränkte, stellte es
sie, welche nach ihrer Ueberzeugung nur für die ihnen mit vollem Recht zu¬
kommenden Befugnisse stritten, doch als händelsüchtige Unruhestifter vor dem
ganzen Lande an den Pranger! 22 gleich nach der Veröffentlichung in Schwe¬
rin anwesende Gutsbesitzer legten deshalb sofort eine sehr energische Verwah¬
rung ein, aus welcher, gleichwie aus den veröffentlichten Landtagsverhand¬
lungen selbst, mindestens das mit Klarheit hervorgeht, daß die Frage, von
welcher Seite die MißHelligkeiten thatsächlich genährt waren (durch Gebrauch
beleidigender Ausdrücke ze.), eine durchaus zweifelhafte sei. Die Frage, was
gutes Recht sei, parlamentarisch zu entscheiden, ist nimmer etwas Ungebühr¬
liches und Gefährliches; dadurch wurde doch der Weg freundlicher Versöhnung
oder Ausgleichung offen erhalten. Daß die bürgerlichen Gutsbesitzer hierzu
den Ernst halten, beweist der Umstand, daß sie auf dein Landtage 1844 histo¬
rische Forschungen zu jenem Zweck beantragt hatten. Man war auf solchen
Antrag, welcher einem langnnerigen Proceß vorbeugen konnte, freilich nicht
Angegangen, aber warunl nicht?
Ans das erwähnte Negierungsrescript ritu entgegnete der gesammte Land¬
tag 1845, Ritterschaft und Landschaft durch eine Gesauuntverwahrung, zu
welcher freilich nicht alle durch gleiche Gründe bestimmt waren. Am 26. Nov.
legte dann noch die Landschaft aller drei Kreise einen Gesammtprotest gegen
die zum gegenwärtigen Landtag intimirte Erleichterung der Agnition und
Neception (S. 252.), so wie gegen den seit dem Landtage 1344 zuerst officiell
bei Antrügen und Beschlüssen gebrauchten Ausdruck „Corps der Ritterschaft
von eingebornen und recipirten Adel" ein, letzteres um so nöthiger, als in
diesem Lande, wo alle Rechte aus derObservanz hervorgehen, die Befürchtung
nahe lag, daß jener Ausdruck über kurz oder lang für ein observanzmäßiges
Necht erklärt werden dürfte. Ihr folgten die bürgerlichen Gutsbesitzer, 203 an
der Zahl, mit gleichem Protest, ebenso die Dcpuiirien der Stadt Rostock.
Dennoch wurde durch Priva.beschluß der adligen Gutsbesitzer jener die Aus¬
nahme ins Adelseorps erleichternde Antrag auf diesem Landtage acceptirt.
^uf die Protestationen erklärten sich zwar einige adlige Gutsbesitzer bereit
(andere jedoch widersprachen und zum Beschlusse kam es nicht) das Wort „Corps",
welches überhaupt keine andere Bedeutung habe, als die einer Menge, wie
»' B. das Wort „Armeeco.ps", fallen zu lassen, da jedoch hierin ein Verzicht
aus die Corporation selbst nicht lag und es überhaupt zu einem Beschlusse
nicht kam, so mußte man es bei den erwähnten Protesten einstweilen bewen¬
den lassen. Doch wurde aus diesem Landtage noch eine aus Mitgliedern aller
theile bestehende Deputation erwählt, welche den Versuch machen sollte, bis
»u>n nächsten Landtag alle streitigen Punkte zu erörtern und die Wege nach¬
zuweisen, aus welchen eine gütliche Verständigung über alle oder einzelne
Differenzen zu erreichen wäre. Wie sich von vornherein niemand verhehlte,
blieb dieser Versuch ohne erhebliches Resultat, da die streitigen Punkte zu
^eit auseinauderlagen und man auf beiden Seiten glaubte, nicht weiter nach¬
geben zu dürfen. So erreichte man denn aus den folgenden Landtagen eben¬
falls nichts Wesentliches mehr; die Sachen blieben wie bisher, ein Theil pro-
^stirte und der andere reprvtestirte. Als später der Landtag einer Abgeord¬
netenkammer das Feld räumte, ruhten selbstverständlich alle Fragen dieser Art;
^ jener aber 1851 in seinein alten Bestand wieder hergestellt wurde, hatte
^ alle Ursache, sich durch Erneuerung der Differenzen nicht sofort wieder ans
^ben zu greifen. So blieben denn die besprochenen Angelegenheiten, vor¬
nehmlich die Neccption und die Corporntionsbildung des eingebornen ze. Adels
'N statu <iuo, obwol es auch in dieser Zeit an Protesten und einzelnen An¬
lagen nicht fehlte. Ans dem letzten Landtage ist nnn unterm 14. December
^58 derjenige Antrag des Gutsbesitzers Maneke gestellt, mit welchem wir diese
Abhandlung eröffneten und welcher lautet: „Es besteht, wie öffentlich bekannt
ist. in Mecklenburg seit dem Jahre 1795 ein Verein mehrer Landstände, wel¬
cher, wie die Urkunde lautet, den Zweck haben soll, „die Aufrechthaltung der
Gerechtsame des Standes" zu bewirken . . . Es ist der mecklenburgische Adel,
welcher diesen Verein bildet, und schließt auch das beregte Document mit de»
Worten: „Geschehen zu Sternberg aus dein allgemeinen Landtage, in der be¬
sondern Versammlung des Adels, am 3. December 1795." Es mochte sich
bei näherer Betrachtung vielleicht ergeben, daß dieser Verein 1) nicht im Ein¬
klange mit unsrer Verfassung stehe; 2) dem Gemeinwohl des ganzen Landes
schädlich sein könnte; 3) den bestehenden Gesetzen über Vereine grade entgegen
in Thätigkeit wäre und 4) das höchste Gut auch jedes mecklenburgischen Edel¬
mannes — seine Freiheit — aufs äußerste beschränkte. . . Deshalb erlaube
ich mir den Antrag zu stellen: Ritter- uno Landschaft wolle diese Vereinsacte
einer genauen Prüfung unterziehen, eventuell Schritte ergreisen, damit dieselbe
annüllirt werde."
Die Entgegnung vom 18. December hierauf lautete sowol von Seiten
einzelner adliger Gutsbesitzer als auch des Direktoriums dahin, daß „ein Be¬
schluß über die landesherrlich in den Rescripten vom 23. November 184?
(und 11. November 1844) anerkannten^) Rechte des Adels von Unberechtigten
(wörtlich!) nicht zulässig sei" u. s. w.
Pogge-Blankenhvf, Hillmann-Scharstorf und Pogge-Jaöbitz erklärte»
hierauf am 20. December, „daß jener Manekesche Antrag nur eine rechtliche
Untersuchung über die Vereiuigungsacte vom 3. December 1795 und das Be¬
stehen eines Vereines in der Ritterschaft bezwecke, daß er also nichts Auges^
riges wolle und mau ihn wiederhole." Als auch hierauf das DirectoriuM
bei obiger Entscheidung behnrrtc, machte Hillmann-Scharstorf die Anzeige, daß
„er beabsichtige, diese Sache auf gerichtlichem Wege entscheiden zu lassen und
hoffe, das Direktorium werde ihm in der Person des Vorsitzenden Landrathes
zu Rechte stehen."----
Hiermit haben wir den Standpunkt erreicht, bis zu welchem diese An-
gelegenheit vorläufig gelangt ist. Bei der Schroffheit, mit welcher sich die
Nechtsansichten der adligen und bürgerlichen Gutsbesitzer gegenüberstehen, ist
un eine gütliche Ausgleichung nicht mehr zu denken, eine gerichtliche Ab¬
machung aber erscheint — wenn auch der Sache nach bedauerlich — doch
ebenso nothwendig als wünschenswerth. Daß der Adel eine geschlossene Ge¬
meinschaft bildet, beweist allein schon die Neception, welche sonst gar l'einen
Sinn Hütte. Er beansprucht zwar heute nicht die Erwerbung neuer, aber die
gemeinschaftliche Wahrung alter Standesrechte, und wenn auch die Nereins-
ncte bei der Neception nicht mehr zur Grundlage genommen wird, wenn auch deren
Untcrschreibung nicht mehr erforderlich ist. so ist doch klar, daß er sich damit
nur eines äußern Zeichens, niemals aber der Sache selbst ausdrücklich begeben
hat. Er will keine von der Gesammtheit der Ritterschaft getrennte Corporation
sein, nimmt aber doch ausschließliche Vorrechte in Anspruch, deren Recht
lz- B. in Betreff der Klostersrage) nicht unbestritten ist, deren Ausübung also even¬
tuell die Rechte anderer beeinträchtigen kann. So ist die Reception thatsäch¬
lich zugleich eine Aufnahme in die Gemeinschaft ausschließlicher Berechti¬
gungen — oder in eine Corporation, als deren bindendes Kennzeichen doch
look nur ausschließliche Berechtigungen betrachtet werden können. Es ist
uicht unsre Absicht, diesen Gegenstand weiter zu untersuchen; das müssen
Wir aber nochmals hervorheben, daß trotz dem Gesagten der Adel selbst be¬
hauptet (Dictamen vom 5. December 1845) „eine besondere von der
Ritterschaft getrennte") Corporation nicht zu sein."
Das italienische Volk war jenem innern Zwiespalt, der die Völker germa-
'Aschen Stammes verzehrte, fremd geblieben. Die Richtung auf eine schöne Sinn¬
lichkeit, die den Grundzug des italienischen Volkes ausmachte, und das geistige
^eben des Volkes auf das Gebiet der Künste lenkte, erwies sich auch inner¬
halb der Sphäre der Religion siegreich; kam doch der Katholicismus selbst
svlchenr Streben durch einen auf die Sinne berechneten Cultus entgegen.
Hatte sich aber im italienischen Volk die Verschmelzung des germanischen
^olksgeistes mit dem Römerthum factisch vollzogen, so darf es uns nicht
Zunder nehmen, wenn auch in den Kunstleistungen der Italiener die Ver-
Schmelzung beider Gegensätze bis zu einem gewissen Grade wenigstens voll¬
bracht erscheint. — Die italienische Bauart basirt auf dem Rundbogen und
dem romanischen Gewölbprincip in der Raumüberdeckung, auf dem Festhalten
der Horizontallinie im Aufbau und auf der entsprechenden Wiederaufnahme
der formalen Eigenschaften der antik-römischen Kunst. Das romanische Wölb¬
princip ist germanischen Ursprungs, germanischen Einwirkungen wird auch die
Uebersiedelung nach Italien, die Verdrängung der frühitalienischen holzbcdeck-
ten Basilika zuzuschreiben sein. Indem nun aber der italienische Stil das
romanische Wölbprincip aufnimmt, steigert er dasselbe zu statischen Fortschritt.
Verlangte nämlich die südliche Gefühlsweise eine freie weite Raumbildung
und entfaltete sich demgemäß der Grundplan zu mächtiger Breite, so ergaben
sich auch für die Ueberwölbung gewaltige Spannweiten. Beträgt doch die
mittlere Pfeilerweite am florentiner Dom 60 Fuß, am Dom zu Speier da¬
gegen nur 46 Fuß. Wurden nun aber die Pfeiler nach romanischem Schema
so angeordnet, daß je vier ein Quadrat bildeten, mithin das Gewölbe in glei¬
chem Maße sich nach der Breite und Länge ausdehnte, die Gewölbestützen
dagegen als vier- oder achteckige Pfeiler oder runde Säulen in möglichst
ringer Stärke errichtet, und außerdem die romanische Kuppel zu außerordent¬
lichen Dimensionen vergrößert wurde, so muß dem italienischen Stil eine
Kühnheit und Großartigkeit in der Eonstruction zuerkannt werden, die ins¬
besondere das gothische Gewölbsystcm weit hinter sich zurückläßt. Die Gothik
vermochte nur durch Aufhäufung immenser Mauermassen den Gewölbeschub
zu Paralysiren und dem durch übermäßige Höhenstreckung geschwächten Organis¬
mus Halt zu verschaffen; der italienische Stil, der mit dem romanischen Ge¬
wölbsystem auch das in ihm gegebene mäßige Höhenverhültniß ausnimmt und
darum innerhalb statisch natürlicher Grenzen bleibt, bildet den Strebepfeiler,
seiner Bedeutung als Widerlager entsprechend, als vorspringende Mauerver-
ftärkung nach Analogie der romanischen Lissene und weis im Anschluß an den
romanischen Stil einem etwaigen Gewölbeschub durch Mauern von hinreiche»'
der Stärke zu begegnen. Ebenso wurden an Stelle der gothischen Monstra
fenster nach romanischer Art Fenster von mäßiger Größe angeordnet, die
Mauerflüchen aber, die nun wieder den organischen Raumabschluß bilden, mit
großartigen Wandmalereien geschmückt, wie denn auch der ganze innere Or¬
ganismus durch Dekorationsmalerei auf bedeutsame Weise charakterisirt er¬
scheint. Neben der angemessenen Berücksichtigung des im Gewölbeband ge'
gehalten vertikalen Elements hält der italienische Stil die Bedeutung der
Horizontallinie als den gesetzmäßigen Ausdruck des statischen Aufbaues fest
und sucht in der entsprechenden äußeren Gruppirung und Gliederung den in¬
neren Organismus zur berechtigten Erscheinung zu bringen. Ein völliges-
kräftiges Hauptgesims schließt die aufsteigende Hvhenbewegung organisch und
Natürlich ab. Die Zwischcngliedcrung erscheint als der organische Ausdruck
^ structiven Momente (des Kämpfers der Höhenabtheilnngcn ze.) und zeugt
von feinem, durch das Studium der Antike geläutertem Sinn. An Stelle des
Nordischen Maß- und Leistenwerks auf Pfeiler- und Mauerflächen tritt eine
Meist sehr harmonische/ die Gliederung des Baues glücklich hervorhebende
^coration, aus Füllungen und Friesen nach verschiedenen Dessins, mit
buntem Marmor ausgefüllt, bestehend; eine praktische Losung der polychromen
Streitfrage. Bogenzwickel u. dergl. sucht man den nordischen Zirkelexercitien
^genüber durch plastischen Schmuck ans bedeutsame Weise auszufüllen, wie
sich denn überhaupt ein richtiges Gefühl für Ornamentik zu erkennen gibt.
Gleichwie aber Italien in politischer Beziehung die Oberhoheit der deutschen
Kaiserkrone anerkannte, so nahm es auch in seine Architektur gewisse nordische
^rimam auf. die aber in ihrer principiellen Verschiedenheit eine nur sehr nu-
^'liebe Verbindung mit der heimischen Bauweise eingehen konnten. Wir
Bitten den Spitzbogen, der, wenn schon vom Rundbogen verdrängt, hier und da
'^es immer zur Erscheinung kommt, das Spiizthürmchcn mit.seiner steilen Pyra¬
mide, den Giebel, der blind, ohne ein parallel mit ihm aufsteigendes Dach
^ die Lüfte schneidet und andere derartige gothische Dccorativformen.
überall da aber, wo jener nordische Einfluß zu überwiegender Geltung ge¬
fugt, sehen wir, wie am Dom zu Mailand, eine Architektur entstehen, die
Mit dem Namen einer gothischen im italienischen Sinn, d. i. einer barba-
^chen, wol am besten zu° bezeichnen ist. Erweist sich sonach der directe
Zutsche Einfluß als wenig heilsam, so erkannten wir doch in jener frühger-
Mlmischen Einwirkung eine für die italienische Kunst bedeutsame und folgen-
^che. Die italienische Kunst steigerte die technische Fähigkeit des romanischen
Gewölbes, wie sie, im Rückblick auf die Antike, die formale Seite der roma-
^!chen Kunst reinigte. Hierin ist die italienische Kunst als eine höhere Po-
der romanischen Bauart zu betrachten. Ging aber Deutschland zuerst
die Ausbildung des romanischen Stiles und überragen die deutscheu Mo-
^niente dieses Stiles die gleichzeitigen Bauten aller anderen Völker weit
^ Bedeutung, so scheint uns, daß neben der dem germanischen Volk
^erhcmpt zuzuweisenden Vaterschaft der deutschen Nation insbesondere eine
^'orirät zuerkannt werden müsse, die jenem Rundbvgenprincip auch die
Reiche eines echt nationalen leiht. Die Thatsache aber, daß der romanische
.^l. von germanischen Völkern auf Grund der Antike begonnen, die Ver-
^lelzung antiker Tradition mit germanischem Geist und zwar so lange er-
^like. als die Geistlichkeit, die in Rom fußte, die vornehmste Trägerin der
mltur war, mag hiermit zum wenigsten angedeutet sein.
Hatte nun aber der mittelalterlich-italienische Stil nicht vermocht, die
fremdartigen nordischen Geschmacksformen sich zu assimiliren, ebenso wenig
aber sie als principwidrig zurückzuweisen, so vollzog Italien diese formale
Läuterung im fünfzehnten Jahrhundert in der Renaissance. Die Renaissance
bezeichneten wir oben als den architektonischen Ausdruck der im fünfzehnten
Jahrhundert begonnenen Sinneswandelung. Das Mittelalter stützte sich eins
den Individualismus, der Individualismus aber war ein unfreier, durch die
Autorität gebundener. Die Negation der Natur und ihrer Rechte, die Allein¬
herrschaft des Geistes war das mit sclbstvernichtendcr Begeisterung erstrebte
Ziel der mittelalterlichen Welt. Kehrte sich aber ein solches Streben gegen
die natürliche Basis der menschlichen Existenz und sonnte es darum nur in der
Extase seinen Haltpunkt finden, so mußte es naturnothwendig mit dem Verfliegen
der Extase seinen Haltpunkt verlieren. Der Geist erkannte sich in seiner Einsei'
tigkeit. erkannte die Unmöglichkeit, ans sich heraus durch Negation alles außer ihn'
Gegebenen zur Befriedigung zu gelangen. Diese Erkenntniß war eine unerläß-
liche. Der Geist mußte sich seiner Schranken bewußt werden, um in der
Natur ein ihm gleichberechtigtes Moment anzuerkennen, das nicht durch Ne¬
gation zu überwinden, nur durch Annahme zu versöhnen sei. Diese Versöh¬
nung von Geist und Natur ist aber das Princip des modernen Ideals.
Mittelalter war die Individualität eine unfreie, die neue Zeit ist von dein
Streben nach individueller Freiheit erfüllt. Deutschland ward zum Banner¬
träger dieses Freiheitsstrebens auf religiösem Gebiet (in der Reformation),
Italien auf dem Gebiet der Kunst.
Das moderne Ideal ist die Versöhnung von Geist und Natur; der arcl)''
tektonische Ausdruck dieses Ideals aber konnte nur in der Verschmelzung de6
mittelalterlichen und antiken Bauprincips gefunden werden. Diese Verschwel
zung hatte Italien im Mittelalter begonnen, im fünfzehnten Jahrhundert rü't
gesteigertem Bewußtsein sortgesetzt. Die Frucht dieser Bestrebungen ist d>t
Renaissance. — Im gothischen Stil, in welchem der mittelalterliche Gedanke
seine großartigste Verkörperung gefunden, hatte sich die Schöpferkraft der ge^
manischen Völker erschöpft. Wie dem mittelalterlichen Ideal mit der Ext^
seine innerste Lebenskraft schwand, so mußte der gothischen Kunst, die ja
architektonische Ausdruck jenes Ideals gewesen, mit dem Ideal der nähret
Boden verloren gehen. Die gothische Architektur baut sich, dem mittelalter¬
lichen Gedanken parallel, in strengster rücksichtslosester Consequenz auf. ^
Consequenz wurzelt eben im Gedanken. Wankte aber der Grund, auf de>"
das stolze Gebäude sich erhob, so mußte der ganze Bau unabänderlich in se^
zusammenbrechen, denn auf diesem Grund und darauf in einseitiger Corise'
quenz war er eben errichtet. Je strenger aber die Consequenz des gothisch
Systems gewesen war, um so unwiderstehlicher mußte sich die Auflösung ^
ihm vollziehen. Der italienischen Kunst aber erwuchs aus jener Auflösn'^
die Befreiung von der übergreifenden Macht des nordischen Gedankens und
damit eine höhere Vollendung.
Die italienische Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts, die Renaissance ent¬
ledigt sich des heterogenen Spuks nordischer Decorativformen und weiß im
engern Anschluß an die Antike die formale Seite des altitalienischcn Stiles
zu classischer Correctheit und harmonischer Schönheit zu steigern. Ebenso legt
sie. in Rücksicht auf die charakteristische Seite, die Resultate des altitalienischen
Stiles ihren Schöpfungen zu Grunde. Ihm analog spricht sie in der äußern
Gliederung den innern Organismus wahr und lebensvoll aus; sie verbindet
«der hiermit ein so hohes Gefühl für Maß und Harmonie, daß sie im „Rhyth¬
mus der Massen" eine neue Schönheit der Verhältnisse gewinnt. Die Schwester¬
künste. Sculptur und Malerei, werden nach Vorgang des altitalicnischen Stiles
M folgenreichster Mitwirkung herangezogen und es entwickelt sich besonders
in der Decoration der Innenräume ein ungeahnter, nie erreichter, edler, gro߬
artiger, phantasievoller Geschmack. Dabei ist die Technik eine durchaus wahre,
solide, dem Stoff angemessene. In dem Material und seiner Eigenthümlich¬
keit findet sie das Gesetz sür die Darstellung gegeben. Der Backsteinbau ent¬
wickelt sich zu einer dem Marmorbau ebenbürtigen Schönheit. Im Wölb¬
princip folgt die Renaissance dem altitalienischcn Stil. Das Gefühl für
Weiträumigkeit, das die kühnen technischen Leistungen desselben bedingt, wirkt
fort, steigert sich sogar zu statischen Fortschritt. Im Profanbau bildet es den
Gwndplcm zu hoher Poesie und Großartigkeit aus. Der italienische Grund¬
plan ist gradezu mustergiltig.
In solcher Weise gestaltet sich die Renaissance des fünfzehnten Jahrhun¬
derts. Sie erscheint, um es kurz zusammenzufassen, als eine höhere Entwick¬
lung und Vollendung des altitalienischcn Baugedankens, insofern sie im engern
Anschluß an das römische Alterthum die formale Seite der altitalicnischen
Kunst reinigt und veredelt, die kühnen technischen Leistungen derselben aber
aufrecht erhält, ja steigert; mit dem tiefen lebensvollen Organismus, der
räumlichen Charakteristik des altitaliemschen Stiles verbindet sie eine hohe harmo¬
nische Schönheit in der äußern Erscheinung, im Ganzen wie im Einzelnen.
Die in der altitalienischen Kunst erstrebte Verschmelzung des mittelalterlichen
Und antiken Stilprincips hat in der Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts einen
bedeutsamen Schritt nach vorwärts gethan. Und hiermit hat die Renaissance
'dren Höhepunkt erreicht, ihre weitere Bahn ist eine abwärts führende. Mag
"und die formale Seite der Kunst in den nächsten Decennien erst zu höchster
^inde gedeihen, mag jenes rhythmische Gefühl bis zum Ende der Epoche
süchtig und frisch sich erhalten, mag jene Großartigkeit der Auffassung noch
die Anlagen der spätesten Zeit durchwehen, die innerste Kraft mußte erlöschen,
weil man aufgehört hatte, in einem lebendigen Organismus die Seele der
Kunst zu erblicken. An Stelle der auf einer freien Würdigung der formalen
Eigenschaften der Antike beruhenden selbstständigen Reproduction der classischen
Formenwelt tritt eine unfreie pedantische Nachahmung der römischen Monu¬
mente in ihrer Totalität. Hatte man bisher in der äußern Erscheinung eines
Bauwerks dessen inneres Wesen, seine geistige Tendenz auszusprechen gesucht,
in dem glücklichen Erreichen dieses Zieles aber die architektonische Schönheit
gefunden, so gab es jetzt nur ein Heil für die Kunst: die strenge Befolgung
des aus den Büchern des Vitruv und den antiken Baurestcn abstrahirten und
berechneten Kanon. War man bisher bemüht gewesen, den Innenraum dem
räumlichen Bedürfniß und dem statischen Vermögen entsprechend organisch
durchzubilden, so schlug man jetzt alle technischen Resultate der Vergangenheit
kühn in die Schanze, um zu dem embryonischen Zustand des Römergewölbes
zurückzukehren. Die äußere Architektur entwickelt sich nicht nothwendig und
organisch von Innen heraus, sie ist eine reine Decoration nach dem Schema
römischer Kunstformen geworden, die dem Baukörper äußerlich aufgeheftet
wird. Der organische Zusammenhang des innern Seins und des äußern
Scheins ist gelöst, an die Stelle der Nothwendigkeit tritt freies Belieben,
WilMr. Dazu kommt noch, daß mit dem Copiren des römischen Formalismus
die lose unorganische Verbindung des Säulen-und Gewölbebaues, die der römi¬
schen Kunst charakteristisch, der modernen Baukunst übertragen wurde. Hatte aber
schon die römische Kunst das tiefere Verständniß der griechischen Formen verloren,
so mußte das todte Copiren des römischen Details eine um so größere Leere und
Trockenheit erzeugen, je äußerlicher und unselbständiger man bei der Nachahmung
verfuhr. Die Fa^abe hatte aufgehört das „Angesicht" zu sein „worin der
Bau seine Seele nach außen ausspricht/' sie war sich selbst Zweck geworden.
Was Wunder wenn da auch der letzte Schein architektonischer Gesetz¬
mäßigkeit über Bord geworfen, die schrankenlose Subjektivität mit all ihren
Launen, ihrer Willkür auf den Thron erhoben ward? So erscheinen denn jene
lügenhaften Kolossalsäulcn und Pilaster mit ihren Niesengebälken (nach dew
Vorbild der römischen Tempel), die den mehrstöckigen Bau in eine einstöckige
Blendfayadc zwängen, jene gebrochenen, zerschnittenen Giebel über Thür und
Fenster, jene gerollten und gekräuselten Schnörkel und Schnecken, jene
schwungenen und geschweiften Linien in Grund- und Aufriß. Die Architektur
löst sich in ein tolles, leidenschaftliches Formenspiel, in eine üppige, kokette,
aller Vernunft und allem Gesetz Hohn sprechende Manier auf. Der Rococo
feiert seine Orgien. ZV6ta.t. e'est, moi, das war der Grundgedanke in Kirche
und Staat, und darum auch in der Architektur. Auf der einen Seite der
restaurirte Katholicismus mit seiner künstlichen Wiederbelebung abgestorbener
Zustände, seinem gespreizten und gemachten Wesen, seinem leeren äußeren
Prunk, seiner Hohlheit und Lüge, seinem innern Widerspruch und darum
seiner Unsittlichkeit. aus der andern Seite die absolute Monarchie mit ihrer
souveränen Verhöhnung von Recht und Gesetz, ihrer grenzenlosen Gleichartig¬
st gegen Wahrheit und Sittlichkeit, ihrer Eitelkeit und Selbstgefälligkeit,
ihrer Unfähigkeit und ihrem Uebermuth, ihrer zügellosen Ueppigkeit, ihrer
schamlosen Sinnenlnsi, ihrer ganzen inneren Fäulniß und Verwesung, das
s'ut die treibenden Mächte der Zeit, ihr treues Spiegelbild aber ist der No-
^co. Die Architektur der neuen Zeit hat für Kirche und Palast nur eine
Horrn gefunden, denn sie hatte mir einen Vorwurf, die heidnische Nömerkunst.
^ach aber die Zeit in jener Römerkunst den entsprechenden Vorwurf, daß Ka¬
tholicismus und Despotismus in derselben Kunst ihren Ausdruck, in dem
ociraus entwickelten Rococo aber die höchste Verkörperung ihrer entwickelten
schlichen und staatlichen Gedanken finden konnten und zwar beide in ein
und derselben Form gleich charakteristisch und gleich giltig, das spricht am
schlagendsten der Inhalt der ganzen Zeit aus.
Freie Individualität war das Princip der im fünfzehnten Jahrhundert be¬
gonnenen neuen Zeit. Mächtig und bedeutsam entfaltete sich dieses Princip seit
fünfzehnten Jahrhundert auf kirchlichem und staatlichem Gebiet, auf dein
Gebiet der Kunst. Aber der freien Bewegung tritt eine feindliche Reaction ent¬
gegen. Wie im Mittelalter baut sich eine Autorität auf, die aber nicht wie
I^e M eine innerlich gewordene, als der nothwendige Culminationspunkt der
^»zen bisherigen Entwicklung erscheint, die nur eine äußerlich gemachte oder
^staurirte, willkürlich gesetzte ist. Während sich so im Mittelalter unter der
^'gide der Autorität der Gedanke zu höchster Blüte entfaltet, konnte uinge-
^hre die moderne Autorität, und wäre sie, wie die restaurirte katholische auch
äußerlich scheinbar dieselbe gewesen, alle schöpferische Kraft nur ersticken. Eine
^ve Entwicklung folgt ihren innern Gesetzen; die äußere Form ist der orga-
'^sche Ausdruck des innern Wesens. Eine willkürliche Autorität schreibt will-
^'und die Form vor, die der Entwicklung Gesetz sein soll. Diese Form ist
^ot, weil nicht lebendig gezeugt. Der Geist aber kann eine Form nicht be-
^ven, die nicht die seine ist; innerhalb ihrer Schranken kann er sich nur durch
Willkür bethätigen. Die Willkür wird um so größer sein, da die Neproduc-
der- um des äußern Schemas willen gegebenen Form nur eine äußerliche
kann. Die innere organische Gliederung sehlt; das Ganze erscheint nur
^ ein durch äußeren Machtspruch subjektiven Beliebens zusammengehaltenes
Kgregat innerlich fremdartiger, widersprechender Bestandtheile. Die Repro-
^lion wird im Einzelnen wol den äußern Schein der Gesetzmäßigkeit wäh-
len Ganzen und Großen wird sie nnr Spiel, nur Willkür sein. — Die
„ ^egung des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts mündet aus in
"we Autorität, das achtzehnte Jahrhundert beginnt mit schrankenloser Willkür.
Das mit großer Spannung erwartete Colonisationsgesetz ist nunmehr
eure vollendete Thatsache. Durch die kaiserliche Verordnung vom 23. Decbr.
1858, wirksam für die Königreiche Ungarn, Kroatien und Slawonien, die
serbische Wojwodschast mit dem temeschcr Banat und das Großfürstenthuw
Siebenbürgen, sind die neu entstehenden landwirthschaftlichen Ansiedlungen
zu gewährenden Begünstigungen und die Bedingungen zu deren Erlangung
festgestellt worden. . Wir halten es nicht für unsere Aufgabe, uus in eine
nähere Ergründung der Tragweite einzulassen, welche diese Verordnung i»
nationalökonomischer Beziehung für die Cultur der östlichen Kronländer der öst¬
reichischen Monarchie haben wird. Dagegen wollen wir diejenigen Bestimmungen
derselben, die sich auf die confessionellen Verhältnisse der Ansiedler beziehn, kurz
ins Auge fassen. Hierbei bleibe ganz unerörtert, ob die in K. 2 Ut. a ent¬
haltene Imperative, daß die Ansiedler jeder neuen Gemeinde nicht nur de>»'
selben Volksstamm, sondern auch demselben Religionsbekenntniß c»"
gehören müssen, dem Colonisationswerk grade förderlich sein wird oder nicht'
so daß wir uns lediglich darauf beschränken, den §. 13. in den Kreis unsers
Betrachtung zu ziehn. Dieser lautet wörtlich: „Alle einwandernden Ansiedler,
welche einer in Oestreich anerkannten christlichen Confession angehören, werde»
der diesen Confessionen gewährleisteten freien Religionsübung edel^
haftig." Diese Bestimmung enthält vor allem die praktische Lösung der s^'
der Neugestaltung der politischen Verhältnisse in Oestreich, also seit dem J"l)>'^
1848 sehr controverser Frage: ob den Evangelischen rechtlich gestattet sei,
den früher zur Krone Ungarn gehörigen Königreichen Kroatien und Siao"'
rien (auch Dalmatien) Güter zu erwerben und Aemter zu bekleiden?
nämlich der §. 14 des das Grundgesetz der Evangelischen in Ungarn dit'
deuten 26. Artikels des ungarischen Reichstages vom Jahre 1790.
„jenen etlichen Gemeinden in Unterslawvnien, die theils der angsburgcr, the'^
der helvetischen Confession zugethan sind." die „freie Religionsübung, wie ^
dieselbe jetzt genießen", auch für die Zukunft beläßt, sonst aber den Evang^'
dischen das Recht zum Gütererwerb und zur Bekleidung von Aemtern in d?"
genannten Königreichen (natürlich mit Ausnahme jener „etlichen Gemein^"
in Untcrslawonien") gradezu abspricht; die kaiserliche Verordnung "0"'
23. Dec. 1853 aber ausdrücklich auch für Kroatien und Slawonien wirkst"
ist, so folgt selbstverständlich, daß evangelische Kolonisten sich in den genan^
ten Ländern nunmehr ansiedeln d. i. Besitz erwerben dürfen und daß sie der,
jenen „etlichen Gemeinden in Unterslawonien" gewährleisteten „freien Reli-
gwnsübung" theilhaftig werden. — Fragt man nun nach Wesen und Inhalt
der dem Kronlande Ungarn sammt dessen ehemaligen Nebenländern und
Siebenbürgen garantirten „freien Religionsübung", so ist darunter nicht
das den Protestanten in den deutsch-slawischen Kronländern durch das Tote-
^anzpatent Kaiser Joseph II. gesegneten Andenkens, vom Jahre 1781 ge¬
währte „Privatexercitium", sondern die in dem 26. Artikel v. I. 1790—1, für
Ungarn und im sogenannten Approbatalgesetz. wie in dem Leopoldinischen
Diplom und in dem Religionsgesetz des Landtags 1791 für Siebenbür¬
gen gewährleistete und erst durch die Reichsverfassung vom 4. März 1849
wie durch das spätere k. Patent vom 31. Dec. 1851 auch auf die Prote¬
stanten in den deutsch-slawischen Ländern ausgedehnte „gemeinsame öf¬
fentliche Religionsübung zu verstehen", d. i. das Recht, Gemeinden zu
bilden, Geistliche einzuführen,. Kirchen, mit Thürmen oder ohne Thürme. Pfarr¬
häuser und Schulen zu errichten u. s. w., mit einem Wort: die Befugniß der
Ungehinderten Entfaltung des confessionellen Lebens auf dem Grunde der
Dogmen und der Verfassung der Kirche.
In so weit — in wie weit nämlich die Glaubens- und Gewissens¬
freiheit und die äußerliche Manifestation der religiösen Ueberzeugungen in
^'cige steht — können die einwandernden, der evangelischen Kirche angehö¬
ren deutschen Ansiedler vollkommen beruhigt sein. Ob das Gleiche auch in
f° weit gilt, inwiefern es sich um die Stellung der evangelischen Kirche in
den Ländern, für welche das Colonisationsgesetz gegeben ist, zum Staate,
f° wie zu andern kirchlichen Gemeinschaften, namentlich zur römisch-
^Ah »dischen Kirche, handelt, mag aus Folgendem entnommen werden.
Was den ersten Punkt anbelangt, so erfreuen sich die vier recipirten
Archen in Siebenbürgen, also auch die evangelischen beider Bekenntnisse, einer
Möglichst weit gehenden Freiheit und Autonomie. Nicht so ganz in Ungarn;
wahrend nämlich die Selbststündigkeit und Autonomie der evangelischen Kirche
Siebenbürgen so weit geht, daß der Staatsgewalt nach dem Neligio-
"argesetze vom Jahr 1791 sogar das Recht der Oberaufsicht nur in Beziehung
"Uf die kirchlichen Fund ationen gewahrt ist, geschweige denn, daß derselben
"Uf die Verfassungsfragen irgend ein directer Einfluß zustande, sind die Evan¬
gelischen in Ungarn, sowol was die Kirchenangelegenheiten als auch was
^e Schulangelegenheiten anbelangt, der obersten Aufsicht des Staates aller-
dings unterworfen und räumt der 26. Art. d. I. 1790—1, dem Souverän
wichtige Rechte in Bezug auf die kirchliche Coordinations- (Verfassungs-)
^ge derselben ein.
In zweiter Beziehung ist in Siebenbürgen durch die mit den Approbaten
(Lid. I. Tit. I. Art. II.) und- mit dem von allen nachfolgenden Großfürst"'
von Siebenblngen bis auf Kaiser Ferdinand V. beschworner ersten Artikel
des Diplomes Leopold I. vom 4. December 4V91 übereinstimmenden Nei>'
gionargesetze des siebenbürger Landtags vom Jahr 1701 vollkomnicnc Gleich'
berechtigung der recipirten Bekenntnisse mit dem Beisah festgestellt, daß alle
gegentheiligen Verordnungen keine Geltung haben sollen (non oliswntilmL i»
cont.ra.rinn oculis Orllinirtioniliu»). Unter der Herrschaft dieses humanen u»d
wahrhaft christlichen Gesetzes entwickelte sich das kirchliche Leben in Siebe"'
bürgen zu schöner Harmonie. Bei öffentlichen Anstellungen galt kein Undt>''
schied des religiösen' Bekenntnisses; die Kinder aus gemischten Ehen folgte»
dein Geschlecht der Eltern/gegentheilige Nevcrsalien hatten keine Geltung!
der Uebertritt von einer Concession zur andern war frei; die Kinder der eine»
kirchlichen Gemeinschaft konnten die Schulen der andern ungehindert besucht
u. s. w. Und wenn im Laufe der Zeit einige Abweichungen von der gar^
den Linie des Gesetzes stattfanden, so erfolgte dagegen unterm 12. Septcmbel
1842 die denkwürdige Repräsentation der sievenbürgischen Stände, welche n"'
merklich gegen den s. g. sechswöchentlichen Unterricht der vom Katholicis»n>^
zu einem andern Bekenntniß Uebertretenden, gegen die ausschließliche
petenz der katholischen Geistlichen bei Trauungen gemischter Ehen, gegen d>^
Erzwingung von Reversen durch Boren thaltuug der kirchlichen Trauung on"'
Seiten des katholischen Priesters, gegen die angeordnete Einsendung der
tokolle der evangelischen Consistorien an das Gubernium, gegen die Erriä)'
tung einer katholischen Commission bei dem Landesgubernium, gegen die
befohlene Einsendung aller evangelischen Ehescheiduugsangelegenheiten an du
Hofkanzlei, gegen die Bcrhinderuug des Druckes theologischer und symbolisch
Bücher, gegen das Verbot des Besuches auswärtiger Universitäten, gegen d>t
Einmischung der Staatsgewalt in die kirchlichen Angelegenheiten, gegen
anbefohlene Feier des Festes Stephans des Heiligen, gegen die Verweigern"!!
des bischöflichen Titels für die protestantischen Kirchenvorstände, gegen ^
exclusiver katholischen Charakter des aus Landesmitteln dotirter Theresianiscl)^
Waisenhaujes in Hermannstadt u- s. w. gerichtet war. So ist es getomnit"'
daß Siebenbürgen den gesetzlichen Boden vollkommenster Parität der recipn'^'
christlichen Bekenntnisse unausgesetzt behauptete, einer Parität, wie sie um
einmal im preußischen Staat gründlicher sein kann. Selbst die Ehegericht^
harten ist der evangelischen Kirche mich nach Einführung des allgemein"'
bürgerlichen Gesetzbuches in Siebenbürgen gewahrt.
Wesentlich anders steht die Sache in Ungarn. Zwar hat auch h'^
der 11. Paragraph des 2«. Artikels vom Jahr 17V1 die Ehesachen beid"
evangelischer Confessionen der Entscheidung ihrer Consistorien zugewiesen; z'"'"
hat auch hier der III. Gcsetzartikel des Reichstages 1843 — 1844 vollko>"'
lich"^ne Freiheit des Uebertrittes mit Beobachtung gewisser gesetzlicher Formen
^währt und auch jene Mischehen für gesetzlich erklärt, welche vor einem
^"ngelischen Seelsorger geschlossen wurden; zwar hat endlich auch hier
^' vom vorigen Kaiser am 11. April 1848 in gesetzlich vollkommen zu¬
pfender Weise sanctionirte XX. Gesetzartikel des Reichstages 1847 — 1848
Rücksicht aller im Lande recipirten Neligionsanhänger „ohne Unterschied
°me vollkommene Gleichheit und Gegenseitigkeit festgestellt", den Besuch
^Schulen der recipirten Religionen jedermann, ohne Unterschied der Reli-
gegenseitig gestattet und den Grundsatz ausgesprochen, daß die den re-
^N'ten Religionen angehörigen Soldaten mit Feldgeistlichen ihrer Religion
werden versehen werden; dennoch ist die evangelische Kirche noch immer nicht
'"l Besitz der Ehegerichtsbarkcit, ja der IV. Artikel des Patentes zu Einsud-
^>>g des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches in Ungarn vom 29. Novbr.
52 hat das bürgerliche Eherecht ausdrücklich für alle nichtkatholischen christ-
en Neligionsgenossen vorgeschrieben, während der III. Artikel desselben
Gerdes die Katholiken lateinischen und griechischen Ritus' und die nicht-
"uirten Griechen von dein bürgerlichen Eherecht ezimirt; dennoch wird der
übertritt durch die katholische Geistlichkeit noch immer erschwert; dennoch
^Rhede in Beziehung auf die Erziehung der Kinder aus gemischten Ehen nicht
»vollkommene Gleichheit und Gegenseitigkeit", da nach ez. 15 des 26. Art.
Jahre 179«, übereinstimmend mit dem Josephinischen Ehepatent, wenn der
^s>ter katholisch ist, alle Kinder katholisch werden müssen und nur. wenn die
Mutter katholisch ist, die Kinder männlichen Geschlechts der Religion des
^ers folgen können; dennoch kann nach §.43 des „Gesetzes über die Ehen
^' Katholiken im Kaiserthum Oestreich" vom 8. October 185K über die Gil-
'steil von Ehen, die zwischen katholischen und nichtkatholischen Christen ge¬
gossen werden, so lange ein Ehetheil der katholischen Kirche angehört, nur
katholische Ehegericht entscheiden und kann das Band einer Ehe, bei deren
g^ehung wenigstens ein Theil der katholischen Kirche angehört hat, auch
ebenso wenig getrennt werden, wenn infolge einer Aenderung des Re-
g>onsbetenntnisses beide Theile einer nichtkatholischen Kirche zugethan sind,
' ^ wenn zwei Personen, die sich als nichtkatholische Christen ehelichten, in die
^salische Kirche eingetreten sind, sei es auch, daß in der Folge sich beide
gder einem nichtkatholischen Neligionsbekenntniß zugewendet haben (§. 57);
^noch ist es den Protestanten nicht gestattet, katholische Kinder in ihre
s ahnten aufzunehmen; dennoch sind die der evangelischen Confession angehö-
'^n Soldaten unt Feldgeistlichen nicht gehörig versehen; dennoch sind die
^vtcstanten von der Professur bei der Landesuniversität in Pesth, gleichwie
den aus Staatsfonds dotirter öffentlichen Gymnasien ausgeschlossen. —
Was endlich die ^ Neugestaltung der evangelischen Kirchenverfassung an-
belangt, so ist dieselbe ebenso wenig in Siebenbürgen als in Ungarn voll¬
zogen. Die kirchliche Verfassung der Evangelischen A. C. in Siebenbürgen
brach mit der Auflösung des sächsischen Nationalkörpers zusammen. In Ungarn
war die Feststellung der Küchenordnung seit der Synode vom Jahre l?Si
ohne Erfolg an der Tagesordnung; 'der seitherige factische Organismus wurde
durch die bekannte Haynausche Verordnung vom 10. Februar 1850 umgestürzt
und durch die provisorische Verordnung des Cultusministeriums vom 3. Juli
1854 nicht wieder hergestellt. Dort kam es im Jahre 1855 zu einer „provi¬
sorischen" Verfassung, doch wurde auch diese im Jahre 1856 von der Regie-
rung nicht vollständig in Vollzug gesetzt; hier legte das Ministerium in end¬
licher Erwiederung auf die Synodaloperate vom Jahre 1791 den Superin-
tendentialconvcntcn im Jahre 1856 einen gedruckten Gesetzentwurf vor, die
Verhandlungen über die Aeußerungen der Convente sind jedoch bis heute noch
nicht zum Abschluß gediehen; die allgemein verlangte Synode ist noch nicht
bewilligt.
Dies ist ein treues Bild der Rechtslage, in welcher sich die Protestanten
in den östlichen Kronländern unsers Kaiserstaates befinden. Dasselbe dürste
die Ueberzeugung begründen helfen, daß, so wahrhaft kaiserlich auch die den
Ansiedlern, insbesondere den von außen einwandernden, zugestandenen sonsti¬
gen Begünstigungen sind, die denselben gewährte „freie Religionsübung"
sich noch durchaus nicht das Zauberwort sein kann, das den Strom der deut¬
schen Auswanderung von seiner westlichen Richtung abzulenken und, dem Zug"
der deutschen Interessen folgend, in die weiten Donauländer, namentlich i"
die reichen Segen verheißende Kornkammer der östreichischen Monarchie,
leiten vermöchte. Soll der wahrhaft staatsmännische Gedanke, der den M''
nistern Oestreichs das neue Anfledlungsgesetz in die Feder dictirt hat,
Gewißheit Fleisch und Blut werden, soll namentlich auch der deutsche Norte"
bestimmt werden, seine überflüssigen, insbesondere in der Agricultur hochstchc"'
den Bcvölkerungselemente an Oestreich abzugeben, so ist es eine unavweislW
Nothwendigkeit, daß die im Princip feststehende, durch klare Gesetze aus¬
gesprochene Parität der christlichen Bekenntnisse, die in neuester Zeit, nach de>"
Vorbild des westphälischen Friedensschlusses und der deutschen Bundesacte.
noch in dem 46. §. der am 19. August vorigen Jahres in Paris zu Stande
gekommenen Convention der Mächte über die definitive Organisation d^
Moldau und Walachei aufgenommen worden, und der sogar in dem
kurzem erschienenen Gesetzbuch von Montenegro ein Paragraph (der 92.)
widmet ist, mit allen ihren Consequenzen zur praktischen Durchführung gelang
und endlich auch die Verfassungszustande der evangelischen Landeskirchen Oese'
reichs eine feste, eine gesunde Lebensentwicklung möglich machende und Corn'
petenzconflicte gänzlich hintenhaltende Consistenz gewinnen. Die religiöse
Seite des Lebens hat nun einmal für den Deutschen eine so große Bedeu¬
tung, daß wo ihr nicht eine freie, uneingeschränkte Entfaltung gegönnt ist,
deutsche Gemüth sich nicht befriedigt, sondern gradezu abgestoßen fühlt. —
^euch Oestreich, das im letzten Decennium so bedeutende Schöpfungen ins
Leben rief, wie kaum in einer andern Periode seiner tausendjährigen Geschichte
und die größten Hemmnisse seiner innern Erstarrung und seiner äußern Macht¬
entfaltung aus dem Wege räumte; jenes Oestreich, das die Zwischenzolllinien
beseitigte, das gleiche Privat- und Verwaltungsrecht in allen Marken seines
Zeiten Gebietes einführte, vollkommene Rechtssicherheit herstellte, den Feudal-
basten ein Ende machte, den Bodcncredit festigte, mit der Durchführung eines
einheitlichen Münzsystems auch die Baarzahlungen der Bank wieder möglich
'Nachte; jenes Oestreich, welches ein weitverzweigtes Eisenbahnsystem feststellte,
Zum Theil schon durchführte und bereits die mannigfaltigsten Bedingungen
Materieller Prosperität ins Leben rief, wird auch die Mittel in Händen haben
(auch den Willen? d. Red.), das bedeutendste Hinderniß einer massenhaften,
materiellen Aufschwung der östlichen Kronländer fördernden Einwanderung
aus dem Wege zu räumen, d. i. die factisch zwischen seinen katholischen und
^inen evangelischen Unterthanen bestehenden Rechtsunterschiede zu beseitigen,
und dem preußischen Banner, das ein edler deutscher Prinz in der jüngsten
5>eit so hoch geschwungen, auf dem Gebiet der geizigen und religiösen Inter¬
essen Deutschlands eine ehrenwerthe Concurrenz zu machen. Nachdem das
östreichische Concordat im Jahre 1855 erschienen war, erklärte und versicherte
^e „Wiener Zeitung", das officielle Organ der Regierung, in ihrer 261. Num¬
mer den östreichischen Protestanten beruhigend: „In dieser rückhaltsloser An¬
erkennung der Rechte der katholischen Kirche liegt übrigens für alle andern
Religiösen Genossenschaften des Kaiserstaates eine sichere Gewähr der ihrigen,
^as Rechtsgefühl, das hier vorwaltete, wird auch der Maßstab bei Regelung
Hrer Verhältnisse sein und sie, welche mit anerkannten gesetzlichen Bestände
erprobt in Treue und Anhänglichkeit an das Allerhöchste Kaiserhaus den Schutz
es Gesetzes und den Schirm einer unparteiischen, väterlich-weisen Negierung
eanspruchen, werden in ihren Erwartungen sich nicht getäuscht finden. Die
Weichheit vor dem Gesetz, das über alle sich erstreckende gleiche bürgerliche
echt, die Unparteilichkeit der in entscheidenden Kreisen vorwaltenden An¬
stauungen, endlich die ungehemmte Feststellung ihres innern Organismus
Und der Schutz für dessen Bestand, gibt ihnen genügende Garantien eines
^higen Fortbestandes und einer ungetrübten Entwicklung." — Was die Na-
^mag den fünf Millionen Protestanten in Oestreich damals erklärte, verpflichtet
'^e auch für die Gegenwart noch, und es ist Zeit, daß man endlich seinen
Zusagen nachkomme.
.. .. -j t<»,hö, ,->x»i> . ' .! « »
Kaum irgend eine theoretische Ueberzeugung hat an ihrer Vergleichung
mit der Erfahrung eine härtere Probe zu bestehen, als die Meinungen, die
wir uus über unsere eigene menschliche Natur und Bestimmung bilden. In
der stillen Zurückgezogenheit speculativer Betrachtung tritt meist das Gute,
Edle und Bedeutungsvolle des menschlichen Wesens, wie allein vorhanden,
hervor, und indem alle Schlacken fallen, verklärt sich unvermerkt das Bild
des Menschen zu einer idealen Gestalt, die in dem vernünftigen Ganzen der
Weltordnung nicht nur harmonisch ihre Stelle füllt, sondern eine so hervor¬
ragende Stelle verdient, daß die Bedeutsamkeit ihrer Bestimmung und der
Tiefsinn ihrer Weltstellung kaum würdig genug zu bezeichnen scheint. Es ist
ein harter Zusammenstoß, mit dieser Ehrfurcht vor dem Begriffe der Huma¬
nität seinen einzelnen Trägern auf der Straße zu begegnen. Wol finden wir
die allgemeinen physischen und geistigen Hilfsmittel, welche dem Menschen zur
Erfüllung jener hohen Bestimmung gegeben sind, überall wieder, aber so
wenig im Dienste dieser Bestimmung verwendet, daß Menschenliebe im All¬
gemeinen und Menschenverachtung im Einzelnen zwei nur allzu verträgliche
Gefühle werden. Es mag sein, daß die letztere durch eine billigere Berück¬
sichtigung der bessern Keime sich mildern läßt, die auch in einer verzerrten
menschlichen Natur sich immer noch finden; aber im Ganzen sollte doch der
Eindruck dieser Erfahrungen uns bedenklich gegen jene Selbstüberschätzung des
Mcnschcuwerthes machen, die unsern anthropologischen Reflexionen so geläufig
geworden ist, und die eigentlich nur wenig dem weit demüthigeren Urtheil
entspricht, mit dem das mcnschlicheMschlecht in seinen, unbefangenen Lebens-
gefühle sich selbst mißt. So wie man überall die irdische Natur als die ein¬
zige Erscheinungswelt ins Auge faßte, in welche die Fülle des schöpferischen
Grundes sich ausgegossen habe, so hat die Philosophie ganz gewöhnlich den
Menschen als den isolirten höchsten Gipfel dieser Welt betrachtet und zwischen
ihm und Gott keine andere Vermittlung als eine Kluft zu sehen geglaubt,
deren völlige Leere dein Versuche, sie ganz zu überspringen, nur wenig wider¬
stehen würde. Wer nur der unmittelbarsten Erfahrung trauen will, die uns
Übersinnliches gar nichts, und in der Sinnenwelt den Menschen als das
Höchste vor Augen stellt, hat in seiner Weise Recht. Wer jedoch einmal
tr,-/ ^ ' ' ^ ^ ^ " ' lMÜ' "'.,'>, .!'^i>'.!!.<kiV.' NM.«l^- ?
Sumer Ahnung verstattet, die Grenzen der sinnlichen Welt zu überfliegen, hat
Unrecht, wenn er ,nicht zugleich die mögliche Grenzenlosigkeit des übersinnlichen
^cichos anerkennt, sondern lieber versucht, das Höchste der bekannten Sinnenwelt
zum unmittelbaren Nachbar des Schlußsteines im Weltbau zu machen. Es ist nicht
unsere Ausgabe, jene grenzenlose Weite durch mehr oder minder kühne und unsichere
Traume auszufüllen; aber aussprechen müssen wir, wie gar nichts uns eine Theorie
!Alt, die in eitlem Vertrauen darauf, in irgend einer dialektischen Methode
die Gleichung für die gesetzliche Curve der Weltentwicklung zu besitzen, den
'ucnschlichcn Geist als die letzte und höchste Verendlichung des Unendlichen,
Menschliches Leben und Dasein als den letzten Ring in der großen Kette von
dessen Selbstentwickluugen erweisen zu können meint. Lassen wir alle diese
^ermessenhcit fahren, aus sicherer Kenntniß der Rangordnung, die uns im
Altbau so hoch gestellt hätte, die Geheimnisse unsers Wesens, unsere Hoff-
nungen und unsere Bestimmung zu deuten, und beginnen wir vielmehr damit,
daß wir ein gebrechliches Geschlecht sind, das vielfach rathlos und hilflos in
^es selbst sich im Zweifel herumwirft und nichts so unmittelbar empfindet,
die Unsicherheit über seinen Ursprung, seine Schicksale und seine Ziele.
Dieselbe erhabene und feierliche Beleuchtung, in welcher der Begriff der
Menschheit dem Blicke der Spekulation zu erscheinen pflegt, ist nur in noch
^eir ergreifenderer Färbung über die stillen Gestalten der Urmenschen gebreitet,
^'le die Ueberlieferung sie am Anfang der Geschichte in der Umfriedigung des
Paradieses oder doch in patriarchalischer Einfalt über die noch junge Erde
wandeln läßt. Wie schnell verändert sich der Glanz auch dieses Bildes,
^>an wir auf das Gewimmel der inzwischen zahllos angewachsenen Mensch¬
heit blicken! Wie schwer fällt es unserer Phantasie, in diesem tausendfach
^mischten Lärm des prosaischesten Verkehrs noch denselben Eindruck zu be¬
rühren, den so natürlich jene kleine vertraute Gemeinde der Urwelt und die
Attische Großartigkeit ihrer einfachen Lebensverhältnisse hervorrief! Gewiß
brechen wir nur ein allen wohlbekanntes Gefühl aus, wenn wir an die de¬
müthigende und verwirrende Wirkung' erinnern, die auf uns der lebendige
Anblick der unermeßlichen Menge der Menschen ausübt, in deren Gewühl
"ufere Persönlichkeit wie verloren zu gehen scheint. Nicht der ganz Einsame
vielleicht weiß sich Gott am nächsten und in seiner unmittelbaren Beziehung
^ ihm geschützt und geschont; wol aber empfindet dieses Glück, wer in der
Etlichen Gliederung der Familie eingeschlossen alle die bedeutungsvollen
^chselvcrhältnisse, die sie Geistern zu Geistern gewährt, in seinem eignen
Tunern sich durchkreuzen fühlt und dabei doch nicht durch den Gedanken an
tausendfältige Wiederholung gestört wird, durch welche an allen Punkten
^' Erde auch diese sinnige Harmonie des Daseins nur als ein gewöhnliches
^ltagsvorl'omnem des Weltlaufs erscheint. Wie unser Herz nicht weit genug
ist, um mit gleich lebendiger Liebe Alles zu umfassen, so scheuen wir uns,
unsere Beziehung zu dem Unendlichen mit Unzähligen zu theilen, und ihre
Stärke, ja die Zuversicht zu ihrer Wahrheit scheint uns in demselben Grade c>b-
zunehmen, in welchem sie sich schrankenlos über eine zunehmende Menge ausdehnt.
Je mehr der Mensch aus einer patriarchalischen Zurückgezogenheit heraustritt
und sich der unerschöpflichen Fruchtbarkeit bewußt wird, mit welcher die Erde
seit undenklichen Zeiten Geschlechter auf Geschlechter entstehen ließ, mannigfach
verschieden an äußerer Gestalt und inneren Anlagen und doch alle im Wesent¬
lichen nach demselben Bilde, ja alle sogar in der Form und den Bedingungen
ihres Lebens den Geschlechtern der Thiere ähnlich, die in noch größerer Fillle-
massenweis entstehend und vergehend, die vcrgessensten Winkel der Erde be'
leben: je mehr dies alles unmittelbar dem Bewußtsein gegenwärtig wird, u»'
so zaghafter wird der Mensch über den Werth seines eignen Daseins zu de"'
ken beginnen, und der Glaube, nichts Anderes, als eine der vergänglichen
scheinungen zu sein, die eine ewige, in Schaffen und Wicdervernichten schrob
gente Urkraft zwecklos hervorbringt und wieder verschwinden läßt, wird s'^
allmülig des Gemüthes bemächtigen.
, Ich will hiermit noch nicht andeuten, daß diese Ansicht historisch zu
gerd einer Zeit im menschlichen Geschlecht die herrschende gewesen sei, obw^
sie sich in der That als die entscheidende Grundstimmung manches Zeitalters
würde erkennen lassen. Ich will sie vielmehr als eine solche bezeichnen,
zu allen Zeiten aufzufinden ist, zwar niemals vielleicht als unbestrittener Glctube-
wol aber als ein weitverbreitetes Gefühl, das seinen Schatten wirksam gew'l!
auf alle menschliche Bestrebungen wirft. Und zwar in doppelter Gestalt
gegnet uns diese geringe Meinung des Menschen von sich selbst. Zuerst, oh>^
durch weitgehende Reflexion geschärft und entwickelt zu sein, tritt sie als e»'
unmittelbares Gefühl der eignen Niedrigkeit und Gewöhnlichkeit in der groß^
Anzahl derer hervor, die, durch die Ungunst ihrer Verhältnisse in einen eng^
Gesichtskreis eingespannt und zum Kampf mit alltäglichen kleinen Hindernis^'
gezwungen, im Grunde nur das Leben leiden, wie ein ihnen aufgenöthig^
Verhängnis). Vertraut mit dem Anblick des Elends, wissen sie wohl, wie d^'
Naturlauf schnöde und haufenweis die Menschen zu Boden zieht, währe"
den Glücklicheren der seltner beobachtete Untergang des Lebens wenigstens
der Feierlichkeit eines außerordentlichen Ereignisses erhebt und tröstet. ^ .
Schattenseiten des Daseins, alle Mißhandlungen durch den gemeinen ^
der Dinge treten unverdeckt in ihre tägliche Erfahrung und bringen jene nu^
standlose Resignation hervor, mit der wir zu allen Zeiten die Masse de
menschlichen Geschlechtes Leben und Tod ertragen sehen. Sie führen rM
sowol das Leben, sondern sie dulden es durch, ohne Ziele im Großen,
im Kleinen auf zweckmäßige Abwehr der augenblicklichen Uebel und die ^
Winnung des nächsten kleinen Gutes bedacht; sie dulden ebenso den Tod, als
eine Nothwendigkeit, der zu entgehen für ihr Leben sich kaum der Mühe lohnte;
denn welcher einzelnen Genüsse sie sich auch erinnern mögen, sie würden kaum
ein bleibendes und großes Gut in ihrem Dasein finden, das sie der Vernich¬
tung abstreiten müßten. Dieselbe Macht, die uns über so viele dunkle Ab¬
gründe des Lebens hinweghilft, mildert auch die melancholische Färbung dieser
Stimmung, ich meine die leichtsinnige Vergeßlichkeit, mit welcher die mensch¬
liche Seele gar verschiedene Gedankenkreise, einen nicht wissend vom andern,
nebeneinander beherbergt, und die uns befähigt, mit dem Hinterhalt einer so
geringen Meinung von dem Werthe unsers ganzen Lebens gleichwol uns voll
und ganz der vergänglichen Lust einzelner Momente hinzugeben.
Was hier als unmittelbares Gemeingefühl des Daseins auftrat, kehrt
durch Reflexion verfeinert und zu bewußtem Glauben gesteigert in zahllos
verschiedenen Formen theoretischer Ueberzeugungen wieder.
Ob die französische Thronrede etwas zur Aufklärung der Situation beitragen
^'rd, muß sich in den nächsten Tagen zeigen; wir erwarten es kaum. Zu einer
offnen kriegerischen Demonstration wird sich der Kaiser schwerlich versteh« — es liegt
^ auch nicht die kleinste Veranlassung vor, und Versicherungen der Friedensliebe
An Allgemeinen werden bei dem verschüchterten Publicum keinen Glauben finden,
-^us der Regierung ungefähr vorschwebt, spricht sich wol in der Broschüre von La
uerronniere aus, die neben einer Reihe dreister Unwahrheiten doch einzelne des
Nachdenkens werthe Bemerkungen enthält.
. Die Lage der Dinge ist in der That ganz unerhört; seit einem Monat ist En-
^°Pa in fieberhafter Aufregung, ohne daß man sich über den Grund Rechenschaft
^ben kann. Und diese Aufregung will mehr sagen, als die angenehme Abwechslung
Frost und Hitze bei einer Schaudcrerzählung: ein Staat nach dem andern sieht
!^ zu Rüstungen veranlaßt, die trotz der großen Verbesserung der Transportmittel
girier viel Geld kosten; die Börse ist im beständigen Fieber, und darüber geht das
Mnogen zahlloser Familien zu Grunde. Die Krisis der vorigen Jahre hatte sich
panisch entwickelt, das Unheil dagegen, das uns heute bedroht, ist muthwillig
^aufbeschworen. yuiäcMÄ ahura-ut reges, pleotuntur ^.obivi.
Und das Schlimmste ist, daß die Dinge bereits so weit gekommen zu sein
seinen, daß sie sich dem Willen und der Berechnung entziehn, sich durch ihre eigne
"se vorwärts wälzen. Vielleicht hat der Kaiser keinen Augenblick ernstlich an Krieg
^dacht: wird er, nachdem das kriegerische Feuer einmal angeregt ist, dem Eiser
^es Heers, wird er der Aufregung der Italiener Widerstand leisten können?
Sonst übernahm man einen Krieg doch nur, um einer Rechtsverletzung ent¬
gegenzutreten, oder unter Anrufung von Nechtsgründen einen Staat zu gewisse»
Zugeständnissen zu zwingen. Wenn .aber Frankreich und Sardinien Oestreich mit Krieg
bedrohen, so liegt nicht blos kein Rechtsstreit vor, sondern es fehlt gradezu an cinco
Gegenstand. Oestreich hat den beiden Staaten nicht blos nichts zu Leide gell)«",
sondern es weiß gar nicht, was sie von ihm wollen. Es scheint auch noch
keine Anforderung an die kaiserliche Regierung gestellt zu sein, das Ganze hält sich
in der dunkeln Nebclgestalt alarmircnder Gerüchte, und gewinnt doch mehr und mehr
Realität.
Zuerst wollte man Oestreich in den Donauangelegcnheiten reizen. Dieselbe
Macht, welche vor fünf Jahren den furchtbaren Krieg gegen Rußland unternahm, nW
die Integrität der Türkei zu erhalten, ist jetzt mit Rußland im Bunde, sie so viel
als möglich zu schwächen. Oestreich hat das natürliche Interesse, diesen Bestrebungen
Widerstand zu leisten; es ist darüber auch sehr verdrießlich; aber es hütet sich M
wohl, diesem Verdruß einen thatsächlichen Ausdruck zu leihen, Hier ist also kein
Object des Streits — denn die Affaire von Belgrad, wie sie jetzt liegt, kann doch
nur ein Kind als solchen betrachten.
So bleibt nur Italien übrig. Was verlangen Frankreich und Piemont vo»
der östreichischen Regierung? Worin besteht der Schmerzensschrei, dem sie Abhelfe»
wollen?
Neapel wollen wir ganz bei Seite lassen; ebenso gut könnte man Oestreich
dasür verantwortlich machen, wenn in Peking Mißbräuche vorkommen. In Tös'
caua und den übrigen Herzogthümern hat man von Beschwerden nichts gebs^
Das lombardisch-venetianische Königreich ist mit der kaiserlichen Regierung unzufr^
den - das war es aber schon seit vierzig Jahren; ein neuer Grund des MißvergN»'
gens ist nicht vorgekommen, was die Lombarden verlangen, ist nicht deutlich, und
selbst wenn das alles anders wäre, so bleibt die Antwort Oestreichs in voller Kräfte
ihr habt ebenso wenig Recht, euch in unsre innern Angelegenheiten einzumischen'
als wir ein Recht haben, uns der Unzufriedenen in euern Besitzungen anzunehmen«
an denen es doch auch nicht fehlt. Kraft der wiener Vertrüge ist Beifall oder Miß'
fallen der Lombarden und Vcncticincr für Oestreich eine innere Angelegenheit.'
Oder spielt der Papst in diesen Streitsachen eine Rolle? In der That, die eng
lischen Blätter, die eine Vermittlung versuchen, und die, wie auch die englische Thron'
rede, das Recht der Verträge aufrecht halten wollen, weisen Oestreich sehr sah«^
wegen der fehlerhaften Regierung des Kirchenstaats zurecht. Frankreich, welches «roh
seiner Besatzung in Rom, trotz seines Schutzes, der allein noch die Unzufriedenen
im Zaum hält, nicht so viel Einfluß beim heiligen Vater besitzt, ihn zu ernstliche"
Reformen zu stimmen, verlangt von Oestreich, es solle ihm darin zu Hilfe komm'»'
Das Verlangen mag gerechtfertigt sein, aber Oestreich deshalb, falls es seinen Einfluß
dazu nicht anwenden will, oder ihn vielleicht auch so weit gar nicht ausdehnen dan
(Pius IX. ist doch wol ebenso souverän als irgend ein andrer Fürst ?), mit Krieg i"
bedrohen, das findet doch in der ganzen Geschichte keine Analogie.
Hinter dem allem spielt zwar versteckt der Wunsch, Oestreich möge seine itcilic'
Nischen Besitzungen aufgeben, etwa an Sardinien, oder als Republik, oder vielleicht
an einen Prinzen des Hauses Bonaparte. Der Wunsch läßt sich höre«, aber vo»
solchen Wünschen ist vor der Kriegserklärung doch selbst Kaiser Napoleon I. nicht
^gegangen, und wenn die Franzosen in diesem Fall von dem Nationalitäts-
^'incip schwärmen, so sollten sie doch den Wuthschrei nicht vergessen, mit dem sie den
Beistand aufnahmen, den Deutschland seinen Stammverwandten in Schleswig-Hol-
stein ljeb,. Ja noch, heute werden sie ganz wild, wenn sie auf dies Capitel zu sprechen
kommen.
Es ist also, bei Lichte besehn, die Fortsetzung der alten Bourbonischcn Tcnden-
in Italien mit Oestreich zu ringen; nur daß diesmal — vielleicht weil die Ar-
^ce dringender als je beschäftigt sein will — das Verlangen ungcschcuter und nai-
hervortritt. Die europäische Gesellschaft aber ohne alle innere Nothwendigkeit
"Ut einem furchtbaren Kriege bedrohn, sollte doch selbst denjenigen Staatsmännern,
das Stichwort: 1'emxiro o'ost, eg, xg,ix! erfunden haben, als ein Verbrechen
scheinen.
So weit werden die östreichischen Blätter mit unsrer Auseinandersetzung zu-
Medcn sein - dazu möge noch die volle Anerkennung kommen, welche Oestreichs feste
männliche Haltung während dieser Krisis verdient. Mögen sie nun aber auch
Kehrseite betrachten.
Mit der Berufung auf die Verträge allein ist es noch nicht gethan — ganz ab¬
ziehen davon, daß die Beschlüsse des wiener Kongresses durch die Einverleibung
^akaus in Oestreich bereits einen starken Riß erlitten haben. Falls eine Macht sich gegen
^ Recht der Verträge auflehnt, wird man sich über die Folgen nur dann richtig
°Ncntiren, wenn man sich die Frage stellt: welche Mächte haben ein Interesse an der
^Ufrechthaltung dieser Verträge?
Oestreich verdankt dem wiener Kongreß eine sehr glänzende, aber auch eine be-
kukiichc Stellung. Es ist nicht nur in seinem jetzigen Besitzstand abgerundet, son-
^'U es hat durch denselben Gelegenheit, seinen Einfluß nach allen Seiten auszu-
reiten und zu erweitern. Es führt vermöge seiner Bereitwilligkeit, die italienischen
»Ursten — zum Theil seines eignen Stamme's — gegen die Aufstände ihrer Uuter-
^nen zu beschützen, thatsächlich die Hegemonie in Italien. Aber diese Stellung
"^ehe ihm Frankreich seind und verstrickt es selbst, mehr als sür seine Interessen
^"'sehenswerth, in das Netz des Ultramontanismus.
Seine Lage nach Süden und Osten macht es zum Schirmherr« der Türkei und
^'heißt jhn, bei günstiger Gelegenheit die reichste Beute, Bosnien, Serbien, Moldau,
alcichcj. — wo hat irgend ein anderer europäischer Staat eine Nachbarschaft, die
die Hoffnung eines so reichen Gewinns zuführte? — Aber freilich gibt ihm diese
einen gefährlichen Nebenbuhler, der im Fall eines großen Conflicts leicht dar-
^ ' rechnen kann, die ihm homogenen Elemente dem östreichischen Staatskörper,
^ sie organisch nicht angehören, zu entziehn : — Galizien, die slawischen Vorlande,
'^"ehe ganz Ungarn.
. , Frankreich und Nußland sind Oestreichs natürliche Feinde; wenn es in der bis-
^n, theilweise wenigstens nach „Principien" geleiteten Politik zwischen beiden
s>^ Bündniß gekommen ist, so ist der Grund zum Theil doch darin zu
^in, daß Oestreich (j. B. 182») seinen Widerstand gegen Rußlands ehrgeizige
"bourse schnell aufgab, so bald es Ernst werden sollte. Das ist nun anders
worden.
Wenden wir uns nach der dritten Seite. Oestreichs Einfluß in Deutschland
ist seit zehn Jahren erheblich gestiegen. Seit Olmütz führt es thatsächlich fast ebenso
die Hegemonie über die deutschen Fürsten — mit Ausnahme Preußens — wie in
Italien; wiederum eine glänzende, aber bedenkliche Stellung.
Kein Staat hat nämlich so viel Veranlassung, mit dem wiener Congreß Mi"'
frieden zu sein; so viel Veranlassung, den Umsturz seiner Beschlüsse zu wünschen, als
Preußen. Der wiener Cor-graß hat ihm eine Gestalt gegeben, die eine Monstrosität
ist. Dieser Staat, seinen Erinnerungen nach und selbst in der formellen Anerken¬
nung der übrigen Staaten eine europäische Großmacht, vermag seine Glieder weni¬
ger zu regen, als Hannover oder Mecklenburg. Seine Besitzungen hängen nicht
zusammen, die See ist ihm allerwärts abgeschnitten, es kann ohne den guten Wille»
seiner Nachbarn nicht einmal eine zusammenhängende Handelspolitik fuhren, und
wenn ihm als „Großmacht" das Recht der souveränen Kriegsführung zusteht -— es
kann es nicht einmal gegen Dänemark oder die Schweiz in Ausführung bringen-
Der wiener Congreß hat ihm die Nothwendigkeit auferlegt, sich nach Arrondirunge"
umzusehen, und infolge dieser Lage betrachten alle deutschen Mittel- und Klein¬
staaten Preußen mit Mißtrauen — mit gerechtem Mißtrauen, insofern Preußens
Lage, wie sie aus dem wiener Congreß hervorging, mit Nothwendigkeit die Begierde
in ihm erzeugt, welche die deutschen Fürsten bei ihm argwöhnen. Dieser Argwohn
treibt die Fürsten in ebenso natürlicher Folge zum Anschluß an Oestreich.
Was hat Oestreich gethan, um Preußen mit dieser Lage zu versöhnen? ^
hat die einzige Form, in der sich Preußen, ohne Uebergriffe auf Kosten seiner Nach'
vam, zu einem geschlossenen Ganzen abrunden konnte, die Form der Union
um es einmal klar auszusprechen — es hat die Union hintertrieben, es hat
dem Sieg bei Olmütz Preußen gezwungen, seine Vergangenheit Lügen zu straft
und die Reaction in Kurhessen, das Dänenthum in Schleswig-Holstein zu restituiren'
Oestreich hat mit dieser Politik unablässig fortgefahren, es hat namentlich in den
letzten Jahren mehr und mehr darauf hingearbeitet, die Hegemonie in Deutschland
an sich zu reißen und Preußen in die Lage einer Mittelmacht herabzudrücken.
Und unter diesen Umständen rechnet Oestreich im Ernst darauf, Preußen werde,
blos um der wiener Vertrüge willen, Gut und Blut daran setzen, ihm seinen ^
sitzstand in Italien zu sichern? Wir reden hier nicht von Wünschen, moralisch^
oder rechtlichen Anforderungen, wir reden von Thatsachen; und daß es eine Log"
der Thatsachen gibt, wird Oestreich besser wissen als irgend ein andrer Staat.
Verlangen an Preußen, es solle, ohne auf die auswärtige Politik Oestreichs irgend¬
wie einzuwirken, als getreuer Schlcpptrnger alle Gefahren derselben theilen, ist ebenso
absurd als die Redensart, Deutschland am Po zu vertheidigen. Was hat den»
Oestreich sür Deutschland gethan? Die karlsbader Beschlüsse u. s. w., die Pa^
sication Kurhesseus und Holsteins! Selbst 1848 ist bei ihm die Revolution ausge'
brochcn, bei ihm ha,t sie am längsten gedauert, und ist erst durch Rußland besieg
worden. Freilich hat es dann viel besser als Preußen verstanden, die Reaction «u^
zubanden (grade wie das Junkcrthum), aber das wird ihm Preußen schwer^
danken.
Noch einmal: was wird Oestreich thun, um Preußen mit dieser Lage zu ver¬
söhnen und es zu bestimmen, in der furchtbaren Gefahr, die Oestreich bedroht, rne^
thun als seine Bundespflicht erheischt? Je entschiedener wir wünschen, daß es
Ü'fesche, daß Deutschland sich den Franzosen gegenüber als Ganzes fühle, desto
sicherer dürfen wir von Oestreich die Einsicht erwarten, daß eine solche Einigung
Hauptsächlich ihm zu Gunsten kommt und einen ernsten Dank, nicht blos in Wor¬
ten verdient.---
— Wenn die französische Thronrede an einigen Stellen als friedcverhcißend
ausgenommen ist, so sieht man recht, was Worte thun. Der Kaiser versichert zwar,
^ hoffe, daß der Frieden erhalten werde; da aber in der Welt niemand ist, der
ehr stört, als grade der Redner, so ist diese Hoffnung —eine Drohung. Daß der¬
selbe Redner die Aufregung bedauert und sich darüber verwundert, welche seit zwei
Monaten die Börse von ganz Europa durchdringt, ist um so liebenswürdiger, da
^ sich schon seit zwei Monaten bemüht, durch die lichtvollen Auseinandersetzungen
(doch wol der gouvernementalen Presse?) das europäische Publicum aufzuklären.
Die Thronrede, commentirt durch die nur wenige Tage vorher erfolgte Veröffent¬
lichung der Broschüre von La Gucrronniöre. heißt: erfüllt ihr nicht, was ich will,
so sehe ich mich in der traurigen Lage, Krieg zu machen.
Man erwäge nur die Logik jener Broschüre: 1) ohne Reformen geht Italien
W Grunde; 2) es kann und darf nicht zu Grunde gehn; 3) Oestreich kann, beim
besten Willen, seinen italienischen Provinzen keine Reformen gewähren; 4) es kann
deshalb nicht dulden^ daß die andern italienischen Staaten bei sich Reformen ein¬
führen; 5) Italien kann sich aus eigner Kraft nicht helfen; — und verbinde damit den
^atz der Thronrede: „das Interesse Frankreichs ist überall da, wo es gilt, die
^ache der Civilisation geltend zu machen!" — so ist die Schlußfolgerung doch wol
^hr einfach.
Auch die englische Thronrede hat man im Allgemeinen viel zu günstig für
Östreich interpretirt. Allerdings verspricht sie, das Recht der Verträge aufrecht zu
halten, aber die Minister erklären ausdrücklich, und ihre politischen Gegner stimmen
ehren heftiger bei, daß die Besetzung der Legationen, daß die Einmischung Oestreichs
^ die innern Angelegenheiten der italienischen Staaten außerhalb dieses Rechts fällt,
^cum Napoleon also nun die römische Frage in den Vordergrund schiebt, so wird
^ bei England keinen ernsten Widerstand finden.
Mittlerweile ist ein Ereigniß eingetreten, welches den Conflict vielleicht befehlen-
^ÜtN, vielleicht aber auch — ihn lösen kann. Die Dvppclwahl Cufas in der Mol-
^ und Walachei ist eine offne, dreiste Verletzung der Conferenzbeschlüsse. Wenn
Rußland und Frankreich dieser Verletzung beitreten, so haben Oestreich und die Türkei
^ offenbarste Recht, den Punkt als einen oasus dolli zu betrachten.
Vielleicht entschließt sich Oestreich, das nicht zu thun; vielleicht gibt es in dieser
Kche nach, um in der italienischen Frage ungestört zu bleiben. Denn Frankreich
scheint es vor allen Dingen darauf anzukommen, daß irgend etwas erreicht wird:
es die Civilisation an der Tiber nicht fördern, so beschützt es sie an der Donau,
die Rumänen sind ja auch Nachkömmlinge der Quinten.
, Vielleicht genügt dieser Preis; vor allem aber sollten die süddeutschen Blätter
^ehe immer in das Geschrei ausbrechen: kommt denn Preußen nicht bald?!
er hat noch nichts zu sprechen; es hat nichts zu fordern, es hat nicht zuPreuß
drohen; man sollte jene Wünsche an Oestreich adressiren; hat dieses sich gegen Preu¬
Deutsche Geschichte vom Tode Friedrich des Großen bis zur Grün¬
dung des deutschen Bundes. Von Ludwig Hauffer. Zweite veränderte und
vermehrte Auflage. Erster Band. — Berlin, Weidmann. — Wenn man im gegen¬
wärtigen Augenblick das deutsche Publicum im Großen und Ganzen der Apathie
und des Materialismus beschuldigt, so ist niemand besser im Stande, dies unbe¬
gründete Vorurtheil zu widerlegen als die Vcrlagsbuchhändler: zu keiner Zeit haben
ernst geschriebene Werke, die mit dem Verstand zugleich das Gemüth anregen, 1^
viel Anklang gesunden als jetzt. Mit besondrer Freude begrüßen wir die zweite
Auflage dieses echt patriotischen Buchs, welches zugleich die wissenschaftlichen Anfor¬
derungen so viel als möglich befriedigt. Wir behalten uns vor, bei dem weiteren
Erscheinen des Werks noch einmal ausführlicher darauf einzugehn, namentlich
Bezug auf die neuen Verbesserungen. Hier nur einige Bemerkungen. „Es galt zu¬
nächst, sagt der Verfasser in der Vorrede, an der Form zu feilen, hier und da auch
stark zu kürzen, überhaupt ein größeres Ebenmaß zwischen den ersten und letzten
Bänden des Werks herzustellen. Zu Verbesserungen dieser Art war sast auf jedem
Blatt Anlaß vorhanden. Aber auch in dem Stoff war vieles zu ergänzen und zu
berichtigen. In den vier Jahren, die seit der ersten Herausgabe verstrichen sind,
hat die Quellenliteratur dieses Zeitraums sich nicht unbedeutend erweitert. Außer
vielen Monographien über einzelne Punkte erinnern wir nur an Marmvnts, Soults
und Eugens Memoiren, an die Fortsetzung von Subels Werk, an Miliutins
schichte des Kriegs von 1799, an Bernhardis Denkwürdigkeiten aus Tolls Leben,
an Nadetzkys Denkschriften, an die Auszeichnungen von Ledebur und Reiche. Außer'
dem sind mir ungesucht von dieser und jener Seite authentische Mittheilungen a»6
den Familien bctheiligter Personen zugekommen, und mehre ehrwürdige Veteranen
haben sich die Mühe nicht verdrießen lassen, einzelne Abschnitte namentlich aus den
spätern Bänden mit schätzenswerthen Beitrügen oder kritischen Randglossen zu ver¬
sehen." — Nicht unwesentlich sind ferner die Verbesserungen, die wir der Verlags
Handlung verdanken, der erste Band enthält 544 Seiten sehr engen Druck, und
kostet nur 1 Thlr. 20Ngr.; das ganze Werk von vier Bänden also 6 Thlr. 20 M'
ein Preis, wie wir ihn nur noch bei den auf das Alterthum bezüglichen Schrift^
derselben Verlagshandlung antreffen. —'-
Bulgarins Memoiren. Abrisse von Geschehenem, Gehörten und Erlebten
Aus dem Russischen übersetzt von E. v. R ein that und H. Clcmcnz — Jena, M««^
(Dazu: die Leibeigenschaft in Rußland von Jo an Golovin. —- Leipzig, Hübner.)
Wir werden über das interessante Werk nach Vollendung desselben berichten; ebenso
über die: Geschichte von Brasilien von Heinrich Handelmann (Berlin,
Springer). Der Verfasser hat sich durch seine Geschichte der amerikanischen Koloni¬
sation rühmlichst bekannt gemacht. —
Briefe und Dichtungen Friedrichs des Großen in biographisch geord¬
neter Auswahl, mit zahlreichen Anmerkungen, von R. Schwalb.— Essen, Bädecker. —
^>ne sehr zweckmäßige Sammlung, allen Verehrern des großen Monarchen zu em¬
pfehlen (266 Seiten, Preis 1 Thlr. 5 Ngr.).
Betrachtungen und Urtheile des Generals v. Aster über die poli¬
tischen, kirchlichen und pädagogischen Pcirteibewegungcn unsers Jahr¬
hunderts. Mitgetheilt vom Geh. Regierungsrath Elters. 1. Bd. — Saar¬
brücken, Naumann. — Der bei weitem größere Theil des Buchs handelt über den
Kampf des Grasen v. Giech gegen den Knicbcugungszwang des protestantischen
Militärs in Baiern, und theilt über diesen tragikomischen Conflict einige Thatsachen
""t, die sür den Politiker und den künftigen Historiker von Interesse sein werden,
^«n kann nicht oft genug wiederholen, daß wenn die Katholiken für die Freiheit
Kirche streiten, sie damit nichts Andres meinen, als die Unterwerfung des
Staats durch die Kirche. —
Der gewaltsame Kinderraub zu Bologna. Zugleich ein Wort der Warnung
sür all,. Cvneordatsfrcunde von Fr. Albrecht. — Ulm, Nübling. — Es ist gut,
^'on allen Seiten auf die bekannte Mortaraangclcgcnhcit hinzuweisen, um den Zwei-
ten>den beständig daran zu erinnern, wie wenig die Partei jenseit der Berge Willens
'se, irgend einen ihrer alten Ansprüche fallen zu lassen. —
Die Hohenzollern am heiligen Grabe zu Jerusalem, yisbesondere die
^gerfahrt der Markgrafen Johann und Albrecht von Brandenburg im Jahr 1435. Aus
Quellen bearbeitet von Dr. F. G eis heim. — Berlin, F. Duncker. — Den
Mittelpunkt bildet Dr. Hans Lochncrs interessante Chronik jener Pilgerfahrt, die
^' die Auffassung des 15. Jahrhunderts charakteristisch ist, der übrige Theil des
. "ass ist wesentlich aus antiquarischen Notizen von sehr reichhaltigem Inhalt zu-
^Mmcngescht. —
Scphardim. Romanische Poesien der Juden in Spanien. Ein Beitrag zur
^teratur und Geschichte der spanisch-portugiesischen Juden. Vonvr.M. Kayserling.—
^pzig, Mendelssohn. — Bei dem umfangreichen und bis jetzt im Ganzen noch wenig
Achteten literarhistorischen Material, das der Verfasser beibringt, ist zu bedauern,
^ er namentlich in Bezug auf das Chronologische und Biographische wenig für
Tönung und Gruppirung gesorgt hat. Freilich war hier vieles noch ganz aus
'u Rosen zu arbeiten. Den elegischen Ton mag man der gerechten Sympathie
^ die Opfer der Inquisition gern nachsehn, wenn man ihn auch etwas einfacher
^möchte. Die mitgetheilten Proben aus der spanisch-jüdischen Lyrik hätten lieber,
^^sehn von dein Originaltext, in prosaischer Uebersetzung mitgetheilt werden sollen;
lyrische Talent geht dem Verfasser ganz ab. Man vergleiche folgende Ueber-
?olla>n alö LsMii», INU^ Fi'kMt 8g,na
1<'no »yuciLt». alö ^.<Zeug,z?,
?ues la, g.IjÄma, hö noi'iÄina,
Z?ol- culpa cllZ Larcel^.
Johann de Espanna, ein wichtiges Glied
Von Adonai wurde bestürmet.
Weil sehr die Aljama in Schrecken gerieth
Da Barselay Sünden aufthürmet.
Und so sind die Uebersetzungen durchweg; glücklicherweise ist meist das Original
mitgetheilt. Die Anmerkungen sind Belege einer tief eingedrungenen Gelehrsamkeit.
Das Leben Georg Stcphensons. Nach dem Englischen des Samuel
Sinnes. — Leipzig, Lorck. — Es ist ein Auszug aus der großen, 546 Seite"
starken Biographie, zweckmäßig zusammengestellt. — Bekanntlich ist Stephcnso»
der bedeutendste Verbessere! der Locomotiven, dem seit 1814 das System der Eisen'
bahnen vielleicht ebenso viel verdankt als den ersten Erfindern. Die Kraft und
Beharrlichkeit des Mannes macht einen um so erfreulichem Eindruck, da sie zugleich
von schöner Menschlichkeit getragen wird. Das Büchlein verdient allgemeine Theil'
Die Chemie der Gegenwart für Gebildete aller Stände. Vo>>
Friedrich Schoedler. — Leipzig, F. A. Brockhaus. 1859. — Ein vervollständigter, w't
zahlreichen Illustrationen versehener Abdruck von Aufsätzen, welche vor einigen 2^
ren in der „Gegenwart" erschienen, gut geordnet und faßlich dargestellt. Der erste
Abschnitt zeigt die wichtigsten Stoffe, Gesetze und Verbindungen der Chemie, i>er
zweite gibt einen Ueberblick über die Geschichte dieser Wissenschaft, die folgend^
bezeichnen die Wechselwirkungen zwischen dieser und den übrigen Wissenschaften u»^
die Einflüsse der Chemie aus die Entwickelung der Industrie und Landwirthsch^'
der letzte Abschnitt endlich enthält Andeutungen über das Studium der Chemie let^
seine Bedeutung für den Unterricht in höheren Schulen. —
Das Buch der Erde. Naturgeschichte der Erde und ihrer Bewohner.
Dr. G. H. Volgcr. 1. Band. — Leipzig. Otto Spamer. 1859. — Eine gute pop"'
lar gehaltene Darstellung der physischen Geographie, die sich in vier Abtheilung^
die Erde als Stern unter Sternen, die Geschichte der Erde, die Oberfläche und ^
Innere der Erde mit seinen Schätzen, über die wichtigsten Fragen des von den
Wissenschaft behandelten Gebietes verbreitet und mit einer großen Anzahl meist
faltig ausgeführter Tonbildcr und Holzschnitte ausgestattet ist. —^
Das Reich der Wolken. Vortrüge über Physik des Luftkreises und
atmosphärischen Erscheinungen. Von Dr. H. Birnbaum. — Leipzig, Otto Spa«^
1859. — Diese Vorträge und Gespräche behandeln die Luft unter dem Einfluß
Schwerkraft und Elektricität, die Luftpumpe, den Schall und seine Gesetze, die 2>
wegung der Lust und ihre Folgen, die Phänomene des obern Luftkreises, Rege '
Hagel u. a.. die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre, Elektricität,
u. f. w. Die Darstellung ist auf ein größeres Publicum berechnet, die Ausstatte ^
— drei Tonbildcr und einige neunzig Holzschnitte — gut gewählt und großcntb/
gut ausgeführt
gebracht sind, ist uns unerklärlich.
?iDie Richtung des letzten großen Krieges brachte es mit sich, daß man
Unter der orientalischen Frage meist nur die Gesammtheit der Verhältnisse im
wrden des Bosporus verstand. Die letzen Jahre haben daran erinnert, daß
^'se Frage noch eine zweite südlich von Konstantinopel liegende Gruppe von
^^hältnissen betrifft. Handelte es sich dort um die Donau, das schwarze
^'er und die Herrschaft über die Wasserstraße, welche letzteres mit dem
Mittelländischen verbindet, so ist der Mittelpunkt der Bestrebungen und Gegen¬
wirkungen hier die schmale Landenge, welche das Mittelmeer von dein rothen
^unt. Am Horizont steht bei beiden Vorfragen der Gedanke an die Herr¬
schaft über Indien. Die erstere ist 185«. bis auf Weiteres entschieden,
heißt, wie wir alle wissen, nicht entschieden, sondern vertagt worden.
^ zweite, welche zunächst in der Gestalt einer bloßen handelspolitischen
"^He auftrat, ist in dieser Gestalt jetzt daran, entschieden zu werden, oder
"Mmehr, sie ist bereits entschieden.
Das Unternehmen des Suezkauals darf, wenn Gladstone in sei-
''^ Behauptung, die besten Richter des Werthes eines Unternehmens seien
^. welche ihre Capitalien darin anlegten oder nicht anlegten, Recht hat, als
^scheitert betrachtet werden. Die Unternehmer hatten sich eines guten
' Heils der europäischen Presse versichert, um die öffentliche Meinung zu ge¬
winnen; v. Lcsseps, die Seele des Ganzen, war bald in England, um durch
^'tings zu Gunsten seines Planes zu wirken, bald in Konstantinopel und
üiro, um die Erlaubniß zum Bau zu erlangen, bald in Paris, bald in
'^n und Trieft, um seinen Zweck zu fördern, und an ihm liegt es sicher
daß der kreisende Berg eine Maus geboren hat. Alles war aufs ge-
^ckteste angelegt, und die Hnndelswelt sollte nun ihr Urtheil sprechen. Die
ubscvjptivnen wurden eröffnet, und einige Wochen schien es, als würden sie
den!erwünschten Erfolg haben. Die aus Paris inspirirter Blätter vertün-
daß ein gewaltiger Andrang nach den Bureaux der Compagnie statt-
daß Gefahr im Verzüge sei, daß eine Reduction der Zeichnungen auf
den vierten Theil bevorstehe, und dadurch verführt mögen acht wenige Gläu¬
bige viermal so viel Actien genommen haben, als sie ursprünglich beabsich¬
tigten. Jetzt aber ergibt sich, daß trotz dieser unvorsichtigen Hast kaum das
erforderliche Capital, und auch dieses natürlich größtentheils nur auf dem Pa¬
pier zusammengekommen ist. England und der Norden von Deutschland haben
sich, wie es scheint, so gut wie gar nicht betheiligt, Oestreich, von wo man
eine Zeit lang beträchtliche Beiträge erwarten durfte, mit einem verhältni߬
mäßig sehr bescheidnen Capital, und so fällt die Hauptsumme der Zeichnungen
aus Frankreich, an dessen Börsen infolge jener Ueberladung der Einzelnen mit
Actien letztere bereits mit 26 Procent Verlust ausgeboten werden.
Daß die Trübung des politischen Himmels dazu beigetragen hat, die
Hoffnungen auf den Erfolg des Unternehmens herabzustimmen, kann zugestan¬
den werden. Der eigentliche letzte Grund des Mißlingens aber liegt tiefer.
Er liegt darin, daß alle Voraussetzungen, auf die der Lesscpssche Plan gebaut
war, sich bei näherer Betrachtung als mehr oder minder unhaltbar bewiesen.
Man hatte die Vortheile, die das Unternehmen bringen sollte, zu hoch, die
Hindernisse, die sich der Ausführung und noch mehr der Erhaltung des Kanals
entgegenstellen, zu gering angeschlagen, und man hatte endlich die politischen
Bedenken, die sich für einen der hauptsächlich betheiligten Staaten bei dem
Project erheben mußten, nicht in ihrer ganzen Stärke gewürdigt, oder sich
gestellt, als ob man sie nicht anerkenne, als ob sie wenigstens leicht zu be¬
seitigen wären. Jetzt erfuhr man, daß die außerfranzösische Handelswelt, be¬
sonnener als man sie geglaubt, jene Vortheile und jene Hindernisse sehr wohl
abzumessen und jene Bedenken sich vollkommen deutlich zu machen verstan¬
den habe.
Die Hauptpunkte, die in Frage kommen, sind: i) die wahre Bedeutung
der Verkehrsströmung zwischen Europa und Ostasien; 2) die Möglichkeit der
technischen Ausführung des Kanals und das Verhältniß zwischen den Kohle"
und seiner Erhaltung und dem Ertrag seiner Benutzung; damit in Verbindung
3) das Maß, in welchem die Durchstechung der Landenge von Suez die Fah^
von unsern Häfen nach den indischen, chinesischen und australischen abkürzen
würde; endlich 4) die Beziehung des Unternehmens zur englischen Politik
und der Politik der Mittelmeerstaaten, namentlich Frankreichs.
Die Vertheidiger des Projects wiesen zunächst auf die große gewerbliche
Productionskraft Europas hin, die eine entsprechende Consumtionskraft n»
außereuropäischen Nohproducten erzeuge, und nahmen dann an, daß Indien
der beste Markt sei, aus dem diese Kräfte sich ausglichen. Der Verkehr zu"'
sehen den Ländern des Indus und Ganges und den Hafen- und Fabrikplätzen
Europas umfasse die ungeheure Summe von ziemlich zwei Millionen Tonnen
Last — eine Güterströmung von Osten nach Westen, die auf Erden ihres Gleiche"
">ehe habe. Zwischen diesen beiden großen Polen der Erzeugung und des
Verbrauchs liege nur ein Weg, der unverhältnißmäßig viel kürzer sei, als der
"lec von Vasco de Gama entdeckte, und dieser Weg gehe eben über die Land-
^'ge von Suez. So lange es daher einen Welthandel zwischen dem Osten
"ud Westen der alten Welt gegeben habe, so lange seien die Blicke auf jenen
Damm zwischen dem rothen und dem Mittelmeer gerichtet gewesen, und die
Bedeutung des asiatisch-afrikanischen Panama werde in dem Maße steigen,
"is sich die Productions- und Consumtionsvcrhältnisse der beiden Pole in
^thier und Europa ordneten und mehrten.
Darauf ist zu erwidern, daß dieses Räsonnement nur Geltung hätte,
^um der Kern und Schwerpunkt der europäischen Gewcrbs- und Handels¬
tätigkeit noch im Süden, in den Mittelmeerländern läge, nicht schon seit
Mehr als zwei Jahrhunderten nach Norden hinaufgerückt wäre. Im Alter¬
tum und bis zum sechzehnten Jahrhundert war der Nil und das rothe Meer
allerdings der Verkehrsweg des Handels Europas, Westasiens und Nordafrikas
Mit Indien. Die Frage, ob Ophir, das biblische Kalifornien, in Indien zu
^eben, ob Phönizier und Aegypter nach Indien gefahren, bleibe hier uner-
^lere. Zur Zeit Strabos gelangten die kostbaren vegetabilischen Erzeugnisse
Indiens durch Vermittlung arabischer Kaufleute über Alexandrien in die rö¬
mische Welt.
Ein directer Verkehr griechischer Handelsfahrzeuge mit Ostasien begann
unter Domitian, und zwar soll ein Seecapitän Hippalus der erste gewesen
^'n, welcher die Etcsien, d. h. die in jenen Breiten je sechs Monate herr¬
schenden Nordost - und Südwestmoussons zur Ueberfahrt aus dem Meerbusen
Aden nach Muziris, dem großen Stapelplatz Malabars, benutzte. Die
^usel Sokotora scheint damals eine der Hauptstationcn des abendländischen
Handels mit Indien gewesen zu sein; denn es siedelten sich dort griechisch
Ödende Einwanderer an, und vermuthlich ist auch das Christenthum auf die¬
len Wege nach Indien gelangt. Wann der alte römisch-indische Handels-
^'lehr durch das rothe Meer einschlief, ist unbekannt; doch wird er über
«s Jahrhundert der Hedschra nicht fortgesetzt worden sein. ' Die Ver¬
ödungen der 'Araber und der Perser mit Indien sind dagegen nie unter-
'^chen worden, ja die Araber dehnten ihren Verkehr sogar bis China aus.
°er ihre Handelsstraße ging mehre Jahrhunderte hindurch nicht über das
^the Meer, sondern sie gaben dem persischen Meerbusen den Borzug, wo
schon unter den Kosroen Obolla an der Stelle des heutigen Bassora als der
^»ßte Stapelplatz ostasiatischer Erzeugnisse blühte. Erst als Aegypten sich
^°'u Khalifat losriß, als es nach dem Verfall des Seldschukenreichs und der
, Reibung der Lateiner aus dem heiligen Lande als die Hauptmacht der
^lcunitischen Welt dastand, begann sich der Strom des indischen Verkehrs
*
wieder durch das Bab El Mandeb zu ergießen, bis endlich Alexandrien sich
beinahe das Monopol des sarazenischen Handels im indischen Ocean erwarb.
Hier war in dieser Periode alles zu finden, was aus der für die Lateiner jeht
märchenhaft geheimnißvoll gewordenen indischen und chinesischen Welt kaun
Hier kaufte man Aloe aus Sokotora, Gold und Elfenbein von Mozambique,
Musselin aus Kambaya, Perlen von den Koromandelbänkcn, Smaragden und
Rubinen von Ceylon, Gewürznelken von den Molukken, Pfeffer und Jngwcl
aus Malabar, Kampher aus Sumatra, Sandelholz aus Timor, Moschus aus
Tonking, Seide und Porzellan aus China. Diesem Waarenzug dankten die
Sultane von Kairo ihre besten Einkünfte, Alexandrien seinen Ruf als erste
Handelsstadt der Welt, Genua und Venedig und die Handelsstädte Süddeutsch'
lands ihren Reichthum.
Dieser Verkehr blühte indeß kein ganzes Jahrhundert. Die Portugiese"
entdeckten allmälig auf ihren Fahrten ein der Westküste Afrikas, daß Gold,
Elfenbein und Pfeffer auch anderswo als in Alexandrien zu holen war. Sei'
denzucht, Zucker- und Baumwollenbau verbreiteten sich über Syrien, Griechen'
land, Sicilien und andere Mittelmeerländer. Der Handel Aegyptens wurde
durch die türkischen Eroberer zerstört. Endlich fanden die Portugiesen de»
Seeweg nach Indien und vernichteten den Handelsverkehr aus dem rothe»
Meere, indem sie die arabischen Kauffahrer durch kreuzende Kriegsflotten hi»'
wegschreckten. Wäre Aegypten damals noch mächtig gewesen oder hätten
die Türken, die jetzt hier herrschten, geahnt, welches Kleinod sie am rothe»
Meer besaßen, so würden die Portugiesen von ihnen in Verbindung mit de»
indischen Fürsten ohne große Anstrengung zurückgeworfen worden sein. ^
geschah aber nichts der Art, und nebenher kamen auch sämmtliche unter die
Osmanenherrschaft gebeugte Mittelmeerländer in ihren Ackerbau- und Gewerbe
Verhältnissen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr zurück, so daß jene Vernet'
mung eintrat, welche noch jetzt diese von Natur so reich gesegneten Landstriche
charakterisirt.
Die Vertheidiger des Suczkanals täuschen sieh daher, wenn sie meint»'
daß ihr Unternehmen so ohne Weiteres den Bann, der auf dein Leben der
Mittelmeerufcr lastet, losen und ihnen die einstige Blüte wieder verleihe»
werde. Dazu gehört, daß Aegypten wieder das starkbevölkerte und reiche
Land werde, das es unter Sesostris und später unter den Mamelukensultane»
war, daß Syrien und Kleinasien sich wieder mit jenen zahlreichen Städten be'
decke, die jetzt nur noch in ihren Trümmern vorhanden sind, dazu nicht minder
daß Italien ein anderes Regiment bekomme und wieder mit dem Geist e^
füllt werde, welcher die Große von Florenz. Genua und Venedig schuf.
Dann aber — wo der Faden eines Handelsverkehrs zerrissen ist, bleibt
er oft für immer zerrissen, und wie die Dinge gegenwärtig stehen, ist sehr
^ Frage, ob der Handelsverkehr von Europa über das rothe Meer nach
Indien sich in ersprießlicher Weise wieder anknüpfen läßt. Das rothe Meer
kleidet jetzt nicht blos durch die Seestraße um das Kap der guten Hoffnung,
sondern seit Errichtung des Staats Kalifornien und dem Beginn des Mcnschen-
Und Waarenzuges über den Isthmus von Panama eine Verminderung seines
Werthes. Vor allem aber muß man die große Veränderung in der Natur
^'s Handels beachten, die seit der Entdeckung Amerikas eingetreten ist. Im
^ittclalter waren es Edelsteine und Gewürze, welche im Welthandel den
^sein Rang einnahmen, besonders die letzteren; denn der Pscfferhandcl war
wichtiger als irgend ein anderer Zweig kaufmännischer Thätigkeit. Die Haupt-
^eitel des heutigen Welthandels dagegen sind Zucker, Kaffee, Thee, Wolle,
^'r allem aber Baumwolle. Gehörten diese Producte meist ausschließlich den
ostlichen Ländern an, so zählen sie jetzt zu den amerikanischen Stapelartikeln.
Amerika führt mehr Zucker und Kaffee aus, als alle andern Länder, wo
Producte gedeihen, der Süden der Vereinigten Staaten allein liefert
^hr als fünfmal so viel Baumwolle in unsere Fabriken, wie ganz Asien,
will man dem Welthandel ein engeres Bett anweisen, so ist es der at-
^utische Ocean, von dem man behaupten kann, er trage die größere Hälfte
^Isen, was die Welttheile unter sich austauschen. Nicht die romanischen und
'^"nischen Völker repräsentiren jetzt die größte Productionskra.fr in den Ge¬
werben und die größte Cvnsumtionskraft im Bedarf von Noherzeuguisscn, und
"'ehe Indien und China sind es. welche beim Welthandel als die ersten
Märkte in Betracht kommen, sondern die Pole der Verkehrsströmung liegen
Norden, im Bereich der germanischen Arbeit, in Nordamerika, in Eng-
^ud und in Deutschland. Ein Vergleich der Ein- und Ausfuhr vou Alex-
""drim, Trieft. Genua und Marseille mit der Ein- und Ausfuhr von Neu-
^ik u„o Neuorleans. London und Hamburg läßt darüber keinen Zweifel
^'ig, und so wird man zunächst zugeben müssen, daß die Durchstechung der
auberge von Suez fast mir eine örtliche Bedeutung für die Mittelmeerufer
^'e. daß sie wenigstens keine solche Umwälzung zur Folge haben werde, wie
^ Entdeckung Amerikas oder der Fahrt nach Ostindien um das Vorgebirg
^ guten Hoffnung. Indien, China, selbst Australien werden Amerika in
^ Mer Bedeutung für den Handel nie einholen, so wenig wie die romanischen
°^er die germanischen in Europa.
Daß der Kanal trotz alledem für den Handel der Mittelmeerstaaten, für
Türkei, Griechenland, Oestreich, Italien und Frankreich Bedeutung habe,
^ hiermit nicht widerlegt. Es fragt sich nur, ob diese Staaten allein die
öfter seines Baues und seiner Erhaltung durch ihre Benutzung decken werden,
herbei ist die erste Frage die nach den technischen Schwierigkeiten, welche sich
Unternehmen etwa entgegenstellen. Diese wird von den Vertheidigern
des Projects zuerst damit beantwortet, daß die Geschichte von ähnlichen Ka¬
nnten an dieser Stelle meldet. Schon Sesostris hatte den Gedanken, den
Nil (nicht direct das Mittelmeer, wozu damals keine Veranlassung war) mit
dein rothen Meer zu verbinden. Er unternahm den Bau durch das L>n>d
Gösen — das heutige Wadi Tumilat — ohne daß erzählt wäre, er habe ihn
vollendet. Pharao Necho setzte achthundert Jahre später das Werk fort, scheint
es aber, abgeschreckt durch die großen Schwierigkeiten, auf die er stieß*), eben¬
falls unvollendet gelassen zu haben. Darius Hystaspis nahm den Kanal
wieder in Angriff und führte die Arbeit wirklich aus. Auf die Dauer erhal¬
ten konnte man die Wasserstraße aber nicht, man darf annehmen, weil
zu rasch versandete, als daß sie die Kosten ihrer Unterhaltung gedeckt hätte.
Dies ist wenigstens von dem Kanäle sicher, welcher von Ptolemäus Phila-
delphus um die Mitte des dritten Jahrhunderts v. Chr. angelegt wurde und
der nach seinen vielen Krümmungen zu schließen mehr dem Localverkehr Aegyp'
raus als dem Welthandel zwischen Europa und den Ländern südlich und öst¬
lich vom rothen Meer diente. Er vcrschlämmte allmälig, bis ihn Kais^
Trajan ausräumen und zugleich einen Seitenarm von der Spitze des Delta
bis zum Thal Tumilat herstellen ließ. Beide Kanäle verfielen abermals
Aar, der arabische Feldherr, welcher sür den Kalifen Omar Aegypten er¬
obert, ließ den Hauptkanal ausbessern und erbot sich zugleich zur Anlegung
einer directen Wasserstraße zwischen dem Mittel- und dem rothen Meer. Dies^'
Antrag kam nicht zur Ausführung. Ebenso wenig gelang es den Venetianc>n
später, ihren Wunsch nach einer Durchstechung der Landenge von Suez be>
den Mamelnkcnsultancn durchzusetzen. Endlich sollen auch die türkischen Hen'-
scher Selim I., Murad III. und Soliman II. die Absicht einer directen Ka¬
nalverbindung gehegt haben, aber von einer Verwirklichung des Gedankens
war nicht die Rede.
Als Napoleon Aegypten eroberte, tauchte der alte Plan wieder auf; ^
zur Untersuchung der Oertlichkeit abgesandte Commission stattete indeß ihre»
Bericht dahin ab, daß an einen directen Kanal deshalb nicht zu denken s<^'
weil der Niveauunterschied zwischen dem rothen und dem Mittelmeer mehr
als 30 Fuß betrage. 1340 regten Engländer, denen sich bald Oestreicher »no
Franzosen zugesellten, die Sache von neuem an, und Mehemed Ali bewilligt
nach einigem Zaudern die Bildung einer Gesellschaft zur Erforschung der O«-'^
lichkeit. Dieselbe trat zusammen und ließ durch Stephenson die Rhede von
Suez, durch den Oestreichs Negrelli den Golf von Pelusium, durch den
zosen Talabot das Terrain zwischen den beiden Meeren untersuchen. Inzwischen
starb Mehemed Ali. auch traten die Ereignisse von 1843 störend dazwiscl)"''
Und die Arbeiten blieben liegen. Erst 1854 nahm Ferdinand v. Lesseps. ein
verwandter der Kaiserin der Franzosen und bis dahin französischer General¬
konsul in Aegypten, in Verbindung mit dem Vicekönig Sand Pascha das
-project wiederum aus und erhielt von letzterem die Bewilligung zu dessen
Ausführung, vorbehaltlich der Ratifikation des Sultans. Da Talabot sich
^ur einen Kanal vom rothen Meer nach dem Nil und Alexandrien ausgesprochen
^etc, v. Lesseps aber eine directe Verbindung der beiden Meere beabsichtigte,
^ wurde die Oertlichkeit von einer Commission von Sachverständigen noch¬
mals untersucht. Diese Commission, zu welcher Frankreich die Ingenieure
^enand und Lieussou, Oestreich Negrelli, Preußen Lentze. England Nendel
Und Maclenn, Sardinien Paleocapa und Holland Conrad stellte, ging im
^oder 1855 nach Aegypten ab, vereinigte sich dort mit den ägyptischen Jn-
gemeuren Linnnt Bei und Mougel Bei (beide sind" Franzosen) und stattete
^n folgenden Jahre einen Bericht ab, welcher dem Unternehmen günstig war.
Nach diesem Bericht wäre die Landenge von Suez keine die afrikanischen
ud asiatischen Gebirgsketten des rothen Meeres verbindende Rippe, sondern
^n von drei der Quere uach, d. h. von Osten nach Westen laufenden Boden-
^Xbungen durchschnittenes Thal, und der Niveauunterschied zwischen beiden
eeren betrüge etwa sieben Fuß, nicht dreißig, wie Napoleons Ingenieure
Pfunden haben wollten. Von Suez bis zum Golf von Pelusium. nicht weit
Fort Times. ist es 18V- deutsche Meilen. Etwa in der Mitte dieser
^'cake findet sich das Becken des jetzt ausgetrockneten Bittersees, bis zu wel-
d^. von Suez ganz eben ist, woraus man in Verbindung mit der
Utdeckung, daß der Boden hier bis zu bedeutender Tiefe aus Alluvium be-
schließen kann, das rothe Meer sei einst bis hierher gegangen. Auge-
^' Zwei Meilen nördlich liegt ein zweites Wasserbecken, der Timsach- oder
^okodilsee. Das Ternin zwischen den beiden Becken ist wellenförmig, und
u Boden zeigt bis zu einer beträchtlichen Tiefe nur Saud und Kies. Der
^nisnchsee liegt so tief, daß der Nil in Jahren, wo seine Fluten mehr als
^en steigen, durch das Wadi Tumilat bis hierher vordringt. In wei-
^ Verfolgung des Thalwegs zwischen dem rothen und dem Mittelmeer
. et »ran eine Küstenlagune, den See von Menßaleh, der nur durch einen
Analen, ungefähr 150 Schritt breiten Sandwnll vom Mittelmeer getrennt
' Zwischen den letzten beiden Wasserbecken begegnet man einer Boden-
^dung. die bei El Gisr vierzig Fuß Höhe über dem Spiegel des Mittelmeers
^'ehe und aus Flugsand besteht. Die Rhede von Suez bietet für 50« Schiffe
Um sicher unveränderlichen, aus Schlammboden bestehenden Ankergrund
^ 2^ 7 Faden Tiefe. Die herrschenden Winde sind nicht gefährlich,
w d^, stürmische S. S. O. hält selten lange an. Der Golf von Pelusium
^cher als der von Suez, er erreicht erst auf Vs deutsche Meilen Entfernung
vom Ufer in seinem östlichen Theil eine Tiefe von 5 Faden. Bis zu dieser
Entfernung wird der Ankergrund fortwährend durch Flugsand verändert.
Dies der Bericht der Commission, auf welchen sich der Lessepssche Plan
gründet. Letzterer, aus Vorschläge Ncgrellis hin entworfen, ist folgender-
Es soll eine Wasserstraße ohne Schleußen vom östlichen Theil der Bucht vo»
Pelusium durch die Becken des Timsach- und des Bittersees und die dazwischen
liegenden Bodenerhebungen nach Suez so tief nnsgehoben werden, daß sU
eine Tiefe von 25V2 Fuß besitzt. Die Sohle des Kanals soll von Suez bis
zum Bielersee 204. von dort bis zum pelusischen Golf mindestens 440 Fuß
breit werden. Um den Schissen, welche den Kanal benutzen, einen hinrei¬
chend bequemen Ankerplatz zu verschaffen, soll ein wenigstens 1,500 Fuß brei¬
ter Theil der Meeresbucht auf 4 Faden Tiefe ausgebaggert und mit Däm¬
men eingefaßt werden, und außerdem will man dort noch ein entsprechend
tiefes Bassin von 000 Fuß Breite ausbaggern und durch Molen in eine»
Hasen verwandeln. Die geringe Tiefe der Bucht von Pelusium macht die Fort¬
führung des Kanals ins Meer auf etwa 10,000 Fuß nothwendig. Innerhalb
der Bucht soll der Kanal in einer Breite von 12,00 Fuß aufgehoben werde",
so daß er zugleich als Hasen dienen kann. Der diesen Hafen im Weste»
schützende Molo wird eine Länge von 10,500, der östliche eine Länge rw»
7,500 Fuß bekommen. Hinter letzterem soll ein besonderer Hafen von 40,»^
Fuß Oberfläche ausgegraben werden. An diese Anlagen schließt sich die E'"'
sassung des Timsachsees mit Hafendänunen und die Verbindung dieses Wasse^
denkens mit dem Nil durch einen Seitenkanal, welcher durch das Wadi
allat geführt werden und 75 Fuß Breite so wie in der trockensten Zeit 6 F»v
Tiefe haben soll.
Die Kosten für alle diese Bauten sind auf 102 Millionen Franken veran¬
schlagt. Ob der Kanal mit seinen Nebenanlagen dafür ausgeführt werde»
kann, ist eine Frage, die wir hier nicht verfolgen tonnen. Es sei nur be¬
merkt, daß die Anlegung der Häfen bei Suez und Pelusium auf Schwierig'
leiten stoßen wird, deren Bewältigung allein fast drei Vertheile jener SuM»'^
erfordern dürfte. Von der Schwierigkeit der Unterhaltung des Ganzen n'U'd
sogleich die Rede sein. Daß die angegebene Tiefe und Breite des projectir'
ten Wasserweges dem Welthandel genügen würde, darf zugestanden werde»'
Allerdings find grade zwischen den Ländern, deren Verkehr der Kanal erleid
tern soll, die größten Schiffe in Gebrauch, da dieselben dem Rheder de»
größten Gewinn, dem Kaufmann die wohlfeilste Fracht sichern. Aber es ^
nicht zu erwarten, daß man viele Fahrzeuge bauen wird, welche mehr a^
24 Fuß Tiefgang haben. Da der Kanal diese Tiefe erhalten soll, so würde
selbst von den schwersten Linienschiffen, die man bis jetzt gebaut hat, herut^
werden können.
So gäbe es denn keine unbesiegbare Schwierigkeit in der technischen Aus-
Ehrung des Kanals, wenn die Angaben der Commission richtig wären. Die¬
sen sind aber grade in der Hauptsache unrichtig. Das rothe Meer liegt
^ehe dreißig Fuß höher als das mittelländische, aber auch uicht sieben,
sondern kaum zwei Fuß, und wenn ein Niveauunterschied von dreißig Fuß
Erhaltung des Kanals durch zu starke Strömung unmöglich machen würde,
»aß ein solcher Unterschied von weniger als zwei Fuß dieselbe deshalb
Unmöglich machen, weil bei ihm so gut wie gar keine Strömung denkbar ist.
^"e starke Strömung ist aber nothwendig, um das sonst durch nichts, oder
"ur mit ganz unverhältnißmäßigen Kosten abzuwendende Verhärten des Ka-
""is zu verhüten. Diese Versandung wird auf doppelte Weise herbeigeführt
>verden: einmal durch die beiden Meere selbst, dann durch den Flugsand der
^ufte. Das hatte schon Talabot befürchtet, als er den directen Kanal ab-
^>es und dafür eine Wasserstraße zwischen dem Nil und dem rothen Meer
^schlug. Das zeigt die Richtung der alten Kanüle, die trotzdem nicht er-
^«leer werden konnten. Das hat endlich Stephenson als seine Ueberzeugung
^'sgesp^chen, als er dem Lessepsschen Unternehmen das Horoskop stellte, es
werde mit einem „sumpfigen Graben" endigen.
Mit der Gewalt des Wassers stehen die von demselben mitgeführten Erd¬
teile in einem gewissen Verhältniß, und diese Erdtheile fallen in dem Maße
sU Äoden, in welchem die Kraft des Wassers abnimmt, woraus die allmälige
^hohung eines Strombettes sich erklärt. Wo ein Wasserdruck dem Wasser-
^°M grade entgegentritt, bildet sich ein Niederschlag jener Erdtheile, wie die
^ella des Nil und des Ganges im Großen, die Sandbänke an der Mündung
^ Elbe im Kleinen zeigen. Gräben und Kanäle ferner in Gegenden beweg¬
ten Sandes, werden, auch wenn sie noch so tief und breit sind, mit der
<">t Winde zugeschüttet. Hafendamme werden nicht vor Versandung
^Uizen, wo ein Mceresstrom vorhanden ist, wie der vor dem pelusischen Golf,
'^cher den Nilsand mit sich führt und bereits die Häfen Phvniziens unbrauch-
''^ gemacht hat. Der durch die Verengung des rothen Meeres nach Norden
^'d durch S. S. O.-Stürme verstärkte Anprall der Flutwellen an die Mur-
^3 des Kanals bei Suez wird ebenfalls eine nachtheilige Einwirkung auf
^ Kanal üben, indem er dort Triebsandmassen hinwälzen wird. Wenigstens
^>ge die Behauptung der Commission, daß die Gewässer des rothen Meeres
^ Meist bis an den Timsachsee. also bis in die Mitte des proiectirten Wasser¬
wegs
^elleerstreckten, wenn sie richtig ist, nur, daß an dieser Stelle Sand an die
^ des Wassers getreten ist. Das Flutwasser des rothen Meeres wird, wie
^ Commission selbst meint, in den Kanal eindringen, also bald eine stärkere,
^ d eine schwächere Bewegung und um die Mitte der Ebbe wahrscheinlich
^ keine Strömung haben, und somit bis in den Hafen bei Pelusium, der,
wie gezeigt, ohnehin durch den Nilsand gefährdet ist, Erdtheile ablagern«
Die Commission glaubt ferner, das rothe und das Mittelmeer hätten hier
einst zusammengehangen. Wir geben dies zu, finden darin aber nur die Be¬
stätigung unsrer Ansicht, daß von Norden her die Schlammtheile des Nil, v»»
Süden der von der Flut des rothen Meeres angeschwemmte Triebsand, peur
Osten und Westen der Flugsand der Wüste die Verwandlung der Meerenge
in eine Landenge bewirkt hat. Es kommt aus dem Isthmus kein eigentliches
Felsenlager vor. Sehr wohl, dann rührt der dortige Flugsand nicht von einer
Steinverwitterung, sondern anderswo her. An der Küste des Mittelmeers
bilden Gesteintrümmer die Dünen und Sandbänke, und die Commission furch'
tet selbst diese und will sich davor durch die oben angegebene Hinausrückung
des Kanals in die See schützen. Wir wissen aber bereits, daß ihr dies nichts
helsen wird. Sie befindet sich zwischen zwei gleich gefährlichen Gewalten-
Läßt sie den Kanal nahe am Strande münden (was schon deshalb nieh^
thunlich ist, weil er dann großen Schiffen nicht zugänglich wäre) fo schadet
ihm der Wind mit seinem Flugsand, führt sie den Kanal so weit hinaus,
wie angeführt, so spült ihm in wenigen Jahren der Nil eine Barre vor seine
Einfahrt.
Eine Hauptstelle,. von wo der Kanal durch Flugsand bedroht wird, ^
der Dschebel Attakah an der Nordwestseite des rothen Meeres, und hier ist
nicht allein der Wind die bewegende Kraft, sondern auch starke Regenstin^
schwemmen alljährlich Massen von Sand und Geröll nach dem Nordrande
des rothen Meeres herab, und die Commission sollte bedacht haben, was sie
sagte, als sie die Vermuthung aussprach, daß dieses Meer durch einen solche"
mit Orkan verbundenen, Sand- und Steinmassen mit sich wälzenden Gewitter
regen von seiner nördlichsten Bucht, dem Vittersee, durch deu der Kanal
führt werden soll, getrennt worden sei. Andere gefährliche Stellen finde"
sich noch mehre. Durch die Ost- und Westwinde wird der Sand auf d>
ganze Länge des projectirten Kanals getrieben; denn wo wie hier kein Binde'
mittel, wie Gesträuch oder Bäume, den trocknen, staubartig feinen Flugi""
festhält, da hat der Wind Macht über ihn, treibt ihn fort, selbst über be'
deutende Hügel, lagert ihn ab in Vertiefungen und häuft ihn hier und d^an, wie unter unteren das erwähnte Dünengebilde bei El Gisr zeigt (welche
beiläufig nicht, wie die Commission sagt, 4», sondern nahezu V0 Fuß
ist), nimmt ihn aber auch gelegentlich wieder mit fort und schafft anderwärt
damit ein Thal in einen Hügel um. v. Lesseps erzählt, um dies zu ^
krähten, daß man nach Verlauf eines Jahres hier noch deutliche Sy»>^
seines Lagers gefunden habe. Aber man darf annehmen, daß er sich ^
dasselbe nicht den ungünstigsten, sondern einen gegen den Wüstenwind w"»
liehst geschützten Ort ausgesucht habe.
Ist es wahr, was ein Vertheidiger des Projects behauptet, daß nan-
der Kanal der Pharaonen, der Ptolemäer und der Sarazenen schwieriger
Auszuführen und kostspieliger gewesen, als der directe Kanal des Herrn
^ Lesseps, daß er noch obendrein störend in das Bewässerungssystem Unter-
"öhptens eingegriffen und Nebenarbeiten erfordert habe, welche die Wohlfahrt
^'s Landes beeinträchtigt, so ist dies eben nur ein Beweis, daß die Araber,
^ Ptolemäer und die Könige von Memphis und Theben die unüberwind-
>chen Schwierigkeiten gekannt haben, einen Kanal in gerader Richtung vom
^den zum mittelländischen Meer auf die Dauer fahrbar zu erhalten, und
^ sollten uns- das zur Notiz dienen lassen.
Wind von der Land- und Seeseite als Träger, die Flut im rothen, der
"vn der Nilmündung kommende Strom im mittelländischen Meere als Treiber
Sandmassen, Regenstrome mit Orkan vom Attakahberg, die abwechselnd
^U'l'e und schwache Hin- und Herbewegung des Wassers im Kanal selbst de-
^den das Unternehmen also in einem Grade, daß man voraussagen kann,
^ werde, ausgeführt, sehr bald das Schicksal der früheren Kanäle haben,
Und die, welche den Versicherungen der Franzosen noch Glauben schenken,
^'rden wohl thun, diesen Glauben aufzugeben. Es dürfte sich sonst ereignen,
uß sie sich damit ebenso getäuscht sähen, wie vor einigen Jahren der Vice-
^ig,nit der vielbesprochenen Barrage des Nil, von der man sich Wunder-
^U'lungen auf die Befruchtung des Nilthals versprach und die, nachdem sie
"Ne einem Aufwand von 30 Millionen Franken vollendet war, nur die nul-
^ Aegyptens vermehrte.
Ist es nach diesen Erörterungen zweifelhaft, ob sich die Unterhaltungs-
"!im des Suezkanals selbst bei einer sehr starken Benutzung desselben durch
^ seefahrenden Nationen decken würden, und könnte, sogar diese vorausgesetzt,
einer guten Verzinsung des dabei angelegten Capitals kaum die Rede
so verstärken sich diese Zweifel, wenn man nach dem Maß fragt, in
^leben der Kanal den Weg von Europa nach Indien, China und Austra-
^ verkürzen würde.
^ Ein Blick auf die Karte lehrt, daß der Weg uach Bombay und Kalkutta
°U Venedig, Trieft und Marseille um mehr als die Hälfte, von Konstan-
^'opel aus noch bedeutender gegen sein jetziges Maß auf dem Wege um das
Gebirge der guten Hoffnung abgekürzt werden würde. Ein französischer
^Idrograph hat ausgerechnet, daß die Ersparnis) an Seemeilen für ein nach
.^)lon bestimmtes Fahrzeug, auch wenn dasselbe von einem nördlichen Hei-
^''platz austiefe, sehr groß sein würde. Dieselbe würde für Petersburg schon
^ für Hamburg 48. für London und Amsterdam 49, sür Marseille 62. für
,^se 65 und für Konstantinopel 70 Procent betragen. Ein Schiff von Lor-
°" durchmißt auf der Tour nach der genannten Insel 14,340, eines von Mar-
feilte 14.500. eines von Trieft 15.480. eines von Konstantinopel 15.630 See¬
meilen. Der Suezkanal würde diese Entfernung bei dem londoner Schiff aus
7.300. bei dem marseiller auf 5,490, bei dem tnester auf 5,220, bei dew
von Konstantinopel auf 4,700 Seemeilen vermindern. Das sind scheinbar
selbst für die Nord- und Ostseehäfen ungeheure Resultate. Schade nur, daß
der französische Hydrograph seine Rechnung ohne den Wirth auf dem Meere,
d. h. ohne den Wind gemacht hat, mit dem die Franzosen doch sonst gen
bekannt sind. Es ist nämlich deshalb äußerst fraglich, ob die durch den Ka¬
nal zu bewirkende Verkürzung des Weges für Schiffe nördlicher Länder wie
Deutschland, Skandinavien und England eine entsprechende, ja ob sie über¬
haupt eine Zeitersparnis) mit sich bringt, weil sie ein für die Schiffahrt ver¬
hältnismäßig günstiges Gewässer, das atlantische Meer mit bei weitem schwie¬
rigern Gewässern, dem mittelländischen und dem rothen Meere, zu vertausche"
genöthigt wären. Das Mittelmeer ist im März, September und October von
furchtbaren Gewittern heimgesucht, die denen der Tropen an Gewalt fast
gleichkommen. Die Syrte ist verrufen wegen ihrer Nebel und Stürme. Der
ägyptische Chamsin wird häusig zum wüthenden Orkan. Noch ungünstiger für
den Seefahrer sind die Verhältnisse auf dein rothen Meere mit seinen plölzliä)
aus den Wüstengebirgen daher brausenden. Stürmen und seinen vielen Feife»-
klippen und Korallenriffen. Heißt doch sein Eingang Bab El Mandeb, das
Thor der Thränen. Von den zwei Transportschiffen, die zu Anfang des in¬
dischen Aufstandes nach Suez gesandt wurden, um die über Aegypten ko>n-
umber britischen Truppen aufzunehmen und über Aden nach Kalkutta zu be¬
fördern, war das eine schon bei der Ankunft in Suez so stark beschädigt
daß die Leute auf ein anderes Fahrzeug gebracht werden mußten, und auch
dieses lichtere wurde unterwegs zwischen Suez und Aden so leck, daß der
Capitän sich genöthigt sah, umzukehren. Lord Panmnre sagte hierüber in>
Oberhause, daß keine menschliche Voraussicht jene Unfälle zu verhindern i>N
Stande gewesen sei. Für die Schiffahrt aus dem rothen Meere nach Ost'
indien sind die Moussons im indischen Ocean, welche, wie bemerkt, sea)^
Monate des Jahres nach der einen und andere sechs Monate nach der andern
Richtung wehen, nicht ohne Schwierigkeiten; denn im nördlichen Theile dieses
Meeres herrscht der Nordostpassat innerhalb der Monate October bis Apr'l,
der Südwestpassat dagegen vom April bis zum October, und nicht selten we^
den hier auch Wirbelwinde dem Schiffer gefährlich. Stellt man hierzu roa)
andere glaubwürdige Angaben, z. B. die. daß die Geschwindigkeit eines Ki'p'
pers, nachdem er das Kap der guten Hoffnung doublirt, dort größer sei, a^
die eines Klippers, der im Kanal remorquirt werde; ferner die, daß nach de"
Windrichtungen zu urtheilen die Dauer der Fahrt von Birmingham uarv
Suez fast ebenso lang sein werde als die von Birmingham nach dem KaP>
endlich die, daß die Nord- und Nordwestwinde, welche vom April bis zum
September wehen, der Reise von England nach Ostindien, und die Winde,
welche vom September bis zum April herrschen, umgekehrt der Tour von
Indien nach England und Irland günstig seien, so fehlt, wie es scheint, nur
Wenig an dem Beweise, daß nicht grade die Länge des Weges bei der Ab¬
wägung von Seefahrten am schwersten in die Wagschale fällt.
Dampfschiffe werden mit weniger Schwierigkeit zu kämpfen haben, sagen
d>e von den Vertheidigern des Lcsscpsschen Planes, die solche Einwürfe über¬
haupt zugeben. Der Nachweis über das Detail dieser Frage, über die Ein¬
teilung von Weg und Zeit, namentlich der genaue Nachweis der Rolle, welche
d'e Dampfkraft dabei zu übernehmen hat, ist aber von den Organen, welche
^e Durchstechnng der Landenge von Suez befürworten, noch keineswegs über¬
zeugend geführt worden. Im Gegentheil wird diese Frage von ihnen meist
vermieden, wenigstens kurz abgethan. Sie ist aber gleichwol die wichtigste
"ach der Frage in Betreff der Unterhaltungskosten des Kanals, die ja auch
Wenn sich der Sand, der ihn bedroht. Hinwegdisputiren ließe, noch immer
sehr beträchtlich sein und nur dann einen Ueberschuß lassen würden, wenn sich
^ne sehr bedeutende Verkürzung des Wegs durch das Unternehmen darthun
"ehe. Die beiden Factoren, um die es sich handelt, sind Zeit und Kosten,
^is ausgemacht ist anzunehmen, daß ohne Benutzung des Dampfes kein er-
wähnenswerther Zeitgewinn, daß ohne ihn keine sichere Beschiffung des rothen
leeres möglich ist. Wir können uns nicht überzeugen, daß es rentabel sein
^>M, Güter ans der projectirten Linie durch reine Dampfschiffe zu befördern,
Und ebenso wenig können wir die Meinung theilen, daß es durch Fahrzeuge
Wit Auxiliarmaschine möglich sei. Die wohlfeilste Anwendung der Dampfkraft
^el regelmäßigem localen Bedürfniß, wie es bei der Suezlinie der Fall, ist
bekanntlich die durch Remorqueure oder Schleppschiffe. Ein Schleppschiff mit
Bädern kann nicht segeln oder segelt wenigstens, wenn nicht Vorkehrungen
Strosser sind, um den Widerstand der Nadkasten zeitweilig zu entfernen, viel
^ngsamcr als ein gutgebautes Segelfahrzcug. Es muß also auch da däm¬
men, wo es nichts zu schleppen hat, auch da essen, d. h. Steinkohlen ver¬
ehren, wo es nicht arbeitet, nichts verdient. Der Schleppdienst auf der über
^Anz führenden europäisch-indischen Linie würde wesentlich einseitig sein, der
Schleppdampfer müßte also den Rückweg häufig, stellenweise vermuthlich immer,
Unbeschäftigt machen. Um das Minimum der Kosten zu erzielen, müßte er
wenn irgend möglich, diesen Weg segeln. Danach wäre die Aufstellung
"°n Schraubenschleppschifftn als Stationsschleppern eine Grundbedingung zur
^winnbringenden Benutzung der projectirten Linie. Ob diese Lösung richtig
^ Und die einzige in diesem Theil der Frage, überlassen wir andern zu unter-
^chen. Die Steinkohlen sind an den Küsten des rothen Meeres sehr theuer;
sie kosteten 1851 aus der Strecke von Suez bis Aden dreimal so viel als auf
der Strecke von Plymouth bis Alexandrien, und sie sind in der That, wie
der östreichische Lloyd weiß, schon hier theuer genug. Wer aber nur einige
.Kenntniß von der Nhederei hat, weiß, daß dieselbe sehr genau rechnen muß,
um einen Verdienst zu erzielen, der die Kosten übersteigt, und so glauben wir
bis auf bessere Belehrung von Seiten der Vertheidiger des Lessepsschcn Unter¬
nehmens, daß jeder Pfennig dreimal umgedreht, jede auch die kleinste Kosten-
ersparniß sorgsam ausgenutzt werden müßte, um sür die umfangreicheren
Güter die Kaplinie durch die Suezlinie zu schlagen — immer natürlich voraus¬
gesetzt, daß die Furcht vor Versandung des Kanals Chimäre ist.
Andere Einwürfe gegen.den Plan lassen sich leicht widerlegen. Man hat
behauptet, daß durch den neuen Kanal und den Hafen am Golf von Pelu-
sium die Zukunft Alexandriens bedroht werde. Abgesehen davon, daß der
Welthandel, wenn er einen Vortheil dabei sähe, nicht an das Schicksal
eurer Stadt denken würde, ist dieser Einwand unbegründet, weil Pelusuun
uur die Mündung des Kanals bilden soll und ein Hasen von Bedeutung nur
am Timsachsce gegründet werden würde, wo der Süßwasserkanal vom Nil
durch das Wadi Tumilat zu münden bestimmt ist, oder in Suez, welches sehr"'
jetzt ein ziemlich lebhafter Hafenplntz ist. Aber selbst wenn sich auf der Stätte
des alten Pelusium dereinst eine Handelsstadt von Bedeutung erheben sollte,
würde Alexandrien doch bleiben, was es jetzt ist, der naturgemäße Hafen rw»
Aegypten, der Korn- und Baumwollenmarkt Südeuropas.
Ein viel wichtigeres Hinderniß des Unternehmens liegt in der Weigerung
der Pforte, demselben ihre Concession zu ertheilen, eine Weigerung, die den
türkischen Staatsmännern von England dictirt ist. Dies führt uns auf den
vierten Punkt, auf dre politische Seite der Frage, die wir in 'der nächst^
Nummer dieser Blätter besprechen werden.
Die Stadt Alesia nimmt in der Geschichte eine wichtige Stellung ein.
In dem verzweiflungsvollen Kampfe wider die Römer machte sie Vercingetor,i.r
Zum letzten Bollwerk gallischer Freiheit, und Julius Cäsar verwendete die volle
Sehne seiner Kriegskunst auf ihre Eroberung. Ihr Fall machte den römischen
Konsul zum Inhaber des gallischen Landes, stellte ein schlagfertiges Heer zu
seiner Verfügung, und befähigte ihn, in die italischen Angelegenheiten ge¬
bieterisch einzugreifen. Die Einnahme von Rom, der Kampf bei Pharsalos,
^e Züge nach Aegypten und Kleinasien, die Schlachten von Thapsos und
Munda, und die lebenslängliche Dictatur reihen sich fast ohne Unterbrechung.
die Einnahme von Alesia. So trug dieses Ereignis; seine Wirkungen bis
W die Zeiten des Augustus fort, und wurde zum eigentlichen Marengo des
Reiches der Imperatoren.,
Die Historie hat diese Bedeutung anerkannt. Das Andenken der Kämpfe
b"r Alesia erhielt sich im Munde des Volkes, und die geschichtliche Ueber¬
lieferung blieb während des ganzen Mittelalters frisch und lebendig. Sie
wusste dies um so mehr, da Trümmer und Alterthümer auf dem ehemaligen
^ahlplcche sie bestätigten. Ueber die Lage des alten Alesia waltete daher
"Ach kein Zweifel. Man suchte die alte Stadt, ohne irgend einen Einwand
»u vermuthen, auf einer der Abdachungen. welche sich von der Rückseite der
^te d'or hinabsenken, und verlegte sie aus jene abgestufte kleine Hochebene,
deren Gehänge noch heutzutage ein Flecken gelegen ist. Der obere
Theil heißt Sainte Reine, der untere Alise. Zwei kleine Flüsse, der Oserain
""d die Ose, umschiängcln die Anhöhe, durchschneiden eine Ebene, und fließen
Brenne, und durch diese, den Armamwn und die Yonne der Seine zu. Dieses
stuwnt genau zu dem, was Cäsar von der Gegend berichtet. Derselbe nannte
Alesia die Hauptstadt der Mandubier; aber dieser Name verschwand. Aus
^'r Bevölkerung bildete sich ein Gau. der nach dem ehemaligen Hauptorte
der Gau von Alesia (Mgus ^lesiensiL) genannt wurde, ein Name, der sich
dein heutigen Auxois erhalten hat. Als im achtzehnten Jahrhundert die
^late sich wieder inniger nach der alten Geschichte zurückwandten, ward auch
Alesia Gegenstand der Forschung. Aber alle Untersuchungen bestätigten die
alte Annahme. Valois, d'Urville und Walkenaör erkannten in dem heutigen
Alise-Sainte Reine die Ueberbleibsel des alten Alesia.
Wenn nun im Jahre 1855 eine vereinzelte Stimme sich vernehmen ließ,
welche der Sage, der Ueberlieferung wie der Forschung zum Trotz die Oertlich-
keit der großen Kämpfe vor Alesia in den Jura verlegte, und damit den ZU"
sammenhang der Begebenheiten verrückte, so war dies an sich nicht erheblich
und Hütte mindestens keinen entscheidenden Ausschlag geben können. Wie
viele widersinnige Einfälle sind nicht im Lause der Jahrhunderte aufgetaucht,
um wie Pflanzen mit halbverdorrten Wurzeln in sich selber zu verkomme»!
Aber das Gebahren dieser neuen Weisheit, ihre Selbstgefälligkeit und her"
rische Aufgeblasenheit waren so herausfordernd, daß alsbald zu thatkräftige»
Maßregeln geschritten werden mußte. Dies ist der vorspringende Punkt der
Angelegenheit. Die Art, wie das Hirngespinnst eines Einzelnen sich der offene'
lichen Meinung bemächtigte, wie man den krankhaften Keim einer falsche»
Voraussetzung zu einem Schwall übereinanderliegender Schichten von Irrungen-
Verdrehungen und Trugschlüssen aufthürmte, der, wenn man des Gemengsels nicht
Meister geworden wäre, alle geschichtliche Forschung auf den Kopf gestellt habe»
würde — diese seltsame geistige Bewegung wirst ein überraschendes Licht auf die
literarischen Zustände unserer Zeit und Frankreichs insbesondere. Der Ausganß
hat glücklicherweise eine sehr tröstliche Seite, und ich will versuchen, die einzelne»
Momente des Verlaufes auch einem größeren Kreise von Lesern zu verdeutliche»'
In Behar<)on lebt der Baumeister Delacroix, und wirkt zugleich als
Vorstand einer dortigen gemeinnützigen Gesellschaft (Locietö et'ümuliition)'
Dieser Mann stieß auf seinen Wanderungen auf das Dörfchen Alaise. Der
Klang des Namens gemahnte ihn an das Alesia der gallischen Zeit; plötzlich
standen Cäsar und Vercingctorix vor seinen Augen; eine Vermuthung drängt
die andere, und allmülig wuchs unter seinem geschäftigen Meisel ein neu"
gebornes Alesia empor. Das Alaise des Herrn Delacroiz- aber liegt ohnweit
des Mont Poupet, in der Nähe von Salms, mitten in den Vorbergen des
Jura. Die Häuser des Dorfs find allerdings über eine kleine Hochebene
zerstreut; aber diese ist äußerst holprig, wird von höheren und steilen Bergen
beherrscht, und von Schluchten begrenzt, welche die Entwicklung größerer
Massen unmöglich machen. Vor allein aber fehlt die geräumige Ebene, von wei'
eher Cäsar spricht, und woselbst man sein Lager so wie die Berschanzungen des
gallischen Hilssheeres unterbringen könnte. Alle diese augenfälligen Schwierig'
leiten störten Herrn Delacroix wenig; er baute wohlgemut!) sein neues Alast"
in die Höhe und legte die gemachte Entdeckung in den Denkschriften sein^
Gesellschaft") nieder. Dies war ein erster Schritt; aber man mußte, um ^
Eiligen Durchbruche zu gelangen, sich der Beihilfe der Hauptstadt versichern,
^ in den Augen der Franzosen, gleich einer geistigen Sonne, alle Winkel des
^noch überstrahlt. Auch dieses erfüllte sich. Herr I. Quicherat. Professor
Paris, machte sich zum Fürsprecher, und schloß einen in das französische
^demana (Athenäum franhais) eingerückten Artikel mit dem zuversichtlichen
Ausspruch: „Niemand soll unsere Schlußfolgerungen umstoßen! Ja! das Alesia
Cäsar ist das Alaise des Herrn Delacroix." Eine Reihe von Tageblättern
wiederholten den Aufsatz des Herrn Quicherat, und die Sache des alten Alesia
^ der Cüte d'or schien für immer verloren.
Aber das Blatt wendete sich, und auf den kindischen Taumel folgte eine
^verschlagende 'Abkühlung. Diese wurde aber keineswegs in der großen
^uptstM, sondern in der Provinz vorbereitet, und kam von einem kräftigen
Anstoße, den Herr Rossignol, Archivar zu Dijon, mit Sicherheit zu führen
Erstand. Herr Rossignol ist der Verfasser einer Geschichte von Burgund,
Welche ^ Jahre 1853 erschien und den Zeitraum von 1467 bis 1433 um-
'^i. Das Werk schildert vornehmlich die innern Bewegungen des Landes,
^lebe die Eroberung desselben durch Ludwig XI. begleiten, und der Ver-
^iher hat die aus den Archiven von Dijon auf das reichhaltigste erläuterten
^gcbenheiten mit kunstvoller Hand zu einem lebendigen Gemälde verarbeitet,
Elches eine Menge neuer Gesichtspunkte gewährt. Auf dieses Werk ließ
^rr Rossignol im Jahre 1854 eine Geschichte der Stadt Beaune folgen, welche
^ Bezug auf mittelalterliche Verhältnisse sehr belehrend, und dabei faß-
H und anziehend geschrieben ist. Endlich hat sich der nämliche Mann durch
^ Klarheit und Ordnung, welche er in die Archive von Dijon brachte, zu-
^>es als gründlichen Kenner des Ufkundenwcscns bewährt. Es war also eine
tüchtige, wissenschaftlich ausgerüstete Persönlichkeit, die sich dem nur durch
^ Zuwachs der pariser Verbündeten gefährlichen Andrange entgegenstcmmte.
'^s man," so sagt Herr Rossignol in einer seiner Denkschriften, „die Ent¬
zug von Alesia veröffentlichte, welche Herr Delacroix in den Wäldern von
/ums gemacht haben sollte, zögerte ich zu antworten; aber ich schwankte
mehr, als ich die pariser Presse dieselbe ankündigen und vertheidigen sah."
^ Rossignol wagte es also grade der mächtigen Strömung der Hauptstadt
^ Halt zuzurufen, und dazu gehört in Frankreich das Gefühl der Sicherheit
einiger Muth.
^ Die Denkschrift, durch welche dies geschah, halte ich, nach Form und
^balt. unbedenklich für ein Muster gesunder historischer Kritik. Der Verfasser
^nine von weitem, zunächst große Kreise ziehend. Unscheinbar, aber sicher
^i er auf den Mittelpunkt los. Die Gegner werden zuerst in kleinen Vor-
Achten ermüdet, dann auf den Flügeln angegriffen, im Rücken gefaßt,
^6 zusammengeschnürt, nach allen Himmelsgegenden zersprengt, und zu»
jetzt mit einem kräftigen Ruck aus dem Gebiete hinausgeworfen. Das alte
Alesia ist wieder erobert, und wir sehen die Herrn Delacroix und Quichenrt
ohne Truppen und Waffen nach dein Mont Pvupet in ihre Bergschlucht vo»
Alaise zurückgeschlagen. Der Sicherheit, mit welcher Herr Rossignol das sihlo'
rische Material zu handhaben versteht, geht eine vortreffliche Kampfweise
Seite, die bald mit Feinheit ihre Schlingen um den Gegner wirft, bald mit
schneidender Schürfe ihn in das Angesicht trifft, oft von sprudelndem Witze be'
gleitet, wo die Lächerlichkeit vor Augen liegt, und immer voll Ernst An°
Würde, wo es die Sache erfordert. Und alles dies in dem Gewände einer
höchst geschmackvollen Darstellung, welche selbst gedrungene Einzelheiten u»d
dürre Untersuchungen, wie in dem beweglichen Lusthauche des Windes, vor'
überführt. Größere Auszüge, die dies veranschaulichen könnten, würden
weit führen; ich beschränke mich, den Gang im Allgemeinen kenntlich zu mache»'
Die Druckschrift führt den Titel: ^uso. ^talos sur uno va-MMML ^
^uIo8-L6La,r. Der Verfasser weist zunächst die Glaubwürdigkeit der spätere»
Hellenen, wie Plutarchos und Dio Cassius, welche Herr Delacroix in den Vordem
grünt gestellt hat, in gebührende Grenzen zurück, und behält sich das Recht
vor, die Thaten Cäsars aus Cäsar selbst zu erläutern. Einige Bemerkung»
reichen hin, die vollständige Nichtigkeit der Etymologie*) nachzuweisen,
welcher/' wie Herr Rossignol sagt, „die Herrn Delacroix und Quicherat
ihrer ganzen Expedition herumgeritten sind." Nachdem er mit den Quellen des
Gegenstandes aufgeräumt hat, geht er zur Darstellung des Feldzugs über, de»c»
letzten Knotenpunkt die Ereignisse vor Alesia bilden. Auf die erste Nachr^
von der neuen Erhebung eilt Cäsar aus Italien herbei, und wirft si'U"
Truppen in die Mitte der aufrührerischen Gegenden hinein, um durch diese»
kühnen Schlag die Vereinigung der feindlichen Streitkräfte zu verhindern-
Er erleidet vor Gcrgovia empfindliche Verluste, wendet sich aber in geordnete»'
Rückzüge gegen die Grenzen der. Aeduer, und erwirkt durch eine Bewegt
gegen Sens die Vereinigung mit Labienus. Hierauf finden wir ihn in de»
Hügelgcländen des Arman^on, in einer Stellung, welche ihm die Möglichkeit g>^'
links die zweideutig gewordenen Aeduer zu beobachten, rechts die Verbindn»^
mit den Reinern, Lingonen und Trevirern offen zu erhalten. „Herr Delacr^
mag immer rufen: marsch! das römische Heer bleibt unbeweglich, und
ihn allein nach der Franchecomt6 laufen!"**)
Herr Rossignol zeigt uns die tieft Berechnung, welche in diesen Maß-
^Ü^in ^g; aber Cäsar hatte es mit einem umsichtigen Gegner zu thun,
^rcingetorix läßt augenblicklich eine Bewegung gegen Vicuna und das Allo-
^'ogische ausführen, in der Absicht, die Verbindungen Cäsars mit Italien auf-
«uheben. Er selbst bleibt mit dem Grundstocke seiner Truppen dem Haupt-
^gncr zur Seite, beobachtet ihn, sucht die Zufuhren abzuschneiden, ihn in
deinen Gefechten zu ermüden, und zuletzt einen Hauptschlag gegen das so
^Ntmuthigte Heer auszuführen. Sobald Cäsar von diesen Vorgängen Kunde
^'hüte, setzt er sich mit seinem Heere in Bewegung; ohne von ferne an feige
Furcht zu denken, ist es ihm nur um eine günstigere Stellung zu thun. Er
sein Heer aus dem Gewirr von Thälern und Engpässen des oberen Seine-
^dickes herauswickeln, und sich dem Gelände der Saone nähern. Dort steht
^ den Ereignissen näher, die sich bei Vicuna vorbereiten; dort ist er auch
seiner taktischen Ueberlegenheit des Sieges gewiß, wenn es ihm gelingt,
^^cingetorix in die Ebene zu locken. Cäsar wählte den geradesten Weg,
bei Raviürcs und Pvrigny vom Arman^on hinweg in das Thal der Brenne
^tete und die Gegenden von Buffon, Montbar, Fiuh-le-Montbar. und ganz
^züglich Alesia berührte, ohne dessen Besitz der Durchzug nicht zu erzwingen
Rossignol hat dies aus den Ueberresten der alten Straße, so wie aus
Nachrichten bei Cäsar nachgewiesen, und damit die bestätigenden Urkun-
des Mittelalters über die Ortsnamen zusammengehalten.*) Vcrcingetorix
^'chschaute indessen den Plan seines Gegners. Schnell zieht er seine Truppen
^ Alesia zusammen und geht mit seiner Reiterei durch das Thal der Brenne
anrückenden Cäsar entgegen. Das Gefecht, welches sich sofort entspinnt,
zu seinen Ungunsten aus; er wird zurückgeworfen, und Cäsar steht vor
^sia, das er unabdiuglich zur Uebergabe zwingen muß, wenn er seinen Zug nach
^ Snone ausführen will. Die Lage war verhängnißvoll; der Besitz von
,^!lau, die künftige Stellung in Italien, die ganze Errungenschaft eines
^stninäßigcn Ehrgeizes stand auf dem Spiele. Cäsar verschloß sich diesen
Tagungen keineswegs, und er handelte mit jener Verwegenheit, welche das
Leben des ungewöhnlichen Mannes bezeichnet.
Der Zusammenhang dieser Thatsachen ist einleuchtend, und auch Napoleon
. ihn nicht anders verstanden, der wol befähigt war, aus erschütternden
Dritten des eignen Lebens die Triebfedern eines Mannes wie Cäsar zu
Ziffern. Sehen wir nun, was die Herrn Delacroix und Quicherat aus den
sichten des berühmten Feldherr gemacht haben. Cäsar sagt, daß er durch
^ äußersten Grenzgebiete der Lingonen seinen Marsch nach dem Sequanschen
kommen habe (. ., quum OiZ-kK^r in Le^uanos per oxtromos llnZonum
ünos iter fachee,.. .).*) und dies steht mit allem vorher Gesagten in völliger
Uebereinstimmung. Denn schon auf dem linken Ufer der Saone war sequa-
nisches Land, und daß die alte Diöcese von Langres. welche so ziemlich das
Gebiet der Lingonen darstellt, vom Armcmyon längs der Brenne zur OlM
lief, hat Rossignol aus Urkunden dargethan. Die Herrn Delacroix und
Quicherat aber haben jene Worte ans künstliche Weise in völligen Unsinn in"-
geschaffen. Ihnen zufolge zieht Cäsar tief in das Sequanische hinein,
der seltsamen Absicht, über den Jura hinüber den Rückzug nach Gens zu suchen
Sie lassen sodann ihren Helden am Ognvn in der Gegend von Gray mit Vercin¬
getorix zusammentreffen, der aus dem Jura herbeigeholt wird, und so finde«
das bekannte Reitcrtreffen statt. Hierauf kugeln beide Heerestheile gemeinst
durch die hügelige Hochebene nach Salms hinüber, in die Schluchten vo»
Alaise. Daß Vercingetorix sich nicht nach dem trefflich befestigten Vesontio
wendet, begreift man, sobald uns Herr Delacroix die Sequaner als Engve»
bürdete des Cäsar darstellt; aber grade diese Annahme bildet die Krone des
Unsinns. Vercingetorix soll plötzlich mitten aus einem feindlichen Volksstamme
hervorwachsen, und den Rückhalt aufgegeben haben, den die Nähe sein"'
Bundesgenossen ihm geboten hatte. Umgekehrt will Cäsar die Stadt Vier""
und die Provinz schützen, und er entfernt sich in weitem Bogen von de"
Punkten, die er im Auge hat. Die durch Gallien hin zerstreuten Gegner und
Anhänger bleiben sich selbst überlassen, und die beiden Feldherrn kämpft"
um ein Vorwerk des Jura, dessen Vertheidigung und Eroberung gleich wen'S
Sinn hat. Die inneren Widersprüche, welche die Auffassung der Herrn Dclacro'l
und Quicherat nothwendig hervorruft, hat Herr Rossignol. da wo er den Rück¬
zug des Vercingetorix bespricht, meisterhaft zusammengefaßt."*)'
Mit dem Nachweise von der Nichtigkeit eines Zuges nach dem Jura wo
die Wagenburg gefallen, welche die Herrn Delacroix und Quicherat in d>e
Mitte ihrer Schlachtlinie gestellt hatten. Herr Rossignol sitzt ihnen unauf¬
hörlich auf den Fersen, und läßt sie nicht mehr zu Athem kommen:
ihre ins Feld geschickten Truppen wenden sich zu ordnungsloser Flucht.
den nachfolgenden Untersuchungen reißt der siegesgewisse Kritiker ein sei^
nach dem andern aus dem Gebäude, dessen schnell verwitternder Baustoff
rasch verflüchtigt. Herr Rossignol bespricht in einem lehrreichen Adhad"'^
das Land der Mcmdubier, die Bedeutung der Stadt Alesia und den tara^
erwachsenen Gau. Er paßt die Beschreibung des römischen Lagers den OertlicV'
leiten um Alesia an und erläutert die gallischen Zuzüge, bis zur gänzlich^
Unterwerfung des Vercingetorix.-!.-) So wird denn auch die unmittelbare Untern'^
fung der sehr schwierig gewordenen Actuar begreiflich. Aber nicht blos die in leben¬
diger Handlung vor uns erscheinenden Persönlichkeiten der Geschichte hat Herr
Rossjgnol als Zeugen vorgeführt; erruft auch die stummen Schatten der Gräber
auf, ^un gegen das Luftgebilde der Herrn Delacroix und Quicherat Verwah¬
rung einzulegen. Mit Sachkenntniß und Geschick führt er uns unter den Trümmern
des alten Alcsia umher, zeigt und erläutert Denkmäler, Inschriften. Gefäße,
Waffen und Werkzeuges. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit, daß auf einer
erhaltenen keltischen Inschrift der Name von Alesia mit dem Worte Alisija
gegeben ist. dem das griechische ^^i« beim Plutarch vollkommen entspricht.**)
Mit einer Wiederholung der Hauptpunkte führt der Verfasser den letzten Schlag.
Aber so tödtlich auch die Wunde war. welche Herr Rossignol seinem Geg¬
ner versetzte — es gibt Schriftsteller, welche wie die Heiligen Felix. Regula
und Exuperantius sich immer wieder aufraffen, und mit abgehauenen Kopfe
noch umher wandeln, ehe sie völlig zu Boden sinken. Es ist unendlich schwer
einem Triumph zu entsagen, auf welchen die Eitelkeit ihre Berechnung ge¬
baut hat. Man wollte das letzte Wort behaupten, und da dies in der Haupt¬
sache nicht möglich war, so fing man an zu Scharmützeln und zu necken, fremde
Dinge herbcizuziehn. persönliche Angriffe zu machen, und Seitenangriffe zu
versuchen. Aber erst als man den Vorwurf wagte, daß Herr Rossignol den
Käsar falsch verstanden, antwortete dieser in seiner Schrift: Lxameu eritiyue
6v 1a trüäueticm et'un texte tonänmontal anus In (luostion ä'^uso, mit Um-
sicht auf den übel gerathenen Querwurf. Ich sage: übel gerathen! Denn
wenn man den Zustand der Wissenschaften in Frankreich nach der Art und
Weise, in welcher die Herrn Delacroix und Quicherat dieselben vertreten, be¬
urtheilen wollte, so müßte man glauben, daß es damit zu Ende gehe, und
daß weder in Behar^on noch in Paris irgend jemand noch lateinisch ver¬
gehe. Während dieses Geplänkels hatte sich Herr Quicherat zu einem neuen
^ersuche aufgerafft, und veröffentlichte eine Abhandlung, die er zuerst in der
Gesellschaft der Alterthumsforscher von Frankreich vorgelesen hatte, unter dem
zuversichtlichen Titel: I/^lüsia. de veslU' ieuäuv 5 ig. ?i'laeue-come6, r<M-
^lion at tous les in6moll-Ls sur ^uso." Der Zweck wurde wiederum ver-
sM; denn die Akademie der Inschriften, aus deren Zustimmung es zunächst
^gesehen war. erkannte in ihrer Sitzung vom V.August 1857 der Denkschrift
Rossignol den Preis zu. Von dieser Seite zurückgeworfen, wendete sich
Herr Quicherat von neuem zur Oeffentlichkeit zurück und ließ seine Denk-
^rise in einer Reihe von Zeitungen verherrlichen. Der unerschrockene
Rossignol aber schleuderte eine neue Streitschrift gegen den wiedererstan¬
den Kämpen, die durch ihre Nüchternheit fast noch größere Verwüstungen
anrichtet, als die durch anmuthige Wendungen erheiternde erste Abhandlung.
Sie führt den Titel: „I^lvsig. As Lesiir inainwuuL clans l'^uxois. liöxonso
ü. N. I. (Zuielnzi-at. Aber auch so begaben sich die Gegner noch nicht zur
Ruhe. Herr E. Dcsjardin, Professor der Geographie, spielte den Verlornen
Streit auf ein abgelegenes Gebiet hinüber, indem er den städtischen Begriff
von Alesia herzustellen suchte, und Herr Renan vertrat diese Ansicht in dem
Schoße der Akademie. Auch darauf erwiederte Herr Rossignol in seiner letz'
ten Schrift: „I)e 1'open'einen (Zirnlois K propos ä'^Iösig.."
Mittlerweile ist eine Abhandlung von dritter Hand erschienen, welche die
bisherige Literatur berücksichtigt, und einen unparteiischen Standpunkt einzu-
nehmen sucht. Sie sührt den Titel: Alesia,. l^tnclv für Je», so^tiömo cam-
xagne et« Läsar,^) und soll von einem der Orleansschen Prinzen herrühren-
Der Verfasser erklärt, daß Herrn Quichcrats Schrift ihn anfänglich ganz für
sich eingenommen habe; er legt aber zugleich das ehrliche Geständnis; ab, daß
diese Wirkung keine nachhaltige gewesen sei. Als nämlich der Verfasser sich
die Mühe nahm, die Worte der ursprünglichen Schriftsteller etwas näher an-
zusehen, da stieß er auf die Inhaltlosigkeit der neuen Entdeckung. Aber das
ist grade der Hauptpunkt, und kein geistreiches Feuerwerk, auch wenn es in den
sieben Farben des Regenbogens schillerte, kann auf die Dauer für den Mange-
einfacher Wahrheit entschädigen. Eben deswegen wäre es auch am Orte ge-
Wesen, der Arbeiten des Herrn Rossignol einläßlicher zu gedenken, da diesem
das große Verdienst gebührt, der Ucberflutung rhetorischer Floskeln den ersten
Damm entgegengesetzt zu haben. Aber es wird derselben nur leise, nur oben¬
hin gedacht, während man die glänzenden Einfälle der Herrn Delacroix und
Quicherat mit einer Glimpflichkeit behandelt, als ob es sich um die Wunde»
thätigkeit eines Heiligenbildes handelte. Ja! der Verfasser begibt sich ü>n
Schlüsse der Abhandlung fast wieder der eignen Ueberzeugung, indem er die
letzte Entscheidung der Frage von den künftigen Ausgraöungen bei Alaise ab¬
hängig macht. Ausgrabungen bei Alaise! Sie können immerhin der Wissen¬
schaft von Nutzen sein; aber hofft man etwa einen versteinerten Codex von
Cäsars Commentarien zu finden, der die Geschichte der Feldzüge nach deM
Entwurf der Herrn Delacroix und Quicherat enthielte? Man sieht, der
Verfasser behauptet den Standpunkt der sogenannten richtigen Mitte. Diese
mag in manchen Dingen ihre Berechtigung haben: aber wo es sich um Wah^
heit, um Recht, und wie hier, um greifbare Thatsachen handelt, da führt
zur Halbheit und Schwäche.'
Während des Streites wurden die Stichwörter: Franchccomtois und BoM
guignon vernommen.' Dieses geschah vorzüglich von Bcsanyon her. Aber
wan hätte dort erwägen sollen, daß es ein wunderliches Schauspiel ist, wenn
gelehrte Herrn und haarsträubender Beweisführung ihrem Lande die Ehre er¬
kämpfen wollen, die Stätte zu besitzen, an welcher die gallische Freiheit zu Grunde
gegangen, und dem Volke anzugehören, weiches dazu redlich mitgeholfen. Wir
legen auf diese Nachklänge provinzieller Eifersüchteleien wenig Gewicht, beson¬
ders wenn sie in der Form einer so thörichten Eitelkeit erscheinen; aber zwei
andere Thatsachen sind von größerer Bedeutung. Zuerst, daß man anfängt
sich den Ansprüchen der wissenschaftlichen Körperschaften von Paris als letzt-
richterlichen zu entziehen. Dieses geschieht freilich von den Herrn Delacroix
und Quicherat aus krankhafter Gereiztheit; gleichwol wünschen wir, so sehr
!vir in den Akademien und Universitäten die nothwendigen Leiter der gelehrten
Republik erkennen, daß neben ihnen die öffentliche Meinung lebenskräftig fort¬
bestehe, und grade von dieser öffentlichen Meinung erwarten wir die vollkom¬
mene Genesung des Herrn Delacroix und seiner Genossen. Die andere, aber
erfreuliche Thatsache ist das Auftreten des Herrn Rossignol. Es beweist hin-
iünglich, daß noch lange nicht aller Rahm der Gesellschaft sich in Paris zu¬
sammengezogen hat, und daß es auch in der Provinz nicht an Männern fehlt,
welche für freie Ueberzeugung und Wahrheit einzustehen das Herz haben,
^le Uebel, gegen die Herr Rossignol kämpft, sind zwar in Frankreich vor¬
zugsweise vertreten; doch fehlen sie darum anderwärts keineswegs. Auch bei
^Ah gibt es Bestrebungen eitlen Wahnes, müßige Hirngespinste, übertünchte
Irrthümer, welche von Zeitung zu Zeitung verschleppt werden, und gegen die
^ sich verlohnte, mit der Feuersprache der Wahrheit aufzutreten.
Ob die Anfänge der Beobachtung und Berechnung der Gestirne und des
dem Sterndienst zusannnenhängendcn Glaubens an den Einfluß der Pia-
^en auf die Schicksale der Menschen bei den Aegyptern oder Babyloniern
suchen seien, bleibe hier unentschieden. Gewiß ist. daß seit dem Sturz
„ Persischen Reiches durch den Macedonier Alezander die Kentnisse und
eheimnisse der chaldäischen Priesterkaste sich über die griechischen Cultur-
^"den verbreiteten und die Astrologen des Ostens, welche vorgaben, schon
Myriaden Jahre vor Alexander im Besitz der Kunst gewesen zu sein, die breite
Straße des Erwerbs nach dem Westen einschlugen. Am Hofe Alexanders und
der Diadochen spielten sie bereits eine große Rolle, während in Griechenland
selbst ihre Constellationslehre wol vorher schon bekannt gewesen war, (das
spartanische Gesetz, welches nicht gestattete ins Feld zu rücken, bevor der Voll'
molto eingetreten war, deutet darauf hin), aber verhältnißmäßig keinen be¬
deutenden Einfluß gewonnen hatte. Nirgend fanden die Sterndeuter aber
einen günstigeren Boden als in Rom während des Unterganges der Repub¬
lik und in der Kaiserperiode. Mehre Ursachen vereinigten sich, ihnen dort
gute Aufnahme zu sichern. Der Römer war überhaupt abergläubischer als
der Grieche; Zeichendeuterei und Wahrsagerei umspann bereits das Staats'
und Privatleben; der stark fatalistisch gefärbte Volksglaube konnte der An¬
nahme einer unabwendbaren Vorherbestimmung jedes Menschen von der Ge-
burt an nicht abhold sein, und als nun in der allgemeinen Auflösung des
sittlichen Lebens der Glaube an die alten Institute der Divination unterging,
als die Formen und Religionen aller Völker sich in Rom zu vermischen be'
garnen, als in Hinblick auf den auffallenden Wechsel und das Wandelbare
der menschlichen Schicksale die irreligiöse Generation den obersten Rang in
der Götterwelt der blinden Fortuna einräumte: da wurde auch die Neugierde
auf die kommenden Dinge mächtiger und jeder Ehrgeizige hegte endlich den
Wunsch, den Schleier seiner Zukunft zu lüften. So kommt es denn, daß die
Astrologen nicht wenig, sowol absichtlich, als auch zufällig in die damaligen
Geschicke der Welt mit eingegriffen haben; ja, man kann dreist behaupten,
daß manche ihrer Prophezeihungen wirklich eingetroffen sind, dadurch, daß
energische Naturen das ihnen verkündigte hohe Ziel fest ins Auge faßten und
so endlich in blindem Vertrauen auf die Wahrheit ihres Horoskops die vor'
gespiegelte Zukunft in eine wirkliche verwandelten.
Schon im Jahre 139 v. Chr. wurden die Sterndeuter, in Rom Chal-
däer oder Mathematiker genannt (die jetzige Mathematik hieß Geometrie)
durch ein Edict des Prätors Cornelius Hispallus bedeutet, innerhalb
zehn Tagen Rom und Italien zu verlassen. Doch scheinen sie damals noch
eine ziemlich verachtete Classe gewesen zu sein. Der erste angesehene Man»
den sie ganz bethörten, war der Consul Octavius. Er ließ sich im Jah^
87 bei der Annäherung seines Feindes Marius von den Chaldüern bewegen-
in der Hauptstadt zu bleiben, und als er von den Trabanten des neuen Mach^
Haders auf dem curulischen Sessel niedergehauen worden war, fand man u>
seinem Busen eine Tafel mit dem trügerischen Horoskop. Marius selbst h"'
sehr viel auf die Wahrsagekunst und soll selbst in den Tagen der höchsten Ge'
fahr festes Vertrauen zu einer alten Prophezeihung gehegt haben, die ihw
das siebenmalige Consulat verheißen hatte. „Sulla, sagt Plutarch, ^
nicht nur seinen Tod voraus, sondern beschrieb ihn auch gleichsam. Den"
er brachte zwei Tage vor demselben das zweiundzwanzigste Buch seiner Me-,
Moiren zu Ende, in welchem er meldet, daß ihm die Chaldäer vorhergesagt
hätten, er werde im höchsten Glücke sein Leben beschließen." Traf hier die
Verheißung des Erwünschten zufällig ein. so heißt es dagegen bei Cicero:
.Wie vieler Aussprüche der Chaldäer erinnere ich mich in Bezug auf Pompe-
Nis. auf Crassus und selbst Cäsar, dahin lautend, daß jeder derselben im
Greisenalter, zu Hause, im höchsten Glänze des Ruhmes sterben würde! Es
ist mir wunderbar, daß es überhaupt noch jemanden gibt, der ihren Prophe-
Zeihungen glaubt, da dieselben doch täglich durch den Erfolg widerlegt wer¬
den." Es finden sich diese Worte des großen Redners in seinem Buch „über
die Weissagung", in welchem er in einem längeren Abschnitt gegen die Ver¬
nunftwidrigkeit und den verderblichen Einfluß der astrologischen Grundsätze
eifert. Es hatten diese damals aber bereits eine solche Gewalt über die Ge¬
müther erlangt, daß ein gewisser Tarutius Firmanus es wagen konnte,
dle Geburtsstunde der Stadt Rom zu berechnen, zu behaupten, daß zu jener
Zeit der Mond im Zeichen der Wage gestanden habe und darnach die wei¬
teren Schicksale zu bestimmen. Ein anderer Zeitgenosse Ciceros, der berühmte
Grammatiker P. Nigidius Figulus. soll als eifriger Astronom und Na-
twitütssteller. sobald er die Nachricht von der Geburt Octavians erhielt, den¬
selben als künftigen Herrn des Reiches bezeichnet haben. Weniger auf diese
Aeußerung als auf ein anderes Begegniß gründete sich spater Octavians Zu¬
versicht auf seinen glücklichen Stern. Wenige Monate vor seines Oheims Er¬
mordung war er nach Apollonia in Jllyrien gesandt worden, um sich dort
Mit dem Heer bekannt zu macheu und seine Studien fortzusetzen. Da trieb
ihn einst die Neugierde und das Beispiel anderer, den in der Nähe wohnen¬
den Seher Thcogenes zu besuchen. In Begleitung Agrippas erstieg er die
Höhe, auf der das astronomische Observatorium stand, und ungekannt betraten
^e dasselbe. Agrippa fragte zuerst und erhielt so große und beinahe unglaub¬
liche Versprechungen, daß der junge Octavian, aus Furcht, ein geringeres
^°os zu ziehn, sich weigerte, die Stunde seiner Geburt anzugeben. Schüchtern
that er es endlich aus vieles Zureden; Theogenes verstummte und — bezeugte
^drü fußfällig seine Verehrung. Wer kann wissen, ob nicht dieser Vorgang
die schlummernde Herrschsucht in Cäsars Neffen weckte, ihn wenigstens mäch¬
tig in den Entschlüssen stärkte, welche er vielleicht wenige Wochen später als
^klarier Erbe von Cäsars Namen und Vermögen faßte? Thatsache ist. daß
^ als Kaiser eine silberne Münze mit dem bei seiner Geburt dominirenden
Zeichen des Steinbocks prägen ließ und die Widmung der astrologischen Ge¬
richte des Manilius annahm. Natürlich kam unter ihm die- Genethlialogie
^ der Hauptstadt immer mehr in Aufnahme; sorgfältig notirte man bei jedem
Kinde die entscheidende Stunde, und selbst die Damen interessirten sich schon
lebhast für die Wissenschaft der Zukunft und studirten die von den Mathe¬
matikern herausgegebenen Schemata und Berechnungen. Daher sieht sich
Horaz veranlaßt, seiner Freundin Leukonoe zuzurufen: „Forsche nicht, denn
eS ist frevelhaft, was Zeus für ein Loos bestimmt, o Leukonoö, für dich
oder mich, flieh die chaldüischen Zahlen. Besser erträgt man mit Geduld,
was uns beschicken ist." Auch das furchtsame Gemüth Mäcens, der sich
vielleicht über die gefährliche Stellung der Planeten in seiner Nativität Sor¬
gen machte, beruhigt er mit den Worten: „Warum entseelest du durch dein
Klagen mich? Der Götter Will' ists nicht, noch der meinige, daß du Mäcen,
mein Stolz und meine mächtige Stütze zuerst entschlummerst. — Ob einst
die Wag' auf mich, ob der Skorpion, der ersten Lebensstunde gewaltiger
Begleiter, grausenvoll herabsah, oder des Weltmeers Tyrann, der Stein¬
bock: so stimmt unglaublich unser Geburtsgestirn zusammen." — Endlich
nahm das Unwesen so überHand, daß sich Augustus genöthigt sah, im Jahre
11 n. Chr. die Astrologen zu beschränken, indem er ihnen verbot, einem
Einzelnen Orakel zu ertheilen , besonders über den Tod anderer, was auch in
Gegenwart mehrer nicht geschehn sollte. Auch mögen unter den 2000 pro¬
phetischen Büchern, die er verbrennen ließ, viele astrologischen Inhalts ge¬
wesen sein. Noch leidenschaftlicher aber h.uldigte der Kunst Tiberius. Während
seines halb unfreiwilligen Aufenthaltes in Rhodus, als er in Zurückgezogenheit
fern von der Stadt ein einsames Haus hoch aus steilem Meeresufer bewohnte, hatte
er sich dem Studium der Philosophie und Mathematik ergeben. Sein Lehrer
Th rcrsyllus. wurde bald Mitwisser seiner geheimsten Gedanken, besonders seit¬
dem.er den Prinzen anch in der geheimnißvollen Kunst der Chaldäer unterrichtete-
Allnächtlich geleitete ein Freigelassener von großer Körperstärke und geringem
Verstände den Philosophen auf schwindelnden Stege zum Hause, wo dann
dieser neben Tiberius aus dem hohen Altan den gestirnten Himmel beobachtete
und dem Schüler über die künftige Herrschaft und die Geschicke der im Wege
stehenden Verwandten befriedigende Auskunft ertheilte. Allein es verging
Jahr auf Jahr, die Zukunft Tibers schien sich immer mehr zu trüben und
mit dem schwindenden Vertrauen wurde sein Verhältniß zu Thrasyllus immer
kälter. Endlich beschloß er sich des möglichen Verräthers seiner verborgensten
Pläne zu entledigen und gab eines Tages dem Freigelassenen Befehl, den
Astrologen auf dem Rückweg von den Felsen hinabzustürzen. Zuvor wollte
er jedoch noch einmal die Kunst des Lehrers aus die Probe stellen und fragte
ihn, ob er seine eigne Geburtsstunde kennte, und was wol das Jahr. d>e
gegenwärtige Stunde ihm brächte? Thrasyllus hatte genug Gelegenheit gehabt,
die Gemüthsart des Fragestellers kennen zu lernen; er war ein sehr klug^
Kopf und ahnte die ihm drohende Gefahr. Nachdem er also die Stellung
und Entfernung der Gestirne gemessen hatte, geriet!) er in Verwirrung, begann
zu zittern und rief endlich voll Staunen und Furcht: „die Stunde ist für mich
sehr bedenklich, es droht mir eine sehr große Gefahr!" Da umarmte ihn
Tiberius und wünschte ihm Glück dazu, daß er durch die Sicherheit seines
Wissens der Gefahr entronnen sei. Einen zweiten Beweis zu seinen Gunsten
lieferte der Astrolog dadurch, daß er, als das Regierungsschiff in Sicht kam,
welches dem Verbannten die Erlaubniß zur Rückkehr brachte, vorhersagte, das
Schiff berge eine freudige Nachricht. Tiberius konnte sich nun von Thrasnllus
nicht mehr trennen, nahm ihn mit sich nach Rom und behielt ihn bis ans
Ende seines Lebens in seiner Nähe. Sehr klug hatte sich der Astrolog vor
jeder gefährlichen Ungnade seines Herrn geschützt, indem er stets behauptete.
Tiberius werde zehn Jahre später als er selbst sterben; ja er erwarb sich da¬
durch, vielleicht ohne es zu wollen, ein Verdienst um andere insofern, als der
grausame Tyrann gegen das Ende seines Lebens trotz der zunehmenden
Schwäche manche blutige Maßregel aufgeschoben haben soll, weil ja sein ge¬
treuer Thrasyllus noch lebte! — Uebrigens gab der kaiserliche Adept auch Pro¬
ben seiner eignen Kunstfertigkeit und soll unter anderem dem unglücklichen
Galba. als derselbe noch Consul war, gesagt haben: „Auch du wirst einst
die Herrschaft kosten!" Trotzdem hegte er aus angebornem Argwohn und eig¬
ner Erfahrung Mißtrauen gegen die Chaldäer und gestattete ihnen nur auf
ihr Versprechen, die Ausübung ihres Gewerbes unterlassen zu wollen, den
Ausenthalt in Italien. Ais aber später die Untersuchungen gegen Scribonius.
Lido und Lepida darthaten, wie leicht jenes Gelichter selbst schwache Gemüther
"ut nichtigen Hoffnungen erfüllen und zu gefährlichen Unternehmungen reizen
konnte, veranlaßte er einen Senatsbeschluß zur Vertreibung der Chaldäer und
Magier und ließ einen derselben vom tarpejischen Felsen herabstürzen, einen
"»dem auf dem NichtPlatz der Sklaven enthaupten. Allein die Charlatane
waren längst der Hauptstadt unentbehrlich geworden, alle Verbote blieben
erfolglos; „den Mächtigen unzuverlässig und trügerisch den Hoffenden," wie
Tucitus sie nennt, fanden sie sich stets wieder ein. Der unsinnige Caligula
scheint wenig auf chaldäische Weisheit gegeben zu haben und man erzählte
sich bei Hofe, er habe den ungeheuern, zwecklosen Brückenbau über die
3.«00 Schritte lange Wasscrstrccke von Bauli nach Puteoli blos deshalb unter¬
nommen, um die Prophezeiung des berühmten Thrasyllus zu nichte zu machen:
d"ß Caligula ebenso wenig zur Regierung gelangen könnte, als über die Bucht
""n Baja mit Rossen fahren. Allein gegen sein Ende hin soll er sich doch
^abgelassen haben, den Mathematiker Su ita über seine Zukunft zu befragen
"ut mit der bestimmtesten Verkündigung des nahen Todes bedacht worden
^'in. Unter Claudius waren einige Hochverrathsprocessc wegen Befragung
Chaldäer über Verhältnisse des kaiserlichen Hauses die Ursache zu einem
Abermaligen „harten und vergeblichen" Verbannungsdecrct. Desto sehnlicher
scheinen die Chaldäer den Tod des beschränkten Kaisers erwartet zu haben.
Wenigstens läßt der über den Aberglauben seiner Zeit hoch erhabene Philo¬
soph Seneca in seiner Spottschrift auf den Tod des Claudius den Mercur
zu einer der Parzen sagen: „Gestatte doch endlich einmal den Astrologen die
Wahrheit zu sagen, die jenen, seitdem er Kaiser geworden ist, in jedem Jahre,
in jedem Monate begraben lassen!" Die zweite Gemahlin des Kaisers. Agrip-
pina, die würdige Mutter Neros, war ganz in den Händen der Mathematiker.
Der Sohn des Thrasyllus hatte ihr vorausgesagt, daß ihr Sohn zwar den
Thron besteigen, aber seine Mutter todten werde, worauf sie erwiedert haben
soll: „Mag er mich todten, wenn er nur Kaiser wird!" Die Astrologen wäre»
serner mit Schuld an der Verheimlichung vom Tode des Claudius, we>^
Agrippina erst die von ihnen bestimmte glückliche Stunde zur Proclaminmg
des neuen Kaisers abwarten wollte. Mit Nero begann die eigentliche goldene
Zeit der Wahrsagerei. Er selbst duldete nicht nur die Chaldäer, sondern ließ
sich selbst oft von ihnen die Zukunft enthüllen. Da sagten ihm denn einige vor¬
aus, daß er einmal die Krone wieder verlieren würde, und er soll darauf »ut
desto größeren Eiser der Musik obgelegen haben, dn er sie als seine künftig
Ernährerin ansah; andere versprachen ihm die Herrschaft über den Orient,
namentlich das Königreich Jerusalem, mehre endlich auch die Wiedereinsetzung
in die verlorene Würde. Die Erscheinung eines Kometen beunruhigte ihn
und aus den Rath des Astrologen Babilus suchte er das Verderben durch
mehre aus den Vornehmsten gewählte Schlachtopfer von sich abzuwälzen.
Auch die berüchtigte Poppäa Sabina war von Mathematikern („den schlecht
echten Werkzeugen einer Fürstin", bemerkt Tacitus) umgeben, die in alle ihre Ge¬
heimnisse eingeweiht waren. Kein Wunder daher, wenn die ängstliche Scheu vor
den Planeten in alle Verhältnisse des Lebens eindrang, wenn selbst in der
Heilkunde Krinas aus Marseille als Stifter einer neuen Schule sein Glück
machte, — er hinterließ gegen 600,000 Thaler zum Bau der Stadtmauern
von Marseille, nachdem er die gleiche Summe bei Lebzeiten schon einer o.n-
dem Stadt zugewendet hatte — die nach genauer Beobachtung astrologisch^
Stundentafeln Speisen und Arzneien zu nehmen vorschrieb. Am treffendste"
charakterisier diese Zustände Juvenals sechste Satire ungefähr mit folgenden
Worten: „den Chaldäern schenkt man sehr großes Vertrauen; was ein Astr^'
log sagt, dem glaubt man, als sei es ein Orakelspruch des Jupiter AnunoN'
Der angesehenste unter ihnen ist aber, wer mehrmals verbannt worden ist'
denn es fließt der Kunst Vertrauen zu. wenn an der rechten und linken Hu>^
die Fesseln geklirrt haben, wenn man recht lange im Gefängniß des Feldlager^
geschmachtet "hat. Einer, der noch nicht verurtheilt worden ist, wird nie den
Geist der Weissagung besitzen, nur ein solcher, der kaum dem Tode entrinne!?
konnte, dem es mit Mühe glückte auf eine der Cykladen geschickt und endlich
vom Jnselchen Seriphus wieder zurückgerufen zu werden. Bei ihm befragt
sich deine Hausfrau über den zögernden Tod ihrer gelbsüchtigen Mutter, vor¬
bei aber über den deinigen; wann sie die Schwester, wann ihre Oheime zur
ewigen Ruhe begleiten werde, ob ihr Geliebter sie überleben werde? Sie hat
jedoch feine astrologischen Kenntnisse und weiß nichts von den Häusern und
Kräften der Planeten. Hüte dich aber, einer Frau zu begegnen, in deren
Händen du ein abgenutztes, bernsteingelbes astrologisches Tagebuch erblickst!
Sie befragt niemanden, sondern ertheilt schon selbst Antworten, sie wird sich
nicht von der Stelle rühren, sobald ihr die Berechnungen des Thrasullus ab¬
wichen, mag der Mann ins Feld ziehen, oder ins Vaterland heimkehren,
beliebt es ihr, eine Spazierfahrt bis zum ersten Meilenstein zu machen, wird
die Stunde dazu dem Buche entnommen; juckt der etwas geriebene Winkel
Auges, so wird das Horoskop gestellt und darnach Augensalbe gefordert;
uegt sie krank, so ist keine Stunde zum Speisen schicklicher, als welche der
Mßte Astrolog Aegyptens Petosiris gerathen hat." Einen passenden historischen
^eleg zu dieser Stelle liefert die von Tacitus im 1L. Buche der Annalen er¬
zählte Verrätherei des Antistius Sostanus. Dieser war wegen einiger Spott¬
gedichte auf Nero aus eine Insel verbannt worden und machte dort mit einem
berühmten Chaldäer, Namens Pnmmenes. Bekanntschaft. Letzterer lebte
ebenfalls dort im Exil, unterhielt aber mit seinen vornehmen Kunden in
Nun einen lebhaften Briefwechsel. Hierauf baute Antistius seinen Bestciungs-
plcm. Nachdem er sich in des Chaldäers Vertrauen eingeschlichen, suchte er sich
Unter dessen römischen Correspondenten einen römischen Edlen, Namens Antejus
"us. Derselbe hatte bei Neros Mutter in Gunst gestanden und war daher
dem Kaiser verhaßt; außerdem hatten seine Reichthümer einen Reiz für Nero.
Antistius sing also dessen Briefe auf, stahl daun bei Pcunmenes des Antejus
Horoskop und Prophezeihungen über den Regenten und denuncirte den Frage¬
steller wegen Hochverraths. Er erreichte zwar seinen Zweck und erlangte die
Freiheit, wurde aber bei Vespasians Regierungsantritt als Angeber wieder
"Uf dieselbe Insel zurückgeschickt. — Die angesehenen Astrologen ließen sich
theuer bezahlen (in einer Anekdote des Appulejus bekommt Diaphanes
einer griechischen Stadt für Angabe eines glücklichen Reisetages 100 Denare),
^der auch der gemeine Mann hatte Gelegenheit, die Sterne zu befragen.
"Das plebejische Schicksal," sagt Juvenal. „hat seinen Stand im Cirkus oder
"Uf dem Walle (jeßt Porta San Lorenzo); dort fragt die Frau des Schenk-
^U'ass. ob sie ihren Mann 'verlassen und deu Kleidertrvdler heirathen soll."
^und diese vagabundirenden Sterndeuter erkundigten sich nach Jahr, Tag und
stunde der Geburt und rechneten dann mit Hilfe von Nechensteinchen, die
""f einer Tafel aufgelegt wurden oder an den Fingern den Bescheid aus.
^hre Manieren beschreibt der jüngere Plinius am Beispiel seines Feindes, des
Rechtsverdrehers Regulus. Dieser kam zu einer reichen Frau ans Krankenlager.
„Er setzte sich nahe zu ihr, fragte sie. an welchem Tage, zu welcher Stunde sie
geboren sei; als er das gehört hatte, nahm er eine ernste Miene an, faltete
die Augenbrauen, bewegte die Lippen, spreizte die Finger und rechnete
nur, damit die Arme recht lange in Erwartung schwebte. Du stehst, sprach
er hierauf, in einem Stufenjahre; aber du wirst davon kommen. Und iB
die Probe auf sein Exempel zu machen, läuft er schnell zu einem Eingeweide'
beschauer und erhält natürlich dieselbe Antwort. Die leichtgläubige KraB
verlangt ihr Testament und setzt dem Regulus aus Dankbarkeit ein Legat aus-
als sie aber immer kränker wurde, verwünschte sie sterbend den meineidige"
Betrüger."
Auch der in der Schule Neronischer Genußsucht verdorbene Otho ließ
sich ganz von Astrologen beherrschen und als einmal die Prophezeihung
Ptolemäus eingetroffen war, daß er den Kaiser Nero überleben werde,
schenkte er leicht der weiteren Versicherung Glauben: daß er selbst ^
Kaiserwürde bestimmt sei und lebte sich iso in diesen fatalistischen Wal)"
hinein, daß er sogar die Ermordung Gathas beschleunigte, weil es die Seer"'
tenter so haben wollten! Sein Nachfolger Vitellius, früher in allem de'"
Orakel der Sterne gehorsam, haßte als Kaiser die Mathematiker tödtlich u>^
ließ jeden, der sich verrieth, ohne Untersuchung hinrichten. Er hatte nämliä)
ein Edict publicirt. in welchem er ihnen geboten hatte, bis zum ersten Octobc>'
Italien zu verlassen; am nächsten Morgen las man an allen Straßenecken.
„Glück und Heil! Die Chaldäer sagen hiermit an. daß Vitellius Germania^
bis zum ersten October nicht mehr czistiren wird." Auch unter Vespcisia"
blieb dies Verbannungsdecret gegen die Unverschämter in Kraft; der Kerl^
aber selbst war, wie Tacitus sagt, nicht frei von diesem Aberglauben u>'d
hatte stets den Astrologen Seleukus als Berather in seiner Nähe. Ihm peril»
die Zuversicht auf seine Nativität solches Selbstvertrauen, daß er einst de>"
Senate, der einiger Verschwörungen wegen besorgt geworden war. persiche^'
entweder würden seine Söhne ihm nachfolgen oder niemand. Titus
selbst Eingeweihter der Kunst und stellte nach Sueton anderen das Horoskop
Der Haß Domitians. der die Chaldäer ebenfalls vertrieb, hatte, wie a» '
ursprünglich bei Vitellius, seinen Grund .darin, daß ihm dieselben Una"'
genehmes in Beziehung auf seinen Tod prophezeiht hatten. Die Erzähln^
Suetons vom Märtyrertode des Astrologen Ascletario klingt wahrhal
legendenartig. Derselbe hatte das nahe Ende Domitians vorhergesagt u»
wiederholte seine Prophezeihung muthig vor dem Tyrannen. Auf die Fe"^
welches Ende denn er selbst haben werde, antwortete er: „Ich werde in ku'
zen von Hunden zerrissen werden." Obgleich nun der Kaiser sogleich befa^den Ascletario zu todten und sorgfältig zu verbrennen, ging die VoraU
^gnug doch in Erfüllung. Ein plötzliches Ungewitter verjagte die Leichen-
^flatter und warf vom Scheiterhaufen den Leichnam herab, der dann eine
^nee der Hunde wurde! — Bei so allgemeiner Verbreitung des Glaubens an die
Herrschaft der Planeten und an die Prädestination des Einzelnen würde es befrem-
wenn Hadrian, der in ägyptischen und griechischen Mysterien den Schlüssel
verborgener Weisheit suchte und überhaupt die Eitelkeit besaß, gründliche
^nntnisse in allen Wissenschaften zeigen zu wollen, nicht auch Fertigkeit in
astrologischen Kunst beansprucht hätte. Und wirklich hat er sich so tiefes
^Mndniß der Constellationen zugetraut, daß er stets am Anfang des Jahres
"Iles aufschrieb, was ihm im Verlauf des ganzen Jahres begegnen würde.
Natürlich standen unter ihm auch die Astrologen in großer Ehre, und da er
^ches weniger als Widerspruch vertragen konnte, so wundert man sich einiger¬
maßen, daß sein Zeitgenosse, der Philosoph Favorinus, es wagen durfte, so
°sser dem Aberglauben entgegenzutreten. „Die Astrologen", sagt er, „tappen
im Finstern zwischen Wahrheit und Lüge; durch vieles Tasten stoßen
^ zuweilen plötzlich auf das Nichtige oder sie kommen bei der Leichtgläubig¬
st der Fragenden durch Schlußfolgerungen darauf. Deshalb scheinen sie
immer die Vergangenheit besser zu kennen als die Zukunft. Die Dinge
die ihnen eintreffen, sind nicht der tausendste Theil von denen, welche
^ Lügen strafen!" In den Biographien der folgenden Kaiser geschieht der
^Uvitätsstcllcrei häufig Erwähnung. Dem Kaiser Sept. Severus z. B.,
^ als Privatmann in Afrika einen Mathematiker befragte, ging es beinahe
^uso. wie früher Octavian; durch Ausplaudern dieses Geheimnisses gerieth
^ später in eine gefährliche Untersuchung und ließ dann als Regent selbst
himichten, die im Verdacht standen, die Sterne über sein Leben befragt
^ haben. Am meisten aber wurde später die Astrologie von Alexander
^ ^crus begünstigt. Er errichtete in Rom Lehrstühle dieser Kunst und gab
Professoren öffentliche Hörsäle und Gehalt. Am Ende des dritten Jahr-
'Udevts erneuerte Diocletian das alte Verbot, nach welchem sogar die,
^ lebe Sklaven über die Zukunft ihrer Herrn antworteten, deportirt oder
5, ^ Bergwerke verwiesen, die fragenden Sklaven aber gekreuzigt wurden.
^ dem Gesetze heißt es: „Die Geometrie zu lernen und zu üben, ist von
.schein Nutzen; die mathematische Kunst aber ist verdammungswürdig und
^''such verboten." Konstantin dem Großen gebot die Staatsklugheit Vorsicht
j ^^ug auf das Heidenthum. Er verbot deshalb auch den Propheten blos,
^l'hM, der vier Wände Antwort zu ertheilen, überhaupt Besuche arm-
^ "Um und die Schwellen anderer Häuser zu betreten. Aber schon sein Sohn
.""stantius befahl, „daß die Neugierde in Betreff der Zukunft ganz ruhen
und verhängte die Strafe des Schwertes über alle Ungehorsame. Doch
strenge Gesetz wenig; denn 15 Jahre später, als unter dem leiden-i/ ' un!
dieses
schaftlichen und grausamen V.alens die Anhänger der alten Religion, be¬
gierig nach einem heidnischen Kaiser, durchaus den Namen des Nachfolgers
zu erforschen strebten, wurde auch die Astrologie wieder lebendig. Welch
abenteuerliche Mittel nebenbei in Anwendung kamen, wäre uns kaum glaub¬
lich, wenn wir nicht selbst im Zeitalter des Tischrückens und Geistcrklopscns
lebten. So schrieb der Sophist Libanius 24 Buchstaben in den Staub und
legte zu jedem derselben ein Weizenkorn. Dann ließ er einen Hahn herbei'
schaffen und beobachtete, während er gewisse Formeln recitirte. welche Körner
derselbe zuerst fraß. Einige Beamte des Hofes construirten ans Stäbchen vo»
Lorbeer ein dreifüßiges Tischchen. Dasselbe diente einer metallenen Schuld
als Unterlage, in deren Rand die 24 Buchstaben eingravirt waren. Dann
stellte sich Einer über die Schüssel, in der Rechten einen Faden mit einem
weihten Ringe haltend, der in Schwingung gerathend endlich einzelne Buch'
Stäben berührte. Während der Hahn des Libanius bis Theod gekomiue»
war, hatte der Ring erst die Buchstaben bis Theo gewählt, als ein Vorland
schrie, es könne niemand anders gemeint sein, als Theodorus, ein eing^
bildeter kaiserlicher Secretär. Leider verstand der Kaiser keinen Scherz und
wüthete mit Folter, Feuer und Schwert gegen Schuldige und Unschuldig^
Unter anderm büßte ein vornehmer Mann, der vor der Entbindung sen>^
Frau das Geschlecht des Sprößlings zu erfahren gesucht hatte, mit dem
tust seines Vermögens, und ein armer Provinzbewohncr, bei dem man d>^
Nativität eines längst verstorbenen Bruders fand, der unglücklicherweise
Kaisers Namensbruder gewesen war, wurde ohne Untersuchung enthaupt^
Eine Unmasse Bücher wurden gesammelt und verbrannt und ein neues Geh^'
bedrohte Lehrer und Schüler der Astrologie mit dem Tod.
Die alten christlichen Kirchenlehrer machten einstimmig gegen die Ast^'
logie Front und wußten noch nichts von den Spitzfindigkeiten, durch die n>a>'
sich im Mittelalter vom astrologischen Standpunkt aus gegen die Consequen»
eines fatalistischen Determinismus zu verwahren suchte. Daß von der Ku'^
die Sterndeuterei als etwas specifisch Heidnisches eingesehn wurde, ergibt si"
auch aus dem letzten Gesetze der Art. das Honorius im Jahre 409 geg"'
sie erließ; es lautet: „Wir befehlen, daß die Mathematiker, wenn sie nich
bereit sind, nach Verbrennung ihrer Bücher vor den Augen der Bischöfe
versprechen, daß sie der katholischen Religion treu bleiben und nie zu >b^
frühern Irrthümern zurückkehren wollen, nicht allein aus der Stadt ni>"''
sondern auch aus allen andern Städten vertrieben werden. Wenn sie b'
dennoch nicht entfernen und bei Ausübung ihrer Profession ergriffen ward^
sollen sie die Strafe der Deportation empfangen." Die erwähnten Gefti^
der Kaiser Diocletian, Konstantins und Valens wurden später auch von
Am Schluß unsers letzten Berichts haben wir darauf hingedeutet, daß die neue
^'Wicklung in den Douaufürstcnthümern, die dazu angethan schien, den großen
^ltconflict zu beschleunigen, möglicherweise die entgegengesetzte Wirkung haben,
aß Oestreich durch Nachgiebigkeit uach dieser Seite hiu sich aus der andern, be¬
glichen Seite Lust machen könne. Was wir seitdem vernommen, bestärkt uns
dieser Meinung.
Die Doppelwahl Cusas in den beiden Fürstentümern ist eine offenbare Auf-
^Rung gegen die Beschlüsse der wiener Konferenz. Die Conferenz hat entschieden,
aß die Union in Bezug auf die Regierung nicht stattfinden solle; die Wahlvcrsamm-
"ngcn der Rumänen haben die Union factisch vollzogen. Wenn die östreichischen
satter behaupten, daß nur ein Sophist dies Sachverhältniß leugnen kann, fo stehen
>vir entschieden auf ihrer Seite. Zugleich können wir aber die Bemerkung nicht
Unterdrücken, daß sie dieser Behauptung eine ungewöhnlich milde, man möchte sagen,
^chcidene Form geben. Diese Milde wird noch dadurch mehr charakterisirt, daß
^ «nflußrcichsten englischen Blätter die Verletzung der Conferenzbeschlüsse als eine
agatellc betrachten, über die man sich wol einigen könne; daß sie allerseits em¬
pfehlen, sich die vollendete Thatsache gefallen zu lassen. Das ist zunächst freilich
"ur ein Rath, aber ein Rath ist es.
Die Sache wird — schon jetzt scheint es unzweifelhaft — vor eine neue Cor-
'^nz gebracht werden. Damit hatte Kaiser Napoleon den einen seiner Zwecke er-
^de, in einer neuen Conferenz den Vorsitz zu führen.
Die orientalische Frage qualificirt sich als Gegenstand einer Conferenz, weil
'"an eben eine bestimmte Frage stellen, eine bestimmte Antwort erwarten kann.
"in ihr die factisch vollzogene Union gelten oder nicht? Unterstützt ihr den zu er¬
wartenden Protest der Pforte oder nicht?
Die italienische Frage konnte nicht Gegenstand einer Conferenz werden, weil
^ bekannte „Schmerzens schrei" und dessen von Oestreich geforderte Abhilfe nicht zu
^'Muliren ist. Abtretung des Ivmbardisch-vcuctianisthcn Königreichs konnte man
"es im Ernst den Oestreichern nicht zumuthen, und was man in Rom eigentlich
^ ihnen verlangte, ist durch die weisen Rathschläge der vermittelnden englischen
unter nicht deutlicher geworden. Frankreich wünscht, seine Besatzung aus Rom zu
^du, vlM. daß die Oestreichs einrücken und ohne daß eine Revolution daraus ent-
^t-, auf diese Zumuthung kann Oestreich ganz einfach erwiedern, daß es nicht die
^'sehung se'-
. In seiner Thronrede hat der Kaiser von Frankreich, bei seinen heftigen Be-
^'erden gegen Oestreich, sich auch gar wohl gehütet, die italienische Frage in den
/'^ergründ zu stellen; er hat sich am heftigsten darüber ausgesprochen, daß Oese-
^'/l) das 'Project der moldau-walachischen Union durchkreuzt habe. Da nun Frank-
^ seine Aufgabe, überall an die Spitze der Civilisation zu treten, am unschäd-
Men an dem interessanten Volk der Rumänen ausüben kann, dessen demokratische
ribünc die Pariser schwerlich elektrisiren wird, so ist anzunehmen, daß es in der
^"'w Conferenz die Union strenger und gebietender fordern, und um zugleich seine
monarchische Gesinnung und seine Vorliebe sür das deutsche Volk zu bethätigen, die
Ersetzung Cusas durch einen deutschen Prinzen beantragen wird,
Nußland wird diesem Verlangen wiederum mit Freuden beitreten, da alles,
was die Türkei schwächt, und alles was den Zcrsetzungsproceß der nichtdeutschen
Provinzen Oestreichs befördert, ihm einzig und allein zu gute kommt,
England und Preußen, die beide lebhast den Frieden wünschen, da der Krieg
ihnen nichts nutzen kann, und die bei der rumänischen Civilisation nicht so unbe¬
dingt betheiligt sind, als der Vorort der europäischen Bildung, werden Oestreich den
guten Rath geben, fünf gerade sein zu lassen.
Und Oestreich wird diesem Rath folgen. Zwar wird für seine Zukunft die He^
Stellung eines Magnetberges, welcher das Eisen aus seinen Planken zieht, sehr be¬
denklich-, aber für die nächste Zeit hat es keine Gefahr, und es überlegt wohl, daß
sich in einigen Jahren vieles ändern kann. Zunächst kann es dein Rath folgen,
denn er enthält nichts, was seine Ehre verletzt. Es wird sich sehr sträuben, sehr
ernstlich gegen den Gewaltact protestiren; um so höherer wird man ihm sein Opfer an¬
rechnen, um so leichter geneigt sein, auf der andern Seite eine Concession zu mache»'
Graf Cavour als Mitglied der Konferenz wird zwar wieder eine Rede halten, die
man dann als schätzbares Material aufbewahrt, aber der Schmerzensschrei wird
um so weniger erstickt werden, da dem Vorort der Civilisation daran gelegen se>"
muß, auch für das nächste Jahr irgend eine Beschäftigung in Aussicht zu haben.
Diese Darstellung sieht gewagt aus, und wir können natürlich keine Bürgschaft
übernehmen. Vielleicht gibt Oestreich an der Donau nicht nach, vielleicht wird ihn>
die Nachgiebigkeit nicht als genügend angerechnet. Möglicherweise tritt auch el»
uutovarä event ein, welches alle Berechnungen über den Haufen wirst. Die Je^
klarer haben zwar in ihrem bisherigen Verhalten eine seltene Gelassenheit gezeigt,
aber niemand kann dafür stehn, wie lange ein zum Haß gewaltsam angestacheltes
Volk sich zu mäßigen im Stande ist.
Aber eines möchten wir doch sür unsere Ansicht anführen: der einstimmig^
Jubel der östreichische» Blätter über die „friedliche" Tendenz der französischen Thron-
rede. Ein Unbefangener kann das Blatt hin- und herdrehen, er findet diese Ten¬
denz nicht heraus; denn die „Hoffnung", daß der Friede nicht werde gestört werde«
— den doch niemand bedrohte als Frankreich, und die „Verwunderung" über die
Kricgssucht — die doch vou niemand genährt wurde, als von den inspirirter V"'
riscr Blättern — das alles konnte schwerlich als eine Bürgschaft für den Friede»
angesehen werden, wenn man die Rüstungen Frankreichs und Piemonts, die officiel^
Sprache des Grasen Cavour, die ofsiciösc Sprache des Staatsraths La Guerronniö^
und die eiligst vollzogene turiucr Heirath in Betracht zog. Jeder Unbefangene legt
die Thronrede so aus, daß darin ein scharfer Tadel gegen die französische Bourgeois
ausgesprochen sein sollte, die bei der Aussicht auf einen neuen ruhmvollen FcldzNÜ
der großen Nation nicht die hinreichende Begeisterung entwickelte; eine Drohung ne>eb
Innen und nach Außen, die Regierung werde sich in ihrer Mission, überall die
Bildung zu verbreiten, durch kein Gerede irren lassen und sie sei stark genug, jed^
Feind die Spitze zu bieten.
Das lesen wir aus der Thronrede heraus, und niemand wird leugnen, daß
es wirklich darin steht. Aber die östreichischen Blätter lasen noch etwas Anders
heraus, und auch sie waren im Recht. Die Thronrede lobt zwar alle Staaten und
^bald nur Oestreich; sie spricht den Tadel sogar viel schärfer aus, als es sonst eine
Thronrede zu thun pflegt; aber worüber tadelt sie Oestreich? Nicht wegen Italien,
sondern wegen seiner böswilligen Opposition in der rumänischen Angelegenheit. „Bei
^ser Sachlage war es nichts Außergewöhnliches, daß Frankreich sich Piemont nä¬
hrte, welches während des Krieges so ergeben und während des Friedens unserer
Politik so treu war." Prinz Napoleon hat die Prinzessin Clotilde geheirathet, nicht
den bekannten Schmerzensschrei zu stillen, sondern weil Sardinien in den Con-
ferenzen sich lebhaft sür die Moldau-Walachen verwandt hat.
„Wenn es weiter nichts ist —", haben sich die östreichischen Blätter gesagt:
^um kann der Friede erhalten werden.
Mittlerweile hat Hr. v. Girardin der Frage eine neue Wendung gegeben:
»Sieg ohne Eroberung ist ein Widersinn. Handelt es sich darum, zwischen
^'N Römern und ihrer Regierung zu intcrvcniren, die Lombarden unter die picmontc-
^sehe Regierung zu bringen und einer italienischen Consöderation den Papst zum
Vorsitzenden zu geben? Dann erklären wir uns sür den Frieden. — Handelt es
!>es aber darum, für Waterloo Revanche zu nehmen, das linke Rheinufer zurück¬
zuerobern u. s. w.? — Dann erklären wir uns sür den Krieg." — So spricht
^r berühmte Friedensapostel!
Herr v. Girardin ist zwar nicht im Vertrauen des Kaisers, aber wie er, denkt
große Mehrheit der Franzosen. Hin und wieder schmeichelt man sich jenseit des
Rheins, Preußen für solche Projecte zu gewinnen und diesem Staat seine „natür¬
lichen Grenzen" zu verschaffen, wenn er Frankreich zu seinen „natürlichen Grenzen"
"erhilst. Aber so sehr es in Preußens Interesse liegt, das Problematische seiner
^«graphischen Basis zu verbessern, es würde auf ewige Zeiten seine Ehre verlieren
^ut vor den Augen der Nachwelt mit dem Brandmal der Infamie gezeichnet war-
^n, wenn es nur einen Augenblick daran dächte, um dieses Gewinnes willen auch
'>Ur einen Zollbreit deutschen Bodens an Frankreich zu überlassen. — Die neue Karte,
^ man für 5 Franken verkauft, wird ihre Kosten nicht decken.
Aber eine Warnung soll diese Sachlage für Preußen sein, nicht in übereilter
^Utmüthigkeit die Gefahr, die Oestreich bedroht, aus sein eignes Haupt abzulenken.
Demonstrationen, die man von der preußischen Regierung, die man von dem
Auszischen Landtag verlangt, werden nicht eher stattfinden, bis ein wirklicher Krieg
vorhanden ist. Den deutschen Boden vor jedem feindlichen Angriff zu schützen, ist
^'Mßcns Pflicht und Interesse; für die auswärtigen Besitzungen Oestreichs wird es
^se dann eintreten, wenn es einsieht, daß diese Pflicht und dieses Interesse damit
^zcrtrcnnlich verbunden sind. —
Die Schwierigkeit der Lage liegt jetzt hauptsächlich in den unnatürlich gespannten
^Wartungen und in den damit verknüpften Unkosten. Die Rüstungen — zunächst
^' drei betheiligten Staaten — gehen in großartigen Dimensionen fort, und jeder
^u ihnen versichert, sich nur gegen einen Angriff sichern zu wollen. GrafCavour
bricht in seiner Circulardcpesche zwar auch von den dauernden Beschwerden Ita-
^us, Aer das östreichische Uebergewicht u. s. w., aber er gesteht zu, daß sich darin
^>t drei Jahren nichts geändert habe; das Hauptgewicht legt er auf die östreichischen
Rüstungen. „Angesichts einer sür uns so drohenden Haltung gerieth das Land in
Aufregung. Im Vertrauen auf die Vaterlandsliebe des Königs bleibt es ruhig, ver¬
langt aber, daß man daran denke, es in eine Lage zu versetzen, in welcher es Er-
eignissen die Stirn bieten könne, aus die eine solche Machtentfaltung von Seite«
Oestreichs hindeutet." Zu diesem Zweck wird gerüstet. „Man wird leicht erkennen,
daß die getroffene Maßregel nur einen Verthcidigungszwcck hat, die Ruhe Europas
nicht bedroht, die Aufregung in Italien beschwichtigt und den Gemüthern Vertraue»
einflößt, indem sie darlegt, daß Piemont kraft seines guten Rechts, und von Alliirten
unterstützt, die ihm nur die Gerechtigkeit seiner Sache verschaffen kann, alle Elemente
der Unruhe auf der Halbinsel zu bekämpfen bereit ist, mögen diese von Oestreich
oder von den Revolutionären herkommen."
Darauf antwortet die östreichische Korrespondenz: „Die militärischen Vorkeh¬
rungen in den italienischen Kronländer des Reichs sind notorisch nur zur Defensiv
zur Abwehr gegen Angriffe getroffen, welche laut und unverhohlen auf dem andern
Ufer des Tessin verkündet werden. Gerüstet um die Verwirklichung von Ideen und
Plänen zum Umsturz des völkerrechtlichen Territoriälbcsitzcs gebührend zurückzuweisen,
wird Oestreich auch die Unabhängigkeit der Nachbarlande stets achten. Und wie der
Kaiserstaat die volle Souveränetät seines Monarchen in der Regierung des Reichs
niemals wird antasten oder schmälern lassen, so erkennt die kaiserliche Regierung auch
vollkommen die Befugniß andrer Staaten an, ihre Regierungsweise nach ihren wirk¬
lichen oder vermeintlichen Bedürfnissen einzurichten, und hegt dabei nur den Wunsch, daß
dieselbe zur dauernden Beglückung der Unterthanen jener Länder führen möchte."-"
Das Letztere bezieht sich zunächst aus einen Passus in der Note des Grafen Ca-
vour: „Die Regierung hat die Anforderungen Oestreichs, welches Veränderungen'"
den Institutionen des Landes verlangte, laut zurückgewiesen;" — indirect doch wol
aber auch aus die Zumuthung, Oestreich solle den Papst zu liberalen Reformen veranlassen'
So haben nun Oestreich und Piemont ihre Rüstungen motivirt; beide wolle»
sich nur gegen einen Angriff sichern. Hat es auch Frankreich gethan? Wir finde»
in der „friedlichen" Tronrcde nicht die geringste Andeutung, warum man die Reg''
acuter aus Algier kommen läßt; und der Tadel der Times gegen Oestreich, ^
hülle sich in ein vornehmes Schweigen, während Frankreich sich offen erkläre, ^
wenigstens sonderbar. —
Der Sturm und Drang der äußern Angelegenheiten hat begreiflich das Inter¬
esse an unsrer parlamentarischen Entwicklung sür den Augenblick zurückgedrängt
Inzwischen gehn die Geschäfte ihren geordneten Gang; die liberale Partei des Hauses hat
gezeigt, daß sie nicht blos ministeriell ist, sondern überall, wo es daraus ankommt,
für die Freiheiten des Landes einzutreten bereit; die Regierung zeigt durchweg de»
besten Willen und die Bereitwilligkeit, jedem anerkannten Uebelstand abzuhelfen
Eine eigenthümliche Rolle spielen die ehemaligen „Katholiken", das jetzige „Centrum"'
Der Bund des Liberalismus mit dem Ultramontanismus ist uns immer unheimlich
vorgekommen, und wir freuen uns, daß er seinem Ende entgegenzugehen scheint'
Die Katholiken Preußens hatten unter der vorigen Regierung Grund, über man^
Beeinträchtigung zu klagen; darum machten sie, gemeinschaftlich mit den Liberal'
Opposition, wenn auch aus sehr verschiedenen Gründen. Nachdem dieses Verhält»'?
aufgelöst, ist es natürlich, daß sie sich in überwiegender Majorität ihrem natürlich^
Bundesgenossen, der Reaction zuneigen; wir hoffen, daß nicht die ganze Fractio"
dieser Neigung folgen wird. Charakteristisch war ihre Abstimmung in der Beschwerde
über das willkürliche Verfahren der vorigen ^Regierung in der Verweigerung des
^ufcnthaltsrcchts. Sie stimmten gegen die Beschwerde eigentlich weit es sich um einen
Demokraten handelte, dem Vorgeben nach, um nicht nachträglich die Rücksicht gegen
das Ministerium Westphalen aus deu Auge» zu lassen! Als ob es in diesem sand¬
ig nicht die Hauptaufgabe wäre, für die zahlreichen Beeinträchtigungen der
Freiheit eine dauernde Abhilfe zu finden! Und unter allen Beeinträchtigungen der
Freiheit war diese, von der man selbst in Oestreich keine Ahnung hat, geschweige
»ber in den andern Bundesländern, die ärgste, diejenige, um derentwillen man dem
Abgeordneten Diestcrweg jeden möglichen ^parlamentarischen Ausdruck verzeihen
weichte. Es hat uns gefreut, daß hauptsächlich der Abgeordnete Matthis, gewiß
kein zu weitgehender Liberaler, weder in seiner amtlichen Vergangenheit, noch in
seinen Grundsätzen, sich so ernst und eindringlich dieser Sache angenommen hat;
wuchte das Ministerium bald darauf denken, einem künftig etwa eintretenden Willkür¬
Handbuch der physischen Geographie von Gustav Adolph von
blöden. Mit 274 Holzschnitten. — Berlin, Weidmannschc Buchhandlung. 1859.—
Dieses Werk, welches den ersten Band eines in drei Abschnitte zerfallenden Handbuchs
Erdkunde bildet, ist wol das inhaltreichste und gründlichste, welches die Geogra¬
phie unsrer Tage ausweist. Indem es das Hauptmaterial unsres jetzigen Wissens
"on den physikalischen Verhältnissen der Erde und der organischen Schöpfung wieder-
^legale, ist es vor allen geeignet, uns den ungeheuren Fortschritt zum Bewußtsein
in bringen, welchen die Wissenschaft ans diesem Gebiet in den letzten Jahrzehnten
vnmacht hat, und den sie zum guten Theil Forschern aus der Mitte der deutschen
Nation verdankt. Die Erkenntniß der Natur ist erst eine wissenschaftliche geworden,
fut die Forschung eine vergleichende wurde, seit A. v. Humboldt den Vulkanismus,
d>c Verbreitung der Pflanzen, die magnetischen Verhältnisse der Erde u. s. w. durch
Nebeneinanderstellung der besonderen hierher gehörigen Erscheinungen ergründete und
^it Ritter die Bodengestaltung nach den verschiedenen Dimensionen deutlich feststellte
und die einzelnen Glieder der fünf Erdtheile untereinander und mit ihren einstigen
Zuständen und Verhältnissen verglich. Seitdem haben verschiedene treffliche Kräfte
"W Weiterbau der vergleichenden Geographie gearbeitet, aber noch immer stützt sich
Physik der Erde auf das von jenen Heroen der Wissenschaft Geleistete.
Dem vorliegenden Werke sieht man ans jeder Seite an, daß sein Verfasser das
^auze der Physischen Geographie vollkommen beherrscht, daß er die umfassendsten
Studien gemacht hat. Das Buch enthält (auf nahe an 1000 Seiten) alles Wcscnt-
von dem, was man bisher in Handbüchern dieser Art zu suchen gewöhnt war,
Außerdem aber, indem es die neuesten Entdeckungen benutzte, eine große Anzahl von
^vbachtungcn. deren selbst der „Kosmos" noch keine Erwähnung thut. Die Art
^ Zusammenstellung und Einkleidung des Materials ist zweckmäßig, die Darstellung
selbst der schwierigen Frage» anschaulich, die Haltung durchaus wissenschaftlich, aber
zugleich für solche Leser berechnet, welche zwar Neigung zum Gegenstand und all¬
gemeine Bildung, aber nur einen mäßigen Verrath von Fachkenntniß mitbringt»'
Die beigegebenen Holzschnitte find ebenso zweckmäßig ausgewählt, als gut ausgeführt.
Der Preis ist im Vergleich mit dem, was dafür geboten wird, sehr gering, und se
sei das Ganze den Lesern dieser Blätter angelegentlich empfohlen. Sie werden fü^
keine Frage dieses Gebiets hier vergebens nach der Antwort suchen.
Der Verfasser beginnt mit der astronomischen Geographie und bespricht in die¬
sem Abschnitt die Kugelgestalt der Erde, die Bewegung derselben, den Sternhimmel
mit den verschiedenen Gattungen feiner Körper, die Kreise auf der Erdkugel und «n
der Himmelssphäre, die geographische Länge und Breite, die Gründe für die Dreh»»!!
der Erde, Foucaulds Pendel und Gyroskop, die sphäroidische Gestalt der Erde, die
Gradmessungen, die verschiedenen Fuße und Meilen (wobei auch die ältesten Maße,
indische, chinesische, hebräische u. a. aufgeführt sind), die Unregelmäßigkeit der Erdgcstcm,
die Dichtigkeit der Erde, Tageszeiten, Zonen, Klimate, das Jahr, den Kalender, die
verschiedenen Zeitrechnungen, Land- und Seekarten, Globen und was sonst in dieses
Bereich gehört. Im zweiten Abschnitt geht er sodann auf die Beschreibung der Erd¬
oberfläche über und behandelt unter andern die Vertheilung von Land und Wasstr-
dic Ausdehnung und Gliederung der Continente, die Inseln, die Meere nach ihre>
Tiefe, Ausdehnung und Bodenbildung, die Koralleninseln, Sand- und Muschelbänke,
Nisse, flache und steile Küsten, Meerbusen und Halbinseln; ferner die Tief-, Hoch'
und Stufcnländcr, die Gebirge nach ihren verschiedenen Gestaltungen, ihrer Physik
moule, Höhe, Länge, Richtung und Gliederung, vulkanische Berge, Erdfälle, Höhlen,
Eisfelder, Gletscher, Moränen, Lawinen, erratische Blöcke, das Diluvium, die seiste
gcbirge und Karrenfelder.
Der dritte Abschnitt hat es mit dem Erdinnern, mit Vulkanen und Erdbahn«
zu thun. Wir finden hier alles Wissenswerthe' über die Gestalt und Einthcilunö-
bie Eruptionskegel und Erhebungskrater der feuerspeienden Berge zusammengestellt,
dann werden die Vulkane der verschiedenen Erdtheile aufgeführt, dann folgt eine
Darstellung der Erscheinungen bei dem Ausbruch eines Vulkans, der SchlackcnaU^
würfe und Lavacrgüssc, Schlamm- und Wasserausbrüche. Hierauf wird die ^
fchcinung der Erdbeben in ihren Einzelnheiten erklärt und geschildert, deren Vor¬
zeichen, deren Zusammenhang mit den Jahreszeiten, deren Dauer, Verbreitunst-
Schnelligkeit in der Fortpflanzung u. a. Weiterhin folgen Mittheilungen über die
bedeutendsten Erdbeben, das von Lissabon, das von Caracas, dann Bemerkung^
über Wasser- und Gasausbrüche, den Einfluß der Erdbeben auf Flüsse, Quelle
und Meer u, s. w. Endlich schließt das Capitel mit einer Darstellung des Ein¬
flusses der vulkanischen Thätigkeit im Innern der Erde auf die Bildung von Küste"
und Inseln, Bergen und Thälern, deren Hebung und Senkung, und mit einem
auf den Zusammenhang der vulkanischen Erscheinungen.
Mit dem vierten Capitel betritt der Verfasser das Gebiet der Geognosie
schildert die Schichtung und Absonderung der vcrschiedcncncn Stein- und Erdartc^
der Rinde unsres Planeten, die Gneiß-, Schiefer- und Granitsormationen, die Ste'^
kohlcniagcr in ihrer Mächtigkeit und Begrenzung, die Pflanzen und Thiere der seco'
kohlcnperivdc, die secundären Formationen: Trias, Bundsandstcin, Muschelkalk, KcU-
^r, Lias, Jura, Kreide u. s. w. Dann folgen die Gebilde der tertiären Periode!
^ummulitcnkalk, Molasse, Nagelfluhe, Trachyte und Basalte; dann die der neuesten
Umwandlung. Hieran knüpft sich ein Ueberblick über die Geschichte der Erde, die sechs
Schöpfungsperioden und Elie de Beaumonts Erhcbungösystcm. Dann schließt der Ab¬
schnitt mit einer Darstellung der Verbreitung der bis setzt bekannten Elemente und Mineralien.
Der fünfte Abschnitt behandelt das Wasser in vier Unterabtheilungen- die erste
^selben bespricht die Quellen, ihre Entstehung, die Verdichtung des Dunstes, die
Mse im Innern der Erde, artesische Brunnen, periodische und intermittirende
Quellen, heiße und Mineralquellen, die Gase und mineralischen Bestandtheile der letz-
^n, historisch berühmte Quellen, incrustircude, Cement- und Erdpcchquellen, die
^uslaugung und Auswaschung durch Quellen. Die zweite hat es mit den Flüssen
thun und handelt von Haupt- und Nebenflüssen, Stromgebieten, Wasserscheiden,
^ Beschaffenheit des Flußwassers, der Wassermasse der Ströme und ihrem An¬
schwellen, von Wasserfallen und Stromschnellen, den Sedimenten der Ströme und
Landanschwemmungcn an ihrer Mündung ins Meer, wobei namentlich die Delta
^ Po, des Rhein, desNil, des Ganges und des Mississippi ins Auge gefaßt werden,
von verschwindenden Flüssen u. a. Die dritte Unterabteilung schildert die Land-
ihre Abflüsse, Temperatur, Farbe, Salz- und Natronsce», verschwindende Seen
^ den zirknitzcr und den kovaischcn, Salz-, Küsten- und Gebirgssümpfc. Die
'>Me endlich beschäftigt sich mit einer Beschreibung des Meeres, seiner Tiefen, seines
"vcaus, der Bestandtheile seines Wassers u. a. Ferner werden hier dargestellt: die
^wpäischcu Seebäder, das Meeresleuchten, die Wellenbewegung, die verschiedenen
Meeresströmungen, wie der Golfstrom, die Strömungen im Polarmeer, in der Ost-
!,^' im Mittelmeer, an der Küste von Japan. Dann folgen sehr ausführliche Er-
^lcrungen über die Erscheinungen von Ebbe und Flut, die Mccrcsstrudel und die
Ortung der Winde auf das Meer. Den Schluß bildet eine Schilderung der ver¬
miedenen Secstraßcn über den großen, den atlantischen und den indischen Ocean,
^Um Verzeichnisse der am häufigsten vorkommenden Seemannsausdrückc und der
^Nennungen der verschiedenen Fahrzeuge auf der See angefügt find.
Das sechste Capitel geht zur Beschreibung der Atmosphäre und ihrer Erschci-
ungeu über. Es kommen hier zu ausführlicher Behandlung uuter andern:: Die
^'stnndtheile der Luft, die Ausdehnung der Atmosphäre, die Dichtigkeit, und Gestalt
^selben, die Elasticität des Dampfes, die mit dem Barometer zu beobachtenden
' Meinungen. Ursachen, Richtung und Stärke der Winde, Passate, Kalmen, Mon-
. "6-, heiße Winde, das Drehungsgesetz für dieselben in der gemäßigten Zone, die
Miedenen obern und untern Windströmungen, Thau. Reif, Nebel, Wolken. Re-
bent>"^^ verschiedenen Zonen u. s. w. Dann folgen fehr ins Einzelne cinge-
übcr
?^,eore, Sternschnuppen, Irrlichter u. a. Hieraus wird die Elektricität der Atmo-
Mre und ihre Phänomene, Wetterscheiden, Blitz und Donner, Wirkungen des
ltzcs, Bliizableitcr, Wasserhosen und Trombeu u. s. w. in Betracht gezogen; dann
^^"kßt das Capitel mit Erläuterungen von Erscheinungen wie Abend- und Morgen-
"Uncrung. Strahlenbrechung, Luftspiegelung, Regenbogen, Höfe und Nebensonnen.in^' Mittheilungen über die Vertheilung des Niederschlages nach Ort und Zeit,
Witterungswechsel, Schnee, Höhenrauch, Schwefel-, Thier- und Getrcideregcn,
^ Ein siebenter Abschnitt beschäftigt sich mit der Verbreitung der Wärme auf der
der Bodentemperatur und deren Aenderungen, der Temperatur des Fluß- und
cerwassers, der Wärmevcrbrcitung in der Lust, der Abnahme der Wärme mit der
sit p, der Verschiedenheit derselben, ferner mit den Klimaten, ihrer Veränder¬
est und Verschiedenheit, .endlich mit dem oceanischen und continentalen Klima,
' Einflüssen der Vegetationsdecke auf das Klima, mit heilsamen und schädlichen
se '""lau, mit allem in einer Ausführlichkeit und Genauigkeit, die aus Bewältigung
H.^u«rr<.gender Massen von Stoff hinweist. — Der achte Abschnitt behandelt die
Zeitung der Pflanzen, den Einfluß des Bodens, des Klimas, der Sonnenwärme.
seltene und weitverbreitete Pflanzen, gesellige Pflanzen (Wälder), die Pflanzenwelt
des Meeres, die Wanderung der Pflanzen u. s. w. Der neunte bespricht nach
ähnlichen Gesichtspunkten die Verbreitung der Thiere, der zehnte die des Menschen¬
geschlechts nach Racen und Sprachen, wobei in der Einleitung der Zusammenhang
zwischen der Verbreitung des Menschen und der Faunen dargestellt und die großen
Fragen über die ursprüngliche Verschiedenheit der Menschen und das Alter des menschliche»
Geschlechts nach den Ergebnissen der neuesten Entdeckungen beantwortet werden. Aus
den Erörterungen über das Alter der Menschheit lassen wir nachstehenden Auszug folgen!
Von der Möglichkeit, daß Menschenracen bereits untergegangen seien, spricht
man, seit man fossile Menschenknochen im Verein mit denen uutergegangner Säuge-
thierarten gefunden hat. Dergleichen lagen in der Höhle Wvkeyhole bei Paviland
in England und in der von Kirkdalc, in den Hohlen von Torquay, wo die Kno¬
chen, und Messer von Feuerstein nebst Knochen ausgcstorbncr Thiere, von einer
Rinde von Stalagmiten bedeckt waren, in den Höhlen von Oreston bei Plymouth,
in der Plymouth Hoc und bei Ucalm Bridge. An letzterem Orte hatten die Men-
schenknochen fast alle thierische Materie verloren, während die der Hyäne sich bei
Behandlung mit Salzsäure wie noch verhältnißmüßig frische verhielten. Menschen-
knochen aus einer subapcnninischcn Höhle in Toscana, vielleicht dreißig Jahrhunderte
alt, welche ganz fossil schienen, verhielten sich dennoch wie die Hyäncnknochcn; die
wirklich fossilen sind, also weit älter. Dergleichen finden sich ferner in der Höhle
von Durfort im Jura, ganz von einer kalkigen Matrix umschlossen, im tertiären
Kalk von Pondres mit Thonschcrben und Knochen von Rhinoceros, Bären, Hyänen,
u.a. bis 13 Fuß hoch mit Bruchstücken des Kalks und mit Lehm bedeckt; sie ergeben
sich als völlig fossil. Ein fossiles Skelett fand man in dem dichten Kalkschiefer, aus
welchem die Citadelle von Quebeck steht, zwei Skelette, der amerikanischen Race an-
gehörig, in einer andern Kalkbildnng ans Guadeloupe. ES sind ferner von Ocrtlichtcitc»,
wo fossile Menschenknochen mit Knochen von Thieren gefunden wurden, zu erwähnend
die Höhle von Enighvul, Kitely, Vrirham, Bize, die muggcndvrfer Höhlen, die von
Gopfingen in der schwäbischen Alp, die von Köstritz, in welchen die Menschen- und
Thicrknochcn 20 Fuß unter der Stalagmitcndecte liegen, einige Menschenknochen acht
Fuß tiefer als die vom Rhinoceros. Bei Natchez im Staat Mississippi fand sich >>'
einem blauen Thon, etwa zwei Fuß unter den Skeletten des Megalonyx und andrer
ausgestorbener Vierfüßler ein fossiles innomiiurtuiu von einem sechzehnjähriger
jungen Mann, unter einem Hügel von Muschclbrcccien. Bei Ausgrabung der Gas¬
werke von Neuorleans fand man eine von den Prniriegräscrn herrührende Schicht'
deren Alter Dvwlcr auf 1,300 Jahr schätzt; dann eine Schicht der Cyprcssenbccken, a»l
zwei Generationen dieser Bäume geschützt, die zehn Fuß Dicke (mit 5.700 Jahres¬
ringen) erreichen, demnach 11,400 Jahr alt; darauf eine Schicht von Lebenseichc»,
ans 1,500 Jahre geschätzt, was in Summa 14,400 Jahre für den gegenwärtigen
Zustand des Bodens von Neuorleans gibt. Senkrecht darunter folgten drei eben
solche Gruppen, welche auf ein gleiches Alter schließen lassen, so daß darüber
57,600 Jahre vergangen sein müßten. In der nun weiter unten folgenden Abtheilung
fand sich das Gerippe eines Menschen der amerikanischen Race. In Brasilien fand Lun
an acht verschiedenen Stellen fossile Menschenknochen, z. B. in Minas Geraes
leite nebst den Resten von 44 Arten ausgestorbener Thiere; die Menschenschädc
stimmten mit denen der amerikanischen Race überein. Die fossilen Neste von brann!?
Individuen jedes Alters, durch eine Breccie verbunden und mit ungeheuren Ste»''
blöcken überdeckt, fanden sich bei der Lagoa Santa. Für den fossilen Fuß und d>
fossile Kinnlade, welche Agassiz aus einer Süßwasserbildnng vom Mvnrocsec u
Florida besitzt, berechnet er ein Alter von mindestens 10,000 Jahren.
Am 2. März 1859 endet das vierte Jahr der Herrschaft Alexanders II.
Nikolajewitsch über Nußland. Ein gewaltiger Nmgcstaltungsproceß durch¬
schreitet das Reich. Das Wort „Uebergangsperiode" ist auf allen Lippen.
Bei den Einen hat es den Sinn des Drängens, der Andere braucht es im
Sinne des Warners; vorläufig wird jedoch bei allen noch auf die Zukunft
verwiesen. Uebereinstimmend stellt man nur uns Nichtrussen die Zumuthung,
daß wir den lebhaften Willen zum Uebergang in die Cultur wie eine That
begrüßen und ihm als Morgengabe nicht blos Worte der Anerkennung dar¬
bringen. Unsere socialen Einrichtungen bezeichnet die russische Presse als
überlebt, unsere politischen Institutionen sind ein Gegenstand ihrer mitleidvollen
Kritik. Liest man ihre pathetischen Phrasen, so bleibt für Mitteleuropa nichts
übrig, als von Rußlands Leben das unsrige ins Schlepptau nehmen zu lassen.
Mit derartigen Ueberhebungen zaubert man sich nicht in die Solidarität
^r mit harter Arbeit errungenen, mit schweren Kämpfen festgestellten Civili¬
sation Europas. Aber die angebrochene Uebergangsperiode des russischen Le¬
bens erscheint allerdings bedeutsam genug, um der realen Politik, von wel¬
cher sie herangeführt wird, die aufmerksamste Beachtung zuzuwenden. Dies
uicht in kosmopolitischer Bewunderung der Zukunft, auf welche verwiesen wird,
sondern in nüchterner Betrachtung dessen, was geschehen ist.
Inhaltreich ist die bisherige Negierung Alexanders II. Damit ist jedoch
Großartigkeit ihrer Zukunft an sich noch nicht gewährleistet. Drei Zeit¬
abschnitte scheiden sich charakteristisch ziemlich scharf voneinander ab; ein lei¬
tender Neugestaltungsgcdanke verbindet sie dagegen untrennbar. Der erste,
^'egerische Abschnitt endet mit dem pariser Märzsrieden; der zweite, vorberei¬
tende findet seinen Abschluß in der Kaiserkrönung; der dritte ist zur organi¬
schen Anbahnung der Reformen vorgeschritten, ohne noch beendet zu sein.
Das Programm der kriegerischen Periode enthielt das Thronbesteigungs-
^«mischt vom 2. März 1855. Wohlgewählt waren die Vorbilder, welche
Kaiser Alexander II. als die seinigen bezeichnete. „So möge die Vorsehung
— rief er — Uns leiten und schirmen, daß Wir Nußland auf der höchsten
Stufe der Macht und des Ruhmes erhalten und sich durch Uns erfüllen die
unablässigen Wünsche und Absichten Unserer erhabenen Vorfahren Peters,
Katharinas, Alexanders des Gesegneten und Unseres unvergeßlichen Vaters."
Kriegsmuthig und kampfentschlossen bis zum Aeußersten lauteten ferner alle
Ansprachen des Kaisers an die Großwürdenträger, den Senat, die fremden
Gesandten. Ganz in derselben Weise, wie Kaiser Nikolaus es gethan, con-
centrirte auch Alexander II. alle Kräfte des Staates und der Nation ausschlie߬
lich auf den Krieg. Doch eins bleibt für den Beobachter höchst bemerkenswerth:
der Wegfall jener leidenschaftlichen Gereiztheit des Kaisers Nikolaus, womit
dieser alle Gänge der Gegner auf den diplomatischen und waffendröhnendcn
Wahlstätten wie persönliche Zumuthungen und Beleidigungen behandelt und
die Gewebe seiner Diplomatie oft genug vorzeitig enthüllt oder auch zu sei¬
nem eigenen Schaden durchbrochen hatte. Die diplomatischen Gänge liefen
jetzt offenbar zu Petersburg nicht mehr in zwei verschiedenen Centren, im
Ministerium des Auswärtigen und in der Privatkanzlei des Kaisers, sondern
einheitlich im Cabinet des Staatskanzlers zusammen. Die Stellung Alexan¬
ders II. dazu erschien keine persönliche, rücksichtslos hineinredende, sondern
nur eine endgiltig entscheidende; sie wurde die geschäftliche des Monarchen,
blieb nicht die eines von momentanen Wallungen bedingten „Allerhöchsten
Willens". Damit wich zugleich aus Rußlands ganzer Haltung jener zelotische
Fanatismus, welcher den Kampf wie einen heiligen Kreuzzug gegen den Anti¬
christ behandelt hatte; die Vertheidigung des Vaterlandes ausschließlich ward den
Nüssen als Zweck verkündet. Mit dieser Basis war nachher die Möglichkeit
gegeben, auf die europäischen Friedensvorschläge einzugehen, ohne der national¬
aristokratischen Kriegspartei den Heiligenschein eines vom Zaren verlassenen
Mürtyrerthums zu verleihen und ohne der kriegsmüden, bis auf den Landsturm
ins Feld gestellten Nation anch die letzten Kräfte zum Wiederbeginn eines
neuen Lebens auf den verlassenen und verödeten Stätten des alten zu rauben.
Denn die Friedensvorschläge stellten die Zurückgabe des von den Feinden be-
setzten Landstriches obenan und unmittelbar daneben die Vollziehung derjeni¬
gen Bedingung, in deren Namen Kaiser Nikolaus das Kriegsbayner entfaltet
hatte: die Emancipation der Christen in der Türkei. Alle anderen Speciali¬
täten des Friedens berührten das russische Nationalgefühl nicht unmittelbar;
es waren Fragen der diplomatischen Berechnung, welche das Volk zum großen
Theil nicht verstand. Besonders aber hatte nicht Nußland den Frieden an¬
geboten, sondern die gegnerische „Coalition;" Rußland erfüllte nur großmüthig
den „Wunsch der Nachbarvölker", wenn es auch „die immer furchtbarer an¬
wachsende Coalition" mit in Betracht zog.
Kaiser Alexander — wird vielfach behauptet — war überhaupt niemals
>nit voller Ueberzeugung bei dem Kriege; er führte ihn blos fort, so lange er
mußte; schon früher befand er sich wegen der absoluten Militärpolitik in Mei¬
nungsverschiedenheit mit dem Kaiser Nikolaus; die Kriegspnrtei fand nach
dessen Tode im Großfürsten Konstantin den entschiedensten Vertreter ihrer Po¬
litik; Kaiser Alexander durfte nur, ohne Rußlands Würde zu gefährden, bei
Nikolaus'Tode keinen Frieden machen; die nachherige Behandlung des Kam¬
pfes war das Resultat einer Verständigung der Brüder Alexander und Kon¬
stantin, wonach jeder seine persönlichen Neigungen dem gegebenen Gange
und den Consequenzen einer von nutoritätischen Einmischungen (des Kaisers,
wie des Großfürsten) unbeirrten Cabinetspolitik' unterzuordnen hatte. Ange¬
nommen, daß dies alles so. bestimmte Thatsachen, als Behauptungen sind:
erscheint dann die Selbstbeherrschung des Selbstherrschers nicht um so bemer¬
kenswerther? Ist es denkbar, daß ein Mann auf Rußlands Thron, welcher
ja nicht unvorbereitet dorthin gelangte, sondern bereits seit zehn Jahren an
der Negierung seines Vaters Theil genommen hatte, die ganze Kriegserb¬
schaft so vollständig, so bis zu den äußersten Consequenzen hätte antreten
können und mögen, wenn er für die Zukunft seines Staates nicht schon feste
Pläne gefaßt gehabt, wenn er in Rußlands Kriegszuständen nicht ebenfalls
die Voraussetzungen erreichbar gesunden hätte, welche er für deren Verwirk¬
lichung bedürfte?
Daß Kaiser Alexander, lange bevor er zur Regierung gelangte, mit seinen
Plänen zur Reformirung der innern Staats- und Gescllschaftszustände geistig
vertraut sein mußte, kann heute, dn wir deren Anbahnung in den verschie¬
denste Sphären des öffentlichen Lebens ineinandergrcisen sehen, niemandem
^in Zweifel sein. Nikolaus 1. schloß die Augen zum Sterben mit dem Be¬
kenntniß an den Thronfolger: „Ich wollte fortfahren, so zu arbeiten, daß ich
Dir das Reich in fester Ordnung, geschützt gegen äußere Gefahren, vollkommen
glücklich und ruhig hinterließe; aber Du siehst, zu welcher Zeit und unter
Welchen Umständen ich sterbe, Gott hat es so gewollt, Du wirst es schwer
haben." Grade wenn Alexander „bereits seit zehn Jahren sowol an den
Plänen, als an der Regierung" seines Vaters Theil genommen hatte, ohne
doch bedingend darauf wirken zu können, wie es bei Nikolaus starrem Cha¬
rakter und verbitterter Befangenheit vorauszusetzen ist, so hatte er voraussehn
Müssen, daß er das Reich weder im Frieden, noch glücklich, noch ruhig über¬
kommen werde. Seine einzige Erwartung konnte also sein, daß er es mit
Gewohnheit stummen Gehorsams und unbedingter Folgsamkeit für den
kaiserlichen Willen, vielleicht auch in strenger formeller Ordnung erde. Doch
^lbst diese geringen Begünstigungen seiner Zukunftspläne hatten die letzten
^ühre verschwinden lassen. Für den .Kriegszweck waren die nationalaristo-
kratischen Elemente wieder zum Selbstbewußtsein, ja zu bedeutendem politischen
Einfluß gelangt, waren in den Volksmassen Freiheitshoffnungen erweckt,
waren die Ordnungen des Staates und der verschiedenen Bevölkerungsclassen
bis zur völligen Erschütterung gelockert.
Der „Allerhöchste Wille" hätte allerdings selbst in diesem Momente den
Frieden annehmen können (die wiener Conferenzen begannen am 15. März
1855). Die gewohnten Zustände des Lebens im Reiche wären damit mög¬
licherweise zurückgekehrt. Allein der kriegerische Nationaladel hätte eine solche
Entschließung, ohne von seinen Ansprüchen etwas aufzugeben, einfach als
eine Maßregel des Zaren genommen, um mit der Zurückweisung seiner wei¬
teren Opfer auch seine Berechtigungen zu annulliren. Die Stimmung in den
bewaffneten Massen war zugleich derart, daß er dieselben mit Leichtigkeit
gegen den Zaren selber als einen Verächter des nationalen Geistes, wie der
Opserbercitschaft sür „das heilige Rußland und den Glauben" aufzureizen ver¬
mocht hätte. Die Art, wie die Kriegspartei schon immer den Großfürsten
Konstantin im Gegensatz zum Thronfolger als wahrhaft nationalgesinnt hin¬
gestellt und vorzudrängen gesucht hatte, ließ keinen Zweifel darüber, wessen
sie fähig sein würde. Die Volksmassen endlich, losgelöst von den gewohnten
Ordnungen (Kaiser Nikolaus hatte noch auf dem Sterbebett den Aufruf zur
allgemeinen Volksbewaffnung unterzeichnet), hatten Haus und Herd noch nicht
verlassen, die Beschwerden, Entbehrungen, Gefahren der unmittelbaren Theil¬
nahme am Kriege noch nicht durchgemacht und hielten doch bereits die Waf¬
fen in den Händen, mit denen sie eventuell die Erfüllung ihrer Freiheitshoff-
nungcn zu erzwingen versucht sein konnten.
So war im Momente des Thronwechsels die unbedingte Uebernahme der
Kricgscrbschast für den neuen Zaren eine Nothwendigkeit der Selbsterhaltung,
kein freier Entschluß. Dies selbst wenn man vollständig von denjenigen Nö¬
thigungen absieht, welche die äußere Politik auferlegte. Schon in dieser einen
Beziehung verwandelte sich also die Fortsetzung der Kricgspolitik aus einem
Staatszweck in ein Staatsmittel. Aber noch mehr. Je fester nun der
neue Kaiser an der Anbahnung des Friedens hielt, je zweifelloser sich ihm
überall die Ueberzeugung aufdrängte, daß Nußland auf die Dauer selbst M
Fortführung eines bloßen Defensivkrieges unfähig sei, so wie daß nur in
eiuer durchgreifenden Reformirung des volkswirtschaftlichen, gesellschaftlichen
und Rechtslebens die Möglichkeit erschaffen werden könne, um das Reich in¬
nerlich aus diejenige Stufe der Macht zu heben, welche es im europäischen
System beansprucht und deren Vortheile ihm bis zum orientalischen Kriege
von allen Seiten so bereitwillig eingeräumt waren — desto unbedingter mußte
die oberste Staatsgewalt den Krieg als bloßes Mittel zum Zweck behandeln-
Als Mittel nämlich zu dem Zweck, diejenigen Vorausse/zungen herzustelle
von denen die Neugestaltungen des Lebens durch eine Initiative der Regie¬
rung ausgehn könnten.
Aus diesem Gesichtspunkt erscheint jene äußerste Steigerung der Kriegs¬
politik, welche im ersten Negierungsjcchre Alexanders sogar den Kriegsfana¬
tismus des Kaisers Nikolaus überholte, eine berechnete Vorbereitung für die
reformatorischen Zuknnftpläne. Mit den immer schwerer drückenden und immer
allgemeiner decimirenden Rekrutirungen, mit der auf alle Provinzen fortschrei¬
tenden Einstellung der Reichswehr in die eigentliche Opcrationsarmee und des
Landsturms in den wirklichen Felddienst, mit der allen Bewaffneten verliehe¬
nen Suspendirung ihrer bürgerlichen Nechtsverpflichtungen, mit der immer
gesteigerten Beseitigung der Herkommlichkeiten des Alltagslebens und der Er¬
werbsarbeit wichen die von Nikolaus bereits erschütterten Ordnungen der Ge¬
sellschaft und des Staats immer weiter auseinander, verloren die Lebens¬
gewohnheiten alle Stützen, trat ein blos militärisch überwachtes, nirgend
innerlich wurzelndes Ausnahmeleben ein. Eine Gegenwart ohne bedingende
Vergangenheit und ohne selbsteigene Zukunft entstand, welche vollkommen in
der augenblicklichen Kriegsanstrengung aufging. Je überraschender der Kaiser
daraus den Frieden folgen lassen konnte, desto unbedingter hielt die Regierung
die Initiative des neuen Lebens in ihrer Macht, wenn sie für dessen Ent¬
wicklungen im voraus ihre Pläne nicht blos allgemein entworfen, sondern mit
Bestimmtheit sich klar gemacht hatte.
Westeuropäischer Anschauung erscheint eine solche bewußte Verwüstung der
eingelebten Bestände zu Gunsten einer blos ideellen Zukunft allerdings ebenso
Undenkbar, wie sie unter unsern Staats- und Gesellschaftsverhältnisscn un¬
möglich ist. Anders in Rußland. Man braucht dabei gar nicht an die Ge¬
waltgriffe despotischer Zaren zu denken, welche Aehnliches nach bestimmten
Lebensrichtungen hin oftmals genug mit Erfolg gethan haben. Auch der
eine Zeit lang organisch rcformircndc und nach Nechtsverbesscrungen strebsame
Absolutismus Alexanders I. bietet ein ganz ähnliches Beispiel. In der Epoche
des Anlaufes vom Polizeistaat zum Rechtsstaat billigte es Alexander I. voll¬
kommen, daß Speranskys reformatorische Anordnungen im Verwaltung^-, Nechts-
Und Finanzwesen das Land verwirrten und alle Lebenssphären mit Mißver¬
gnügen erfüllten, damit die Gegner des Neuen „sich von der Unumgänglich¬
st der Reformen desto dringender überzeugen möchten." Damals ließ freilich
Imperator den Reformator im Stich, als grade die entscheidenden Schritte
um thun waren. Heute ist die Reform des Kaisers eigenstes Eigenthum, also
diese Gefahr nicht vorhanden.
Waren aber die Pläne der Friedensentwicklung, welche octroyirt werden
Eilten, waren die nächsten Friedensarbcitcn der Nation wirklich schon vorbe¬
reitet, als der Friede geschlossen ward? Die Aufeinanderfolge der seither an-
gebahnten Dinge spricht dafür. Noch während der Dauer des Krieges be¬
gannen in der Civilverwaltung, deren Thätigkeit durch die Ausnahmzustände
großentheils in ihren unmittelbaren Berührungen mit dem Alltagsleben auf¬
gehört hatte, jene Reductionen des Beamtenheeres, jene Vereinfachungen des
Geschäftsganges, jene Abkürzungen der Jnstanzenzüge, endlich jene Unter¬
suchungen gegen die Beamten u. s. w., welche der gesammten regierten
Welt, welche momentan unter den Waffen oder doch nnter Kriegsgesetzen
stand, die Zuversicht eröffneten, daß ihre Heimkehr zur Heimath wenigstens
keine Rückkehr unter das unerträgliche Joch der frühern Tschinownikwillkür
sein solle. Die gleichzeitige Ersetzung oder Beschränkung der meisten solda¬
tischen Geucralgouverueure durch Civilgouverneure gab weitere Hoffnung, daß
die Machtvollkommenheit der Gouvernementsregicrung ihre Entschließungen
mindestens aus den Vorbedingungen des bürgerlichen Lebens, nicht aus dessen
Unterordnung unter die blos militärischen Interessen hervorgehn lassen werde.
Zugleich trat die Beschränkung der Gencralgouverueure gewissermaßen als
Garantie auf gegen deren Tendenz, das beherrschte' Gebiet wie ein selbststän¬
diges Lehrreich ohne Rücksicht auf deu innern Zusammenhang seines Lebens
mit dem des gesammten Reiches zu verwalten. Diese Friedensaussichten
winkten also allen Schichten der nichtmilitürischen Bevölkerung, den oberen,
wie den unteren.
Entschiedener als System einer Entwicklung der productiven Kräfte in
der Nation treten dann die Negieruugspläue während der pariser Friedens¬
verhandlungen hervor, obgleich der Kriegspartei noch immer die Möglichkeit
einer Fortdauer des Kriegs als Hoffnung gelassen wurde. Denn die Abstel¬
lung des im Krieg und Frieden von Hoch und Niedrig gleichermaßen drü¬
ckend empfundenen Mangels, des Mangels an Communicationen, ward als
erste und dringendste Friedensarbeit genannt. Dem allseitigen Zujauchzen der
Nation wurde der vollständig ausgearbeitete Plan eines großen Eisenbahn¬
netzes entgegengebracht. Sein ursprünglicher Entwurf war offenbar mit aus¬
schließlicher Rücksichtnahme aus defensive und aggressive Zwecke gemacht. Aber
die productiven Elemente der Bevölkerung wurden um so vollständiger und
rascher dafür gewonnen, je bereitwilliger die Regierung im weiteren Verlauft
der Zeit der Privatindustrie gestattete, mit eignen Unternehmungen die -Lücken
der Schienenwege auszufüllen, mit der Dampfschiffahrt auf Meeren und Flüs¬
sen ihre Endpunkte unermeßlich auszudehnen. Der strategische Zweck konnte
dadurch nicht durchkreuzt werden, wol aber der volkswirthschaftliche ohne Opft^
der Regierung erreicht.
Noch nicht als Thaten, jedoch als Entschließungen und Verheißungen der
Regierung war dies der Nation kund gegeben, als der Märzfricde geschlosstU
ward. Während die Massen, bis zur Erschöpfung ihrer Kräfte gedrückt von
^
dem Waffendienst und den Kriegsopfern, gelichtet in ihren Reihen mehr durch
Strapazen und Seuchen, als durch Kämpfe, sehnsüchtig nach der Wiederord¬
nung ihrer verlassenen Häuslichkeit blickten, — wahrend also diese Massen
dem Frieden zujubelten, war auch die kriegerische Nationalaristokratie keines¬
wegs mehr so einmüthig als früher in ihrem Kricgsdurst geblieben. Die
vielen Begünstigungen, welche die nichtadligen Classen erfahren hatten, so
wie sie sich um die Reichsfahnen reiheten. die moralischen Niederlagen, weiche
der allrussische Adel in vielen seiner Mitglieder bei der Verwaltung, die ma¬
teriellen, welche die Generale seines Stammes erlitten, waren nur geeignet
gewesen, die Hoffnung aufs tiefste niederzudrücken, daß der nationalaristokra¬
tische Einfluß den dereinstigen Frieden, beziehentlich den Kaiser beherrschen
werde. Im Gegentheil, je länger der Krieg dauerte, desto entschiedener hatte
sich die höchste Staatsgewalt von denjenigen Einflüssen emancipiren können
Und wirklich emancipirt, welche den Kaiser Nikolaus geleitet und bei dem
wilderen Kaiser Alexander II. noch leichteres Spiel zu haben geglaubt hatten.
Man hatte sich also darin getäuscht, dessen Formenmilde für Mangel an Ent¬
schluß und Kraft zu nehmen.
Die noch übrig gebliebene Kriegspartei war jetzt eigentlich blos eine
Partei der Furcht vor der Entscheidung. Sie wollte den Krieg forterhalten,
u>n für die drohenden Reformen kein Anfangsmomcnt entstehen zu lassen.
Gleichzeitig mit dem Friedensmanisest, wenige Tage nach dem 30. Mürz, trat
i^doch der Kaiser persönlich in ihren Conccntrationspunkt, in die Mitte des
Woskauer Adels. Bekannt mit dessen inneren Spaltungen, gestützt auf die
Sympathien der nicht bevorrechteten Massen, erschien er mit einem formulirten
^egierungsprogramm. Mit dürren Worten bezeichnete er seine Ziele gradezu
"is Gegensatz derjenigen des Kaisers Nikolaus. „Mein Vater hatte seine
Gründe so zu handeln, wie er handelte; doch durch den pariser Frieden wird
das Ziel erreicht, welches er anstrebte; ich ziehe dieses Mittel dem Kriege
^ . . . Ich stelle das reelle Wohlergehen - des Friedens über den eitlen
^tanz der Gefechte . . . Der .Krieg ist ein Ausnahmezustand und seine gro߬
en Erfolge wiegen kaum die Uebel auf, welche er mit sich führt u. s. w."
Den Schluß der Anrede bildete die befehlende Hoffnung des Kaisers, daß an
^n Friedensentwicklungen „sich jeder Adelige beteilige."
Damit war das Kaiserreich des Friedens, damit die Entwicklung der
^vductiven Kräfte, deren Schwerpunkt immer außerhalb der aristokratischen
Zemente gelegen ist, als Zukunft verkündet; damit bis zu einem gewissen
tunkte selbst ausgesprochen, daß die Sonderrechte und Ausnahmestellungen
Adels fürderhin dem allgemeinen Interesse sich unterordnen müssen.
Noch aber war der Moment nicht gekommen, auch die praktischen Cor-
^uenzen dieses Programmes zu ziehen. Das Volk stand noch in Waffen und
hätte möglicherweise, wenn ihm grade jetzt die Gewißheit seiner Emancipation
gegeben worden wäre, mit gewaltsamen Versuchen sich unmittelbar in den
Besitz der Freiheit zu setzen, den Gegnern der Reformen und des Friedens
neue Waffen geliefert. Andererseits stand auch die eigentliche Armee noch
auf den Kriegsschauplätzen und unter Führung der Sippen und Vettern des¬
selben Nationaladels, welchem seine Hoffnungen abgeschnitten waren. Grade
bei der Heimkehr der Reichswehren mahnte also ein strenger Ministerialerlaß
die Leibeigenen an den unbedingten Gehorsam gegen die Leibherrn; unmit-
telbar nach der Ankunft der Armee in ihre Garnisonen und Cantonnements
wurden die Truppenkörper von einer neuen Eintheilung und Zusammensetzung
überrascht. So trennte man hier die alten, durch den Krieg noch enger ver¬
wachsenen Camerndericn und Zusammenhänge, während die Grundaristokratic,
deren Güter plötzlich von den heimgekehrten Leibeigenen überflutet waren, alle
Kräfte aufwenden mußte, um für deren nächste Lebensbedürfnisse zu sorgen und
den Arbeitern Gelegenheit zu geben, sich ihren Erwerb anderwärts zu suchen.
Diejenigen Truppentheile aber, in denen die aristokratischen Elemente am dich¬
testen gehäuft sind, die Garderegimenter, wurden dadurch, daß man sie zuo
Dienst bei der Krönung nach Moskau commandirte, gleichzeitig ausgezeichnet,
und dennoch von ihren heimathlichen Beziehungen lange Monate noch fern¬
gehalten. Die Krönung selbst, indem sie nach einem Halbjahr dem Friedens-
abschluß folgte und natürlich alle aristokratische Elemente zusammenführte, ver¬
sammelte dieselben auf ungewohnten Terrain, unter außergewöhnliche"
Verhältnissen, aus ziemlich genau bemessene Zeit, in welcher die Theilnahme
aller an den Festlichkeiten jedes andere Interesse verschwinden ließ. Denjenigen
Elementen sogar, deren unbedingte Zustimmung zu einem Programm durch'
weg friedlicher Lebensentwicklungen am wenigsten bezweifelt werden konnte,
der speculativen und industriellen Bevölkerung, war noch vor dem Friedens¬
abschluß das gewaltige Problem des russischen Eisenbahnnetzes vorgelegt
worden, mit dessen Ausführung natürlich eine so vollständige Umgestaltung
aller Geschäftsverhältnisse bevorsteht, daß jeder Einzelne, zu seinem Berufe p>'
rückkehrend, diesen nicht wieder aufnehmen konnte, wie eine abgelaufene Uhr-
die man eben aufzieht. Jeder mußte vielmehr die Gewißheit dieser Zukunft
und die Unberechenbarkeit der socialen Reformen, deren werdende Gehen^
ebenso unsicher als ihr Werden gewiß erschien, in seine Berechnungen auf'
nehmen.
solchermaßen war ein Zeitraum schweigender und dabei innerlich liest^'
wegter Erwartung hergestellt, welche alle Blicke auf das Moment der Zaren-
krönung hinlenkte. Alle Hoffnungen, alle Befürchtungen harrten in fieberhaft^
Spannung dem damit bevorstehenden Ende der Ungewißheiten entgegen. Z"'
gleich fand der Nationalstolz seine vollste Befriedigung nicht blos in dem Powp
der Krönungsfestlichkeiten, sondern noch mehr in den Ehrenbezeugungen, welche
Europas Höfe und Asiens Herrscher dem Kaiser bei dieser Gelegenheit dar¬
brachten. Vergessen war mit diesem Anblick in der Nation jeder Gedanke
daran, daß der rasche Friede irgendwie Rußlands Machtstellung beeinträchtigt
haben könne. Der russischen Welt galten die Gesandtschaften und Prinzen,
Welche den Glanz der Feste erhöheten, gleich huldigenden Nasallen des all¬
herrschenden Zaren.
Matthias Claudius der Wandsbecker Bote. Ein Lebensbild von Wilhelm Herbst.
Zweite neu bearbeitete Auflage. Gotha, Perthes. —
Durch die Arbeiten der letzten zwanzig oder dreißig Jahre hat die Ge¬
richte unsrer classischen Literatur so bestimmte Umrisse gewonnen, daß eine
^rrung in Bezug auf die Hauptpunkte nicht mehr möglich ist. Zwar weichen
die Meinungen über das. was der Literatur noth thut, über ihren wahren
Beruf, über ihre Stellung zur Religion und zu den sittlichen Einrichtungen
^och sehr erheblich ab. je nach dem Parteistnndpunkt des Betrachtenden. Aber
alle Parteien gibt die objective urkundlich beglaubigte Geschichte den neu-
^aler Boden und die Anknüpfungspunkte, vermittelst deren sie sich unterein¬
ander verständigen können. Am meisten ist sür das Leben unsrer beiden größten
dichter geschehn. Bon Goethe werden wir bald dahin gekommen sein, zu
^sser, was er jeden Tag nicht blos geschrieben und gethan, sondern auch
öedacht und empfunden hat, und was über Schiller noch etwa unbekannt
^in sollte, wird vermuthlich dieses Jahr ans Tageslicht bringen. Dennoch
^eibt für die Forschung noch viel zu thun, da man auf die Dichter zweiter
Und dritter Classe, die doch auch zur Physiognomie unsrer Literatur gehören,
°'Ne viel geringere Aufmerksamkeit verwandt hat. Da in jener Zeit die Lite¬
ratur einen vorwiegend subjectiven Charakter hatte, da jeder einzelne Schrist-
stkller nicht blos berechtigt, sondern genöthigt war, die ganze Fülle seiner
Persönlichkeit einzusetzen, um sich auf dem Gebiet der Kunst Geltung zu ver¬
gaffen, so ist die angemessenste Form für derartige Ergänzungen der allge¬
meinen Geschichte die Biographie. Es gibt vielleicht keine Periode in der
Weltgeschichte, für welche so viel biographisches Material vorliegt. Denn es
sind zu keiner Zeit so viel Briefe geschrieben, und jeder Einzelne, den wir im
innern Zusammenhang seines Lebens und seiner Empfindungen kennen lernen,
gibt uns ein anschauliches Bild von der Entwicklung der Zeit im Allgemeinen.
Es hat schon damals nicht an Stimmen gefehlt, welche diese Subjectivitüt
als ein Unwesen, als eine Krankheit der Literatur beklagten, und der eifrigste
dieser Tadler. Fichte, hat sich sogar veranlaßt gefunden, infolge dessen sein
Zeitalter als das der vollendeten Sündhaftigkeit zu bezeichnen. Aber was
der Moralist mit Recht als eine Verirrung rügt, wird für den Historiker und
namentlich für den Biographen zum Gewinn, da in einem Zeitalter vollen¬
deter Sündlosigkeit die Biographie allen Neiz verlieren würde. Unter den
biographischen Versuchen der letzten Jahre nimmt der vorliegende, der in ganz
kurzer Zeit eine zweite Auflage erlebt hat, eine sehr respectable Stelle ein.
Unser Lob ist um so unparteiischer, da unser Standpunkt mit dem des Ver¬
fassers keineswegs zusammenfällt: wir haben über die Religion und ihren
Einfluß auf das Leben andere Ansichten als er, und infolge dessen weicht auch
unser Urtheil über das, was wir Claudius namentlich in seiner letzten Periode
schuldig sind, von dem seinigen ab. Aber es wäre ein unbilliges Verlangen,
in einer Biographie, die doch nur dann gelingen kann, wenn sie sich mit voller
Liebe in ihren Gegenstand vertieft, ein ganz unbefangenes Urtheil zu erwarten-
Der Biograph hat seine Schuldigkeit gethan, wenn er das zum Urtheil erforder¬
liche Material nach gründlicher Prüfung vollständig, correct und in der gehö¬
rigen Ordnung überliefert. Dieses Lob verdient der Verfasser im vollen Maß'
und es kommt noch das einer seineu Bildung hinzu, die sich namentlich in
einzelnen geistvollen Bemerkungen geltend macht. Nur eins hüllen wir an
der Ordnung der Thatsachen auszustellen, daß die chronologische Folge zwar
in der allgemeinen Uebersicht, aber nicht im Einzelnen festgehalten ist.
Noch ein Wort über die Abweichung in unsern Ansichten, ein Wort, das
um so nöthiger ist, da die reaktionäre Presse unsrer Tage, der es immer mehr
an Autoritäten zu fehlen scheint, sich plötzlich mit besondrer Vorliebe auf den
Wandsbecker Boten wirft und seine Einfälle zu Bußpredigten anwendet.
Es versteht sich von selbst, daß jeder Einzelne die durch mannigfache
Erfahrungen seines' Lebens und durch fortgesetztes Nachdenken gewonnene
Ueberzeugung für die rechte hält, die entgegengesetzte daher für falsch. Unter
diesen Umständen wäre jede Geselligkeit unmöglich, wenn uns nicht die Bil¬
dung bestimmte, den Gegner ausreden zu lassen und beim Anhören voraus¬
zusetzen, er werde seine Meinung, wenn sie auch irrig ist, ebenso gewissenhaft
erwogen haben, als wir die unsrige. Nur in einem Fall ist es uns erlaubt,
unwillig zu werden: wenn der Gegner sich uns gegenüber auf das Katheder
setzt, und doch handgreiflich verräth, er wisse nicht im Entferntesten, um was
es sich handelt. Und das war mit Claudius in seinen letzten Jahren der Fall-
er predigte mit der Salbung eines Jnspirirten, und verstand von den politi¬
schen Zustünden Deutschlands ungefähr so viel als ein Cooperscher Indianer.
Der rücksichtslose Unwille, mit dem ihn seine alten Freunde in jener Zeit be¬
handelten, ist daher vollkommen gerechtfertigt, um so mehr, da sie nie ver¬
säumt haben, im Uebrigen die tüchtige und liebenswürdige Persönlichkeit des
Mannes gebührend zu ehren. Sein Fehler war, daß er alles vom Stand¬
punkt des Gemüths entscheiden wollte. In den Beziehungen des Privatlebens
richte das aus, da der so oft gemißbrauchte Ausdruck „schöne Seele" auf
Claudius seine volle Anwendung findet, aber über Politik zu reden hatte er
ebenso wenig Grund als Fräulein von Klettenbcrg. Wie kindlich seine
politischen Begriffe waren zeigt am deutlichsten seine Definition des Adels in
Paul Erdmanns Fest (1783).
Seine Bedeutung für die Literaturgeschichte liegt nach einer andern
Seite hin.
Nach der heillosen Verwirrung, die auf das Elend des dreißigjährigen
Krieges folgte, erhielt die deutsche Literatur und mittelbar die deutsche Ge¬
sellschaft durch zwei Männer ein bestimmtes Gepräge, durch Christian Wolf
und- durch Gottsched. Zwei nüchterne verständige Naturen, denen es im
Denken und Empfinden nur darauf ankam, daß alles nach der Schnur ging.
Daß dieser Despotismus der Convenienz nach jener Verwilderung vorüber¬
gehend ganz am Platz war, wird man heute ebenso wenig bezweifeln, als
daß die wahrhaft schöpferischen Kräfte, die zwei Jahrzehnte nach Gottsched
Auftauchten, sich mit dem vollsten Recht und zum wahren Heil der deutschen
Literatur gegen diese Convenienz auflehnten. Der leitende Gedanke der deut¬
schen Literatur von 1750 — 1790 und mittelbar auch noch in der folgenden
3eit, war, die Fesseln dieser Convenienz zu brechen. Dazu boten sich zwei
sehr verschiedene Wege, die sich aber häusig begegneten.
Der eine Weg führte zur Natur, der andere zum Ideal. Um die gespreizte
^'d doch triviale Wichtigthuerei zu vermeiden, suchte man entweder recht
gliche, einfach und natürlich zu sein, oder man schwang sich zum Erhabenen
"uf. Das Letztere versuchte Klopstock, der eigentliche Sieger über die Gott-
schedsche Schule, welche die schweizer Kritiker allein nicht würden bezwungen
haben. Wie es bei allen Nachahmungen geschieht, wurde aus der erhabenen
^Pfindung Klopstocks in seiner Schule eine neue Convenienz, die trotz der
^weichenden Formen nicht selten an Gottsched erinnerte. Klopstock riß durch
seinen mächtigen Einfluß auch diejenigen mit fort, die sonst eine ganz entgegen¬
setzte Richtung eingeschlagen haben würden. Goethe selbst, die productivste
^atur, die Deutschland hervorgebracht, würde manche seiner frühern Oden
^Ac Klopstock nicht geschrieben haben. Gewiß hat sein Prometheus dem
^'samen Dichter des Messias viel Verdruß gemacht; und doch würde der
Dichter der Mitschuldigen, des Götz und auch des Werther ihn nicht geschrie¬
ben haben, wenn nicht der Knabe Wolfgang mit seiner Schwester, während
der Vater sich rasirte, die heftigen Scenen zwischen Satan und Adrcnnelcch
declamirt Hütten. Die gesnmmten Glieder des Hainbunds gehörten in diese
Kategorie und es macht einen äußerst komischen Eindruck, die Briefe des nüch¬
ternen Voß zu lesen, in denen er sich geberdet wie ein durch die Macht des
Gefühls innerlich verwüsteter Titan.
Es ist bekannt, daß Natur und Ideal, nachdem sie lange verbrüdert zu¬
sammengegangen, sich endlich trennten, und daß der Sieg dem reinen Idealis¬
mus blieb, der alle Beziehungen auf Natur und Wirklichkeit von sich ablehnte.
Es ist bekannt, daß dieser Sieg ein Resultat des Bundes zwischen Goethe
und Schiller, zwischen Schlegel und Fichte, zwischen Dichtkunst und Philosophie
war. Zwar wurde durch diesen Sieg der Realismus nicht ausgerottet, aber
er wurde in das Gebiet des Gemeinen herabgedrückt, und es dauerte fast ein
halbes Jahrhundert, bis er wieder in Achtung kam. Infolge dessen hat man
die Poeten der Natur, die den ursprünglichen Weg der Entwicklung einschlu¬
gen, später außer Acht gelassen und es ist ein dankenswerthes Unternehmen,
auf sie wieder hinzuweisen. Von allen diesen Naturalisten ist vielleicht keiner,
der sein Princip so rein festhält, als Claudius. Freilich ist es ein Princip,
und wenn auch seine Briefe denselben Stil zeigen, wie seine für den Druck
bestimmten Schriften, so ergibt sich doch aus einer unbefangenen Betrachtung
seiner Prosa, daß er sich diesen Stil erst angeeignet hat. Claudius ist dock)
niemals ganz der Schneider Asmus, niemals ganz der Invalide Görgel, ja
selbst in seinen Briefen an Herder blickt das wahre Gesicht zuweilen hinter
der Maske durch. Die kindliche Naivetät, die er überall ausspricht, ist. wen»
wir von den Liedern absetzn, in denen er einen vollen Einklang der Stimmung
erreicht hat, in seiner Prosa meist liebenswürdig, oft witzig, zuweilen geiht'
reich, aber selten oder nie naiv.
Matthias Claudius ist am 15. August 1740 in dem holsteinische»
Marktflecken Neinfeld, zwei Meilen von Lübeck geboren. Die Familie hatte
mehre Jahrhunderte hindurch das Pastorat verwaltet und den patriarchalische"
Charakter bewahrt, der sich in Landpfarrer immer noch am meisten erhält-
Der Vater unterrichtete die zahlreichen Kinder selbst. Bibel und Gesangbuch
waren die Hauptelemente d>er Erziehung. Der Knabe verkehrte gern und vie-
mit den Bauern, deren Plattdeutsch er fertig redete, aber doch immer als
Sohn eines Studirten; auch hatte die Familie am herzoglichen Hofe zu Pi^
Zutritt, der damaligen Landesherrschaft, so wie in den zahlreichen Edelsinn
der Umgebung. Nach der Confirmation besuchte Matthias die lateinische
Schule zu Plön, wo viel Rhetorik, Poetik, formale Logik und was sonst w't
der Wolfischen Philosophie zusammenhing, getrieben wurde; auch der Rat-'
gionsunterricht hatte den demonstrativen Charakter der Schale. Mit Ernst
und Ausdauer betrieb Matthias hauptsächlich das Studium der Musik, wie
denn überhaupt seine Natur vorwiegend musikalisch war. Ostern I75ö bezog
°r mit seinem älteren Bruder die Universität Jena. Das Studium der Theo-
logie gab er bald auf, weil seine Brust angegriffen war. aber auch der Juris¬
prudenz scheint er keinen besondern Eifer zugewandt zu haben. Die herr¬
schende Philosophie betrachtete er schon damals mit großer Abneigung und
sprach den leitenden Grundsatz seines Lebens bereits in einem Studenten-
»edicht aus: Der ist wahrhaftig nur gelehrt, der andere dadurch
glücklich macht. Bei dem Tod seines Bruders Nov. 1760 hielt er eine
Rede. die noch vorhanden ist. über das Thema ob und in wie weit Gott den
Tod der Menschen bestimme? eine Rede, in der sich noch keine Spur von
Sumer spätern Eigenthümlichkeit zeigt. Es ist ein glatter rhetorischer Fluß,
dem man leicht auf den Grund sieht. Weder das Gefühl noch der Glaube
'"acht sich geltend. Gegen das Ende seiner Universitätszeit 176? ließ er einen
Acad „Tändeleien und Erzählungen" drucken: ein schwacher Anfang seiner
dichterischen Laufbahn. Der Armuth des Innern, sagt Herbst, entspricht die
Monotone, geschraubte und geistlose Außenseite. Es sind poetische Schulexer-
Lilien, erwachsen aus dem allgemeinen Nachahmungstrieb, der einer empfäng¬
lichen Jugend auf einer Hochschule, wo die Bruchtheile aller Bildungselemente
sich zusammenfinden, vor allen eigen ist. eine Frucht der „teutschen Gesell¬
schaft", der er angehörte; aber leider Nachzeichnungen nach schlechten Vorlege-
blättern; nicht ein innerer Drang, zu gestalten, was tief innen lebt, sondern
°in äußeres Drängen, poetisch mitzureden auch ohne das Recht der Mündig¬
st! Triller in einer fremden Mundart, in dem geschnörkelten Zopfton. ab-
Worbene Neste französircndcr Dichtclcien. wo die Daphnes und Chloes und
ändere antike Schönen, doch alle im Reifrock und mit Puder ihre zimperliche
^olle spielen. Die Vorbilder sind Gerstenbergs „Tändeleien" (1758); die
schonungsloseste Kritik fanden die Gedichte in Nicolais Literaturbriefen 1765.
Nach der Universität brachte Claudius einige Zeit bei seinen Eltern in
^infekt zu. ..Er mochte sich bei seinem Hang zu möglichster Lebensfreiheit
'Acht besonders nach einem festen Amt sehnen. Es lag diese Abneigung gegen
feste Lebensstellung theils in der Zeit, tiefer aber in Claudius indivi-
^°iter Natur, in der Scheu vor der Hingabe an ein bestimmtes Fachwissen.
^ dies „Objective" ist ihm. dem Thatenscheuen, nicht die nothwendige Unter
,^ge der Existenz, sondern eine Störung, ein Eingriff in den Gang sein.es
^Uern Lebens. Ihm fehlten in ungewöhnlichem Maß die Hebel des prak-
^schen Lebens. Ehrgeiz. Erwerbstrieb. Lust an gesellschaftlicher Stellung; zu¬
gleich ist es freilich der Mangel an Sinn für Formen und eine gewisse vis
^rtiav äußerer praktischer Thätigkeit gegenüber, die diese contemplative Natur
so amtsscheu machte. Zudem war es nach dem Gang seiner Studien, die
kein festes praktisches Ziel im Auge gehabt hatten, nicht leicht, ein Amt zu
finden."
Endlich fand sich doch eine Stelle: den 17. März 1764 ging er nach
Kopenhagen ab, als Secretär eines Grafen Holstein, um auf diesem Wege
allmälig in den dänischen Staatsdienst überzutreten. Aber bald fühlte er
sich durch hochfahrendes Wesen im Hause verletzt, gab ohne andere Aussicht
den Posten auf. und schon im August 17os finden wir ihn wieder in Rein-
feld. wo er drei Jahre bleibt. Diese Jahre waren sür seine innere Entwick'
lung sehr wichtig. Vom März 1764 bis 1766 lebte als Hauslehrer auf cinco
Gut in der Nähe von Neiufeld, Schönborn, ein junger Mann (geb. im
Stolbergschen 1737), in dessen starker Seele sich der Sturm und Drang jeu^
Periode in ungewöhnlicher Wärme regte, ohne daß er eigentlich poetisch pr^
ductiv gewesen wäre. Durch ihn wurde Claudius in die Mysterien der Mi^
Poesie eingeweiht, mit Homer. Klopstock und Shakespeare bekannt gemacht-
In Kopenhagen, wo er mit dem neuen Freunde in beständigem Briefwechsel
blieb., lernte er Gerstenberg und durch ihn Klopstock persönlich kennen. Ge»
stenberg hatte die Periode seiner „Tändeleien" überwunden, sein „Gedicht
eines Scalden" 1766 führte die nordische Götterlehre in die deutsche Poesie
ein, in seinen „Briefen über Merkwürdigkeiten der Literatur" machte er M
Shakespeare, Cervantes und die englischen Volkslieder, für Klopstock und H"'
manu Propaganda, und erklärte der französischen Regelmäßigkeit den Krieg-
Claudius nahm eifrig an dem Eislauf Theil, der von der Schule Klopsto^
wie ein Cultus getrieben wurde; er machte Studien im Englischen. In Ko'
penhagen war damals ein deutscher Kreis versammelt, der die gesellschaftliches
Schranken durchbrach und die verschiedenen Stände und Berufsarten anco'
ander mischte; in diesen Kreis trat Claudius als Ebenbürtiger ein. In Rei^
seid scheint er sich wieder eifriger mit der Bibel beschäftigt zu haben, die ilM
auf der Universität ziemlich fremd geworden war; außerdem lerute er eine
Menge neuer Sprachen.
In einen neuen Kreis wurde er eingeführt, als er im Herbst 1768 als
Redacteur der „Adreßcomptoirnachrichten" nach Hamburg ging. Hamburg nahF
damals in der Literatur eine sehr ansehnliche Stelle ein; namentlich seitdem
Lessing sich mit dem kühn aufstrebenden Nationaltheater verbündete. ^
allen Gebildeten der Stadt schloß sich auch Claudius um Lessing an. D"^
gehörte der aufgeklärte Pastor Alberti. der jüngere Reimarus und se>^
Schwester Elisa. Professor Busch. der Buchhändler Bode. dessen ahmten^
liebes Freimaurerleben zu den interessantesten Episoden jener Zeit geh^'
Diesen „Gebildeten" gegenüber beherrschte der orthodoxe Zelot Götze d'^
Volksmassen; doch waren damals die Zerwürfnisse noch nicht so stark, un
Claudius fand an den liberalen Religionsansichten seiner Freunde noch keinen
Anstoß. — Die „Adreßcomptoirnachrichtcn" waren im Ganzen ein bloßes
^eschäftsblatt; der einzige originelle Artikel (11. Nov. 1769) ist ein Brief¬
wechsel, worin ein junger Mensch vom Lande an seinen Vater über die Anf¬
ührung der Minna von Barnhelm berichtet, im Glauben, es sei alles selbst-
eUebte Wirklichkeit. Der Artikel ist allerliebst, aber — nichts weniger als
^ir>. Der gute Junge schreibt u. a.: „Mir war den ganzen Abend das Herz
5° groß- und so warm — ich hatte einen so heißen Durst nach edlen Thaten
ja ich glaube wahrhaftig, wenn man solche Leute oft sähe, man könnte
^dlich selbst rechtschaffen und großmüthig mit ihnen werden." Der Vater
antwortet: „Die Götter (die Götter!) geben dem Menschen ein Herz, das
Aufwallen und mit dem wärmeren Blut sanfte Nöthe in sein Gesicht. Thränen
^ seine Augen, und mit ihnen Empfindung der Seligkeit und unwiderstehlich
^>ßes Wonnegefühl durch jede kleinste Nerve strömen könnte .... Du hast
weiches unverdorbenes Herz u. s. w." — So reflectirt weder ein naiver
^ohn noch ein naiver Vater. Kräftiger spricht sich die Tante über den „gott-
^'gessencn Sündenwisch" aus. der in schlechte Häuser geht. — Einen viel
Züchtigeren Einfluß als Lessing gewann Herder, als er Februar 1770 durch
^Mburg kam, auf den strebsamen Jüngling: damals noch nicht der ernsthafte
^usistvnalrath, sondern übersprudelnd von innerm Lebenstrieb, eine Fülle
Ideen, noch in der Währung, im Kopf, und bereit, jeder schwächeren
"tur seinen Stempel aufzuprägen. Auch Herder war bezaubert von „dem
Duften Menschen", den er je gekannt. Lessing verließ Hamburg Ostern 1770;
halb Jahr darauf siedelte sich Klopstock daselbst an. Aber schon zu An-
^'S des Jahres mußte Claudius die „Nachrichten" aufgeben, weil er nach
^ Ansicht des Besitzers das Geschäft zu unordentlich führte.
^ Bode hatte die Gründung einer neuen Zeitschrift, des „Boten", beschlos-
^> und von ihm beauftragt, siedelte sich Claudius Weihnachten 1770 nach
^Midsbeck über. Den 1. Januar 1771 erschien die erste Nummer:
Ich bin ein Bote und nichts mehr,
Was man mir gibt, das bring ich her,
Gelehrte und polie'sehe Mühr;
Von Alp Bey und seinem Heer,
Vom Tartarchcm, der wie ein Bär
Die Menschen frißt am schwarzen Meer,
(Der ist kein angenehmer Herr)
Von Persien, wo mit seinem Speer
Der Prinz Hcratlius wüthet sehr.
Vom rothen Gold, vom Sternenheer,
Von Unschuld, Tugend, die noch mehr
Als Gold und Name sind —
(Virgil läßt auch oft Verse leer)
Von dem verschwiegnen Freymäurcr
Vielleicht wol auch, doch heimlicher,
Von Fried Tractaten, Krieg und Wehr.
Von Couriers, die von ungefähr
Gewiß nicht reiten hin und her u. s. w.
Das Blatt erschien viermal wöchentlich auf je zwei Quartblättern in sehr
bescheidener Ausstattung. Der politische Theil, aus andern Zeitungen zu¬
sammengestellt, nimmt in der Regel drei Seiten ein, dann folgen die meist
ziemlich ungelehrten „gelehrten Artikel", aus Poesien, kleinen Prosaaufsätze"
und kurzen Kritiken bestehend; die Gedichte werden spater auch wol in eine»
besondern ..poetischen Winkel" verwiesen. Zu den Mitarbeitern gehörten
Herder, Stolberg, Voß u. s. w. Eine durchgreifende Tendenz ist nicht sichtbar,
doch hält Claudius im Ganzen die Fahne Klopstocks fest und polemisirt ziemlich
lebhaft gegen Wieland (z. B. in der Anzeige des neuen Amadis 1771). Des
alten Freundes Alberti Tod (1772) wird mit Theilnahme gemeldet, und gege»
Götze der christliche Friede vertreten. Lessings Emilie (1772) erhält das g°'
bührende Lob; gegen das Motiv der Sinnlichkeit bei der Heldin werden ge<
rechte Einwendungen gemacht. Auch später, bei der Veröffentlichung der Frag'
mente, sagte sich Claudius keineswegs von Lessing los: „er meint, wer Ne^
hat, Wird wol Recht behalten; der solls aber auch behalten, und darf das
freie Feld nicht scheuen!" In seiner Antwort (April 1778) erklärt Lessing, d-r
ehrliche Herr Asmus habe seine Gesinnungen ganz richtig interpretirt. M>t
großer Freude wird (Juli 1773) Götz von Berlichingen begrüßt: ..Der Ver¬
fasser bricht gerade durch alle Schranken und Regeln durch, wie sein edler
tapferer Götz durch die blanken Escadrons feindlicher Reiter, kehrt das Bild
aus der Höhe unterst zu oberst und setzt sich aufs Fußgestelle hin hohnlachet
Das macht er nun freilich etwas bunt, und es läßt sich Mit Fug gege"
diesen Unfug manches sagen, das man auch sagen würde, wenn einen der >
Verfasser durch einige Weisen, die er an sich hat. nicht versöhnte." ^'
Werther (1774) wird bei aller Anerkennung auf die Gefahr der falschen E>"'
psindscnnkeit hingewiesen; in diesem Sinn werden (1775) selbst Nicola^
„Freuden" als Abkühlungsmittel empfohlen, und auf.einen Ausfall im .M"'
metheus". als dessen Verfasser Goethe galt, ziemlich scharf geantwortet:
der Aufklärung dieses Mißverständnisses stellte sich dann das gute Einvernck'
men zwischen den beiden Dichtern wieder her. — Ueber Claudius poctis^
Form, die sich in jener Periode bereits vollständig entwickelte, macht der Ver¬
fasser einige sehr seine Bemerkungen. „Man suchte nach den Elemente''
des Lebens, da die vorliegenden Lebenszustände so gemischt, complicirt ur>°
verworren erschienen." Claudius unterschied sich dadurch von den ander"'
daß er den Oberton ganz von sich fern hielt: seine Weise ist durchweg deutsch.
..Claudius kennt nur den unmittelbaren Ausdruck poetischen Lebens, den
Naturlaut der Seele. . . Das Lied war die seinen Gaben angemessene Form.
Es ist wahr, es ist nicht der sonnige Glanz, es sind nicht die feinen Um¬
risse, der buntfarbige Gestaltenreichthum der Goethescher Lyrik . . . schon
der Umfang war weit enger. Zunächst fehlt so gut wie völlig die erotische
Gattung. Grade hier hangt Leben und Dichtung so enge zusammen. Goethes
!o vielfach umgetriebenes Herzensleben hat bei dem Mangel eines stetigen
Glücks gleichsam einen Ersatz dafür in diesen hundertfach modulirten Tönen
gefunden; Claudius einfacherer und reinerer Lebensgang fand früh ein Glück,
das alle Sehnsucht verstummen machte." Seine Lieder haben das Leben in
der Natur, die Zustände des Landmanns, die kleinen und großen Vorgänge
des Familienlebens und weiterhin Fragen, die das Menschenwohl und der
Christen Hoffnung angehn zum Gegenstand. Alles Menschliche wird auf seine
örtliche Bestimmung bezogen. „Er gibt als Dichter, was er selbst erfahren,
^om er sich mit Herz und Mund bekennt, das gibt seinen schlichten Liedern
den Eindruck der Treue, des Erlebten, und steht ihnen so wohl." „Claudius
^ni den Bauernstand heben, indem er ihm die Erkenntniß seiner Lebens¬
güter zu schärfen sucht, indem er sich selbst ihm zugesellt >. . . Der Schutz
des eignen Rechts und des eignen Werths jenes Lebenskreises, dem er ge¬
ilst werden will, ist sein Standpunkt." „Am meisten ist ihm das brüderliche
Gefühl für das vielgestaltige menschliche Leiden eigen." „Auch in seinen
^aturliedcrn läßt er das menschliche Element und Wesen walten; leiht doch
der Mensch erst der Natur die Seele. Trotz des tiefen Naturgefühls, das
'du belebt, stellt er fast nirgend die Natur für sich und um ihrer selbst willen
dar. sondern ihre Beziehung zum Menschen und zu Gott ... Er steht in
geradem Gegensatz gegen die pantheistische Ansicht von der Weltseele, die
^eitles den verführerischen Reiz des Jdeenreichthums, der Bilderfülle und
buntester Färbung voraus hat." ..Er will es ernst und start zu Gemüthe
führen, daß hinter der Natur ihr Gott, hinter dem Leben aber der Tod steht,
^anrit hängt seine Vorliebe sür die Schilderung des Todes zusammen, auf
dessen Bild und dessen Mahnungen er immer wieder zurückkommt, der als
Schutzheiliger und Hnusgott an der Hausthür seines Buches steht." Bei der
Perle seiner Gedichte, dem Abendlied, „liegt der Zauber grade darin, daß
^ keine bloße Abschrift der Natur ist und ebenso wenig eine bloße Empsiu-
^'ug in der Natur. Gleichsam mit geschlossenem Auge läßt der Dichter die
g^chante Schönheit an dem innern Blick vorübergehen, und wirkt durch sol-
^6 Nachdenken der großen Schöpfungsgedanken, daß man nicht blos glaubt
^ die Wahrheit dieser Naturbilduerci. daß man das Bild schaut mit seiner
Innern lebenden Seele, und verwandte Stimmungen wach werden/' Das
alles ist so vortrefflich gesagt, daß sich nichts weiter hinzusetzen läßt; wobei
wir nur immer daran erinnern, daß hier nur von den Liedern, nicht von der
Prosa die Rede ist. ,.Niemals hat sich Claudius von der Vorstellung los¬
machen wollen, daß alles poetische Schaffen auf das innigste mit sittlicher
Reinheit im Bunde sein müsse;" auch seine Stimmungen dienen der Lehre. '
Wandsbeck wurde in doppeltem Sinn des Dichters Heimath; hier fand
er die eigne Art seines Schaffens, hier fand er sein geliebtes Weib, Rebekka,
die Tochter des Zimmermeisters Behn, die ihn in treuer Liebe und in ver¬
ständigem Walten bis an sein Ende begleitet hat (geb. Oct. 1754). Die
Hochzeit (15. März 1772) schmeckte etwas nach der Geniezeit: Claudius hatte,
ohne den Zweck merken zu lassen, eine Gesellschaft naher Bekannten geladen,
darunter Klopstock, Bode, Schönborn (vor seiner Abreise nach Algier 1771—-
1772 Hofmeister in Hamburg); auch der ?a.«or loci erschien, und Claudius,
der zuerst wie im Scherz vom Copuliren sprach, zog endlich die königliche
Concession aus der Tasche. Auch die Leser des Boten mußten an der Freude
Theil nehmen. Rebekka — er nannte sie auch später in den Briefen fast
immer sein Bauermädchen — war nach dem Zeugniß aller Zeitgenossen eine
der bravsten und liebenswürdigsten Frauen, die Ehe eine musterhafte und
gesegnete. Freilich begannen sofort die Nahrungssorgen, der Bote wollte
nicht recht gedeihen, Uebersetzungen brachten auch nicht viel ein, und Herder
suchte lange Zeit vergebens für seinen Freund eine Anstellung. Seit Ostern
1775 lebte auch V oß, Claudius Mitarbeiter am Göttinger Musenalmanach, in
Wandsbeck, mit Claudius und seiner Frau aufs innigste befreundet, in einem
gemüthlichen Stillleben; Hölty. der sich gleichfalls dahin übersiedeln wollte,
wurde durch den schnellen Fortschritt seiner Schwindsucht zurückgehalten; die
beiden Stolberg (er hatte sie 1771 — 1772 in Altona kennen gelernt)-
Miller und andere Hainbündler erschienen besuchsweise; durch Herders Ver¬
mittlung wurde seit 1774 mit Ha manu und Lava t er ein lebhafter Brief'
Wechsel angeknüpft. Der letztere begleitete später in seiner Physiognomik die
Silhouette des Wandsbecker Boten mit folgender Charakteristik: „Weder Schwach'
kopf noch Scharfkopf. Gesunder, schlichtguter, aber durchaus nicht fortdrin¬
gender, reisender, gliedernder Verstand. Hell und richtig und rein wird er
sehen und richten, was vor ihn kommt; den Reichen als den Armen, den
Armen als den Reichen; niemandem zu lieb noch zu leid. Kurz! schlecht und
recht! einfältig und gerade! Genie des Wahrheitssinns! Genie des Herzens
— Armuth und Zufriedenheit! Demuth und unerkäufliche Ruhe und Festigkeit
des Sinns — und in der Form und den Zügen des Profils die Abgeschlissen'
heit, Unangespanntheit eines freien Naturempfindens."
Schon im Mai 1775 war Claudius von dem Boten, der im October
ganz einging, zurückgetreten; gleich darauf begann er die Herausgabe seu'^'
gesammelten Aufsätze (^sans omnia. sua hönnen pvrwns). Im Spätherbst
!775 machte er mit denStolbcrg, wahrscheinlich um eine Anstellung zu suchen,
°Me Reise nach Berlin, wo er Nicolai kennen lernte und in den Freimaurer¬
orden trat; von da aus besuchte er Haugwitz, den spätern Minister, damals
>>ut den Stolberg enge befreundet und eifriger Maurer, aus seinem Familien-
At bei Oppeln. Endlich fand Herder für den Freund eine Anstellung in
Darmstadt, wo der damalige Minister K. F. v. Moser eifrig aus die Hebung
des Bauernstandes bedacht war. und zu diesem Zweck einen populären Schrift¬
steller wol umwenden zu können hoffte. „Der Herr Präsident," schreibt Clau¬
dius 2. August 1775 an Herder, „muß sehr gütig sein, daß er einen Unbekann-
ien so ehren will. Also geheimer Kanzeleisccretär? Der Avisenschreiber, den
halb Wcmdsbeck für unklug und ganz Wandsbeck für einen lausigen Avisen¬
schreiber hält, geheimer Kanzeleisccretär? Ich weiß nicht ganz genau, was ein ge¬
heimer Kanzeleisccretär in Darmstadt zu thun hat, aber ich kann rechnen und
schreiben, weiß vom Staats, und Völkerrecht nicht viel, finde mich leicht in
°ewas und arbeite schnell, habe ehedem wol Italienisch schreiben können,
schreibe noch Französisch, grammatikalisch aber nicht delicat. verstehe Griechisch,
Wunsch, Englisch, Dänisch, Holländisch, Deutsch, etwas schwedisch und
Spanisch, habe die Jnstitntions und Pandecten gehört und Historie, weiß
aber von Institution?, Pandecten und Historie nicht mehr, als eben zur Leibes-
"ahrung und Nothdurft u. s. w. gehört, bin ehrlich und lasse mich nicht he¬
uchelt. Wenn ich nun mit diesem Wissen und Nichtwissen geheimer Kanzelei¬
sccretär werden kann, so erkenne ich es mit Dank, daß der Herr Präsident
"'ich dazu machen will, aber nach meiner Neigung möchte ich lieber eine mein¬
er glänzende und mehr ruhige Stelle haben, und etwa Vorsteher eines im
^alde gelegenen Hospitals oder andrer milden Stiftungen, Verwalter eines
Jagdschlosses. Garteninspector, Vogt eines Dorfes :c. werden, dabei ich Zeit
^ete, meinen Grillen nachzuhängen." Als sich (November 1775) der Titel
eines Secretärs in den eines Oberlandcommissarius verwandelte, erzählte er sei-
Freunden, er solle Burgvogt werden, sein Wohnhaus stehe mitten im
^alde. und entwarf in diesem Sinn an Moser einen Brief, den Herder im
^chstcn Aerger vernichtete. Endlich (3. December 1775) kam folgendes Schrei-
ju Stande: „Ich habe eine alte Mutter, die ich so lange sie noch lebt
^nem verlasse; aber meine jetzige Situation ist von der Art, daß ich eine
Agent erträgliche Versorgung mit beiden Händen ergreisen muß, viel mehr
so vortheilhafte als die ist, mit der Ew. Exc. mich beehren wollen. Es
^'ehe also nur die Frage, ob ich mir getrauen dürste, eine solche Stelle an-
^Aehnelt, da einem ehrlichen Mann eine strenge Erfüllung der Pflichten, die
^ über sich nimmt, doch immer die Hauptsache bleibt. Und hierüber will ich
"Mchtig und grade heraus sein. Wenn ich von meiner Neigung sprechen
dürste, so ist die für ein einsames Leben, sür ein nützliches Wirken im Stillen,
für Feld und Wald und Bauervolk von jeher gestimmt gewesen; das darf ich
auch noch sagen, daß ich es an gutem Willen, herzlicher Thätigkeit und Treue
nicht werde fehlen lassen; ob ich aber Geschick genug habe, ein Rad in der
Maschine zu sein, dadurch ein Fürst seine Vatermilde über sein gutes Land¬
volk ausbreiten will, das weis; ich nicht, weil ich noch keine Erfahrung davon
gemacht habe, und ich nichts von mir annehmen mag, als was ich aus gehabter
Erfahrung weiß. Sollten Ew. Exe. nach diesem Bekenntniß mich dieser oder
einer andern kleinen Stelle einigermaßen würdig finden, so dürfte ich wol
hoffen, daß meine Ueberkunft bis zur gelindem Witterung Zeit hätte, da ich
seit einigen Wochen erst wieder Vater geworden bin!"
Nach einem achttägigen Aufenthalt bei Herder in Bückeburg kam Clau¬
dius 1K. April 177« in Darmstadt an. wo er von Moser selbst und von
Merk, in dessen Hause Herder seine Gattin gefunden, sehr freundlich auf¬
genommen wurde. Doch konnte er sich weder in die süddeutsche Lebensweise
noch in seine Amtsgeschäfte finden. Die Oberlnndcommission hatte den Zweck,
auf die Verbesserung der materiellen Hilfsquellen des Inlandes in Ackerbau
und Industrie, so wie auf die Hebung der geistigen und sittlichen Lage der
Bevölkerung hinzuarbeiten; sie hatte die ganze Reaction gegen sich, in der
Wahl der Mittel scheinen manche Fehlgriffe vorgekommen zu sein, und Clau¬
dius schrieb einem Freund, der sich nach seinem Thun und Lassen erkundigte ^
ich thue nichts und lasse alles.' Endlich sand man für ihn eine bestimmte
Beschäftigung in der Redaction der hesscndarmstädtischen privilegirten Land¬
zeitung, die vom 1. Januar 1777 ab erschien, und die Aufgabe hatte, das
so sehr zerstreute Land mit sich selbst bekannter zu machen, Fleiß. Verdienste,
edle und gute Handlungen aufzumuntern, den Weg der Communication des
Landes unter sich zu erleichtern und es auch Auswärtigen in all diesen Stücken
auf eine anständige Weise bekannter zu machen. Der Ton des Wandsbecker
Boten wurde beibehalten, nur verwandelte sich der Schneider Asmus in den
kleinen lahmen Invaliden Görgel. Doch auch da erfolgten manche Verdrießlich'
leiten, schon am 28. Februar 1777 ertheilte Moser seinem Redacteur einen
strengen Verweis (noch später äußerte er sich: er war zu faul, mochte nichts
thun als Vögel singen hören. Clavier spielen und spazieren gehn), und dieser
reichte seine Entlassung ein. Gleich darauf verfiel er in eine tödtliche Krank¬
heit, die F. H. Jacobi Gelegenheit gab, durch eine herzlich ertheilte Unter¬
stützung in freundschaftliche Beziehungen zu ihm zu kommen; nach Beendigung
derselben kam er 4. Mai 1777 in Wandsbeck an. Der schnelle Umschwung
der Verhältnisse hatte ihn doch mächtig erschüttert; seinem Freunde Voß
die Veränderung auf, die in seiner Gestalt und mehr noch in seiner Stimmung
vorgegangen war, und der scherzhaft gezwungene Ton, mit dem er über sei"
Schicksal sprach, hatte etwas Niederschlagendes. Voß hatte eben (Juni 1777)
seine Ernestine heimgeführt und brachte sie nach Wandsbeck. wo er bis zum
Herbst des folgenden Jahres blieb; die Freunde versammelten sich regelmäßig
ZU Kegelpartien; wenn Claudius Abends den Freund besuchte, hatte er die
älteste Tochter mit einem Kreuzgürtel aus den Rücken gebunden. Für Voß
war es die prvductivste Zeit: die Idyllen wurden geschrieben, der siebenzigste
Geburtstag wenigstens erlebt, der Plan zur Luise entworfen. — Claudius
gab 1778 den 3. Bd. seiner Schriften heraus, meist in Darmstadt entstanden
und noch überwiegend humoristisch; darin die Nachricht von der Audienz beim
Kaiser von Japan und das Schreiben eines parforcegejngten Hirsches an den
Fürsten.
Trotz seiner precären Lage überraschte Claudius die ferner Freunde nicht
selten mit Erzeugnissen der Hamburger Gastronomie. Er lebte hauptsächlich
von Übersetzungen und der Herausgabe des Asmus; doch wurde seine Lage
dadurch erleichtert, daß ihm F. H. Jncvbi von Ostern 1778 bis zum Sommer
^780 seine Söhne zur Erziehung anvertraute. Sein Briefwechsel mit Jacobi.
Lavater, Hamann ging sort; Lessing und Schönborn, der aus Algier zu¬
rückkehrte, besuchten ihn 1778 in Wandsbeck; sonst lebte er fast nur der Familie,
die sich jährlich mehrte. 1781 entschloß er sich zum Ankauf eines eignen
Hauses; den 19. Oct. 1787 schrieb er an den Kronprinzen von Dünemark,
der ihn seit zwei Jahren mit einer Pension von 200 Thlr. unterstützte: „ich
habe mich bisher mit meiner Hände Arbeit genährt und mich nicht übel da¬
bei befunden; aber acht Kurder. die doch Halbwege erzogen und unterrichtet
sein wollen, fangen an mir meine Zeit zu nehmen und mir meine jetzige
Lebensart etwas beschwerlich zu machen. . . Ich wünschte irgend eine Stelle
^ des Königs Lande, und wenn es sein könnte, im lieben Holstein. Ich
^ete nicht um eine sehr einträgliche Stelle, sondern nur um eine, die mich
"ährt. und um so eine bitte ich mit aller Unbefangenheit eines Mannes, der
Willens ist. das Brot, das ihm der König gibt, zu verdienen. Wenn es
'"ir auch erlaubt sein würde, so wüßte ich nicht zu sagen, wozu ich eigentlich
^schickt bin. und ich muß Ew. k. Hoheit unterthänig bitten. daß Sie gnädigst
Wuhen ein Machtwort zu sprechen und zu befehlen, wozu ich geschickt sein >
^it." Der Brief verschaffte ihm die Stelle eines Bnnkrevisors mit 9L0 Thlr..
ihn zu weiter nichts verpflichtete, als einige Wochen im Herbst der Rech-
"Ungsablage im nahen Mona beizuwohnen.
Von großer Wichtigkeit für seiue innere Entwicklung war die Ueber-
^sung des'mystischen Buchs Dos Ur-r'vui's ot Is, Vvritü 1782: theils
^it er wirklich von der Anschauungsweise Se. Martins sich manches ange-
?Suet hat. dann weil mau in Deutschland fast allgemein über das Buch ser-
in ihm ein Muster von Geistesverwirrung sah und diese Verurtheilung
des Originals auf den beistimmenden Uebersetzer übertrug. So urtheilten
Goethe, so Herder; so müssen auch wir urtheilen, trotz der abweichenden An¬
sicht des Verfassers, der denn, doch gesteht, daß in jenem Buch Wahrheit
und Phantasie sich verwirren, daß eine orakelnde Dunkelheit und ein mit
Zahienmystik verwebtes Räthselspiel daraus hervorgeht. Es ist schon hier
der unglückselige I. Böhme, der noch später in unserer Philosophie eine so
heillose Verwirrung angerichtet hat. — Das Jahr ist übrigens bemerkens¬
wert!); auch bei I. Müller und Forster culminirt in ihm die Mystik, haupt¬
sächlich durch F. H. Jacobi genährt. — Schon am Schluß des 3. Bandes
von Asmus finden sich Andeutungen einer neuen Richtung; so in dem Aus¬
satz über das Gebet: „Das innerliche heimliche Hinhängen. Wellenschlagen
und Wünschen des Herzens, das ist nach meiner Meinung beim Gebet die
Hauptsache .... Ob nun das Gebet einer bewegten Seele etwas ver¬
mag und wirken kann, oder ob der 5lexn8 ki-erum dergleichen nicht gestattet,
wie einige Herrn Gelehrte meinen, darüber lasse ich mich in keinen Streit
ein. Ich hab' allen Respect für den I>Ikxu8 klomm, kann aber doch nicht
umhin, dabei an Simson zu denken, der den Aexns der Thorflügel unbeschädigt
ließ und das ganze Thor auf den Berg trug." Das Zeichen des Kreuzes
schließt den Band. Ganz anders ist schon der Ton im folgenden (1783)!
der Schalk mit seiner Schellenkappe verschwindet sast ganz. „Das PublicuM
und die Recensenten empfanden wohl, daß ihr früherer Liebling nickt mehr
der alte sei. Er bot nur selten Stoff zum Lachen, meist machte er ein ernstes,
mitunter ein bekümmertes Gesicht; aus dem Leben gegriffen waren seine
Gegenstände noch immer, doch die Mehrzahl aus einem andern Leben als
vordem." Eine ausführliche Recension des Bandes in Nicolais Allg>
deutscher Bibliothek erkennt „die hohen Züge des Geistes und edle Wärme
des Herzens" bereitwillig an: „Aber uns dünkt, daß der Verfasser sich den Auf'
Wallungen seiner Empfindung oft zu sehr überläßt, sie zu sehr auf Kosten
der deutlichen Begriffe erhebt. Es kann auf eine Zeit lang angenehm sein,
in süßer Phantasie herum zu wallen, das Herzchen wie ein krankes Kindchen
zu pflegen und ihm all seinen Willen zu gestatten, über Dinge, die wir wissen
und die wir nicht wissen können, schön zu träumen; aber am Ende erwacht
man doch aus diesem elysischen Schlummer oder man träumt sich zum Schwärmer
oder zu etwas noch Aergcrem. Denn wo ist der Mann, der sich rühmen
kann, seinen Empfindungen sicher trauen zu können?" — In seinen Anzeigen
beschäftigte sich Claudius fortan nur mit solchen Werken, die ihn in seiner
Lebensrichtung fördern und kräftigen konnten: Hamann, Lavater, Jacoln,
Herder. Er las die Kirchenväter und Mystiker, besonders Tauler. dessen Pr^
digtcn ihm ein Haus- und Familienbuch wurden. Mit Pascal stimmt er gani
überein. wenn dieser von der hohen Bestimmung und der niedrigen Wirklich'
keit des Menschen spricht und die Quelle dieses Widerspruchs in dem Geheim¬
niß der Erbsünde erkennt. Lei Newton, Boyle und Bacon überrascht ihn
besonders freudig, daß ihre hohe Wissenschaft -den Glauben nicht erstickt hat.
denn auch als seine Bestimmung saßt er aus: „nicht das große Thema des
Christenthums zu dociren. sondern darauf aufmerksam zu machen; durch Scherz
und Ernst und auf allerlei Weise an das Bessere und Unsichtbare zu erinnern
und durchs Factum zu zeigen, daß man nicht ganz und gar ein Ignorant,
nicht ohne allen Menschenverstand und doch ein rechtgläubiger Christ sein könne.
Das ist das Gewerbe, das ich als Bote den Menschen zu bestellen habe, und
damit ich bisher treuherzig herumgehe und allenthalben an Thür und Fenster
anklopfe." „Es ist viel schwerer, die Vernunft gegen die Offenbarung, als
die Offenbarung gegen die Vernunft zu retten." Am klarsten ist sein
Gedankengang in Asmus' Brief an seinen gelehrten Vetter Andres, über
die Herrlichkeit des Erlösers (4. Band): ..— der bei Gott und Gott
war und wol hätte mögen Freude haben (sie), der aber an die Elenden im
Gefängniß gedachte und verkleidet in die Uniform des Elends zu ihnen kam.
UM sie mit seinem Blut frei zu machen; der in die Welt kam. die Welt selig
^ machen und der darin geschlagen und gemartert ward und mit einer Dornen¬
krone wieder hinausging! . . . Man könnte sich für die bloße Idee wol
brandmarken und rudern lassen, und wem es einfallen kann zu spotten und
^ lachen, der muß verrückt sein." Freilich! aber ebenso verrückt, wer
wegen der Herrlichkeit jener Idee auf das Factum schwört. Und wie wenig
Rechtgläubig das alles! Der rechte Glaube leitet die Herrlichkeit der Idee aus
offenbarten Thatsache ab. nicht umgekehrt; der subjective Ursprung des
"enen Neligionsgefühls wollte sich damals auch bei den Aposteln nicht ver-
^ngnen. Freilich klingen die Resultate zuweilen sehr orthodox; so heißt es
ö'B. noch in demselben Band: „Abraham schlachtet, als Gott zu ihm sprach.,
^man einzigen Sohn, und bekümmert sich nicht um sein Vaterherz und um
seine Vernunft; und so muß es sein, wenn etwas daraus werden soll." —
In dieser religiösen Prosa gilt, wie in der Lyrik, die Natur nichts an sich.
"Offenbar muß man von Erde und Himmel und von allem, was sichtbar ist,
Auge abwenden, wenn man das Unsichtbare finden will. Nicht daß
Himmel und Erde nicht schön und des Ansehens werth wären; sie sollen unsere
^ufte in Bewegung setzen, durch ihre Schöne an einen, der noch schöner ist.
Innern, und uns das Herz nach ihm verwunden: aber wenn sie das gethan
^ben, dann haben sie das Ihrige gethan und weiter können sie uns nicht
^fen. Der Mensch ist reicher als sie. und hat. was sie nicht geben können."
auch im Menschen ist ein Zwiespalt. „Man tröstet sich mit der inner-
"chen Größe des Menschen und gloriirt über das Hohe seiner Vernunft. Aber
Wde hjer ist es, wo einem Thränen in die Augen treten, wenn man gewahr
wird, wie das Große und Göttliche wider seine Natur in uns gehemmt ist."
„Die Vernunft ist ein Strahl Gottes, und nur das radicale Böse hat ihr die
himmelblauen Angen verderbt. Aber es schwebt noch um den blinden Tire-
sias etwas Großes und Ahnungsvolles, und sie hat, wie der König Leur,
auch wenn sie irre redet, noch die Königsmiene und einen Glanz an der
Stirne." — „Wer mit dem Medusenkopf der Aufklärung die Neigungen und
Leidenschaften zu versteinern denkt, der ist unrecht berichtet." — „Wir sind
nicht groß, und unser Glück ist. daß wir an Größeres, und Besseres glauben
können." — Alle diese Sätze waren Jacobi aus der Seele geschrieben, und
mußten Goethe, den Jünger der Natur, empören. — Uebrigens ist diese Spa'
lere Prosa, welche die Schneidcrmaske abgeworfen, viel wahrhaftiger als die
frühere, wenn sie auch leicht eintönig wird.
Obgleich Claudius sich in jener.Periode noch wenig in Polemik einließ-
gab seine frömmelnde Richtung doch den alten Freunden vielfachen Anstoß'
Voß, der bereits 1779 bedenklich wurde, schreibt 1785: „Claudius versinkt
immer tiefer in den grundlosen Morast, der ihm ein Paradies scheint;"*)
doch nahm er noch 1786 „Ariäus Reise um die Welt" in seinen Musenalmcn
nach auf. — Bei einem kurzen Besuch in Weimar, Sept. 1784. fühlte er sich
höchst unbehaglich; er paßte nicht in jenen Kreis: auch Gleim schüttelte damals
über seine Mystik den Kopf. Goethe nennt Claudius, „der aus einem Fuß'
boten ein Evangelist werden möchte," in einem Brief aus Italien an Herder
„einen Narren, der voller Einfaltsprätensionen steckt;" Herder selbst wurde ih>"
immer fremder, Claudius folgte zwar seinen Schriften mit Aufmerksamkeit,
hatte aber immer mehr anzumerken, wie sehr der Freund sich vom Positiven
entferne. Desto näher tritt ihm Hamann bis an seinen Tod 1783, obgleich
das Verhältniß etwas Wunderliches hat. **) „Das Formlose und Unmündige/
ahn'l'/l 'alli ti>, nrM .Z^ni,'such's r,I„ :'5ki,i !!>.!!/k,.'.-»-; Ili' t»5ki
sagt Herbst, „das beiden gemein war, ging bei Claudius mehr aus freiem
Willen und Grundsatz hervor, bei Heumann war es Naturfehler und übertrieb
Ach bis zum unverständlichen Stammeln. Indessen grade weil seine Gedanken¬
tiefe und Gedankenschwere in natürlichem Mißverhältnis; stand zu seinen sprach¬
lichen und formellen Mitteln, so hielt er mit Absichtlichkeit jenes Dümmerlicht
^se bei großer Helle in den Grundanschauungen." Am nächsten trat ihm
Jacobi, der ihn 1789 aus Wandsbeck abholte und mit ihm Holstein durch¬
reiste, auch Lavater, der ihn aber nur einmal, 1793, persönlich traf,")
Und Stolberg mit seiner Familie und seinen Freunden.
Bd. 5 der Werke (1790) enthält sieben Capitel über die Unsterblichkeit
der Seele; Gespräche, die Freiheit betreffend, in welchen das einseitige Inter¬
ne für die politische Freiheit auf die sittliche übergelenkt werden soll, und
^ne Uebersetzung der Platonischen Apologie. Herder hatte ihn frühe auf den
Uwern Zusammenhang der Religionen aufmerksam gemacht, und er suchte überall
Alterthum die Spuren von Christus. „Nun die blinden Heiden! Es hat
^ir immer nicht recht eingcwollt, daß sie von dem letzten bis zu dem ersten
alle so entsetzlich blind gewesen, und es fliegen überall an ihren Altären der
Türken so viel, die grade wie die israelitischen aussehn." Am meisten findet
^ diese Spuren in Sokrates und Plato. Auch suchte er hiehin die orien¬
talischen Religionssysteme zu vertiefen, namentlich seitdem Kleuker, Jacobis
^ud Humanus Freund, Rector in Osnabrück, seine Uebersetzung der Zendavesta
^ud seine Studien über vergleichende Religionswissenschaft veröffentlichte.
Wenn er auch der eigentlichen Naturphilosophie, seinem Glaubensprincip ge-
"'aß, entgegengesetzt war, so berührt er sich doch mit ihr in manchen Resul¬
taten. Ju der „asiatischen Vorlesung" (Bd. 7) macht er auf die ungeheure
Lebenskraft der altorientalischen Völker aufmerksam, zu der wir Neuern uns
'naht wie Fortgeschrittene, sondern wie Zurückschreitende verhalten. „Diese Völ¬
ker waren nicht durch eitle Spitzfindigkeiten, Unglauben und Klcinmeisterei
Ausgemergelt und ausgedorrt; bei ihnen gings aus dem Vollen und Großen,
^cum wir auf Velinpapier und mit Fibellettcrn schreiben, so schrieben sie
unterm Himmel an ihren Felsen und Bergen mit Riesenbuchstaben." „AN
die großen Begebenheiten, welche die christliche Religion voraussetzt und zum
Theil darauf sich gründet, hallen in den ältesten Schriften der asiatischen Na¬
tionen wieder." In Bezug auf die Formen ist er noch immer tolerant; wenn
er sich zuweilen zu den Herrnhutern neigt, erkennt er auch die Vorzüge der
katholischen Kirche an, er macht auf die guten Seiten des Klosterwesens, der
Fasten aufmerksam; er selbst bleibt Protestant, aber wo ihm warmer Glaube
entgegentritt, findet er sich zu Hause.
Die französische Revolution rief, wie überall, auch in Norddeutschland
die unangenehmsten Zerwürfnisse hervor. Im Anfang hatten Klopstock, Stol¬
berg u. f. w. ihr zugejauchzt, bald trat die bittere Enttäuschung ein, und
als Jacobi im October 1794 dahin flüchtete, als I. G. Schlosser ihm 1?^
folgte, wurde der holsteinische Adel der Mittelpunkt der deutschen Reaction-
In dein stillen Wandsbeck sammelten sich diese Feinde der „wülschen Freiheit"
um so lieber, da Claudius nie mit der Revolution gebuhlt hatte. Mon¬
archisch gesinnt war er stets; zwar verlangte er in seiner Gemüthlichkeit von de»
Fürsten, sie sollten ..die bessern Männer" sein, sie sollten nicht „Blut dürsten"'
aber Gehorsam verlangt er — schon 1777 — „nicht blos gegen die gütige»
und gelinden, sondern auch gegen die wunderlichen Fürsten." 1794 schrieb
er eine Flugschrift „über die neue Politik". Er verkennt die Gebrechen des
Alten nicht, aber „die Besserung müsse nicht ärger als das Uebel sein, das
man bessern wolle;" Anhänglichkeit und Vorurtheil für das Alte sei edler als
Vorurtheil für das Neue; die alte Ordnung erscheint ihm für die menschlich
Natur, wie sie ist, als eine heilsame Zucht und als nothwendige Schrank
sür Selbstsucht, Frevel und Eigendünkel, als eine Pflege edlen Vertrauens,
des Gehorsams, der Bescheidenheit. Denn „was soll man von einem
scheu erwarten, der kein Vertrauen hat. der alles selbst sehen und betaste"
will, und immer über seine Rechte brütet?" — Weil es in Wandsbeck
müthlich zuging, wollte er an die eirroniciuv av 1'Ovil as Local und
Calonnes Finanzwirthschaft nicht glauben. Die berühmte „Klage" von 1?^
— „Sie dünkten sich die Herren aller Herrn, zertraten alle Ordnung, Sitt
und Weise und gingen übermüthig neue Gleise ... sie beten Unsinn an u»d
thun dem Teufel Ehre, und stellen Greuel auf Altäre!" — übertreibt die P'^
vel der Revolution nicht im mindesten; der Bote vergißt nur, daß in Deutsch'
laut die Predigt an eine andere Adresse hätte geschickt werden sollen.— 2'"
October 1795 veröffentlichte Claudius die Fabel vom Censor Brummelbäl¬
den der Fürst auf allgemeines Begehren angekettet, als aber ein allgemein^
Unfug darüber ausbricht: „Ich rechnete aus angestammten Triebe auf
Sinn und Wahrheitsliebe; sie waren es nicht werth, die subter klein u"°
groß — macht doch den Bären wieder los!" Voß antwortete darauf mit d^
Tübet vom Uhu: ,,Der Adler that, als hört er nicht, und sah ins junge
Morgenlicht;" — zu Knuts großer Zufriedenheit. — Man kann nicht leugnen
^ und Herbst hätte es nicht verschweigen sollen — daß Claudius in seinen
Verdächtigungen gegen die Aufklärung zuweilen hämisch wurde; freilich war
°r durch bittere Ausfälle sehr gereizt. und in seinem Kreise — Jacobi, Stol-
bttg. die Neventlows. die Fürstin Galizin (die ihn 1791, 179Z und 1797 in
Ncmdsbeck besuchte und deren Besuch er erwiederte) — steigerte einer den
«übern; Claudius provocirte um so mehr zu leidenschaftlichen Angriffen, da
er über die Hauptfragen, um die es sich handelte, offenbare Unwissenheit
verrieth. — Auch gegen die Kantische Philosophie, die er sich 1791 durch
Aacobi erklären ließ, hatte er große Abneigung, und ließ sich leider verleiten,
^ehe Abneigung auszusprechen, wie er auch auf die Angriffe der Xenien die
Erwiederung nicht schuldig blieb. W. v. Humboldt, der ihn 179K besuchte,
se>ut ihn völlig Null: die neue ästhetische Schule hatte für den Naturdichter
und die ungeschulte Gemüthlichkeit das Verständniß verloren.
Wenn diese Einmischung in Dinge, die ihm eigentlich fremd lagen, ihn
unerquickliche Beziehungen brachten, so blieb sein Privatleben rein, un-
^nflich und beglückt; diese Schilderung muß man in dem Buch selbst nach-
^n, sie ist schön und des Gegenstandes würdig. „Was man auch." erzählt
°'N Beobachter 1799, „von seinen religiösen und politischen Meinungen sagen
'"Ng. der Mann ist kein anderer geworden. Er hat keinen finstern Blick be-
^numen. ist allen Menschen herzlich gut, ein braver Gatte, Vater, Freund und
Mensch. ^ kunst herzlich über manche Dinge, worüber sich viele unserer
^°lercmz- und Humanitätsprediger halb todt ärgern winden." In die Ge¬
richte der Literatur gehört sein Alter nicht mehr; wer aber im Stande ist,
über ein Stück echten Menschenlebens zu freuen, wird an diesem Seelen-
^lieu Bilde ein warmes Behagen finden. Er starb 21. Januar 1815; die
Listen seiner Freunde waren vor ihm dahingegangen; er hinterließ eine zahl-
^>che und glückliche Familie. Die älteste Tochter war Perthes Frau, drei
^ner Söhne waren Theologen. Seine geliebte Rebekka folgte ihm 1832,
^ehrt von allen, die sie kannten.
Sehen wir von allen Hindernissen, welche dem Lessepsschen Unternehmen
entgegenstehen, von dem Flugsand der Wüste und dem Triebsand der beiden
Meere, von widrigen Winden auf der Suczroute und günstigen Winden auf
der Caproute ab. nehmen wir an, daß die Verkehrsströmung zwischen Europa
und Ostasien wirklich so bedeutend, die Verkürzung ihres Wegs durch die
Oeffnung der Landenge wirklich so werthvoll als die Franzosen behaupten, das
Unternehmen also auszuführen und zu erhalten ist, so werden wir immer noch
Zweifel hegen dürfen, ob es jetzt auszuführen ist. Die Weigerung der Pforte,
die Concession Said Paschas zu bestätigen, würde, wenn sie allein stände,
kein dauerndes Hemmniß sein; denn man hat ihr Zugeständnisse abgenöthigt,
die für ihre Existenz verhängnißvoller waren. Aber sie steht eben nicht allem. 2"
ihrer Weigerung weigert sich England, und so lange dieses die Durchstechung der
Landenge von Suez hindern kann, wird es sie hindern. Es würde im Fa^
der Ausführbarkeit derselben sie vielleicht selbst unternehmen,'wenn ihm Aegyp'
ten gehörte, nimmermehr aber wird es dulden, daß Franzosen die Sache aus'
führen.
Ein nochmaliger Rückblick auf die Geschichte der ganzen Angelegenheit
wird die Gründe dafür aufzeigen. Die Verhandlungen über den Handelsweg
über Aegypten sind ausgegangen von der europäischen Diplomatie; erst spätes
wurden sie von den Vertretern der materiellen Interessen aufgenommen. Eng'
land hat zu einer gewissen Zeit allerdings selbst den Plan gehabt, den je^
v. Lesseps, zweifelsohne im Interesse und Auftrag der französischen Regierung-
verfolgt, und es hat ihn nicht blos deshalb aufgegeben, weil es sich überzeugt
daß er auf zu große Schwierigkeiten stoßen und zu geringem Nutzen für seinen
Handel abwerfen würde; ja diese Ueberzeugung steht ihm wol noch jetzt in
zweiter Linie, da neue Erfindungen im Bereich der Schiffahrt manche der
vorigen Abschnitt aufgezeigten Hindernisse überwinden, neue Entwicklungen in
Indien und China den Werth einer Durchfahrt zwischen Asien und Afrika M
England erhöhen können.
Seitdem England seine Angelegenheiten an den Usern des Ganges dalM
gebracht hatte, daß Britisch-Ostindien ein festgeschlofsener handelspolitisch^
Körper geworden, mußte es dahin streben, den nächsten Weg der Verbindung
desselben mit Europa zu gewinnen, und diesen sah es in der Route ub^
Suez und das rothe Meer, So richtete man seine Blicke auf eine derem>Ng^
Besitznahme Aegyptens. Der erste Schritt dazu war die Eroberung Maltas
und der Erwerb der jonischen Inseln. Den zweiten Schritt that man von Indien
Ms. Aden, das Gibraltar des rothen Meeres, wurde erobert und befestigt.
Inzwischen regten sich auch andere Mächte, und zwar zunächst Oestreich. Es
war nach dem Ende des ägyptisch-türkischen Krieges. Mehemed Ali und Ib¬
rahim Pascha hatten erkannt, daß die Sicherheit ihrer Stellung wesentlich
auf dem Willen der europäischen Mächte beruhe. Von diesen Mächten fürch¬
teten sie England, weil es die größten Interessen mit der größten Kraft zu
vertreten fähig war. Auf Frankreich konnte^ sie nicht bauen, weil es damals
völlig isolirt dastand. So war ein Platz offen, und diesen nahm die östrei¬
chische Diplomatie ein, welche hier die Verluste, die sie auf anderm Terrain
der orientalischen Frage erlitten, wieder einzubringen versuchte.
Von England aus hatte man den Plan entworfen, das Mittelmeer mit
dem rothen dnrch eine Eisenbahn zu verbinden. Diese konnte die Schiffahrts-
verhältnissc zwischen Europa und Indien nicht ändern. Sie hätte in den Hän¬
den der Engländer ihren Besitzern so gut wie ausschließlich gedient. Da ließ
das wiener Cabinet bei dem Vicekönig den Gedanken eines Kanals neu anregen,
und denselben zugleich den französischen Agenten mittheilen. Es wurde Me-
hemed Ali klar gemacht, daß ein im Besitz und uuter der Bürgschaft aller
europäischen Mächte stehender Kanal allein im Stande sein werde, sein Land
vor Gefährdung durch eine einzelne Macht zu sichern. Die französische Diplo¬
matie, welche lange Zeit vergeblich den englischen Bestrebungen entgegengewirkt
hatte, trat nunmehr auf Oestreichs Seite, und von dieser Zeit an ist das
^Verständniß der beiden Großmächte in dieser Frage bis aus die letzten
^ahre ein dauerndes gewesen.
So wurde bereits 1842 die Zustimmung des Vicekönigs zu dem Kanal-
gegen das Versprechen gewonnen, daß die rechtlichen Verhältnisse des
"eum Wasserwegs und zwar zuerst die Kanalabgaben, dann das erbliche
^'ehe nuf den Kanal unter Oestreichs Vermittlung durch eine gemeinsame
Garantie der Großmächte festgestellt werden sollten. Nachdem dieser Punkt
°Uedigt schien, entstand die Frage, woher das Geld zu nehmen sei. Es wurde
"vn Oestreich vorgeschlagen, den Bau aus Kosten der drei betheiligten Regie¬
rungen auszuführen, und zwar dachte man in Wien sein Dritttheü mit Hilfe
Deutschlands zusammenzubringen. Ob zu diesem Zweck Unterhandlungen mit
en deutschen Regierungen gepflogen worden sind, ist uns unbekannt. War es
^ Fall, so müssen sie nicht zum Zweck geführt haben; denn man beschloß
^ Ende, den Plan einer Ausführung des Kanals auf Negierungskosten auf¬
zugeben.
Inzwischen hatte man in England eine Gegenmine gelegt. Man hatte
^"und, daß das Mittel gegen den Einfluß Frankreichs und Oestreichs mit
Erfolg aufzutreten, nicht mehr in der Diplomatie, sondern in den materiellen
Bedingungen zu suchen sei. Die Idee einer exclusiver Eisenbahn wurde bis
auf Weiteres bei Seite gelegt, und der Plan einer Kanalisirung adoptirt.
Die ostindische Compagnie warf die Sache an die Börse. Sie wollte jetzt
das Geld schaffen, um wenigstens mit dem erforderlichen Capital zuerst am
Platze zu sein und so den Vorsprung wieder einzuholen, welchen Oestreich
und Frankreich gewonnen hatten. Um das Interesse der englischen Capitalien
zu wecken, schob man die Frage nach der indischen Ueberlandroute in den
Vordergrund. Man ging auf die Linie von Suez nach Alexandrien ein und
stellte — wer erinnert sich nicht des athemlosen Lieutenants Waghorn und
seiner Siebenmeilenstiefelgeschwindigkeit? — Versuche an, ob man rascher über
Triest oder über Marseille nach London gelange. Als man in Wien und
Paris diese neue Wendung der Dinge gewahr wurde, beeilte man sich, die
gleiche Bahn zu betreten, d. h. die Angelegenheit der Privatthätigkeit, den
Männern der Börse anheimzugeben. Von Paris und Lyon gingen die ersten
Bestrebungen aus. In Triest nahm sich besonders der östreichische Lloyd der
Sache an. Deutschland blieb allen Anregungen zur Mitbethciligung, allen
Hinweisen auf „seine Zukunft im Osten" gegenüber, fast ganz theilnahmlos-
Es sah eben seinen wahren Vortheil in entgegengesetzter Richtung, im Westen,
im Verkehr mit Amerika. Nachdem 1845 Vorverhandlungen stattgefunden,
bildete sich im Jahr 1846 in Paris jene Gesellschaft zur Untersuchung der
technischen Fragen, deren wir im vorigen Abschnitt gedachten. Als dieselbe
1848 mit Erforschung der Verhältnisse des Isthmus zu Stande kam, brach
die Februarrevolution aus, und es trat in dem Fortschritt der Angelegenheit
eine Stockung ein, die von England sofort benutzt wurde.
Man hatte sich in London nur wider Willen von der Idee einer Eisen-
bahn unter englischer Hoheit über die Landenge getrennt, und kaum erfuhr man
von der Störung durch die Februarercignisse, so ließ man den widerwillig an'
genommenen Plan der Kanalisirung füllen und betrat den verlassenen
wieder. Abbas Pascha, der Nachfolger Mehemed Alis, wurde gewonnen und
plötzlich traf in Wien und Paris die Nachricht ein, derselbe habe einer eng'
Aschen Gesellschaft die Erlaubniß zum Bau einer Eisenbahn zwischen Alexan¬
drien und Suez ertheilt. Damit war der Zeitpunkt gekommen, wo es si^)
um die Existenz des Kanalprojects handelte, und sofort machten sich Oestreich
und Frankreich an die Arbeit, das verlorene Terrain wiederzuerobern. Es gelang
zwar nicht, die Eisenbahnconccssion rückgängig zu machen, und die projectirte
Schienenstraße wurde von Alexandrien bis Kairo von Engländern erbaut-
Aber Frankreich, welches jetzt die Hauptrolle unter den Gegnern Englands
auf diesem Gebiet zu spielen begann, verstand es, den Nachfolger Abba6
Paschas, Said Pascha zu gewinnen. Dieser übertrug die Wetterführung der
Bahn bis Suez den Franzosen und ertheilte, von v. Lcsscps unablässig bear¬
beitet, auch die Erlaubniß zum Bau eines Kanals quer über den Isthmus.
Das Privilegium wurde, wie üblich, auf 9» Jahre ausgestellt. Der Kanal
wird nach demselben von einer Gesellschaft erbaut, welche den Namen „Ova-
l>aMik universelle an vu,art maritime Ac Luex« führt. Die ägyptische Ne¬
gierung empfängt 15 Procent vom Reingewinn, die Gründer erhalten 10, die
Actionüre 7 5 Procent. Die Abgaben werden von der ägyptischen Regierung
und der Gesellschaft gemeinschaftlich festgestellt und von Beamten der letzteren
erhoben. Außerdem räumt der Vicekönig der Gesellschaft noch einige Vortheile
ein und verspricht Beihilfe bei der Ausführung.
So schien nach dreizehnjähriger Bemühung das Unternehmen seiner Ver¬
wirklichung nahe, und es blieb nur die Bildung des nöthigen Actiencapitals
Und die Zustimmung der Pforte zu der vom Vicekönig ertheilten Bauconcession
Uvah übrig. Wie weit die erstere gelungen ist, haben wir oben gezeigt, die
letztere läßt noch heute auf sich warten und wird, da England sie bekämpft
und selbst Oestreich sie jetzt nicht mehr empfiehlt, noch so lange auf sich
Warten lassen, als die Verhältnisse sich nicht völlig ändern.
„Der Kanal wird gebaut werden," ließ sich 1855 eine östreichische Stimme
in der Allgemeinen Zeitung vernehmen, „und zwar in Gemeinschaft der drei
gwßen Nationen, welche die Civilisation der Welt vertreten (Der Verfasser
weinte damit Frankreich. England und — die östreichische Nation). Aber der
Artikel fügt sofort hinzu: „Ebenso wenig ist das Andere zweifelhaft, der wirk¬
lich gebaute Kanal wird, weil er eben die höchsten Interessen aller Nationen
befriedigt, beständig in Gefahr gerathen, Gegenstand des Sonderintcrcsses einer
einzelnen zu werden." Der Verfasser hoffte damals, das werde sich verhüten
^sser. wenn der alte Metternichsche Gedanke, den Kanal unter die gemein¬
same Garantie der europäischen Mächte zu stellen, ausgeführt würde. Er
wöchte sich diese Ansicht jetzt zweimal überlegen müssen, bevor er sie nieder¬
schriebe. Er würde an einem Vergleich der Garantie, welche der Pforte 1856
geleistet worden ist, mit dem Verhalten Frankreichs in der montenegrinischen
"Ub rumänischen Frage, und um einem fernern Vergleich der Garantien des
Wiener Vertrags mit'der Wendung der Dinge in Belgien, in Krakau und
in Italien inne werden, daß solche Garantien sehr unsichere Schutzmittel
^gen den Ehrgeiz und das Interesse der Mächte sind, wenn sie glauben, daß
'hre Zeit gekommen ist. ^
Beide in England herrschende Parteien haben sich durch den Mund der
"W Ruder befindlichen Minister gegen die Ausführung des Suezkanals erklärt.
Palmerston fürchtete, daß die Bedeutung, welche Aegypten ans der Herstellung
^ großen Wasserstraße schöpfen könnte, der Integrität der Pforte Gefahr
Gingen werde. D'Jsraeli bezeichnete den Plan des Herrn v. Lesseps kurzweg
als verfehlt, Ihre letzten Gründe haben beide verschwiegen. Sie liegen aber
aus der Hand.
England, der reichste Staat Europas, würde, vorausgesetzt, der Kanal
entspräche seinen Wünschen, nicht nach der Rente zu fragen haben, die er ab¬
würfe. Es würde sich in diesem Fall auch nicht ängstlich darum kümmern,
ob der Verbündete in Stambul dadurch beeinträchtigt würde. Ebenso wenig
geben handelspolitische Rücksichten hauptsächlich den Maßstab her. an dem
man die Angelegenheit in London mißt. Die größere Belebung der Kauf-
fahrteischisfahrt im Mittelmeer, die Hebung der dortigen Hafenstädte, die
Herstellung eines Seewegs, auf dem Oestreich. Italien und Frankreich ihre
Bedürfnisse an Nohproducten direct und mit geringern Kosten von Indien und
China importiren könnten, statt sie an der londoner Börse zu kaufen, mag
vielleicht nicht gern gesehen werden; aber das Selbstvertrauen der Engländer
und ihre Ueberzeugung, alle nicht grade durch Staatsgewalten geförderte Con-
currenz aus dem Felde schlagen zu können, ist viel zu stark und bis jetzt viel
zu berechtigt, als daß ein solcher Neid sich zur Furcht überflügelt zu werden
steigern könnte. Auch ist zu bemerken, daß in den hier in Betracht kommen¬
den Hauptgebietcn, in Indien, China, Japan und Australien, nicht die Fran¬
zosen oder Deutschen, sondern die Amerikaner die eigentlichen commerziellen
Nebenbuhler der Briten sind.
Die Bedenken der englischen Regierung gegen das Project des Suezkanals
sind vielmehr, wie wir früher bereits in der Kürze darzulegen versuchten, fast
ausschließlich politischer Natur. Wie im Westen Nicaragua durch eine sein
Gebiet durchschneidende Wasserstraße zwischen dem atlantischen und stillen
Ocean eine außerordentliche Bedeutung erlangen würde, so würde Aegypten
durch den Suezkanal (seine Erhaltbarkeit natürlich vorausgesetzt) eines der
wichtigsten Länder der alten Welt werden. Wie jetzt Alezandrien von Euro¬
päern der benachbarten Küsten und Inseln schwärmt und von Jahr zu Jahr
mehr eine italienische Physiognomie annimmt, so würde dann in wenigen
Decennien das ganze Nilgebiet bis über Kairo hinauf von Italienern. Fran¬
zosen und Griechen überschwemmt und besiedelt sein. Der Schwerpunkt des
türkischen Reichs würde durch solche Einwanderung von Norden nach Süden,
von Konstantinopel nach Kairo verrückt werden, und diese Verrückung des
Schwerpunktes müßte sehr bald zur Losreißung Aegyptens von der Herrschaft
der Pforte führen. Ein Fürsichbestehcn des Nillandes als eignes Reich unter
einem mohammedanischen Fürsten wäre in diesem Fall, wo die Europäer sich
in solcher Ausdehnung festgesetzt und mit Privilegien gegen die etwaigen
Willensäußerungen der Paschas gewahrt hätten, nicht wohl denkbar. Welcher
Europäer unterwürfe sich, wenn er Beistand in nächster Nähe wüßte, dein
Jntrigucnspiel eines orientalischen Hofes, und welcher europäische Diplomat
glaubte, daß man Türkei? ebenso Wort halten und ebenso ihr Recht werden
lassen müßte, als einer civilisirten Nation? Von Palliativinitteln ist liier ebenso
wenig wie im Norden des Reichs der Sultane ein dauernder Schuh zu er¬
warten. Auch Aegypten muß mit der Zeit einmal unter die Herrschaft des
Abendlandes zurückkehren, der Suezkanal aber würde, selbst wenn er sich auf
die Dauer nicht erhalten ließe, die Krisis beschleunigen und sie herbeiführen,
ehe die hier in Frage kommenden Interessen der Großmächte sich ausgeglichen
haben. Unter den gegenwärtigen Umständen und unter allen Umständen, wo
Frankreich einen starken Herrscher hat, würde das Land eine Beute der Frau
zoscn werden, die in den letzten Jahrzehnten wacker vorgearbeitet haben und
in der Kanalconcession, welche von ihnen hauptsächlich erworben und ihnen
hauptsächlich ertheilt ist, Rechte besitzen, die geschickt interpretirt und benutzt,
einer großen Ausdehnung fähig sind.
Herr v. Lesseps will den Kanal nicht blos mit französischen Mitteln, son¬
dern mit europäischem Gelde und unter Mitwirkung einer europäischen Com¬
pagnie bauen. Kapitalisten aus Trieft und Wien, aus Hamburg und London
sollen ihre Stimme mit abgeben dürsen. Aber die „tüomizagnic; univoi'SkIlv"
hat ihren Verwaltungssitz in Paris, ihr Gerichtsforum ebenfalls in Paris,
und v. Lesseps, der französische Diplomat, der Vetter der Kaiserin der Fran¬
zosen, ist auf volle zehn Jahre zum Vorsitzenden des Directoriums und des
Verwaltungsrathes ernannt worden. Schon dies verleiht dem Unternehmen
einen französischen Charakter, stellt es überwiegend unter französischen Ein¬
fluß , setzt es der geheimen und offenen Maßregelung der in ihren Entschlüssen
unberechenbaren, in ihren Mitteln durchaus nicht wählerischen kaiserlichen
Autokratie aus.
Nur die vollkommenste Blindheit wird es bei solchen Umständen der eng¬
lischen Regierung verdenken, wenn sie von dein Lcssepsschcn Plane nichts
wissen mag. Zunächst fürchtet sie wol, daß die Franzosen dnrch Eröffnung
des Isthmus Gelegenheit bekommen würden, sich aus eine für England ge¬
fährliche Art in Aegypten und am rothen Meer festzusetzen. Die französischen Ein¬
dringlinge würden — schon jetzt ist der französische Konsul der einflußreichste
in Kairo — Positionen und Einflüsse zu gewinnen suchen, welche das britische
Interesse und namentlich die indische Post hindern und beeinträchtigen könn¬
ten. Bitt tiefstem Verdruß betrachten die Engländer die Eisenbahn, welche
eine vom Vicekönig privilegirte französische Gesellschaft von Kairo nach Suez
vollendet hat, während die britische Peninsular-Compagny, welche die Bahn
von Alexandrien nach Kairo baute, und auch die von dort bis zum rothen
Meer herstellen wollte, das Zusehen hat. Die „Times" hat wiederholt mit
bittern Worten dieses nebenbuhlerische Treiben der Franzosen in Aegypten
charakterisiert. „Aus Nationaleifersucht und Nationaleitelkeit," sagte sie, „gehn
die Franzosen den Unternehmungen der Engländer über den ganzen Erdkreis
nach; lediglich aus Selbstüberschätzung suchen sie sich in die britischen Inter¬
essen und Angelegenheiten einzudrängen", und zwar sei Aegypten hauptsächlich
der Tummelplatz ihrer abenteuerlichen Rührigkeit. Der Plan des Suezkanals,
thöricht und unausführbar, sei nur dieser französischen Glücksjägerei und Na-
tionaleifersucht entsprungen. Man verfolge mit ihm angeblich Handels- und
Schiffahrtözwecke, aber habe man nur erst den Fernau der Pforte in Händen,
so werde man gewiß keinen Kanal bauen, sondern das Privilegium zur Fest¬
setzung einer französischen Gesellschaft unter französischem Regierungsschutz be¬
nutzen, um die Vervollkommnung des britischen Transitsystems zu hindern,
und den Engländern bei ihren großen Arbeiten stets „die Rechte der Lesseps-
schen Gesellschaft" entgegenstellen.
Wir glauben, daß das Cityblatt hier auf der einen Seite zu viel sagt
und auf der audern die Hauptsache verschweigt, v. Lesseps mag in der Art
seines Auftretens Züge von Abenteuerlichkeit und Jndustrieritterlichkeit zeigen;
daß er aber wirklich an den Bau des Kanals denkt, scheint uns unzweifel¬
haft. Es wäre wenigstens, wenn er die gesammelten Gelder zu andern
Zwecken verwendete, ein Betrug, wie er so kolossal von der Sonne noch nicht
gesehen worden. Im Uebrigen hat England nicht das Recht, sich darüber
zu beklagen, wenn man ihm Concurrenz macht; denn einmal thut es des¬
gleichen auf allen Punkten, wo es einen Bortheil erblickt, und dann gilt hier
wie überall der Satz: Wehre sich wer kann.
Andere Bedenken sind stichhaltiger. Die französische Regierung würde
nwglicherweise durch Verträge das Mitbesctzungsrecht in den nöthigen Befe¬
stigungen des Weltkanals erlangen. ^ Französische Handelsagenten, Consuln,
Polizeimänner und'Schutzwachen der Waarcnniederlagen würden auftreten und
mit der militärischen Entschiedenheit, die man von den Schiffen der Uvssa-
Mi'ius imxerialo» her zur Genüge kennt, sich den Aegyptern gegenüber Gel¬
tung verschaffen. Eine französische Gesellschaft nach der andern würde sich
als Zweig nus dem Grundstock der Suezcompaguie entwickeln, sich bei der
Regierung des Landes Privilegien für allerhand Unternehmungen erschleichen
oder nach Befinden erzwingen und die Thätigkeit der Briten durchkreuzen und
lahmen. Diese Concurrenz auszuhalten, würde für England deshalb schwie¬
rig sein, weil der jetzige ägyptische Herrscher entschieden französisch gesinnt ist,
und weil Frankreich näher bei Aegypten liegt, als England.
Das ist aber noch nicht alles. Die Bestrebungen der Franzosen in Ae¬
gypten gehen über das handelspolitische Feld hinaus, sie gehen auch über die
Grenzen Aegyptens hinaus. Wie Nußland daraus hinarbeitete, das schwarze
Meer in einen russischen See zu verwandeln, so strebt Frankreich darnach,
aus dem Mittelmeer einen französischen See zu machen. Frankreich hat Al-
gier erobert und sich dort festgesetzt. Es wird bei Gelegenheit mich Marokko
nehmen und sich dort gleichfalls festsetzen. Französischer Einfluß ist in Tunis
thätig, das dortige Regiment zu untergraben und Ursachen zu Händeln und
zur Einmischung zu finden. Französischer Einfluß gewinnt, wie wir alle wis¬
sen, in Italien täglich mehr Boden, wirkt in Griechenland und selbst an der
Ostküste des adriatischen Meeres. Er würde in diesen Gegenden bereits all¬
mächtig sein, wenn England sich nicht zu rechter Zeit Malta und Korfu ge
sichert hätte. Fällt Tunis einmal in die Hand Napoleons III., so verlieren
Gibraltar, Malta und Korfu sehr viel von ihrer jetzigen Bedeutuug. Von
diesem Punkte aus, dem alten Karthago, würde Frankreich im geeigneten
Moment nicht blos das Meer der Syrien, sondern auch das adriatische ab¬
sperren können, und Algier und das Nildelta sind sich dann um die Hälste
des Weges näher gerückt. Von hier aus würde es Sicilien und Unteritalien
zu beherrschen, ja nach Maßgabe der Umstünde selbst dort Fuß zu fassen im
Stande sein. Von hier aus ließe sich ein Zug nach/Aegypten aus das wirk¬
samste unterstützen, und Frankreich war unter schwierigeren Verhältnissen, als
die jetzigen sind, unter weit schwierigeren als sie sein würden, wenn die
Sueztanalgesellschaft als Pionnier der militärischen Eroberung Aegyptens das
Terrain geebnet hatte, schon einmal im Besitz des Landes der Pharaonen.
Wenn Englands Politik nicht in allen Dingen und am wenigsten viel¬
leicht in ihrer Stellung zu Norddeutschland den Ruhm der Weitsichtigkeit ver¬
dient, so hat sie hier in Aegypten stets gewußt, worin ihr Vortheil besteht.
Aegypten, das „Holland der Levante", das reichste und entwicklungsfähigste
Land an der ganzen Südküste des Mittelmeeres, zu allen Zeiten das Empo-
rium zwischen Morgen- und Abendland, der Schlüssel zu der wichtigsten aller
englischen Colonien, nimmt in der britischen Politik eine Hauptstelle ein.
Hört das Delta und Thal des Nil auf, ein ohnmächtiges Anhängsel des
osmanischen Reiches zu sein, so muß es unmittelbar in britischen Besitz über¬
gehen, wenn Englands Macht im Mittelmeer und in Indien noch ferner an
sicherm Anker liegen soll. Als Napoleon I. vor sechzig Jahren das Nilland
überfiel, galt dies an der Themse für ein natione-lunglück. Man sprach so¬
gar von künstlicher Verödung des Landes durch Ableitung des Stromes, der
es bewässert. Man setzte alles daran, die Schlacht bei den Pyramiden wett
zu machen, und ruhte uicht eher, als bis dem französischen Nebenbuhler die
Position wieder entrissen und den schwachen Händen der Pforte zurückerstattet
war. Als später Mehemed Ali mit seinen von französischen Offizieren ge¬
schulten Heeren Aegypten vom türkischen Reich losreißen und zum selbststän-
digen Sultanat erheben wollte, wobei er von Paris aus direct unterstützt
wurde, warf sich im Jahre 1840 vor allem das Cabinet von Se. James
dazwischen und scheute selbst einen Krieg mit Frankreich nicht, als es galt,
den Schützling und voraussichtlichen Vasallen und Erblasser seines Neben¬
buhlers an dem Heraustreten aus seiner bisherigen Stellung zu hindern.
Der Wunsch der französischen Negierung, Aegypten unter ihre Kolonien
zählen zu können, hat sich seit jener Niederlage nicht verloren, er ist viel¬
mehr, wie im Vorhergehenden angedeutet, mit dem gesteigerten Interesse der
Briten am Lande lebhafter geworden, und er würde wahrlich nicht vermindert
werden, wenn der ägyptische Isthmus nun gar eine offene Seestraßc nach
Arabien, Persien, Indien und China darböte. Ein Conflict würde sich,
nachdem man sich in Aegypten eine vorbereitende Stellung geschaffen und da¬
heim gehörig gerüstet, sehr bald herbeiführen lassen. der erste Schachzug würde
ohne Zweifel gelingen, das kostbare Stück Erde sammt der Wasserstraße bis
in den indischen Ocean hinab mit einem Flügelschlag des französischen Adlers
erreicht und erobert sein, und England möchte dann zusehen, wie es das
Mittelmeer und Aegypten wieder gewönne, wie es seinen Besitz in Indien
auf die Dauer vertheidigte.
Man hat solchen Befürchtungen entgegengehalten, daß die beiden großen
Scestationen Englands im Mittelmeer, Malta und Korfu näher an der ägyp¬
tischen Küste lägen, als Marseille und Toulon. Aber zur Bewachung Aegyp-
tens gehört nußer jenen Positionen noch eine entsprechende britische Flotte.
Das englische Geschwader, welches sür gewöhnlich im Mittelmeer kreuzt, zählt
nicht den dritten Theil der Schiffe, welche im Hafen von Toulon liegen, und
England würde unausgesetzt die beträchtlichsten Opfer bringen müssen, wenn
es gegenüber den im Mittelmeer heimischen Kriegsmitteln Frankreichs, den
Rußland jetzt die seinen beizugesellen sucht, Aegypten vor jedem möglichen Hand¬
streich schützen wollte. Es ist sogar die Frage, ob es dies, wenn Frankreich
nicht wieder isolirt wird wie unter Ludwig Philipp, überhaupt im Stande ist.
Die neue Kriegsflotte Frankreichs steht bereits der britischen an Material ziem¬
lich gleich, hat eine sehr gute Organisation, ist mehr concentrirt als die eng¬
lische und hat ein in kurzer Frist schlagfertig zu machendes Heer hinter sich.
Mögen Englands Seeleute und Seeoffiziere besser sein als die französischen,
so ist dieser Unterschied seit Einführung des Dampfschiffs in die Seckrieg-
führung nicht mehr so wichtig als früher, und was davon zum Vortheil der
Engländer übrig bleibt, wird durch die größere Nähe der französischen Häfen aus¬
geglichen. Nimmt man dazu den Charakter des Kaisers Napoleon III., sein
System der Einmischung, seine springende, nur auf den Moment berechnete
Politik, so darf man sich nicht wundern, daß trotz seines gegenwärtigen guten
Einvernehmens mit dem Inselreich jenseit des Kanals die britische Negie¬
rung sich weigert, den directen Seeweg in das Herz ihres ostasiatischen Co-
lonialrcichs ohne weiteres öffnen und diese der drohenden Macht des natio¬
nalen Nebenbuhlers bloßlegen zu lassen. Ohnehin hat die kaiserliche Regie-
rung durch ihre aufgedrungene Theilnahme an dem chinesischen Kriege, durch
ihre Expedition nach Cochinchina und durch ihre Bedrohung Madagascars
gezeigt, daß sie beabsichtigt, die französische Flagge neben der britischen in
den indischen Meeren wieder wehen zu lassen. Es ist allerdings wahr, Frank¬
reich bedarf nicht des Suezkanals, um seinen Weg nach Indien und China
zu finden. Wie früher würden seine Kriegsschiffe auch jetzt den Einzug in
die südlichen Gewässer um das Kap der guten Hoffnung herum halten. Aber
der sichern Herstellung einer französisch-indischen Position, der Gründung von
Hand^lsctablissements, Ackerbaucolonien u. s. w. würde der abgekürzte Weg
zwischen Asien und Afrika hindurch unstreitig großen Vorschub leisten. Frank¬
reich — so viel steht auf alle Fälle fest — könnte mittels des neuen Seewegs
leichter als sonst in den ostasiatischen Meeren die Grundlagen für eine poli¬
tische Machtstellung gewinnen, und diese würde um so bedrohlicher für Eng¬
land sein, als auch Nußland, Frankreichs natürlichster Verbündeter, nicht blos
gegen Mitteleuropa, sondern auch gegen Großbritannien, von verschiedenen
Seiten gegen Indien vordringt.
So lange daher England irgend welchen Einfluß in der Türkei besitzt
und so lange die Türkei ihrerseits in Acgvpten zu befehlen und zu versagen
hat, wird der Kanal über den Isthmus vou Suez ungegraben bleiben. Auch
Oestreich, welches allerdings alle Veranlassung zu haben schien, das Lessepssche
Unternehmen zu fördern — ein Blick auf die Lage Triests sagt, was zu sagen
ist — ist allmälig lau und zuletzt stumm in der Sache geworden. Der Jnter-
nuntius in Konstantinopel hat bei der Pforte nichts sür das Project gethan,
als Lesseps den Fernau zu holen kam, und die östreichische Presse hat, nach¬
dem sie drei Jahre hindurch Loblieder auf die Weisheit gesungen, welche in
Aegypten „dem deutschen Handel das Thor nach Indiens Reichthümern öff¬
nen" gewollt, sich schon vor Monaten dahin erklärt, es werde am besten sein,
wenn der Kanal vorläufig zu den Acten gelegt würde. Man wird eben ein¬
gesehen haben, daß man im Fall der Betheiligung an der Sache, sein Geld
nur aufgäbe, um den Franzosen die Herrschaft im Mittelmeer zu erleichtern.
Nicht unwahrscheinlich ist, daß der Plan noch einmal auftaucht, nicht
völlig unmöglich, daß er ausgeführt, möglich sogar, wenn auch nur unter
Voraussetzung großer Opfer vou Seiten Frankreichs, daß der Kanal eine Zeit lang
fahrbar erhalten wird. Für diesen Fall aber hat England sich bereits vor¬
gesehen. Noch das letzte Ministerium hat durch, die Besitzergreifung von der
Insel Perim einen Schritt gethan, welcher beweist, daß man in London das
Aeußerste zu wagen entschlossen ist. um in der Angelegenheit das Heft in der
Hand zu behalten. Jenes felsige Eiland, weiches den Aus- und Eingang in
das rothe Meer vollkommen beherrscht, wird seitdem in einen festen Hafen
und eine drohende Zwingburg verwandelt. Der Platz kann, wenn die Bauten
vollendet sind, zugleich als Operationsbasis für jede militärische Expedition
nach den arabischen und ägyptischen Küsten dienen. Man hat die Besetzung
Periins als einen Gewaltact, der ohne die Beistimmung der Pforte gesche¬
hen, dargestellt, und die offtciösen Blätter in Paris besserten sich, dieselbe
als Verletzung der Integrität des osmanischen Reiches zu verurtheilen. Die
Pforte selbst that nichts, sie protestirte nicht einmal dagegen — ein Beweis,
daß sie entweder die Insel im Stillen abgetreten hatte, oder wenigstens von
den Maßregeln Englands weniger fürchtet, als von der Durchstcchnng der
ägyptischen Landenge durch französische Hände und unter den Auspicien des
Kaisers Napoleon III. Unzweifelhaft wird England noch weiter greifen, wo¬
fern das Kanalproject wieder auftauchen und sich der Ausführung nähern
sollte. Nächst Aden befinden sich vor der Enge von Bab El Mandeb auch
die Hauptpunkte der afrikanischen Küste des rothen Meeres so gut wie in
ihrem Besitz, und die Legung ihres Telegraphenkabels durch den arabischen
Golf nach den ostindischen Hafenorten, wird ihr Gelegenheit geben, alle wich¬
tigen Stellen an diesem Gewässer bis nach Aegypten hinauf mit ihren Posten
zu besetzen. Ja es ist nicht undenkbar, daß die Kanalfrage und die an ihr
sich steigernde Eifersucht sogar zu britischen Besitzergreifungen im untern Ae¬
gypten führt. Dann könnte sich England noch einmal fragen, ob der Kanal
ihm die Kosten seiner Erhaltung lohne, und dann würde die Antwort viel¬
leicht günstiger für das Unternehmen lauten, als jetzt, wo die Kosten durch
die Benutzung des Kanals von Seiten der Kauffahrteischiffahrt gedeckt werden
sollen. Zur Bejahung der Frage wird aber auch dann noch für England das
Bewußtsein gehören, die Herrschaft der Meere aus die Dauer behaupten zu
können.'''
Da nun die Konferenz in Paris wirklich zusammentritt, um darüber zu be¬
rathen, ob die Regierungen und Nationalversammlungen der Moldau und Walachei
das Recht habe», trotz des frühern Entscheides der Conferenz sich in Fvkschcnn zu
einer Ccntrcüregicrung und Ccntralvertretnng Rumäniens zu constituiren, vielleicht
auch, ob die Skupschtina von Belgrad ihre Befugnisse nicht übertreten hat, wenn
sie Serbien zu einem Erbfürstenthum macht und die Negierung ohne weiteres in
ihre Hand nimmt, so wollen wir abwarten, was weiter erfolgen wird; vorläufig
hat wol die Börse auf eine Woche Ruhe. Bis auf weiteres halten wir an unserer
Ansicht fest, daß Oestreich durch Nachgiebigkeit nach dieser Seite hin die feind¬
lich gestimmten Mächte in Bezug auf Italien zu versöhnlichen Maßregeln veranlas¬
sen wird.
Freilich ist es noch zweifelhaft, ob auch die sogenannte „italienische Frage"
vor die Konferenz gehört; indessen hat sie jetzt engere Dimensionen gewonnen, ist
einigermaßen bestimmter formulirt und dadurch für diplomatische Verhandlungen ge¬
eigneter gemacht. Der Schmerzensschrei Italiens beschränkt sich jetzt auf den Kirchen¬
staat, und hier kann Oestreich wirklich, ohne seiner Würde etwas zu vergeben, mit
den übrigen Großmächten in Unterhandlung treten. Die päpstliche Regierung ist
in der eigenthümlichen, aus die Dauer unhaltbaren Lage, ihr Fortbestehen nur den
Waffen der beiden Schntzmächte, Frankreich und Oestreich zu verdanken; es ist ganz
in der Ordnung, daß diese beiden Mächte miteinander in Berathung treten, unter
welchen Bedingungen sie ihr diese Hilfe ferner gewähren wollen; und es liegt nahe,
daß wenn sie sich über diese Bedingungen nicht einigen können, sie noch andere
Großmächte, die zunächst dabei betheiligt sind, zu Rathe ziehn. Die Frage wird
freilich dadurch sehr erschwert, daß der Fürst, den man unterstützt, zugleich das An-
sehn der gesammten katholischen Kirche vertritt; aber sie ist immer nicht von der
Art, daß sie ohne weiteres eine Kriegsgefahr einschließt, falls nicht anderweite Um¬
stände dazutreten.
So haben auch England und Preußen die Sache aufgefaßt, indem sie in dieser
Kollision den beiden Mächten ihre Vermittlung anboten; wir dürfen nicht erst hinzu¬
setzen, daß es nach unsrer Ueberzeugung in dem vorliegenden Stadium der
Frage die einzige würdige Stelle ist, die Preußen einnehmen kann.
Oestreich ist begreiflich nicht ganz damit zufrieden, es verlangt mehr, und hat,
da Preußen vorläufig über die Vermittlung nicht hinausgehn will, bei den übri¬
gen deutschen Regierungen angefragt, wie weit es im Collisionsfall auf sie rechnen
könne. Mehre deutsche Kammern haben bereits Kundgebungen veranlaßt, was wir
insofern billigen, als jedem Nhcinbundgclüst dadurch entschieden vorgebeugt wird.
Andrerseits haben die Regierungen vollkommen Recht, vorläufig jede definitive Ant¬
wort abzulehnen. Daß ein feindseliger Angriff Frankreichs auf irgend einen Theil
des deutschen Reichs dem gesammten Widerstand des deutschen Bundes begegnen wird,
versteht sich von selbst; so lange es sich aber nur darum handelt, ob und welche
Reformen der Papst seinen römischen Unterthanen gewähren solle, haben die deutschen
Regierungen wol hinreichenden Grund, zu erklären, daß sie das ebenso wenig etwas
angehe als die Legitimität des Fürsten Johann Alexander I. oder des Fürsten Faustin
Soulouquc. Wenn. Frankreich wirklich — was wir abwarten wollen — der
päpstlichen Regierung den Rath ertheilt, den unverantwortlichen Mißbräuchen des
Kirchenregiments Abhilfe zu schaffen, so haben wir alle Ursache, ihm darin den
besten Erfolg zu wünschen, und Oestreich wird ihm hoffentlich kein Hinderniß in
den Weg legen.
Die Lage der Dinge bleibt trotz dieser diplomatischen Vereinfachung immer noch
verwickelt genug. Es sind nicht die Ergüsse der inspirirter französischen und öst¬
reichischen Presse, nicht die Broschüren von sachkundigen Staatsrüthcn und sonstige
Demonstrationen aus dem Papier, die den Krieg wahrscheinlich machen; denn was
geschrieben ist. hat seine Schuldigkeit gethan und kann als schätzbares Material
der Zukunft s,ä ave-g, gelegt werden; auch nicht das Bündniß zwischen Frankreich
und Sardinien und die darauf folgende Hochzeit- denn wenn Frankreich dem
kleineren Staat seine Versprechungen nicht erfüllt, so wird dieser schwerlich einen
Oa,sus dolli daraus machen. Die reale Besorgnis) der Börse bezieht sich auf
dieNüstungen, die ununterbrochen fortgehn, und für die doch irgend ein Grund vor¬
handen sein muß. Wenigstens muß doch schließlich irgend wer die Unkosten derselben
bezahlen, und daß in Europa in diesem Augenblick kein Mensch auch nur annähe¬
rungsweise errathen kann, wer dieser sein wird, das sollte die Cabinctc Europas
darauf aufmerksam machen, daß es für den Weltfrieden keineswegs nützlich und ihnen
selbst keineswegs bequem sein kann, wenn irgendwo der Absolutismus aufge¬
richtet wird. In constitutionellen Staaten muß man sich dock einigermaßen dar¬
über erklären, wozu man die Rekruten, Pferde und getrockneten Gemüse ver¬
wenden will.
Daß die Abgeordneten des preußischen Landtags diese Sache zu keiner Demon¬
stration benutzt haben, spricht ebenso für ihren richtigen Takt als ihr ganzes Ver¬
halten. Es ist ein ebenso seltenes als erfreuliches Schauspiel, daß eine Landesver-
tretung der Regierung mit vollem Vertrauen entgegenkommt, und ihr jeden Mißbrauch
aufdeckt, ohne sie irgend in Verlegenheit setzen zu wollen, und daß die Regierung
dies Vertrauen durch das offenste Entgegenkommen und durch die entschiedenste
Bereitwilligkeit, jedem erkannten Mißbrauch abzuhelfen, erwiedert. Diesem segens¬
reichen Verhältniß steht bis jetzt nur ein Factor des Staatslebens entgegen, das
Herrenhaus.
Das Herrenhaus bildet ebenso einen Theil der beschworner Verfassung als der
Landtag überhaupt, und es hätte sür jetzt keinen Sinn, wenn wir darauf hin¬
weisen wollten, daß es innerhalb des preußischen Organismus ein fremdes Glied ist.
Auch hier hat das Beispiel Englands einen unglückseligen Einfluß ausgeübt. Als
die englische Verfassung zu Stande kam, waren die Lords der' Mittelpunkt des
Staatslebens, wenn sie auch ihre Streitigkeiten zum Theil im Unterhaus durch ihre
jüngern Söhne ausfochten; bei uns haben die ehemaligen „Ncichsunmiltclbarcn"
mit dem Preußischen Staatsleben gar nicht zu thun gehabt, und die Elemente, durch
die man sie ergänzt hat, sind leider unter dem Einfluß blinder Parteileidcnschaft
ausgewählt. In England hält sich jetzt das Oberhaus nur durch kluges Nach¬
geben, und auch unsere Pairs sollten bedenken, daß sie alle Veranlassung haben,
das Land mit ihrer höchst exceptionellen Stellung erst zu versöhnen, bevor dies
Institut im Lande Wurzel schlagen kann. Einer entschieden feindlichen Opposition
gegenüber hat die Regierung immer noch ein gesetzliches Mittel in Händen, welches
Es gab eine Zeit, wo man von dem Auseinanderschlagen der Völker
weit in der Türkei mit Behaglichkeit Notiz nehmen und dem Himmel danken
konnte, daß es daheim ruhiges Wetter gab. Diese Zeit ist vorüber. Eisen¬
bahnen und Dampfschiffe haben die Beziehungen der Reiche und Welttheile zu¬
einander in sehr wesentlicher Weise umgestaltet, und sie werden sie in den
nächsten zwanzig oder dreißig Jahren noch weit mehr verändern. Die Macht¬
erweiterung eines europäischen Staates selbst im fernsten Osten Asiens kann
uns nicht mehr gleichgiltig sein, sie wirkt mit der Schnelligkeit der elektrischen
Strömung des Telegraphen zurück auf seine Stellung im Westen, auf seinen
Rang im Staatensystem der civilisirten Welt. Die orientalische Frage schwillt
von Jahr zu Jahr mehr an. War ihr Gegenstand anfänglich der Besitz Kon¬
stantinopels, so umfaßt sie jetzt ganz Asien bis zur Mündung des Amur
und bis zu den Inseln und Küsten Indiens, und schon die nächste Generation
wird es erleben, daß an den Höfen von Peking und Jeddo ein ähnliches
Intrigenspiel der Diplomatie, ein ähnliches Rivalisiren der europäischen
Mächte und ein ähnlicher Zersetzungsproccß der bisherigen Verhältnisse beginnt,
wie gegenwärtig und schon seit längerer Zeit in Stambul und Teheran. So
war das Interesse, das der indische Aufstand, der Krieg in China, und der
Frieden erweckte, welcher das himmlische Reich dem Handel Europas auf¬
schloß, ein berechtigtes, so die Theilnahme, welche die Verträge mit Japan
und die Erwerbung des Amurlandes durch Rußland allenthalben erregten,
eine begreifliche. So erklärt sich auch die Eifersucht, mit welcher namentlich
England die aufgedrungene Betheiligung der Franzosen an dem Kriege mit
China und den darauf folgenden Zug gegen Kochinchina oder Aram be¬
trachtete.
Längere Zeit waren es nur England und Rußland gewesen, die sich in
Ostasien als Nebenbuhler gegenüberstanden. Ganz allmälig und seit der
Besiedelung Kaliforniens rascher war zu ihnen auch die amerikanische Gro߬
macht getreten. Nun gesellte sich unerwartet als vierter Rival Frankreich da-
zu, und zwar in der ausgesprochnen Absicht zu erobern. Die drei andern
Machte, namentlich Amerika, haben bei ihren Schachzügen in den indischen
und chinesischen Ländern zunächst handelspolitische Interessen im Auge. Frank¬
reichs Handel in den Meeren Ostasiens ist unbedeutend, man sieht seine
Flagge in den Hufen von Kalkutta und Singapur, von Hongkong und
Schangai nicht halb so oft als die des kleinen Bremen, von der gesammten
deutschen Kauffartheischiffahrt gar nicht zu reden. Frankreich verfolgt hier ledig¬
lich den Zweck, den Einfluß, den es einst in den Reichen Ostasiens besaß und'den
es in den letzten Kriegen gegen England mit seinen dortigen Colonien verlor,
wiederzugewinnen, sich zunächst in Aram, wo katholische Missionäre seit Jahren
vorgearbeitet haben, einen Kriegshafen zu nehmen, in dessen Nähe vortreffliches
Schiffsbauholz wächst, und bei den katholischen Christen Ostasiens seinen Ruf
als Schutzmacht ihres Glaubens aufzufrischen. Es wird dabei nicht stehen
bleiben, wofern nicht Ereignisse in Europa seine Streitkräfte auf andern
Punkten nöthig machen. Schon ist ein Feldzug gegen die Königin von
Madagaskar auf die Zeit nach Beendigung des Kriegs mit Aram angekün¬
digt. In Aram selbst wird man sich schwerlich mit dem zunächst erstrebten
Hafen begnügen. Andere Punkte in der Nähe Indiens oder auf der Route
dahin werden hinzukommen, wie die Einnahme Algiers sich allmülig zu einer Er¬
oberung Algeriens erweiterte, und es liegt nicht außer dem Bereich der Möglich¬
keit, daß von dieser Operationsbasis aus noch einmal der Versuch gemacht
wird, die britische Herrschaft am Indus und Ganges zu erschüttern. Das
Bündniß mit England ist weder von der einen noch von der andern Seite
auf die Ewigkeit geschlossen, die französische Flotte ist der englischen schon
jetzt fast ebenbürtig. Am Amur ist eine russische im Entstehen. Die Inter¬
essen Rußlands und Frankreichs aber lassen sich in Indien ebenso vereinigen,
wie in der Türkei.
Dies sind indeß nur die äußersten Consequenzen der Politik, welche den
Feldzug nach Kochinchina unternahm, und wir haben es im Folgenden mit
der Gegenwart zu thun. Die Veranlassung zu dem Unternehmen fand man
in Paris darin, daß ein Kaiser von Aram mit Ludwig dem Sechzehnten
einen Vertrag abgeschlossen, in welchem er ihm Abtretung des Hafens Turon
versprach, und sodann in der Verpflichtung Frankreichs als der Schutzmacht
der Anhänger Roms im Orient, die von dem jetzigen anamitischen Herrscher
über die Christen in seinem Reich verhängten Verfolgungen zu bestrafen. Es
sind dies, wie aus dem Nachstehenden zu ersehen sein wird, Vorwände, welche
man nur asiatischen Fürsten gegenüber brauchen kann, da das europäische
Staatsrecht sie ebenso wenig anerkennen würde, wie die Berechtigung Eng¬
lands, den Chinesen mit den Waffen in der Hand seinen Opium aufzu¬
dringen.
Das Reich Aram liegt an der Ostküste der hinterindischen Halbinsel und
hat, aus den früher gesondert regierten Ländern Tongking und Kochinchina
bestehend, eine Größe von ungefähr zehntausend Quadratmeilen. Im Norden an
China, dessen Kaiser eine Art Suzeränetät über Aram ausübt, im Westen
an Siam und im Osten und Süden an das Meer grenzend, gehört es seinem
Klima und seinen Erzeugnissen nach den Tropen an. Seine Bewohner wer¬
den der mongolischen Race beigezählt. Wie in China bekennen sich dieselben
zu drei verschiedenen Religionen, der des Konfutse, der des Laotse und dem
Buddhismus. Ueber die Ausbreitung des Christenthums in Aram wird später
die Rede sein.
Bis in das dritte Jahrhundert v. Chr. scheinen Tongking und Kochin¬
china im Zustand völliger Uncultur verblieben zu sein. Gegen das Jahr 214
v. Chr. eroberte der chinesische Kaiser Thinschi Hoangti diese Länder und be¬
siedelte sie mit Chinesen der benachbarten Provinzen seines Reiches. Später
machten sich die Statthalter unabhängig, und es entstanden selbstständige Staa¬
ten, die sich untereinander befehdeten, bisweilen miteinander verschmolzen
wurden, bisweilen aber auch wieder an China fielen. Das Christenthum
begann schon im Jahre 1596 Fuß in Kochinchina zu fassen. Handelsver¬
bindungen wurden aber von Europäern erst um die Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts anzuknüpfen versucht. Es war unter der Regierung des Kaisers Wo
Wüong im Jahre 1745, als ein Franzose Namens Poivre zu Faifong, einer
Stadt nicht fern von dem jetzt von Frankreich eingenommenen Hafen Turon
(der von den Anamiten Sun Han genannt wird), ein Comptoir für die Gesell¬
schaft von Französisch-Jndien errichtete. I74ö begab sich dieser Agent an den
Hof von Hu6, um denselben zu einem Handelsvertrag mit der Negierung
Ludwigs des Fünfzehnten zu bestimmen. Der Versuch schlug fehl, wie bis
auf die neueste Zeit alle Versuche dieser Art, mit chinesischen Staaten anzu¬
knüpfen, von letzteren abgewiesen wurden. Aus der einen Seite verachtete
man die Fremden als Barbaren, auf der andern fürchtete man ihre Neigung,
sich in die innern Streitigkeiten des Landes zu mischen, ihre Herrschsucht und
ihre Eroberungspläne.
Da brach im Jahre 1765 ein Aufstand aus, dessen Folgen den Franzo¬
sen das Land öffnen sollten. Wo Wüong wünschte, daß statt des rechtmäßi¬
gen Thronfolgers der Sohn einer Nebenfrau nach ihm regiere. Sein Pre¬
mierminister führte nach dem Tode des Herrschers diesen Plan aus, und als
der rechtmäßige Thronfolger sich dagegen auflehnte, wurde er ins Gefängniß
geworfen, wo er kurz darauf mit Hinterlassung zweier Söhne starb. Der
Sohn der Nebenfrau wurde nun unter dem Namen Han Wüong zum Kaiser
ausgerufen. Die Willkürherrschaft des Ministers, der ihm die Krone ver-
schafft, bewog die Kochinchinesen, den König von Tongking. welches damals
ein Königreich für sich bildete, zur Vertreibung des aufgedrungenen Fürsten
herbeizurufen; derselbe kam und eroberte den ganzen Norden von Kochinchina.
Dagegen erhob sich wieder ein Steuereinnehmer Namens Rhat, welcher sich mit
mehren Räuberbanden vereinigte und es durch glückliche Gefechte dahin brachte,
daß die Tongkinesen die von ihnen besetzten Provinzen Kochinchinas räumten,
worauf er sich nach Süden wandte, angeblich, um nach Verjagung der Frem¬
den dem legitimen Thronerben, d. h. dem ältesten Sohne des im Kerker ge¬
storbenen Prinzen, zu seinem Rechte zu verhelfen. Seine Anhänger nannten
sich Taisong. Der Kaiser Han Wüong mußte vor ihnen das Feld räumen,
und bei dieser Gelegenheit entflohen ihm die beiden Söhne seines verstorbenen
ältern Bruders. Der jüngere derselben kehrte indeß bald wieder zu seinem
Oheim zurück, während der ältere in das Lager der Taisong gelangte, deren
Führer, Rhat — jetzt selbst nach dem Throne strebend — ihm seine Tochter
vermählte und ihn als Deckmantel für seine ehrgeizigen Pläne bei sich behielt.
Nach einigen Jahren gelang es dem Prinzen, diesem Verhältniß, welches sich
allmälig zu einer Art Gefangenschaft gestaltet hatte, zu entfliehen. Er kehrte
ebenfalls zu seinem Oheim zurück, der durch eine Partei unter den Mandarinen
genöthigt wurde, ihm die Krone abzutreten, bald nachher aber, von einer
andern Partei unterstützt, im östlichen Theil von Niederkochinchina wieder
als Herrscher aufzutreten versuchte. Die Taisong griffen ihn hier an, nahmen
ihn gefangen und tödteten ihn. Sein Neffe, jetzt rechtmäßiger Kaiser,
wurde von Rhat, der nunmehr offen als Prätendent auftrat, mit den Waffen
genöthigt, .sich ihm zu ergeben, und der Rebellenhäuptling wußte es so ein¬
zurichten, daß der arme Fürst ebenfalls bald das Zeitliche gesegnete.
Jetzt war von der ganzen kaiserlichen Familie nur noch der zweite Neffe
Han Wüongs übrig, welcher, als der letztere in die Hände der Taisong siel,
sich zu retten gewußt hatte und eine Zeit lang im Hause des französischen
Missionärs Pignaux. Bischofs von Abram, verborgen blieb. Als die Taisong
sich zurückzogen, verließ dieser Prinz, welcher damals den Namen Nguyen Aus
führte, später aber nach chinesischer Sitte die Benennung seiner Regierungs-
pcriode sah'la Long annahm, seinen Zufluchtsort, sammelte einige Soldaten
um sich, sah sich bald durch andere Anhänger der legitimen Dynastie verstärkt,
machte sich mit deren Hilft in kurzer Zeit zum Herrn von ganz Niederkochin¬
china und ließ sich 1779 zum Kaiser ausrufen. Rhat seinerseits wurde von
den Taisong zum Kaiser erwählt, wobei er den Namen Thal Duk annahm.
Nach verschiedenen Kriegen zwischen den beiden Gegnern wurde der Erbe der
alten Herrscher von dem Rebellenkaiser aus Südkochinchina vertrieben. Er
floh nach Siam, kehrte 1784 mit einer siamesischen Armee zurück, wurde aber¬
mals geschlagen und flüchtete wieder nach Siam, wo er mit dem Bischof von
Abram, der durch den Krieg ebenfalls zur Flucht gezwungen worden, einen
neuen Plan zur Wiedererlangung seiner Krone verabredete, und demselben
zugleich seinen sechsjährigen Sohn zur Erziehung übergab.
Jener Plan bestand darin, dasz der Bischof nach Frankreich reisen und
dort für den verjagten Fürsten Hilfe erbitten sollte, wogegen dieser sich an¬
heischig machte, den Franzosen die Bucht von Turon abzutreten und ihnen
das Recht einzuräumen, in den Wäldern der Gebirge von Kochinchina, welche
reich an den zum Schiffsbau vorzüglich geeigneten Tcckbäumen sind, Holz zu
schlagen, überdies aber sich verpflichtete, im Fall eines Krieges Frankreichs
mit England der erstem Macht ein starkes Contingent kochinchinesischer Krieger
zuzuführen. Der Bischof ging mit seinem fürstlichen Zögling wirklich nach
Paris und fand bei Ludwig dem Sechzehnten mit seinem Plan eine günstige
Aufnahme, und am 28. November 1787 kam ein Offensiv- und Defenfivbünd-
niß zwischen Frankreich und Kochinchina zu Stande, welches folgende Artikel ent¬
hielt: 1) Frankreich rüstet ein Geschwader von zwanzig Kriegsschiffen aus und
stellt dieselben unter den Befehl des Kaisers von Kochinchina; 2) es werden
ohne Verzug fünf europäische Regimenter und zwei Regimenter Colonialtruppen
nach Kochinchina eingeschifft; 3) der König von Frankreich verpflichtet sich,
binnen vier Monaten dem Kaiser von Kochinchina eine Million Thaler, die
Hälfte in Baarcm, den Nest in Salpeter, Kanonen, Flinten und andern Waffen
zu geben; 4) in dem Augenblick, wo die französischen Truppen das Gebiet
Kochinchinas betreten, empfangen ihre Generale ihre Befehle nur vom Kaiser
des Landes; 5) der letztere macht sich anheischig, sobald die Ruhe in seinen
Staaten wieder hergestellt ist, auf das einfache Verlangen des französischen
Gesandten alles zu liefern, was zur Erbauung und Ausstattung von vierzehn
Linienschiffen an Holz und Lebensmitteln erforderlich ist, und damit dieser
Artikel gehörig ausgeführt wird, soll von Europa ein Corps von Offizieren
und Unteroffizieren der Marine abgesandt werden, welche in Kochinchina ein
bleibendes Etablissement gründen werden; K) der König von Frankreich wird
an allen Punkten der Küste von Kochinchina Konsuln einsetzen, welche das
Recht haben, Schiffe, Fregatten und andere Fahrzeuge zu bauen oder bauen
zu lassen, ohne daß die Negierung Kochinchinas sie irgendwie darin stören
darf; 7) der Gesandte Frankreichs am kochinchinesischcn Hofe hat die Befug-
niß, in allen Wäldern, wo er es passend findet, Holz zum Schiffsbau schlagen
zu lassen; 8) der Kaiser von Kochinchina und sein Staatsrath treten Seiner
Allerchristlichsten Majestät, seinen Erben und Nachfolgern für ewige Zeiten den
Hafen und das Gebiet von San Han (die Bucht von Turon und die dazu
gehörige Halbinsel) so wie die anliegenden Inseln Fai Fo im Süden und
Hai Wan im Norden ab; 9) der Kaiser von Kochinchina verpflichtet sich die
Arbeiter und die Materialien zu liefern, welche man zur Erbauung der Forts.
Brücken, Brunnen und Straßen nöthig hat, die zur Sicherung und Verthei¬
digung der an Frankreich abgetretenen Gebietstheile erforderlich sind; 10) für
den Fall, daß die Eingebornen in dem abgetretenen Landstrich denselben ver¬
lassen wollten, haben sie die Freiheit, zu gehen, und der Werth des Eigen¬
thums, welches sie zurücklassen, wird ihnen vergütet, in der Gerechtigkeitspflege
wird nichts geändert, alle religiösen Meinungen sind frei, die Steuern werden
von den Franzosen nach Landesgebrauch erhoben, die Einnehmer in Ueber¬
einstimmung mit dem Kaiser von dem französischen Gesandten ernannt, der
Kaiser hat keinen Anspruch auf diese Steuern, welche vielmehr Seiner Allcr-
christlichsten Majestät gehören, und als Tilgungsmittel der auf das Unterneh¬
men verwendeten Kosten gebraucht werden; 11) für den Fall, da^der König
von Frankreich sich zu einem Kriegein irgend einem Theil Indiens entschlösse, ist
es dem Befehlshaber der französischen Truppen gestattet, im Lande 14,000 Mann
auszuheben, welche auf französische Weise eingeübt werden und der französischen
Disciplin unterworfen sein sollen; endlich 12) wenn irgend welche Mächte die
Franzosen auf dem Gebiet Kochinchinas angreifen, so hat der Kaiser dieses
Landes wenigstens 60,000 Mann Hilfstruppen zu stellen, welche er auf seine
Kosten kleidet und verpflegt.
Das ist der Vertrag, aus welchen sich jetzt die Ansprüche Frankreichs
gründen. Derselbe kam jedoch nicht zur Ausführung, und so sind natürlich
auch diese Ansprüche nichtig. Der Graf von Conway, Gouverneur von Pon-
dichery, an den der Bischof von Abram wegen der Schiffe und Regimenter
gewiesen war, verweigerte beides. Bald nachher brach in Frankreich die Revo¬
lution aus, und von dem Vertrag war vorläufig nicht mehr die Rede. Da¬
zu kam, daß während der Reise des Unterhändlers das Glück dem Kaiser
Nguyen Aus von neuem zu lächeln begonnen hatte. Unter den Taisong
war Zwietracht ausgebrochen. Diese Rebellen waren jetzt in drei Parteien
gespalten. An der Spitze der einen stand der wiederholt genannte Rhat, an
der Spitze der zweiten dessen jüngerer Bruder, welcher Statthalter von Nie-
derkochinchina war, an der Spitze der dritten der jüngste Bruder, welcher
Long Nhung hieß und der thätigste, unternehmendste, tapferste der drei war
und in der Folge auch der mächtigste von ihnen wurde. Derselbe führte auf
Veranlassung einer Revolution im Nachbarlande Tongking ein starkes Heer
nach diesem Reiche, eroberte einen großen Theil desselben und kehrte mit großer
Beute beladen zurück. Sein Ruhm war hierdurch so gestiegen, daß er sich
nicht mehr mit der bisher bekleideten Stelle eines bloßen Statthalters be¬
gnügen zu dürfen glaubte. Seine Ansprüche auf selbstständige Herrschaft be¬
wogen den zweiten Bruder Nhaks, mit ähnlichen Forderungen hervorzutreten,
und so mußte Rhat oder wie er sich jetzt nannte, Kaiser Thal Dick sich mit
Mittelkochinchina begnügen, während der zweite der Brüder sich zum Herrscher
über den untern Theil des Landes aufwarf und Long Nhung sich zum Sou¬
verän Oberkochinchinas ausrufen ließ.
Long Nhung griff, nachdem ihn sein älterer Bruder anerkannt, im Jahre
1788 von neuem Tongking an, verjagte den dortigen König, schlug und ver¬
nichtete eine chinesische Armee, die letztern wieder einsetzen sollte, und machte sich
nach diesem Siege zum Herrn des Landes, worauf er den Namen Knäng Trong
annahm. Gegen Ngnucn Aus, den Verbündeten Frankreichs, sollte er weniger
glücklich sein. Der Vertrag von 1787 allerdings kam nicht zur Ausführung.
Aber durch die Sendung des Bischofs von Abram war die Aufmerksamkeit in
Frankreich und ganz Europa auf Kochinchina gelenkt worden. Der Bischof
selbst hatte mit Privatmitteln einige Schiffe ausgerüstet und eine Anzahl
französischer Ingenieure und Offiziere gewonnen, um seinem Freund zu Hilfe
zu kommen. Auch England und Schottland lieferten ihm ein Contingent
geschickter und unternehmungslustiger Militärs und Schiffsbauer. Diese Männer
wurden von Nguyen Aus wohl aufgenommen und sofort zu Mandarinen er¬
nannt, in welcher Eigenschaft sie ihm sein Heer aus europäische Weise ein¬
übten, ihm eine kleine Flotte schufen, Waffenschmieden, Kanonengießereien und
Zeughäuser einrichteten und verschiedene Festungen anlegten. Der französische
Genieoffizier Olivier baute ihm in Saigong, seiner Residenz, ein starkes Fort
mit Bastionen, Gräben, Zugbrücken, bedeckten Wegen, Glacis und Lunetten
und übte ihm zugleich ein Musketierregiment ein. Die Herrn Dayot und
Varnier bauten ihm eine schöne Fregatte. Andere Offiziere errangen im
Kampf mit dem Rebellenkönig von Niederkochinchina verschiedene kleine Er¬
folge, und als letzterer 1789 starb, gelang es Nguyen Aus sich wieder in den
Besitz dieses Theils seines Erbes zu setzen. Hierdurch ermuthigt, wagte der
Kaiser einen kühnem Streich. Er versammelte ein kleines Geschwader, dem
sich die neue Fregatte mit Oliviers Musketieren anschloß und ging mit dieser
Macht nach dem Hafen Kul Rhön, wo sich die gesammte Flotte des ältesten
der Rebellenkönige befand. Er gedachte dabei nur dem Gegner einen Schlag
beizubringen, um ihn an einem Angriff seinerseits zu verhindern, allein sein
Plan hatte einen Erfolg, der weit über seine Erwartungen hinausging. Er
drang in den Hafen ein, und wurde von den Rebellendschonken mit großem
Ungestüm angegriffen. Aber die Fregatte entschied den Kampf in wenigen
Stunden. Sämmtliche Fahrzeuge des Thal Duk wurden in den Grund ge¬
bohrt und ebenso vernichtete die kaiserliche Flotte alle Magazine, welche die
Rebellen in der Bucht besaßen.
Der tupsere Knäng Trong erließ dagegen zunächst eine gewaltige Pro-
clamation, in welcher er eine große Armee zu sammeln und damit die Geg¬
ner „wie ein Stück dürren Holzes" zu zerbrechen drohte. Mehr zu thun ver¬
hinderte ihn sein bald nachher erfolgender Tod. Sein Sohn und Nachfolger
Kems Tius zog seinem Oheim Thal Duk, welcher nach jenem Seesieg von
Ngnyen Aus in seiner Hauptstadt belagert wurde, zu Hilfe, benutzte aber-
diese Gelegenheit, den alten Nebellenkönig zur Abdankung zu nöthigen, wor¬
auf dieser im Jahre 1793 vor Verdruß starb. Dessen Sohn versuchte sich
die väterliche Krone wicderzucrobern, wurde indeß geschlagen, gefangen und
von seinem Vetter genöthigt, sich selbst den Tod zu geben, so daß jetzt nur
noch ein Kronprätendent, Kaub Tius, der Sohn des jüngsten der Taisong-
könige, dem legitimen Kaiser Nguyen Aus gegenüberstand. Der Krieg
zwischen diesen beiden währte noch geraume Zeit. Nguyen Aus, von dem
Bischof von Abram klug berathen und von seinen französischen Mandarinen unter¬
stützt, machte bald raschere und ausgedehntere Fortschritte. Auf die Fregatte
Oliviers folgten andere Schiffe, und als er deren eine genügende Anzahl be¬
saß, war seine Marine der seines Gegners bei jedem Treffen überlegen.
Wiederholt verbrannte er die Flotte der Tcnsong. Ebenso verbesserte sich seine
Landmacht mit jedem Jahr, bald hatte er mehre auf europäische Art geschulte
und bewaffnete Regimenter, und obwol sein Heer noch immer an Stärke hinter
dem des Nebellenkönigs zurückstand, blieb es doch fast bei jedem Zusammen¬
stoß mit dessen Truppen siegreich. Olivier erbaute aus Vefehl des Kaisers in
der Provinz Rha Trang ein zweites Fort. Dasselbe wurde 1794 von den
Taisong angegriffen, aber die Besatzung schlug den Sturm mit wenig An¬
strengung zurück; einige gutgezielte Kartätschenlagen aus den Feldstücken, mit
denen die Walle armirt waren, reichten hin, die stürmenden zu zerstreuen.
Die Feldkanonen riefen unter ihnen, die nur Festungsgeschütze auf plumpen
Klötzen kannten, große Verwunderung hervor. „Man kann," sagten sie. „dieser
Kriegsmaschine nicht widerstehen, sie lenken sie wie ein Pferd mit dem Zaum,
und sie laust mit dem Heer überall hin." 1799 ergab sich die Hauptstadt der
Provinz Kul Rhön der Armee, mit welcher Nguyen Audh Sohn, der Kron¬
prinz Kaub, sie belagerte. Dieser junge Fürst erlag 1801 einem Scharlach-
sieber. Er war von dem Bischof von Abram erzogen. Der fromme Herr
scheint aber sein Augenmerk entweder nicht so sehr auf die Seele, als auf die
politische Bedeutung seines Zöglings gerichtet, oder mit seinen Bemühungen
um erstere keinen rechten Erfolg erzielt zu haben. Der Prinz starb theils weil
er durch allerlei Ausschweifungen geschwächt war, theils weil er sich durch
Zauber heilen lassen wollte. Indeß glückte es zuletzt noch, die Seele sür den
christlich-katholischen Himmel zu erHaschen. Auf seinen Wunsch wurde er vor
seiner letzten Stunde von einem eifrigen Christen noch rasch getauft. Er hinter¬
ließ einige Söhne von einer Beischläferin, die, von ihrem Großvater vom
Throne fern gehalten und von allen spätern Herrschern mit Argwohn betrach¬
tet, von den Franzosen vielleicht noch einmal benutzt werden können, eine
ihnen ergebene Dynastie auf den Thron von Aram zu bringen.
Im Jahre 1801 begannen die Taisong Kul Fu zu belagern. Während
-dieser Zeit führte Nguyen Aus seine Flotte gegen Hu«, damals der Haupt¬
stadt Oberkochinchinas (jetzt ganz Altans), und machte sich zum Herrn des
ganzen Landstrichs bis zu der großen Mauer, welche Tongking von Kochin-
china trennt. Sich für dieses Jahr damit begnügend, befestigte er sich in der
gewonnenen Stellung. Die Rebellenarmee, welche die Hauptstadt der Pro¬
vinz Kul Rhön wiedereingenommen hatte, sah sich, von ihren Verbindungen
abgeschnitten, gezwungen, den Rückzug anzutreten, und indem sie über das
westliche Gebirge zog, wurde sie von den wilden Stämmen, welche daselbst
Hausen, beinahe bis auf den letzten Mann aufgerieben.
Der junge König der Taisong, welcher sich nach diesen Unglücksfällen
nach Tongking zurückgezogen hatte, meinte einem chinesischen Aberglauben zu¬
folge dem Verderben, welches ihn bedrohte, dadurch zu entgehen, daß erden
Namen seiner Regierungsperiode und damit nach Landesbrauch seinen eignen
wechselte. Er nannte sich fortan, statt Kaub Tius, Bao Hung. Das Glück
wendete sich ihm aber nicht zu. Er ordnete starke Truppenaushebungen an
und griff im Jahre 1802 an der Spitze einer zahlreichen Armee die Mauer
an, welche Kochinchina gegen Tongking abschließt. Aber sein Heer wurde in
die Flucht geschlagen. Nach dieser Niederlage befahl er eine neue- Armee auf
die Beine zu bringen und ließ alle Zugänge nach Tongking zu Lande und
zu Wasser befestigen. Diese Vorbereitungen waren nutzlos. Das Heer des
legitimen Kaisers, welches im Juni des Jahres in Tongking einrückte, stieß
nirgend auf ernsten Widerstand, und schon im Juli war das ganze Land in
den Händen Nguyeir Audh. Der junge König der Taisongs. seine Brüder,
die gesammte Familie desselben und alle großen Mandarinen wurden gefan¬
gen genommen und ohne Ausnahme in Huo hingerichtet. So endigte der
Bürgerkrieg in Aram. nachdem er fast dreißig Jahre gedauert. Von dieser
Zeit an herrschte das Haupt der Familie Nguyen allein über Tongking und
Kochinchina. Vor dem Jahre 1802 führte dieser Fürst in Betreff Tongkmgs
nur den Titel eines Sebua oder immerwährenden Regenten, und alle Erlasse
seiner Regierung waren, selbst nach dem Sturz der Familie Li in Tongking
durch die Taisongs, nach den Jahren des vorletzten 17 86 verstorbenen Kö¬
nigs dieses Landes datirt. Die Tongkinesen gründeten darauf die Hoffnung,
der Kaiser von Kochinchina werde nach Vernichtung der Taisongherrschast sich
mit dem gesicherten Besitz von Kochinchina begnügen und die Familie Li auf
den Thron von Tongking zurückführen. Aber Nguyen Aus ließ sich, bevor
er 1802 zur Eroberung Tongkings aufbrach, zum Beherrscher beider Reiche
ausrufen, und wurde als solcher 1304 vom Kaiser von China anerkannt.
Die Tongkinesen haben ihm dies sehr übel genommen und sich wiederholt
gegen sein Joch aufgelehnt. Ihre Aufstände wurden indeß stets unterdrückt.
Die Ancimiten werden dies vermuthlich der Wahl des Namens Schialong zu¬
schreiben, den er sich und seiner Rcgierungsperiode 1802 vor jenem Feldzug.
nach Tongking beilegte, und welcher „Gunst des Glückes" bedeutet. Die Fran¬
zosen meinen aber, daß sein Glück sich von der Hilfe herschreibe, welche ihm
von Frankreich kam. Sie haben darin unzweifelhaft recht, nicht aber mit
der Behauptung, daß die Kaiser von Aram nun auch gehalten seien, jenen
Bertrag von 173? zu erfüllen. Die Hilfe, welche jene französischen Offiziere
und Techniker leisteten, war die Hilfe von Privatleuten. Der Staat Frank¬
reich hat als solcher nichts geleistet, und kann als solcher auch keine Gegen¬
leistung beanspruchen. Jene Privatleute haben ihren Lohn reichlich erhalten,
sie haben wenigstens niemals Anspruch auf mehr erhoben.
Schialong hatte übrigens bei Zeiten eingesehen, nicht blos, welchen Nutzen
ihm die Fremden gewährten, sondern auch, welche Gefahr mit ihnen einge¬
treten war. Er verwendete die von ihnen vertretenen Kenntnisse und Ge-
schicklichkeiten in sehr verständiger Weise auch im Frieden, baute mit ihrer
Hilfe Straßen und Werfte, Festungen und Schiffe, richtete Salpcterfabriken
ein und ließ sich eine gute Anzahl Geschütze gießen. Er nahm sich aber zu¬
gleich in Acht, sie in hohe Stellungen zu bringen und ertheilte, als er im
Jahre 1820 starb, seinem Nachfolger den Rath, sich mit den Europäern so
wenig als möglich einzulassen, vor allem aber sich zu hüten, ihrem Verlangen
nach Landabtretungen zu entsprechen. Die Franzosen hatten ein solches
Verlangen bald nach Wiedereinsetzung der Bourbonen auf Grund jenes Ver¬
trags von 1787 gestellt, waren aber von Schialong kurz abgewiesen worden.
Der Nachfolger Schialongs war sein zweiter Sohn, welcher beim Re¬
gierungsantritt den Namen Minh Mens, d. i. glänzendes Schicksal, annahm.
Er folgte dem Rathe seines Vaters in Betreff seiner französischen Mandarinen.
Als er kurz nach seiner Thronbesteigung im Namen Ludwigs des Achtzehnter durch
einen Herrn Chaigneau, den man in Paris zum Konsul sür Aram ernannt,
werthvolle Geschenke empfing, sandte er dieselben zurück. Jenen Chaigneau, der
seinem Vater längere Zeit wichtige Dienste geleistet, nöthigte er durch Ver¬
nachlässigung, sich mit seiner Familie 1824 aus dem Lande zu entfernen.
Bald nachher verließen auch die übrigen Mandarinen europäischer Abstammung
das Reich. 1325 erschien ein zweiter Abgesandter Frankreichs in der Person
de Bougainvilles mit den alten Forderungen, er wurde indeß gar nicht zur
Audienz gelassen. Um dieselbe Zeit begannen auch Verfolgungen gegen die
französischen und spanischen Missionäre/) welche unter dem niedern Volke Altans
schon seit Jahrzehnten ziemlich viele Proselyten gemacht hatten. Der Grund
war nicht in religiöser Unduldsamkeit zu suchen. Der Kaiser und seine Man-
'darinen huldigen einer Religion, die auf Rationalismus hinausläuft. Auch
der Buddhismus ist nicht intolerant. Man sah am Hofe von Hu6 in den
christlichen Glaubensboten ganz ebenso wie in den politischen Gesandtschaften
Vorboten der Eroberung durch die westlichen Barbaren, und man hatte darin
nicht Unrecht. Man hielt sie für Kundschafter, und man war auch damit
nicht völlig auf falschem Wege. Man hatte das Beispiel von Indien und
China vor Augen, und man wußte, welche Rolle der Bischof von Abram ge¬
spielt hatte/) Was er für die legitime Dynastie gethan, konnte ein anderer
für einen Prätendenten thun, wenn dieser dem Katholicismus Vortheile ver¬
sprach. Minh Mens brauchte von seinem Standpunkt die fremden Priester
nicht zu dulden, er konnte fragen, ob man in Frankreich die Lehre des Kon¬
futse oder Schakjamuni predigen lassen werde. Er konnte die Missionäre aus¬
weisen. Wenn er sie köpfen, sie mit glühenden Zangen kneipen, ihnen den
Bauch aufschlitzen ließ, so war er eben ein Barbar. Er konnte sich wundern,
daß man eine Verfolgung, wie er sie verhängte, als etwas Außerordentliches
ansah; denn es war sein Verfahren seit zwei Jahrhunderten Brauch im Lande
gewesen. Bis auf Schialong waren nicht weniger als sechzehn katholische
Priester wegen Proselytenmacherei hingerichtet worden, die Zahl der einhei¬
mischen Geistlichen und Laien gar nicht zu erwähnen.**)
Eine Zeit lang wurde Minh Mens in seinen blutigen Absichten durch
den Großmandarin Takuan gehindert, welcher Vicekönig von Niederkochin-
ch»na war und den Franzosen wohlwollte. Nach dem Tode dieses Beamten
begann die Verfolgung und zwar auf Grund des Umstandes, daß ein anderer
Freund Frankreichs, Namens Khoi, sich empörte, sich der Stadt Saigong (wo
einst Schialong mit dem Bischof von Abram gegen die Usurpatoren des Kaiser¬
thrones conspirirt) und ganz Niederkochinchinas bemächtigte und den Kaiser
für seine Krone fürchten ließ. Minh Mens nahm endlich die von den fran¬
zösischen Mandarinen erbaute Citadelle von Saigong wieder ein. ließ die Ver¬
theidiger derselben über die Klinge springen und den Chef der Rebellen so
wie seinen Freund und Berather, den französischen Missionär Joseph Mar-
chand, auf grausame Weise zu Tode martern.
Später hörten die Verfolgungen der Christen auf, und 1839 zeigte sich
Minh Mens sogar nicht abgeneigt, den unterbrochenen Verkehr mit Frankreich
wieder anzuknüpfen. Er sandte drei Mandarinen untergeordneten Ranges
nach Paris. Ader Ludwig Philipp weigerte sich, ihnen Audienz zu ertheilen.
Diese Abweisung beunruhigte sie wenig; denn sie waren überzeugt, daß die
französische Regierung keine Neigung hatte, mit den Waffen gegen ihren Herrn
einzuschreiten.
Minh Mens starb im Januar 1841 an den Folgen eines Sturzes vom
Pferde. Ihm folgte .sein Sohn Tiu Tri, welcher die Verfolgung der Christen
weniger eifrig fortsetzte und ziemlich friedlich regierte. Ludwig Philipp schickte
im Jahre 1847 die Fregatte Gloire und die Korvette Victoricuse uach Aram,
um einen Versuch zu machen, ob der jetzige Herrscher den Fremden geneigter
sei als sein Vorgänger. Es kam aber gar nicht zu Unterhandlungen. Als
die Schiffe in die Bucht von Turon einliefen, erhielt der Befehlshaber des
Geschwaders, Lapierre, von den Mandarinen die Einladung, am Lande zu
speisen. Er entsprach dieser Aufforderung mit seinen Offizieren, entdeckte aber
noch zu rechter Zeit durch einen Brief, den er auffing, daß die Anamiten den
Plan hatten, die Offiziere während des Gastmahls zu überfallen und umzu¬
bringen und dann die ihrer Führer beraubten Schiffe anzugreifen und zu ver¬
nichten. Der französische Befehlshaber schiffte sich sofort wieder ein und kam
dann seinen Gegnern zuvor. Er ging aus die anamitische Flotte los, die
aus einer großen Anzahl von Dschonken und mehren schönen Korvetten
bestand, und zerstörte sie fast vollständig. Zwischen 1000 und 1200 Feinde
verloren in diesem Treffen das Leben, die Franzosen hatten nur einen Todten
und etwa ein Dutzend Verwundete. Aus die Nachricht von diesem Unfall ließ
Tiu Tri, außer sich vor Zorn, alle europäischen Gegenstände, die sich in seinem
Palast vorfanden, zerschlagen, auch wird (von den Missionären) erzählt, er
habe sich dadurch gerächt, daß er von seinen, Soldaten eine Anzahl in fran¬
zösische Uniformen gesteckte Strohmänner oder Holzpuppcn habe zerschießen
lassen. Diese Rache scheint indeß seinen Verdruß über den Verlust seiner Flotte
nicht beschwichtigt zu haben; denn er starb wenige Monate nach jener Nieder¬
lage und man sagte, diese habe seinen Tod beschleunigt.
Aus Tiu Tri folgte auf dem Throne von Aram sein Sohn Tü Duk, ein
junger Mann von 28 Jahren. Derselbe gelangte durch eine Palastrevolution
zur Krone, welche dem Rechte nach seinem älteren Bruder Aus Fong gebührte.
Dieser versuchte wiederholt, sich der Negierung zu bemächtigen, aber seine Un¬
ternehmungen schlugen fehl. Er wurde gefangen genommen, in Ketten gelegt
und von seinem Bruder genöthigt, sich im Gefängniß selbst zu entleihen. Tü
Duk sandte ihm zur Auswahl Gift, eine Schnur und ein Schwert. Die
Negierung Tü Düks ist den Europäern und dem Christenthum ebenso feind,
als die früheren. Der jetzige Kaiser will durchaus nichts mit den „Barbaren
des Westens" zu schaffen haben. Er meint, und der Hof von Peking bestärkt
ihn darin, daß den Fremden den kleinen Finger geben, ihnen die ganze Hand
geben heißt, glaubt, der Einfluß der Missionare werde, wenn er sich ungehin¬
dert ausbreiten dürfe, in kurzem den Einfluß seiner Mandarinen verdrängen,
und mag in seinem Reiche keine Menschen, welche ihr Oberhaupt in Rom
und in dem Kaiser der Franzosen einen Protector haben. Das ist das ganze
Geheimniß seines Widerstandes, und man kann ihm darin nur beipflichten. Die
Frage ist nur, ob er diesen Widerstand auf die Dauer wird durchführen können.
Hat er es doch nicht einmal hindern können, daß ihm von einem heimlichen
Christen in seinem eignen Palaste zu Hu6 ein sterbendes Kind durch Bespritzen
mit Taufwasser in das Christenthum hineincscamotirt wurde.
Der Kaiser Napoleon der Dritte sandte zunächst im Jahre 185K in der
Person des Herrn de Montigny einen Unterhändler nach Aram. Derselbe
wurde jedoch Mit seiner Forderung auf Herausgabe der Bucht von Turon und
der im Vertrag von 1787 genannten Inseln kurz abgewiesen. Die Beendi¬
gung des chinesischen Krieges machte im Sommer 1853 die französische Flotte
in den ostasiatischen Gewässern verfügbar. Spanien hatte für die Hinrich¬
tung des am 20. Juli 1857 geköpften Bischofs Diaz Genugthuung zu fordern
und stellte ein Contingent von Schiffen und Soldaten zu dem Geschwader,
welches Admiral Rigault de Gcnouilly gegen Aram zu führen Befehl erhalten.
Am 31. August warf dieses in der Bucht von Tnron Anker. Am folgenden
Morgen forderte der Admiral brieflich die Mandarinen, welche die Hafcnfvrts
besetzt hielten, zur Räumung derselben binnen zwei Stunden auf. Es erfolgte
keine Antwort, die Anamiten verließen sich auf die Stärke der Werke, welche
von den französischen Mandarinen Schialongs angelegt waren, und von denen
zwei die Einfahrt in den Fluß vertheidigten, andere mit ihren Kanonen die
Rhede bestrichen. Die europäischen Schiffe, die inzwischen die ihnen angewie¬
senen Stellungen eingenommen hatten, begannen auf ein Signal vom Admiral¬
schiff Nemesis ihr Feuer. Die größern Fahrzeuge beschossen die Forts der
Rhede und brachten sie nach einem halbstündigen Bombardement zum Schwei¬
gen, worauf französische und spanische Truppen gelandet wurden, um die
Werke zu besetzen. Die Kanonenboote griffen die Forts am West- und Ost¬
ufer des Stromes an, und schon nach einer Stunde flog das östliche Fort,
dessen Pulvermagazin von einer glühenden Kugel getroffen worden, mit
furchtbarem Krachen in die Luft. Das andere Fort hielt sich bis zum
nächsten Morgen, wo es ebenfalls aufflog. Der Admiral verschanzte sich
hierauf in der Bucht und richtete sich überhaupt zum Bleiben ein. Die ana-
mitische Armee, welche, 10,000 Mann stark, von Hu6 heranrückte, wagte nichts
zu unternehmen, und sie hat auch nach den neuesten Nachrichten keinen An¬
griff auf d,le Feinde gewagt. Dagegen hat die große Hitze und die Urgesund-
heit des Klimas überhaupt unter den Franzosen wie unter den Spaniern be-
reits arge Verheerungen angerichtet, und der Plan des Oberbefehlshabers,
nach der Hauptstadt Hu6 zu ziehen, hat bis zum Eintreffen von Verstärkun¬
gen aus Europa vertagt werden müssen.
Die Anrennen haben sich bis jetzt so wenig tapfer geschlagen, wie ihre Nach¬
barn und Stammgenossen, die Chinesen an den Forts der Peihomündungen, ob-
wol sie von dem Angriff der Franzosen Kenntniß hatten und mit Kriegsmaterial
reichlich versehen waren. Ihre Forts waren im besten Zustande, die Mauern
neu ausgebessert, die Walle mit Kanonen vom schwersten Kaliber versehen.
Die Geschütze waren zum Theil aus Gußeisen, zum Theil von Kanonen¬
metall, die meisten waren sehr schön und alle mit neuen Blöcken als Unterlage
versehen. Außer seiner Armirung enthielt das Westfort einen Park Feldge¬
schütze. Es waren sechs- und neunpfündige Kanonen mit Bronzerohren. Die
Lafetten lagen auf sehr hohen Rädern, die sür die schlechten Straßen des Lan¬
des ganz vorzüglich passen. Die Handwaffen, die man in den eroberten Wer¬
ken fand, hatten nichts Besonderes an sich. Es waren gewöhnliche Flinten
aus französischen und belgischen Fabriken. Das Pulver, von dem man be¬
trächtliche Quantitäten erbeutete, war englischen Ursprungs und wahrscheinlich
in Singapur oder Hongkong gekauft.
Die Bucht von Turon bietet vom militärischen Gesichtspunkt alle mög¬
lichen Vortheile, und sie liegt zugleich von allen Häfen des Landes, welche
großen Schiffen die Einfahrt gestatten, der Hauptstadt Hu6 am nächsten. In
Beziehung auf den Handelsverkehr ist die südlicher gelegne Hauptstadt Nieder-
kochinchinas Saigong oder Gladius von größerer Wichtigkeit. Die Umge¬
bung dieser letztern Stadt ist der fruchtbarste Theil des Reiches Aram, und
wenn die Franzosen hier eine Factorei anlegten, so könnte dieselbe unter sonst
günstigen Umständen zum Stapelplatz nicht blos für die Erzeugnisse Nieder-
kochinchinas, sondern für alle die Waaren werden, welche das Nachbarland
Kambodscha ausführt. Diese beiden Länder werden von mächtigen Strömen
und einer großen Anzahl schöner Kanäle durchschnitten, welche den Verkehr
außerordentlich erleichtern würden.
Daß die Franzosen den Hafen von Turon behalten werden, ist mit Sicher¬
heit anzunehmen. Ob man sich in das Innere wagen wird, läßt sich noch
nicht sagen. Mit fünf- bis sechstausend Mann europäischer Truppen möchte
eine Eroberung Altans nicht unmöglich sein. Die Bevölkerung dieses Reiches
beläuft sich allerdings auf mehr als zwanzig Millionen, aber dieselben sind
über einen Raum von dreihundert Lieus (180 deutsche Meilen) zerstreut und
können deshalb ihre'Kontingente nicht leicht auf einem Punkt vereinigen. Die
europäische Kriegskunst und Bewaffnung der Angreifer würde übrigens die
Vertheidigung des Landes, auch wenn diese fünf- und sechsmal so viel Sol¬
daten zur Verfügung hätte, in kurzem zurückdrängen. Ferner könnte sich
Frankreich leicht mit Sinn, welches mit der französischen Regierung seit einiger
Zeit auf gutem Fuße steht, verbünden, so daß wahrend die Franzosen von Osten
vorrückten, ein «siamesisches Heer von Westen her einbräche. Sodann ist in An¬
schlag zu bringen, daß in Aram noch immer gegen 200,000 Christen wohnen,
unter denen die Franzosen, wenn sie in die Gegenden vorgedrungen sind, wo
die christliche Bevölkerung am dichtesten ist, Aushebungen veranstalten können,
die den Vortheil haben würden, daß sie das heiße Klima besser vertrügen,
als die Europäer. Endlich möchte sich unter Umständen auch der Fürst des
angrenzenden Kambodjcha, der zu Aram jetzt im Verhältniß eines Lehnsfürsteir
steht, bereit finden lassen, mit den Franzosen gegen den Kaiser in Hu6 ge¬
meinschaftliche Sache zu machen.
Dieser König, Namens Ong Düong, zeigt recht deutlich, was die Herr¬
scher Altans sich von den Missionären zu versehen haben. Unzufrieden mit
der Stellung eines tributpflichtigen Fürsten, begann er in den letzten Jahren
auf Mittel zu denken, sich von dem Kaiser in Huu völlig unabhängig zu
machen. Er dachte dabei sofort an die Missionäre, die sich in Niederkochin-
china aufhielten und ließ durch Christen seines Landes heimlich Verbindun¬
gen mit ihnen anknüpfen und anfragen, ob man ihm für den Fall eines
Krieges mit Aram den Beistand Frankreichs verschaffen könne. Der Priester
Miche, Coadjutor des apostolischen Vicars für Südkochinchina, ging auf den
Antrag ein und begab sich zum Zweck weiterer Verhandlungen nach Kambodscha,
wo er vom König sehr wohlwollend aufgenommen wurde. Es wurden zunächst
christliche Gemeinden gegründet, dann schrieb der Missionär nach Frankreich, um
den obenerwähnten Agenten de Montigny einzuladen, sich bei seiner Reise
durch Siam und Kochinchina auch am Hofe von Kambodscha einzufinden.
Inzwischen war jedoch bei dem König die Furcht rege geworden, man könne
in Hu6 von seinen Intriguen Kenntniß erhalten und ihn zur Rechenschaft
ziehen, und so ließ er de Montigny. als dieser sich anschickte, ihm den gewünsch¬
ten Besuch abzustatten, wissen, daß er ihn nicht empfangen könne, und der
Unterhändler Frankreichs mußte sich unverrichteter Sache zurückziehen. Haben
die Frauzosen in Kochinchina eine Schlacht von Bedeutung gewonnen, so
wird der Hof von Kambodscha sicher andern Sinnes werden, und eine rasche
Unterwerfung Altans wird die Folge sein.
Wir knüpfen hieran noch einige Nachrichten über das bisher wenig be¬
kannte Land. Dieselben sind auszugsweise dem im vorigen Jahre erschiene¬
nen neuesten Werte über diese Reiche: „Voz^go dans 1'ImIo-L!Inmz xar Louill»
veaux" entnommen. Das Reich Aram hat bei seiner großen Länge nur
im Norden und im Süden eine verhältnißmäßige Breites die übrigen Theile
des Landes sind nirgend breiter als 1Ä deutsche Meilen. Kochinchina bildet
die südliche, Tongking die nördliche Hälfte des Kaisertums. Kochinchina
zerfallt in drei Theile: Ober-, Mittel- und Niederkochinchina. Oberkochin-
china besteht aus drei Provinzen: Knäng Birs, Knäng Tri und Knäng Duk,
wo Hug, die Hauptstadt von ganz Aram liegt. Mittelkochinchma hat sechs Provin¬
zen, von denen wir, um die Leser mit barbarischen Namen zu verschonen, nur die
von Knäng Nenn nennen, da hier der Hafen Turon und der gegenwärtige Kriegs¬
schauplatz sich befindet. Niederkochinchina endlich hat ebenfalls sechs Provinzen.
Tongking ist in elf Provinzen getheilt, und seine Hauptstadt wird ge¬
wohnlich Kecho, d. i. Markt genannt, im höhern Stil heißt sie Tang
Long Tand, d. i. die Stadt des Drachen. Die Provinzen bestehen aus
Fu oder Präsidentschaften, diese aus Huyen oder Kreisen, diese wieder aus
Tong oder Aemtern und diese letztern aus Xa, welche unsern Gemeinden ent¬
sprechen. Einen Adel gibt es in Aram so wenig wie in China. Die vor¬
nehme Welt besteht lediglich aus den zahlreichen Beamten, und dn diese Würde
nicht erblich ist, so geschieht es oft, daß der Sohn eines Mandarins ein armer
Mann wird, während ein Bauernsohn sich durch geistige Gaben oder Intriguen
zu den höchsten Ehren aufschwingt. Sklaven kennt man in Aram nicht, aus¬
genommen die Moi, Wilde der östlichen Gebirge, welche zuweilen in den
Niederungen perkauft werden. Am stärksten bewohnt ist Tongking. dann der
Norden von Kochinchina. Die Regierungsform des Landes ist der Despotis¬
mus, indeß ist der Kaiser oft nur dem Namen nach der absolute Herrscher,
und unter den letzten beiden Kaisern beherrschte der Großmandarin Kue,
Schwiegervater des gegenwärtigen Kaisers, das Land fast ohne alle Controle.
Ober- und Mittelkochinchma haben nur kleine Flüsse. Dagegen wird Tong¬
king von dem großen Fluß Song Ka durchströmt, an welchem die Hauptstadt
Kecho liegt, und Niederkochinchina besitzt außer dem diesen Flusse, welcher in
den vortrefflichen Hafen von Saigong mündet und bis zu der 18 Meilen vom
Meere gelegenen Hauptstadt der Provinz Gladius sür Seeschiffe fahrbar ist,
den gewaltigen Strom Methong, dessen Arme Meeresarmen gleichen, und wel¬
cher einer der größten Ströme Asiens ist. Niederkochinchina ist eine unge¬
heure Ebene, die vortrefflich zum Ackerbau und wegen ihrer zahlreichen Flüsse
und Kanäle auch für den Handelsverkehr besonders geeignet ist. „In der
That," sagt unser französischer Gewährsmann, seine Gedanken verrathend,
„die Europäer würden daraus ein neues Java machen, wenn das Land in
ihren Händen wäre." Das Klima allerdings ist nicht zu loben. Es ist außer¬
ordentlich heiß und zugleich sehr feucht und infolge dessen der Gesundheit
wenig zuträglich. Fieber und Dyssenterie sind zu allen Jahreszeiten an der
Tagesordnung.
Von wilden Thieren, namentlich von Schlangen und Krokodilen wim¬
melt es in Aram. Von letzteren trifft man häusig Exemplare, welche eine
Länge von 15 Schuh haben, und wenn man die Wälder und Wüsten des
Landes zur Zeit der Überschwemmungen durchreist, hört man unablässig das
grausenvolle Gebrüll dieser riesigen Eidechsen, eine Musik, der sich oft noch
die furchtbare Stimme des Königstigers beimischt. Elephanten und Nas¬
hörner sind gleichfalls in Menge in der Wildniß anzutreffen, ebenso Rudel
von wilden Büffeln und Schweinen. An den Gewässern schwärmen zahllose
Pelikane, Storche, Kraniche und Reiher, in den Wäldern Pfauen und an¬
dere Prachtvögel. Außerordentlich lästig sind die weißen Ameisen, welche nur
Steine und Metalle unzcrnngt lassen. Auf den Feldern', welche in der trock¬
nen Jahreszeit — December bis Mai — künstlich bewässert werden müssen,
baut man Reis, Mais, Zuckerrohr, Indigo, Tabak und Baumwolle. Früher
hatte man auch den Kaffecbau versucht, und die Versuche waren gelungen.
Seit aber die Europäer verjagt worden sind, hat man die Pflanzungen ein¬
gehen lassen. In vielen Provinzen beschäftigt man sich mit der Zucht von
Seidcnwürmem, in einigen auch mit dein Pfefferbau. Die Wälder sind reich
an den kostbarsten Hölzern, die Gebirge Tongtmgs, Ober- und Mittel-
kochinchinas enthalten Gold und Eisen, so wie verschiedene schöne Mar-
morarten.
Im Kaiserthum Aram wird der Handel mit dem Ausland fast nur von
chinesischen Dschontcnsührern betrieben. Diese führen Stoffe, eiserne Geräthe.
grobes Porzellan, eingemachte Früchte und Thee ein, und empfangen dafür
Reis, Fische, getrocknetes Fleisch, Felle, Rhinoceroshörner, Seide, Indigo und
verschiedene Droguen. Sie sind dabei stets im Vortheil; denn ohne eine
Spur von Gewissen und Ehrlichkeit verkaufen sie immer mit zu leichten und
taufen sie nie anders als mit zu schweren Gewichten. Die Landesmünze be¬
steht aus Zink oder Silber, Kupfer wird selten, Gold niemals dazu verwen¬
det. Das letztere Metall dient nur zu Schmucksachen für Frauen und Kinder,
zu Tabaks- und Beteldoscn für die Männer. Der Tag wird von den Ana-
mescn in 12 Stunden, das Jahr in 12 Mondmonate eingetheilt. Statt
unsrer Jahrzehnte und Jahrhunderte haben sie Gruppen von 12 und 60 Jahren.
In der Geschichtschreibung indeß rechnen sie nach den Negierungsjahrcn ihrer
Kaiser. Ihr Zahlensystem ist das Decimalsystem, ihre Sprache die chinesische,
die indeß nur von den Gelehrten rein gesprochen wird. Von Gestalt sind die
Anamiten in der Regel klein und untersetzt, ihre Gesichtszüge tragen den mon-
' gotischen Typus, ihre Hautfarbe spielt stark ins Gelbe. Unförmliche Nundung
und Dicke gilt für Schönheit. Männer und Frauen lassen die Haare wachsen.
Die Kleidung des Volkes ist sehr decent und bei beiden Geschlechtern gleich, nur
daß die Männer eine Art Turban von Krepp tragen, während die Frauen stets
banrhäuptig einhergehen. Im Uebrigen ist zu bemerken, daß die Tracht der
chinesischen ähnlich ist, daß nur alte Leute mit Stutzer sich der Sandalen
oder Babuschen bedienen, und daß man sich vom dreißigsten Jahre an den
Bart wachsen laßt, dieser aber gewöhnlich sehr dürftig ausfällt, bekanntlich
eine Eigenschaft aller mongolischen Völker.
Die Reichen und alle Würdenträger leben in Vielweiberei. Die ärmere
und niedrigere Classe begnügt sich mit einer Frau, entschädigt sich aber dadurch,
daß sie häusig mit den Ehehälften wechselt. Außerdem fehlt es hier eben¬
so wenig wie in China an Gelegenheit, sich geschlechtlichen Ausschweifungen
hinzugeben. Die Lebensdauer der Anamiten ist im Allgemeinen nicht sehr
groß. Man begegnet selten Greisen, und ein Mann von fünfzig Jahren hat
in der Regel das Aussehen eines Siebzigers bei uns. Ungesundes Klima,
ungenügende Nahrung und ein träges Leben mögen die Hauptursachen davou
sein. Seit einigen Jahren ist dazu der Gebrauch des Opium gekommen,
der die Lebensdauer seiner Liebhaber noch mehr vermindert. Die am
häufigsten auftretenden Krankheiten sind außer Fiebern und Dyssenterien der
Skorbut, Rheumatismus, Elephantiasis, Aussatz und andere Hautübel. Die
Arzeneien, deren man sich dagegen bedient, werden von chinesischen Händlern
verkauft, sie sind wenig werth, und wenn sie niemals helfen, so schaden sie
meist auch nicht allzu viel. In jedem Hause, welches sich einer guten Lage
erfreut, findet sich ein Künstler, welcher sich den Namen Tai duk, d. i. Doctor
der Medicin beilegt. Die Nebenbuhler der Aerzte sind die Zauberer, die fast
noch mehr Zulauf als jene haben. Man hört sie oft einen großen Theil der
Nacht ihre Zauberlieder an Krankenbetten singen. Sie schlagen dazu das
Tamburin, verrenken sich, springen wie besessen einher, schneiden die grä߬
lichsten Grimassen und lassen sichs überhaupt sauer werden. Dafür wird
ihnen aber auch, wenn der böse Geist aus dem Kranken sährt, allgemeine
Bewunderung. Es ist freilich wahr, oft nimmt der Dämon dabei die arme
Seele des Leidenden mit. Aber was schadet's! „Tai say may hau lam" -—
dieser Zauberer ist doch sehr stark — sagen die Leute und damit hat das
Schauspiel ein Ende.
Die Dörfer und Städte des niedern Landes liegen meist an Flüssen oder
Kanälen, und so bedient man sich der Barken, um Besuche zu machen oder
Geschäfte zu besorgen. Die Wohnungen sind gewöhnlich mit Banmgärtchen
umgeben, in denen man Kokospalmen, Orangen- und Mangobäume und
Bananen erblickt. Die Häuser sind ziemlich einfach: eine Art Hallen, die von
Säulen getragen werden. An den Säulen und Thürpfosten kleben eine Menge
Streifen von gelbem oder rothem Papier, die mit Sprüchen aus den Schrif-
ten chinesischer Philosophen beschrieben sind. Man findet keine mehrstöckigen
Häuser. Das Dach ist mit Stroh, selten mit Ziegeln gedeckt. Die Wände
bestehen aus Planken und Balken, nur die Pagoden haben steinerne Mauern.
Alle Häuser sind voll von lästigen Insekten, und selbst Vornehme tragen deren
in Masse um ihrem Körper mit sich herum. Oesen und Kamine sind unbekannt.
Die Küche ist allenthalben übel bestellt, und ein Europäer bedarf beim
Anblick der Unreinliche'eit, mit der die Speisen zubereitet werden, der Ueber¬
windung, um etwas genießen zu können. Brot, Wein, Milch. Butter sind
Genüsse, auf die man in Aram zu verzichten Hai. Das Morgen. Mittags¬
und Abendessen besteht in Reis, der in Wasser gekocht ist, und den frische,
getrocknete oder gesalzene Fische, bisweilen auch Schweine-, Büffel- oder
Elephantenfleisch als Zugaben begleiten. Als Leckerbissen gelten gewisse Theile
des Krokodils. Seidenwürmer und Eier, in denen'-'das Hühnchen bereits'aus¬
gebildet ist. Auch der fliegende Maki oder Waldteufel (eine Affenart) wird
häusig gegessen, und unser Gewährsmann meint, ein Gericht Makibraten mit
indischem Curry sei durchaus nicht zu verachten. Ein kochinchinesisches Diner
wird in Gefäßen aufgetragen, welche die Gestalt unserer Kaffeetassen haben.
Auf kleinen Schüsselchen bringt man das Fleisch herein, welches stets in win¬
zige Bissen zerschnitten erscheint. Die Mehrzahl der Anamitcn ißt auf dem
Erdboden sitzend. Bornehme bedienen sich dabei eines kleinen runden oder
viereckigen Tisches. Der Gebrauch der Gabeln und Löffel ist unbekannt, man
führt die Speisen wie in China mit Stäbchen von Holz, Elfenbein oder
Ebenholz zum Munde. Während des Essens wird nicht getrunken, vor der
Mahlzeit trinkt man. „um sich Appetit zu machen" einen tüchtigen Schluck
Arak. nach derselben einige Tassen chinesischen Thee. Arme begnügen sich
statt dessen mit warmem Wasser, in das sie Blätter des anamitischen Thees
oder anderer Pflanzen werfen. Kaltes Wasser zu trinken ist sehr uugesuno.
' in den Gebirgen soll es selbst tödtlich wirken.
DieKochinchincsen werden als überaus vergnügungssüchtig beschrieben. Sie
sind leidenschaftliche Hazardspieler und es geschieht oft, daß einer seine Frau,
seine Kinder, ja seine eigne Freiheit im Spiel verliert. Besonders beliebt
sind Wetten bei Hahnenkämpfcn, auch veranstaltet man zu demselben Zweck
Kämpfe einer Art kleiner rother Fische in Glasvasen. Fleißige Arbeiter sind
in Aram die größte Seltenheit. Wer irgend kann, sucht seinen Lebensunter¬
halt durch Kleinhandel. Diebe giebt es unzählige, und jeder muß des Nachts
auf seiner Hut sein, sonst wird ihm der Pfühl unterm Kopfe weggenommen.
Die Polizei des Landes ist auf dem Papier vortrefflich eingerichtet, in
Wirklichkeit ist sie um so schlechter. Jeder Richter ist bestechlich, und unsre
Quelle sagt, nur Einfaltspinsel und arme Leute würden hier zu Lande bestraft,
der größte Schurke gelte als Ehrenmann, wenn er nur den Schein zu be¬
wahren verstände.
Wie in China werden die Eltern von den Kindern mit größter Ehrfurcht
und Rücksicht behandelt. Ein eigenthümlicher Gebrauch dagegen ist. was
Bouilleveaux von der Verehrung sagt, die dem Alter überhaupt erwiesen
wird. Ein Mann, der das fünfzigste Lebensjahr überschritten hat, ist von
allen Frohndiensten und Abgaben befreit; wenn er sich eines Vergehens schul¬
dig macht, so erhält er einen Verweis, aber niemals wird man wagen, ihn
zu strafen. Die Kinder beten zu ihren verstorbenen Eltern wie zu Haus¬
göttern und bringen ihnen Opfer. Dasselbe thun Schüler mit Lehrern, welche
mit Tode abgehen. Die Hochachtung, welche ein Anämie gegen seinen Vater,
seine Mutter und seinen Lehrer an den Tag legt, würde bewundernswerth
sein, wenn sie von Herzen käme, aber sie ist wie die meisten Tugenden dieses
Volkes meist nur Verstellung. Keine Nation scheint sich aus das Heucheln
und Täuschen besser zu verstehen als die cmamitische, und unser Gewährs¬
mann— der fast acht Jahr dort zugebracht hat — ist der Meinung, je freund¬
licher und demüthiger ein Anämie sich einem Fremden nahe, desto sicherer
könnte dieser sein, daß er etwas gegen ihn im Schilde führe. Von aufrich¬
tiger Anhänglichkeit und Treue hätten sie keine Ahnung, hündisch unterwürfig
gegen den, der ihnen mit zweifelloser Gewalt gegenübertrete, würden sie, wenn
das Glück dem Mächtigen den Rücken kehrte, mit um so schamloserer Frech¬
heit und um so hochmütigerer Geberde gegen ihn auftreten, je tiefer vorher
ihre Verbeugungen, je wärmer ihre Versicherungen der Dankbarkeit oder Ehr¬
furcht gewesen seien.
Bouilleveaux schließt seine Schilderung von Land und Leuten mit folgen¬
den Worten:
„Alles wohl erwogen ist das Kaiserreich Aram von den Ländern Asiens
dasjenige, welches sich, wenn es in den Händen der Franzosen wäre, sehr
leicht die christliche Civilisation aneignen würde. (Der Verfasser meint nach
dem Folgenden wol nur die äußere Politur und Dressur dieser Civilisation).
Die Anamiten haben sicher nicht die geistige Kraft, die Energie und den Thä¬
tigkeitstrieb der Europäer, aber sie sind dafür in der Regel auch nicht den
Excessen der Leidenschaft unterworfen, welche bei den Abendländern häufig
ein ungebändigter Sinn begeht. Ihre Sitten sind milder, ich möchte sogar
sagen, anständiger, wenigstens äußerlich, als die der Franzosen. Es kommen
bei uns jeden Tag eine Menge von Nachlässigkeiten und Ungcbührlichkeitcn,
vor, welche in Kochinchina als grobe Verbrechen betrachtet werden würden.
Dennoch darf man diese armen Kinder Altans nicht loben, wenn sie voll
Rücksicht, Artigkeit, Bescheidenheit und selbst Demuth sind; denn in diesem
Lande ist die Demuth eine Tugend des Herkommens, des guten Tons, und
sie sind außerdem Heuchler, Betrüger, Diebe und vor allen Dingen Lügner
in einem Grade, der allen Ausdruck übersteigt."
Die Zeit schweigender Erwartung in der russischen Nation zwischen dem
pariser Frieden und der moskauer Krönung blieb von der Stellungnahme der
russischen Politik zum Auslande nicht unbeyutzt. Graf Orloff, welcher be¬
kanntlich mit unvergleichlicher Gewandtheit eine Scparatverständigung zwischen
dem pariser und Petersburger Hofe erreichte, bevor noch die Friedcnscon-
screnzen der Diplomaten begonnen hatten, trat an die Spitze des kaiserlichen
Cabinets, Fürst Gortschatoff, welcher in Wien jahrelang das Terrain mit
allen Mitteln Nesselrodescher Politik beherrscht hatte und schließlich dennoch
in rascher Wendung derselben entgegentrat, als sie den Fehler machen wollte,
auch da noch den Widerstand fortzusetzen, als Oestreichs äußere Nöthigung zu
einer activen Kricgspolitik stärker geworden war, wie se'in eigner Wille, wäh¬
rend Nußland nicht im Stande gewesen wäre, auch dieses neue Kriegstheater
zu behaupten — dieser Fürst Gortschakoff empfing das Portefeuille des Aeu-
ßern. An die Stelle des greisen Kriegsministers Fürsten Dolgoruki trat aber
nicht sein von der aristokratischen Kriegspartei erhoffter Adjunct Katenin, son¬
dern der als strenger Militärverwalter bekannte General Sukhozanct der Zweite.
Diese drei Ernennungen, welche gleichzeitig im April 1856 erfolgten und zwar so
eilig, daß Graf Orloff noch nicht einmal zurückgekehrt war, sprachen deutlich
genug; sie hießen: Freundschaft mit der in Napoleon des Dritten Persönlichkeit
concentrirten Politik Frankreichs. Fortdauer der unausgcsöhntcn Stellung zu
Oestreich, innere Kräftigung des Armenwesens. Aber auch die Partei der alt¬
russischen Traditionen ward nicht vergessen. Die Kriegspolitik, welche mo¬
mentan in Europa desavouirt war, wurde auf Mittelasien gewiesen. Gleich¬
sam als Bürgschaft dafür, daß die Regierung dort ihre alten Ueberlieferungen
mit neuem Eiser verfolgen werde, ward Katenin zum Generalgouvemeur von
Orenburg und Samarah ernannt, während Murawieff, der Sieger von Kars
und Gcneralstatthalter Kaukasiers, das Obcrcommaudo von Amur erhielt, in¬
dessen Paniutin mit China über Erweiterung des russischen Gebiets bereits
verhandelte.
Die englisch-östreichisch-französische Tripelallianz, welche fast am Tage
jener Petersburger Ernennungen unterzeichnet wurde (16. April), um den März¬
frieden gegen Nußland zu sichern, hinderte im Augenblick ein hastiges Vor¬
schreiten freundschaftlicher Anknüpfungen mit Frankreich. Dagegen gab sie
vortreffliche Gelegenheit, vor Europa zu constatiren, daß Rußlands Kaiser
die Ursachen anerkennt, welche maßgebend gewesen waren für Preußens Fern¬
haltung vom pariser Aprilvertrag, nachdem man ihm bei den Verhandlungen
des Märzfricdens eine zweite Rolle angewiesen hatte. Der Besuch Kaiser
Alexander des Zweiten in Berlin (Mai) sollte zwei Absichten gleichzeitig erfüllen.
Einmal sollte er der Welt sagen, daß Nußland der Stellung nicht fremd war,
welche der deutsche Bund unter preußischer Führung gegen die Ueberzeugungen
der Nation eingehalten hatte; dann sollte er andeuten, daß der Zar. wenn
nöthig, für die Konsequenzen dieser Politik einzustehen entschlossen sei. Der
Eifer, womit die nichtöstreichischen Fürsten Deutschlands dem Rufe zur Ver¬
herrlichung des kaiserlichen Besuches in Berlin folgten, gab der Versammlung
das Aussehn eines demonstrativen (von Nußland, dann von Preußen schon
wahrend des Krieges betriebenen) Fürstencongrcsses so sehr, daß man unmit¬
telbar nachher selbst für gut finden mußte, officiös und officiell die Absicht
zu dementiren, als habe die Demonstration der AprilManz gegolten. Allein
die Demonstration blieb und bezeugte mindestens, daß nicht blos den übrigen
deutschen Höfen, sondern auch dem damaligen Preußen die Innigkeit ihrer
Freundschaftsbeziehungen mit Rußland höher stand, als diejenige mit Oest¬
reich. Die Fortdauer der Jsolirung östreichischer Politik in Deutschland, so
weit sie Nußland betrifft, ward solchermaßen äußerlich als Thatsache hin¬
gestellt.
Ziemlich dieselben Höfe, deren Fürsten sich in Berlin um den Kaiser von
Nußland gruppirt hatten, waren es nun auch, welche zur Krönung nach Mos¬
kau ihre Prinzen von Geblüt abordneten. Alle Großstaaten außer Preußen
begnügten sich mit diplomatischen Vertretungen. Die Wahl der Persönlich¬
keiten für diesen Neprüscntationsact war so lang und ausführlich sogar in
der Presse discutirt worden, daß das russische Cabinet, wenn es das Krö¬
nungsfest zu einem formellen Programm seiner äußeren Politik benutzen mochte,
vollkommene Muße hatte, jedes Wort eines solchen Documents nicht blos der
Zukunft, sondern auch den augenblicklichen Verhältnissen anzupassen. Indem
nun das Circular vom 2. Sept. 185<> an die auswärtigen Vertreter Ru߬
lands noch vor dem Krönungstag (7. Sept.) erlassen wurde, konnte es
zunächst die Form umgehen, seinen Ausgangspunkt vom Krönungsact
selbst zu nehmen. Auf der andern Seite wurde jedoch eine formelle
Hervorhebung desselben aus der Serie sonstiger diplomatischer Actenstücke da¬
durch angedeutet. daß es aus der Krönungsstadt und aus der Zeit des kaiser¬
lichen Aufenthalts in Moskau zum Zweck der Krönung datirt war. Als
Gelegenheit seiner. Kundgebungen ergriff es ferner zwei Streitfragen — die
Einmischung in das neapolitanische Staatsregiment und die Besetzung Grie¬
chenlands —, in denen die Westmächte zwar principiell im Gegensatz zu
Nußland zusammengingen, aber auch in Differenz miteinander über Mittel
und Wege standen. Zugleich war wieder Oestreich in der einen (neapolita¬
nischen) Frage nur formell neutral, in Wahrheit dagegen und durch seine
italienischen Interessen auf eine Zustimmung zur russischen Mißbilligung gegen
die westmüchtliche Jnterventionspolitik gewiesen. Endlich aber mußten alle
Staaten zweiten Ranges, wie auch die Principien ihrer inneren Politik be¬
schaffe» sein mögen, schon darum mit Griechenland und Neapel sympathi-
siren, weil es sich bei beiden jedenfalls um eine Beschränkung ihrer souveränen
Selbstbestimmung durch ein aggressives Verfahren stärkerer Mächte handelte.
Aye diese Umstände faßte jenes Circular genau ins Auge; und indem
man es zusammenhält theils mit der Stellung Rußlands, wie sie durch die
Neugestaltung des Petersburger Cabinets und den berliner Fürstencongreß an¬
gedeutet war, theils mit der Stellung, welche die Prinzen der Mittclstaaten
soeben bei der Kaiserkrönung einzunehmen kamen, erhält es doppelt die Be¬
deutung eines rcalpolitischen Programms. Die beiden speciellen Streitfragen
wegen Griechenland und Neapel waren in dem Augenblick, da Rußland-sein
Circular erließ, an sich kaum danach angethan, eine so entschiedene Kundgebung
zu erfordern. Dagegen erschien allerdings der Moment ganz besonders ge¬
eignet, um sie und alle Mittelstaatcn zu versichern, daß sie gegen etwaige Unbill
von größeren Staaten, wie unter Nikolaus dem Ersten, so unter Alexander dein
Zweiten an Rußland einen Schutzherrn ihrer Souveränetät finden würden. „Ach¬
tung vor dem Recht und der Unabhängigkeit der Regierungen" hieß es, „hätten in
der orientalischen Angelegenheit die Gegner Rußlands zur Parole genommen;"
der pariser Friede habe die Bestimmung gehabt, „den normalen Zustand der
internationalen Beziehungen in Europa wieder herzustellen." Nußland wolle
bei keiner der europäischen Mächte voraussetzen, daß ,,es sich damals nur um
ein passendes Gelegcnheitswort (mot ä'ol'ars cle cireonstaueL) gehandelt habe
und daß jetzt nach beendeten Kampf jeder sich berechtigt glaube, ein seinen
besondern Interessen und Berechnungen beliebiges Verfahren einzuschlagen."
Dennoch sei die Wiederherstellung der normalen Beziehungen, „welche sich
auf die Achtung vor dem Recht und die Unabhängigkeit der Regierungen
gründeten," nicht erfolgt. Zeugniß dafür lege die Fortdauer der grundlos
gewordenen Besetzung des Piräus ab, so wie die ähnliche gegen Neapel
gewendete Drohung. Während in Griechenland das Aufhören der Gegen¬
wart fremder Truppen in Aussicht stehe, sei der König von Neapel
„Gegenstand einer Bedränguug" (l'vdM ä'nun pression) nicht wegen inter¬
nationaler Verhältnisse, sondern ..weil er in Ausübung seiner unbestreitbaren
Souveränetätsrechte seine Unterthanen nach seiner Ueberzeugung regiert."
Weniger als jemals dürfe jetzt grade vergessen werden, daß die Souveräne
ebenbürtig untereinander, und „daß nicht nach dein Flüchenranm des Gebie¬
tes, sondern nach der Heiligkeit der Nechte eines jeden die zwischen ihnen de-
stehenden Beziehungen sich richten." Jede Einwirkung auf die innere souve¬
ränes, welche über den wohlgemeinten Rath hinausgehe, heiße „sich gewalt¬
sam an die Stelle ihrer Autorität setzen" und „das Necht des Stärkeren über
den Schwachen proclamiren." Dies sei die Ansicht des Kaisers, ihr offnes
Bekenntniß in allen Fragen des öffentlichen Rechts sein Princip, um „mit
allen Regierungen in gutem Einverständnis;" zu leben. Das Bündniß derer,
„welche lange Jahre mit uns jene Principien aufrecht erhalten haben, denen
Europa einen mehr als fünfundzwanzigjährigen Frieden verdankte, (— die
sogenannte nordische Allianz —) besteht nicht mehr in alter Unversehrtheit."
Des Kaisers Wille sei diesem Resultat fremd; „die Verhältnisse haben uns
volle Freiheit des Handelns wiedergegeben." Doch „vorzugsweise"
wolle Nußland sich innerlich kräftigen und seine Thätigkeit „nur dann nach
außen wenden, wenn Rußlands positive Interessen es unbedingt for¬
dern." Man werfe Rußland vor, es isolire sich indifferent. Aber „Rußland
schmollt nicht (douclt!), es sammelt sich (so reomiillio)." Immer habe es ge¬
sprochen, wenn dies zur Unterstützung des Rechts nothwendig gewesen sei.
Grade diese „für manche Regierungen schützende und uneigennützige" Handlungs¬
weise sei zu künstlichen Agitationen und zur Anschuldigung „eines Strebens
nach, Gott weiß welcher, Universalherrschast" ausgebeutet worden. „Wir könn¬
ten unser Schweigen durch den Eindruck dieser Erinnerung decken; allein wir
glauben nicht, daß solche Haltung einer Macht geziemt, der die Vorsehung
den Platz in Europa augewiesen hat, welchen Rußland einnimmt." So werde
Nußland auch serner seine Stimme hören lassen,, wo sie „der Sache des Rechts
nützlich sein kann oder wo es die Würde des Kaisers erheischt;" die Anwen¬
dung der „materiellen Kräfte" behalte der Kaiser „seinem freien Ermessen"
vor. „Die Politik unsers erhabenen Gebieters ist eine nationale; sie ist keines¬
wegs egoistisch, und wenn Se. Maj. die Interessen seiner Völker in erste Reihe
stellt, so gibt er doch nicht zu, daß die Wahrung dieser Interessen eine Rechts¬
verletzung anderer beschönigen könne."
Ohne Illusionen betrachtet, erklärt dieses Circular ganz eigentlich die unver¬
änderte Fortsetzung derselben äußern Politik, deren Uebung Alexander der Erste
mit geschickten Formen zur ausgebildetsten Herrschaft gebracht hatte und deren
plumpe Uebergriffe, wie Nikolaus der Erste sie vollführt, durch den orientalischen
Krieg fürderhin hatten unmöglich gemacht werden sollen. Nichts konnte also
den pariser Frieden schneidender und zu größerer Befriedigung der nationalen
Partei kritisiren. als daß der Zar jetzt die von, Europa verfehmte Politik seiner
Vorfahren sogar als Friedensprogramm formulirte. Beim Kaiser sollte die
Entscheidung darüber stehen, was europäisches Recht, was nicht. Die Ein¬
mischung Rußlands in alle internationale Differenzen, mit seiner Stimme, wie
mit seinen Waffen wird vorbehalten, nicht blos, wo es „der Sache des Rechts
nützlich sein kann," sondern auch wo „die Winde des Kaisers" oder noch wo
„Rußlands positive Interessen" es fordern. Das ist: in jedem beliebigen
Falle. Und dies in der beleidigenden Voraussetzung. daß Nußland den
schwächeren Staaten eine unentbehrliche Schlltzmacht sein müsse, gleich als ob
die Politik aller andern Großmächte von vornherein auf die Rechtsverletzung
gegen die kleineren Staaten hinziele. Ja, es wird selbst angedeutet, daß
Rußland, bisher durch langjährige Allianzen zu langmüthiger Rücksichten ge¬
nöthigt, sich nunmehr erst in dem Falle befinde, seine schützende Ausgabe ener¬
gisch durchzuführen, nachdem ihm die Verhältnisse „die volle Freiheit des
Handelns wiedergegeben." Trotzdem dies alles nicht unter Voranstellung des
europäischen, sondern des „nationalen" Standpunktes, welcher deshalb „nicht
egoistisch" sein soll, weil der Zar „nicht zugeben wird, daß die Wahrung dieser
Interessen eine Verletzung der Rechte anderer beschönigen könne."
> Dieses Programm, in dem Moment veröffentlicht, als ganz Europa und
das fernste Asien seine Huldigungen zur Krönung des Zaren darbrachte, mußte
nothwendig bei den zu Moskau versammelten nationalaristokratischen Elemen¬
ten den Eindruck befestigen, daß namentlich diejenigen Staaten, deren Prinzen
um den kaiserlichen Thron geschart waren, das russische Principal auch voll¬
ständig anerkennen. Der Nationalstolz konnte sich daran bis zum Uebermuth
steigern. Eine ernstliche Einsprache und Gegenrede, in gleicher Welse demon¬
strativ wie die russische Erklärung, war überdies unter den augenblicklichen
Verhältnissen nicht zu besorgen. Mit Frankreich war die Einleitung mannig¬
fachster Interessengemeinschaften bereits zu weit vorgeschritten, und Graf Morny
bekanntermaßen dazu beauftragt, dieselben durch neue Vervielfältigungen
(Handels- und Schifsahrtsvertrag) noch fester zu knüpfen. England sah sich
momentan vom chinesischen Krieg und der Wiedereinlebung des europäischen
Friedens gleichzeitig zu sehr in Anspruch genommen, um wegen bloßer Worte
neue Verwicklungen auskommen zu lassen. Oestreich stand bei den sormeljeu
Gelegenheiten des Circulars, bei der griechischen und neapolitanischen An¬
gelegenheit, principiell aus Rußlands Seite, hütete sich also, die Anmaßungen
und Drohungen des Circulars bloßznlegen. In Preußen endlich herrschte die
Manteuffelsche Politik noch unangefochten, deren bedientcnhafte Deferenz für
Rußland jede selbst formelle Rücksicht unnöthig machte. Um aber nicht blos
mit Worten anzudeuten, sondern durch die That reicht genau zu bezeichnen,
nach welchen Seiten im Zarcncabinet kein Gedanke an Aussöhnung vorhan¬
den sei, wurden unter den repräsentierenden Krönuugögästen die Botschafter
Oestreichs und Englands mit nahezu beleidigender Kälte behandelt. Diese
eigenthümliche Demonstration galt als besondere Aufmerksamkeit für die Armee,
in welcher während des ganzen orientalischen Krieges der Wunsch nach einem
Separatfrieden mit Frankreich und nach einem Kampf namentlich mit Oest-
reich selbst unter den Waffen seinen lebhaftesten Ausdruck gefunden hatte.
Rußlands hegemonistische Stellung zu den kleinern Höfen Deutschlands fand
ein Jahr später ihren bezeichnenden Ausdruck in der wiederholten Rundreise des
Kaisers, in seiner Conferenz mit Napoleon zu Stuttgart, in der Verheiratung
des Großfürsten Michael mit einer badischen Prinzessin u. s. w.
Durch das Programm vom 2. September und die dasselbe begleitenden
Erscheinungen ward also schon während der letzten Vorbereitungen zur Krö¬
nung den noch vorhandenen oppositionellen Stimmungen der in Moskau ver¬
sammelten Nationalaristokratie die Schärfe abgestumpft. Mehr an das große
Publicum, dessen loyale Stimmung für die bevorstehenden Fricdensaufgaben
gleichermaßen unentbehrlich wie seine Arbeitskräfte, wendeten sich allerdings
die Gnadeukase, welche am Krönungstag selbst ergingen. Allein zugleich
betrafen wieder einige den Adel vorzugsweise und direct, theils übertrugen
sich die darin gewährten Vortheile aus jenen durch die Zusammengehörigkeit
der Leibeignen mit dem adeligen Grundbesitz und durch die Garantie der Leib-
Herrn für die Staatsleistungen ihrer Unterthanen. Hierher gehört der Erlaß
von Steucrrückständen und Geldstrafen im ungefähren Gesammtbetrag von
zwanzig Millionen Silberrubel; hierher die angeordnete neue Zählung der
von Krieg und Seuchen decimirten Kopfsteuerpflichtigcn. da noch immer diese
Abgabe, für welche die Grundherrn in letzter Instanz zu haften haben, nach
der frühern Zahlung erhoben wurde.*) Daraus floß an sich die Nothwendig¬
keit einer Suspendirung der Rekrutirung wenigstens bis nach Feststellung der
gegenwärtigen Bevölkerungszahl. Daß diese Suspendirung auf vier Jahre
erstreckt wurde, empfand sich im Adel und Volke allerdings als höchste Wohl¬
that nach den Menschenopfern der letzten Jahre und für die Wiederaufnahme
der gewohnten, wie zum festen Beginn der von der Friedenspolitik in Aus¬
sicht gestellten Arbeiten. Aber dem Staate selbst war auch die regelmäßige
Fortsetzung der Rekrutenaushebungen eine zweifache Unmöglichkeit. In einer
Reihe von Gouvernements hatten nämlich schon die letzten Aushebungen weit
unter und über das gesetzmäßige Alter greifen müssen. Außerdem waren dieselben
nach dem Kriegsbedürfnisse bemessen gewesen und hatten für das bedeutend
verringerte Friedensbedürfniß, trotz der großen Menschenverluste, doch immer
noch eine überschüssige Zahl von Soldaten zurückgelassen. Des größten Theils
derselben entledigte sich nun momentan der Staat und Staatsschatz durch Be¬
urlaubung. Dennoch stehen sie ihm jeden Moment zur Verfügung, sobald er
ihrer zur Completirung der im Dienst befindlichen, in ihrer äußern und innern
Reorganisation begriffenen Armee bedarf. In dieser, abweichend von der
frühern Praxis, das sogenannte Cadressustcm herzustellen, ist die jetzige Ab¬
sicht. Der doppelte Zweck der Sparsamkeit, wie der Consolidirung eines fest-
geschulten Armeeternes wäre durch fortgesetzte Rekrutirungen vereitelt worden.
Die suspendirte Rekrutenstellung, welche dem Volke und den ökonomischen Inter¬
essen des Staates so außerordentliche Vortheile gewährt, wurde zugleich vom
Ausland als sicherste Friedensgarantie bejubelt, was sie doch ihrem wahren
Wesen nach durchaus nicht ist.
Noch bleiben die politischen Amnestien zu erwähnen. Der größte Theil
der davon betroffenen Personen gehört wiederum dem Adel an; die wenigsten
von ihnen stehen noch in einem Alter, in welchem sie geneigt sein möchten,
sich abermals in staatsgefährliche Unternehmungen einzulassen; die Strafzeit
aller oder ihr Exil hat lange genug gedauert, um in ihrer Heimath eine voll¬
kommen neue Generation heranwachsen oder doch solche Veränderungen ein¬
treten zu lassen, daß die Zurückgekehrten schwerlich abermals einen Einfluß zu
gewinnen vermögen. Immerhin mag indessen diese politische Amnestie nebst
ihren nachfolgenden Erweiterungen nicht an erster Stelle durch Gebote politi¬
scher Berechnung dictirt, sondern von ungeschminkter Humanität des Herrschers
eingegeben worden sein. Als politisches Moment des neuen NußlandZerschei-
nen sie irrelevant; selbst ihr moralischer Eindruck ist unter russischen Verhält¬
nissen nicht mit dem eines ähnlichen Gnadenactes in Mitteleuropa zu ver¬
gleichen.
Pariser Bilder von E. Copping, Aus dem Englischen. Berlin, Verlag von
I. Springer. 1859.
Dieses kleine Buch widerlegt die Meinung, daß sich über Paris nichts
Neues schreiben läßt. Es enthält namentlich in Betreff der populären Lite¬
ratur und der dramatischen Production der Franzosen eine Menge sehr inter¬
essanter, entweder noch gar nicht, oder doch nur wenig bekannter Thatsachen
und Umstände. Ein sehr hübsches Porträt ist das, welches der Verfasser von
dem wunderlichen Poeten und Apostel Jean Journee, dem seltsamsten unter
den vielen seltsamen Jüngern Fouriers, entwirft. Auch die Beschreibung des
Pariser Nenjahrstags, die Schilderungen aus dem Gehölz von Boulogne und
das Bild der Klippen von Belleville machen dem Talent des Verfassers Ehre.
Wir geben einen Auszug aus dem vierten Capitel.
Bei der Bedeutung, welche die wohlfeile Literatur in Deutschland seit
einigen Jahren erlangt hat, wird es von Interesse sein, aus dem Bericht
des Verfassers zu erfahren, wie dieser Theil des Buchhandels sich in Frank¬
reich ausnimmt. Ein Vergleich zwischen hier und dort wird zeigen, daß
die deutschen Verleger noch mancherlei von den Franzosen lernen können;
in Bezug auf die Wahl dessen aber, was dem Volk geboten wird, hat sich
Deutschland mit der vorzugsweise auf Belehrung ausgehenden Tendenz seiner
billigen Bücher und Blätter vor der Thätigkeit der Franzosen auf diesem Ge¬
biete durchaus nicht zu schämen. —
Es sind nun etwa drei Jahre, als der pariser Verlagshändler Charles
Lahme die erste Nummer eines neuen Wochenblattes herausgab, desgleichen
man in Frankreich vorher nicht kannte. Der Name dieses Wochenblattes, den
es durch den niedrigen Preis und dietverhältnißmäßig große Menge von Stoff
zu verdienenMchte. war „.Inn'lui xour ?on«". Gleich den: populären lon¬
doner Blatte, welchem es in Form und Aussehen nachahmte, bestand es aus
sechzehn enggedrucktcn Seiten, drei Spalten auf der Seite, und enthielt zwei
oder noch mehre Holzschilittillnstrationen. Der Preis klopfte verführerisch an
allen Thüren an. Für zwei Sous, d. h. etwa acht Pfennige, konnte jeder¬
mann ein Exemplar dieses Wochenblattes haben.
Unter der Leitung eines Schriftstellers von hoher Stellung und geachte¬
ten Namen, Mr. Jules Simon, ist das ^ounml pour I'ouL in der That
das populärste und am meisten verbreitete Blatt in Frankreich geworden.
Noch ehe es eine so feste Stellung errungen, waren natürlich Nachahmungen
aufgetreten. Einige begnügten sich damit, dein Beispiel des Herrn Lahure
einfach zu folgen. Andere trieben die Kühnheit so weit, ihn übertreffen
zu wollen.
Wenn ein Wochenblatt zu zwei Sous vermöge seiner Billigkeit einen sol¬
chen Erfolg haben konnte, einen wie viel größeren Erfolg müßte nicht eine
noch billigere Zeitschrift erringen?! Diese Frage mit Ausrufungszeichen legten
sich verschiedene speculative Buchhändler vor. Und um sie zu beantworten,
ließen sie ohne Verzug Drucker, Zeichner und Graveure ans Werk gehen.
Mehre Wochenblätter zu dem fast unglaublichen Preise von einem Sou waren
das Resultat. Diese billigen Zeitschriften haben sich in solcher Weise verviel¬
fältigt, daß sie jetzt zahlreicher sind, als die Organe der täglichen Presse. (Der
Verfasser nennt nun fünfzehn Blätter zum Preise von ein und zwei Sous, von
denen die meisten schon den zweiten, fünf sogar schon den dritten Jahrgang
erlebt haben.)
Die Mehrheit der Publicationen, deren Titel ich eben gegeben habe, ist
von einer Farbe und hat nur ein Ziel. Dies Ziel ist: nmüsiren. Fast all
ihr Naum ist der Novellistik gewidmet, — französischer Novellistik. Ein Blick
auf die Illustrationen — denn fast ein jedes der obigen Journale ist mit Holz¬
schnitten ausgestattet, — wird uns von der Art Literatur eine Idee geben,
welche den Lesern der billigeU pariser Presse am meisten zusagt.
Ich greife eine Nummer des ^ourmü xom-Ions heraus, dieses Erstlings
der billigen Literatur- Gleich auf der ersten Seite ist eine junge Dame mit
langen, wallenden Locken, in einer Art militärischen Reitanzugcs abgebildet.
Man möchte glauben sie schou einmal auf der Bühne gesehen zu haben, etwa
als Tochter des Regiments. In ihrer rechten Hand hält sie ein Schwert.
Mit ihrer linken deutet sie auf eine Hütte, aus der sie eben hervorgetreten zu
sein scheint.
Sie kommen zu spät, sagt dieses Mädchen zu zwei Herren, die sich ihr
nähern, und von denen der eine wie ein Pfarrer, der andere wie ein Wild¬
dieb aussieht; Sie kommen zu spät, ich habe ihn getödtet.
Und in der That ist durch die offene Hüttenthür der Kopf eines schönen
jungen Mannes am Boden zu bemerken. Für einen todten Menschen jedoch
sieht er comfortable genug aus. Es scheint eher als wäre er in Schlaf ge¬
sunken, nachdem er bei irgend einem provinzialen Vefour zu luxuriös gespeist
hatte. Aber es wäre wol Unrecht, wollten wir gegen die Hintergründe von
Holzschnitten eine zu strenge Kritik üben.
Nunmehr ein Pröbchen aus einen: noch billigeren Journale „I^v ?uWv-
'l'cunxs". „Flavia senkt ihren Dolch in seinen Busen bis an den Griff." sagt
die Schrift unter der ersten Illustration. Und wenn Du Deinen Blick hin¬
wendest, wirst Du sicherlich genug Flavia sehen, wie sie in der Mitte eines
gedrängt vollen Salons als Ziel ihres mörderischen Stoßes den Busenstreif
eines prächtig gekleideten Herrn sich erkoren hat. Der aber sinkt in die Arme
eines Freundes, preßt die Hand schmerzlich auf die Brust und scheint grade
auszurufen: „O, der Drache!" Weiterhin in derselben Nummer ist ein an¬
ständig gekleideter Herr von mittleren Jahren abgebildet, wie er eben rück¬
wärts die Steintreppe eines Kellers hinabstürzt. Aus den Stufen dicht über
ihm steht eine klytämnestramäßig aussehende Dame, sehr leicht gekleidet, eine
Lampe in der linken Hand, einen Dolch in der rechten. Aus dem äußerst
unangenehmen Blick, welcher aus ihren Augen hervorbricht, kannst Du ent¬
nehmen, daß sie es war, die den mittelalterlichen Herrn auf eine ebenso schnelle
als unerwünschte Weise in die tieferen Regionen befördert hat.
Und was finden wir in der Illustration des „Diumndm", einer Illu¬
stration, die mit solchem Geist entworfen und so sauber gezeichnet ist, daß
wir uns unwillkürlich fragen, wie es ein Cinsoujomnal möglich machen kann,
ein solches Talent zu beschäftigen — was finden wir, frage ich, in dieser
Illustration? Claude Mouriez, verwundet, stößt einen Verzweiflungsschrei aus.
Das wundert mich nicht. Wären wir, guter Leser, Du oder ich, in seiner
'»
Lage, verlaß Dich drauf, wir würden es ebenso machen. Denn hat nicht
eines Feindes Schwert seinen Körper durch und durch durchbohrt, bis es
wieder unter dem Schulterknochen hervorkommt. Dieser Gegner ist augen¬
scheinlich ein rachsüchtiger Kerl. Ein eisernes Gitter trennt ihn von dem un¬
glücklichen Claude Mouriez und dennoch sticht er zwischen den Eisenstangen
durch nach dem verwundeten Manne mit der wildesten Energie. Möglich,
daß die beiden Herren sich durch das Gitter hindurch duellirt haben, wie etwa
ein Löwe und ein Tiger in der Menagerie des M-am des Mutes sich be- «>
kämpfen würden, wenn man sie darauf dressirte. Sie sehen glatt und civi-
lisirt genug dazu aus, daß man ihnen eine so elegante Schlechtigkeit zutrauen
kann. Ein paar Seiten weiterhin und eine neue Schreckensscene tritt dem
Auge entgegen. Zwei spanische Herren — unzweifelhaft Dorf, das kannst
Du mit einem Blick sehen, — zeigen sich auf einem sinkenden Schiffe, über
welchem die Wogen zusammenschlagen. Das Gesicht des einen drückt wilden
Schrecken aus, gemischt mit schuldbewußter Furcht, das Gesicht des andern
hat das Gepräge ruhiger aber strenger Entschlossenheit. Mit seiner rechten
Hand hält der zweite spanische Herr die linke Faust des ersten spanischen
Herrn, indem er mit dem Zeigefinger seiner unbeschäftigten Hand auf die
wildbrausende See deutet. Don Diego, die Stunde der Strafe ist da!
also erklärt er sich unter der Illustration. Don Diego ist augenscheinlich
dieser Thatsache sich wohl bewußt.
Und was finden wir in diesem niedlichen kleinen Blatte „I/a Loimüno
et<ZL vnkg.ut.8", das so nett gedruckt, so nett illustrirt ist, ein wahres Modell
typographischer Sauberkeit? Die Ermordung des Herzogs von Orleans im
Jahre 1407! Also wieder gewaltsamer Tod. Also schon kleine Knaben und
Mädchen muß man mit Blutfcsten ergötzen. Allerdings hat in diesem Beispiel
die Geschichte den Gegenstand geliefert, aber sicherlich hätte sich eine ange¬
nehmere Seite ihres gehaltreichen Bandes aufschlagen lassen. Sind junge
Gemüther in der Imagination von Blutscenen auch noch ein wenig zurück,
so brauchen sie doch darin nicht grade vom Zeichner und Graveur unterstützt
zu werden. Sie werden es schnell genug von selbst lernen, welcher schwarzer
Thaten die menschliche Natur fähig ist.
Aber laßt uns gegen diese armen kleinen Blättchen nicht zu streng sein.
Ehe wir die ganze Strenge der Kritik aus sie anwenden dürfen, müssen wir
den gegenwärtigen Stand der französischen Romanliteratur überhaupt, den
allgemeinen Ton und die ganze Tendenz der schönwissenschaftlichen Schrift-
stellerei in Rechnung ziehen.
Zugegeben, daß die Literatur der billigen pariser Presse nicht von der
heilsamsten und gesündesten Art sei, so bleibt immer noch die Frage, ob sie
nicht besser sei als gar keine Volksschriften. Ich denke doch. Ein Leser, der
z. B. mit „Neua Sahib oder der indische Mörder" anfängt, mag mit der
Zeit zu Malesherbes oder Pascal hinangeleitet werden. Ungebildete Leser
müssen in den meisten Fällen sehr niedrig anfangen, oder sie werden über¬
haupt nicht anfangen. Versuch es nur, sie von der Geschichte der Biographie
oder Philosophie aus in Bewegung zu setzen und sie werden das Nennen
sofort aufgeben. Nimm aber eine Erdichtung, die ihnen verständlich ist, zum
Ausgangspunkt, und sie werden eine hübsche Strecke im Buche durchmachen
tonnen, ohne sich nur die Zeit zum Athemholen zu lassen. Sollten sie sich
durch diesen Genuß verwöhnen, ja selbst sollten sie nie fähig werden, später¬
hin andern Grund zu betreten, so sind doch ihre geistigen Organe auf jeden
Fall besser dabei weggekommen, als wenn sie sich blos in den eignen schläf¬
rigen Reflexionen langweiliger Muße abgemüht Hütten.(?)
Ich sagte vorher, daß die meisten dieser billigen Publicationen ihren
Raum hauptsächlich der Dichtung widmen. Ich eile hinzuzufügen, daß dies
keineswegs mit allen der Fall ist.
So gibt das „-sourmü i11u8ti'6 ä«8 vo^g-göö ot ach vo^aMurs" Berichte
über Reisen aus alter und moderner Zeit. I^ir »el<me<z poui- 'tous und Ruhe6
lies LcitmeW behandeln in populärer Weise Gegenstände, die ihrem Titel ent¬
sprechen. Das „Aus6« Ilmversel" gibt malerische Schilderungen interessanter
Gegenstände der Natur und Kunst.
Die Verbreitung der billigen pariser Journale ist sehr groß, und nimmt
noch immer zu. Du kannst sehen, wie der Onvricr die wenigen Augenblicke,
seiner Muße, welche dem Mahl im Freien folgen, auf das Ein- oder Zwei-
sousjournal concentrirt, dessen Mitpatron und Anhänger er ist. Du kannst
das Arbeitermädchen Abends voller Spannung, mit ihrer Nummer in der
Hand, dahin eilen sehen, wie sie es nicht erwarten kann, welcher romantische
Zwischenfall ihre Lieblingsheldin aus der Gefahr retten wird, von der sie in
letzter Woche bedroht war. Du kannst den Portier andächtig eine dieser Ge¬
schichten buchstabiren sehen. Sein Gemüth ist so in Anspruch genommen von
dem. was er herausbringt, daß er kaum seine Augen erhebt, um Deine Iden¬
tität festzustellen, während Du an seinein Verschlage vorüber eilst. Branche
ich noch hinzuzufügen, daß Du Materialisten- oder Schlächterburfchen oftmals
ruhig auf der Straße sitzen sehen kannst, die Marktkörbe neben sich, die Jun¬
gen selber in Thränen zerfließend, über irgend eine rührende Geschichte! Son¬
derbare Empfindung das, wenn Du grade gemüthlich aus dem Fenster siehst,
singst, pfeifst und in Ermangelung des erwarteten Kaffees oder der ersehnten
Hammelkeule keine andere Abziehung hast.
Um dieselbe Zeit, als die erste Nummer des Journal xour Jens wurde
auch der erste Band einer ganzen Serie von Werken, unter dem Titel:
lUdliotlrütMv nouvLlIo von Jaccottct. Bourdilliat Co. verlegt.
Der Preis eines solchen Bandes war ein Frank. Für eine so bescheidene
Summe konnte man ein gut gedrucktes Buch von vierhundert Seiten oder
mehr haben, welches dieselbe Masse Stoff enthielt, wie man sonst in zwei
Bänden Octav findet. Die englischen Schillingbüchcr, welche in den legten
Jahren solche Verbreitung fanden, haben augenscheinlich die Anregung zu
diesem Unternehmen geliefert. Aber die Copie ging noch über das Original
hinaus. Die französischen Buchhändler, die ich eben genannt, gaben für
einen Frank sogar noch mehr als die Engländer sür einen Schilling, und
druckten ihre Bücher in klaren leserlichen Typen auf festem und gutem Papier.
Eine Erzählung von Lamartine „Qvn«ol6ve on l'ltistoii'u et'uno Lvrvlmw"
war das erste Werk, das sie auf diese Weise Herausgaben. Werke von Georges
Sand, Balzac, und Souli6 folgten. In sehr kurzer Zeit erwarb sich die ln-
dliottweine ironvullo einen bedeutenden Namen bei dem französischen Lese-
publicum.
Um die Billigkeit dieser Lieferungen vollständig zu würdigen, muß man
den Preis kennen,, zu welchem französische Romane bei ihrer ersten Ausgabe
bis dahin verkauft zu werden pflegten.
Die meisten französischen Novellen erscheinen, wie ich schon bemerkt habe,
ursprünglich in den Feuilletons der Tagesblätter, und eine große Anzahl von
Lesern lernt sie nur auf diesem Wege kennen. Andere Leser aber, denen es
langweilig ist, die Novelle stückweise zu lesen, warten bis sie vollständig er¬
schienen ist, um sie dann entweder zu kaufen oder aus der Bibliothek zu
leihen. Für die Leihbibliotheken wird sogar eine eigne Ausgabe unter der
Bezeichnung „^onrurt alö (ura'not, 60 Je-etui/v" gedruckt. Bei dieser herrscht
das entgegengesetzte Princip von dein der populären Ausgaben. Während
bei letzterem möglichst viel Stoff in einem verhältnißmäßig engen Raum con-
centrirt wird, sucht jenes mit möglichst wenig Stoff möglichst viele Bände zu
erzielen, so daß es fast gar keine Werke unter zwei Bänden kennt. Die mei¬
sten aber sind zu der dreifachen Zahl ausgereckt. So füllt z. B. die „Lon-
d«WL cke IwclolstinU" von Georges Sand fünf Bände, die berühmte „<^c>n-
nicht weniger als acht, die „Ilistvire! alö nur, vio" von derselben Verfasserin
sogar zwanzig! Vor allem aber sind es die Werke von „Mr. Alexander Du¬
mas", welche den Preis bei diesem typographischen Auseinanderrennen davon
tragen. Der „noire-o em/isto" besteht aus achtzehn Bänden. Vievmto co
LrirMlomw" aus sechsundzwanzig, die „UvnioireK ä'un nMocin" aus neun¬
undzwanzig Bänden.
Die Kostspieligkeit einer solchen Ausgabe kann daraus entnommen wer¬
den, daß der Preis eines jeden Bandes für die Eigenthümer der Bibliotheken
Fr. und für das Publicum im Allgemeinen V/2 Fr. beträgt. Freilich
begnügen sich die meisten Leute damit, sie zu borgen. Wollte sich ein Privat-
manu die vollständigen Werke der bedeutendsten französischen Novellenschreiber
in der Cabinet de Lecturesorm aufstellen, so müßte er über Räumlichkeiten
wie die kaiserliche Bibliothek gebieten. Da jeder Band der LidliotKö^us nou-
velle den Stoff von zwei gewöhnlichen Cabinet de Lecturebänden enthält, so
geben folglich die Herren Jaccottet Co. für einen Franken, was bis dahin
fünfzehn gekostet hatte. Man kann jetzt das Werk ungefähr für dasselbe Geld
kaufen, was man früher für das Borgen zu bezahlen hatte.
Der glückliche Erfolg, welchen der Versuch der Herren Jaccottet Co.
gehabt hat, hat eine andere pariser Verlagssirma, Michel Leop Co., an¬
geregt, eine Concurrenzausgabe zu demselben Preise zu bewerkstelligen. Wenn
ich beide vergleichen soll, so glaube ich verdient die spätere den Vorzug; sie
hat ein gediegeneres Ansehen, das Papier ist stärker, der Druck dem Auge
angenehmer. Beide Ausgaben jedoch verdienen Muster von eleganter Billig¬
keit genannt zu werden. Ich brauche kaum zu bemerken, daß die darin ge¬
gebenen Werke der Regel nach Wiederabdrücke, nicht Originalproductionen
sind. In einzelnen Füllen haben allerdings die Herren Jaccottet Co. No¬
vellen direct aus dem Feuilleton in ihre Sammlung aufgenommen, so z. B.
den Danielo von Georges Sand, doch kommt dies selten vor. Es mag
sonderbar erscheinen, — aber diejenigen Leser, welche die Leihbibliotheken fre-
qucntiren, haben sich so sehr an die für sie einmal bestimmte Ausgabe ge¬
wohnt, daß sie die billigen Eindringlinge gar nicht mögen. So weitläufig
gedruckte Seiten,- wie jene aus troi» NouLcmotairtZs, sind sicherlich für
das Auge weniger ermüdend als der compresse Satz der Lililivtllöquv iwu-
volle. Dies erklärt wol jene Abneigung; außerdem sehe ich keinen Grund,
warum die Ncmvires nu äiadlv zu einem Frank nicht ebenso teuflisch sein
sollten, wie die zu fünfzehn.
Nachdem ich so die Ausgaben der I^idr^ni« nouv«I1(! und der Herren
Michel Levy Co. hervorgehoben, muß ich noch bemerken, daß lange vor
ihnen etwas Aehnliches schon in den herrlichen Wiederabdrücken der Herren
Charpentier und der Herren Firmin Didot Co. geleistet worden war. Die
Collection Charpentier, den meisten französischen Lesern wol bekannt, besteht
aus einer großen Anzahl Werken in Duodez, den Band von 4 bis 500 Seiten
zu 31/, Franken. In dieser Sammlung hat die neuere und leichtere Literatur
jedoch wenig Platz gesunden. Die aufgenommenen Werke sind fast lauter
Classiker. Es kann nicht meine Aufgabe sein, hier Mr. Charpentiers Katalog
abzudrucken, aber ich kann in wenigen Zeilen eine Vorstellung von seinem
Inhalt geben. Da findet man: Rabelais, Malesherbe, Racine, Boileau, La
Bruyöre, Pascal, Vossuet. Madame de S6vign6. Le Sage, den Abt>6 Pr6-
post. Marivaux, Rousseau, Chönier :c., neben ihnen ausgezeichnete fremde
Schriftsteller. So besteht die Abtheilung LibUotQö<Me k'i-veiuL-ü'iweiZ.iLL aus
Uebersetzungen des Homer, Aristophanes. Aeschylus, Euripides, Sophokles,
Herodot, Thucydides, Z'enophon, Plato u. s. w. Die Sammlung enthält
auch die berühmtesten lateinischen Schriftsteller, und einige erlesene Werke der
deutschen, italienischen und englischen Literatur. Der Liebhaber leichter Lite¬
ratur wird also zu Jaccottet und Levy gehen; wer sich mit ernsthafter'Lec-
ture beschäftigt, zu Charpentier.
Die billigen Ausgaben der Herren Firmin Didot Co. stehen mit der ob-
genannten Sammlung auf gleicher Stufe. Für drei Franken bekommt man
ein tüchtiges Buch von fünf oder sechshundert enggedruckten Seiten, vielleicht
ein bischen zu eng und in etwas zu kleinen, aber sehr klaren Typen gesetzt.
Die Herren Didot widmen ihre billige Sammlung fast gänzlich classischen
Autoren. Sie enthält die Werke von Moliüre, Beaumarchais, Chateau¬
briand, Bernardin de Senne-Pierre, Buffon, Diderot, F<in6lon, Regnard, Pas-
quier, Pascal, Montesquieu, Madame de Staöl, Voltaire :c., nebst mehren
jener Schriftsteller, die ich oben unter der Sammlung Charpentier ausgeführt
habe. Viele der Dreifrankenbände von Didot sind in den Läden für die
Hälfte zu haben, hingegen sind manche von Charpentier schon ganz aus dem
Handel.
Mein Capitel über die billige Literatur von Paris würde, ohne einige
Worte über den Handel mit alten Büchern, unvollständig bleiben. Es ist
dies ein Handel, in Betreff dessen die französische Hauptstadt schon lange be¬
rühmt ist. Die Büchertrödler oder Bouquinisten. wie sie hier» genannt werden,
schlagen ihr Lager an den Bollwerken auf, welche beide Seiten der Seine
während ihres Laufes durch die Stadt stundenweit eindämmen. Die Brust¬
wehr, welche den Bürgersteig gegen den Fluß zu schützt, dient ihnen als Laden¬
tisch. Auf diesen stellen sie die offnen Kisten, oft zwanzig, dreißig nebenein¬
ander, in denen ihre Waaren enthalten sind. An jeder Kiste ist gewöhnlich ein
Zettel befestigt, der Stück für Stück den Preis ihres Inhalts angibt. Zwischen
gut und schlecht, zwischen vollständigen und unvollständigen Büchern wird
kein Unterschied mehr gemacht — was darin ist, ist zu einem und demselben
Preise zu haben. So müssen sich denn Bücher zuletzt derselben Behandlung
unterziehen, wie wir sie an Eiern, und Aepfeln gewöhnt sind.
Dabei drängt sich mir die Bemerkung aus, welch eigenthümlichen Contrast
dieses demüthige Verfahren zu dem berechtigten Stolze so manchen Schrift¬
stellers bildet, dessen Werke davon betroffen werden. Werke, die einst berühmt
waren, — Werke, die als sie zuerst aus des Druckers und Buchhändlers Hän¬
den kamen, nur von wohlgefüllten Börsen erworben werden konnten, kann
man hier für fünf oder zehn Sous haben. Für wenige Franken, glaube ich,
könntest Du manches Mal auf den pariser Bollwerken die Literatur eines gan¬
zen Volkes, die Gelehrsamkeit einer ganzen Aera zu kaufen bekommen. Du
... .Lotte «»l»<1j»ni«>
könntest vielleicht eine ganze Wagenladung Bücher zu demselben Preise haben,
wie eine Wagenladung Kartoffeln, ohne daß darum Theurung im Lande zu
herrschen braucht.
Allerdings darfst Du nicht wählerisch sein. Wenn Du grade auf ein
bestimmtes Buch aufgehst, so schwankt das Zünglein der Billigkeit sehr zu
Deinen Ungunsten. Der Trödler wird sich dann Deinen Appetit zu Nutze
machen. Manchmal jedoch lassen sich unter diesem Chaos wirklich kostbare
Sachen, selten gewordene Ausgaben und dergleichen mehr von eifrigen Bücher¬
würmern entdecken und im schweigsamen Triumph für wenig Groschen davon¬
tragen.
Der Belauf der Geschäfte, die durch diese Büchertrödler vermittelt wer¬
den, kann nicht unbedeutend sein. M. A. de Fontaine de Ncsbccq. der Ver¬
fasser eines kleinen Buches über die Boulevards von Paris, gibt einige inter¬
essante Zahlen über unseren Gegenstand. Ein echter Bücherwurm, wie er ist,
spaziert er sehr häusig an der Uferseite der Bollwerke, wo die Trödcllager sich
befinden, um unter ihrem Wust nach literarischen Goldkörnern zu graben.
Einmal, — so erzählt er — sing es zu regnen an. da er die Region seiner
Bergwerke eben erreicht hatte. Mit einer spaßhaften Hast, die sie stets unter
ähnlichen Umständen entfalten, deckten die Trödler sogleich ihre Schätze zu.
Unser Bibliophile ging mithin der angenehmen Beschäftigung, auf die er ge¬
rechnet hatte, verlustig, wußte sich aber zu entschädigen. Der Regenschauer
war nicht heftig genug, um einen tüchtigen Fußgänger außer. Fassung zu
bringen. Konnte er für heute keine tiefere Einsicht nehmen (in die Kisten
nämlich), so wollte er dafür eine um so allgemeinere Uebersicht gewinnen.
Auf und ab wanderte er daher die ganze Länge der Bollwerke, so weit Bnch-
trödlcr stehen, zählte mit heroischer Geduld nicht blos die Zahl dieser Händler,
sondern auch die der Bücherkisten und wußte sich durch spätere Nachfragen
weitere statistische Data über diesen Gegenstand zu verschaffen. Manche dieser
Data sind Nicht uninteressant. Wir erfahren, daß überhaupt etwa siebzig
Buchtrödler an den Bollwerken ausstehen; die Gesammtzahl von Bänden, die
sie für gewöhnlich feilhalten, beträgt ohngefähr 70.000. Die Zahl von Bän¬
den, die jeden Tag verkauft werden, schwankt von 12 zu 1500, der Durch¬
schnittspreis eines Bandes ist ein Frank. Es ergibt sich daraus ein jährlicher
Gesammtumsatz von circa 400,000 Franken.
Die wichtige Aufgabe unserer gegenwärtigen Landesvertretung, durch gründliches
Eingehn auf einzelne Beschwerden und Petitionen eine künftige Revision der Gesetz¬
gebung vorzubereiten, wird nicht selten durch die Zudringlichkeit unberechtigter Willens-
Meinungen verkümmert; es wäre ein vorläufiger RcdactionsauSschuß zu wünschen,
der alles Angehörige in eine große Masse würfe, und durch systematische Gruppirung
des Zusammengehörigen dem Pctitionsausschuß selbst und namentlich dem Landtag
die Sache erleichterte, da die Zeit desselben doch dem ganzen Lande kostbar sein
muß. Ueber Erwarten hinaus wird dasselbe schon in dieser Session an der orga¬
nischen Gesetzgebung betheiligt. Abgesehen von dem Budget, sind ihm zunächst zwei
wichtige, tief in das innere Leben des Volks eingreifende legislative Entwürfe vor¬
gelegt: in Bezug aus die Civilehe und auf die Umlegung der Grundsteuer.
Was den letzteren betrifft, so versteht es sich von selbst, daß wir bei einem so
gründlich durchdachten Werk, das ein specielleres Eingehen erfordert, uns jeder vor¬
läufigen Bemerkung enthalten; auf die Bedenken gegen das Princip der Entschädi¬
gung der bisher stcucrsrcien Güter durch ein Capital, das der Staat aufbringt —
d. h. durch eine gemeinsame Besteuerung aller — hat der Finanzminister selbst in
seinen Motiven aufmerksam gemacht.
Der von dem Cultusminister eingebrachte Gesetzvorschlag über die Civilehe ist
gegen die bisherige Praxis ein entschiedener Fortschritt, aber wir können uns nicht
verhehlen, daß er durch zu ängstliche, nach allen Seiten hin gerichtete Bedenken etwas
Unfertiges und Unzusammcnhängendcs erhalten hat. scho/n die Fassung hat etwas
Wunderliches, und da die in den Motiven ausgeführten Grundsätze — die Noth¬
wendigkeit einerseits, dem Staatsgesetz Wirksamkeit zu verschaffen gegen den üblen
Willen der Kirche, ohne die Freiheit derselben zu beschränken; der Wunsch anderer¬
seits, die kirchliche Form der Ehe als die regelmäßige festzuhalten — vollständig
den unsrigen entsprechen, so wundern wir uns, wie der Gesetzentwurf zu einem der
Erwartung so sehr entgegenlaufenden Schluß hat kommen können. Leider hat eine
von der Kreuzzeitung fortwährend colportirtc Redensart den Gesetzgeber, der mit
Recht auch den Vorurtheilen des Publicums Rechnung zu tragen entschlossen war,
ängstlich gemacht: die Redensart, durch den Zwang der Civilehe werde das Gewissen
der Gläubigen verletzt. Daß diese vollkommen sinnlose Redensart auch in gebildeten
Kreisen Eingang gefunden hat, begreift sich nur daraus, daß jede unermüdliche
Wiederholung ihr Stück durchsetzt. Es wäre allen beteiligten Parteien, dem Staat,
der Kirche und dem Publicum durch folgende Fassung des Gesetzes Genüge gethan:
die Ehe erhält für den Staat rechtliche Geltung durch Einzeichnung in die Civil-
rcgistcr vor Gericht. Diese Einzeichnung erfolgt, falls eine kirchliche Einsegnung
stattgefunden hat, durch einfache,, vom Pfarrer bescheinigte Anmeldung; im andern
Fall aus Grund des Verfahrens, wie es in dem Gesetzentwurf vorgesehn ist. —
Wenn sich durch diese Form des Civilchezwarigs irgend ein zartes Gewissen verletzt
fühlte, so könnte es ebenso gut durch die Art und Weise verletzt werden, wie man
irgend eine Hypothek einträgt.
Noch immer wird die Aufmerksamkeit von den innern Angelegenheiten durch
die fortdauernde Drohung eines allgemeinen Kriegs abgelenkt. Wenn wir alle Ur¬
sache haben, mit dem Verhalten der preußischen Regierung und dem Verhalten der
preußischen Landesvertretung (d. h. dem Schweigen) einverstanden zu sein, so scheint
es uns um so nöthiger, die öffentliche Meinung in Deutschland, die in großer Ge¬
fahr schwebt, aus den edelsten Motiven sich in eine falsche Bahn zu verlieren, an
den realen Thatbestand zu erinnern.
Es ist uns nicht bekannt, was die Regierungen der deutschen kleinern und
Mittclstaatcn auf die östreichische Circulardcpcschc geantwortet haben; die Antwort
scheint nicht ganz dem Wunsch des wiener Cabinets zu entsprechen, d. h. sie enthält
nicht, daß man unter allen Umständen auf ganz Deutschland rechnen kann.
Desto bezeichnender sind die Anträge, die von den Führern der Opposition,
namentlich in Baiern und Hannover, gestellt und von den gcscunmten Kammern
angenommen sind; weniger durch ihren Inhalt (Verbot der Pferdeausfuhr) als durch
ihre Motive. Wir haben die Rede des Herrn v. Lerchenfeld mit starrer Verwun¬
derung gelesen. Zuerst spricht er freilich von der Möglichkeit, den Krieg zu vermei¬
den: „wenn ganz Deutschland energisch und entschieden erkläre, welche Partei es
beim Friedensbruch ergreifen werde," dann aber folgen Phantasien im Ton des
Beckerschen Nhcinliedcs: „der Krieg sei kaum vermeidlich; allein je länger er dauern
und je blutiger er sein würde, desto sicherer und größer würde sein Erfolg fein;
Deutschland würde daraus ebenso stark nach außen als einig nach innen hervorgehen.
Der Krieg möge blutig werden und wahrscheinlich würde ihn Deutschland allein
führen, aber dann auch allein den Frieden machen, und nicht eher ruhen, bis der
Feind völlig gedemüthigt und in die Unmöglichkeit versetzt sei, den Frieden von
Europa ferner zu stören."
Wenn Georg Herwegh den König von Preußen aufforderte, sein Volk aus den
Städten ins Lager zu führen, gleichviel ob gegen Rußland oder gegen Frankreich,
so sagte man sich, es ist ein junger Hitzkopf und ein lyrischer Dichter; hier aber
redet ein Staatsmann, der Führer einer mächtigen Partei und unter dem lauten
Beifall einer politischen Körperschaft, nicht in der Hitze des Augenblicks, sondern nach
reiflicher Ueberlegung in einem Ton, daß jene lyrischen Kriegsgelüstc dagegen
wie bescheidene Stoßseufzer aussehen. Noch einmal, das edle Motiv verkennen wir
keinen Augenblick, es ist sehr gut, daß grade in Bayern jedem etwa aufsteigenden
Nheinbundgelüst von vornherein so scharf als möglich entgegengetreten wird. Aber
das hätte doch geschehen können ohne in den Ton des braunschwciger Manifestes
von 1792 zu fallen. Der Gedanke ist wirklich so ungeheuerlich, daß man sich erst
einige Zeit nehmen muß, ihn vollständig auszudenken. Also wir sollen einen Krieg
gegen Frankreich unternehmen, einen langen und blutigen Krieg mit dem bestimm¬
ten Vorsatz, ihn nicht eher zu endigen, bis Kaiser Napoleon vollständig gedemüthigt
und unschädlich gemacht ist.
Sonst war doch immer bei jedem Kriegsunternehmen irgend ein bestimmter
Positiver Zweck vorhanden, man wollte etwas gewinnen, das der Gegner verweigerte.
Wenn Herr von Girardin an diese alte Praxis neuerdings wieder erinnert hat, so
war dies vollkommen zeitgemäß. Wir aber sollen Frankreich mit einem blutigen
Krieg bedrohen, weil der Kaiser Napoleon bei der Neujahrsgratulation den Herrn
von Hühner unhöflich behandelt hat. Denn weiter ist, so viel wir wissen, noch nichts
vorgefallen. Es sind zwar in Paris sehr wunderliche Broschüren erschienen, man
rüstet sich von verschiedenen Seiten, aber bisher ist noch gar nicht deutlich geworden,
worüber die Gegner eigentlich uneinig sind, und anstatt sie zum Worte kommen zu
lassen und ruhig anzuhören, wer von ihnen recht hat, sollen wir die französische
Nation durch ein furchtbares Kriegsgeschrei einschüchtern. Die Sache ist gar nicht
ungefährlich; denn ein solches Verfahren könnte leicht die entgegengesetzte Wirkung
haben. In diesem Augenblick ist die Idee des Krieges in Frankreich entschieden un¬
populär, aber wenn die Franzosen uns plötzlich in eine unmotivirte Berserkerwuth
gerathen sehn, unmotivirt, weil uns niemand bedroht, so könnten sie leicht davon
angesteckt werden und den nicht wenig bcisallslüstcrncn Kaiser veranlassen, seine Auf¬
merksamkeit vom Po auf den Rhein zu wenden, und dann finge der sinnloseste Krieg
an, der bisher in der Weltgeschichte geführt worden ist, ein Krieg ohne allen Zweck,
der aber die Civilisation um ein halbes Jahrhundert zurückbringen würde.
Statt dessen scheint es uns vielmehr die Aufgabe Deutschlands, in dem vor¬
liegenden Stadium möglichst für die Erhaltung des Friedens zu wirken. Die Auf¬
gabe ist jetzt leichter als vor einigen Wochen, weil die Frage anfängt von allgemei¬
nen Redensarten zu bestimmten Formen überzugehn. Frankreich und Sardinien
begehren nicht mehr eine Aufhebung der wiener Verträge, sondern eine Revision der
italienischen Zustände, so weit sie nach ihrer Ansicht den wiener Verträgen wider¬
sprechen. Es widerspricht nach ihrer Ansicht den wiener Verträgen, daß Oest¬
reich jede Mißregicrung in Italien durch bewaffnete Intervention unterstützt und sie
fordern Oestreich auf, diesem unhaltbaren Zustand ein Ende zu machen. Diese An¬
sicht von der Tragweite der wiener Verträge kann richtig oder falsch, die Zumuthung
an Oestreich kann verständig oder unverständig sein, jedenfalls qualificirt sie sich zu
einer diplomatischen Unterhandlung; Preußen und England haben vollkommen richtig
ihre Ausgabe begriffen, in dieser Unterhandlung die Vermitteler zu spielen, und durch
die neuste Erklärung des Papstes, sein Thron stehe so fest, daß er sowol der fran¬
zösischen als der östreichischen Hilfe entbehren könne, ist ohnehin dem Streit wenig¬
stens vorläufig die Spitze abgebrochen.
Wenn es nun aufrichtig unser Wunsch ist, zur Erhaltung des Friedens beizu¬
tragen, so wäre es das allerschlechteste Mittel, laut und lärmend zu erklären, Oestreich
könne unter allen Umständen auf unsere Beihilfe rechnen, gleichviel ob es im Recht
oder im Unrecht sei. Grade durch eine solche Erklärung würde der Krieg unver¬
meidlich werden; denn Oestreich würde dadurch in die Lage versetzt, jede Anforderung,
auch die gerechteste zurückzuweisen. Deutschland würde nicht blos Schuld daran
sein, daß ein wirklich unhaltbarer Zustand sich firirt, sondern es würde selbst zu
eiuer östreichischen Provinz hernbsinkcn, und ohne das Recht zu haben, irgend wie
auf die Politik Oestreichs einzuwirken, würde es gewissermaßen eine Lehnspflicht über
sich nehmen.
Hoffentlich faßt man in Preußen die Lage anders auf und ist auch für den
traurigen Fall, daß es wirklich zum Kriege kommt und daß Deutschland sich der
Theilnahme an demselben nicht entziehn sollte, fest entschlossen, diesen Krieg nur im
eigenen und im Interesse Deutschlands, nur zur Erreichung bestimmter positiver
Zwecke zu führen. Denn wenn dieser furchtbare Krieg losbrechen sollte, so ist die
Katastrophe gekommen, wo es sich wirklich um eine Revision der wiener Verträge,
jener verhängnißvollen Verträge handelt, ja um eine Revision der Karte von Europa.
So schwer die Schuld eines solches Krieges auf den ersten Urheber drücken würde-
sür die Fortdauer der italienischen Regierungen werden wir unser Gut und Blut
Reisen des Johannes Schiltpcrger. Zum ersten Male nach der gleich¬
zeitigen Heidelberger Handschrift herausgegeben und erläutert von K. Fr. Neumann.
Mit Zusätzen von Fallmerayer und Hammer-Purgstall. — München, 1856. — Johannes
Schiltpcrger war ein baierischer Edelmann, der, in der Schlacht bei Nikopolis von
den Türken gefangen, als Sklave unter wechselnden Schicksalen einen großen Theil
Asiens durchwanderte. Seine Reisen fallen in die Jahre 1394 bis 1427, er lebte
eine Zeit lang am Hofe Bajasids in Kleinasien, sah den Sturz dieses Fürsten, folgte
dem schrecklichen Mongolenchan Timur auf seinen Zügen, war bald in Kleinasien,
bald in Persien und Mesopotamien und wurde selbst nach Sibirien verschlagen.
Zuletzt nach Armenien gelangt, glückte es ihn: endlich zu entfliehen, und so kam er
über Konstantinopel, die Donauländer und Galizien in die Heimath zurück, wo Her¬
zog Albrecht der Dritte den Viclgcwnndertcn in seine Nähe zog und zu seinem Kümmer¬
ling machte. Was er gesehen und erlebt, beschreibt er, naiv wie sein Zeitalter, in
treuherziger, allenthalben den Stempel der Wahrhaftigkeit tragender Sprache. Der
Herausgeber hat dem kleinen Buch eine ausführliche, lesenswerthe Einleitung voraus¬
geschickt und dasselbe mit Erläuterungen begleitet, welche bei den mannigfachen
Dunkelheiten des Textes allerdings nothwendig waren. Wir bemerken hierzu, daß
Prof. Neumann zu gleicher Zeit eine, wie uns scheint, bcherzigenswerthe Denkschrift
„Ueber die Ereignisse in Ostasien und die Nothwendigkeit deutscher
Handelsverträge mit Sieur, China und Japan" veröffentlicht hat. Aus
der Zahl der fremden Schiffe, welche im Herbst 1858 in den chinesischen Häfen
lagen (es waren 1440, worunter 696 englische, 236 nordamerikanische, 180 deutsche,
117 holländische, 90 Siamesische, die übrigen 121 vertheilen sich unter Spanien,
Frankreich, Dänemark, Schweden, Chile, Neugranada und Peru) erhellt, daß Deutsch¬
land bei dem auswärtigen Verkehr des Mitlclrciches, soweit er durch fremde Schiffe
vermittelt wird, den dritten Rang einnimmt und seine Betheiligung 12V- Procent
beträgt. Der Versasser meint, hätten wir erst eine vertragsmäßige Stellung zu
den ostasiatischen Reichen gewonnen, so würde dieser Verkehr im großartigsten Ma߬
stab zunehmen, und überdies würde die in solcher Weise erstarkte und vermehrte
deutsche Handelsflotte die sicherste Grundlage zur Kriegsmarine bilden, welche nicht
fehlen dürfe, solle unser Vaterland im europäischen und Weltstaatcnsystem die ihm
gebührende Machtstellung erringen. —
Natur und Menschenwelt. Eine Darstellung der Lebenserscheinungen und
Gesetze im Reiche der Natur und des Geistes. Bearbeitet von E. Süßkind. —
Stuttgart, Hoffmannsche Verlagsbuchhandlung. 1858. — Eine auf das Bedürfniß
der reiferen Jugend berechnete Zusammenstellung des Wissenswürdigstcn aus den
Gebieten der Astronomie, der Geologie, Geographie, Botanik, Zoologie, Psychologie
und Ethnographie, über 600 Seiten gr. 8 stark. Ueber Verschiedenes im zweiten
Theil, namentlich über seine Anwendung der Phrenologie („das Sprachtalent hat
sein Organ an dem vordern Untertheil des vorder» Gchirnlappens" u. s. w.) wird
man sich voni Verfasser Beweise auskitten dürfen, dagegen ist der erste Theil eine
verständige Compilation der neuesten Ergebnisse auf dem Felde der genannten Wis¬
senschaften. Die beigegebenen Illustrationen, großentheils gefärbt, sind in jeder
Hinsicht eine Zierde des Buches. —
Das Mittelmeer. Eine Darstellung seiner physischen Geographie, nebst
geographischen, historischen und nautischen Untersuchungen, mit Benutzung von
Nearadmiral Smyths Mcditcrranean. Von Dr. C. Böttger. K. bis 8. Lieferung.
— Leipzig, Verlag von G. Mayer. 1858. —Wir haben wiederholt auf die Gründlich¬
keit und Gediegenheit dieser Monographie hingewiesen und können hier bei den
Schlußlicferungen desselben dieses Lob nur wiederholen. Das Mittelmeer wird bei
der Lösung der wichtigsten Fragen der europäischen Politik, der türkisch-russischen,
der ägyptischen, der italienischen Hauptschauplatz der Ereignisse sein, es wird sich
vielleicht hier entscheiden, ob England seine Rolle als mccrbchcrrschende Macht auf
die Dauer behaupten kann; an das Mittelmeer endlich knüpft sich zum guten
Theil die Antwort auf die Frage, ob der Lcssepsschc Suezkanal ausführbar ist.
Indem der Verfasser alle diese Punkte mehr oder minder ausführlich behandelt, ist
sein Buch auch für den Nichtgevgraphen von Werth und Wichtigkeit. Die beige¬
gebenen Kärtchen sind auch in den letzten Lieferungen gut ausgeführt. Doch läßt
die Uebersichtskartc der Seclinien zu wünschen übrig, indem z. B. bei den Dcnnpfer-
linicn des östreichischen Lloyd mehre bedeutende Stationen, unter andern die von
Cephalonia, die von Volo in Thessalien und die drei an der Küste von Candia
gar nicht, die spanischen ebenfalls nicht und die von Trieft nach Aegypten falsch
verzeichnet sind. —
Reisefrüchte aus 1 857 und 1 858. Von Woldemar Seyffarth. — Leipzig,
Verlag von L. Wiedemann, 1859. — Der Verfasser schildert, was er in Stuttgart
bei der Kaiserzusammenkunft, in Biarritz, Bayonne, Pan und an der spanischen
Grenze sah. Leider ist er, wie in frühern Redeschriften, fast immer zu sehr mit
sich selbst beschäftigt, um alles zu sehen, was er sehen sollte, und auch das Gute,
welches er gibt, verliert seine Wirkung in der ungebührlichen Breite, mit der er Neben¬
Wir stellen uns im folgenden Aufsatz die Aufgabe, die Frage zu beant¬
worten, was die Einführung einer einheitlichen, alle Classen umfassenden
Grundsteuer im preußischen Staat bisher verhindert hat. Diese Frage ist
eine gerechtfertigte, wenn man sieht, wie Preußen in verschiedenen wichtigen
Einrichtungen andern Staaten Deutschlands vorausgegangen ist, während es
in dieser Beziehung mehren derselben nachsteht. Ein Blick auf die Geschichte
der letzten Jahrzehnte wird zeigen, daß der Wille, hier der Gerechtigkeit Rech¬
nung zu tragen, allerdings schon vor einem halben Jahrhundert vorhan¬
den war.
Wie König Friedrich Wilhelm der Dritte in den Jahren der äußern Erniedri¬
gung und des allmäligen innern Erstartens, gestützt auf den Rath und Beistand
von Stein, Hardenberg und andern Regeneratoren des Staates neben den
Gaben persönlicher und Besitzesfreiheit auch verschiedene glückliche Aenderungen
in der Art der Besteuerung eintreten ließ, so versuchte er auch die Regelung
der Grundsteuerverhältnisse anzubahnen. Dies geht aus dem Edict über die
Finanzen des Staats und die neuen Einrichtungen wegen der Abgaben vom
27. October 1810 hervor, wo es heißt: . ,
„Ueberhaupt soll das Drückende jener neuen Auflagen dadurch möglichst
vergütigt werden, daß Wir mittelst einer gänzlichen Reform des Abgabesysteins
alle nach gleichen Grundsätzen für Unsre ganze Monarchie von jedermann wollen
tragen lassen. Auf dem kürzesten Wege wird daher auch ein neues Kataster
angelegt werden, um die Grundsteuer danach zu bestimmen.
Unsere Absicht ist dabei keineswegs auf eine Vermehrung der bisher auf¬
gekommenen gerichtet, nur auf eine gleiche und verhältnißmäßige Bertheilung
auf alle Grundsteuerpflichtigeu. Jedoch sollen alle Exemtionen wegfallen,
die weder mit der natürlichen Gerechtigkeit, noch mit dem Geist der Verwal¬
tung in benachbarten Staaten länger vereinbar sind. Die bis jetzt von der
Grundsteuer befreit gebliebenen Grundstücke sollen ohne Ausnahme damit be¬
legt werden. — Wir hoffen, daß diejenigen, auf welche diese Maßregel An-
Wendung findet, sich damit beruhigen werden, daß künftig der Vorwurf sie
nicht treffe, daß sie sich auf Kosten ihrer Unterthanen öffentlichen Lasten ent-
ziehn, so wie mit den Betrachtungen, daß die von ihnen künftig zu entrich¬
tenden Grundsteuern dem Aufwand nicht gleichkommen, den sie haben
würden, wenn man die ursprünglichen auf ihren Gütern haftenden Ritterdienst¬
verpflichtungen von ihnen forderte, für welche die bisherigen ganz unverhält-
nißmäßigen Abgaben gegen die Grundsteuer wegfallen, wie auch, daß freie
Benutzung des Grundeigenthums, völlige Gewerbefreiheit und Befreiung von
andern Lasten, die sonst nothwendig gewesen sein würden, stattfinden sollen."
Wir haben hierzu zu bemerken, daß es die Macht des hartnäckig an seinen
ererbten Vorrechten festhaltenden Adels war, welche die Schuld trug, daß ein
völlig ungerechtes Princip der Besteuerung, besonders der directen Besteuerung,
speciell der Grundsteuern zur Geltung gekommen war. In großen Theilen
der preußischen Monarchie hatte der Bauer, weil er nicht im freien Besitz
seines Eigenthums stand, einerseits dem Gutsherrn persönliche Dienste zu
leisten und Geldabgaben zu entrichten, andrerseits zugleich an den Staat die
von dem Gutsherrn geforderte directe Abgabe, die sogenannte Contribution auf¬
zubringen, während der Gutsherr, fern von jeder Opferwilligkeit, nur seine
Verpflichtung zu Vasallendiensten anerkannte und hierfür, da das Ritterthum
mit seiner Naturalwirtschaft begraben war, eine ganz unverhältnißmäßig
kleine directe Geldabgabc für das allgemeine Beste in Gestalt von Lehnspferde-
geldern darbrachte. —
Wie es feststeht, daß das verblendete Festhalten des französischen Adels
an dem Hergebrachten, welches den Mitteln und untern Classen der Nation
alle Lasten und Pflichten aufzubürden suchte, während die bevorzugten Stände
nur Genüsse und Rechte haben wollten, eine der Hauptursachen der Revolu¬
tion war, so kann man auch bis zu einem gewissen Grade behaupten, daß
die unrichtige Vertheilung der Steuerlast in Preußen wesentlich mit beigetra¬
gen hat, die Erniedrigung unsres Volks in den Jahren 1807—12 herbeizu¬
führen, daß sie mindestens mitwirkte, wenn die Masse der Bevölkerung sich
ohne großen Widerstand das fremde Joch auferlegen ließ.
Die Noth des Landes, aller Stände, jedes Einzelnen öffnete das Auge
des Königs und seiner Negierung. Man fühlte, es müsse sich die Stellung
der einzelnen Stände zueinander völlig umändern, wenn die Nation die Kraft
gewinnen sollte, die Herrschaft der Fremden abzuschütteln, und man sah dies
namentlich dadurch geschehn, daß man materiell durch veränderte Besteuerung,
durch gerechte Vertheilung der zum staatlichen Bestehn nothwendigen Lasten
alle Stände möglichst gleichstelle und alle Bevorzugungen Einzelner oder ge¬
wisser Classen aufhebe.
So gingen aus dieser Ueberzeugung neben vielen andern segensreichen
Einrichtungen, die dem preußischen Staat zum Theil eigenthümlich sind, ver¬
schiedene Gesetze, betreffend die Regelung der gutsherrlichen und bäuerlichen
Verhältnisse hervor, und so erklären sich jene echt königlichen Worte über die
gleichmäßige Verkeilung der Besteuerung im Allgemeinen und über die Ein¬
führung einer Regelung'der Grundsteuer. -
Da nach jenem Edict der König selbst eine so große Bedeutung auf
die richtige Auffassung und Einführung der Grundsteuern legte und in der
Regelung dieser Verhältnisse ein Hauptmittel erkannte, wie die unheilvollen
Begünstigungen in der Besteurung aufgehoben werden könnten, so sollte man
glauben, die Gesetzgebung habe, als nach dem glücklich beendeten Krieg für
das durch die Freiheit gleichsam noch einmal geborne und in voller Frische
sich entwickelnde Volk eine neue Aera zu beginnen schien, sich die Beantwor¬
tung der Grundsteuerfrage zur Hauptaufgabe gemacht und dieselbe allmälig
gelöst. Die Geschichte lehrt uns, daß dem nicht so war. Wenn eine wich¬
tige Frage, deren Beantwortung durch die Napoleonischen Kriege in Anregung
gebracht worden war, unentschieden blieb, so war es die Grundstcuerfrage.
Wir finden in dem Gesetz über die Einrichtung des Abgabenwesens vom
30. Mai 1820, wo die einzelnen Auflagen aufgezählt sind, als Einleitung
die Worte:
„Um die Reform der Steuergesetzgebung zu vollenden, welche Wir in der
Verordnung vom 27. October 1810 Unsern getreuen Unterthanen zugesagt,
würden Wir vor allem eine Revision der Grundsteuer in Unsern sämmtlichen
Provinzen nöthig befunden haben, wenn Wir nicht in Betracht der
Schwierigkeiten, die damit unzertrennlich sind, rathsam gefun¬
den hätten, diesen die Provinzialinteressen mehr berührenden
Gegenstand der Berathung mit den Ständen vorzubehalten."
Bald darauf heißt es bei Anführung der gesetzlichen Bestimmungen selbst im §. 3:
„Die Grundsteuer wird in jeder Provinz nach den Grundsätzen und Vor¬
schriften erhoben, welche darin gegenwärtig zur Anwendung kommen" und
§, 4 „doch wird dabei verordnet, daß schon jetzt an keinem Orte, wo schon
die Grundsteuer infolge der seit 1789 eingetretenen Staatsvcränderungen neu
eingeführt oder erhöht worden ist, der Belauf derselben den fünften Theil des
Reinertrags vom verpflichteten Grundstück übersteigen dürfe."
Eine planvolle, historisch zu begründende, exact durchzuführende Darstellung
der Grundsteucwerhältnisse, wie sie seit langer Zeit in dieser ihrer Mannig¬
faltigkeit provinziell gegliedert inMeußcn bestehn, ist die Aufgabe einer eignen
größern Arbeit. Wir bemerken hier nur zur allgemeinen Orientirung Folgendes.
Die westlichen Provinzen Rhein und Westphalen folgen der einheitlichen
französischen Grundsteucrversassung, wie sie durch die Revolution von 1789
herbeigeführt ist, mit der Maßgabe, daß, trotz der mit den Jahren 183?
vollendeten vollständigen Katastrirung und Bonitirung die Steuer seit den
Gesetzen vom 21. Januar 1839 und 14. October 1844 gleichmäßig dieselbe
geblieben ist und eine Höhe von circa 3,244,000 Thlr. erreicht hat. — In ähn¬
licher Weise führte der Konig Hieronymus von Westphalen sür seine Lande,
wozu ein wesentlicher Theil von unsrer heutigen Provinz Sachsen gehörte, durch
ein Decret vom 8. Januar 1808, indessen ohne Kataster, die französische
Grundsteuerverfassung ein. Wesentlich anders in den östlichen Provinzen.
Hier hat die Grundsteuer, die nicht nach den Gesetzen einer regelmüßigen Ver¬
messung und Abschätzung des Landes erhoben wird, bei aller ihrer Mannig¬
faltigkeit den einheitlichen Charakter einer Realabgabe, die hauptsächlich von
den kleinern Gütern des sogenannten contribuabeln Standes durch Beschluß
der Stände, wenn die Negierung irgend eine Provinz durch Kontribution heran¬
zog, von den Rittergütern ab- und den Bauergütern zugeschrieben wurde.
Wir finden in den Registern der Grundsteucrabgaben 120 verschiedene
Colonnen, unter welchen die in den östlichen Provinzen erhobenen ganz ver¬
schieden benannten Auflagen erhoben werden.*) Hier sind die Grundsteuern, wie
sie sich historisch vom Mittelalter her entwickelten, großenteils in ihrer alten
Form belassen worden. Doch sind auch hier für die einzelnen Provinzen durch¬
greifende Maßregeln vom großen Kurfürsten, von Friedrich Wilhelm dem
Ersten und Friedrich dem Zweiten getroffen worden.
In Ostpreußen d. h. dem Regierungsbezirk Gumbinnen, dem östlichen
Theil des Regierungsbezirks Marienwerder, 'dem Regierungsbezirk Königsberg
ohne Crmeland, zusammen K60 Q.M.. bestanden bis 1713 von der Bewilligung
der Stände abhängig der Hufenschoß, Kopsschoß, Horn- und Klaucnschoß,
die Tranksteuer u. a. Der Hufenschoß, die Hauptgrundsteuer, die ohne Be¬
rücksichtigung der Güte des Bodens von dem Flächenraum der Hufe Acker¬
land entrichtet, Ths^ oder V« oder auch V» pro Hufe) wurde in den
Jahren 1714—19 von Friedrich Wilhelm dem Ersten generalifirt, und es
wurde statt der bisher bestehenden Schoßarten nach dem ganz richtigen Prin¬
cip einer Ackerbonitirung und Schätzung aller Pertinenzien mit dem 1. Nov.
1719 der Gencralhufenschoß in Preußen eingeführt. Doch war die ganze
Art der Abschätzung viel zu allgemein gehalten und blieben neben dem
Gcnernlhufenschoß Nitterdicnstgelder, Fouragegelder, Tranksteuer und noch
andere Abgaben bestehen, so daß in Ostpreußen noch heute elf verschie¬
dene Grundabgaben entrichtet werden. — Auch in Westpreußen d. h. für
den ganzen Regierungsbezirk Danzig, einen großen Theil der Regierungs¬
bezirke Marienwerder und Cöslin und eiuen Theil der Regierungsbezirke
Königsberg und Bromberg besteht eine eigene Grundstcucrverfassung. Diese
Länder, zusammen 430 Q.M., wesentlich das frühere Besitzthum des deutschen
Ordens, zahlten seit dem Jahre 1460—1772 unter polnischer Oberhoheit
eine von den Landtagen bestimmte Kontribution, wo der adlige Grundbesitz
fast ganz von Lasten befreit blieb. Friedrich der Große verhieß gleich bei
Besitznahme dieser Länder eine Regelung der Grundsteuer binnen kurzem,
und schon im Juni 1772 trat eine Commission zu diesem Zweck zusammen.
Die adligen Güter wurden nach einer allgemeinen Vermessung und Abschätzung
des Landes, je nachdem sie Nitterdienstgclder früher entrichtet hatten, mit
25, 28 oder 33'/» Procent des Reinertrags besteuert, die Bauerngüter
ohne Unterschied mit 33^/, Procent. Die hier in diesen Ländern getroffenen
Einrichtungen waren vollkommen denen Friedrich Wilhelm des Ersten in Ost¬
preußen nachgebildet. Trotz diesen generalisircnden Maßregeln bestehen noch
bis heut in diesen Gebietstheilen ehemals polnische Abgaben, und finden sich
neben der Hauptgrundsteuer vom Jahre 1772 unter diese mit einbegriffen
Ritterdienstgelder, Schutzgelder, Trnnksteuer!, so daß auch hier von einer Ein¬
heit nicht die Rede ist, —
Die älteste polnische Grundsteuer sind die Rauchfanggelder nach einem
Verzeichnis; der Häuser tarifmäßig entrichtet und daneben für Geistlichkeit und
Adel durch ein polnisches Neichsgesctz vom Jahre 1789 die Offiaza d. h. eine
nach ganz allgemeiner Abschätzung erhobene zehnprocentige Grundsteuer, die
seit 1789 auf 24 Procent erhöht wurde. Auch Lehnpferdegelder kamen vor.
Das warschauer Gouvernement bemühte sich 1809 und dann 1810 besonders
die Osfiazn zu erhöhen und die Verfassung zu vereinfachen, auch die Verord¬
nung vom 14. October 1844 «trug zur Vereinfachung der Grundsteuern bei,
doch fehlt auch hier die Einheit. In Schlesien, 680 Q.M., griff Friedrich
der Zweite bei der Eroberung des Landes in gründlicher Weise ein. Ein im
Jahre 1743 angeordnetes, 1748 vollendetes Kataster, das unveränderlich
sein sollte, besteuerte die geistlichen Güter mit 50 Procent, die Rittercommen-
den des maltheser und deutschen Ordens mit 40^ Procent, die adligen
Güter mit 28'/, und die bäuerlichen mit 34 Procent. Diese Abgabe besteht
mit geringen Modificationen noch heute. Natürlich wurden nicht, was eine
factische Unmöglichkeit, in Wirklichkeit 50 Procent des Reinertrags gezahlt, da
das sogenannte Kataster Friedrichs des Zweiten sehr allgemein gehalten war;
trotzdem bestehen noch heute neben dieser allgemeinen Grundsteuer Haussteuer,
Quittungsgroschen und Aehnliches.
In den Provinzen Pommern und Brandenburg hat die ständische
Verfassung, indem der Adel durch Lehnpferdegelder sich frei zu machen wußte,
bis diesen Tag durchgesetzt, daß der sogenannte contribuablc Stand, der
Bauer, die Kontribution d. h. die Grundsteuer wesentlich trügt.
Am wunderbarsten sind die Grundstcucrverhältnisse in der Provinz Sachsen.
Theile der Regierungsbezirke Magdeburg, 210 Q.M., Merseburg, 31 Q.M.,
Erfurt, 31 Q.M., folgen der schon oben erwähnten westfälischen Grundsteuer¬
verfassung. Im Uebrigen bestehen für die Erdtaube, die Oberlausitz. die
Niederlausih, die Aemter Jüterbogk und Dahme, für Altquerfurt, für
Henneberg und endlich Nienburg abgesonderte Grundsteuerversassungen. so daß
unter 35 verschiedenen Kolonnen Schocksteuer, Donativgeldcr, Kontribution
nach jenen alten historischen Einteilungen der sächsischen Lande noch heute
die Grundsteuern erhoben werden.
Es ist nun eine von Rechtslehrern vielfach ventilirte, schwer zu entscheidende
Frage, ob es besser sei, bei einem Staate, der sich aus verschiedenen, wenn¬
gleich ähnlichen ^Elementen entwickelt hat, für die einzelnen Theile das in
diesem historisch vorgefundene Recht zu erhalten, um so das alte Andenken
der Bevölkerung an ihre Geschichte zu erhalten und die für Rechtsfragen häusig
so schwierigen Aenderungen, zu deren Bewußtsein die doch mehr oder minder
rechtsunkundige Bevölkerung erst sehr allmälig gelangt, zu vermeiden, oder,
ohne Rücksicht auf die Individualität der einzelnen Theile der Bevölkerung
des Staats zu nehmen, aus Nützlichkeitsgründen alles historisch Gegebene
aufzuheben und eine neue, die Gesammtheit bindende Gesetzgebung zu schaffen.
Darüber kann aber kein Streit sein, daß es für die Verwaltung eine
der wichtigsten Aufgaben ist, bei Fragen über die Besteuerung der zu einem
Staate gehörigen Bevölkerung ein einheitliches Princip aufzustellen, da hier
wegen des materiellen Interesses bei einer solchen vielleicht historisch wohlbe-
gründeten Verschiedenheit gar zu leicht die wichtigste und Hauptanforderung,
nämlich die, daß der Gerechtigkeit der Besteuerung Genüge geleistet werde,
nicht erfüllt wird. Uebrigens sind ja auch solche Verschiedenheiten in der Art
und Auffassung der Besteuerung durchaus nicht wie die Verschiedenheiten in
der Rechtsauffassung aus dem Rechtsbewußtsein des Volkes, sondern aus
irgend welchen historischen oder politischen Ereignissen hervorgegangen. Wenn
nun aber, wie aus dem Edict von 1810 hervorgeht, der König Friedrich
Wilhelm der Dritte selbst die Wichtigkeit der Regulirung der Grundsteuer-
Verhältnisse anerkannte und wenn man später das Interesse in Betreff dieser
Fragen als ein provinzielles, kein allgemein staatliches bezeichnete, um doch
einen Grund dafür zu haben, daß man einer definitiven Entscheidung aus¬
wich, so gibt uns beides den besten Beweis einmal für die politische und
dann für die wirthschaftliche Wichtigkeit, dann aber auch für die Schwierig¬
keit der Grundstcuerfrage. Und kann man auch mit Bestimmtheit behaupten,
daß der in seinem materiellen Interesse durch eine durchgreifende Entscheidung
über die Grundsteuern wesentlich angegriffene Adel alles aufgeboten hat, um
eine solche Entscheidung möglichst weit hinauszuschieben, so würde er doch,
wenn die Lösung dieser Fragen ein klares, einfaches, mit Bestimmtheit von
der Nation gefordertes Bedürfniß gewesen wäre, nicht gegen die Macht der
Verhältnisse fast ein halbes Jahrhundert haben ankämpfen können. Und die
Lösung dieser Fragen hat allerdings an und für sich, ganz abgesehen von
diesen oder jenen staatlichen Verhältnissen, vom wissenschaftlichen wie prak-
tischen Standpunkt aus ihre großen Schwierigkeiten.
Die Geschichte lehrt uns, daß Völker in Zeiten politischer Aufregung,
wie von einem blinden Drange getrieben durchgreifende Maßregeln in Be¬
treff staatlicher Einrichtungen durchgesetzt haben. So hat das französische
Volk empört über die Taillenwirthschaft seines Adels bei völliger Umgestaltung
seiner politischen Einrichtungen seine Grundsteuerverfassung durchgesetzt. Des¬
halb bleiben die g, Mori gegen den Gedanken einer Grundsteuer aufgewor¬
fenen Bedenken, die über die Art der Steuer und über die Art der Einführung
derselben bestehenden Zweifel ungelöst.
Daß dieser Bedenken viele sein müssen, zeigt die einfache Thatsache, daß
fast jeder Gelehrte der Staatswissenschaft principiell eine andere Meinung über
dieselbe hat. Es ist das Streben neuerer Finanzgcsetzgebungen, in dem viel
verzweigten Bau der directen und indirecten Steuern, welche die Mittel zur
Existenz der Staaten gewähren, der directen Besteuerung immer mehr den
Sieg zu verschaffen. Und dieses Bestreben ist ein sehr richtiges. Mit
Freuden wird die Wissenschaft dasselbe begrüßen; denn ihre Aufgabe ist
ja eben, dafür zu kämpfen, daß das Ideal der Besteuerung, wie es einer
der bedeutendsten Lehrer der Staatswissenschaft nennt, d. h. daß ein solches
Steuersystem, bei welchem jeder direct, so viel in seinen Kräften steht, zum
allgemeinen Besten beizutragen hat, immer mehr zur Wirklichkeit werde, und
unleugbar sind es auch die directen Abgaben, die uns diesem gewünschten Ziel
näher führen.
Eine der ältesten directen Steuern ist die Grundsteuer. — Man sollte
meinen, diese, so frühzeitig entstanden, so bald von den verschiedenen Völ¬
kern als Bedürfniß erkannt, müsse von allen Lehrern der Wissenschaft als
einer der Wege zu jenem Ideal erkannt werden. Dies ist indeß nicht der
Fall. — Hoffmann z. B. führt in seiner Lehre von den Grundsteuern aus,
daß dieselben zwar als eine Abgabe vont Besitz eines Raumes die sichersten
seien', indem das Dasein dieses Gegenstandes der Besteuerung weder der
Kenntniß, noch der Verfügung der Staatsgewalt entzogen werden könne, daß
aber diese Steuer, da sie von dem Einkommen dieses Besitzes abhänge, wel¬
ches allen möglichen Wechselfällen ausgesetzt sei. dem Staat nur sehr unsichere
Garantien als Einnahmequelle gewähre. Vrgl. Hoffmann S. 94 u. 95.
Er sagt, es sei ganz natürlich, daß man bei Bcsitzessteucrn zuerst auf die
Grundsteuer gekommen sei, weil hier die controlirende Behörde das beste
Mittel in Händen hätte, den lässigen Unterthan durch Beschlagnahme zur Zah¬
lung zu zwingen. Er hält dabei die Grundsteuer in seiner mehr oder weniger
einseitigen Auffassung für einen Ueberrest der für den Fortschritt der Agri-
cultur so hinderlich gewesenen Zehnten, welche den Rohertrag belastete, und
legt bei seinen Betrachtungen über directe Steuern den größten Nachdruck auf
die Beachtung der bis dahin vernachlässigten Personensteucrn, die allerdings
der controlirenden Behörde keine so handgreiflichen Garantien gäben, aber
immer zur Geltung kommen würden und müßten, je mehr Gesittung und
Bildung der Bevölkerung bis in die niedrigsten Schichten klar machten, daß
jeder sein Scherflein zum allgemeinen Besten beitragen müsse. Die Ansicht
I. B. Says ist im Wesentlichen die Hoffmanns, indem auch er bei aller
Sicherheit des zu besteuernden Gegenstandes die Unsicherheit der Abgabe selbst
hervorhebt.
Diese Angriffe sind jedoch in dieser ihrer Allgemeinheit nicht so ernst,
wie diejenigen, welche, von verschiedener Auffassung der Quellen des National¬
vermögens ausgehend, hier große Bedenken bei Lösung der materiellen Zwei¬
fel, welche eine Grundsteuer herbeiführt, auswerfen. Hier finden wir vor
allem Ricardos Ansicht. Seine bekannte Theorie der Bodenrenke, wonach je
nach der Qualität der verschiedenen Ländereien die vom Ackerbauer nur eben
noch zweckmäßig bebaute Scholle keine Bodenrenke gewährt, während eine
bessere Classe von Grundstücken eine solche in größerem oder geringerem Maße
darbietet — eine Theorie, die man in der That grau nennen kann, da sie
die in der größten Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit bestehenden Lebens¬
verhältnisse in ein künstliches Schema hineinzuzwängen versucht —, führt
ihn zu folgender eigenthümlichen Ansicht über die Grundsteuer:
Die Grundsteuer soll eine Last sein, welche die im Grund und Boden
ruhende dritte Gütcrquelle des Nationaleinkommens treffe. Alle Güter ge¬
währen eine solche Bodenrenke nicht, sondern nur diejenigen, deren Bebauung
mehr ergibt, als den Zins von dem angelegten Capital und den Lohn für
die aufgewandte Arbeit. Der Staat könne unmöglich aus diese letzte Classe
Rücksicht nehmen, er müsse alle Güter gleichmäßig besteuern, und die Folge
sei, daß ein Land, welches in diese letzte Classe gehört, ohne Cultur liegen
bleiben werde. —
Da nun aber, fährt er fort, die Grundsteuer von allen Gütern erhoben
werden muß, so wird sie nicht von der Bodenrenke, sondern vom Zinse des Capi¬
tals und dem Arbeitslohn getragen, sie wird so die Bebauungskosten um ihren
Betrag erhöhen, wird die Producte steigen machen und so auf alle Weise der
Entwicklung der Landescultur im Wege stehn, sie wird zugleich, da natürlich der
Producent die Last auf den Konsumenten zu walzen sucht, nichts mehr oder
weniger werden, als — eine Consumtionssteucr. Man sieht leicht, daß hier
große Inconsequenzen mitunterlanfen. Einmal verhindert bei Ricardo die
Grundsteuer die Bebauung der letzten Classe der Grundstücke, und dann wird
sie doch von dem Capitalzins und Arbeitslohn dieser letzten Classe mit ent¬
richtet.
Sismondi, der eine lange Polemik gegen Ricardo führt, stellt als ein¬
leitenden Gedanken über seine Auffassung der Grundsteuer die Worte hin: „I.g,
vontributicm toneiöre est Ap8tA>6o ä, kairo xartieixor Jo use an rvvenu nu
Löul propiiewire et eile n'atfeete en general <zue lui seul." Er meint also
grade umgekehrt, daß die Grundsteuer keine Consumtionssteuer sei, sondern
wesentlich den Landmann selbst treffe. Ferner führt er an: „I/impositüm
teneiei'e eblige seuveut le eontriluuri)1e ir x-i^er cke I'irr-Mut irn Moment, on
it n'en g, und in demselben Sinn „I'uis 1'lui)c>«itiou koueiere K»t 1)0-
s^nee et p1u8 eile Mte 1c; äesorclre ckans los unreines et ckiins toute 1'eee-
nomie rurale en loi^ant 1e eultivateur a vencire ü. tout xrix xour trouver
cke I'krrAent.^
Was den ersten Punkt anlangt, so kann, wie schon Hoffmann anführt,
niemand sagen, wer eine Steuer trügt, man weiß nur, wer sie zahlt. Gün¬
stige Conjnncturcn lassen den Landmann oder Fabrikanten frei ausgehn bei
der Besteuerung, bei ungünstigen trägt er die Steuer zum großen Theil. Der
zweite Punkt ist ein wenig gravirendcs Moment gegen die Grundsteuer spe¬
ciell. Als ob bei directen Steuern überhaupt (dies ist ja einer der größten
Mängel derselben, z. B. bei der Gewerbesteuer, die größtentheils viel ärmere
Leute trifft als die Grundsteuer) der Staat stets anfragen könnte, wann der
Pflichtige bei Gelde sei! Ueberhnupt darf ja eine directe Steuer niemals so
unvernünftig hoch eingerichtet sein, daß sie bedenklichen Einfluß auf den Be¬
trieb des besteuerten Vesitzthums ausübt.
Die fernern Bedenken Sismondis gegen die Grundsteuer treffen wesent¬
lich die Einführung derselben, und kommt er hier auf dasjenige Bedenken,
welches hauptsächlich von den Gegnern der Grundsteuer hingestellt wird, daß
nämlich die zu zahlende Abgabe als Zins von einem Capital, welches ohne
irgend welchen Grund der Grundstückbesitzer dem Staat schulde, zu betrach¬
ten sei. Die an diesen Punkt sich anschließenden feinen Ausführungen Sis¬
mondis, in denen er nachweist, wie durch die Grundsteuer die Güter unnütz
und schädlich auf einmal vertheucrt würden, so wie seinen fast bestechenden
Vergleich, daß der Pächter bei bestehenden Grundsteuern nicht einen, sondern
zwei Herren habe, können wir hier nur andeuten.
Noch strenger richtet Stuart Mill in seiner politischen Oekonomie über die
Grundsteuer vrgl. S. 285 ze., wo es heißt: „Eine Steuer von der Bodenrenke
fällt ganz auf den Grundeigenthümer. Er kann ihre Last auf keine Weise
auf irgend einen andern abwälzen. Sie wirkt nicht auf den Werth oder Preis
der landwirthschaftlichen Erzeugnisse; denn dieser Werth oder Preis bestimmt
sich nach den Productionskosten unter den unvorteilhaftesten Umständen und
unter diesen Umständen wird, wie wir so oft bewiesen haben, ckeine Boden¬
renke bezahlt. Eine Steuer aus die Bodenrenke hat also keinen Einfluß außer
dem sichtbaren. Sie nimmt so und so viel dem Grundeigenthümer, und über¬
trüge dies auf den Staat." Bald darauf gibt er das Endresultat seiner Be¬
trachtungen folgendermaßen. »Jede besondere Besteuerung des Einkommens
einer Classe, die nicht durch Steuern, welche die andern Classen treffen, auf¬
gewogen wird, ist eine Verletzung der Gerechtigkeit und kommt einer theilwei¬
sen Confiscation gleich."
Das sind die Bedenken wissenschaftlicher Autoritäten gegen die Grund¬
steuer überhaupt. — Andere Lehrer der Staatswissenschaften erkennen die
Grundsteuern zwar als nothwendig an, sind aber darüber principiell in Streit,
ob die Grundsteuer, so wie in England unveränderlich festgestellt (Kraus sagt,
daß im entgegengesetzten Falle die Industrie durch dieselbe besteuert werde)
oder veränderlich sein müsse. Für letzteres spricht schon überzeugend Ad. Smith,
indem er sagt, eine fixirte Grundsteuer widerspreche dem ersten Princip der
Bestcurung. der Gerechtigkeit. Auch verliert ja eine solche fixirte Abgabe völlig
den Charakter einer Steuer und wird das, was die Gegner der Grundsteuer
derselben grade vorwerfen, eine unbegründete, nicht zu rechtfertigende Hypothek
des Staats an den Grundstücken seiner Einwohner, von welcher Last, wie es
ja in England geschieht, der Wohlhabende sich befreien kann (ob zum Vor¬
theil des Staats, der dadurch allerdings momentan verhältnißmäßig enorm
viele Mittel für sich erhält, ist sehr zweifelhaft) während diese Last mit dem¬
selben Druck auf dem Rennern ruhn bleibt.
Vergleicht man nun in Anbetracht dieser vielen Bedenken und Zweifel,
die von Seiten der Wissenschaft in Betreff der Grundsteuern aufgestellt sind,
ein wie großes Gewicht im geraden Gegensatz dazu zur Zeit der Herrschaft des
physiokratischcn Systems auf Einführung der Grundsteuer als einer Hauptsteuer
gelegt wurde, wie grade diese Steuer von den Lehrern und Anhängern jener
Schule als einzige gerechte Abgabe, als „impüt uni-zuo" hingestellt wurde, so
wird man von neuem in den Jahrhunderte lang die Geister bewegenden
Interessenkampf hineingeführt, wo man darum stritt, welcher Anlegung mensch¬
lichen Fleißes und Capitals der Vorzug zu gewähren, ob der industriellen, oder
der landwirthschaftlichen. Dieser Kampf, bei dem das Merkantilsystem schroff
dem physiokratischcn gegenüberstand, ist durch Ad. Smiths Industriellstem
gemildert, aber nicht geschlichtet; er ist. wenn auch vielfach politische Fragen
und Verhältnisse bestimmend mit hineinspielten, lange Zeit von der Wissen¬
schaft geführt worden und wird an manchen Orten noch heut geführt.
Trotz aller dieser Bedenken gegen die Grundsteuer, trotz jenes noch nicht
geschlichteten Kampfes der Wissenschaft spricht die von den ersten und berühm¬
testen Landwirthen vertheidigte und durchgeführte Auffassung der Landwirth¬
schaft als eines Gewerbes, gleich allen übrigen Gewerben für die Grundsteuern,
wenn man einmal die Gewerbesteuer als eine gerechte, begründete directe
Steuer anerkennt, wie es ja aller Orten geschieht. Man bleibt hier fern von
dem im Ganzen unfruchtbaren Streit, ob eine Bodenrenke existire, wie hoch,
wie verschieden sie sei, und findet, wenn man dies Analogon zwischen Ge¬
werbe, Fabrikation und Ackerbau anerkennt, den klaren Beweis für die Richtig¬
keit und Zweckmäßigkeit der Grundsteuer. Daß aber der Betrieb des Acker¬
baues ganz ähnlich wie der Betrieb von Gewerbe und Fabrikation aufzufassen
sei, dafür kämpft Thaer in der Einleitung zu seiner rationellen Landwirthschaft
zum vierten Bande in überzeugender Weise. Es heißt hier: „Man setzt Pro-
duction und Fabrikation gewöhnlich gegenüber und glaubt, daß sie in phy¬
sischer Hinsicht nicht nur, sondern auch in ökonomischer oder gewerblicher der¬
maßen einander gegenüberstanden, daß die Grundsätze, die bei letzterer giltig
sind, bei ersterer durchaus keine Anwendung fänden, und daß folglich der
Producent sowol, als der Staatswirth in Ansehung beider ganz verschiedene
Maximen annehmen müsse.
Verschieden sind sie allerdings, und jede hat ihr Eigenthümliches ; aber
dies Eigenthümliche ist nicht so antipolarisch und nicht auf eine so grelle
Weise verschieden, wie man gewöhnlich angibt. Noch weniger ist der Unter¬
schied in Ansehung der entgegengesetzten Grundsätze begründet, die man nur
zu häufig zum Nachtheil der ersteren angenommen hat.
Schon länger und klarer sind die Regeln ausgebildet und dargestellt, welche
man zum glücklichen Betrieb des Fabrikwesens angenommen und beobachtet
hat. Sie können Fingerzeige für das Productionsgewerbe abgeben, wenn
man aus der Aehnlichkeit des letzteren mit dem ersteren die Anwendung jener
Regeln auf dieses folgert."
Neben die bis dahin angeführten Zweifel wissenschaftlicher Art treten
praktische Hindernisse von größter Bedeutung. — Es klingt sehr einfach,
wenn Hoffmann sagt, daß die Grundsteuer als eine Steuer von dem Besitz
eines Raumes die sicherste sei, da das Dasein dieses Gegenstandes der Be-
steurung der Kenntniß und Verfügung der Staatsgewalt nicht entzogen wer¬
den könne; indessen ist es eine der schwierigsten Aufgaben, diesen Gegenstand
genau zu bestimmen. Die Bonitirung und Katastrirung der Rheinlande, welche
mit dem Jahre 1837 vollendet war, hat dem Staat vier Millionen Thaler
gekostet; leicht ersichtlich ist. daß eine ähnliche Abschätzung und Vermessung der
östlichen Provinzen einen noch einmal so großen Aufwand erfordern könnte.
Da man über den wahren Flächeninhalt des preußischen Staats bei der durch
die Feldmesserordnung zulässigen Fehlergrenze um dreißig Quadratmeilen nicht
im Klaren war, so war es das Streben der Staatsregierung, diese Ungewi߬
heit zu heben. Im vorigen Jahre trat daher eine Commission von wissen¬
schaftlichen Nerwaltungsbeamten und Militärs zusammen, um mit allen wissen¬
schaftlich gegebenen Mitteln die für viele Culturverhältnisse höchst wichtige
genaue Vermessung des Landes zu veranlassen. Gedachte Commission weist
nach, daß die einfache Vermessung des Landes einen Zeitraum von zwanzig
Jahren^mit einem Kostenaufwand von jährlich 50,000 Rthlr. beanspruche.
Nun bestehn aber noch neben diesen Kosten viele, die durch die Abfindung
derer bewirkt werden, weiche ein verbrieftes Privilegium für die Immu¬
nität ihrer Grundstücke haben, selbst wenn man eine allgemeine aus Billig¬
keitsrücksichten gebotene Abfindung aller bis dahin befreit gebliebenen Grund-
eigenthümer übergeht. Gewährt man diesen, wie es schon vorgeschlagen sein
soll, das Dreizehn- bis Vicrzehnfache der zu zahlenden Steuer, so wird die
Einführung der Steuer dem Finanzetat eine große Last aufbürden. Die Grund¬
steuer trifft da grade derselbe Vorwurf, welcher gegen die meisten indirecten
Steuern erhoben wird, daß ihre Ausführung und Erhebung mit bedeutenden
Kosten verbunden ist. Diesen Mangel will man aber grade durch die directe
Besteurung vermeiden.
Faßt man alle diese Bedenken zusammen und zieht mit in Betracht, daß
die Grundsteuer principiell und materiell gegen das Interesse einer mehr oder
minder einflußreichen Classe ist. so wird man, wie ich hoffe, eine Erklärung
dafür finden, daß in dem sonst organisch wohlgegliedertcn Staate Preußen
eine so wichtige Frage erst jetzt an die Schwelle einer bestimmten Entscheidung
Hatte die Periode vom Friedensschluß bis zur Kaiserkrönung vorzugs¬
weise dahin gearbeitet, die nationalaristvkratischen und militärischen Oppositionen
gegen das neue Regiment theils abzulenken, theils abzustumpfen, so blieb
jetzt noch die viel schwerere Aufgabe übrig, die inneren Reformen des Lebens,
die Erweckung der productiven Kräfte durch Freiheit der Arbeit- ins Leben zu
rufen. Den aristokratischen Gegnerschaften durfte zugleich die Möglichkeit nicht
gelassen werden, sich von neuem zu consolidiren. Außerdem mußte das Aus-
land, vorzugsweise Mitteleuropa und namentlich Oestreich, gehindert werden,
die Friedenszeit zu einer Eonsolidirung seiner Staatengruppe verwenden zu
können. Vor allem darf Oestreichs Einfluß in den Südslavenländern und
der Türkei sich nicht befestigen; der „kranke Mann" muß so krank und sterbens-
reif erhalten werden, als er ist, Oestreich nicht seine Verjüngung durchführen
können. Dennoch darf Nußland, um nicht selbst im Werke der innern Re¬
organisation behindert zu sein, nirgend aggressiv und provokatorisch hervor,
treten, wol aber stets zur Unterstützung einer derartigen Politik bereit er¬
scheinen. Diese höchst verschiedenartigen Aufgaben durchzuführen, ohne durch
die eine die andere zu hindern — darauf zielt die ^nunmehrige Realpolitik.
Der Grund dazu war, wie wir früher gesehen, wohl vorbereitet; die volle Aus¬
führung des in seinen Endzielen wieder zusammenlaufenden Werkes kann na¬
türlich erst nach Menschenaltern erwartet werden. Wir stehen heut noch den
ersten Anfängen gegenüber; was jedoch geschah, ist bereits bezeichnend genug.
Als Kaiser Nikolaus schon im Anfang der vierziger Jahre den Gedan¬
ken eines russische» Eisenbahnsystems mit großer Lebhaftigkeit aufgegriffen
hatte, antwortete der alte Finanzminister Graf Cancrin: „Der Befehl Eurer
Maj. wird erfüllt werden, aber zehn Jahre nachher wird Nußland nicht Ru߬
land mehr sein." Die Ausführung des Planes unterblieb, damit Nußland
bleibe; blos Moskau sollte mit Petersburg zusammenfließen; erst im orien¬
talischen Krieg wurde der Plan „zu spät" von neuem aufgenommen. Ohne
Herstellung der Communicationen kein neues Nußland lautet die heutige Parole.
So ward der Abschluß des Eisenbahnbaues mit einer französisch-russischen Ge¬
sellschaft die Haupt- und Staatsaction, mit welcher noch das Jahr 1856 ab¬
schloß. Die Capitalspeculation erhielt ein festes Object; das Arbeitervolk,
noch nicht wieder festgewachsen in den herkömmlichen Beschäftigungen, strömte
dem ncugcbotencn Gewinn zu; gemeinsame materielle Interessen knüpften ein
neues Band mit Frankreich, welches nachher der französisch-russische Handels¬
vertrag, so wie die vorzugsweise auf Frankreich berechnete Revision des Zoll¬
tarifs noch mehr verstärkte. Aber der internationale Besitz der Eisenbahnen
dauert nur 85 Jahre; dann fällt die vollkommen freie Verfügung wieder an
Nußland. Ebenso maßgebend wie solche Rücksichten auf die äußere Politik,
wurden beim Abschluß der Eiscnbahncontracte die Vortheile, welche sich damit
gegen die Opposition der Neformfeinde boten. Den Grund- wie den Jndustrie-
adel aller Provinzen versetzt nämlich das Eisenbahnnetz nach zwei Seiten hin
in neue Abhängigkeit: er kann unter russischen Verhältnissen nirgend rück¬
sichtslos seine Standesintercssen geltend machen, wenn er nicht befürchten
will, seine materiellen Interessen bei der Specialbestimmung der Bahnlinien
unbeachtet zu sehen; er kann ferner seine Leibeigenen nicht von den Eisen¬
bahnarbeiter zurückhalten, wenn er nicht durch einen derartigen Widerstand
sich nur allzuleicht des Vorzugs verlustig machen will, beim Emancipations¬
werk die Rechte und Entschädigungen seiner eignen Verhältnisse zu vertreten.
Denn daß die Negierung an die Einleitung der Bauernemancipation ge¬
treten war, wußte man bereits allgemein, als der Contractabschluß wegen des
Eisenbahnbaues erfolgte. Die Presse hatte dies unter russischen Verhältnissen
durch Gogols und seiner Nachtreter Schriften sattsam angedeutet. Es war
unmöglich, diese Erzählungen, Novellen, Anekdoten und Gedichte A, la, Bcecher-
Stowe für rein literarische Productionen zu nehmen; es waren gouverne-
mental gestattete Pulsfühler, und um so deutlicher, als die Censur, trotz der
angeblich freiern Bewegung der Literatur, keine ernstere Arbeit über die Lö¬
sung der Leibeigenschaftsfrage passiren ließ. Daß auch keine leiseste Andeu¬
tung darüber verlautete, aus welchem Wege die Regierung vorzugehen gedenke,
steigerte die gespannten Erwartungen und verhinderte gleichzeitig eine vorsorg¬
liche Stellungnahme der Interessenten. Die Vermuthung schwankte zwischen
der doppelten Fragstellung: ob Alexander der Zweite, wie Nikolaus, damit
zugleich das Ziel der völligen Vernichtung der Grundaristokratie als körper¬
schaftliches Element verfolgen wolle, oder ob er, wie Alexander der Erste, dem
Adelkörper die Bauernemancipation nach Initiative und Durchführung voll¬
kommen selbstständig überlassen wolle? Daran hatte man jedoch nicht gedacht,
daß jetzt großentheils andere Voraussetzungen zu Thatsachen geworden waren,
darum ward ein dritter Weg möglich. Seit Peter dem Ersten, ja seit Iwan
dem Ersten und Zweiten scheiterten auch die besten socialreformatorischen Ten¬
denzen des Zarenthums immer daran, daß dasselbe zu Gunsten seiner eigenen
Machtvollkommenheit alle corporativen Elemente zu zerbröckeln oder gewalt¬
sam zu vernichten strebte. Denn eben dadurch hatte sich der Absolutismus
für jede große Einwirkung auf die innern Entwicklungen unmöglich gemacht,
weil er alle Elemente der Bevölkerung in die Opposition gegen den refor-
mirenden Zaren drängte. Das Zarcnthum besaß während dieser ganzen
Zeit, außer den unproductiven Massen der Tschinownits und der Armee nie¬
mals einen Stand, auf welchen es sich gegen die Vorurtheile, Mängel und
Mißbräuche im socialen und politischen Staatsleben stützen konnte. Jene
beiden Massen blieben jedoch stets unzuverlässig, weil sie selber kein unmittel¬
bares Interesse an socialpolitischen Veränderungen haben können, vielmehr
auch sür sich mancherlei Einbuße dabei fürchten müssen. Alexander der Zweite
fand nun den Besitzadel durch seinen kaiserlichen Vorgänger materiell aufs
äußerste geschwächt, corporatio zersprengt vor; hatte er sich auch während
des Krieges einigermaßen fühlen gelernt, so war mit dem Frieden doch der
innere Halt dieses Selbstgefühls wieder wesentlich gewichen. Seine Partei
war, wie früher gezeigt ist, als solche abermals zerfallen. Dagegen hatte
derselbe Krieg die gänzliche Geltungslosigkeit der nichtadligen, Bevölkerungs-
Massen einigermaßen gemildert, und zwar insofern, als sie im Dienste für den
Kriegszweck neue Anerkennungen ihres berechtigten Anspruchs auf socialpolitische
Besserstellung errungen hatten. Die von Nikolaus (wol nur als Mittel zur
Aneiferung der kriegerischen Opferfreudigkeit) in Aussicht gestellten socialen Ver¬
besserungen waren schon im Friedcnsprogramm Alexander des Zweiten als
Zweck ausgenommen und vom Gnadenmanifest bei der Krönung nach einzelnen
Richtungen hin vorbereitend angebahnt.
Das frühere Princip der gleichmäßigen Vernichtung aller Stande hatte
sich unproduktiv für die Zwecke der materiellen Entwicklung, der innern Er-
kräftigung des Reichs erwiesen; Alexanders des Ersten doctrinärer Versuch,
einer völlig freien Initiative des Adels die Erschaffung der Bauernfreiheit an¬
heimzustellen, hatte den Beweis geführt, daß die russische Aristokratie dafür
weder humane Bildung noch politischen Calcul genug besaß; Nikolaus des
Ersten „Baucrnverbesscrungen" hatten den Grundbesitz ruinirt, ohne die freie
Arbeit sich selbstständig entwickeln zu lassen, und waren deshalb vom national-
ökonomischen Ziel der Emancipation nur weiter weggerückt. Alle diese
Erfahrungen zusammenfassend entstand der neue Emancipationsplan. Er
überließ formell dem Grundadel die Initiative, erkannte also dadurch seinen
corporativen Bestand an. Er berechtigte serner die Adelscorporation politisch lui
twe; denn er gestand ihr das Recht der mitbedingenden Berathung des Emanci-
pationswcrkes zu. Er bezeichnete diese Berathungen und deren Beschüsse als voll¬
kommen frei; allein nur auf Grundlage und innerhalb des Bereiches der von
der Negierung octroyirten allgemeinen Principien. Diese laufen jedoch nicht
daraus hinaus, den Adel als politischen Stand anzuerkennen — wie Alezan¬
der der Erste wollte; auch nicht darauf, als politischen Gegensatz zum adligen
Grundbesitz einen vom flottirenden Vermögen bedingten Bürgerstand empor-
zuzaubern — wie es Katharina erfolglos versuchte. Der heutige Autokratis-
wus kann dieses Mittelglied der Gescllschaftsgliederung um so eher über¬
springen, als es im russischen Nationalcharakter keine Begründung findet und
auch nur ein fast verschwindendes Vruchtheil der Gesammtbevölkerung ausmacht.
Er stellt überhaupt dem Adel keine politische Corporation gegenüber, sondern
dem adligen Grundbesitzrecht die Freiheit der productiven Arbeit. Die freien
Arbeiter sollen die Masse sein, auf welche sich der neurussische Neformabso-
lutismus fraglos stützen kann. Das neue Princip des Autokratismus heißt
nicht: Vernichtung aller Stände, sondern Paralysirung des besitzenden
Standes durch die von der Negierung gehandhabten Arbeiter. Der Gegensatz
findet seinen Schwerpunkt nicht in ideellen und beziehentlich politischen Rech¬
ten, sondern in den materiellen Interessen.
Daß sich aus den freiwerdenden Arbeitermassen ein Stand herausbil¬
den kann, unterliegt keinem Zweifel. Allein er entsteht voraussichtlich nicht
blos oder vorzugsweise aus den eigentlichen Arbeitern, sondern theils aus dem
industriellen Adel, welcher durch das Aufhören der Leibeigenschaft die ganzen
Voraussetzungen seiner materiellen Existenz geändert sieht; theils aus den
handeltreibenden Freigewordenen. Diesem Mittelstand fehlt jedoch noch
lange Zeit jedes körperschaftliche Bewußtsein; nicht blos weil seine beiden
Hauptelemente noch lange Zeit in socialen Rivalitäten gegeneinandergcstellt
bleiben, sondern auch vornehmlich deshalb, weil nach dem russischen National-
charakter die Freigewvrdenen, welche sich durch Arbeit über den Erwerb aus
der Hand in den Mund emporgehoben haben, nicht bei der Arbeit bleiben,
sondern ausschließlich zum Handel übergehen. Diejenigen aber, welche wie¬
der hier genug gewonnen, benutzen das sreiwerdende Capital nicht zu neuer
productiver Thätigkeit, sondern suchen damit die Prärogative der Adelstitel
zu erwerben. Das bürgerliche Element fehlt überhaupt dem russischen
Naturell und kann erst dann sich natürlich begründen, wenn nicht blos die
Emancipation durchgeführt, sondern ein freigeborenes Geschlecht auch die Bil¬
dung erworben haben wird, welche der jetzigen Generation fehlt. Die Her¬
ausbildung eines bürgerlichen Mittelstandes bleibt bei dem jetzigen Emanci¬
pationswerk noch ganz außer Frage, sie ist eine neue Ausgabe der Zukunft.
Es, galt zunächst nur. ein Gegengewicht gegen die Gefahr zu finden, daß die
Befreiung' von der leibeigenen Bevölkerung nicht dazu benutzt werde, den
schwereren Ackerbau um die leichtere und momentan lohnendere Jndustriearbcit
gänzlich zu verlassen. Deshalb ward auch festgesetzt, daß Haus und Garten
dem Bauer gehöre und der Grundherr ihm den hinreichenden Ackerboden
zur Lebensnothdurft gewähren müsse. So soll mindestens das bäuerliche
Proletariat und somit der Keim einer neuen ländlichen Leibeigenschaft ver¬
mieden werden, da der Entstehung des industriellen Lebens ans der Hand in
den Mund nicht vorzubeugen ist, wenn der industrielle Aufschwung nicht wie¬
der von vornherein mit lähmenden Fesseln beschwert werden soll.
Die Durchführung der Emancipation ist ein schwerer, gefährlicher Kampf,
und zwar nicht blos gegen das Widerstreben der bevorrechteten Opposition,
sondern auch gegen die Rohheit und Leidenschaften der Massen, welche sociale
Befreiung und anarchische Losgelassenhnt nicht zu scheiden wissen. Die Re¬
gierung bedarf also der ganzen Fülle ihrer Machtmittel zur Beherrschung des
innern Staatslebens auf lange Jahre hinaus. Während dieser Uebergangs¬
periode ist eine stetige Einlebung der neuen materiellen Zustände nicht zu er¬
warten. Eine energische Politik der mit Rußlands Machterweiterungsplanen
collidirenden Großmächte vermöchte wol diese Periode zu benutzen, um der
spätern Wiederaufnahme der alten, im Septembercircular programmartig for-
mulirten Politik durch ein besser gerüstetes, materiell ansgekräftigtes, auf seine
eigne Production gestelltes Reich zuvorzukommen. Der einschüchternde Nun-
bus, mit welchem Rußland früher seine aggressive Politik verfolgte, ohne auf
ernstlichen Widerstand zu stoßen, ist geschwunden, seitdem der orientalische
Krieg bewiesen hat, daß das Reich zwar nicht zu erobern, aber durch rasche
Entkräftung zu bezwingen ist. Zugleich hat diese Periode vor aller Welt
dargethan, daß Rußlands Hauptvortheil für sich, wie seine Hauptgefahr für
Europa daraus hervorgeht, daß es mit seinen Ansprüchen auf volle Gleich¬
stellung im europäischen System auf ganz andern Voraussetzungen fußt, als
die europäische Welt. Seine Politik ist weder von den gleichen socialen Be¬
ständen bedingt, noch zu gleicher;. Rücksichten auf dieselben gezwungen. Die
gleichen Lebensgrundlagen können sich' erst herstellen, wenn die jetzige Ueber¬
gangsperiode abgethan ist. Erst dann darf die russische Politik — ans ihrem
Standpunkt — hoffen, einem sie volo, sie ^judov den nachhaltigen materiellen
Nachdruck unter dem Schutz moralischer Berechtigungen geben zu können.
Allein auch dies wird unmöglich, wenn unterdessen die andern Großstaa¬
ten ihre Wechselbeziehungen ohne Rücksicht auf Rußland consolidiren können.
Eine PSlitik der Beunruhigungen ist das Mittel dies zu verhindern; doch
Rußland muß die Provocation vermeiden, um nicht sein inneres Neorgani-
sationswcrk beeinträchtigt zu sehen. Jsolirt vermöchte es diese einander wider¬
sprechenden Aufgaben nicht durchzuführen. Es bedarf einer alliirten Politik,
mit deren materiellen Interessen es nicht collidirt, mit deren innern Voraus¬
setzungen die seinigen möglichst übereinstimmen. Dies alles bietet der neu-
napoleonische Imperialismus, während überdies die Allianz mit Frankreich
zur Theilung der europäischen Hegemonie eine der Traditionen russischer Po¬
litik seit Katharina ausmacht. Die „organisirte Demokratie" des heutigen
westlichen Absolutismus ist die einzige europäische Staatskunst, welche sich
von den politischen Bedingungen des Bürgerthums lossagt, die für Rußland
nicht existiren. Sie ist ferner die einzige Staatskunst, welche gleichermaßen
wie Nußland, in der Centralisation das Hauptmittel ihrer absoluten Beherr¬
schung des nationalen Lebens findet. Sie ist demzufolge endlich auch die
einzige Staatskunst, welche blos die von ihr octroyirtcn Entwicklungen aner¬
kennt, und deshalb auch die Resultate jeder Lebensgestaltung für den momen¬
tanen Staatszweck in Anspruch nimmt.
In diesen innern Uebcreinstinnnungen liegt die Nothwendigkeit der
russisch-französischen Allianz; die momentane Uebereinstimmung in bestimmten
Politischen Fragen (der Donaufürstenthümer, Italiens ze.) begünstigte blos
als glücklicher Zufall deren raschere Entwicklung. Aber daß sie ungefähr¬
det bleibt, beruht darauf, daß Frankreich am goldenen Horn, in der Ost¬
see, in Mittel- und Hochasien mit Rußlands materiellen Interessen nicht
zusammenstößt. Dieses Verhältniß wird freilich voraussichtlich blos so lauge
dauern, mis Rußland noch nicht wieder in eine aggressive Politik überlenkt,
und so lange eben Napoleon der Dritte sein System durchzuführen vermag.
Bis dahin muß jedoch nothwendig die Politik der Beunruhigungen und
der Aufwirbelung europäischer Fragen in immer häufigeren und immer
schrofferen Widerspruch mit den Bedingungen und Bedürfnissen Europas kom¬
men. Nußland kann auf die Dauer den Miirten nicht mit vorgegebener In¬
differenz (ig. ILuWis se roeueuillit) oder einer reservirten diplomatischen Ueber¬
einstimmung genügen. Es wird in den Fall kommen, der moralischen die
materielle Unterstützung beizufügen, wenn auch bei dem starken Friedensbedürfniß
der Culturwelt wahrscheinlich jahrelang mit bloßen Demonstrationen auszu¬
reichen sein wird. Die in der Reorganisation begriffene und numerisch ver¬
minderte Landmacht bietet dafür an sich nicht das geeignete, leicht verwend¬
bare Mittel; ihre Anwendung würde überdies schon in den Landestheilen, wo
sie sich blos demonstrirend bewegt, die Rcformarbeit unterbrechen. Wenn es
aber nicht bei der bloßen Demonstration bliebe, würde sie nicht rasch genug
die Stärke haben, um offensiv vorzugehen und den Kampfplatz außerhalb der
Neichsgrenzen zu suchen. Dagegen vermag eine schlagfertig entwickelte See¬
macht alle Vortheile einer kriegsfertigen Landmacht zu bieten, ohne unter Ru߬
lands jetzigen Verhältnissen zugleich und sofort die Arbeiten der innern Neu¬
gestaltung des Reiches zu unterbrechen. Demonstrirend vermag sie die Wasserkraft
des Gegners von Rußlands Grenzen abzuziehen; selbst operirend vermag sie
den Krieg so lange von Rußlands Boden fern zu halten, bis dessen Land¬
macht sich schlagfertig um den geschulten Kern gruppirt hat.
Während Beschränkung, Ersparung, Vereinfachung seit Alexanders Krö¬
nung und selbst schon mitten im Kriege die Lcitwvrte aller Gänge der innern
Politik geblieben sind, blieb das Marinewesen in gleicher Konsequenz und
ausschließlich losgesagt von allen solchen Rücksichten und Hemmungen. Anstatt
46 großer Schiffe, welche noch 1355 größtentheils blos auf dem Papier stan¬
den, existirten 1857 schon 158, worunter 73 Dampfer; im Sommer 1858 aber
zählte die Ostseeflotte 27 kricgfertige Equipagen, das schwarze Meer 8, von
denen jede je aus 1 Linienschiff, 1 Kriegsdampfcr und zahlreichen Schrauben¬
oder Näderkanoncnbooten zusammengesetzt ist. Das Amurgeschwader wird
zugleich aus etwa 60 Fahrzeuge angegeben und eine riesenhafte Dampf-
maschincnfabrik in Astrachan arbeitet seit 1857 unablässig wie ausschließlich
für die maritime Armirung des kaspischen Meeres. Außerdem vermehrt sich
das Geschwader des stillen Meeres und der chinesischen Gewässer, während
sämmtlichen Gesellschaften, welche zum regelmäßigen Betrieb von Dampf¬
schiffahrtslinien concessionirt wurden, die Bedingung auferlegt ist, ihre Fahr¬
zeuge unter gewissen Eventualitäten der Negierung zum Transportdienst zu
stellen. So ist Rußlands Kriegsbereitschaft und Aggressivpolitit auf seine
Flotte übertragen. Nicht blos im Amur, sondern gleichermaßen im ligurischen
Meer überwacht sie ihre „Kohlendepots" mit bleibenden „Flottenstationen".
Großfürst Konstantin ist Großadmiral und Vertreter der Mannepolitik.
Wenn es noch des Beweises bedürfte, daß der Neger unfähig ist, Staa¬
ten im europäischen Sinne zu gründen, so würde er in den Schicksalen des
Negerreiches Haiti zu finden sein, welches soeben wieder einmal seine Regierungs-
form gewechselt hat, ohne daß darauf hin zu hoffen wäre, es werde sich
dieselbe mit dem sittlichen Inhalt füllen, der das Lebensprincip der Staaten
bildet. Haiti hat von der Natur alles erhalten, was zum Gedeihen eines Lan¬
des nöthig ist, nur eines nicht, Bewohner, die arbeiten wollen und sich selbst
regieren können. Es hat ein Klima, welches gesünder ist als das der meisten
übrigen Inseln Westindiens. Die Vegetation ist die üppigste, in seinen Wäl¬
dern hat es einen Reichthum an edlen Hölzern, in seinen Thälern finden sich
weite Strecken des ergiebigsten Bodens, seine Savannen nähren zahllose Rinder
und Pferde, seine Berge enthalten edle Stcinnrten. Salz und Metalle aller Art.
Es besitzt endlich eine Lage, die für den Handel überaus günstig ist, und ans
allen Seiten gute Häfen für Ein- und Ausfuhr. Es hieß einst die Königin
der Antillen, und es wurde als die köstlichste der amerikanischen Perlen in
der Krone Frankreichs bezeichnet. Die Ausfuhr betrug damals mehr als 135,
die Einfuhr gegen 70 Millionen Franken. Die Insel versandte alljährlich im
Durchschnitt 140 Millionen Pfd. Zucker, 75 Millionen Pfd. Kaffee ' und
7 Millionen Pfd. Baumwolle nach Europa. Jetzt wird von Baumwolle nur
noch der vierte Theil von damals, von Kaffee kaum die Hälfte, von Zucker gar
nichts mehr erzeugt. Die Mehrzahl der von den Weißen angelegten Pflanzun¬
gen sind eingegangen, die Villen, mit denen das Land besäet war, zusammen¬
gestürzt, die Zucker- und Jndigofclder wieder zu Sümpfen und Wäldern ge¬
worden. Ein Amerikaner, der sich auf dem Markt von Jacmel, einer der
Haupthandelsstädte Hallis, ein Erzeugnis; baltischer Industrie als Andenken
mitnehmen wollte, aber nichts als importirte Artikel fand, fragte eine der Ver¬
käuferinnen in den Läden verdrießlich: „Aber was in aller Welt macht man
denn nur in diesen, Lande?" — „lion quo äos erunt»" antwortete die
schwarze Dame, „ein vvulW-onus, Nonsivur?"
Sentimentale Negerfreunde, Ideologen werden dagegen sagen, die Insel
ist arm geworden durch ihre Emancipation vom Joch der Weißen, aber sie
hat dafür die Freiheit errungen, und ein einziger freier Mann ist mehr werth
als jene 75 Millionen Pfund Kaffee und jene 140 Millionen Pfund Zucker
zusammengenommen. Der Satz klingt gut, verträgt aber keine Prüfung an
der Geschichte. Es war bezeichnend, daß nach dem Abzug des französischen
Heeres, welches die Insel wieder erobern sollte, Dcssalincs, der sich nun zum
Kaiser ausrufen ließ, seinem Lande den Namen wieder gab. welchen es ge¬
habt, als es von menschenfressendcn Wilden bewohnt wurde. Für die schwarze
Race ist jede Emancipation ohne Zwischenstufen gleichbedeutend mit der Er¬
laubniß zum Faullenzen, jede Gelegenheit zu ungestörter Entwickelung ihres
Charakters der Anfang zur Rückkehr in die afrikanische Barbarei, und der
Versuch, einen Staat nach europäischem Muster zu gründen, wird unfehlbar
auf bloße affenartige Nachahmung in Aeußerlichkeiten hinauslaufen müssen,
hinter welcher der wüste Geist urthümlicher Unbändigkeit steht. Indem dieser
gelegentlich die Decke hebt und hervortritt, erweckt er liald durch sein kindisch
eiteles Wesen unser Lächeln, bald durch finstern Aberglauben unser Grauen,
bald durch blutige Thaten die Erinnerung, daß aus dieser Konstitution ^ la,
l^ris, aus dieser goldgestickten Generalsuniform, aus diesem ganzen Abklatsch
höherer Cultur der grimmige Halbmensch Dahomeys und des Gallaslandcs
uns angrinst.
Die Geschichte von Haiti ist seit der Vertreibung der Weißen eine Rei¬
henfolge von Ereignissen und Persönlichkeiten gewesen, welche entweder Cari-
caturen oder Schauergemälde waren. Nach dem blutigen Trauerspiel, dessen
letzter Act die gesammte weiße Bevölkerung entweder als Leichen oder als Ver¬
bannte zeigte, folgten, bisweilen durch die Posse einer Nachäffung europäischen
Hofceremoniels unterbrochen, andere Tragödien, in denen die schwarzen und
die gelben Leute, sich gegenseitig niedermetzelnd, den furchtbaren Nacenkamps
fortsetzten. Nur selten, und dann immer nur unter der Herrschaft der Mu¬
latten, trat eine Periode des Friedens und einer gewissen Ordnung ein, welche
auf eine gedeihliche Entwickelung hoffen ließ. Aber diese Hoffnung hat sich
bis heute nicht erfüllt und wird sicher noch so lange auf ihre Erfüllung war¬
ten lassen, als den Kindern Afrikas die ihnen nicht zukommende Rolle, die
sie seit nunmehr sechzig Jahren gespielt, sortznspielen erlaubt ist. Konsti¬
tutionen allein thun es hier so wenig oder noch weniger wie anderwärts.
Man hat alle erdenklichen Staatsformen versucht, sie sind immer und immer
nach kurzer Zeit zum Despotismus umgeschlagen, dem einzigen System, wel¬
ches hier einige Lebenskraft zeigt. Die unauslöschliche Feindschaft der Schwar¬
zen gegen alles „blaue Blut", welche sich auch auf die Mulatten ausdehnt,
der unvertilgbare Hang zu Liederlichkeit und Müssiggang, der jeden Versuch
besserer Regierungen, das Volk zur Thätigkeit anzuregen, als tyrannische Be¬
einträchtigung heiliger Interessen ansah, die Leichtigkeit, mit der jeder Gene¬
ral unter den Massen Söldlinge fand, die ihm zur unumschränkten Gewalt
verhalfen und ihn so lange darin erhielten, als nicht ein anderer mit Ver¬
heißungen bessern Lohnes kam, haben alle Anläufe Einzelner, das Negerthum
auf eine höhere Stufe der Gesittung zu erheben, schon nach den ersten Schrit¬
ten vereitelt.
Zu den genannten Charaktereigenschaften des Volkes von Haiti, welche
eine Consolidirung des Staats vereiteln, kommt uoch der Umstand, daß die
Gegensätze in der Sinnesart dieses Volkes sich geographisch vertheilen. Im Nor¬
den, wo fast nur Vollblutncgcr wohnen, ist die träge Masse dem Despotismus
zugethan. Im Süden, dem Lande der Mulatten, hat ein unruhiger, zu steten Pul¬
sader geneigter Oppositionsgeist seinen Sitz. Nachdem der blutige D essalines,
als Kaiser Jacques der Erste genannt, schon im zwölften Monat seiner Regierung
ermordet worden, zerfiel das Reich in die ebengenannten beiden Hälften. An
der Spitze der Partei, die den Tyrannen gestürzt, standen der Negcrgeneral
Christoph und der Mulatte Pötion. Verschiedene Bildung und verschie¬
dene Bestrebungen ließen die beiden sich trennen, sobald sie den gemeinschaft¬
lichen Gegner besiegt. Das Ergebniß eines dreijährigen Kampfes zwischen
ihnen war, daß im Süden eine Mulattenrepublik mit Pvtion als Präsiden¬
ten, im Norden ein Negerstaat mit Christoph als König entstand. Zwischen
beiden Staaten herrschte äußerlich zwar Ruhe, aber im Grunde haßten sie sich
gegenseitig, und die schwarze Hälfte erwartete nur eine Gelegenheit, um die
gelbe zu unterwerfen. Nach Pvtions Tode, im Jahre 1818, schien diese Ge¬
legenheit gekommen. Henri der Erste, wie Christoph sich seit seiner Thronbesteigung
nannte, versuchte die Nachbarrepublik zu erobern. Er fand indeß in Boyer,
dem Nachfolger Pütions auf dem Präsidentcnstuhl, einen Gegner, der ihm
gewachsen war, und da sein grausames Regiment im eignen Lande bald nachher
einen Aufstand der Mulatten hervorrief, in dessen Folge ihn seine Truppen verließen,
so machte er im October 1820 seinem Leben durch einen Pistolenschuß ein Ende,
woraus, da das königliche Heer sich Boyer unterwarf, eine Bereinigung beider
Theile des ehemals französischen Domingo unter der Verfassung der Mulatten¬
republik zu Stande kam. 1822 schloß sich diesem Staat auch der spanische
Antheil der Insel an, welcher sich im Jahr vorher frei gemacht hatte.
Diese Republik wurde allmäUg von allen Mächten, 1825 auch von
Frankreich anerkannt. Boyer regierte mit Verstand und Rechtschaffenheit nach
einer Verfassung, welche alle guten Dinge der freiesten europäischen Consti-
tutionen, Freiheit der Person und der Presse, Verantwortlichkeit der Beamten
u. a. enthielt, die Gesetzgebung einem Senat und einer Abgeordnetenkammer
übertrug und dem Präsidenten nur die vollziehende Gewalt gab. Er traf
mancherlei Maßregeln, seine Neger und Mulatten zu civilisiren, und that na¬
mentlich vieles zur Hebung des Ackerbaues. Wenn die Republik trotzdem
nicht vorwärts kam, so lag das zum Theil an den schweren Lasten, welche
ihr der Vertrag mit Frankreich auferlegt hatte, zum bei weitem größeren
Theil aber an dem trägen, stumpfsinnigen Naturell der schwarzen Bevölkerung
und an den Parteiumtrieben, welche in dem Haß der Neger gegen die Mu¬
latten ihre Wurzel hatten. Zwar erließ Frankreich 1838 einen beträchtlichen
Theil der ursprünglich aus 150 Millionen Franken festgestellten Summe, mit
welcher Haiti die ehemaligen Plantagenbesitzer entschädigen sollte. Aber die
Opposition des Abgeordnetenhauses gegen den Präsidenten dauerte trotz der
durch diese Minderung der Ausgaben ermöglichten Herabsetzung der Steuern
unter allerlei Vorwänden fort. Boyer fand sich dadurch veranlaßt, die Zügel
straffer anzuziehen. Er schritt endlich zu Gewaltmnßregeln. Die Gährung
wuchs hierdurch. Es erfolgten Aufstände, die 1843 zu einer allgemeinen Re¬
volution führten, welche nach einem kurzen, aber von den wildesten Excessen
begleiteten Bürgerkrieg mit der Absetzung Boyers und dessen Flucht nach
Jamaika endigte.
Die weitere Folge war eine mehrjährige Anarchie. Eine provisorische Ne¬
gierung, den General Nivivre an der Spitze, versuchte Ordnung zu schaffen.
Eine Gegenrevolution im Westen wurde blutig unterdrückt. Dagegen riß sich
der ehemals spanische, vorwiegend von Mulatten bewohnte Antheil von Haiti
los und constituirte sich als selbstständige Republik, die sich mit Erfolg gegen
die Angriffe Riviöres behauptete. Bald nachher erklärte General Pierrot
zu Cap Haitien den Norden, ein andrer Neger. Namens Acaau zu Cayes
den Süden für unabhängig, und zu gleicher Zeit decretirte die bisherige Par¬
tei des Präsidenten Rivivre zu Port an Prince, der Hauptstadt, die Absetzung
dieses letztem und ernannte den schwachen und stets betrunkenen schwarzen
General Guerricr zu seinem Nachfolger. Guerrier saßte den Vorsatz, sich des
Branntweins zu entwöhnen, seine Natur hing aber zu fest daran, und so riß
über dem Versuch sein Lebensfaden. Pierrot. jetzt'zum Präsidenten von ganz
Haiti gewühlt, versuchte sich durch Grausamkeiten zu behaupten, wurde aber
nach wenigen Monaten verjagt, da seine Weigerung, die mit Frankreich ver¬
einbarte Entschädigung Wetter zu bezahlen, einen Krieg mit den Franzosen
herbeizuführen drohte. Ihm folgte als Präsident der General Nich6. der
durch Entschiedenheit und Umsicht die Ruhe wieder herzustellen wußte, und
mancherlei verständige Maßregeln traf, ja selbst das unmöglich Scheinende,
eine Besserung der trostlosen Finanzlage des Landes, möglich machte. Un¬
glücklicherweise starb er schon nach einigen Monaten (wie es hieß, an den
Folgen einer zu starken Dosis Kantharidentinctur, mit welcher der siebzigjährige
Greis sich zu verjüngen versuchte) und seinem Nachfolger, dem General Sou-
louque, war es vorbehalten, den Staat zu einer vollständigen Caricatur
europäischer Monarchien zu machen.
Anfänglich schien Sonlouaue die Erwartungen, welche im Senat seine
Wahl veranlaßt, rechtfertigen zu wollen. Er war ein echter Neger und als
solcher den Schwarzen angenehm, er stand aber zugleich mit den verschiedenen
Classen der Mulatten auf gutem Fuße, und so schien seine Erhebung zum
Präsidenten eine Art Kompromiß der Parteien. Aber nur zu bald zeigte sich,
daß von ihm für die Besserung der Zustände des Landes nichts zu hoffen,
wol aber viel zu fürchten war. Der Pöbel unter den Schwarzen glaubte,
daß Boyer vor seiner Vertreibung im Garten des Prüsidentenhauses einen
Zauber in Gestalt einer Puppe vergraben habe, welcher allen seinen Nach¬
folgern unvermeidlich dem Untergang bereite. Auch mit dem Präsidentenstuhl
sollte er eine Hexerei vorgenommen haben; deshalb seien die vier auf ihn
folgenden Machthaber so rasch nacheinander zu Grunde gegangen. Soulouaue,
völlig ungebildet, halb katholischer Christ, halb Fetischanbeter (er gehört dem
Geheimbunde des Wodu an, einer Art heidnischer Freimaurerei, welche
Schlangcnverehrung und blutigen Zauber treibt), theilte diesen Aberglauben,
ließ Nachgrabungen nach der mörderischen Puppe im Garten anstellen, einen
neuen Präsidentenstuhl bauen und andere Thorheiten dieser Art vornehmen.
Die Mulatten lachten darüber. Soulouaue erfuhr ihre spöttischen Bemerkungen
und sann fortan auf Rache und auf Ausrottung aller, die nicht seinen Glauben
theilten. Er näherte sich mehr und mehr der Partei der sogenannten „Ultra¬
neger" und suchte sie für seine Pläne, unter denen ohne Zweifel schon damals
das Streben nach dem Kaisertitel eine Stelle einnahm, die aber zunächst auf
Vertilgung aller einigermaßen Gebildeten hinausliefen, zu gewinnen. Es
wurde das Gerücht verbreitet, die freigeisterische Partei stände mit Boyer noch
immer in Verbindung. Man setzte Sagen von Verschwörungen, Höllenma¬
schinen, communistischen Tendenzen unter den Mulatten in Umlauf, und nach¬
dem die Hefe des Volks auf diese Weise vorbereitet war, begann auf Anstiften
des Präsidenten am 1V. April 1848 zu Port an Prince ein entsetzliches
Morden aller wohlhabenden und gebildeten Einwohner, vorzüglich der Mulatten,
welches sich im ganzen Lande wiederholte und besonders im Süden mehre
Monate fortdauerte. Diesem Sieg versuchte Soulouaue 1849 einen neuen
hinzuzufügen, indem er mit einem Heer von 20.000 Mann zur Unterwerfung
der Mulatten von San Domingo aufbrach. Er wurde indeß von diesen in
der Schlacht bei Savcmna Numero aufs Haupt geschlagen, was ihn jedoch
nicht verhinderte, in Port an Prince als Triumphator einzuziehen. Dem
»Retter des Vaterlandes" wurde von seiner Partei die Krone angetragen, er
nahm sie an, und da ihm für ein Reich von einer halben Million Einwohner
der Königstitel zu wenig schien, so verfügte er, daß es eine Kaiserkrone sein
sollte. Nun folgte auf das Trauerspiel eine Posse, die. wenn man nicht wüßte,
daß Souiouqnc und sein Volk sie in vollstem Ernst aufführten, für einen
Schwank gehalten werden könnte, den Negern von einem der Schalle Euro-
pas ins Ohr geblasen, um zur Verhöhnung des Adels- und Ordenswesens
und der Despotie in Europa zu dienen.
Soulouque wußte — er war früher Sklave auf der Plantage eines
Herrn Viallet gewesen und konnte nur nothdürftig lesen — vermuthlich nur
von einem Kaiser vor ihm. Diesem, dem ersten Kaiser der Franzosen, mußte
er es in allen Stücken gleichzuthun suchen. Napoleon der Erste ließ sich
mit mittelalterlichen Gepränge krönen, also mußte Faustin der Erste, wie
sich der neue Negerkaiser zu nennen geruhte, ebenso gekrönt werden. Napoleon
der Erste war dabei vom Papst gesalbt worden, Faustin der Erste, der auf
diese Ehre keine Aussicht hatte, schickte seinen Hofkaplan Cessens nach Rom.
um ihn dort für den Salbungsact in einen Generalvicar des päpstlichen
Stuhles umwandeln zu lassen, ein Titel, der wenigstens ein Surrogat für das
Erscheinen des heiligen Vaters unter seinen schwarzen Söhnen war. Napoleon
der Erste hatte seinen Soldaten Adler ans die Fahnenstangen gesetzt, hatte sich
mit einem zahlreichen Adel neuesten Datums umgeben, hatte sich eine Garde
geschaffen, hatte den Orden der Ehrenlegion gestiftet. Faustin der Erste that
in allen diesen Dingen so genau desgleichen, als ob er der Schatten seines
Vorbildes wäre.
Wir geben nach dem Bericht eines Franzosen, der sich 1849 in Haiti
aufhielt, einige Einzelheiten über diese Schöpfungen des kaiserlichen Nach¬
ahmungstriebes. Der Verfasser ist hierin um so glaubwürdiger, als er in
andern Beziehungen Solouque von den Lächerlichkeiten, die von ihm erzählt
worden, rein zu waschen sticht. Unsre Quelle sagt unter Anderm: „Es giebt im
Reiche zwei Orden einen für Militärs, vom heiligen Faustin und einen für Civil¬
personen, das Ehrenlegionskreuz. Bei beiden ernannte sich der Kaiser zum
Großmeister, beide zerfielen in Großkreuze. Comthure und Ritter. Die Adels¬
titel waren: Fürst, Herzog, Graf. Baron und Ritter. Fürsten und Herzöge
nahm man aus Divisionsgeueralen und Viccadmiralen (die Flotte Hallis
zählt 8 Fahrzeuge, zusammen mit 16 Kanonen und ungefähr ebenso vielen
Admiralen, die Landarmee 20,000 Mann mit mindestens so vielen Generalen,
als ein gleich starkes Heer bei uns Hauptleute haben würde), Grafen aus den
Brigadiers und Gegcnadmiralcn, Barone aus den Gcneraladjutanten, Obersten
und Schiffscapitänen, so wie aus den Senatoren, Deputaten, Richtern und
hohem Zollbeamten. Ein einziger Erlaß des Kaisers schuf 4 Fürsten und
57 Herzöge, ein andrer nicht weniger als 91 Grafen mit dem Titel Excellenz,
und die besonders fruchtbare Zeit kurz vor der Krönung setzte dazu noch 2
Herzöge, 8 Grasen, 336 Barone und 346 Ritter in die Welt. Die Fürsten
wurden zugleich mit dem Titel Reichsmarschall begnadigt, und man hatte sie
mit „Lord und Allerdurchlauchtigste Hoheit" anzureden. Die Herzöge mußten
sich mit Ew. Gnaden begnügen. Ihre Titel klangen zum Theil ziemlich
wunderlich; denn es gab darunter einen Herzog von Marmelade, einen der¬
gleichen von Limonade, ja einen Herzog von Gefrornem Zuckerplätzchen; in¬
deß ist zu bemerken, daß dies Namen von Orten auf Haiti sind und daß
man in der französischen Geschichte ähnlichen Adelsnamen, z. B. einer Familie
des Pols und de Bouillon begegnet. Alle Fürsten und Herzöge waren Gro߬
kreuze des Ordens vom heiligen Faustin und trugen das große Band der
Ehrenlegion, alle Grafen Comthure von jenem und Offiziere von diesem Orden.
Im kaiserlichen Haushalt gab es einen Großalmosenier, einen Obcrstküchcn-
meister, einen Obersthofmarschall, einen Quartiermeister und eine Menge
Kammerherrn, Ceremonienmeister. Bibliothekare, Wappcnherolde u. d. in.
Die Gemahlin (früher Concubine) Sr. Majestät, die den wohlklingenden
Namen Adelina führt, war von einem ähnlichen Hofstaat umgeben, sie hatte
unter anderm 56 Palastdamen und 22 Damen von der Kapelle, die sämmt¬
lich Herzoginnen. Gräfinnen, Baronessen. Marquisen oder Frauen von Rittern
waren. Nicht viel weniger glänzend war der Haushalt der kaiserlichen Prin¬
zessinnen Olivia und Olivetta.
Besondere Sorgfalt verwendete Kaiser Faustin auf Anordnungen, welche
die äußere Erscheinung seines Adels betrafen. Für die Fürsten, Herzöge und
Grafen wurden weiße, für die Barone rothe, für die Ritter blaue Röcke vor¬
geschrieben. Die Fürsten hatten neun, die Herzöge sieben, die Grasen fünf,
die Barone drei, die Ritter zwei Federn auf dem Hute zu tragen. Bei den
Hoffesten gebührte den Fürsten und Herzögen und deren Gemahlinnen ein
Tabouret, während für die übrige coursähige Welt nur Feldstühle bereit
standen.
Wir lächeln über dieses Puppenspiel, bei dem eine der großen Neujahrs-
couren. von denen der „Monitem Haitien" mit so würdevoller Sprache be¬
richtet, ungemeine Aehnlichkeit mit einer Vorstellung in unsern Affenkomödien
gehabt haben dürste. Indeß wissen wir aus französischen Zeitungen, daß in
Frankreich , welches doch „an der Spitze der Civilisation marschirt", genau die¬
selbe Titelsucht grassirt, welche Soulouques Schöpfungen hervorrief, und daß
auch dort die rothen Bändchen seit einigen Jahren wie die Maikäfer schwärmen
und sich jedem ins Knopfloch nesteln, der sie haben mag, und so gilt unsre
Heiterkeit zugleich den weißen Originalen des schwarzen Abklatsches, die übrigens
nicht blos in Frankreich, wenn auch dort vorzugsweise, zu suchen sind. Den
Negern Hallis war der Titelregcn erwünscht, und Soulouque setzte sich damit
in den größten Respect. Daß alle seine Gnaden und Gaben kindischer Flitter¬
tand waren, blieb ihnen, die keine Bergleiche mit seinen Vorbildern anstellen
konnten, verborgen. Zudem waren die Würden, die er spendete, nicht eben ein¬
träglich. Der monatliche Gehalt, der sich an seine Herzogstitel knüpfte, betrug nach
unserm Gelde etwa sechzehn Thaler, so viel wie bei uns ein Feldwebel bekommt,
und seine Herzoginnen und Gräfinnen hielten es nicht für einen Raub, wenn Hof¬
feste sie nicht in Anspruch nahmen, sich mit Kram- und Putzhandel zu beschäftigen.
In den ersten Monaten des Jahres 1852 herrschte in Port an Prince
ein reges Leben. Der Krönungsornat, Krone und Scepter. Ring und Reichs¬
apfel, die Hand der Gerechtigkeit, das Schwert und der blaue mit goldenen
Bienen bedeckte Kaisermantel war, in Paris nach dem Muster des Napoleo¬
nischen Gezeugs angefertigt, eingetroffen. Die Krönungsstiefeln, in Neuyork
gemacht und mit 300 Dollars bezahlt, ebenfalls. Die einheimischen Schneider
nähten an nichts als den Hosuniformen, welche den Adel schmücken sollten
und sür welche das Programm — sehr bezeichnend für die Verhältnisse —
aufs genaueste die Stickereien, Fransen, Borten, Spitzen, Federn und Mäntel
vorgeschrieben, aber nichts von den Hosen und der Fußbekleidung gesagt
hatte. Von allen Gegenden des Landes trafen Abgeordnete ein, - um der
Ceremonie der Krönung beizuwohnen. Diese fand denn auch am 13. April
mit allem möglichen Pomp und Getöse statt. Paraden barfuß einherschreitcnder
Truppen, Vertheilung von Adlern, Kanonenschüsse, dann der Act der Sal¬
bung, dann siebentägiges Jubelgeschrei und Tanzen, sieben Nächte hindurch
fortgesetztes Jlluminiren. Wehe dem, der sich nicht freute, er ward als Ma¬
jestätsverbrecher verhaftet, und wenn er keine vollkommen schwarze Haut be¬
saß, hatte er von Glück zu sagen, wofern man ihm das Leben ließ.
Wir haben gesagt, daß der bettelhafte Adels- und Ordenspomp, mit
dem Fanstim Soulouquc sich umgab, auf sein Volk eine günstige Wirkung übte.
Anderes gefiel weniger. Der Kaiser verlieh dem Lande eine Verfassung sehr
freisinniger Art. Dieselbe gewährte bürgerliche und religiöse Freiheit. Freiheit
der Presse und des Unterrichts, in Criminalsachen Geschwornengerichte, Mi¬
nisterverantwortlichkeit u. a. Die Gesetzgebung war einem Senat und einer
aus fünf Jahre zu wählenden, jährlich vier Monate lagerten Abgeordneten¬
kammer übertragen. Dem Kaiser blieb nur die vollziehende Gewalt. Diese
und andere schöne Dinge standen aber nur auf dem Papier. In der Wirk¬
lichkeit wurde Haiti vollkommen despotisch regiert. Die Presse hatte in der
Praxis nur die Freih/it, Soulouque auf jede beliebige Weise zu loben. In
Betreff des Unterrichts bestand die Freiheit darin, daß man seine Kinder in
die Schule schicken konnte oder nicht, vorausgesetzt natürlich, daß es in der
Nähe eine gab, was nur hier und da der Fall war. Die Minister waren
verantwortlich, aber nur dem Kaiser, der so wenig Widerspruch vertragen
konnte, daß er in den ersten Jahren so ziemlich alle zwölf Monate ein Mit¬
glied seines Cabinerö erschießen ließ. Der Senat, vom Kaiser, gewählt, und
die aus den Staatseinkünften gut besoldete Abgeordnetenkammer antworteten
auf jede Vorlage mit einem devoter Ja.
Die einzige Freiheit, die dem Volke blieb, war die in Religionssachen.
Der Papst schickte 1853 einen Legaten nach Port an Prince, um mit Sr.
schwarzen Majestät ein Concordat abzuschließen. Soulouque wollte davon
nichts wissen. Er meinte nicht unverständig, es bedürfe keiner solchen Ueber-
einkunft mit dem päpstlichen Stuhl, da die Regierung schon selbst auf Er¬
haltung des Katholicismus bedacht sei. Haiti sollte vor den aufrührerischen
Ränken einer Rom mehr als der einheimischen Oberbehörde gehorchenden
Geistlichkeit bewahrt bleiben. Uebrigens hätten die sonst mit ihrem Bann¬
strahl so freigebigen Statthalter Christi nie daran gedacht, den Sklavenhandel
mit dem Bann zu belegen, und endlich hätte der Papst die dem Staat
Haiti stets feindlich gesinnten Franzosen in Rom, und gehorchte Haiti jetzt
Sr. Heiligkeit, so würde es mittelbar der Herrschaft Frankreichs unterworfen
sein. Da die Remonstrationen des Legaten gegen diesen Bescheid nichts fruch¬
teten, so versuchte er es mit Demonstrationen, kam damit aber an den un¬
rechten Mann. Soulouque stellte ihn unter polizeiliche Aufsicht, und Mon-
signore sah sich zuletzt genöthigt, sich unverrichteter Sache nach Hause zu
begeben. Zwangsmaßregeln anzuwenden trug man in Rom Bedenken, da
Soulouque für den Fall gedroht hatte, mit seinem ganzen Volk zum Metho¬
dismus überzutreten.
So blieb der baltische Katholicismus sich selbst überlassen, und die Art,
wie er sich entwickelte, ist nicht weniger bezeichnend für das Wesen des Negcr-
thums, als die politische Geschichte des Landes. Die schwarze und gelbe
Geistlichkeit verwilderte immer mehr. Dazu kamen europäische Priester, die
wegen schlechter Streiche ihre Heimat!) verlassen hatten, auf Haiti aber, da
sie wenigstens lesen und schreiben konnten, auch etwas Latein verstanden, als
gelehrte Männer bewundert und sofort angestellt wurden. Die Schließung
kirchlicher Ehen geriet!) allmälig fast ganz außer Gebrauch, mehr als neun
Zehntel der Unterthanen Faustin-Soulouques lebten gleich ihrem Kaiser vor
seiner Krönung im Concubinat und liefen nach Belieben zu- und voneinander
wie in Afrika, ihrer Urheimat!). Endlich trat dazu noch der Götzendienst der
Wodureligion, der sich immer weiter ausbreitete, einen großen Theil der ein¬
heimischen Priesterschaft zu Anhängern gewann, in Soulouque selbst einen
Oberpriesier erhielt und, indem seine Gebräuche mit denen der katholischen
Kirche verschmolzen, die große Mehrzahl des Volkes von Haiti außer den
Heiligen Roms auch noch die Fetischschlangc Afrikas anbeten ließ. Daß da¬
mit die Barbarei auch auf andern Gebieten des Lebens noch mehr überhand¬
nahm als früher, kann nicht verwundern, und wenn die schwarzen Stutzer
von Port an Prince sich die „Pariser Westindiens" nennen lassen, so ist dar-
unter etwa das zu verstehen, was man an den, Parisern von Jassy und
Bukarest zu loben hat: pariser Moden und Phrasen.
Die Wodureligion ist ein afrikanischer Cultus, der besonders im König¬
reich Juida in hohen Ehren steht und schon vor der Vertreibung der Weißen
auf Haiti unter der niedern Classe des Volks verbreitet war. Die Gottheit,
welche durch denselben verehrt wird, ist eine Schlange, die in einem kleinen,
auf der einen Seite nur mit einem Gitter geschlossenen Kasten aufbewahrt,
und deren Verkehr mit ihren Anbetern durch einen Priester und eine Priesterin
vermittelt wird. Die ledern führen den Titel König und Königin, oder Papa
und Manail Wodu. Wie in allen Religionen wilder Völker spielt unter den
Ceremonien der Wodusekte der Tanz eine Hauptrolle. Die Mitglieder des Bundes
werden durch einen Eid, bei dem sie aus einer Urne das noch warme Blut
einer frisch geschlachteten Ziege zutrinken haben, zur Verschwiegenheit und zur
Ermordung aller, die das Geheimniß nicht bewahren, verpflichtet. Die Ein¬
geweihten finden sich an geheimen Orten zusammen, die ihnen bei der vorher¬
gehenden Versammlung bezeichnet werden. Beim Eintritt legen sie Sandalen
an und umhüllen den Körper mit Tüchern, bei denen die rothe Farbe vor¬
herrschen muß. Der Priester trägt ein ganz rothes Tuch in Form eines Dia¬
dems um die Stirn, die Priesterin eines von gleicher Farbe als Schärpe um
den Leib. Beide stellen sich vor einem am Ende des Versammlungsortes ange¬
brachten Altar auf, welcher den Kasten mit der heiligen Schlange trägt.
Diese wird jetzt angebetet und der Schwur der Verschwiegenheit erneuert.
Dann preisen der Priester und die Priesterin, abwechselnd das Wort nehmend
die Wohlthaten, die der Fetisch seinen Getreuen erweist, und fordern die Ver¬
sammlung auf. ihm ihre Verehrung darzubringen und sich bei ihm Raths zu
erholen. Dies geschieht. Der Papa Wodu setzt den Kasten mit der Schlange
aus die Erde. Manail Wodu tritt darauf und wird von Zuckungen ergriffen,
und nun gehen aus ihrem Munde Orakel, je nach der Gelegenheit Verhei¬
ßungen oder Drohungen hervor. Nachdem die Befragung vorüber, bringt
jeder der Theilnehmer an der Ceremonie seinen Tribut dar, und der Ertrag dieser
Sammlung bildet den geheimen Schatz des Bundes. Die Priester verkünden
hierauf der Versammlung die allgemeinen Gebote des Gottes Wodu und ein
neuer Schwur des Gehorsams wird geleistet.
Dann Pflegt man neue Mitglieder aufzunehmen, wenn sich deren gemeldet
haben. Der Aufzunehmende stellt sich in einen mit Kohle auf den Boden ge¬
zeichneten Kreis. Der Papa Wodu gibt ihm ein Packet in die Hand, welches
gewisse Kräuter, Pferdehaare, und Horn- und Knochenstückchen enthält, schlägt
ihn mit einer Art Pritsche leicht auf den Kopf und beginnt ein kurzes afrika¬
nisches Lied zu singen, welches von den Versammelten im Chor wiederholt
wird. Der Candidat sängt an zu zucken und zu zittern, sein Zittern wird,
indem der Geist des Tasia mitwirkt*) zu einer Art Tanz, der zu einem ent¬
setzlichen Gliederschlenkern und ellenhohem Emporschnellen ausartet und große
Ähnlichkeit mit unserm Veitstanz hat. Der Priester scheint diese epileptischen
Zufälle durch Manöver hervorzurufen, welche mit dem thierischen Magnetismus
in Verbindung stehen. Es ist indeß möglich, daß sie nur Folge einer ähn¬
lichen religiösen Aufregung sind, wie sie an den amerikanischen Shakern. bei
den Revivals und Campmeetings der Methodisten und bei den Zikrs der
türkischen Derwische beobachtet werden. Häusig endigt dieses Hüpfen, Ver¬
renken und Grimassenschneiden, während dessen der wilde Gesang fortdauert,
mit mehrstündiger Bewußtlosigkeit. Wenn der Tänzer bei seinen Bewegungen
den Kreis überschreitet, gilt es als böses Omen, die Sänger schweigen plötzlich,
und Papa und Manail Wodu wenden den Rücken, um üble Folgen ab¬
zuwenden.
Nachdem der Aufzunehmende die Probe abgelegt, leistet er den Eid der
Verschwiegenheit vor dem Altar der Schlange, und nun hebt der Tanz des
Wodu an. Der Priester berührt mit der Hand oder dem Fuß den Kasten,
welcher den Fetisch enthält. Sofort beginnen ihm alle obern Theile des Kör¬
pers zu zittern, und aus dem Beben der Muskeln werden schlenkernde Be¬
wegungen, wie wenn ihm alle Glieder aus den Gelenken gereute wären,
Dieselben theilen sich wie durch einen elektrischen Strom allmälig den übrigen
Anwesenden mit, und bald dreht sich die ganze Gesellschaft in schwindelnder
Hast um die eigne Axe. Die Priesterin, die daran Theil nimmt, steigert die
- Tanzwuth, indem sie die Schellen bewegt, mit denen der Kasten der Schlange
behängen lst. Wildes Gelächter und Gestöhn, Purzelbäume, Ohnmachten,
Bisse bekunden die unheimliche Fieberwuth der Tänzer, die noch überdies durch
das Feuer von Tasia gesteigert wird. Die Schwächern fallen endlich erschöpft
zu Boden, die übrigen Theilnehmer der greulichen Orgie tanzen und taumeln
nach einem Platz in der Nähe, wo unter der dreifachen Anreizung geschlechtlicher
Triebe, des Branntweins und der Dunkelheit Scenen aufgeführt werden, vor
denen selbst die stumpfsinnigen Götter Afrikas mit den Zähnen knirschen möchten.
Dies ist die Wodureligion, dies das Geheimniß, welches 1791 im Ver¬
lauf einer einzigen Nacht die trägen und weithin zerstreuten Sklavcnmassen
der Insel zu wüthenden Banden vereinigte, sie sich fast ohne Waffen auf die
Bajonette des französischen Heeres stürzen ließ und die Todesverachtung ein¬
flößte, welche zuletzt über die Taktik der Weißen den Sieg errang. Mehre
der wildesten Führer der Neger gehörten damals dem Bunde an, und jedes¬
mal ehe sie ins Treffen gingen, erhitzten sie sich und die Ihren durch die
Tänze und Anrufungen vor der heiligen Schlange.
Der Streit mit dem Papst machte dem Kaiser in Haiti keine Gegner.
Wol aber fand man seinen Despotismus allmnlig unerträglich. Die Ver¬
fassung bestimmte ihm eine Civilliste von 150,00», der Kaiserin jährlich 50,000
Gourdons, nach unserm Geld etwa 280,000 Thaler. Dies war mehr als
der siebente Theil des gesammten Staatseinkommcns. Soulouque blieb aber
dabei nicht stehen, er griff nach allem, was zur Befriedigung seiner zahlreichen
abenteuerlichen Launen erforderlich war. Zunächst wurden bei Lieserungsver-
trägen heimliche Geschäfte für die kaiserliche Kasse gemacht. Dann ließ er
seine Soldaten, die drei Regimenter Kaisergnrde nicht ausgenommen, als
Handwerker und Tagelöhner für Privatleute arbeiten und strich den dafür ge¬
zählten Lohn ein. Am meisten endlich brachten ihm seine Manöver mit dem
Staatspapiergeld ein. Zur Zeit NiclM belief sich die Summe des im Um¬
lauf befindlichen Papiergeldes auf 17 Millionen Gourdons. unter Sou¬
louque war sie bereits zwei Jahre nach seiner Krönung aus 50 Millionen ge¬
stiegen. Der Kaiser gab geraume Zeit nacheinander täglich sür 20,000 Gourdons
Zettclmünze aus, und wehe dem, der sich weigerte, sie anzunehmen. Sou¬
louque war nach seiner eignen Ansicht überaus gutherzig, nur nicht gegen
Rebellen und Hochverräther. Ein Unterthan aber, der sein Papier nicht für
gut ansah, war ihm ein Hochverräther erster Classe, und für diese gab es
nur eine Strafe, den Tod. Zu Gunsten der fremden Kaufleute mußte er in¬
deß eine Ausnahme machen. Diese nahmen für die Waaren, welche sie im-
portirten, die Soulouqueschen Zettel nicht. Sie ließen sich, da so gut wie
kein anderes Geld vorhanden war — wenigstens nur in den Truhen des
Kaisers und einiger seiner Günstlinge — mit Kaffeebohnen bezahlen, die hier
zuletzt beinahe wie die in der Heimath der Schwarzen gebräuchlichen Kauris ge¬
braucht wurden, so daß auch in dieser Beziehung das echte urwüchsige Äfrikaner-
thum sich seiner vollkommenen Wiederherstellung näherte.
Der Kaffee ist das Haupterzeugniß der Insel, er ist die Basis der dor¬
tigen Finanzen und wird ovo Soulouques Negern nach einer Zwangsvcrord-
nung gebaut, was indeß nicht hinderte, daß die Ausfuhr, die unter Boyer
sich noch auf 50 Millionen Pfund belaufen hatte, unter Soulouque auf
35 Millionen Pfund herabsank. Der Kaiser nahm, um sich für seine Aus¬
gaben eine sichere Quelle zu verschaffen, ein Zehntel der ganzen Kaffeeernte
für sich in Anspruch und monopolisiren eine Anzahl von Agenten, an welche
die Besitzer von Kaffecplantagen allein ihren Kaffee verkaufen durften. Diese
Agenten drückten natürlich, da sie keine Concurrenz zu fürchten hatten, die
Producenten aufs äußerste und zahlten ihnen dafür nur Papiergeld, während
sie von den europäischen Exporteuren gutes Geld sür ihre Waare erhielten,
von dem sie dann an die kaiserliche Kasse den erwähnten Zehnten abführten.
Unter solchen Verhältnissen würde der von Natur träge Negcrbauer, wenn
jene Zwangsverordnung ihn nicht mit Strafe bedroht hätte, die Pflege seiner
Kaffeegarten um so lieber aufgegeben und sich dein Schicksal der Armuth über¬
lassen haben, als einige Bananen und Wurzeln hinreichten, ihm das Leben
zu fristen, und Kleider, so wie andere Bedürfnisse civilisirter Völker ihm bei
dem Klima seiner Insel als entbehrlich erschienen.
Erst im Juli 1350 gelang es den fremden Consuln durch energische Vor¬
stellungen, die Aufhebung der Monopolisirung zu erwirken. Der Kaiser sah
darin eine Beeinträchtigung seiner Macht, und da er den Fremden nichts an¬
haben konnte, so mußten es die Mulatten entgelten. Sie wurden des Ein¬
verständnisses mit den Consuln angeklagt, und es begann von neuem eine
Reihe der greulichsten Scenen, Einkerkerungen, Hinrichtungen und Ermordungen.
Für Schulen that Soulouque nichts, er setzte sogar die unter Boyer im
Budget für Zwecke des Unterrichts bestimmte Summe von 20,00« Thalern
auf ein Drittel herab. Man kann sich denken, was dafür bei einer Bevöl¬
kerung von einer halben Million Menschen geleistet werden konnte, wenn man
damit vergleicht, daß eine unserer Mittelstädte jährlich mehr als doppelt so
viel für ihr Schulwesen ausgibt.
Etwas besser scheint für das Heer gesorgt gewesen zu sein. Indeß zahlte
der Kaiser auch hier mehr mit Titeln und Orden als mit Geld. Der Sold
der Offiziere und Soldaten war gering und wurde obendrein unregelmäßig
und mit Verkürzungen, überhaupt aber in dem fast werthlosen Zettelgeld aus¬
gezahlt. Um sich indeß unter den Generalen Freunde zu erhalten, gewährte
ihnen Soulouque gelegentlich einen Antheil an den Unterschleifen bei Liefe¬
rungsverträgen und dergleichen, und im Uebrigen halfen sich die hohem Offi¬
ziere durch Erpressungen oder dadurch, daß sie sich bestechen ließen — Aus-
kunftsmittel, die auch unter den Civilbeamten an der Tagesordnung waren.
Die Ausrüstung und Uniformirung der Armee war über alle Begriffe kläglich.
Ein Amerikaner, derselbe, der nach dem Obigen die drastische Antwort in Be¬
treff der Produktion Hallis bekam, erzählt davon Folgendes:
„Wir kletterten mühsam über das zerbrochene Holzgerüst der halbvermo-
derten Landungsbrücke (von Jacmcl) und wurden sofort umringt und sehr ge¬
läufig französisch angeredet von dem zerlumptesten Gesindel, unter das ich je¬
mals in meinem Leben gerathen war. Ich dachte zuerst beinahe, es handle
sich um irgend ein pantomimisches Fest, und dieses Sammelsurium von alten
Lappen und Fetzen sei eben der Spaß des Tages. An der Ecke der Ufer¬
bastei stand eine Schildwache auf Posten, daneben war ein Schuppen, der als
Hauptwache zu dienen schien, mit ungefähr einem Dutzend Soldaten an der
Thür. Diese militärischen Neger waren ebenso komisch mit Lumpen und Lap¬
pen behängen wie die anderen. Kaum zwei von ihnen sah ich gleichmüßig
bewaffnet und unisormirt. Es war ein Mummenschanz, der sich ausnahm,
als hätten seine Theilnehmer sich mit den weggeworfenen Hadern einer herum¬
ziehenden Komödiantentruppe ausstaffirt. Auf dem Kopf des Einen saß ein Jn-
santcriekäppi, das auch als Feuercimer zu brauchen gewesen wäre, auf dem
des Andern eine Husarenmütze, die lange Jahre als Aschpfanne gedient zu
haben schien. Ein Bursch war completer Grenadier bis zum Kinn, von da
an weiter herab ein vollständiger Lumpenkerl, ein Vierter trug Generalsepau¬
letten, aber weder Schuhe noch Strümpfe. Hier hatte einer blos ein Bajonett
an der Hosentasche hängen, dort ein andrer einen alten schäbigen Galanteriedegen,
da ein dritter eine verrostete Muskete — der ganze An- und Aufzug war eine
Cancatur von vertrödeltem Putz und Uniformen. Ich war im Begriff, die Leute
aus purer Artigkeit anzulanden. Der wilde ingrimmige Blick jedoch, mit dem
sie uns vom Kopf bis zu den Füßen maßen, ließ mich ernst bleiben. Die
Weißen werden hier blos geduldet, und da meine Haut von dieser verdäch¬
tigen Farbe ist, so erwählte ich das tingere Theil und war höflich."
Von aller dieser Erbärmlichkeit war in den amtlichen Berichterstattungen,
welche die Minister Soulouques dem Abgeordnetenhause alljährlich vorlegten,
natürlich nicht die Rede. Die Negierung, heißt es in einem dieser phrasen¬
reichen Actenstücke, biete alle Mittel auf, um den Ackerbau zu heben; denn
sie wisse sehr wohl, daß er die Grundlage des Wohlergehens der Bevölkerung
bilde. Alle Unterthanen hingen deshalb auch mit ganzer Seele an ihrem
geliebten Herrscher, Kaiser Faustin dem Ersten. Sr. Majestät habe dies in
vollem Maße bei seinen Rundreisen während der letzten Jahre erfahren. Han¬
del und Verkehr seien im Steigen begriffen; namentlich habe sich die Einfuhr
im Lauf der letzten vier Jahre um das Vierfache gesteigert. Deckten trotzdem
die Einnahmen noch immer nicht die Ausgaben, so wäre die Schuld davon
lediglich in den außerordentlichen Bedürfnissen des Staats zur Abtragung der
Schuld an Frankreich und zur Zahlung der Interessen von Anleihen zu suchen,
welches alles von den vorhergehenden Regierungen versäumt worden sei.
Demgegenüber stimmen alle unparteiischen Berichte überein, daß das
Negerreich Haiti unter Soulouque mit jedem Jahr rascher seinem materiellen
Ruin entgegenging. In dem Maße aber, in welchem das Volk verarmte,
füllten sich, trotz der großen Ausgaben des kaiserlichen Hofhaltes, der allein
dreimal mehr kostet, als der gesammte Staatshaushalt zur Zeit Boyers. die
Truhen Soulouques immer mehr, und er soll, als er endlich vertrieben wurde,
einen Privatschatz von 28,000 Dublonen und s Millionen brasilianischer P.e-
sos — zusammen etwa 7,6t7,200 Thaler zurückgelassen haben — gewiß eine
schöne Ersparniß bei elfjähriger Herrschaft über eine halbe Million Menschen,
zumal, wenn man in Anschlag bringt, daß die Summe dem Volke direct aus¬
gesaugt, nicht wie anderwärts durch geschickt dirigirte Börsenmanöver aus der
Tasche der Nation gelockt worden war. Soulouque scheint übrigens schon vor
Jahren eine Ahnung gehabt zu haben, daß ihm gelegentlich etwas Mensch¬
liches passiven könne. Der wichtigste Mann nach ihm war sein Cabincts-
secretär. Graf Delva. Dieser hatte sich ebenfalls erkleckliche Summen zu er¬
sparen verstanden und dachte sich mit diesen nach Paris zurückzuziehen, um
sie in Nuhe vor seinem kaiserlichen Gönner und vor dem Volke zu verzehren.
Soulouque, der seine Gedanken errieth, schlug sein Auswanderungsgesuch ohne
weiteres ab, indem er sagte: „Haben wir das Fleisch zusammen verzehrt, so
wollen wir auch zusammen die .Knochen abnagen." Die Ahnung hat sich er¬
füllt, Gönner und Günstling gingen zusammen in die Verbannung.
Vorher mußten indeß noch andere Dinge geschehen, um das Maß voll
zu machen. Zu der greuelvollen innern Politik des schwarzen Kaisers traten
Unglücksfälle in der äußern. Das Plünderungssystem bei der Besteuerung,
die unsinnige Zettelwirthschaft Soulouques, sein grimmiges Todtschießcnlassen-
beim bloßen Anschein von Widersetzlichkeit war gepaart mit einer ungeschick¬
ten Kriegführung, und so wurde sein Regiment endlich selbst den stumpfsin¬
nigen Negern unerträglich.
Oben ist erzählt, daß die im Osten Hallis gelegene Mulattenrepublik, die
sich 1822 mit Haiti zu einem Staat vereinigt, nach Boyers Sturz sich wieder
losriß und sich, von Soulouque wiederholt angegriffen, der Unterjochung 'zu
erwehren wußte. Diese Republik war ein zu werthvolles Stück Land, und
der Haß Soulouques gegen alle Weiß- und Gelbhäute zu brennend, als daß
der Negerkaiser nicht neue Eroberungsversuche hätte machen sollen. So be¬
gann er ungeachtet der Vernüttiungsversuche Englands, Frankreichs und der
nordamerikanischen Union im September 1850 wieder die Feindseligkeiten gegen
die Dominicaner, allein das Landheer des Kaisers erlitt schon im October in
den Gebirgen von Banica eine schwere Niederlage, zur See verlor er eine
Brigg, und Anfang 1851 verlangten die genannten drei Mächte von ihm An¬
erkennung der Unabhängigkeit Dominicas oder mindestens einen Waffenstill¬
stand auf zehn Jahre. Soulouque bot hierauf in einer Proclamation die
Hand zum Frieden, setzte aber gleichwol die Feindseligkeiten noch eine Weile
fort und rief erst dann sein Heer von der Grenze zurück, als einige andere
Niederlagen, namentlich aber der drohende Anschluß Dominicas an die Vereinig¬
ten Staaten ihn belehrten, daß er damit sein eignes Verderben herbeiführen werde.
Die Nordamerikaner hatten schon seit langer Zeit ihr Augenmerk auf
Haiti geworfen, und zunächst wäre ihnen Dominica willkommen gewesen.
Dominica wäre, abgesehen von dem Werthe desselben für Handel und Schif¬
fahrt der Nordamerikaner, ein Vorposten gegen Cuba. Man unterhandelte,
um einen Anschluß anzubahnen, und es war im October 1854 nahe daran,
daß ein Vertrag zu Stande kam. welcher den Amerikanern große Vortheile
versprach. Der treffliche Hafen Samana sollte nach demselben unter dem
Schein eines zwanzigjährigen Pachts an die Union abgetreten, dort Kohlen¬
lager für eine zwischen Neuyork und San Domingo einzurichtende Dampf¬
schiffahrt angelegt werden und die nordamerikanischen Bürger, welche sich hier
niederlassen würden, nur von ihrer einheimischen Behörde abhängig sein.
Man sieht, wenn dies zur Ausführung gekommen wäre, so hätten die Aankees
hier festen Fuß gefaßt, und Dominica wäre wahrscheinlich noch vor Ablauf
jener zwanzig Jahre der Union einverleibt worden. England und Frank¬
reich erhoben bei dem damaligen Präsidenten Santana Einspruch, und so
wurde der bereits unterzeichnete Bertrag nicht rcitisicirt. Soulouque, welcher
wußte, daß die Einfügung der Nachbarrcpublik in den nordamerikanischen
Staatenbund die Eroberung Hallis nach sich ziehen müsse, und dem die Eng¬
länder und Franzosen begreiflich machten, daß seine fortgesetzten Angriffe auf
die Dominicaner, wofern sie Erfolg hätten, die Mulatten nöthigen würden, sich den
Uankees in die Armee zu werfen, ließ die Waffen ruhen, konnte sich aber demun-
geachtet nicht entschließen, die Unabhängigkeit der „Rebellen" anzuerkennen. Im
April 1855 schien er indeß seine Ansicht geändert zu haben, wenigstens theilte San-.
tara dem Senat von Dominica zu dieser Zeit mit, Soulouque habe sich zur
Anerkennung der Republik geneigt erklärt, ja er sei sogar bereit, ein Bünd-
niß mit ihr abzuschließen. Die bald nachher entdeckte Verschwörung in
Dominica und die daraufhin von Santana verfügten grausamen Hinrich¬
tungen und Verfolgungen, welche in dem bis dahin kräftig aufblühenden
Gemeinwesen überall hin Gährung und Zerrüttung verbreiteten, machten
Soulouque wieder andern Sinnes. Aber wenn er hoffte, jetzt mit seinen
Plänen durchzuringen, so hatte er sich auch diesmal getäuscht.
Die Verschwörung in Dominica hing jedenfalls mit Umtrieben der Uan¬
kees zusammen. Die Freundschaft zwischen den beiden bedeutendsten Männern
des Staats, dem Sieger im Kampf mit den Haitiern, General Santana,
und dem Gehilfen desselben beim Aufbau der Verfassung, General Vaöz, war
während der Präsidentur des letztem erkaltet und hatte endlich bitterm Haß
Platz gemacht. Als 1853 Baöz seine Stelle niederlegte, wurde er auf San-
tanas, seines Nachfolgers, Betrieb verbannt und zog sich nach Neuyork zu¬
rück, wo er alles aufbot, um seinen Gegner zu stürzen. Die Verbindungen,
die .er in seinem Vaterland zurückgelassen, 'boten ihm dazu die Handhaben.
Es bildete sich jene Verschwörung, deren Zweck die Zurückberufung des Ver¬
bannten und seine Erhebung auf den Präsidentenstuhl war. Santana ver¬
fuhr gegen die Anhänger seines Gegners mit furchtbarer Strenge, ließ eine
große Anzahl derselben zu Seybo, wo er residirte, erschießen und trieb die
übrigen aus dem Lande. Die Folge war eine allgemeine Verkehrsstockung
und eine fast vollständige Entwerthung des Papiergeldes der Republik, so daß
man im April 1855 zu ^?an Domingo für einen Dollar in Silber siebzig
Dollars des umlaufenden Zcttelgeldes erhielt.
Diesen Moment der Zerrüttung ersah Soulouque zu einem neuen Angriff.
Im December 1855 überschritt er mit einem Negcrhcer von etwa 5000 Mann
die Westgrenze Dominicas in der offen ausgesprochnen Absicht, seine „wider¬
spenstigen Unterthanen" koste es was es wolle zum Gehorsam zurückzuführen.
Die Dominicaner wußten ihm indeß trotz ihrer Parteiungen auch diesmal
mit Energie zu begegnen. Sie gingen ihm mit einem Heer entgegen, welches
allerdings weit schwächer als das der Angreifer war, aber wieder von San-
tana, dem bewahrten Feldherrn, dem „Löwen von Seybo" befehligt wurde.
In dem ersten Treffen bei San Tome schwankte der Ausgang, so daß beide
Theile sich den Sieg zuschrieben. Im zweiten aber, welches bei dem Orte
Cambronal stattfand, wurden die Truppen Soulouques aufs Haupt geschlagen
und beinahe völlig aufgerieben. Auch der Kaiser ward einige Wochen zu
den Todten gezählt. Aber plötzlich stellte er sich in Port an Prince wieder
ein und begann eine neue Armee zu sammeln. Die entschlossene Haltung
der Dominicaner indeß so wie die Einmischung Englands und Frankreichs zu
deren Gunsten verhütete vorläufig weitere kriegerische Maßregeln, und es kam
zu einem Waffenstillstand, der auf drei Jahre abgeschlossen wurde.
Als dieser Waffenstillstand sich seinem Ende näherte, begann Soulouque
sich wieder zu rüsten, da neue Wirren in Dominica ihm neue Aussichten
auf Erfolg gewährten. Aber der Napoleon Hallis hatte seine Rolle aus¬
gespielt. Nach einer Handelskrise erreichte die Noth des Volkes und die
Unzufriedenheit aller Classen eine solche Höhe, daß man offen zu murren
wagte. Der Kaiser, davon in Kenntniß gesetzt, erließ ein Gebot, dem gemäß
niemand, auch die Fremden nicht, sich unterstehen sollte, über öffentliche
Angelegenheiten zu sprechen, oder gar nachtheilige Kunde irgendwelcher Art
über die Regierung zu verbreiten. Dann schickte er sich an, eine Ver¬
schwörung, die in den nördlichen Provinzen aufgespürt worden, in seiner ge¬
wöhnlichen Weise durch massenhafte Hinrichtungen zu ersticken. Er kam in¬
deß damit zu spät. Die Verschwornen wußten, daß man ihnen auf der Spur
war. und daß es sich um ihre Köpfe handelte. So beeilten sie sich loszuschlagen,
und ein Aufstand brach aus, vor dem Faustin-Soulouque nach wenigen
Tagen die Flagge streichen mußte.
Das Haupt der Verschwornen war der Divisionsgeneral Fabre Geff-
rard, Herzog de Table. Dieser fuhr am 22. December vorigen Jahres mit
seinem Sohn und zwei Andern in einem Boote von Port an Prince nach
Gonaivcs ab, wo sich ein gewisser Legros und drei andere Verschworne mit
ihnen vereinigten. Sie verschafften sich Pferde, und diese acht Personen
sprengten" dann mit verhängtem Zügel und gespannten Pistolen in den Ort
und riefen: „Es lebe die Republik! Es lebe die Freiheit!" Niemand wider¬
setzte sich ihnen, am wenigsten die Soldaten der Wache, welche sogar aus
ihren Befehl Alarm schlugen. Der Platzcommandant zögerte erst ein wenig,
erklärte sich indeß als alter, dem Blutvergießen abgeneigter Mann endlich für
die Bewegung. Mit ihm schlössen sich sämmtliche'Offiziere und Civilbecuntcn
der Stadt dem Aufstand an. Man öffnete die Gefängnisse, um die wegen
politischer Verbrechen Eingekerkerten frei zu lassen, die natürlich mit doppelter
Bereitwilligkeit in den Ruf: „Es lebe die Freiheit! einstimmten. Am nächsten
Tage wurde Geffrard feierlich zum Präsidenten der Republik Haiti ausgerufen
und zu gleicher Zeit „General Soulouquc" wegen verschiedener Verbrechen,
unter anderm Diebstahl — als im Anklagestand befindlich erklärt. In der
Kirche wurde ein Tedeum gesungen und ein schwarzer Abb6 hielt eine wohl-
gesetzte Geiegenheitsrede. Auch Geffrard erfreute die Versammelten mit einem
Erguß seiner Beredsamkeit, in welchem er die Gründe der Erhebung angab,
und wie das bei solchen Fällen der Brauch, durchgreifende Reformen, Ab¬
stellung aller Mißbräuche, eine neue Aera der Wohlfahrt des Vaterlandes
und ähnliche vortreffliche, in Haiti vorläufig unerreichbare Dinge versprach.
Am 24. brach er nach der befestigten Stadt Se. Marc auf, deren Comman¬
dant sich ihm ohne Zaudern anschloß. Zu dieser starken Stellung und an
der Spitze von zwei Regimentern erwartete der neue Präsident die Unterwer¬
fung der übrigen Orte. Nach wenigen Tagen war die Republik von Cap
Haitien, Plaisance, Port de Paix, Limbü, Se. Michel, kurz von der ganzen
Nordseite der Insel anerkannt, und Geffrard setzte sich jetzt nach der Haupt¬
stadt in Bewegung.
Nach den neuesten Nachrichten rückte das Jnsurgentcnhcer am 15. Jan.
ohne auf Widerstand zu stoßen in Port an Prince ein und befreite auch hier
zunächst die Gefangenen, welche der Gouverneur der Stadt Vit de Luden als
verdächtig ins Gefängniß geworfen hatte. Vit de Ludim flüchtete sich mit dem
Cabinetssecrctär Dclva in das Haus des französischen Generalconsuls, von
wo sie des Nachts verkleidet auf ein Schiff entkamen. Auch Soulouque nahm
seine Zuflucht unter der Flagge Frankreichs; von aller Welt verlassen und
verwünscht, ließ er sich zwei Tage darauf nach dem englischen Transportschiff
„Melbourne" bringen, welches ihn sammt seinen Getreuen nach Jamaika
schaffte. Zwei Tage nach seiner Abfahrt wurde seine Abdankung veröffent¬
licht. Von seinen Schützen hat er, wie es heißt, nichts retten können.
Präsident Geffrard ist ein Mulatte von etwa fünfzig Jahren, von anstän¬
digen Manieren, beim Heere beliebt, den Fremden wohlgeneigt und wie man
behauptet, sehr intelligent. Seine ersten Negicrungsmaßregeln zeugen von
Verstand und Mäßigung. Ein im Moniteur Haitien veröffentlichtes Decret des¬
selben öffnete dem auswärtigen Handel alle von Soulouque für Ausländer
geschlossenen Häfen, und eine Note an den Präsidenten von Dominica zeigte
diesem den Sturz des Kaisers officiell an und ertheilte zugleich die Versiche¬
rung, daß man in Port an Prince den Abschluß eines Friedens- und Freund-
schaftsvcrtrags mit dem östlichen Nachbarland wünsche. Daß damit die thö¬
richte Wirthschaft aus diesem Theil der Insel ein Ende nehmen werde, wird
nach dem Obengesagten niemand hoffen dürfen. Der Stumpfsinn und die
Trägheit der Neger läßt sich von ihnen so wenig aliwaschen wie ihre Farbe.
Ihre Unfähigkeit, einen Staat zu bilden, zeigt sich selbst in Liberia, wo die
Verhältnisse ihnen noch günstiger sind wie in Haiti. Der Naccnhaß wird
über kurz oder lang wieder zum Racenkampf sich entzünden. Schon murren
im Süden die Schwarzen, daß es ein Mulatte ist, welcher den Präsidenten¬
stuhl eingenommen hat. Nur die Herrschaft der Weißen kann hier Wandel
schaffen. Die der Schwarzen bedeutet Nacht sür die Königin der Antillen,
die der Gelben höchstens Dämmerung.
„Wir haben nur die Wahl zwischen dem Schrecklichen und dem Lächerlichen!"
sagte Thiers, als hinter den harmlosen Tischen der Ncformvanqucts das blutige
Gespenst der Revolution auftauchte: „on bon eiw^su xrvkvre I« i'iäieulo!" —
Das war verständig gesprochen, und ganz im Sinn der herrschenden Bourgeoisie;
aber der scharfsinnige Staatsmann und Geschichtschreiber übersah einen Umstand:
Gespenster lassen sich leichter rufen als bannen; das Schreckliche kam doch, und
man mußte es zum Lächerlichen mit in den Kauf nehmen.
Die Bourgeoisie ist seitdem von ihrem Thron gestürzt und das Militär hat
ihn bestiegen; die Civilklcidung ist der Uniform gewichen, statt der Spritzen fährt
man Kartätschen auf, das ganze Costüm hat sich verwandelt. Aber daß man darum
doch nicht aufhört, ein „guter Bürger" zu sein, zeigt die Monitcurnote vom
5. März. Seit zwei Monaten ist ganz Europa in Furcht und Zittern, es wird ge¬
trommelt und mit den Degen geklirrt, ein jeder ruft seinem Nachbar zu: „Fürchte
du dich, sonst fürchte ich mich!" — und plötzlich in die Mitte des allgemeinen
Lärms tritt der lustige Moniteur und erklärt, es sei alles ein Fastnachtsschwank,
man sei ja im Carneval! Zunächst steht das schaulustige Publicum verdutzt; dann
folgt ein lautes, allgemeines, im Ganzen fröhliches Gelächter; einige grollende Töne
lassen sich doch dazwischen vernehmen; wir wollen abwarten, ob diese Gespenster
dem Bann des Lächerlichen weichen.
„Die öffentliche Meinung macht sich im Ausland von der jetzigen Stellung der
Presse in Frankreich keinen richtigen Begriff. Man scheint zu allgemein anzunehmen,
daß die Zeitungen einer vorgnngigcn Censur unterworfen seien, und man schreibt
ihnen daher leicht eine Bedeutung zu, die sie im Grunde nicht haben. Man sollte
doch wissen, daß die Regierung durchaus keine vorbeugende Einwirkung auf die
Presse hat. Das Publicum muß daher unter allen Umständen gegen Schlußfol-
gerungen, die auf die Sprache der Blätter gegründet sind, auf der Hut fein."
Hier kann man nur verstummen; das Erstaunen wird aber im Inland ver¬
muthlich größer sein, als im Ausland, und die französische Presse, die plötzlich er¬
fahren muß, sie sei frei, wird ausrufen: „Herr, unerforschlich sind deine Wege!"
„Angesichts der, wie wir gern glauben (diese Italiener sind solche Hitz-
köpfe!), unbegründeten Besorgnisse, welche die Gemüther in Piemont erregt haben,
hat der Kaiser dem König von Sardinien versprochen, ihn gegen jeden Angriff
Oestreichs zu vertheidigen. (Den Gefallen durste er doch dem treuen Alliirten wol
thun!) Er hat nichts weiter versprochen . . . alles, was die Uebertreibungen
der Presse hinzugefügt haben, ist Einbildung, Lüge und Wahnsinn!" —
Jakobiner! Communisten! Preßsrcchhcit! Der Staatsrath La Gucrronnivrc ander Spitze.
„Ist es nicht Zeit, sich die Frage zu stellen, wann diese unbestimmten und ab¬
geschmackten Gerüchte aufhören sollen, welche durch die Presse von einem Ende
Europas zum andern verbreitet werden und der Leichtgläubigkeit des Publicums
überall den Kaiser der Franzosen darstellen, als dringe er auf den Krieg, indem sie
ihm allein die Verantwortlichkeit für die Befürchtungen und Rüstungen Europas
aufbürden? Wer kann sich das Recht anmaßen, die Gemüther auf eine fo belei¬
digende Weise zu verwirren und die Interessen so zwecklos zu beunruhigen?" „Wer
endlich ist im Stande, einen auch noch so unerheblichen Anlaß zu diesen allgemein
gehaltenen Beschuldigungen anzugeben, welche die Böswilligkeit erfindet, die Leicht¬
gläubigkeit verbreitet und die Dummheit sich aufbinden läßt?"
Kräftig und brav ausgedrückt! Schade, daß der Moniteur nicht drei Wochen
früher die Sprache gefunden hat, es wäre viel Geld erspart worden, das nun auf
unnütze Dinge verausgabt ist. — Es ist auch noch jetzt nicht alles klar, denn der
Moniteur hat rasch aufeinanderfolgende seltsame Wallungen, und er spricht vielleicht
übermorgen etwas anders; aber nehmen wir den Umstand hinzu, daß Frankreich mit
so vernehmlicher Passivität, als es in diesem Lande der Preßsrcchhcit erlaubt ist, sich
gegen den Krieg erklärt hat, so ist nach einer so bestimmten, ja so leidenschaftlichen
und groben Sprache die Chance eines Einbruchs in unsere Rheinprovinzen sehr
erheblich vermindert. Wir Deutschen haben also allen Grund zu lachen; die Eng¬
länder werden uns darin begleiten.
Auch die Franzosen werden lachen, sie sind ein lustiges Volk. Aber das Lachen
ist bei ihnen nicht ungefährlich; wen sie auslachen können, den hören sie auf zu
fürchten, und da der Moniteur, der seit einem Jahr in Bezug aus die innern Ver¬
hältnisse hin und her taumelt, nun auch in Bezug auf die auswärtigen so eclatant
ins Wanken gekommen ist. so kann man für einen Wechsel der Redaction nicht
Bürgschaft leisten.
Die Italiener werden nicht lachen; sie haben auch keinen Grund dazu. Und
hier droht noch immer eine erhebliche Gcscchr, deren Spitze nicht gegen Oestreich am
gefährlichsten gerichtet ist. Vielleicht hatte Oestreich nach dieser Seite nie bessere
Karten in der Hand, als in diesem Augenblick.
Was uns Deutsche betrifft — erstens kann es uns nur im höchsten Grade er¬
freulich sein, einen Krieg zu vermeiden, in welchem beide Theile einem ruhigen
Beobachter als Wahnsinnige erscheinen mußten. Aber es ist noch ein zweiter Grund.
Wir waren im Begriff, uns nicht von der vortheilhaftesten Seite zu zeigen, und das
will man doch -lieber vermeiden. Da die Gefahr jetzt mehr in den Hintergrund
tritt, darf man sich wol offner darüber aussprechen.
Alle Welt — wenigstens in Preußen — scheint mit der Haltung des berliner
Cabinets zufrieden zu sein. Handelte es sich nur um das stilistische Verdienst, so
wäre wirklich die Note vom 12. Februar meisterhaft: alles was sie sagt, ist richtig;
die Wendungen fein, überraschend und treffend, die Logik ohne Tadel, die Anspielungen
voller Witz. Handelte es sich um ein Duell auf dem Papier, so würde alle Welt
dieser Note Beifall klatschen.
Aber bei diplomatischen Verhandlungen ist die Hauptsache doch nicht, wie gut
man sich ausdrückt, sondern was man erreicht. — Und hier war der Erfolg der
preußischen Note vom 12. Februar folgender. »
In Erwiderung auf jene Note drückt Oestreich —- 22. Februar — die Er¬
wartung aus, daß Preußen im gegebenen Fall seine Stellung als europäische Macht
vor seinen Bundespflichten werde zurücktreten lassen. Oestreich halte im Vertrauen
auf die erfreulichen cinmüthigcn patriotischen Stimmungen den Augenblick sür ge¬
kommen, die zur Abwehr gemeinsamer Gefahren erforderlichen Maßregeln bei der
deutschen Bundesversammlung zu beantragen. Dennoch wolle es mit Rücksicht auf
die Stellung Preußens diese Anträge erst dann in Frankfurt anbringen, wenn seine
italienische Armee vollständig auf den Kriegsfuß gesetzt sei.
Daß in dieser Auffassung wirklich noch eine Art von Höflichkeit liegt, lehrt
folgender Hinblick aus die wiener Schlußcictc- zum deutschen Bunde. §. 46. Beginnt
ein Bundesstaat, der zugleich außerhalb des Bundes Besitzungen hat, in seiner Eigen¬
schaft als europäische Macht einen Krieg, so bleibt ein solcher, die Verhältnisse und
Verpflichtungen des Bundes nicht berührender Krieg dem Bunde ganz fremd. §. 47.
In dem Falle, wo ein solcher Bundesstaat in seinen außer dem Bunde belegenen
Besitzungen bedroht oder angegriffen wird, tritt für den Bund die Verpflichtung zu
gemeinschaftlichen Vertheidigungsmaßrcgeln nur insofern ein, als derselbe, nach vor-
güngiger Berathung durch Stimmenmehrheit in der engern Versammlung Gefahr
für das Bundesgebiet erkennt. §. 41. Der in der engern Versammlung ge¬
faßte Beschluß über die Wirklichkeit der Gefahr eines feindlichen Angriffs verbindet
sämmtliche Bundcsstnaten zur Theilnahme an den vom Bundestage nothwendig er¬
achteten Vertheidigungsmaßrcgeln. §. 42. Wenn die Vorfrage, ob Gefahr vor¬
handen ist, durch die Stimmenmehrheit verneinend entschieden wäre, so bleibt nichts
desto weniger denjenigen Bundesstaaten, welche von der Wirklichkeit der Gefahr über¬
zeugt sind, unbenommen, gemeinschaftliche Vcrthcidigungsmaßregcln untereinander
zu verabreden.
Es ist klar, daß nach dem Sinn dieser Artikel ein Krieg zwischen Oestreich
und Frankreich über das Primat in Italien „dem Bunde ganz fremd bleiben" muß.
Aber formal hat nach dem Buchstaben der Acte darüber der engere Ausschuß des
Bundes zu entscheiden, dessen 17 Stimmen sich so vertheilen: 1) Oestreich, 2 -6)
die fünf Königreiche, 7) Baden^ 3—9) die beiden Hessen, 10—11) Niederlande und
Dänemark; die andern Stimmen fallen aus die kleinen Staaten. 9 von diesen
Stimmen, und Oestreich hatte bewiesen, daß eine Schmälerung feines Einflusses in
Modena eine „Gefahr für das Bundesgebiet" involvire! Diese Stimmen hatte
Oestreich, infolge seiner Vorfrage, bereits in der Tasche, und war entschlossen, sie
geltend zu machen.
In diesem Fall war Preußen in der unbequemen Lage, entweder sich zu fügen,
und in erster Reihe die Gefahr eines Krieges zu tragen, der seine Existenz aufs
Spiel setzte und ihm gar keinen Nutzen schaffen konnte, oder — sich für bundes-
brüchig zu erklären und die Folgen davon auf sich zu nehmen. Das letztere hätte
es in eine Beziehung zum Moniteur gebracht, die bei dem Wankelmut!) dieses Blatts
seine Interessen schwerlich, seine Ehre gewiß nicht gefördert hätte.
Preußen hatte unzweifelhaft recht, sich über das unfreundliche und in gewissem
Sinn unredliche Vorgehn Oestreichs zu beklagen. Aber — wenn Portugal oder
ein ähnlicher Staat sich in das Gewand der Klage hüllt, findet man das in der
Ordnung; Preußens Credit würde schwerlich dadurch vergrößert. Warum kam es
Oestreich nicht zuvor? '
Eine Broschüre, die vielmehr wirken würde, wenn ihr Ton gegen Oestreich we¬
niger gereizt, und ihre Angaben exacter wären (gleich das Motto, Schwarzcnbcrgs
Bonmot, ist nicht richtig citirt): Preußen und die italienische Frage (Berlin,
Springer), spricht von Localisirung des Krieges. Aber diese Locnlisirung war doch
nur unter der Bedingung möglich, daß Preußen mit den gesammten übrigen Bundes-
staaten, Oestreich ausgeschlossen, sich für neutral erklärt, jeden Angriff auf das öst¬
reichische Bundesgebiet dagegen als nasus de-IIi bezeichnet Hütte. Eine solche Er¬
klärung hätten die kriegführenden Mächte respectiren müssen. Wie aber soll der
Kri«g sich localisiren, wenn die übrigen Bundesstaaten zu Oestreich halten und Preu¬
ßen allein bleibt? Dann sind wir wieder in der Lage von 1805— 1806, wo die
Verletzung einer unhaltbaren Neutralität jenen zugleich schmählichen und verzweifel¬
ten Krieg nach sich zog.
Ueber geschehene Dinge ist unnütz, nachzudenken: ob das gegenwärtige Ministe¬
rium versäumt hat, seinen Bundesgenossen das Wort zu gönnen und ihnen seine
Auffassung der Sache klar zu machen, oder ob es nur die Schuld seiner Vorgänger
trägt, so viel steht fest: Preußen ist wiederum in Deutschland ganz oder fast ganz
isolirt. Eine verhängnißvolle Lage, an der die äußern Verhältnisse nur zum Theil
schuld siud, und der um jeden Preis Abhilfe geschafft werden muß, wenn nicht
Preußen in eine ganz abenteuerliche Politik gedrängt werden soll.
Wenn man aber die Geschicklichkeit der preußischen Staatsmänner in Zweifel
zieht, so findet man für das Verhalten Oestreichs keine Worte. Im Augenblick
der höchsten Gesahr, von zwei, vielleicht von drei Seiten bedroht, von rücksichtslosen,
mächtigen und wenigstens ebenbürtigen Gegnern, schlägt man dem natürlichsten
Bundesgenossen, Preußen, gradezu ins Gesicht! Denn was auch geschickte und un¬
geschickte Sophisten zur Erklärung jenes Verfahrens anführen mögen, factisch kommt
es darauf heraus, daß Oestreich Preußen wie einen Vasallenstaat zur Leistung seiner
Lehnspflicht zwingen will; daß es also diesen kriegsbereiten Staat, wenn man nach
den Regeln der menschlichen Leidenschaften urtheilt, in die Reihe seiner Gegner drängt!
Oestreich hat viel Erfolge gehabt, aber wir fürchten sehr, es wird uoch ernste Erfahrungen
machen müssen, bevor es die Grenzen und Bedingungen seiner Macht begreifen lernt.
Vorläufig scheint die Gefahr abgewandt; vermuthlich, wie wir schon früher
andeuteten, dadurch, daß Oestreich in der rumänischen Frage nachgibt, während in
Italien der Moniteur sich mit leeren Formalien abspeisen läßt. Getöse wird dadurch
nichts, die Entscheidung wird nur vertagt: hoffen wir, daß bis dahin Preußen einen
festeren Boden gewonnen haben wird, seine wie Deutschlands Rechte und Interessen
Die Garantien der Macht und Einheit Oestreichs. Leipzig, Brockhaus.
Vor etwa fünf Jahren, in jenem Stadium des orientalischen Kriegs, wo
wir lebhaft für die politische Haltung Oestreichs eintreten zu müssen glaubten,
analysirten wir einmal die Machtbedingungen und Hilfsquellen dieses Staats,
und kamen zu dem Ergebniß, daß durch eine constitutionelle Verfassung die¬
selben unendlich erhöht, seine Einheit, Kraft und Sicherheit unendlich ge¬
steigert werden könne. Die Antwort der östreichischen Regierung war eine
Confiscation des Hefts, die Presse zeigte zum großen Theil jene stumme Ver¬
wunderung, die regelmäßig eintritt, wenn man an einem Ort, wo es am
wenigsten zu vermuthen stand, eine gutmüthige Schwärmerei wahrnimmt. ^
Der Verfasser der vorliegenden Schrift — wenn wir recht berichtet sind,
einer von den ehemaligen Führern der altconservativen Partei in Ungarn —
erklärt sich jetzt laut für den damals von uns ausgesprochnen Sah, daß von
allen Mitteln, die man zur Begründung der Einheit Oestreichs ergreifen kann,
die Einführung einer constitutionellen Regierungsform für den Ge-
sammtstaat das zweckmäßigste sei. Er vertheidigt diesen Satz dnrch eine
scharfe Detaillirung der östreichischen Zustände und durch eine Logik der
Thatsachen, die nach allen Seiten hin einen bedeutenden Eindruck machen
muß. Was uns betrifft, so haben wir in der letzten Zeit selten eine Flug¬
schrift gesunden, in der wir das Talent des Verfassers so sehr anerkennen
und deren Schlußfolgerungen wir so unbedingt beitreten dürften.
Es ist freilich sehr zu bedauern, daß sie in dem gegenwärtigen Moment
der Krisis eine unmittelbare Wirkung nicht ausüben kann. Für den Augen¬
blick ist Oestreich so gestellt, sich lediglich auf sein Heer und allenfalls auf die Ge¬
wandtheit seiner Diplomaten stützen zu müssen. Allein dieser Moment wird
vorübergehn, und sei es nun, daß der Friede vor oder nach einem Kriege ein¬
tritt, die Lebensbedingungen des Kaiserstaates werden im Wesentlichen die¬
selben bleiben.
Eine Concentration aller Kräfte ist für Oestreich nicht nur eine Möglich¬
keit, sondern eine Nothwendigkeit. Oestreich ist insofern unter allen Staaten
am günstigsten gelegen, als es überall schwache Nachbarn hat, über die es
seinen Einfluß ausdehnen oder auf deren Unkosten es sich vergrößern kann.
Es hat das Präsidium des deutschen Bundestages, es sührt die Hegemonie
über den größern Theil der italienischen Dynasten, die türkische Erbschaft
scheint ihm nicht entgehn zu können. Es unterstützt diese Ansprüche durch
ein furchtbares, wohl ausgerüstetes und loyales Kriegsheer und durch den
Schimmer der alten Kaiserkrone, die noch zuweilen die freilich einer an¬
dern Periode angehörige Devise in Erinnerung bringt: ^lie Lrcle Ist vest-
rvicli pudore.lig.it. Wo in Europa irgend ein Conflict ausbricht, ist Oestreich
nicht nur berechtigt, sondern auch genöthigt, seine Hand im Spiel zu haben;
überall hat es sehr erhebliche Erfolge erzielt, und so mag man wol begreisen,
daß ihm zuweilen das Maß seiner Macht aus den Gedanken schwindet und
daß es sich hartnäckig vorsetzt, mit drei Würfeln neunzehn Augen zu werfen.
In jener Machtstellung liegt zugleich für Oestreich eine große Gefahr:
auf allen drei Seiten, wohin sich sein Einfluß erstreckt, begegnet ihm eine
feindliche Idee, die es weder beschwichtigen noch befriedigen kann, und ein mäch¬
tiger Träger derselben, der eben darum sein natürlicher Nebenbuhler ist.
Seine ideellen Feinde sind die Einheit Italiens, die Einheit Deutschlands,
der Panslavismus. Jede dieser Ideen ist bereits historisch so erstarkt, daß sie
mit bloßer Gewalt nicht niedergehalten werden können. Keine von diesen
Ideen kann Oestreich realisiren; noch weniger als es das heilige römische Reich
deutscher Nation vermochte. Die alte Reaction Italiens gegen das Kaiserthum
hat in jedem Jahrhundert an Kraft gewonnen. Gleichviel wer der augenblick¬
liche Träger derselben ist, der Papst oder Mazzini, das Haus Savoyen oder
der Bonapartismus; kein Italiener wird auch nur im Traum daran denken,
seine Wünsche an Oestreich zu adressiren. In Deutschland ist es freilich gün¬
stiger situirt, es hat mit einem stammverwandten Volk zu thun und die Eifer¬
sucht der deutschen Fürsten gegen Preußen gibt ihm sehr bedeutende Hilfs¬
quellen; aber bis zu welcher schwindelnden Höhe auch das östreichische
Selbstgefühl aufsteigen mag, niemals wird es den Gedanken fassen, Deutsch¬
land gradezu zu absorbiren, und so bleibt die einzige Form der Einheit, die
es Deutschland zu bieten vermag, die Dependenz. in ähnlicher Weise, wie sie
in Toscana, Modena u. s. w. besteht; ganz abgesehen davon, daß der Bun¬
destag unter östreichischen Einfluß den ebenso berechtigten Freiheitsbestrebungen
des Volks im Weg steht.
Wenn ursprünglich der Einheitsgedanke in beiden Ländern nur eine revo¬
lutionäre, d. h. desorgcmisirende Wirkung äußerte, dem also das gesammte
conservative Interesse widerstand, so hat er seit 1849 hier in Preußen, dort
in Sardinien einen staatlichen Organismus, der ihm die Möglichkeit einer
naturgemäßen, konservativen Entwicklung in Aussicht stellt.
Sardinien hat nun in Frankreich einen Verbündeten gefunden, der es
freilich zu seinen eigennützigen Zwecken ausbeutet, aber darum Oestreich nicht
minder gefährlich ist. Die Gefahr wird um so größer, da Frankreich an der
dritten Stelle, wo Oestreich verwundbar ist, an der Donau, sich mit Oestreichs
entschiedenstem Gegner, mit Rußland in Verständniß gesetzt hat.
An der Donau ist Oestreichs Beruf am unverkennbarsten — das wohl-
verstandne Interesse sämmtlicher Völker von dem Gebirgszug des Hanns an
nordwärts leitet sie dahin, da sie ein eignes Staatsleben nicht führen können,
in ein Reich aufzugehn, daß ihrem Particularismus Befriedigung bieten kann.
Dazu eignet sich kein Staat mehr als Oestreich, nicht blos durch seine Lage,
sondern auch durch seine Zusammensetzung. Wer Rußland verfällt, muß Russe
werden; als Oestreicher kann er Serbe, Rumäne, Ungar, Kroäk u. s. w. blei¬
ben, vorausgesetzt daß der Staat sich eine Organisation gibt, die den indivi¬
duellen Bedürfnissen und Vorurtheilen der einzelnen Völker Rechnung trägt.
In diesem Fall hat Oestreich hier eine große Zukunft; im entgegengesetzten
Fall ruft es die Bildung von Organisationen außerhalb seiner Grenzen hervor,
die endlich durch Anziehung der verwandten Elemente sein eignes Staats-
gefüge zersetzen. Bleibt Oestreich ein absolutistischer Staat, und kommt da¬
neben ein unabhängiges Serbien, ein unabhängiges Rumänien zu Stande,
so ist damit für Rußland eine Bresche geschlagen, die Oestreich den Unter¬
gang droht.
Hier gewinnt Oestreich nur in dem Fall freie Hand, wenn es sich gegen
Frankreich durch einen festen Bund mit Preußen und Deutschland einerseits,
mit Sardinien und Italien andrerseits sichert. Das Letzte wird sehr paradox
klingen; es ist aber möglich, sobald Oestreich eben aufhört, mit drei Würfeln
neunzehn Augen werfen zu wollen.
Sobald es nach diesen beiden Seiten hin lediglich die Defensive festhält,
kann es ohne Gefahr die innern Kräfte zum freien Ausdruck bringen, und
dadurch eine Macht entwickeln, die seine Vergangenheit bei weitem hinter sich
läßt. Hier wenden wir uns wieder zu dem Gedankengang des Verfassers
zurück.
Es ist zur Gewohnheit geworden, die konstitutionelle Staatsform blos
als Garantie der bürgerlichen Freiheit und als Mittel zu betrachten,
durch welches die absolute Gewalt des Königthums beschränkt werden soll.
In einer Zeit, wo man keine andern Gefahren für die Freiheit kannte, war
diese Ansicht vielleicht die richtige: heutzutage, wo die Freiheit gegen ganz
andere Gefahren geschützt werden muß, ist sie es aber sicher nicht mehr, und
die Entscheidung der Frage, ob die Einführung constitutioneller Formen zweck-
mäßig, ob sie nothwendig sei, hängt davon ab, ob wir glauben, daß die ge¬
sellschaftlich e Ordnung zu ihrem Schutz dieser Formen entbehren könne
und ob das Königthum nicht selbst dieser Kräftigung bedürfe.
Wenn der erste^Versuch einer östreichischen Gesammtverfassung mi߬
glückte, so lag das theils in der Fehlerhaftigkeit ihrer Bestimmungen, theils
darin, daß man sie als ein Erzeugniß der Revolution betrachtete, gegen die
aus allen Kräften anzukämpfen sei.
In ihrer äußern Erscheinung ist freilich in Oestreich wie überall die Re¬
volution ein Plagiat der französischen gewesen; in ihrem Kern aber ging sie
aus bestimmten Uebelständen hervor und hatte einen eigenthümlichen Cha¬
rakter.
Die Schwierigkeiten lagen theils in der mangelnden Staatseinheit, theils
in dem Mißverhältniß der ungarischen Verfassung zu den Einrichtungen in
den übrigen Theilen der Monarchie — eine dritte, die unklare Stellung zu
Deutschland, hat der Verfasser übersetzn.
In Ungarn hatte das an sich vollkommen gerechtfertigte Bestreben, den
Particularismus zu überwinden, zu halben Maßregeln und zur Bildung zweier
Parteien geführt, die beide in der Hitze des Kampfes nicht an die Möglich¬
keit des Sieges dachten, und daher in ihren Anforderungen kein Maß kann¬
ten. Wo der factische Zustand den Gesetzen nicht entspricht, ja wo zwischen
beiden ein Gegensatz besteht, muß es endlich zum Conflict kommen. Denn
bei einer systematischen Verletzung anerkannter Gesetze kann kein Staat stehn
bleiben; und die Klugheit, mit der man gewisse Fragen zu umgehen weiß,
weil man bei der Entscheidung einen unvermeidlichen Kampf voraussieht,
dient oft nur dazu, alle Stellungen zu verwirren und den Augenblick der Ent¬
scheidung dem Zufall zu überlassen, wodurch die Gefahr nur noch größer wird.
Das Resultat dieser Unklarheit sür Ungarn war zu Anfang des Jahres 1848:
Haß gegen die Regierung und fast alle Organe der Administration; die wich¬
tigsten Lebensbeziehungen in Frage gestellt; beide Parteien nur darauf bedacht,
wie sie ihre Gegner jedes Einflusses berauben können, ohne ein positives,
wenigstens ohne ein ausführbares Programm auszustellen.
An der ungarischen Frage scheiterte der allgemeine Reformversuch; die
Unterwerfung Ungarns mit Hilfe der Russen gab Gelegenheit, ein ganz neues
System zu verfolgen, das, mit Einsicht und Konsequenz durchgeführt, dennoch
im Grund revolutionärer ist, als alle frühern Versuche, die wahren Kraft¬
mittel Oestreichs außer Acht läßt und darum keine Dauer verspricht. „Statt
des historischen Rechts, welches der Monarchie durch Jahrhunderte als Grund¬
lage gedient und sich wenigstens fester bewiesen als jene, worauf der centrali-
sirte Staat Ludwig Philipps gegründet war, sollte das Band der Vereinigung
in Zukunft blos in dem unbeschränkten Maß der Regierungsgewalt und in einer
allen Kronländern gemeinsamen Administration gesucht werden." „Daß die
Zustünde, in welchen sich die Monarchie befindet, nicht befriedigend sind; daß
sich der Staat in großen finanziellen Schwierigkeiten befindet und bei einer
immer zunehmenden Schuldenlast, trotz der sehr bedeutenden Besteuerung aller
Staatsbürger seine Einnahmen und Ausgaben nicht ins Gleichgewicht zu
bringen vermochte und auch jetzt in Friedenszeit an einem Deficit zu tragen
hat; daß der Wohlstand nicht zugenommen hat und mit Ausnahme der Börse
vielleicht kein Zweig der Industrie zu finden ist, auf dem sich eine vermehrte
Thätigkeit wahrnehmen ließe; daß die Verwaltung und Rechtspflege wenig¬
stens in den Provinzen, welche früher unter dem Namen der Erdtaube be¬
zeichnet wurden, weder schneller noch besser geworden ist, und nicht nur in
Ungarn, sondern in allen Theilen der Monarchie die Ansicht sich verbreitet
hat, die Zustände von 1848 seien um vieles besser gewesen; daß die gegen¬
wärtige Ordnung der Dinge zwar nirgend einen Widerstand gefunden, daß
sich ihr aber auch sehr wenige angeschlossen haben, und daß die Regierung
daher bei der großen Mehrzahl der Staatsangehörigen in den meisten Pro¬
vinzen nur aus die höchste Passivität, aber nicht auf jene Mitwirkung rechnen
kann, deren auch die stärkste Regierung bedarf, wenn das Riesenwerk einer
vollkommenen Umgestaltung aller Verhältnisse gelingen soll; daß endlich alle
diese Uebelstände und Schwierigkeiten in den neun Jahren, während welcher
man das gegenwärtige System befolgt, nicht nur nicht abgenommen haben,
sondern größer geworden sind — das alles sind Thatsachen, deren Nichtigkeit
niemand leugnen wird; und auch die größten Freunde des gegenwärtigen
Systems werden zugeben, daß dasselbe den Erwartungen nicht entsprochen habe."
Unter diesen Umständen ist die Frage wol berechtigt: ob denn eine völ¬
lige Umgestaltung aller Verhältnisse, welche mit so vielen unvermeidlichen
Uebelständen verbunden ist, für Oestreich überhaupt nothwendig sei, und ob
jene Einrichtungen, welche damals, als es sich blos darum handelte, die
Revolution zu bekämpfen, für die zweckmäßigsten, ja für die einzig möglichen
gehalten werden mochten, auch jetzt noch diejenigen seien, durch welche der
Zweck, den man verfolgt, die Begründung eines im Innern beruhigten, nach
Außen starken Oestreich, allein erreicht werden kann.
Oestreich ist nach der Revolution im Wesentlichen derselbe Staat, der es
vor derselben gewesen; die Revolution hat weder die Bedeutung des legitimen
Königthums zu vernichten, noch die zwischen den einzelnen Kronländern be¬
stehenden Verschiedenheiten aufzuheben vermocht. Eben in der Unmöglichkeit,
ein neues Oestreich zu begründen, liegt die Garantie der Zukunft des Staats,
und die Stärke der Reaction gegen die bisher angewandten Maßregeln zeigt
nur die Lebenskraft, welche der Staatskörper trotz aller überstandenen Leiden
und Heilversuche noch besitzt.
Die Grundkraft des östreichischen Staats ist die Legitimität des Herrscher¬
hauses in den verschiedenen Kronländern, auf diese ist auch die wahre Ein¬
heit des neuen Staats zu begründen. Die Geschichte Maria Theresias und
der Kämpfe gegen Napoleon, während welcher sich der größte Theil der Mon¬
archie sammt der Hauptstadt in den Handen des Eroberers befand, genügt
wol, um zu beweisen, daß die Einheit Oestreichs auch damals nicht blos
durch seine Armee und die der Negierung zu Gebot stehenden materiellen
Mittel erhalten worden sei. — Freilich ist die Geschichte Oestreichs während
der letzten drei Jahrhunderte nicht glänzend genug, um die einzelnen Völker
die Epoche ihrer ehemaligen Unabhängigkeit vergessen zu machen. Die Poesie
jener Völker Oestreichs, welche eine eigne Geschichte haben, wird sich daher
immer vorzüglich mit dieser beschäftigen. Ebenso unleugbar ist aber, daß
alle reellen Verhältnisse, und zwar in allen Provinzen, ein Ergebniß jener
Zeit sind, wo dieselben schon zu einem Staat vereinigt waren, und daß eine
Zerreißung des Staats alle Interessen der Staatsangehörigen verletzen würde;
wo aber dieses der Fall ist, ist die Gefahr, welche der Einheit des Staats
durch die poetischen Reminiscenzen der einzelnen Völker droht, wol nicht zu
hoch anzuschlagen, besonders wenn diese Einheit auf dem legitimen Recht der
Dynastie beruht und mit dem ganzen Complex des historischen Rechts zu¬
sammenhängt.
Oestreich bedarf, eben wegen seiner bedenklichen Lage gegen das Ausland,
der Centralisation in Bezug auf die militärischen, einen Theil der finanziellen
und der mercantilen Angelegenheiten. — Diese Centralisation bedarf aber,
wenn sie der negativen Richtung der Zeit widerstehn soll, der ständischen Con-
trole. — Daß das Bestehende, wie es von allen Seiten auf tausend Punk¬
ten zugleich angegriffen wird, auch überall zum Widerstand gerüstet sein
muß; daß der Staat, um die Gesellschaft zu retten, nicht blos den passiven
Gehorsam, sondern die thätige Mitwirkung aller derjenigen Classen und In¬
dividuen nicht entbehren kann, die den Schutz ihrer Interessen vom Staat
erwarten, das ist ebenso gewiß, als daß diese thätige Mitwirkung aller zum
gemeinsamen Zweck nur da zu erwarten ist, wo man den Staat so einge¬
richtet hat, daß das Bestehen desselben durch die einzelnen Bürger nicht nur
als ein Object ihrer Pflichten, sondern als Bedingung ihrer Rechte betrachtet
wird, was immer nur dann zu erreichen ist, wenn man den Bürgern des
Staats eine Theilnahme an der Regierung desselben eingeräumt hat. —Dazu
kommt für Oestreich ein besonderer Umstand. —Wenn man bedenkt, daß sich
Ungarn durch'einen Zeitraum von acht Jahrhunderten unter constitutionellen
Formen entwickelt hat, so kann man wol annehmen, daß eine Einrichtung
des Staats, wobei alle Classen des Volks von jeglicher Theilnahme an öffent¬
lichen Angelegenheiten ausgeschlossen sind, keinen Theil der Bevölkerung Un-
garns befriediget: könne. Die Erinnerung an die Zustände vor 1848 muß
sich vielmehr in dem Maß lebhaft erhalten, als dasjenige, was Ungarn da¬
mals verlor, durch dasjenige, was der Einzelne als Bürger des Gesammt-
staats gewonnen, nicht ersetzt ist.
Die ständische Vertretung ist ferner nothwendig, um die provinziellen
Gegensähe auszugleichen. Es wäre ein eitles Beginnen, dies auf dem Wege
administrativer Centralisation durchzuführen: eine solche würde nur den Erfolg
haben, sämmtliche Völker gegen die Regierung zu verbinden. Je mehr die
Verwaltung centralisirt ist, d. h. je mehr diejenigen, die daran Theil nehmen,
einen eigenen Beamtenstand bilden, dessen Interessen von denen der übrigen
Staatsangehörigen verschieden sind, desto weniger kann sie als Mittel der
Vereinigung betrachtet werden. Endlich ist nur eine constitutionelle Staats¬
form im Stande, die großen Geldmittel, deren Oestreich bedarf, in einer für
die Mehrheit befriedigenden Weise aufzubringen.
Eine Verfassung hat nur dann einen wahrhaft conservativen Charakter,
wenn die Macht des Königthums auf Grundlagen ruht, die durch den Volks¬
willen nicht erschüttert werden können. Weil in einem Lande, wo sich die
monarchische Gewalt, um ihre Legitimität zu beweisen, nur auf den Willen
der Majorität berufen kann, kein solches Königthum möglich ist; weil die
Sicherheit jedes Monarchen unter solchen Umständen davon abhängt, daß er
sich die Gunst des Volks oder eine unumschränkte Macht über dasselbe zu er¬
halten wisse: darum wird in Frankreich die constitutionelle Monarchie unhalt¬
bar sein. „Dieselben Gründe überzeugen mich, daß von allen
europäischen Staaten vielleicht kein einziger zu finden sei,
welcher sich mehr für diese Regierungsform eignet, als eben der
unsere." — Weil das Recht der Dynastie in den einzelnen Provinzen ein
legitimes ist und auf geschichtlicher Grundlage ruht; weil es der gegenwär¬
tigen Gestaltung der Monarchie vorangegangen und daher von dieser unab¬
hängig ist: so muß der Begriff des legitimen Rechts der Dynastie mit jenem
des in den einzelnen Theilen der Monarchie geltenden Rechts verbunden wer¬
den. Und es ist eine nothwendige Folge dieser Verhältnisse, daß der Besitz
der Kaiserkrone als nothwendige Folge, nicht aber als die Bedingung jener
Rechte betrachtet wird, welche der Dynastie in den einzelnen Provinzen zu¬
kommen. Damit hängt, was für die constitutionelle Staatsform so wich¬
tig ist, das Bestehen einer mächtigen, nationalen und unabhängigen Aristo¬
kratie zusammen, die man anderwärts erst künstlich schaffen muß.
Weil der östreichische Staat nicht durch den Begriff der Staatseinheit,
sondern durch jene Macht zusammengehalten wird, die das monarchische Prin¬
cip in den einzelnen Provinzen besitzt, so ist jede Einrichtung unpassend,
wodurch man das Aufgehen der einzelnen Theile der Monarchie in das Ganze
nicht blos vorbereiten, sondern mit Hintansetzung des historischen Rechts plötz¬
lich erzwingen will. Weil alles historische Recht in Oestreich mit dem Be¬
stehen der einzelnen Kronländer zusammenhängt, in deren jedem das Streben
nach nationaler Entwicklung uns entgegentritt, so muß die Verfassung sowol
auf die provinzielle Gliederung des Staats als auf das Streben der einzel¬
nen Völker, ihre eigene Nationalität geltend zu machen, Rücksicht nehmen.
Die Hauptaufgabe ist: über das Maß und die Mittel ins Reine zu kommen,
durch welche das Streben der Völker Oestreichs nach nationaler Anerkennung,
ohne die Einheit des Staats zu gefährden, befriedigt werden kann.
Gewiß wird die deutsche Sprache in Oestreich das gemeinsame Medium
der Gebildeten sein. Wenn man aber glaubt, daß dasjenige, was als Er¬
gebniß der natürlichen Entwicklung der Dinge nur allmälig und bis zu einem
gewissen Grade geschieht, durch die Intervention der Staatsgewalt beschleu¬
nigt und bis zur vollkommenen Absorption der nicht begünstigten Nationali¬
täten geführt werden könne, so täuscht man sich gewaltig, und man braucht
blos den Einfluß jener Maßregeln zu beobachten, die man in neuerer Zeit
zur Verbreitung der deutschen Sprache in der östreichischen Monarchie ange¬
wendet, um sich davon zu überzeugen. Jede Regierung, welche sich in ihren
Berührungen mit dem Volk einer fremden Sprache bedient, wird, so sehr sie
sich auch bemüht, die Interessen desselben zu fördern, immer als eine fremde
erscheinen. Nachdem man in Deutschland den Sieg, welchen die östreichische
Monarchie über den Separatismus einzelner Nationalitäten errungen hat, als
einen Sieg des deutschen Volks betrachtete, ist bei den nichtdeutschen Völkern
Oestreichs ein positiver Antagonismus gegen das Deutschthum entstanden.
Der einmüthige Wille ganzer Völker ist eine Kraft, der man schwer widersteht;
Wo sich aber ganze Völker dahin vereinigen, daß sie etwas nicht wollen,
ist diese Kraft eine unwiderstehliche. — Für Oestreich ist das Nationalitäts¬
gefühl der einzelnen Provinzen zugleich der Träger des Patriotismus über¬
haupt. Für eine Monarchie, welche weder durch das Band eines gemein¬
samen Volksthums, noch durch feste geographische Grenzen zusammengehalten
wird; für eine Monarchie, welche wir lediglich als ein Product der Geschichte
betrachten müssen, und welche die festeste Garantie ihres Bestehens eben in
der Ueberzeugung suchen muß, daß eine Vereinigung jener kleinern Völker¬
bruchstücke zu einem großen Staat nur unter dieser Form möglich sei: für
einen solchen Staat ist alles, wodurch die Achtung vor dem historischen Recht
geschwächt, alles, wodurch in Hinsicht der Nationalität Jndifferentismus er¬
zeugt wird, statt eines Mittels, den Staat zu kräftigen, blos ein Element
der Auflösung mehr. Denn jede revolutionäre Bewegung, und schiene sie noch
so gefährlich, läßt sich bekämpfen, weil mit der Agitation für irgend ein Prin¬
cip immer auch der Gegensatz desselben hervorgerufen wird; wenn es aber
einmal dahin gekommen ist, daß die Existenz des Staats der größern Mehr¬
zahl der Bürger gleichgiltig wird, und daß denselben jede Form der Staats¬
gewalt erträglich, ja wünschenswert!) erscheint, sobald dadurch nur die materiellen
Interessen des Einzelnen gesichert werden, dann hat der Staat die Grund¬
bedingung seiner Existenz verloren, und seine Dauer hängt blos vom Zufall ab.
Daß man aber seit 184g den Begriff der Nationalität mit jenem der
Sprachverschiedcnheit identificirt; daß man in einer Monarchie, welche aus¬
schließlich auf der Grundlage des historischen Rechts ruht, dieses gar nicht
berücksichtigt; daß man ein System aufgestellt, welches zunächst in den wichtig¬
sten Theilen des Staats (in Ungarn, Böhmen) eine Verwirrung aller Ver¬
hältnisse, eine Systematisirung des Sprachenkampfes, in seinem weitern Verfolg
aber eben jene Bestrebungen befördern mußte, die mit dem Bestehen des öst¬
reichischen Staats im Gegensatz stehn, hat lediglich seinen Grund in dem
Streben, Ungarn zu schwächen. Im Gegentheil ist der Begriff der Nationalität
in Oestreich mit jenem der geschichtlichen, provinziellen Besonderheit
aufs innigste verbunden, ja identisch, so daß sich vielleicht keine bessere Defi¬
nition des Gefühls der Nationalität in Oestreich geben läßt, als wenn man
sagt, es sei jene Liebe, mit welcher die Bewohner der Monarchie
an dem einzelnen Theil desselben hangen, welchen jeder von
ihnen als sein specielles Vaterland betrachtet. Das Streben nach
nationaler Berechtigung in diesem Sinn ist nichts Anderes, als das Streben
nach provinzieller Autonomie; die Frage, ob das Streben der einzelnen
Völker nach nationaler Berechtigung mit der Einheit und Macht des östreichi¬
schen Staats im Gegensatz stehe, ist in ihrer praktischen Bedeutung ganz
identisch mit jener, ob das Bestehen der einzelnen Provinzen in ihren durch
die Geschichte bestimmten Grenzen und mit einem bedeutenden Maß der Auto¬
nomie in ihrer innern Verwaltung mit der Einheit des Staats unvereinbar sei.
Oestreich ist eins, weil die verschiedenen Theile der Monarchie alle mon¬
archisch sind und weil in allen das legitime Recht dieselbe Person als Herr¬
scher bezeichnet. Es zu erhalten, ist nur möglich, wenn man jene Elemente,
aus denen der Staat zusammengesetzt ist, möglichst zu kräftigen und als
Grundlage des neuen Organismus zu gebrauchen weiß. Der entgegengesetzte
Weg, den man bisher befolgt, ist schon darum ein verfehlter, weil ein Sy¬
stem, welches nothwendig mit der Desorganisation durch Jahrhunderte be¬
stehender Einrichtungen beginnen und, um sich zu befestigen, danach streben
muß, daß jeder einzelne Theil des Staats möglichst geschwächt werde, nie
zur Kräftigung des Ganzen führen kann. Die administrative Autonomie der
einzelnen Provinzen ist ein ebenso nothwendiges Moment der östreichischen
Verfassung als jene Institutionen, durch welche die Einheit der allgemeinen
Politik gesichert wird. — Daraus ergibt sich folgender Entwurf.
Die Leitung aller Angelegenheiten, die dem ganzen Staat gemeinsam sind
(Militär, Finanzen, Auswärtiges, Handel) ist besondern Ministern übertragen, die
sich der in den einzelnen Kronländern bestehende.» Behörden und Corporationen
bedienen können, aber nur dem Kaiser und dem Gesammtreichstag verant¬
wortlich sind. Die Leitung aller Angelegenheiten der einzelnen Kronländer
(Inneres, Justiz, öffentliche Arbeiten, Unterricht, Kirche" :c.) ist in jedem Kron¬
land einer besondern Landesregierung übertragen, welche aus einem Kanzler
und für die einzelnen Zweige der Verwaltung aus Staatssecretären besteht.
Die Kanzler der einzelnen Kronländer nehmen als Staatsminister zugleich an
der Negierung des Gesammtstaats Theil. Sie haben die Interessen ihres be¬
sondern Kronlairds bei der Negierung und Gesetzgebung des Gesammtstaats
und die Interessen des Reichs im einzelnen Kronland zu vertreten.
Die Autonomie, welche man der Provinz zur Verwaltung ihrer eignen
Angelegenheiten einräumt, muß nothwendig zur Autonomie der Grafschaft
und Gemeinde führen, auch darum, weil die Gründe, welche uns von der
Unmöglichkeit einer zweckmäßigen Verwaltung des Gesammtstaats aus einem
Mittelpunkt überzeugen, ebenso gegen die Centralisation der Verwaltung der
einzelnen Provinzen angeführt werden können. Dadurch wird zugleich für
einen Raum gesorgt, innerhalb dessen die sprachlichen Bestrebungen ohne Ge¬
fahr für den Staat sich bewegen können. In einem Staat, wo man in
allem Uebrigen das Princip der administrativen Centralisation befolgt, ist das
Bestehen freier Communen unmöglich, weil dadurch alle Elemente, durch welche
die Autonomie der Gemeinde erst ihre Bedeutung gewinnt, zerstört werden.
In einem Staat, wo man das Princip der Centralisation längere Zeit an¬
gewendet hat, hört endlich sogar der Wunsch auf, sich selbst zu regieren; jeden¬
falls verschwindet die Fähigkeit dazu noch früher, und die größte Gefahr der
Centralisation liegt darin, daß die Staatsgewalt, wenn sie die Menschen ein¬
mal dahin gebracht, alles Wichtigere ihr zu überlassen, endlich auch sür das
weniger Wichtige sorgen muß.
Fast in allen Staaten mit centralisirter Verwaltung sind mit den Ein¬
nahmen zugleich die Schulden gestiegen, weil die Steigerung der Einnahmen
durch die vermehrten Verwaltungskosten in Anspruch genommen wurde. Wie das
Drückende der Steuern nicht blos von ihrer Höhe abhängt, wie Steuern,
welche jn einem absoluten Staat unerschwinglich scheinen würden, in konstitu¬
tionellen Ländern mit Leichtigkeit getragen werden, blos weil für den Besteuer¬
ten die Möglichkeit gegeben ist, sich von der Nothwendigkeit ihrer Abgaben
zu überzeugen, so ist es durchaus nicht gleichgiltig, ob die ganze Last, welche
der einzelne Bürger zu tragen hat, direct durch die Staatsgewalt sür die
Bedürfnisse des Staats oder zum Theil durch jene kleinern Gemeinschaften
erhoben wird, an deren Verwaltung man den Besteuerten einen Einfluß ein-
geräumt hat. Von allen Ursachen der Unzufriedenheit ist die Steuer die
mächtigste. In Oestreich hat sich seit 1849 die Staatsschuld um tausend
Millionen Gulden vermehrt, dix Einnahmen vermögen die laufenden Ausgaben
nicht zu decken, und noch in dem letzten Nachweis 1857 hat sich ein Deficit von
zweiundvierzig Millionen herausgestellt. Nachdem man die Angelegenheiten der
kleinsten Commun in den Kreis der Staatsgewalt gezogen hat, und die An¬
lage und Erhebung aller Steuern durch Staatsdiener geschieht, muß die Zahl
derjenigen, die all diese Geschäfte besorgen, eine ungeheure sein, und die Be¬
hauptung, daß man dieselbe durch Vereinfachung des Geschäftsgangs vermin¬
dern könne, ist praktisch ganz unausführbar. Die Erfahrung lehrt, daß die
Verwaltungskosten des Staats durch nichts so vermindert wer'den können, als
wenn man die Pflicht, für die Verwaltung zu sorgen, denjenigen übergibt,
die zunächst dadurch betroffen werden. — Auch der moralische Einfluß der
Regierung hängt zum größten Theil davon ab, daß ihr Bestehen mit jenen
Begriffen, Gefühlen und Interessen übereinkommt, welche sür die Mehrheit der
Staatsbürger die wichtigsten sind, und Oestreich befindet sich in der günstigen
Stellung, daß es, um der Revolution einen Damm entgegenzustellen, blos
jene conservativen Potenzen, welche es schon besitzt, zu erhalten und zu kräf¬
tigen braucht.
Wenn man gegen diese Entwürfe einwendet, daß in Hinsicht der Gegen¬
stände, deren Verwaltung man dem Gesammtstaat, und derer, welche man
den Provinzen übertragen soll, keine scharse Grenze gezogen werden kann, so
ist praktisch dieser Einwand unerheblich, falls man nur folgende Grundsätze
festhält: daß sich die Freiheit des Einzelnen nur so weit erstrecken darf, als
dadurch die Freiheit anderer und der Gesammtheit nicht beeinträchtigt
wird; nur so weit, als seine eignen Kräfte ausreichen; und daß der Einzelne
in dem Maß, als er zur Erreichung jener Zwecke die Hilfe andrer in Anspruch
nimmt, auch ihren Einfluß anerkennen muß; daß ferner die Gewalt des Staats
nur auf dasjenige auszudehnen ist, was den Staat unmittelbar als solchen
betrifft, und daß man ihm nur die Verwaltung jener Gegenstände zu über¬
tragen hat, bei welchen eine vollkommne Centralisation möglich und zweck¬
mäßig ist.
Wir kommen jetzt zu dem eigentlichen Kernpunkt der geistvollen Schrift.
„Da es der Vorsehung gefallen hat, daß sich an den Grenzen der west¬
lichen Civilisation, eben wo diese am meisten gefährdet ist, nicht ein großes
Volk, sondern ein Agglomerat kleiner Nationalitäten befindet, so haben schon
früh die europäischen Mächte die Wichtigkeit des ungarischen Staats nie in
Zweifel gezogen, und es ist vielleicht kein Staat, dessen Erhaltung im Mittel¬
alter in dem Maß als europäische Angelegenheit behandelt, zu dessen Unter¬
stützung durch die Kirche mehr gethan und im h. römischen Reich mehr beräth-
schlagt worden wäre. Von dem Augenblick, als die Regierung des Hauses
Oestreich in Ungarn beginnt, ist die Stellung, in welcher sich die
ungarische Monarchie befand, auf Oestreich übergegangen."
Von allen brennenden Fragen der Gegenwart ist für Oestreich die orien¬
talische die wichtigste. „Der Augenblick, in dem das türkische Reich zusammen¬
stürzt, kann für Oestreich der Ausgangspunkt kaum geahnter Größe, er kann
aber auch der Beginn allmäligen Verfalls sein; und man braucht blos die
Donaufürstenthümer oder Serbien so zu constituiren, daß eins der beiden
Länder Oestreich gegenüber eine Sardinien analoge Stellung einnähme, um
unsrer Monarchie eine unheilbare Wunde beizubringen." — „Das Streben,
Oestreich auf ganz neuen Grundlagen zu constituiren, könnte leicht zur Folge
haben, daß die Entscheidung der wichtigsten europäischen Frage in eine Zeit
fiele, wo man alles, worauf die Kraft des Staats früher beruhte, schon er¬
schüttert hat, ohne mit demjenigen fertig zu sein, was denselben für die Zu¬
kunft befestigen soll." Es ist freilich wahrscheinlich, „daß jene Sympathie,
welche sich in einem Theil Deutschlands mehr in Worten als in Thaten äu¬
ßert, bedeutend abnehmen wird, wenn man die Regierung Oestreichs nicht
mehr als Mittel, die deutsche Sprache zu verbreiten, das Gebiet des Kaiser¬
staats nicht als einen Abzugskanal sür deutsche Colonisten betrachten kann
und dem schönen Traum entsagen muß, wonach die Grenzen des ideellen
Deutschland durch Oestreich bis an das schwarze Meer gerückt werden sollen."
„Es liegt in der Natur der Sache, daß Deutschland und Oestreich sich nahe
stehn und einen bedeutenden wechselseitigen Einfluß aufeinander ausüben;
wenn sich aber Oestreich in Hinsicht der orientalischen Frage wirtlich in einer
günstigeren Stellung als andere Staaten befindet, so ist das nicht seinen Be¬
ziehungen zu Deutschland zu verdanken; noch weniger kann man behaupten,
daß Oestreich, um diese Beziehungen zu befestigen, sich als deutsche Macht
benehmen, und bei seinen innern Einrichtungen die Wünsche einer sehr red-
und schreibscligen, aber nicht sehr thatkräftigen Partei in Deutschland
berücksichtigen müsse." „Oestreich ist ebenso wenig ein deutscher
Staat als zu seiner Zeit Burgund ein solcher war, und das
Streben, es zu werden, d. h. in Deutschland die erste Stelle ein¬
zunehmen, würde die Beziehungen zu Deutschland — wenigstens
diejenigen, die von praktischer Bedeutung für die Zukunft Oest¬
reichs sind — nur verwirren. Eben jene Regierungen und Staats¬
männer, die über die Stellung, welche Deutschland thatsächlich einnimmt,
entscheiden, haben über die Bestimmung Deutschlands und die besten Mittel,
sie zu erhalten, ganz andere Ansichten als diejenigen, welche die Zukunft ihres
Vaterlandes an den Gestaden des schwarzen Meeres suchen." — „Was die
orientalische Frage betrifft, so sind die Interessen Oestreichs und Deutschlands
so identisch, daß es gar keiner besondern Mittel bedarf, das deutsche Volk
an Oestreich zu knüpfen; ja ich glaube, daß dieses natürliche Verhält¬
niß durch nichts mehr ggstört werden kann, als wenn Oestreich
aus einer befreundeten Macht, welche es der Natur der Dinge
nach ist, noch mehr für Deutschland werden will." —
„Wenn in jener Frage unsere Stellung eine bevorzugte ist, so ist sie es
erstens darum, weil im Fall einer Zerstückelung des osmanischen Reichs
außer Ungarn und der östreichischen Dynastie kein anderer Staat rechtliche
Ansprüche auf den Besitz jener Länder aufzuweisen hat; zweitens darum,
weil die Völker, welche die südlichen und östlichen Grenzen der öst¬
reichischen Monarchie bewohnen, und jene der nachbarlichen Provinzen
des türkischen Reichs zum Theil denselben Nationalitäten angehören." —
„Sind die innern Verhältnisse des Kaiserstaats so geordnet, daß der Anschluß
an Oestreich jenen Völkern, welche an unsern Grenzen wohnen, wünschens¬
wert!) erscheint, so liegt darin, daß ein Theil dieser Völker schon jetzt der
Monarchie angehört, ein Element der Macht, wie es im Augenblick der Auf
lösung des türkischen Reichs kein andrer Staat besitzt. Im entgegengesetzten
Fall kann aber die Auflösung des türkischen Reichs die verderblichsten Wir¬
kungen auf Oestreich ausüben, wenn dabei den einzelnen Provinzen eine
Stellung eingeräumt wird, welche den verwandten Nationalitäten, die der
Monarchie angehören, Wünschenswerther erscheint als jene, die sie selbst ein¬
nehmen." — „Es ergibt sich hieraus, daß die innern Einrichtungen des
Staats allerdings die größte Bedeutung für die Stellung Oestreichs nach
Außen haben müssen.^
..Oestreich bedarf, um stark zu sein, nichts Anderes, als daß es seine
natürliche Stellung erkenne. In dem Augenblick, in welchem diejenigen, die
den Staat regieren, einsehn werden, daß ein Staat, welcher ans verschiedenen
Nationalitäten besteht, die er durch Jahrhunderte nicht zu assimiliren ver¬
mocht hat, nur dadurch mächtig werden könne, wenn er jede derselben in ihrer
naturgemäßen Entwicklung zu unterstützen und zu kräftigen sucht; in dem
Augenblick, in welchem die Völker Oestreichs sich davon überzeugen, daß das
Bestehen und die Entwicklung aller einzelnen Nationalitäten von der Erhal¬
tung des Gesammtstaats, welcher sie zu einem wichtigen Ganzen vereinigt,
bedingt sei, in dem Augenblick, wo diese Wahrheit, die schon jetzt vielen klar
geworden ist, sich allen aufdrängen wird, ist auch die Macht und Einheit
Oestreichs als gesichert zu betrachten." —
Neu find diese Ansichten den Lesern der Grenzboten keineswegs; wir
haben sie seit 1848 unermüdlich und von allen möglichen Gesichtspunkten aus
verfochten. Aber es hat allerdings ein ganz anderes Gewicht, wenn sie von
einem östreichischen Staatsmann ausgesprochen werden, der aus der Mitte
der heimischen Zustände zu urtheilen vermag; und doppelt erfreulich ist es,
daß sie grade von Ungarn ausgehn, dem bisherigen Herd des Separatismus.
Eine politische (ständische) Centralisation Oestreichs, verbunden mit der
administrativen Decentralisation würde die Stellung dieses Staats auch nach
den beiden Seiten hin klären, die bis jetzt die bedenklichsten Blößen bieten.
Nach einer solchen Reform würde es nicht mehr in seinem Interesse liegen,
in Deutschland oder in Italien der absolutistischen Partei gegen die liberale hilf¬
reiche Hand zu leisten; es würde der organischen Entwicklung dieser natürlichen
Verbündeten kein Hinderniß mehr in den Weg legen dürfen. Denn was ist
abgesehen von der Begierde, die Herrschaft über das natürliche Maß auszu¬
dehnen — der geheime Grund, der Oestreich bestimmt, das Zustandekommen
eines engern Bundesstaats (Union, selbst in der matten Abschwächung eines
Zollvereins) aus allen Kräften zu hintertreiben? Die Furcht, daß ein solcher
eine magnetische Anziehungskraft auf die deutschen, resp, italienischen Be¬
sitzungen der Monarchie ausüben und demnach auflösend auf dieselbe ein¬
wirken werde. Eine solche Furcht schwindet, wenn der Deutschöstreicher in
seinem eignen Staat die politische Befriedigung findet, die er sonst anderwärts
zu suchen geneigt war.
Oestreich hat bis jetzt die Politik verfolgt, in Deutschland die Mittelstaaten
gegen Preußen und den Gedanken der deutschen Einheit, in Italien die ab¬
solutistischen Regierungen und das Papstthum gegen das constitutionelle Sar¬
dinien und die Republik ins Feld zu rufen. Wie wäre es, wenn es einmal
den entgegengesetzten Weg versuchte? Vielleicht wäre dazu kein Augenblick
günstiger als der gegenwärtige.
In Sardinien wird — falls nicht wieder unvorhergesehene Ereignisse ein¬
treten, und vielleicht auch dann infolge der schmählichen Enttäuschung der
letzten Tage eine furchtbare Reaction erfolgen; der Haß gegen Oestreich wird
durch den größeren und gerechteren gegen Frankreich in Schatten gedrängt
werden. — Daß auch Frankreich das Feldgeschrei Viva, V«räi! nie und nimmer
unterstützen wird, muß jetzt endlich jeder Unbefangene erkannt haben; es han¬
delt sich auch mit Hilfe Frankreichs nur um die Gründung eines italienischen
Staatenbundes. — Warum sollte Oestreich jetzt nicht versuchen, ganz ehrlich
die Rolle zu spielen, die Frankreich aus selbstsüchtigen Motiven unternahm?
Warum sollte es nicht in Italien mit Sardinien als Vertreter der liberalen
Reform auftreten, und mit einer Reorganisation der Lombardei, mit einer
Unterstützung der konstitutionellen Regierungsform in seinen Secundogenituren
den Anfang machen? — Die Ueberraschung wäre ungeheuer; aber grade darum!
— Noch viel größere Chancen würde dieser Plan haben, wenn etwa eine
republikanische Empörung ausbrechen, und, wie natürlich, niedergeschlagen
werden sollte.
Was Deutschland betrifft, so hat Preußen infolge seiner geographischen
Zersplitterung durch den wiener Congreß — gleichviel welche Partei am Ruder
ist — salls es nicht zu einer östreichischen Präfectur Heralisinken will, nur
einen doppelten Weg vor sich: entweder durch Gründung eines engen Bundes¬
staats sich mit der Sache der deutschen Nation zu identificiren, oder die Arron-
dirungspolitik des vorigen Jahrhunderts wieder aufzunehmen. Dawider hilft
keine Declamation, es ist innere, naturgemäße Nothwendigkeit. — Das Erste
hat Oestreich bis jetzt unmöglich gemacht; das Letztere könnte zum völligen
Ruin Deutschlands führen. — Sollte nun Oestreich nicht endlich zu der Ueber¬
zeugung kommen, daß ein durch Preußen militärisch organisirtes Kleindeutsch¬
land ihm ein zuverlässigerer und mächtigerer Bundesgenosse sein würde, als
ein Staatencomplex, in dem es seine vermeintliche Hegemonie nur dadurch
aufrecht hält, daß es den Einen gegen den Andern hetzt?
Eine solche politische Combination, die in England den natürlichen Bundes¬
genossen fände, würde den Frieden der Welt und die organische Entwicklung
Europas gegen alle Gelüste Rußlands. Frankreichs und der Revolution wirk¬
samer und dauerhafter sichern, als alle pariser Konferenzen und alle Winkel¬
züge der Diplomatie, über deren Hilflosigkeit im entscheidenden Moment man
sich jetzt doch wol ins Klare gesetzt haben könnte. Und wenn alle Theile dabei
gewonnen, Oestreich hätte wahrlich nicht Grund, mit seinem eignen Antheil
unzufrieden zu sein.
Möchten sich in Oestreich noch viele finden, die gleich dem Versasser der
vorliegenden Schrift der Vernunft und ruhigen Ueberlegung vor den Deva¬
luationen hohler Eitelkeit den Vorzug gäben!
Die holsteinischen Landstände haben gesprochen, und sie haben diesmal
sich nicht auf ein negatives Verhalten gegenüber den Vorlagen der Regierung
beschränkt, sondern zugleich positive Vorschläge zur Regelung des Verhältnisses
Holsteins in seiner Verbindung mit den übrigen Theilen der dänischen Mon¬
archie gemacht. Den Ständen lagen der Entwurf eines Gesetzes betreffend
die Verfassung Holsteins, serner das als Entwurf zu behandelnde, durch Pa-
teut vom t>. Nov. 1858 für Holstein und Lauenburg aufgehobene Gesetz, be¬
treffend eine Verfassung für die gemeinschaftlichen Angelegenheiten der däni¬
schen Monarchie vom 2. Oct. 1855, endlich das gleichfalls als Entwurf zu
behandelnde, von demselben Tage datirte Gesetz, betreffend die Wahlen zum
Reichsrath zur Berathung vor. Der zur Erörterung dieser Gesetzentwürfe
niedergesetzte Ausschuß stattete darüber einen Bericht ab, den wir im Folgen¬
den den Lesern auszugsweise vorlegen. Die in demselben enthaltenen Schlu߬
folgerungen und Anträge wurden von der Versammlung einstimmig gut
geheißen. Der königl. Commissär erklärte, daß die Regierung den Haupt¬
antrag zurückweise, und daß der Ausschuß seine Kompetenz überschritten. Der
Präsident der Versammlung rechtfertigte dieselbe in entschiedener Sprache. Die
Holsteincr haben damit alles gethan, was sie der Sachlage nach thun konnten.
Wie man sich in Kopenhagen zu ihrem Auftreten ferner verhalten wird, ist unschwer
zu errathen. Es fragt sich lediglich, wie sich Preußen, wie sich der deutsche Bund,
und wie sich Oestreich zu der jetzt an der Schwelle der Entscheidung ange¬
langten Angelegenheit stellen wird. Nur Oestreich kann das Hinderniß sein,
wenn in Frankfurt das Recht Holsteins aus eine selbstständige Stellung
in der dänischen Monarchie und auf die ihm im letzten Frieden gewahrte,
durch die Maßregeln der dänischen Regierung seitdem auf ein Nichts redu-
cirte. jetzt von den Vertretern des Herzogthums zurückgeforderte Gleichberech¬
tigung des Herzogthum mit den übrigen Theilen der Monarchie nicht in
seiner ganzen vollen Ausdehnung durchgesetzt, wenn auf das Verlangen der Hol¬
steincr nach Wiederherstellung einer engern Verbindung mit Schleswig nicht
Rücksicht genommen wird.
Der sehr ausführliche und gründliche Bericht des Ausschusses empfiehlt
in Bezug auf die Stellung, welche Holstein durch die Vorlagen der Ne¬
gierung vom 6. Nov. 1858 gegeben sei, der Versammlung zunächst, zu bean¬
tragen, daß bis zur endgiltigen Ordnung des Verhältnisses des Herzogthums zur
Gesammtmonarchie kein Gesetz rücksichtlich der gemeinsamen Angelegenheiten
mit Wirksamkeit für Holstein ohne vorherige Zustimmung der Stände erlassen
werden dürfe. Er erörtert sodann die Stellung, welche die Ständeversamm¬
lung den obengenannten Regierungsvorlagen gegenüber einzunehmen habe, und
kommt zu dem Schlüsse, wie das gemeinschaftliche Verfassungsge.setz von 1855
aufgehoben worden, so müsse auch das unter gleichem Datum erlassene vor¬
läufige Wahlgesetz aufgehoben werden, und die Ständeversammlung müsse
zur Erlassung beider Gesetze ihre Zustimmung versagen. Hierauf wird erwo¬
gen, ob und wie die Stände mit positiven Vorschlägen in Betreff der Ver-
fassungsvcrhältnisse Holsteins hervorzutreten haben, und der Ausschuß findet,
daß solche Vorschläge zu machen seien, daß aber die Versammlung sich da¬
gegen verwahren müsse, durch ihre Vorschläge den'Verhandlungen zwischen
der königlichen Regierung und dem deutschen Bunde vorgreifen zu können,
und daß sie außerdem hervorzuheben habe, wie die Bekanntmachung vom
23. Jan. 1852 ihr als Grundlage für ihre Vorschläge gegeben, nicht von
ihr gewählt sei — sie müsse dies betonen, da sie bei freier Wahl von einem
andern Standpunkt ausgegangen sein würde, und sich gegen alle aus der
Basirung ihrer Anträge auf jene Bekanntmachung zu ziehenden Folgerungen
verwahren.
Wäre es, sagt der Ausschuhbericht, den die Stände als Ausdruck ihrer
Ueberzeugung einmüthig anerkannt haben, der Versammlung gestattet
gewesen, über jene Grundlage hinauszugehen, so würde sie es
offen ausgesprochen haben, daß sie in der Rückkehr zum Status-
quo vor 1848, in der Wiederherstellung der altbcrechtigten legislativen und
administrativen Verbindung der Herzogtümer Schleswig und Holstein das
sicherste Mittel, ja die wesentlichste Bedingung einer zufrieden¬
stellender und dauernden Ordnung der Angelegenheiten der Mon¬
archie sähe. Diese Verbindung, heißt es in dem Bericht, ist früher zu allen
Zeiten von der Regierung als berechtigt und den Interessen der Herzogthümer
entsprechend anerkannt worden. Noch im Jahre 1846 gab der Bundestags-
gcsandte für Holstein vor dem Bundestag die Erklärung ab, daß es nicht die
Absicht sei, in den Verhältnissen, welche das Herzogthum Holstein mit dem
Herzogthum Schleswig verbinden, irgend eine Veränderung herbeizuführen,
vielmehr werde diese Verbindung ausdrücklich anerkannt, und sie bestehe ihrem
Wesen nach darin, daß beide Herzogthümer bis aus Holsteins Eigenschaft als
Glied des deutschen Bundes und die abgesonderte Ständeversammlung neben
dem Socialnexns der Schleswig-holsteinischen Ritterschaft bei gemeinsamer oder
gleichartiger Gesetzgebung und Verwaltung alle öffentlichen Verhältnisse mit¬
einander gemein haben. Ja selbst in dem Rescript des jetzigen Königs vom
28. Jan. 1848 wegen Einführung einer Gesammtverfassung ist ausdrücklich
gesagt, daß dadurch in der bestehenden Verbindung Holsteins mit Schleswig
nichts verändert werden solle. Diese Verbindung ist der Angelpunkt, um
welchen sich sast die ganze Geschichte der beiden Herzogthümer dreht, und sie
ist mit dem Rechtsbewußtsein ihrer Bewohner so verwachsen, daß kein Opfer
von ihnen so schwer empfunden wird, als jene Trennung, durch welche ihre
Interessen um so tiefer verletzt werden, je mehr die Verbote der Gemein¬
schaftlichkeit von Tag zu Tag aus alle geistigen und materiellen Lebensver¬
hältnisse sich ausdehnen. Nicht im Bestehen jener Verbindung, sondern in
den auf Vernichtung derselben gerichteten Bestrebungen ist der Grund zu den
Zerwürfnissen zwischen den Herzogthümer» und dem Königreich zu suchen. Die
Integrität der Monarchie wird durch die legislative und administrative Ver¬
bindung Schleswigs mit Holstein nicht gefährdet, sondern gekräftigt. Wird
nur der Gedanke an eine allen gegebenen Verhältnissen widerstreitende Ver¬
schmelzung der Herzogthümer mit dem Königreich (Gesammtstaat) und nament¬
lich der Gedanke an eine Einverleibung Schleswigs in das Königreich (Eider-
staat) aufgegeben, so spricht auch auf dänischer Seite kein Interesse gegen die
Verbindung der Herzogthümer untereinander. Sagt man, daß durch dieselbe
die dänische Nationalität eines Theils der Schleswiger gefährdet werde, so
ist zu erwidern: den Maßregeln der dünischen Propaganda, gegen welche die
bisherige sogenannte selbstständige Stellung Schleswigs durchaus nicht schützte,
würde durch eine Wiederherstellung jener Verbindung allerdings eine Grenze
gesetzt, und die deutsche Bevölkerung in den sogenannten gemischten Districten
des Landes, welche bis jetzt einer unerträglichen nationalen Bedrückung, be¬
sonders auf dem Gebiet der Sprache in Kirche und Schule ausgesetzt war,
würde wieder frei werden; aber auf der andern Seite steht bei der Verbindung
der Herzogthümer auch gar nichts im Wege, daß der wahren Gleichberech¬
tigung der Nationalitüten und insbesondere der dänischen in Schleswig jede
erforderliche Bürgschaft werde. Ferner kann das Verhältniß Holsteins zum
deutschen Bunde der Verbindung desselben mit Schleswig so wenig entgegen¬
stehen, als dies früher der Fall war, und als dasselbe für eine Vereinigung
Holsteins mit Dänemark und Schleswig zu einem konstitutionellen Gesammt¬
staat als ein Hinderniß angesehen wurde.
Der Ausschuß schließt die Erörterung dieses Punktes mit den Worten:
„Zur Aufhebung der Verbindung der Herzogthümer Schleswig
und Holstein hat die Landesvertretung niemals ihre Zustimmung
ertheilt. Die Versammlung wird hiergegen auch jetzt sich zu ver¬
wahren haben."
Der Bericht kommt nun zu den auf die Bekanntmachung vom 28. Jan.
1852 gegründeten positiven Vorschlügen. Die Versammlung, tagt derselbe,
hat sich allerdings nur über die Verfassungsvcrhültnisse des Herzogthums Hol¬
stein auszusprechen, indeß können die Bestimmungen, welche diese regeln sollen,
nicht süglich anderswo, als in einem Verfassungsgesetz für die dänische Mon¬
archie ihren Platz finden, und so hat der Ausschuß, statt sich auf den Ent¬
wurf einer Verfassung sür Holstein zu beschränken, seine Ausfassung des in
der Bekanntmachung vom 28. Jan. 1852 ertheilten königlichen Versprechens,
die Selbststündigkeit und Gleichberechtigung aller Landestheile wahren zu wollen,
seine Vorschläge hinsichtlich einer endgiltigen Lösung der ganzen Frage in die
Form eines Verfassungsentwurfs für die gesammte Monarchie
gekleidet. Wir heb'en aus diesem Entwurf die wichtigsten Punkte hervor, und
geben dann die Motive dazu.
In dem allgemeinen Theil heißt es: 1) Die dänische Monarchie besteht
aus vier selbstständigen und gleichberechtigten Theilen, nämlich dem König'
reich Dänemark und den drei Herzogihümern Schleswig. Holstein und Lauen-
burg. 2) Die Regierungsform ist eingeschränkt monarchisch, die Thronfolge
erblich. 5) Nach erfolgtem Regierungsantritt übergibt der König dem gehei¬
men Staatsrath die eidliche Versicherung, dieses Verfassungsgesctz unverbrüch¬
lich halten zu wollen. Bestallungen. Confirmationspatcnte, Privilegien oder
sonstige Ausfertigungen zur Ausübung eines Betriebes bedürfen beim Thron¬
wechsel keiner Bestätigung. (Bis jetzt bedurften sie einer solchen, was in
Schleswig zu allerlei Beeeinträchtigungen der Deutschgcsinnten benutzt wurde.)
7) Der König hat keine Verantwortlichkeit. Seine Person ist heilig und un¬
verletzlich. Die Minister sind verantwortlich für die Führung der Regierung.
10) Die Angelegenheiten in der Monarchie sind theils solche, welche alle Theile
derselben miteinander gemeinschaftlich haben, theils solche, welche für Holstein
und Schleswig gemeinschaftlich sind, theils für jedes Land besondere. 11) Allen
Theilen gemeinschaftliche Angelegenheiten sind die, welche betreffen: die Civil¬
liste des Königs, die Apanagen der Mitglieder des königlichen Hauses, die
gemeinschaftlichen Ministerien und das Staatssecretariat, die diesen Ministerien
unmittelbar untergeordneten Centralbehörden und der ganze denselben ange-
hörige Beamtenetat, das Landmilitärwcscn mit Ausnahme des Aushebungs¬
und Einquartirungswesens, das Marinewesen unter derselben Beschränkung.
Für diejenigen jungen Leute aus den Herzogihümern, welche sich dem Land-
Militäretat widmen und sich dabei der deutschen Sprache bedienen wollen,
werden die erforderlichen Lehranstalten mit der deutschen als Unterrichtssprache
in Rendsburg begründet. In der Seccadcttcnakademie wird eine Abtheilung
gebildet, in welcher gleichfalls die deutsche die Unterrichtssprache ist. Ferner
gehören zu den gemeinschaftlichen Angelegenheiten das Leuchtfeuer-, Baken-
und Lootsenwesen, die Vertretung im Ausland, die Staatsactiv.er, mit Ein¬
schluß der Colonien, der Ueberschüsse aus dem Herzogthum Lauenburg und des
Sundzollfonds, die gemeinschaftlichen Staatsschulden, die Pensionirung solcher
Beamten, deren letzter Wirkungskreis sich auf die jetzt gemeinschaftlichen An¬
gelegenheiten erstreckt, die allgemeine Witwenkasse und die Beziehungen des
Staats zu der Leibrenten- und Versorgungsanstalt von 1842, die von dem
vormaligen Staatssecretariat für Gnadensachen übernommenen Unterstützungen,
der Ein- und Ausfuhrzoll, die Lastgclder. die Zollsporteln, die Vrcnnstcuer,
der Kartenstcmpel, und die Recognitionen von Handelsreisender so wie der
Ueberschuß und die Unterbalance des Eiderkanals. die Postanstalt und der
Staatstelegraph, die Rangsteuer, die Classenlottene, das statistische Bureau,
das Budget-. Assignations- und Staatsrechnungswescn in Betreff der gemein¬
schaftlichen Angelegenheiten der Monarchie, das geheime Archiv und die Archive
der vormaligen Jmmediatcollegien. so weit deren Geschäfte auf gemeinschaftliche
Ministerien übergegangen sind, die gemeinschaftlichen königlichen Schlösser,
öffentlichen Gebäude und Sammlungen, endlich das Münzwesen. 12) Die
mit den im Vorstehenden aufgeführten Angelegenheiten verbundenen Einnahmen
sind die gemeinschaftlichen Einnahmen, die mit denselben verbundenen Aus¬
gaben die gemeinschaftlichen Ausgaben der Monarchie. Rücksichtlich der finan¬
ziellen Stellung Laueuburgs indeß verbleibt es bei dem Bisherigen. 13) Für
Holstein und Schleswig gemeinschaftliche Angelegenheiten sind die, welche die
kielcr Universität, die Ritterschaft, den Eiderkanal (mit Ausnahme des Tarifs
und der Einnahmen und Ausgaben), das Brandversicherungswesen, die Straf¬
anstalten, das Taubstummeninstitut und die Irrenanstalten betreffen. 14) Alle
übrigen sind besondere Angelegenheiten des betreffenden Theils der Monarchie.
15) Die höchste Behörde in der Monarchie ist der geheime Staatsrath. In
demselben hat der König den Vorsitz und in Verhinderungsfällen desselben der
Thronfolger, wofern er mündig ist, wo er stets Mitglied dieser Körperschaft
ist. Uebrigens sind Mitglieder die Minister für die gemeinschaftlichen An¬
gelegenheiten, ein Minister für die besondern Angelegenheiten des Königreichs
Dänemark, der Minister für Schleswig und der Minister für Holstein und
Lauenburg. 16) Die gemeinschaftlichen Minister sind, der Kriegs- und der
Marineminister, der Minister für das Auswärtige und der Finanzminister.
Davon muß wenigstens einer das Jndigenat in den Herzogthümern Holstein
und Lauenburg besitzen. 17) Die den Herzogthümern Holstein und Schleswig
gemeinsamen Angelegenheiten werden von dem Minister für Schleswig und
dem Minister für Holstein und Lauenburg collegialisch verwaltet, die besondern
Angelegenheiten von den besondern Ministern. 20) Der König hat in Ge¬
meinschaft mit den Vertretern der einzelnen Länder (nicht Provinzen oder
Landestheilen), nämlich 'dem Reichstage des Königreichs Dänemark, den Land¬
ständen des Herzogthums Schleswig, den Landständen des Herzogthums Hol¬
stein, der Ritter- und Landschaft des Herzogthums Lauenburg die gesetzgebende
Gewalt in allen Angelegenheiten unter folgenden nähern Bestimmungen:
21) In Bezug auf die allen Theilen der Monarchie gemeinschaftlichen An¬
gelegenheiten sollen neue Gesetze nicht anders erlassen, bestehende nicht anders
abgeändert oder aufgehoben werden als nach vorgängiger Zustimmung aller
Landesvertretungen, und es ist in den betreffenden Verfügungen auf die er¬
theilte Zustimmung derselben ausdrücklich Bezug zu nehmen. 22) In Betreff
der den Herzogthümern Schleswig und Holstein gemeinschaftlichen Angelegen¬
heiten gelten die im §. 21 enthaltenen Grundsätze in Beziehung auf die Land¬
stände der Herzogthümer Schleswig und Holstein und die denselben vorzu¬
legenden Gesetzentwürfe. 24) Der König kann in dringenden Fällen provisorische
Gesetze erlassen. Doch dürfen dieselben den Grundsätzen der Verfassung nicht
widerstreiten und müssen den competenten Landesvertretungen oder, wenn die
betreffende Angelegenheit eine besondere ist, der competenten Landesvertretung
in der nächsten Sitzung zur Beschlußnahme vorgelegt werden, widrigenfalls
sie von selbst außer Wirksamkeit treten. 25) Ein von einer Versammlung ab¬
gelehnter Gesetzentwurf kann in derselben Versammlung nicht wieder vorgelegt
werden. 26) Die eine gemeinschaftliche Angelegenheit aller Theile der Mon¬
archie oder der Herzogthümer Schleswig und Holstein betreffenden Gesetzent¬
würfe können nur so wie sie von der Negienmg vorgelegt sind, angenommen
oder abgelehnt werden. Aendcrungsvorschläge dürfen zu denselben nicht ge¬
stellt werden. Uebrigens ist jede Landesvertretung befugt, in Betreff gemein¬
schaftlicher Angelegenheiten sowol wie besonderer, in so weit letztere den Theil der
Monarchie angehen, welchem die Landesvertretung angehört. Anträge und
Beschwerden einzureichen. 27) Gemeinschaftliche Angelegenheiten betreffende
Anträge können den Landesvertretungen nur durch eines ihrer Mitglieder
übergeben werden. 28) In besondern Angelegenheiten ist jede Landesvertretung
berechtigt, Gesetzvorschläge zu machen und Beschlüsse über solche zu fassen.
Aus alle Vorschläge oder Anträge ist der nächsten ordentlichen oder außer¬
ordentlichen Versammlung bei ihrer Eröffnung die königliche Entschließung mit¬
zutheilen, so) Der König hat das Begnadigungsrecht, jedoch kann er nur
mit Einwilligung der Landesvertretung, welche die Anklage erhoben hat, die
Minister rücksichtlich derjenigen Strafen begnadigen, zu welchen sie von dem
Reichsgericht verurtheilt sind. 32) Der König besetzt alle Aemter in dem bis¬
herigen Umfange, doch kann niemand angestellt oder versetzt werden, welcher
nicht das Jndigenat in einem Theil der Monarchie hat. Erworben wird die¬
ses Jndigencit durch Geburt in einem Theil der Monarchie, durch Geburt
von solchen Staatsangehörigen, welche sich außerhalb des Landes befinden,
endlich durch Gesetz. Das Jndigenat in einem Theil der Monarchie
gibt nicht auch das Jndigenat in einem andern Theil derselben. Diese
Regel erleidet jedoch folgende Ausnahmen: Holstein und Lauenburg haben
das Jndigenat gemeinschaftlich miteinander; jeder, welcher das Jndigenat in
Schleswig oder in Holstein und Lauenburg besitzt, bekommt auch das Jndi¬
genat respective in Holstein und Lauenburg und in Schleswig dadurch, daß
er zwei Jahre in Kiel studirt und bei einem der Examinationscollegien in
Schleswig oder in Holstein sein Amts- oder Staatsexamen besteht; die Mit¬
glieder der Ritterschaft der Herzogthümer Schleswig und Holstein haben das
Jndigenat in beiden Herzogtümern. Das Jndigenat in dem betreffenden
Theil der Monarchie ist erforderlich für die besondern Minister. Das Jndi¬
genat in Holstein und Lauenburg ist erforderlich für wenigstens einen der ge¬
meinschaftlichen Minister. Ferner ist dasselbe erforderlich in dem betreffenden Theil
der Monarchie für die Beamten in den betreffenden besondern Ministerien und
für sämmtliche Localbcamtc unter dem besondern Ministerium sowol wie unter
den gemeinschaftlichen Ministerien. Für die gemeinschaftlichen Minister mit
der ebengedachten Beschränkung und alle in den gemeinschaftlichen Ministerien
angestellten Beamten, so wie für die Land- und Seeoffiziere genügt das Jn-
digenat in irgend einem Theil der Monarchie. Das bisherige allgemeine
Jndigcnat fällt weg. 35) Die Minister können von dem König oder von
jeder Landesvertretung wegen ihrer Amtsführung in gemeinschaftlichen Ange¬
legenheiten aller Theile der Monarchie in Anklage gesetzt werden. Das Reichs¬
gericht der Monarchie, dessen Mitglieder in gleicher Anzahl von allen Laudes-
vertretungen gewählt werden, füllt über sie das Urtheil. Die Organisation
dieses Gerichts, so wie das Verfahren vor demselben wird durch Gesetz ge¬
ordnet. 36) Keine Steuer kann auferlegt, verändert oder aufgehoben, keine
Staatsanleihe aufgenommen werden anders als durch Gesetz. 37) Jede Aus¬
hebung von Mannschaft für Heer oder Flotte soll durch Gesetz bewilligt wer¬
den. 38) Durch Gesetz wird ein Nvrmalbudgct festgestellt, welches die gemein¬
schaftlichen ordinären Einnahmen und Ausgaben veranschlagt. 39) Der Betrag,
womit die gemeinschaftlichen Ausgaben der Monarchie die gemeinschaftlichen
Ausgaben in Wirklichkeit übersteigen, wird von den besondern Einnahmen
der einzelnen Theile der Monarchie in der Weise gedeckt, daß das Königreich
63°-/,°°, Schleswig i5°-/l->°, Holstein 20"/,^ dazu beiträgt. 40) Für die
Revision und Decision der von den verschiedenen Verwaltungszweigen in den
gemeinschaftlichen Angelegenheiten geführten Rechnungen wird durch Gesetz
ein Rechnungshof/ errichtet, welcher die Controle über sämmtliche Rechnungs¬
beamte sührt. Die Staatsrechnungsablage wird durch Gesetz genehmigt.
Der Vorschlag zu diesem Gesetz nebst den Bemerkungen des Rechnungshofes
wird einer von sämmtlichen Landesvertrctungcn und zwar von jeder derselben
in gleicher Zahl erwählten Commission vorgelegt,' welcher die Decision
Namens der Landesvertrctungcn zusteht. 41) Der König beruft jede Landes¬
vertretung jedes zweite Jahr zur ordentlichen Versammlung, und er kann die
Versammlung nach zwei Monaten schließen. 42) Verlage kann die Versamm¬
lung nicht auf länger als vier Monate und nicht öfter als einmal in jedem
Zeitraum von zwei Jahren werden. 43) Der König kann jede Landes¬
vertretung auflösen, worauf sobald als möglich neue Wahlen stattfinden und
die neue Versammlung binnen vier Monaten nach Auflösung der alten zu¬
sammentreten soll. Mehr als zwei Auflösungen sollen in einem Zeitraum von
zwei Jahren nicht vorkommen.
Die nächsten Paragraphen bestimmen, daß zu Volksvertretern gewählte
Beamte zur Annahme der Wahl der Erlaubniß der Negierung nicht bedürfen,
daß die Gerichte berechtigt sind, wegen Überschreitung der polizeilichen oder
obrigkeitlichen Gewalt ein Urtheil zu fällen, daß jeder das Recht haben soll,
seine Gedanken drucken zu lassen, jedoch unter Verantwortlichkeit vor den Ge¬
richten und was Holstein und Lauenburg betrifft, unter Beobachtung der
Bundcsgesetzgcbung, endlich daß alle Bewohner der Monarchie das Recht haben,
ohne vorherige Erlaubniß zu jedem nicht durch die Gesetze verbotenen Zweck
Vereine zu schließen. Dann sagt §. 52: Gesetzvorschläge für Veränderungen
in vorstehenden Verfassungsbestimmungen müssen sämmtlichen Landesvertre¬
tungen zur Beschlußnahme vorgelegt werden. Ueber dieselben kann nur
abgestimmt werden in Sitzungen, in welchen wcnistens '/^ der Mitglieder gegen¬
wärtig sind. Angenommen sind solche Vorschlüge nur, wenn von den Gegen¬
wärtigen nicht weniger als V-> beigestimmt haben. Durch provisorische Ver¬
fügungen können keine Veränderungen der Verfassung herbeigeführt werden.
Die Vorschlüge in Betreff der besondern Verfassung für Holstein über¬
gehen wir für jetzt und geben nur noch Einiges aus den Motiven zu den
bedeutendsten der im Vorhergehenden mitgetheilten Paragraphen. Der Aus¬
schuß geht von der Ansicht aus, daß Selbststündigkeit und gleiche Berechtigung
aller Theile der Monarchie der Hauptgrundsatz der Bekanntmachung vom
23. Jan. 1852 sei. Die Bekanntmachung spricht als die Absicht des Königs
aus, die verschiedenen Theile der Monarchie zu einem wohlgeordneten Ganzen
zu verbinden. Dieser allgemeine Satz erklärt sich aus der östreichischen De¬
pesche vom 26. Dec. 1351, in welcher einestheils der bleibende Verband der
Monarchie, anderntheils die gleiche Berechtigung aller Bestandtheile derselben
als Grundlagen des Neubaus bezeichnet sind, so wie die Anlage zu jener De¬
pesche, in der die Erwartung ausgesprochen wird, der König werde in
der Form der künstigen Organisation der Monarchie die den verschie¬
denen Landestheilen gelassene Stellung als Glieder eines Ganzen, in welchem
kein Theil dem andern untergeordnet ist, mit gleichmäßiger Sorgfalt zu wahren
wissen. Die Bedeutung dieser Aeußerungen für die Auffassung der erwähnten
Bekanntmachung geht daraus hervor, daß in der Depesche, mit welcher
letztere nach Berlin und Wien geschickt wurde, ausdrücklich gesagt ist, der Kö¬
nig finde, daß in der Depesche vom 26. Dec. und deren Anlage seine früher
kundgegebnen Absichten richtig gedeutet seien, und er werde in der Zusammen¬
setzung des Staatsraths eine beruhigende Bürgschaft für die ihren landes¬
väterlichen Absichten entsprechende Wahrung der Interessen und der gleich¬
berechtigten Stellung aller Theile der Monarchie erblicken können.
Auf der Grundlage der Selbststündigkeit und Gleichberechtigung aller Theile
der Monarchie Hütte also die Gesammtverfassung, auf deren Einführung nach
dem weiteren Inhalt Bedacht genommen werden sollte, aufgeführt werden
müssen, und auf derselben Basis wird man jetzt, nach Beseitigung der Ver¬
fassung von 1855. eine anderweite Verfassung für die gemeinschaftlichen An¬
gelegenheiten gründen müssen. Aus dem Grundsatz der Selbststündigkeit der
einzelnen Länder der Monarchie folgt, daß in der gemeinschaftlichen Verfassung
diese einzelnen Länder als solche, als politische Körper, als „Glieder eines Ganzen"
die Nechtssubjecte bilden müssen. Nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung
aber ist jeder Theil der Monarchie, also jedes einzelne Land, in der Ver¬
fassung den andern rechtlich gleichzustellen. Die Berechtigung findet ihren Ausdruck
und ihre Bürgschaft in der Repräsentation. Eine Repräsentation (wie die der
Gesammtverfassung von 1855), welche sich auf die Volkszahl, ohne Rücksicht auf
die einzelnen Länder, welchen die Individuen angehören, stützt, kann mithin nicht
als Gesammtorgan eines aus selbstständigen und gleichberechtigten oder überhaupt
nur aus berechtigten Ländern gebildeten Gesammtstaats. sondern nur als Organ
eines Einheitsstaats, ohne Gliederung desselben durch gleichberechtigte Landes¬
theile gedacht werden. Die Gesammtverfassung von 1855 geht von einem dem
in der Bekanntmachung von 28. Jan. 1852 aufgestellten Grundsatz grade
entgegengesetzten Princip, dem der Nichtberechtigung der verschiedenen Theile
der Monarchie als solchen aus. Eine Repräsentation nach Volkszahl hat nicht
nur die Folge, daß die Länder mit weniger Bewohnern, hier also die Her-
zogthümer, in allen Fällen, wo die Interessen auseinandergehen, sich stets in
der Minorität befinden, sondern ihre politische Selbstständigkeit wird gradezu
vernichtet, weil die Minorität der Majorität gegenüber nicht blos eine geringe,
sondern gar keine Bedeutung hat. Wollte man daher bei der Neubildung
einer gemeinsamen Verfassung seine Vorschläge zugleich auf Schöpfung eines
Gescunmtorgttns richten, so müßte man vor allem fordern, daß jeder Theil
der Monarchie, also auch Holstein, in diesem Gesammtorgan mit jedem der
übrigen Theile eine sowol die Gleichberechtigung als die Selbstständigkeit sichernde
Vertretung bekomme. Dies würde sich nur so realisiren lassen, daß die Ver¬
treter jedes Theils, deren Zahl nach Größe der Theile verschieden sein könnte,
bei Abstimmungen über gemeinschaftliche Angelegenheiten unter sich stimmten,
und das Ergebniß der auf solche Weise gesonderten Abstimmung je eine
Stimme im Ganzen bildete — für die dänische Monarchie also vier Stim¬
men. Ein Gesammtorgan (Reichsrath), gebildet durch eine gleiche Anzahl von
Stimmen aus jedem Theil der Monarchie, würde nur dem Princip der Gleich¬
berechtigung, nicht aber dem der Selbstständigkeit entsprechen, da in demselben
nur die Gesammtmonarchie als Einheit vertreten sein, die einzelnen Theile als
solche aber in der Einheit untergehen würden. Auch die Bildung eines Or¬
gans mit zwei Kammern, von denen die eine nach Staaten, die andere nach
Volkszahl gebildet wäre, würde dem der Bekanntmachung zu Grunde liegen¬
den Princip nicht entsprechen, da jeder Einfluß, welchen die zweite Kammer
übte, die Selbstständigkeit und Gleichberechtigung der Theile der Monarchie be¬
einträchtigen würde. Die Vertreter Holsteins mußten sich deshalb fragen,
ob den Voraussetzungen der Bekanntmachung nicht in anderer Weise Genüge
zu leisten sei, und sie fanden die Antwort in der Bekanntmachung selbst, wo >
sie sagt, daß auf die Einführung einer gemeinschaftlichen Verfassung zum
Zweck der Behandlung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten Bedacht genom¬
men werden solle. Von einer gemeinschaftlichen Vertretung mit constitutio-
nellen Attributen, wie sie die Verfassung von 1855 schuf, ist hier nicht die
Rede, überhaupt von keiner gemeinschaftlichen Vertretung. Nur gemeinschaft¬
liche Angelegenheiten sind nach diesen Worten eine Nothwendigkeit und eine
gemeinschaftliche Verfassung zum Zweck der Behandlung derselben. Eine
Gesetzgebung verdient aber schon den Namen einer gemeinschaftlichen Verfas¬
sung, wenn sie für alle Theile der Monarchie geltende gleichmäßige Vorschrif¬
ten für die Behandlung der betreffenden Angelegenheiten aufstellt, und die
einzelnen Landesvertretungen als die zur Geltendmachung der
verfassungsmäßigen Rechte bestimmten Organe constituirt. Mit
einer solchen Organisation stehen die der Bekanntmachung vorausgegangenen
Verhandlungen nicht im Widerspruch, denn wenn auch in denselben einer Ge-
sammtvertrctung als einer Möglichkeit gedacht und rücksichtlich einer solchen
erklärt ist, daß sie unter gewissen Voraussehungen mit den Sonderrechten Hol¬
steins und Lauenburgs nicht unverträglich sei. so geht doch sowol aus den
preußischen als aus den östreichischen Depeschen unzweideutig hervor, daß
eine Verpflichtung zur Einführung eines solchen Organs nicht eingegangen wor¬
den ist. So steht der Betretung des angedeuteten Auswegs kein Hinderniß
entgegen. Es gibt aber noch andere Gründe, welche denselben empfehlen.
Wird ein Gesammtorgan unter Aufrechthaltung der Selbstständigkeit der ein¬
zelnen Landesvertretungen gebildet, so zerfällt die Staatsverwaltung der Mon¬
archie in eine größere Anzahl von getrennten Theilen und die jedes einzel¬
nen der Monarchie angehörigen Landes in zwei voneinander unabhängige
Theile unter Mitwirkung einer nur für jeden Theil competenten Repräsentation.
Dies scheint, da selbst nach der bisherigen Einrichtung der Wirkungskreis der
Landesvertretungen sich keineswegs auf untergeordnete Verwaltungszweige be¬
schränkt, und da derselbe nie blos auf solche zu beschränken wäre, der Idee
der Einheit, welche jede Staatsverwaltung ausdrücken muß, zu widersprechen.
Dazu kommt, daß ein Organ mit der Bestimmung sämmtliche Theile der Mon¬
archie zu vertreten, kaum weniger Mitglieder haben dürfte, als der jetzige
Reichsrath, der aus achtzig Mitgliedern besteht, und dass in einer solchen Ver¬
sammlung die Verschiedenheit der Sprachen ein unüberwindliches Hinderniß
für den Austausch der Gedanken sein würde. Andere Umstände sind, daß
Kopenhagen, wo das Gesammtorgan seinen Sitz haben müßte, den Vertretern
der Herzogthümer unverhältnißmäßige Opfer auferlegen würde, während die
Abgeordneten des Königreichs größtenteils todt wohnen, und daß es bei der in¬
sularen Lage Kopenhagens leicht möglich sein könnte, daß einmal die Vertre¬
ter Holsteins und der übrigen Herzogthümer nicht dorthin gelangen könnten,
wahrend wichtige Verhandlungen stattfanden, wo dann die Folge sein würde,
daß die dänischen Abgeordneten ohne sie Beschlüsse faßten.
Aus diesen Gründen rieth der Ausschuß, keinen auf Bildung eines Ge-
sammtorgnns für die gemeinschaftlichen Angelegenheiten gerichteten Vorschlag
zu stellen, sondern Erfüllung des Versprechens in der Bekanntmachung vom
28. Jan. 1852, wo es heißt, der König wolle den Herzogthümern Schleswig
und Holstein hinsichtlich ihrer bisher zum Wirkungskreis der berathenden Pro-
vinzialstönde gehörigen Angelegenheiten ständische Vertretung mit be¬
schließender Befu gniß zugestehen, zu verlangen, und zwar mit beschließender
Befugniß nicht blos hinsichtlich der besondern Angelegenheiten des Herzog-
thums. sondern auch in Betreff der Angelegenheiten, die es mit Schleswig,
und deren, die es mit den übrigen Theilen der Monarchie gemeinsam hat.
Der Ausschußbericht geht dann auf die Garantien über, durch welche die
Verfassung und die Interessen jedes Theils der Monarchie zu schützen seien.
Er weist zunächst die Nothwendigkeit solcher Garantien an den bisherigen Zu¬
ständen nach. Auf verfassungswidrigen Wege wurde den Herzogthümern eine
Gesammtverfassung aufgedrungen, durch welche sie den Majoritätsbeschlüssen
einer fremden Nationalität schutzlos Preis gegeben wurden. Die wichtigsten Be¬
stimmungen ihrer Sonderverfassung wurden ihrer Mitwirkung entzogen. Der
Wirkungskreis ihrer Stände wurde im Widerspruch mit den königlichen Zu¬
sagen beschränkt. Die finanziellen Verhältnisse der Monarchie wurden ohne
ihre Mitwirkung so geordnet, daß die durch die Zeitverhältnisse erforderlich'
gewordenen größeren Lasten fast ausschließlich ihnen zufielen. Sie wurden
mit außerordentlichen Steuern überbürdet, wenn sie auch nachwiesen, daß die
zur Deckung des vermeintlichen Deficits erforderlichen Mittel in der gemein¬
schaftlichen Kasse vorhanden waren. Richterliche Beamte wurden willkürlich
von ihren Aemtern entlassen. Unter der Form von Regierungshandlungen
wurden organische und andere gesetzliche Bestimmungen, für welche den Stän¬
den das Zustimmungsrecht eingeräumt war, ohne ihre Mitwirkung erlassen.
Beschwerden über willkürliche, dem Lande verderbliche Verwaltungsmaßregeln
wurden nicht erhört.
So geht der Ausschußbericht die ganze lange Reihe von Beeinträchtigun¬
gen und Bedrückungen durch, welche die Herzogthümer im Lauf der letzten zehn
Jahre erlitten haben. Die Verbindung Schleswigs mit der Universität ist so
gut wie aufgelöst worden. Man hat erst noch zu Ende vorigen Jahres die
Theilnahme an Vereinen und Gesellschaften, durch welche Bewohner der Her¬
zogthümer Schleswig und Holstein sich zu irgend welchen Zwecken verbinden
sollten oder verbunden hätten, in Schleswig verboten (Bibelgesellschaft, Gustav-
Adolfs „Verein, linker Kunstverein, Gesellschaft für Sammlung und Erhaltung
vaterländischer Alterthümer, Gartenbauv-ereilt, selbst den Assecuranzverein gegen
die bösartige Lungenseuche unter dem Rindvieh!) und Schleswigern bei Strafe
untersagt, sich bei einer Thierschau auf holsteinischem Gebiet zu betheiligen.
Der Grund einer solchen Willkürherrschaft liegt darin, daß in sämmtlichen
Stnatseinrichtungcn das dänische Element in größter Entschiedenheit vorherrscht
und seinen Einfluß in einer der Entwicklung deutscher Nationalität innerhalb
der Monarchie feindlichen Weise geltend macht. In Schleswig besteht die
Mehrzahl der Beamten aus Personen, welche ihre Bildung in Kopenhagen
erlangt haben, während ein noch nicht rechtsgiltig aufgehobenes Gesetz ver¬
langt, daß jeder in den Herzogthümern Anstellung Suchende zwei volle Jahre
in Kiel studirt habe; ja es gilt in Schleswig sogar als Hinderniß der An¬
stellung, wenn jemand seine Bildung auch nur theilweise in Kiel erlangt hat.
Selbst innerhalb des ungemischt deutschen Sprachgebiets sind fast ausschließlich
dänisch gebildete Personen als Beamte. Prediger und Schullehrer angestellt,
die oft der deutschen Sprache nur unvollkommen mächtig sind und die in
Schleswig bestehenden Rechts- und Gemeindeverhältnisse nur theilweise kennen.
Die ganze Verwaltung des Herzogthums Schleswig ist. wie der Ausschußbericht
namentlich an den Maßregeln zur Verdrängung der deutschen Sprache aus
Kirche und Schule nachweist, darauf berechnet, die deutsche Nationalität da¬
selbst auf eine jedem Rechtsgefühl sowol wie den ausdrücklich und bindend
ertheilten Zusagen des Königs widerstreitende Weise allmälig gai?z zu unter¬
drücken und das Herzogthum vermittelst einer fortgesetzten Danisirung factisch
dem Königreich einzuverleiben.
Die Dänen werden der Versammlung vorwerfen, daß sie sich um diese
Zustände nicht zu bekümmern habe. Es war aber die Aufgabe der holsteinischen
Stände, sich über das Verhältniß ihres Herzogthums zu den übrigen Theilen
der Monarchie auszusprechen, und dazu war es vor allem nöthig, daß sie die
in den Theilen der Monarchie, wo geordnete Verhältnisse mangeln, herrschenden
Zustände ins Auge faßten und diejenigen, welche eine Verbindung dieser Theile
zu einem wohlgeordneten ganzen hindern, charakterisirten. Das Herzogthum
Holstein hat ein Recht daraüst« nicht allein, daß es selbst als gleichberechtigtes
Glied der Gefammtmonarchie beitrete, sondern auch, dcrß jeder andere der¬
selben arg'ehörige selbstständige Theil en^Hleiche Stellung einnehme; denn
durch Unterdrückrmg des einen Theils wird das Gleichgewicht der Theile, durch
dessen Anerkennung das Wohl^des Ganzen bedingt ist. gestört^ut durch den
Druck, der auf Schleswig ausgeübt wird, werden auch die HoWiner in allen
Beziehungen deß öffentlichere und privaten, Lehens, durch welche sie mit ihren
Nachbars'jenseit der Eider verknüpft sind Tarifs tiefste rHrletzt.
So ergibt sich die Nothwendigkeit eines Schutzes der Stellung Holsteins
in dM GesammtmonaLchie, d>ur.es ausreichende Garantien. L>lese findet der
Ausschuß zunächst in der von ihmVorgescl)lagenen<ZusanMe1^GMg des Stcmts-
raths, nach welcher in demselben nicht mehr als ein Minister des Königreichs
Platz finden und unter den gemeinschaftlichen Ministern wenigstens einer durch
Geburt oder Naturalisation den Herzogthümern Holstein oder Lauenburg an¬
gehören soll.
Liegt hierin, fährt der Bericht fort, eine Beschränkung der Freiheit
des Königs, sich seine Minister zu wählen, so würde dieselbe geringer
erscheinen, wenn es dem König gefallen wollte, einer zweiten Einrichtung zum
Schutz der Gleichberechtigung und Selbststündigkeit der verschiedenen Theile
der Monarchie, nämlich der Einführung eines besondern Jndigenats für jeden
einzelnen Theil der Monarchie seine Genehmigung zu ertheilen. Schon längst
sind die Bewohner der Herzogtümer im Verhältniß zu denen des Königreichs da¬
durch in Nachtheil versetzt worden, daß viele Stellen außerhalb des Königreichs mit
gebornen Dänen besetzt wurden, während den Deutschen ein gleicher Vorzug nicht
oder selten zu Theil wurde. Dieses Verhältniß hat sich in den letzten Jahren noch
weit ungünstiger gestaltet als früher. Der Selbststündigkeit und Gleichberechtigung
aller der Monarchie angehörigen Länder entspricht es aber, daß die Landes-
kinder die Beamtenstellen in der Heimath bekleiden. Ein Bedenken steht diesem
Vorschlag nicht entgegen, da er auf dem Grundsatz vollkommner Parität be¬
ruht. Eine dritte Garantie sieht der Ausschußbericht in dem Eid des Königs
auf die Ve/fiissung. den er aber im Hinblick auf das monarchische Princip
überhaupt und aus die Gesetzgebung des deutschen Bundes nicht (wie die Ver¬
fassung von 1855) vor dem Regierungsantritt, sondern erst nach demselben geleistet
wissen will. Um für den Bestand der gemeinschaftlichen Verfassung, für eine
gleichartige Wirksamkeit der Landcsvertrctungen und eine gleichberechtigte
Stellung der Beamten und der Eingesessenen in den verschiedenen Theilen der
Monarchie fernere Gewähr zu schaffen, schlägt endlich der Ausschuß gewisse
Berechtigungen der Landcsvertretungen, gewisse Bestimmungen hinsichtlich der
Stellung der Beamten und Gewährung gewisser bürgerlichen Freiheiten vor —
Vorschläge, mit denen er sich an die im Königreich Dänemark schon verfassungs¬
mäßig festgestellten Bestimmungen anschließt. Gahin gehören die oben an¬
geführten Paragraphen über die Verantwortlichkeit der Minister, über die
Bildung eines Reichsgerichts, in 'welches jede Landesvertretung eine gleiche
Anzahl von Mitgliedern wählen soll, über Steuerbewilligungsrecht der Landes-
vertretungcn, Bildung eines Rechnungshofes. Mabsetzbarke.it der Richter, Be¬
rechtigung der^Gerichte, über jede Frage wegen Überschreitung der Competenz
der obrigkeitlichen oder polizeilichen Gewalt ein Urtheil zu Wen, Vereins¬
freiheit und PreßfreiWt.,, '
Unter den Vorschlägen, welche der Ausschuß hinsichtlich einer erweiterten
Wirksamkeit der-^ Stände Holsteins (und delai>t sämmtlicher vier Lar.des-
vertretungen) macht, .'sind namentlich die Paragraphen wichtig (1.9—25), nach
welchen der König die gesetzgebende Gewalt mit den Ständen theilen würde.
Hinsichtlich der besondern Angelegenheiten ist dies keine Neuerung, rücksicht¬
lich der gemeinschaftlichen Angelegenheiten der Monarchie aber würde die in
dieser Beziehung nach der Verordnung vom 2. Oct. 1855 dem Reichsrath
zugestandene Befugnis; auf die vier Landesvcrtretungen übergehen. Die
Schwierigkeiten, die sich daraus für die Regierung ergeben könnten, verschwin¬
den zum Theil davor, daß der vorgelegte Plan größeren Uebelständen, wie
sie der letzte Organisntionsplan mit sich führte, die Thür verschließt. Sodann
findet ein ähnliches Verhältniß, wie das in Vorschlag gebrachte, in allen
Verfassungen mit dem Zweikammersystem statt. Ferner wird die Sache für
die Regierung dadurch erleichtert, daß ihr die Initiative zur Einbringung von
Gesetzentwürfen in gemeinschaftlichen Angelegenheiten vorbehalten ist, und daß
nach dem Plan des Ausschusses gemeinschaftliche Angelegenheiten betreffende
Gesetzentwürfe nur so, wie sie von der Regierung vorgelegt sind, angenom¬
men oder abgelehnt, also keine Aenderungsvorschläge zu denselben gemacht
werden können.
f. Wir kommen zum Schluß. Die holsteinischen Stände haben gethan, was
sie konnten. Sie würden mehr gefordert haben, wenn ihnen eine andere Basis
gegeben gewesen wäre. Die Versammlung machte die Ansichten und Anträge
ihres Ausschusses zu den ihren, und zwar einstimmig; hinter ihr steht ein-
müthig das ganze Herzogthum. hinter diesem die öffentliche Meinung in
Deutschland. Was wird der Bund thun, der sich hier sicher nicht über ma߬
lose Forderungen beklagen kann? Wird er die Worte der Bekanntmachung
vom 28. Jan. 1852 ebenso deuten, wie die Holsteiner? Wird er die Erfüllung
der darin liegenden Zusagen nöthigenfalls erzwingen? Wird er die Verwah¬
rung der Holsteiner in Betreff der Aufhebung der Verbindung Holsteins mit
Schleswig berücksichtigen, die in Schleswigs Danisirung verletzten Inter¬
essen Holsteins schützen? Wir wissen es nicht- Eins aber wissen wir, daß
die öffentliche Meinung auch im Fall einer ungünstigen Entscheidung in der
Eschenheimer Gasse der Sache Schleswig-Holsteins treu bleiben wird, daß
ihre Verachtung in civilisirten Ländern stets auf den zurückfällt, der sie ver¬
achtete, und daß sie in letzter Instanz alles entscheidet. Der mächtigste unter
den Herrschern der Gegenwart hat ihre Gewalt erst in diesen Wochen erfahren
und in einer Sache erfahren, die keineswegs so klar war, wie das Recht
Holsteins, wie das Recht Deutschlands in Holstein, das deutsche Interesse in
Schleswig. Hoffen wir, daß die Deutschen sich den Zumuthungen des kleinen
Dänemark gegenüber nicht weniger stark und einig zeigen als dort.
Die Frührenaissance hatte die Verschmelzung der mittelalterlichen und
antiken Stilprincipien erstrebt, entsprechend der auf die Versöhnung von Geist
und Natur gerichteten Geistesbewegung. Die Versöhnung von Geist und
Natur ist aber heute noch das Princip des modernen Ideals. Das Sieben¬
zehnte und achtzehnte Jahrhundert hatte die Lehre gegeben, daß schrankenlose
Willkür zur Auflösung führe. Diese Auflösung aber hatte die Revolution am
Ende des achtzehnten Jahrhunderts vollzogen. Die neue Zeit nun wandte
sich zurück zu den beiden Gedanken der Vergangenheit, dem der mittelalterlichen
und dem der antiken Welt, in ihrer Verschmelzung die einzig mögliche, die
einzig vernünftige Ausgabe der modernen Zeit findend. Gesetz aller geistigen
Entwickelung ist es, aus Bekannten das Unbekannte, aus Thesis und Anti-
thesis die Synthesis zu erzeugen. Alterthum und Mittelalter sind sich Thesis
und Antithesis, aus ihnen heraus nur kann die Synthesis geboren werden.
Wie die moderne Geistesrichtung an die des fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhunderts anknüpft, ganz ebenso muß die moderne Baukunst auf die künst¬
lerische Thätigkeit des fünfzehnten Jahrhunderts zurückgreifen. Soll sie doch
der architektonische Ausdruck des modernen Ideales werden, desselben Ideals,
das im fünfzehnten Jahrhundert Form gesunden. So wenig aber das moderne
Ideal die blinde Copie des das fünfzehnte Jahrhundert bewegenden Ideals
ist, so wenig kann unsere Baukunst eine Copie der Kunst des fünfzehnten Jahr¬
hunderts werden. Ueberwand aber das moderne Ideal die Naivetät und
Ursprünglichkeit des fünfzehnten Jahrhunderts durch Klarheit und Erkenntniß,
so wird auch unsere Baukunst jener oft kecken Unbefangenheit der Frührenais¬
sance gegenüber den gesteigerten Ansprüchen des Verstandes durch größere
kritische Strenge, philosophische Schärfe in der Composition Rechnung zu tra¬
gen haben. Der formalen Seite aber, die bisher auf der antik-römischen
Kunst basirte, wird aus der wiedergewonnenen Kenntniß, dem innigen Ver¬
ständniß der griechischen Antike eine höhere Wahrheit und Schönheit erwachsen
müssen. Aus solchem Wege entwickelte sich die neudeutsche Malerschule zu
hoher Blüte, auf solchem Wege nur kann die moderne Baukunst ihr Ziel
erreichen. Daß Semper in Deutschland zuerst diesen Weg betrat, ist sein
Verdienst.
In Sempers Schöpfungen finden wir jene schönen Eigenschaften wieder,
die das Wesen der Frührenaissance ausmachten, jene charakteristische Gestaltung
der äußeren Erscheinung nach ihrem inneren Wesen, jene Klarheit und Wohl¬
gemessenheit im Vortrage, jene hohe rhythmische Schönheit der Verhältnisse,
jene Phantasie und jenen Geschmack in der Decoration, jene wahre und solide
Technik, jene poesievolle Auffassung des Grundplans; gleichzeitig aber auch
eine Berücksichtigung der modernen Anforderungen in Hinsicht auf Komposi¬
tion und Tektonik. Freilich zeigen daneben zwei seiner Hauptbauten, das
Theater und das Museum in Dresden, jene willkürliche unorganische Verbin¬
dung des Säulen- und Bogenbaucs der späteren Renaissance, doch möchte diese
Anordnung ihren Grund darin finden, daß es bei beiden Bauten die Aufgabe
eines harmonischen Anschlusses an den Zwinger zu lösen galt. Ebenso wird
wol, abgesehen von der auf fremde Rechnung kommenden Kuppel, der durch eine
unglückliche Treppenanlage confuse Grundplan und manche andere Ungehörig-
keit am Museum dem Umstände zuzuschreiben sein, daß Semper selbst den
Bau nicht vollenden und darum jene Uebelstände nicht verbessern konnte. —
Mit Sempers Weggang von Dresden infolge jener unseligen Maitage
scheint die dresdner Schule ihre Bedeutung verloren zu haben, concentrirte
sich doch ihre Kraft in Semper. Die neudresdner Architekturrichtung knüpft
an jene Scheinarchitektur an, die wir am Theater und Museum fanden. Während
sie aber dort mit einer gewissen Berechtigung und Nothwendigkeit angewandt,
von einer außerordentlichen Schönheit der Verhältnisse und einer sehr glück¬
lichen Gliederung der Massen begleitet erscheint, sehen wir sie jetzt ganz will¬
kürlich in schemenhafter Nacktheit und Nüchternheit angeordnet. Die alljähri¬
gen architektonischen Ausstellungen zeigen eine Einförmigkeit und Jdeenarmuth,
die jener modernen berliner Architektur nichts nachgibt, dabei aber des feinen
graciösen Sinnes für das Detail, der jener eigenthümlich, vollständig entbehrt.
Das dresdner Detail ist das des siebenzehnten Jahrhunderts. Das helle¬
nische Formenprincip scheint in Dresden eine wriÄ ineognitg. geworden zu
sein. Säulen werden in Nischen gestellt, auf das vorgekröpfte Gebälk aber
sinnlose Schnörkel gesetzt, die Verdachungen werden gebrochen und aufgerollt,
an Fenstern und Thüren Schnörkel und andere Unzierden angebracht; auch
die Mansarde taucht wieder auf und scheut man sich nicht, gelegentlich Quader-
fc^aber durch Kalkputz herzustellen oder steinerne Hauptgesimse aus Bretern
zusammenzunageln. Der Grundplan, der für das gewöhnliche Wohnhaus meist
gut durchdacht, läßt bei größeren, mehr monumentalen Aufgaben eine gro߬
artige, poesievolle Erfassung und Durchdringung vermissen. Die von Dresden
eingesandten Börsenprojectc zeigen die neudresdner Architektur in ihrer ganzen
Schwäche. Die Fanden sind ohne allen individuellen Charakter, ohne Ge¬
danken, geistlose Mosaikarbeiten von plumpen schweren Verhältnissen. Die
innere Architektur steht der äußeren in nichts nach. Natürlich ist die letztere
in Hanstein oder Kalkputz gedacht, würde doch eine Backsteinarchitektur nicht
zu dem beliebten Schema passen. Daß eines der Projecte die aus Ziegeln
gebildeten Mauerflüchen ungeputzt läßt, ist hierbei sehr unwesentlich, da der
gebrannte Stein eben nicht die Formgebung des Baues bedingt und beherrscht,
sondern nur als Füllung zwischen der Hausteinarchitektur verwandt ist. Schon
das römische Alterthum ließ das Ziegelmaterial, meist in trefflicher Behand¬
lung, sichtbar, ohne sich darum zu einer principiellen Verwendung des ge¬
brannten Steins als formbestimmendcs Material zu erheben. Diese ist aber
einzig und allein das Knterion des Materialbaues. Die Grundpläne endlich
sind jeder monumentalen Auffassung baar und ledig, führt doch in dem Pro¬
jecte: „8ut«z cMsque korwnatz daher" der inmitten der Burgstraßenfac^abe an¬
gebrachte Eingang gradezu auf die Abtritte!
Die dresdner Architektur setzt sich die Kunst des späten sechzehnten und
des siebenzehnten Jahrhunderts zum Vorbild. Diese Kunst aber war eben
der architektonische Ausdruck jener trostlosen Autorität- und Willkürherrschaft.
In dem Copiren ihres Schemas den dem modernen Ideal entsprechenden
Ausdruck suchen zu wollen, ist mindestens Verblendung.
Zur Münchener Schule bekennt sich ein Project. Das Motto desselben
ist uns entfallen. Uebrigens würde dieser Plan so wenig wie die dresdner
Entwürfe der Erwähnung werth gewesen sein, wenn sie uns nicht Veranlas¬
sung gegeben hätten, die Principien der Schule einer näheren Betrachtung
zu unterwerfen. Die Traditionen der Münchener Schule knüpfen sich an
Gärtners Namen. Gärtner wandte bei seinen Bauten fast ausschließlich den
Rundbogenstil an, den er im Geiste der romanischen Kunst, zuweilen mit
Hinneigung zur altitalienischen Bauart durchzubilden bemüht war. — Im
Rundbogen erkannten wir ein bedeutsames Moment der monumentalen Bau¬
kunst, zugleich aber auch ein wesentlich nationales Element. Hatte nun aber
der romanische Baustil (als welchen wir, jenen Sprachen, die durch Ver¬
schmelzung der alten Römersprache mit germanischen Elementen entstanden,
analog, den Baustil bezeichnen, welcher sich auf Grund altrömischer Tradition
durch Berührung mit germanischem Geiste entwickelte) in Rücksicht auf die cha¬
rakteristische Seite eine hohe Wahrheit und Gesetzmäßigkeit, eine monumentale
Würde und Großartigkeit gewonnen, so war er in Rücksicht aus die formale Seite in
einer ziemlich rohen Nachahmung des antiken Formalismus befangen. Die roma¬
nische Kunst knüpft an die altchristliche Formentradition an. diese aber führt auf die
verderbte spätantike Formenwelt zurück. Daneben findet noch eine directe Nach¬
ahmung des römischen Details statt, die von den erhaltenen römischen Mo¬
numenten ausgeht. Die formale Bildung des Alterthums, als deren Ver¬
mittlerin und Trägerin die mit ihren Traditionen in Rom wurzelnde Geistlichkeit
erschien, war im Leben wie in der Kunst als die giltige anerkannt und auf¬
genommen, der Germanismus hatte eben nichts Anderes an ihre Stelle zu
setzen. Jene Nildung aber war eine schon verfallene; aus der Verbindung
mit dem germanischen Volksgeist, der sie eben einfach annahm, weil er für
seinen Gedanken der Form bedürfte, konnte ihr eine Läuterung um so weniger
zu Theil werden, als sich gleichzeitig ein dem germanischen Volksgeist eigenes
phantastisches Element vornehmlich in der Ornamentik geltend machte, das
wol mit der derben äußerlichen Auffassung des römischen Formalismus har-
monirt. zu der antiken Gefühlsweise aber in entschiedenen Widerspruch tritt.
Das romanische Detail erscheint der classischen Anmuth und Schönheit gegen¬
über meist plump und roh, ohne jene innere Lebenskraft und organische Wahr-
heit, die der charakteristischen Seite des Stiles in so hohem Grade eigen¬
thümlich ist. Als sich aber am Schlüsse des zwölften und zu Anfang des
dreizehnten Jahrhunderts eine Steigerung der formalen Seite nach der Antike
hin bemerklich machte, unterbrach das gothische Bausystem gewaltsam eine
weitere Entwicklung nach dieser antikisirendcn Richtung.—Indem nun Gärt¬
ner das romanische Rundbogcnprincip ausnimmt, behält er auch den roma¬
nischen Formalismus in seiner ganzen UnVollkommenheit bei. Ein tieferes
Gefühl für Formenschönheit geht ihm vollständig ab. Wandte er aber den
romanischen Rundbogen mit großer Energie und Consequenz an, so vermochte
er es nicht, über eine mehr äußerliche Nachahmung desselben hinaus zu kom¬
men. Die lebendige organische Kraft, die dem romanischen Stil innewohnt,
lassen seine Bauten vollständig vermissen. Sie tragen im Allgemeinen das
Gepräge einer derben Tüchtigkeit, die sich denn auch in einer soliden Technik
und dem Verschmähen unwahrer Scheinconstruction vortheilhaft kund gibt.
Kunstwerke im höheren Sinne des Wortes sind sie nicht. Daß Gärtner im
Treppenhause der Münchner Bibliothek eine großartige räumliche Wirkung zu
erreichen wußte, muß anerkannt, werden; im Uebrigen scheint ihm freilich eine
monumentale Auffassung und Durchbildung des Grundplans ferne gelegen zu
haben. Die Schüler und Nachfolger Gärtners schließen sich den Bestrebungen
desselben mit mehr oder weniger Glück an. Ohne tieferen Gedanken, ohne
monumentale Charakteristik zeigen doch die besseren Werke derselben eine gewisse
Lebendigkeit und Frische in der Conception, die in Verbindung mit einer wahren
Materialdarstellung oft von glücklicher Wirkung ist. Freilich lassen auch sie die
strengere architektonische Durchbildung vermissen. Der Formalismus ist der
romanische, meist roh und empfindungslos vorgetragen, plump auf der einen,
kleinlich auf der andern Seite. Der Münchner Schule fehlt die strenge Zucht
der griechischen Antike. Diese Zucht aber ist zu einem wahrhaft gedeihlichen fol¬
genreichen Entwicklungsgang ganz nothwendig und unerläßlich. Der Hinter¬
gedanke dermünchner Schule ist es, einen nationalen Baustil bilden zu wollen.
In der Zusammenstellung von byzantinischen, romanischen, altitalienischen und
Renaissance-Motiven, die in all ihrer nationalen und provinziellen Eigen-
thümlichkeit nebeneinander gleichzeitig angeordnet wurden, glaubte man den
Weg zum Ziel gefunden zu haben. Ein neuer Baustil aber ruht auf ganz
anderem Grunde als dem subjectiven Beliebens; man hatte nur ein Ragout
von allerhand Formen zusammengebaut. Zeigten nun aber jene Formen¬
zusammenstellungen wenigstens eine gewisse äußere Uebereinstimmung, so sagt
sich die neueste Münchener Schule auch von dieser los. Das famose Pro¬
gramm für das Athenaeum fordert alle Architektur zur Schöpfung eines Bau¬
stils auf, der die Stile der Vergangenheit zu einem einzigen vereinige. Eine
Frucht solchen Strebens sind die in der Zeitschrift für Bauwesen veröffentlich¬
ten Facadcnentwürfe für die neue Maximilicmstrasze in München. Daß in
denselben die verschiedensten Baustile vereinigt sind, muß zugestanden werden,
nur nicht, daß aus dieser Vereinigung ein wahrhaft einiger Stil hervorgegangen
sei. Im tollen Durcheinander der heterogensten Formen muthen uns jene
Entwürfe an wie Fieberphantasien. Dazu zeigen sie eine beispiellose Rohheit
und Geschmacklosigkeit, den vollständigen Mangel alles organischen Sinnes.
In der Dissonanz der Stilformen deren Harmonie, in der Betonung der
Gegensätze deren Lösung suchen zu wollen ist widersinnig.
Das der Münchner Schule angehörige Börsenproject ist in einem äußer¬
lichen rohen Romanismus gedacht und zeigt nur die Schwächen der Schule
in hohem Grade.
Eine der Münchner Schule verwandte Richtung verfolgen zwei süddeutsche
Meister, Eisenlohr und Hübsch. Eisenlohr wußte bei den ihm übertragenen
Hochbauten der badenschen Staatseisenbahn besonders an den Bahnwärter¬
häuschen und andern derartigen Bauten, im Anschluß an die volksthümliche
Bauweise und durch geschickte Benutzung verschiedenen Materials und des hü¬
geligen Terrains eine lebendige malerische Wirkung zu erreichen. Weniger
glücklich war er in den größeren Stationsgebäuden, die, in Hanstein aufge¬
führt, den romanischen Formalismus, wenn schon meist frei und zierlich be¬
handelt zeigen. Hübsch folgt in der Conception dem romanischen und alt¬
italienischen Stil, in der Detailsbildung aber der Antike. Alle seine Bauten
tragen das entschiedene Gepräge dieser Richtung. Kann aber solchem Stre¬
ben nur volle Anerkennung gezollt werden, so läßt sich doch nicht leugnen,
daß seine Bauten meist unbefriedigt lassen. Die schöpferische Kraft, die das
für wahr Erkannte in schöner Form darzustellen weiß, lassen seine Bauten voll¬
ständig vermissen.
Das Gesammtbewußtsein eines Volkes gibt der Baukunst den Inhalt;
den Inhalt der modernen Baukunst wird darum nur das moderne Bewußt¬
sein bilden können.
Das Princip des modernen Ideals ist die Versöhnung von Geist und
Natur. Den architektonischen Ausdruck dieses Ideals konnten wir nur in der
Verschmelzung der antiken und mittelalterlichen Stilprincipien finden. Als
das allgemein Wahre und darum Dauernde und Endgiltige jener beiden Bau¬
gedanken erkannten wir das Darstellungsprincip der antik-hellenischen Kunst
einerseits, das Gewölbprincip der mittelalterlichen Kunst andrerseits. Dem
mittelalterlichen Gewölbebau das hellenische Darstellungsprincip zu vermählen,
das erscheint uns als die Aufgabe der modernen Baukunst. Den historischen
Anknüpfungspunkt aber finden wir in der Kunst des fünfzehnten Jahrhunderts,
der Frührenaissance.
Die moderne Baukunst ist im Ganzen und Großen in der Nachahmung
der Baustile der Vergangenheit ihrer Totalität nach befangen. In jenen Bau¬
stilen spiegelt sich aber das gesammte innere und äußere Sein der Vergan¬
genheit. Sie erscheinen darum als der Ausdruck des Volksgeistes während
einer bestimmten Zeit, „auf einer bestimmten geschichtlichen Stufe der Welt¬
anschauung." Als das abgeschlossene Eigenthum ihrer Zeit gehören sie aber
nur ihrer Zeit an. In ihren Formen die Verkörperung eines Ideals suchen
zu wollen, das nicht das ihrige ist, ist eine Unmöglichkeit.
Die moderne Zeit trägt schwer an den Traditionen der Vergangenheit.
Die Vergangenheit aber ist der Boden, in dem die Gegenwart wurzelt. Die
Verleugnung ihrer Traditionen würde die moderne Welt in die Nacht des
Barbarismus stürzen. Die Aufgabe der modernen Zeit ist es daher, aus den
Ueberlieferungen der Vergangenheit den lebendigen bleibenden Inhalt zu zie¬
hen. In dem modernen Ideal werden die Ideale der Vergangenheit eine
höhere Einheit und Vollendung gewinnen. Das moderne Ideal erscheint
darum als der Gipfelpunkt der gesammten geistigen Entwickelung, aber nur
weil es die Versöhnung der Gedanken der Vergangenheit sein wird. Die
Aufgabe der modernen Baukunst aber kann es nur sein, die Baugedanken der
Vergangenheit durch Ueberwindung ihrer Gegensätze auf eine höhere Einheit
zurückzuführen. In welcher Weise dies zu geschehen habe und unserer heilig¬
sten Ueberzeugung nach einzig und allein geschehen kann, haben wir eben ent¬
wickelt und begnügen uns als erfreuliche Anfange nach dieser Richtung hin
auf die Schinkelsche Bauschule und mehre Sempersche Bauten wiederholt
hinzuweisen. Mit dem modernen Ideal wird und muß sich die moderne
Baukunst als der Ausdruck jenes Ideals entwickeln. So gewiß wir aber an
den Sieg des modernen Ideals glauben, so sicher und gewiß glauben wir
auch an die siegreiche Entfaltung der modernen Kunst. Der modernen Zeit
die Fähigkeit einer entsprechenden Stilbildung absprechen zu wollen, ist fre¬
velhaft.
An den Architekten aber ist es, die Größe und Bedeutung der Aufgabe,
die ihnen gestellt, zu erkennen. Mögen sie vor allem aufhören Handwerker
ihrer Kunst zu sein, ablassen von dem Schlendrian, dessen Bahn wol eine
breite, mühelose, aber wenig ehrenvolle ist. Daß die moderne Kunsterziehung
eher dazu angethan ist. die Kunstentfaltung zu hemmen als sie zu fördern ist
leider allzuwahr. Solche Schranken aber sind zu durchbrechen. Glauben wir
nur an uns und unser Priesterthum.
Die Debatte des Herrenhauses vom 12. März über den Antrag des Grafen
Arnim-Boitzenburg, die Ersparnisse wiederum dem Staatsschatz zuzuweisen, verdient
in mehrfacher Beziehung unsere Aufmerksamkeit. Wir haben immer mit großer Be¬
sorgnis) auf die Schwierigkeiten geblickt, die diese Versammlung der Krone und dem
Land bereiten würde, sobald einmal ein liberales Ministerium im Einklang mit
einer liberalen Majorität im Hause der Abgeordneten die Regierung im Sinn des
Fortschritts zu führen versuchte. Die Möglichkeit lag noch vor kurzem so fern,
daß in Bezug auf die Ansichten und Entschlüsse jenes hohen Hauses die Gleich-
giltigkeit ziemlich allgemein war, unter den Mitgliedern desselben nicht minder als
im Publicum. Nun ist aber der unerwartete Fall eingetreten, und es erhebt sich
die ernste Frage, was soll die Regierung thun? — Das Herrenhaus ist nicht ganz
geworden, was es sein sollte, ein Sammelplatz des hohen Adels; der hohe Adel hat
bis jetzt noch wenig Neigung verrathe», sich mehr als früher um die preußischen
Angelegenheiten zu kümmern. Um dem Hause eine bestimmte Färbung zu geben,
hat man es theils durch das specifische Junkcrthum, theils durch die Vorkämpfer
der Kreuzzeitung ergänzt, und so sind denn jetzt thatsächlich die Herren Stahl,
v. KleiMctzow, Gr. Groben u. s. w. die Führer desselben. — Gestützt auf fein
Bewußtsein der Unabhängigkeit sowol von dem Lande als von der Krone, betritt
es jetzt den Weg der systematischen Opposition, um die Regierung unter diesem Mi¬
nisterium unmöglich zu machen, und so die Krone zu veranlassen, ein anderes zu
bilden. — Zwar wird den Worten nach diese Absicht abgeleugnet, aber selbst wenn
wir uns nur an die Worte halten, widerlegt das hohe Haus sich selbst. Wenn
ein Mann, wie Graf Arnim-Boitzenburg (um von den leidenschaftlichem Partei¬
gängern der Kreuzzeitung zu schweigen), so weit geht offen zu erklären: „Es wäre
Schwäche oder Unaufrichtigkeit, wollten wir in Abrede stellen, daß zwischen den
politischen Ansichten, welche die Majorität dieses Hauses seit einem Jahrzehnt kund¬
gegeben hat, und den Ansichten der Männer, welche neuerdings in den Rath der
Krone berufen worden sind, eine große Verschiedenheit besteht," so ist das deutlich
genug gesprochen, und es drückt auch nur eine weltbekannte Thatsache aus. Die
Art und Weise aber, wie die Opposition geführt wird, erklärt sich am deutlichsten
in den Worten des Herrn v. Kleist-Nctzow: „Diejenigen greifen das Recht der Krone
an, welche den Antrag (ein partielles Mißtrauensvotum gegen das Ministerium) nicht
annehmen!" Daß diese Erklärung einiges Murren hervorgerufen, daß selbst der Prä¬
sident Prinz Hohenlohe (gewiß kein Radicaler!) sich zu der Erwiederung gedrungen
fühlte: „Ich glaube, daß diejenigen, welche gegen den Antrag und für die Vorlagen
des Ministeriums stimmen, unmöglich gegen die Rechte der Krone stimmen können/'
ändert an dem Factum nichts, daß fast drei Viertel des Hauses sich den Ansichten
des Herrn v. Kleist-Nctzow angeschlossen haben. Es ist nur eine neue Auflage des
Schauspiels, das wir bei den Wahlen mitangesehen haben, daß hohe Staatsbeamte
diejenigen Wühler, welche für die Minister und deren Anhänger stimmten, als Feinde
der Krone bezeichneten!
Wir sind weit entfernt, den Mitgliedern des Herrenhauses das Recht streitig zu
machen, ihren Ansichten gemäß zu stimmen und, wenn ihre Ueberzeugung sie treibt,
das Ministerium aus Leben und Tod zu bekämpfen. Was wir sür die Abgeordneten
in Anspruch nehmen, muß auch für den andern Factor der legislativen Gewalt
gelten: ihrer Ueberzeugung zu folgen, ist nicht nur ihr Recht, fondern ihre Pflicht.
— Es fragt sich nur, was hat uuter diesen Umstünden die Negierung zu thun,
falls sie die Ueberzeugung hat, die wahrhaften Interessen der Krone und des Landes
zu vertreten?
Sobald man, bei dieser Ueberzeugung, die Majorität der Abgeordneten gegen
sich hat, steht der Weg einer Appellation an das Land, d. h. einer Auflösung der
Kammer offen, bei einer systematischen Opposition des Herrenhauses ist dieser Weg
verschlossen, und es bleibt nur einer übrig: Ernennung neuer Mitglieder durch die
Krone. In Großbritannien hat man diesen Weg mit Erfolg betreten.
Es ist freilich immer ein schwerer Entschluß, und es zeigt sich in solchen Fäl¬
len wieder recht deutlich, wie wenig Preußen im Stande ist, ein Herrenhaus zu
tragen. Wo soll man die Pnirs hernehmen, ohne dem Institut seinen Glanz zu
entziehn? — Indessen bei näherer Ueberlegung findet sich, daß, wie das Haus schon
jetzt beschaffen ist, der Abstand nicht so ungeheuer sein würde, und, was die Haupt¬
sache ist, es gibt keinen andern Weg, wenn nicht die gesammte Thätigkeit der Re¬
gierung pciralysirt werden soll. — Außerdem glauben wir nicht, daß man so weit
zu gehen nöthig haben würde: die feste Erklärung des Prinzrcgcntcn, er werde sich
im äußersten Fall dieses in der Verfassung vorgesehenen Mittels bedienen, würde so
manche von den eifrigsten Kreuzrittern in ihren Ansichten wankend machen. — Wie
nothwendig es aber ist, das Haus, ganz abgesehen von diesem Conflict, durch neue
Kräfte zu ergänzen, ergibt sich aus der Weisheit in staatswirthschaftlichen Angelegen¬
heiten, welche die Redner der Majorität entwickelt haben. Wenn General Grumb-
kow nach hundertjährigem Schlaf heute plötzlich erwachte, er würde nicht anders sich
ausdrücken, als einzelne dieser Redner.
Das Herrenhaus hat bei dieser Gelegenheit auch die politische Frage des Augen¬
blicks in Betracht gezogen, und der Erklärung des preußischen Ministeriums vom
9. März seinen Beifall gezollt, allein in einer Weise, die den antwortenden Minister,
wie es scheint, zu dem Glauben veranlaßt hat, jene Erklärung sei mißverstanden
worden. Grade weil wir diesen Glauben theilen, scheint es uns jetzt an der Zeit,
einen deutlichen Ausdruck der preußischen Auffassung zu wünschen, und demnach
vom Hause der Abgeordneten aus eine Anfrage an das Ministerium zu richten.
Es gilt nämlich die Beantwortung einer sehr bestimmten Frage.
Bis vor kurzer Zeit lag die Kriegsgefahr, wie die preußische Erklärung ganz
richtig bemerkt, mehr in der gereizten Stimmung einzelner Mächte als in realen
Conflicten. Seit der friedlichen Eröffnung des Moniteur, und seit der Bekanntwerdung
der Depesche des Grnsen Buol nach London vom 25. Februar (über den Erfolg
des Lord Cooley weiß das Publicum noch nichts) hat die Frage eine bestimmtere
Fassung gewonnen. Frankreich bleibt nach diesen Ackerstücken vorläufig aus dem
Spiel, es handelt sich zunächst nur um einen Conflict zwischen Oestreich und
Sardinien.
Graf Cavour hat seine Beschwerden über die östreichischen Uebergriffe in Ita¬
lien formulirt; Graf Buol hat dieselben vom östreichischen Standpunkt sehr geschickt,
und vom rein juristischen Standpunkt unangreifbar beantwortet. Graf Cavour be¬
hauptet, daß die Verträge Oestreichs mit verschiedenen italienischen Staaten dem Geist
der wiener Verträge nicht entsprechen, Graf Buol behauptet das Gegentheil. Falls
beide Mächte sich also über diese Frage nicht verständigen, salls es zwischen ihnen
zum Krieg kommt, so handelt es sich zunächst doch darum, von jener Seite: Oest¬
reich zur Aufhebung jener Verträge zu zwingen; von Seite Oestreichs: jenen Zwang
abzuwehren. Frankreich behält sich vor, Sardinien, falls es angegriffen wird,
zu schützen.
Preußen hat nun — in diesem Stadium der Angelegenheiten — sich Folgendes
klar zu machen.
Als Bundesglicd ist es verpflichtet, im Verein mit den übrigen Bundesstaaten
nicht nur jeden directen Angriff auf das Bundesgebiet, sondern auch jede Gefahr,
welche die Grenzen desselben bedroht, abzuwenden; daß es dieser Bunöcspflicht nach¬
kommen wird, versteht sich von selbst und bedarf keiner besondern Erklärung.
Nun muß es sich klar machen: enthält jener, durch die erwähnten Depeschen
formulirte Conflict eine Gefahr für das deutsche Bundesgebiet oder nicht?
Und im ersten Fall: wie wird diese Gefahr am sichersten abgewandt? Dadurch,
daß der deutsche Bund sich bereit erklärt, im Kriege unter allen Bedingungen auf
Oestreichs Seite zu stehn, gleichviel was der Preis und der Grund des Kampfes sei?
Oder dadurch, daß es von Oestreich fordert, die streitigen Ansichten, die, da es
sich um eine allgemein europäische Frage handelt, nicht vom rein juristischen Stand¬
punkt entschieden werden können, in einer Conferenz zu berathen?
Zwar k«um Oestreich, aus seine Souveränetät und das Recht der Verträge
gestützt, eine solche Zumuthung zurückweisen, salls es auf keine Kricgshilfe Anspruch
erhebt; es begibt sich aber dieses Rechts, falls es seine italienische Sache als eine
deutsche Bundessachc darstellt.
Oestreich hat der vermittelnden Macht, England, gegenüber seine Auffassung
ausführlich auseinandergesetzt; es ist, so viel wir wissen, den deutschen Bundes¬
staaten, die es zur Hilfe ausrief, mit gleicher Bereitwilligkeit nicht entgegengekommen.
Es ist nicht blos schicklich, sondern nothwendig, dies nachzuholen und den Rath
und die Meinung der Mächte, die ihm in dieser Gefahr zur Seite stehn sollen, in
sehr ernste Erwägung zu ziehn.
Wir glauben, daß diese Ausfassung im Wesentlichen mit der der preußischen
Regierung übereinstimmt; wenn sie aber unsere Freunde aus der Erklärung vom
9. März bereits herauslesen, so müssen wir gestehen, daß uns dieser Scharfblick
fehlt. Und eine rechtzeitige Offenheit kann viel Unheil verhüten. Das vorige Mi¬
nisterium hat durch feine Nondum-Meridies-Politik Preußens Credit sehr geschmälert;
diesen wieder herzustellen, ist der gewöhnliche Gang der Diplomatie nicht hinreichend.
Es ist wahr, daß das Kriegsgeschrei hauptsächlich von Frankreich ausgegangen ist;
aber wir wissen, daß das französische Volk im Ganzen nicht kriegerisch gesinnt ist.
Nun beginnt der Ruf diesseit des Rhein, und grade unsere Regierung hat die Auf¬
gabe, eine an sich sehr achtungswerthe Stimmung in die richtige Bahn zu lenken.
Abgewandt ist die Gefahr noch keineswegs; nach jener überraschenden Botschaft
des Moniteur bleibt Graf Cavour im Amt, werden in Piemont die Reserven ein¬
berufen, wird eine Anleihe contrahirt. Zwar will sich die republikanische Partei —
wenn man Mazzinis Erklärung vom 28. Februar gelten Mßt — neutral ver¬
halten, und so wird hoffentlich die Confusion die Grenzen nicht überschreiten; zwar
will Frankreich sich nur betheiligen, falls man Sardinien angreist: aber wie die
Sache steht, liegt doch die Entscheidung hauptsächlich in Oestreichs Hand. Sobald
es durch Nachgiebigkeit in den Punkten, wo es nachgeben kann, ohne seine Ehre
zu beeinträchtigen — und solcher gibt es viele — den Ansprüchen der Gegner die
Spitze abbricht — wird der Krieg, auch wenn er durch die gereizte Stimmung der
Italiener ausbrechen sollte, wirklich in enge Grenzen gestellt, d. h. er wird nur
zwischen Oestreich und Sardinien geführt, und in diesem Fall hat Preußen das
Recht und die Pflicht, jede Intervention einer dritten Macht als unmvtivirten Friedens-
bruch, als eine Gefahr für den deutschen Bund aufzufassen.
Zwar hat die preußische Erklärung auf die Einigkeit mit England aufmerksam
gemacht. Aber einmal ist England (Lord Cooley hat von Preußen keine Mission)
in einer andern Lage; sodann hat es sich über seine Ansicht noch selbst nicht aus¬
gesprochen, und es ist uns fraglich, ob es überhaupt eine hat (man denke an Cow-
leys Stellung zu der portugiesischen Affaire!); endlich kommt möglicherweise in
den nächsten Wochen ein neues Ministerium mit einer ganz neuen Politik ans Nuder.
Es ist besser, wenn sich Preußen mit den übrigen Bundesstaaten über das, was
man von Oestreich verlangen, und was man versprechen müsse, verständigt.
Von der besonnenen Festigkeit, die wir in dieser Angelegenheit entwickeln, hängt
hauptsächlich der Einfluß ab, den Preußen auf eine viel wichtigere, ihm viel näher
liegende Frage ausüben wird; auf eine Frage, mit welcher Deutschlands Ehre un¬
zertrennlich verbunden ist: Schleswig-Holstein. Wenn es ein Mittel findet, Oestreich
zu einer wirksamen Kooperation nach dieser Seite hin zu bestimmen — mit dem
bloßen Versprechen wäre es freilich nicht abgethan! — so wäre das auch für den
Der Streit zwischen Mensch und Thier. Ein arabisches Märchen aus
den Schriften der lauteren Brüder übersetzt und mit Mmnerbungcn versehn von-Dr.
Fr. Dieterici, a. Prof. in Berlin. —Berlin, Druck und Verlag von E. S. Mittler
und Sohn 1858. — Ein schätzenswerther Beitrag zur Kenntniß altmohammeda-
''"
nischcr Philosophie und Cultur überhaupt. Die lauteren Brüder waren Sufi, die
sich indeß von den bekannteren Anhängern dieser mystischen Sekte dadurch unter,
schieden, daß sie nicht reine Pantheisten waren, sondern in ihrem den Lehren der
christlichen Gnostiker verwandten und wie diese auf neuplatonischen Grunde ruhen¬
den System eine Vermittlung zwischen der vom reinen Islam schroff herausgekehr¬
ten Transcendenz und der von der Reaction dagegen, dem Sufismus der Perser,
gelehrten Immanenz Gottes anstrebten. Der Uebersetzer vergleicht sie mit den Frei¬
maurern, ein Vergleich, welcher, da in der Freimaurerei bekanntlich sehr verschie¬
dene Lehren, Orphisches und Jakob Böhmisches, Mystisches und Nationalistisches und
was sonst noch nacheinander und zu Zeiten auch nebeneinander Platz fanden, nur
in so weit paßt, als die lauteren Brüder (die beiläufig im 10. Jahrhundert unsrer
Zeitrechnung zu Basra entstanden) eine Gesellschaft, wenn man will, ein Orden
waren, der in verschiedene Grade der Entwicklung getheilt war, eigne Versammlungs-
häuser oder Logen besaß, in welche nur Eingeweihte Zutritt hatten, und sich allen
Religionen gegenüber tolerant, sogar reccptiv verhielt. Sie legten ihre Ansichten in
51 Abhandlungen nieder, in welchen sie den ganzen Umfang der Wissenschaften,
wie sie damals von den gebildeten Arabern beherrscht wurden, umfaßten, und das hier
mitgetheilte Märchen ist ein Theil der 21. Abhandlung. Es ist eine der anmuthigsten
Blüten allegorischer Dichtung, voll köstlicher Naivetät, voll prächtiger Schilderungen,
die an die Bilder des Behcmvth und Leviathan im Buch Hiob erinnern, und nebenher
reich an Aufschlüssen über den damaligen Stand der Naturwissenschaften. Die Thiere
beklagen sich bei Bivarasp, dem König der Genien über den ihrer Meinung nach un¬
gerechten Druck, den die Menschen auf sie ausüben. Die Menschen werden citirt
und vertheidigen sich durch den Mund von Vertretern verschiedener Nationen und
Religionen, indem sie nachzuweisen versuchen, daß sie vornehmer als die Thiere seien.
Letztere replicircn, indem sie als Advocaten unter andern die Grille, die Schlange,
den „mit tausend Zungen begabten" Sprosser, den Schakal und den Papagei auf¬
treten lassen, die ihre Sache fo gut führen, daß der Mensch nahe daran ist, den
Proceß zu verlieren und, nachdem er alle Vorzüge, die er in feinern sinnlichen Ge¬
nüssen oder in den durch seinen Verstand hergestellten Lebensverhältnissen zu besitzen
glaubt, vernichtet gesehen, sich vor der Niederlage nur durch seine Unsterblichkeit
retten kann. „Wie so," entgegnet zum Schluß der eine Wortführer der Menschen,
„sind unsre Zustände einander gleich, da wir, wie dieselben auch immer sind, in
alle Ewigkeit und alle Zeiten währen. Ihr aber, o Schar der Thiere, seid fern von
dem; denn nach der Abscheidung hört ihr auf. Da sprachen die Wortführer der
Thiere und die Weisen der Genien zusammen: Jetzt bringt ihr das Rechte, sprecht
das Nichtige und sagt das Wahre; denn dessen, was ihr jetzt erwähnt, rühmen sich
die Ruhmvollen." Und dann befahl der König, daß alle Thiere dem Gebot und
Verbot der Menschen sollten unterworfen sein; sie aber nahmen fein Wort an,
waren damit zufrieden und gingen von hinnen, vertrauend auf die Beschützung
Gottes des Erhabenen.
Mit leicht verzeihlicher Ueberschwenglichkeit priesen noch vor wenigen
Monate».', als der Ablauf des ersten Jahrzehntes seit der Revolution Anstoß
gab zu erbaulichen politischen Betrachtungen, auch nicht officielle Stimmen
die gewaltigen Fortschritte und den nimmer schwindenden Glücksstern Oest¬
reichs. Es hatte nicht allein allen Gefahren siegreich Trotz geboten, sondern
die Stürme auch benutzt, um sich zu verjüngen und die in ihm schlummernden
Kräfte zu stärken. Die Neugestaltung Oestreichs, so lautete die landesübliche
Gratulation, war im Jahr 1858 in ihren Grundzügen vollendet, eine feste
Entwicklung angebahnt, eine glorreiche Zukunft gesichert. Auch nach Abzug
alles Phrasenpompcs war vieles geeignet, die östreichischen Zustände im gün¬
stigsten Lichte erscheinen zu lassen. Die politischen Leidenschaften konnte man
für abgestorben erachten, in den Maßregeln der Regierung begann ein mil¬
derer Geist zu athmen, die Reihe der Begnadigungen war nahezu erschöpft,
Handel und Wandel machten sichtliche Fortschritte und auch der wundeste Fleck
des östreichischen Staatswesens, die Finanzen, ließen eine nahe Heilung er¬
warten. Seitdem sind nur einige Wochen vergangen, und wie hat sich alles
zum Schlimmen gewendet. An Oestreichs südöstlichen Grenzen häufen sich
die Verwicklungen, an einem andern Punkt muß es die Waffen bereit hal¬
ten, um wildem Aufruhr zu begegnen, im Innern regen sich wieder natio¬
nale Gelüste, die äußern Verhältnisse gestalten sich von Tag zu Tag immer
mißlicher, die beiden Mächte, welche die Politik Oestreichs mit weiser Berech¬
nung stets einander entgegenzusetzen bemüht war, deren Feindschaft nach
der geographischen Lage und nationalen Gliederung Oestreichs diesem die
größten Gefahren bereiten kann, haben sich verbunden zu keinem andern
Zweck, als um Oestreich zu bedrohen und zu schwächen. Selbst die Organe
der Negierung bekennen, daß der Kaiserstaat seine ganze Kraft und sein gan¬
zes Glück aufbieten muß, um die gegenwärtigen Bedrängnisse zu überwinden.
Die Verfassungswirren in den Donaulündern zwar und die Brauhausrevolution
in Serbien haben an sich keine weittragende Bedeutung. Die Selbstsucht und
die Korruption der Bojaren werden dafür Sorge tragen, daß dort die Ver¬
hältnisse beim Alten bleiben und kein äußerer Anziehungspunkt für die rumä¬
nische Bevölkerung Oestreichs begründet werde. Und was Serbien anbelangt,
so haben die Ereignisse der letzten Jahre, die Haltung des Fürstenthumes
während des orientalischen Krieges die Erbärmlichkeit der serbischen Zustände
sattsam bewiesen und die Furcht vor diesem zukunftreichen Kern des süd¬
slawischen Staatensystems vollständig beseitigt. Ob die Familie Obrenowitsch
oder die Familie Georgewitsch auf' dem Fürstenstuhl sitzt, immer wird sich
Patchouli mit Schweinefett mischen. Die Geruchsnerven der Nachbarn mögen
darunter leiden, aber ihre politische Gesundheit wird dadurch nicht gefährdet.
Nur insofern den französischen und russischen Intriguen die Thür geöffnet
wird, haben diese Wirren eine bedenkliche Seite. Diese Thür war aber nie¬
mals verschlossen. Die Stourdzas und Ghikas u. s. w. leben schon längst
in der Schallwelle der Tuilerien, und Fontons schöne Worte und schönere Du-
caten haben auch während der Herrschaft Alexanders den Weg nach Serbien
gefunden. Größer und unmittelbar ist die Gefahr, welche die schwer ver-
meidliche italienische Revolution heraufbeschwört. Es ist möglich, daß Ita¬
liens übermüthiger Ruf vom Jahre 1858: Italie tara, na, se auch diesmal,
aber freilich nur das nothgedrungene Programm bilden und wenigstens vor¬
läufig eine fremde Intervention nicht stattfinden wird. Noch wahrscheinlicher
ist in diesem Fall der Sieg Oestreichs. Seine Armee ist besser geschult und
zahlreicher als vor zehn Jahren und überdies auf die Ereignisse vollkommen
vorbereitet. Der fluchtähnliche Rückzug aus Mailand, die schmachvolle Kapi¬
tulation von Venedig würden in einem neuen Feldzug gewiß nicht ihre Wie¬
derholung finden. Auch die in der Zwischenzeit wesentlich verbesserten Commu-
nicationen, die engere Verbindung der Lombardei mit den innern Provinzen,
vor allem aber der entschiedene Wechsel in der Stimmung der übrigen öst¬
reichischen Bevölkerung läßt die Wagschale zu Gunsten Oestreichs sich neigen.
Die peinliche Scene im wiener Reichstag, als der unglückliche Graf Latour
den Siegeszug Nadetzkys verkündigte und das Dankesvotum der Volksvertreter
für die heimische Armee als Arttwort erwartete, dafür aber schnöde Verdäch¬
tigungen und bezeichnendes Stillschweigen empfing, ist noch nicht vergessen.
Die Furcht, die damals als Gespenst hcrumwandclnde Hofpartei werde den
Triumph, Nadetzkys in^ ihren Interessen ausbeuten, ließ die Siegesfreude selbst
bei jenen nicht aufkommen, die sonst patriotischen Gefühlen keineswegs un¬
zugänglich waren.. Das steht gegenwärtig nicht zu besorgen, einen nachtheiligen
Rückschlag aus das Verfassungswerk kann der günstige Ausgang eines italie¬
nischen Krieges nicht ausüben, weil jenes, wie die politischen Hoffnungen
überhaupt, für lange Zeit begraben liegt. Dagegen wird ein rascher und
vollständiger Sieg Oestreichs geringere finanzielle Opfer kosten, und end¬
lich, so lautet das gewöhnliche Raisonnement, verdienen die Lombarden eine
empfindliche Züchtigung. Es mag den Fernstehenden komisch erscheinen, von
den Italienern selbst als frecher Hohn angesehen werden, es steht dennoch fest,
daß die Lombarden in dem übrigen Oestreich'vielfach Neid erregen und bitterer
Aerger über die verhältnißmäßig schonende Behandlung derselben sich in den
weitesten Kreisen kundgibt. Die italienischen Provinzen allein haben den her¬
ben Geschmack entwerteter Banknoten und hohen Silberagios nicht verkostet,
bei ihnen hörte der Goldregen nicht auf, während alle übrigen östreichischen
Länder unter jahrelanger Metalldürre schmachteten. Nur bei den Lombarden
war die freiwillige Anleihe thatsächlich, was ihr Name verhieß, nur hier
machten sich die Folgen derselben, die sonst überall bis zu dieser Stunde nach¬
klingen und die Geldnoth andauern lassen, nicht geltend. Die italienischen
Provinzen durften viele Jahre lang dnrch ein kolossales Schmuggelsystem die
östreichischen Schuhzölle in Freihandel verwandeln und ungestraft der östrei¬
chischen Industrie Wunden schlagen. Sie erhielten eine Provinzialverwaltung,
die Mit Eiser die besondern Interessen ihrer Untergebenen wahrnahm, ja wie
noch jüngst einzelne Ereignisse offenbarten, für diese selbst den Kampf mit
der Centralregierung nicht scheute. Allmächtig im übrigen Oestreich stieß das
wiener Ministerium in den italienischen Ländern allein auf feste Schranken
und wich z. B. bei dem Nckrutirungsgesetz, bei der Einführung der neuen
Währung hier dem Widerstand der öffentlichen Meinung. Das sind bekannte
Thatsachen, die oft genug das Murren der Altöstreicher hervorriefen und das
Sprichwort veranlaßten: Der Malcontcnte in Oestreich verstehe seinen Vortheil
schlecht, wenn er nicht zur offenen Empörung schreite. Jenem verzeihe die
Regierung nimmermehr, den Revolutionär begnadige sie nicht allein, sondern
überhäufe ihn auch noch mit Wohlwollen. Die Kosten dieses Wohlwollens
sind schon erklecklich, sollen nun auch jene der lombardischen Undankbarkeit ge¬
tragen werden? Das mundet den Bewohnern der übrigen Provinzen schlecht
und aus diesem Grunde wünschen sie den Lombarden alles Ueble auf den
Hals. Die feindselige Stimmung gegen Italien unter allen Classen der öst¬
reichischen Bevölkerung ist eine sichere Thatsache, ebenso gewiß, daß nur
Siegeswünsche das kaiserliche Heer im Kampf sei es gegen die Piemontesen, sei
es gegen die Franzosen begleiten werden. Auf der andern Seite verhehlt sich
aber auch niemand das Gefährliche der Lage. Der Krieg in Italien hat
keinen Ausgang. Der Sieg der östreichischen Waffen würde nur in dem Fall
politische Früchte bringen, wenn die sardinische Verfassung aufgehoben und
Sardinien wie Mittelitalien überhaupt dauernd besetzt werden könnten. Die
öffentliche Tribune in Turin, die sclbststündige Existenz der italienischen Klein¬
staaten sind mit der Ruhe in der Lombardei unverträglich. Kein Zweifel
daß die östreichischen Offiziere jenes Ziel wünschen, aber auch kein Zweifel,
daß das Concert der Großmächte zu dieser Lösung der italienischen Frage
seine Zustimmung nimmermehr geben wird. Und da Oestreich nicht in der
Lage ist, dem gemeinsamen Widerspruch aller Großmächte zu trotzen, so wird
es sich mit dem Ministerwechsel in Piemont und mit einer sardinischen Kriegs-
contribntion begnügen müssen, grade wie vor zehn Jahren um — grade wie
vor zehn Jahren gewiß zu sein, daß demnächst der Streit von neuem begin¬
nen werde. Dies alles unter der Voraussetzung, daß Oestreich im Kampfe
siegt und der Kampf nach dem neuerfundenen Namen, localisirt, zwischen Oest¬
reich und Sardinien ausgefochten wird. Wie aber, wenn das Kriegsfcucr
weiter um sich greift, und Sardinien nur als Vortrab des französischen Hee¬
res auftritt? Wir unterlassen es. uns über die Wahrscheinlichkeiten des Aus¬
ganges auszusprechen, in wohlfeilen Prophezeiungen uns zu ergehen. Als
gute Oestreichs zweifeln wir auch in diesem Falle nicht, daß unser Heer neue
Siege erringen wird, aber — wir verzweifeln schier an unserer Fähigkeit,
die Wunden, die dem innern Wohlstand ein andauernder, allgemeiner
Krieg schlagen wird, zu tragen, ohne zu verbluten. Es wird jetzt spät,
wenn nicht vielleicht zu spät allen klar, daß unsere Regierung die Zeit
der Friedensjahre unbenutzt vorüberstreichen ließ, die unbestreitbar großen
Machtmittel des Staats ungenügend entwickelte, die Opserfähigkcit des Volkes
wissentlich einschränkte. Die officiellen Stimmen werden natürlich widersprechen
und es als Lüge bezeichnen, trotzdem bleibt es wahr und wird als öffentliches
Geheimniß schon längst in das Ohr geflüstert, daß ein schneidender Gegen¬
satz die höchsten Regierungskreise scheidet; infolge des innern Zwiespaltes
olle Klarheit und Energie aus der Verwaltung gewichen ist. So lange Frei¬
herr Bach noch an seinen Centralisationsideen festhielt und in der französischen
Administration das höchste Ideal erblickte, war den Freunden des alten Re¬
gime, den Anhängern der Metternich-Kolowratischen Herrschaft jede Handhabe,
ihre Opposition geltend zu machen, genommen. Das Centralisationssystem
machte aber bekanntlich, kaum eingeführt, das glänzendste Fiasco. Bach,
von allen Seiten bestürmt, gab selbst seinem Werk den Todesstoß und näherte
das Verwaltungssystem dem alten durch die Revolution gebrochenen Zuschnitt.
Die Provinzialregierungen erhielten eine größere Selbstständigkeit, die Justiz
wurde für die Omnipotenz der politischen Behörden confiscire, die Keime eines
wirklichen Gemeindelebens kräftigst unterdrückt. Bis zu einem förmlichen
Widerruf seines eignen und, wie wir gern zugestehen, vielversprechenden Weges
stieg der Muth der Verzweiflung bei dem rathlosen Minister nicht. Er be¬
gnügte sich, die Organisation Oestreichs auf dem Papier bestehen zu lassen,
die bereits durchgeführten Reformen aber als bloße provisorische Maßregeln
zu bezeichnen. Mit dieser Halbheit war aber Bachs alten Gegnern, der durch
die Aufhebung der Untertänigkeit verbitterten Aristokratie und den im Sturm¬
jahr zurückgesetzten hohen Beamten der alten Zeit nicht gedient. Die Aner¬
kennung, daß die von Bach begonnene neue Organisation seine rechte Lebens¬
fähigkeit besitze, deuteten sie als volle Berechtigung ihrer Ansprüche, an die
Stelle des Stillstandes in der definitiven Regelung der innern Verhältnisse
möchten sie den Rückgang zum alten System setzen oder, weil das im Augen¬
blick noch nicht möglich ist, den Stillstand, das Provisorium verewigen.
Diese Tendenzen haben auch ihr officielles Organ gefunden. Der Reichsrath,
so weit wenigstens die Kunde seiner Wirksamkeit reicht, ist der dem Ministerium
angehängte Hemmschuh, bestimmt, alle Thätigkeit des letztern zu Paralysiren,
alle definitiven Maßregeln zu verzögern.
Wer die Grundsätze der innern Politik Oestreichs seit den letzten sechs
Jahren verfolgen wollte, würde eine harte Mühe mit ihrer Auffindung haben.
Hat die Regierung das klare Bewußtsein, daß die Ausbreitung deutscher Cul¬
tur das einzige Mittel ist, das Einhcitsgefühl zu stärken und an die Stelle
blinder Nationalitütsliebhabcreien einen gesunden politischen Patriotismus zu
setzen? Jeder freie Act des Cultusministeriums ist Bürge dafür. Wie erklärt
man aber dann die auffallende Begünstigung der ultramontanen Partei, die
vom Haß gegen die ihren Bestrebungen allerdings feindselige deutsche Bildung
lebt und ihre Hoffnungen auf die dauernde Isolirung der kleinen culturarmcn
Nationalitäten stützt? Oder ist die Schonung der letzteren, ihre Erhaltung und
Pflege in den Absichten der Negierung gelegen? Man möchte es glauben, da
in den historischen Lehrbüchern auch die bloße Erwähnung des Bundesverhält¬
nisses Oestreichs mit Deutschland vermieden wird. Wie reimen sich aber
damit so kleinliche Maßregeln, wie die der Errichtung eines czcchischcn Thea¬
ters in den Weg gelegten Schwierigkeiten oder die Veränderung des Pro¬
gramms der ungarischen Akademie: „Pflege der Wissenschaften in magyarischer
Sprache" in Pflege der Wissenschaften und der magyarischen Sprache?" Kein
Mensch vermag zu sagen, welche Handelspolitik die Regierung befolgt, da die
entgegengesetztesten Bestrebungen das gleiche Wohlwollen, dieselbe Aufmun¬
terung genießen; niemand hat noch ihre eigentlichen Administrationsgrundsätze
ergründet. Der Beamtenstand ist lange nicht vollzählig genug, um ein bu-
reaukratischcs Regiment durchzuführen und doch ist Communen und Indivi¬
duen alle freie Selbstbestimmung genommen. Und ebenso hat noch niemand
das Wort der Lösung sür unsere räthselhafte äußere Politik gefunden. Sie
setzt sich seit Jahren aus einer Reihe verspäteter Kraftanstrengungen, zaghafter
und erfolgloser Proteste und übel angebrachter Zugeständnisse zusammen.
Wir haben im Interesse der Türkei eine schöne Armee durch Krankheiten de-
cimiren lassen und auf unsern Schuldenberg noch eine neue Last gethürmt,
um die Schwächung und tiefste Erniedrigung der Türkei durch ihren franzv-
fischen Bundesgenossen zuzulassen, wir haben durch unzeitige Schwäche in den
Donaufürstcnthümern die Anarchie angestiftet, Serbien wieder so viel guten
und eindringlichen Nath ertheilt, bis Oestreichs Schützling und Werkzeug allen
Halt verlor, wir haben es an Eifersüchteleien gegen Preußen nicht fehlen
lassen, um im nächsten Augenblick an deutsche Sympathien und das preußische
Schwert zu appelliren. Das sind betrübende Thatsachen, die die besten Pa¬
trioten wegwünschen aber nicht wegleugnen können. Ihnen entspricht die all¬
gemeine Stimmung in Oestreich. Der Glaube an den Muth der Regierung,
die obwaltenden Schwierigkeiten zu besiegen und dem Staat eine endgiltige
Organisation zu geben, ist erschüttert und mehr noch als dieses. Auch der Zweifel
an der Fähigkeit der Negierung, an der Möglichkeit überhaupt einer solchen Or-
' ganisation beginnt sich zu regen. Zu diesem Skepticismus hat vor allem das
Schicksal der Gesetze über Gemeinde- und Provinzialvcrfassung beigetragen. Die
im Jahr 1849 durchgeführte Gemeindeordnung, der Aristokratie der größte
Greuel, wurde bekanntlich nach kurzem Bestehen nicht etwa aufgehoben und
durch xine neue ersetzt, sondern zu einem ewigen Sterben verdammt. Den
Gemeindemitgliedem wurde die Ausübung des Wahlrechtes genommen, die
Gemeinderäthe von aller Verantwortung gegenüber den ersteren entbunden;
die Personen, die sich vor acht Jahren zufällig im Gemeinderath zusammen¬
fanden, müssen in demselben verbleiben bis — woran niemand mehr glaubt
— das Provisorium aufgehoben wird. Die Freisinnigen und Verwaltungs-
kundigcn haben sich längst von aller Thätigkeit zurückgezogen, auch die Ehr¬
geizigen fanden die Mühewaltung nicht lohnend; die Unthätigkeit und Ver¬
drossenheit der Einen, Krankheit und Tod der Andern haben große Lücken in
die Reihen der Gemeinderüthe gerissen, aber an einen Ersatz darf man nicht
denken, die Negierung wagt weder Neuwahlen, noch will sie durch Erneuung
der Gemcindevertreter die öffentliche Meinung ohne Nutzen reizen, und so sehen
wir von der Residenz bis zum geringsten Landstädtchen einen Numpfmagistrat
regieren, eine schlechte Stütze für die Regierung, ein noch schlechterer Verwalter
der Gemeindeinteressen. Wenn die Negierungsorgane, die in unmittelbarer
Berührung mit dem Volk stehen, sprechen dürften, wie würden sich Oestreichs
Feinde an dem Bilde des unentwirrbaren Chaos in allen Gemeindeangelegen-
heiten erfreuen. Es ist übrigens billig, zu erklären, daß einzelne Minister
das Unheilvolle der gegenwärtigen Lage vollkommen begreifen und zur Abhilfe
gern die Hand bieten. Alle ihre Versuche scheitern aber an dem Widerstand
höherer Mächte. Sollen die ehemaligen Grundherrn wieder eine isolirte
Stellung neben und über der Gemeinde erhalten? Der Wunsch, daß es ge¬
schehe, ist in den maßgebenden Kreisen ebenso heiß, als die Furcht über die
gewissen Folgen eines solchen Schrittes gewaltig. Keine Überredungskunst,
kein Versprechen, kein Eid wäre im Stande, die Bauern von der Meinung
abzubringen, daß dann auch die eben erst mit schwerem Geld abgelösten
Frohnden zurückgerufen würden. Und das weiß die Regierung. Der Masse
der ländlichen Bevölkerung kann man alles bieten, sie hat keinen Sinn für
politische Freiheit und Versassungsleben, sie beugt sich der Priester- und Be¬
amtenherrschaft, duldet die höchsten Steuern, bleibt stets treu und unterwürfig,
nur an die errungene Freiheit des Besitzes darf man ihr nicht greifen, selbst
den geringsten Schein, als ob man die Wiedereinführung der Unterthänigkeit
des Bauernstandes beabsichtigte, ihr nicht vorhalten. In einem solchen Fall
würde sie selbst vor der offnen Empörung nicht zurückschrecken. Weil dies die
Negierung weiß, wird auch dies von mächtigen Persönlichkeiten unterstützte
Project, das Gemcindeleben auf den altöstreichischen Fuß zurückzusetzen, niemals
verwirklicht werden. Aber dann sollen auch die entgegenstehenden Wünsche
ihre Verwirklichung nicht finden. Das Ministerium kann Thatsachen nicht
ungeschehen machen, nicht verhindern, daß in die jüdischen Ghetti christliche
Proletarier ziehen, israelitische Chefs der größten Jndustricanstalten und Banken
ihr Geld auch in besserm Licht und gesunderer Lust für ihre Wohnungen
anlegen. Das Ministerium muß zunächst für die Erweiterung der Steuerlast
sorgen, es kann nicht zugeben, daß der ländliche Credit durch die Einschränkung
der Besitzfähigkeit leide. Es wünscht daher, daß die im Wege des Gesetzes
eigentlich schon abgeschaffte Consignirung der Israeliten auf bestimmte Pro¬
vinzen, Städte und Stadtquartiere, auf die Erwerbung von beweglichem
Eigenthum auch thatsächlich beseitigt würde und kann von seinem Standpunkt
aus kein Gemeindegesetz vorschlagen, welches das Maß der bürgerlichen Rechte
nach Confessionen gliederte. Aber alle Vorschläge scheitern an dem Widerstand
einer mächtigen Partei, welche, bekannte Vorurtheile mit Geschicklichkeit be¬
nutzend, weil sie für ihre Standesgenossen die gewünschte Ausnahmestellung
nicht erreichen kann, wenigstens für die Juden eine solche mit Hartnäckigkeit
festhält. Das macht eben die Judenfrage in Oestreich zum Gegenstand so
ausgedehnter Debatte, erhöht das Interesse an derselben und erhitzt die Gemüther,
weil alle Welt weiß, daß die Juden nur den Vorwand abgeben, um jede de¬
finitive Regelung der Gemeindeangelegenheiten zu verhindern. Mit den Landcs¬
statuten ist es in gleicher Weise bestellt. Man kann nicht einfach die alten
Stände rehabilitiren, die Industrie, den Handel jetzt, wo Fürsten und Grafen
zu Dutzenden mit Actien speculiren, von der Vertretung nicht ausschließen,
ehe man sich aber zu diesem Zugeständiß herabläßt, läßt man lieber alle
Landesstatuten als Papier in den Ministerialbureaux vermodern. Nicht erst seit
heute und gestern beklagen die Vaterlandsfreunde diese Schwäche und voll¬
kommene Rathlosigkeit der Negierung. In die Form frommer Wünsche
gekleidet hat die berechtigte Forderung eines entschiedenen und vernünftigen
Auftretens des Ministeriums, der endlichen Befriedigung schwerwiegender Inder-
essen schon bei dem letzten und vorletzten Jahreswechsel Ausdruck gefunden.
Seit dem 31. December 1851 ist man ja in Oestreich an politische Neujahrs-
gcschenke gewöhnt. Aber allerdings macht sich in dem gegenwärtigen Augen¬
blick das Gefährliche eines allgemeinen Provisoriums mit doppeltem Gewicht
geltend. Wir zweifeln nicht im Geringsten an der Schlagfertigkeit unseres
Heeres. Die Armeeorganisation ist das einzig Definitive, was Oestreich im
letzten Jahrzehnt geschaffen hat, hier allein wurden alle Vorurtheile, alle hal¬
ben Maßregeln beseitigt, rationelle Grundsätze in Ehren gehalten, in Spar¬
samkeit und Aufwand ein weises Maß eingehalten. Dank dem Muth und
der Einsicht, der sich in der Militärverwaltung geltend macht, besitzen wir ein
kriegsbereites, siegesgcwisses Heer. Es ist aber nicht genug, daß das Heer,
es muß das ganze Volk in Kriegsbereitschaft stehen. Und diese letztere Kriegs¬
bereitschaft müssen wir leider bezweifeln. Viele von den Männern, welche in
Oestreich das entscheidende Wort sprechen, gewahren wir in einem doppelten
Irrthum befangen. Sie verwechseln den gerechten Grimm der öffentlichen
Meinung Europas gegen den französischen Machthaber mit unbedingten Sym¬
pathien für Oestreich. Die herabgleitcnde Scala des Enthusiasmus sür die
wiener Cabinetspolitik, wie sich dieselbe in den leitenden deutschen Organen
geltend macht, dürfte sie unangenehm überrascht haben. Sie hegen ferner die
Ueberzeugung, ein gutgeschultes und zahlreiches Heer in das Feld gesendet,
verbürge den Ausgang des Krieges. Und doch sollten sie von England, wenn
nicht aus der Geschichte gelernt haben, daß nicht der Staat, dessen Heer
die Garantien eines ersten Sieges bietet, sondern jener, der die meisten Schläge
in seiner Kraft ungebrochen ertragen, die längste Kriegsdauer aushalten kann,
über seine Zukunft ohne Sorgen bestehen kann. Wir verzweifeln auch jetzt nicht,
würden aber viel kräftiger das Haupt emportragen, viel ruhiger den Wechsel¬
fällen des Krieges entgegensehen, wenn wir wüßten, daß unsere Regierung
die innern MachtqucUen Oestreichs zu entfalten und auszubeuten den Muth
und das Verständniß besitze.
Es war am 21. Juni des Jahres 1853, als ich mit dem Dampfer
Zrinyi die große Handelsstadt Galatsch verließ, um nach Tultscha zu fahren
und von da aus einen Ausflug in die Dobrudscha zu machen. Das Boot
war ziemlich besetzt, das Gewühl auf seinem Verdeck ebenso bunt, wie das
am Land, welches ich eben verlassen hatte; alle Nationalitüten Europas waren
vertreten, und es fehlten auch nicht Repräsentanten der beiden übrigen alten
Welttheile, hochbemützte Perser, pfiffige Tartaren und verschiedene Neger,
einer darunter in der sehr abgetragenen und defecten Uniform eines türkischen
Kriegers. Mich zog vorerst die Ufcrgegend des Stromes an. Zur Linken
dehnte sich flach und sandig das Gestade, über weite Schilsmoore konnte der
Blick tief hincinschweisen in die trostlos öden Flächen, mit ihren Brackwasser-
Limanen, die der Pruth durchschleicht, dessen Einmündung in die Donau
kaum bemerkbar wird. Ein hervorragendes Gebäude, das verlassene russische
Hospital, mit seinen langen weißen Mauern und gelichteten Dächern, bildete
das einzige hervorragende Monument aus der Landzunge, die sich östlich von
Galatsch hindehnt, dahinter lag das ganz aus Schilf erbaute luftige Dorf der
Schiffer und Lastträger, das gewissermaßen eine Vorstadt des Hafenplatzcs
bildet. Zur Rechten aber bot die Uferlandschaft einen angenehmeren An¬
blick; hier stiegen, vielleicht eine Stunde vom Gestade entfernt, die steilen,
zerklüfteten Wände eines ansehnlichen Gebirges empor, dessen tiefe Schluchten
und stattlich aufragende Gipfel um so mehr imponirten, als man sich ge¬
wöhnlich die ganze Dobrudscha, den nordöstlichen Theil Bulgariens zwischen
der Donau und dem schwarzen Meer, als ein durchaus flaches, ja sogar
sümpfevolles Gelände denkt, was durchaus ein Irrthum ist. Schon der Di-
rector des magnetischen Observatoriums in Wien, Kreil, mit dem ich auf
der Donaureise zusammengetroffen war, hatte mich auf diese Berge mit dem
Bemerken aufmerksam gemacht, daß sie bis jetzt so gut wie gar nicht durch¬
forscht seien; in der That habe ich sie späterhin auf mehren orographischen
Karten nicht einmal angedeutet gefunden; in gespanntem Verlangen hastete
daher mein Blick an ihren blauen Wänden, die zu erklettern ich ja doch in
einigen Tagen hoffen durfte. Sonst war die Aussicht von dem Strom aus
nach beiden Seiten höchst einförmig; auf der Linken brachte erst die Stadt
Reni, bei welcher wir anlandeten, einige Abwechselung in die Oede; ihre
Festungswerke sehen aus der Ferne sehr dürstig und zerfallen aus; viele lustige
Windmühlen von sonderbarer Bauart, mit acht im Kreis gespannten Flügeln
brachten einige Bewegung in die Scenerie.
Mehr Ausbeute gewährte dafür die Betrachtung und das Studium der
Gesellschaft an Bord. Sie hatte ihren Mittelpunkt in einem hohen Wür¬
denträger der Pforte. Seiner Excellenz Omer Pascha — nicht der be¬
rühmte, wie jedermann sogleich zum Verständniß — und sicherlich verletzend
für den Mann — hinzufügte, sondern „ein anderer", gegenwärtig Präsident
der vielbesprochenen Donaucommission in Galatsch. Ich habe späterhin das
Vergnügen gehabt, mit ihm näher bekannt zu werden, und gestehe, daß
Leute seinesgleichen wohlgeeignet sind, das Vorurtheil gegen die Türken her¬
abzustimmen. Er ist ein kleiner, feiner Mann, mit scharfen Gesichtszügen
und blitzenden Augen; in Wien erzogen, spricht er fertig deutsch und hat alle
Ansichten der christlichen Civilisation in sich aufgenommen — bis auf eine,
die das Allerheiligste des Türken angeht, den Harem. In seiner Begleitung
war ein etwas beleibter graublondcr Herr, welchem jedermann, trotz der tür¬
kischen Uniform und dem nach hinten gerückten Fes, aus der Stelle ansehen
mußte, daß gutes deutsches Blut und zwar ohne jede falsche Färbung, in
seinen Adern floß; es war der Oberst Malinowsky, ein Magdeburger, welcher
als preußischer Jnstructeur nach der Türkei gekommen war. sich nach und
nach zu seinem jetzigen Rang emporschwang und gegenwärtig als Commissär
der Pforte bei der Donauregulirung fungirt. Er hat sich in Tultscha ein
prächtiges Haus erbaut, d. h. der Staat hat es bezahlt, und er wohnt da,
weitschauend über die Lande, wie jemand, dem die Donau nur zum Privat¬
vergnügen fließt. Auch Albion war vertreten in einem seiner besten und
schönsten Söhne; es war der Capitän Hartley, aus der bekannten britischen
Jngenieursamilie, der Stationscommandant in Sulina. Auffällig war mir,
daß unter den einzelnen Herren von der Donaucvmmission — wie ich dies
nicht blos hier, sondern mehrfach gefunden, kein besonders kameradschaft¬
liches Verhältniß zu herrschen schien. Dennoch hat dieselbe in diese Gegen¬
den ein ganz neues Leben gebracht, wie mir allgemein versichert wurde; es
hat sich ein anderer gesellschaftlicher Ton, eine Concentration der bessern so¬
cialen Elemente durch den Zusammenfluß einer Menge von Männern der
Elite der Civilisation gebildet, deren Siege sich mehr und mehr vergrößern,
und die gewiß von bleibendem Einfluß auf den Landstrich und seine Bewoh¬
ner sein wird. Es ist um so mehr vorauszusehen, daß eine derartige Ein¬
wirkung dauernde Folgen zu begründen vermag, je weniger es vorauszusehen
ist, wann das Donaueinigungs- und Neinigungswerk zu Stande kommt. In
fünfundzwanzig Jahren werden wir erst wissen, was eigentlich zu thun ist, hat
mir einer der Eingeweihten gesagt; und die Gemüthlichkeit, mit welcher die
meisten davon hier ihren Fuß in den Boden pflanzen, zum Festwachscn, spricht
allerdings ebenso sehr für diese Ansicht, wie die erschreckend dürftigen, wenigen
Anstalten und Bauten, welche die Türkei bis heute für ihre dreimalhundert-
tausend Ducaten zum Besten der Donau hat entstehen sehen.
Es befremdete mich, daß mehre moldauische Offiziere an Bord von
dem Pascha, einem General, dem Chef des Stabs der Armee ihres Ober¬
herrn, nicht die geringste Notiz nahmen, ihn weder grüßten, noch sich ihm
näherten, obgleich er in Uniform, wie sie, und ihnen gewiß bekannt war.
Sie waren fast alle junge, hübsche Leute, und gut geschnürt, aber von nicht
sonderlicher militärischer Haltung, trotz dem ganz und gar französirten Costüm,
welches sich übrigens auch den preußischen Waffcnröcken der Türken gegenüber
nicht zu seinem Bortheil auszeichnete. Allein der preußische Rock macht noch
lange nicht den preußischen Krieger; davon bekamen wir den augenscheinlichen
Beweis, als später zu Jsaktscha mehre türkische Offiziere niederer Grade auf
das Schiff kamen. Confiscirtere Strolche sind mir noch nie begegnet. Der
eine davon, ein hagerer, habichtsnasige>1 Gesell, trug ein roth und gelb ge¬
mustertes baumwollenes Halstuch als Cravate, den krummen Säbel, ein sehr
altes Waffenstück, verkehrt auf der Schulter und daran einen starken Bündel
mit Wäsche auf dem Rücken, in der Hand einen mächtigen Hcnkelkorb mit
Kirschen. Als er die Anwesenheit des Pascha gewahr wurde, setzte er seine
Habseligkeiten ruhig bei Seite, steckte den Säbel an, und bezeigte sofort dem
Vorgesetzten seine Ehrfurcht mit tiefer Verneigung und Handlegung auf die
Brust; dann wandte er sich hurtig um, holte seinen Kirschenkorb, warf im
Gehen die bedeckenden Weinblätter hinweg, und präsentirte dem Pascha
gutmüthig schmunzelnd die Früchte; dieser nahm etwas widerstrebend einige
davon, aber das war nicht genug, der galante Kriegsheld griff mit verdächtig
aussehenden Fingern tief in den Korb und suchte dem Oberen eine reichliche
Gabe aufzunöthigen, die dieser denn auch nicht verweigern mochte; dann
aber kannte die Großmuth des Geschmeichelten keine Grenze mehr, und er
machte mit seinen Kirschen die Runde auf dem ganzen Verdeck — nur den
>Frauen bot er keine an, wie sich nach türkischer Lebensart von selbst versteht.
Mittlerweile hatte sich sein Begleiter, ebenfalls Offizier und wie der andere
mit mehren langbaumelnden Medaillen decorirt, ein abscheulich plattgedrücktes
Gesicht, das seine Ncgerabstammung nicht verleugnen konnte, in größter Non¬
chalance auf die Planken niedergekauert, gleichsam als wolle er der ganzen
Welt herausfordernd zeigen, daß er ein Paar Schuhe besitze. Und er hatte
ein Paar Schuhe, der Würdige, aber guter Himmel, welche! Niemand in
Deutschland würde sie von einem Kehrichthaufen aufheben, neugierig guckten
die Zehen daraus hervor in die Welt — denn an den Luxus von Strümpfen
denkt kein echter Türke — glücklicherweise waren aber Haut und Leder von
einerlei Farbe, daher kein großer Unterschied zu bemerken.
Abgesondert von seinen Kameraden hielt sich ein moldauischer Oberst, ein
hoher, stattlicher Mann, wie es schien starker Dreißiger, mit schwarzem, mäch¬
tigem Schnurrbnrt, dunklen Augen, aber etwas matten, verlebten Zügen.
Er war sehr sorgfältig gekleidet, und trug die Wucht der riesigen goldenen
Epauletten mit Grazie und vornehmer Sicherheit. Ein Air von Distinction
war um den Mann gebreitet; er stand fortwährend allein; niemand näherte
sich ihm, mit niemandem knüpfte er ein Gespräch an. Als er, mit seinen
Fingern seine Papyros rollend, suchend umherblickte, reichte ich ihm meine
brennende Cigarre, er dankte mir verbindlich, aber schweigend. In diesem
Augenblick begrüßte mich ein Bekannter, ein Schotte, mit dem ich im Cas6
der Börse zu Galatsch mehre Male zufällig zusammengetroffen war. Was er
war und trieb, wußte ich nicht; aber er erzählte mir, daß er sich in Ismail
niedergelassen habe, und suchte mich nunmehr dringlichst zu bereden, meinen
Ausflug bis nach dieser Wunderstadt auszudehnen. Denn als eine solche
pries er sie, mit ihren breiten, regelmäßigen Straßen, netten, reinlichen Häu¬
sern, hübschen Gärten. „Schade nur, fügteer hinzu, daß die Stadt, seitdem
die Russen sie verlassen haben, fast menschenleer geworden ist, was freilich
auch sein Gutes hat; denn wohlfeiler kann man jetzt nirgend in der Welt
ein Haus miethen, wie in Ismail."
Während der redselige Schotte mich also zu unterhalten strebte, wars ich
von Zeit zu Zeit einen Blick hinaus auf den Strom und seine Ufer. Es
war und blieb immer dasselbe Bild. Links die Hütten der Douane in gleich¬
mäßigen Abständen dicht am Strand, rechts Weidicht und Schilf; über den
Wassern schwebten zahlreiche Möven mit häßlichem Geschrei, zuweilen flog ein
mächtiger Pelikan vor dem nahenden Dampfboot auf, um ein paar tausend
Schritte weiter wiederum schwerfällig auf die Flut zu sinken; da und dort ein tür¬
kisches, schmuziges Schiff mit sonderbar hohem Castell regungslos in der Wind¬
stille vor Anker. Die Festung Jsaktscha auf dem rechten Ufer, von welcher aus
Omer Pascha — der andere — '1853 im October die russischen Kriegsschiffe,
welche die Donau hcraufscgelten, mit Erfolg beschoß und damit den Krieg
thätlich begann, macht den Eindruck der Verkommenheit, wie alles, was os-
manisch heißt. Hier scheint sich die Donau noch einmal zusammennehmen zu
wollen, ehe sie in jenes regellose Wassergewirr verfällt, das der europäischen
Politik so vieles Kopfzerbrechen und dem kranken Mann so vieles Geld ge¬
kostet hat; breit und so langsam, daß seine Oberfläche dem Spiegel eines
Landsees gleicht, fließt der Strom zwischen flachen, schilfgegürteten Ufern da¬
hin, ohne Buchten, Arme und Inseln; nur muß man nicht irre werden durch
die großen Limane, besonders auf der linken Seite, welche von trug hervor¬
wallenden Flüßchen gebildet werden, die in ihrer Mattigkeit scheinbar nicht
das Vermögen mehr haben, die letzte Barriere zu durchbrechen, die sie von
der Beherrscherin ihres Gebietes trennt, daher sie in stehendem Halbsumpf
ihr Leben beschließen. Anders mag es freilich aussehen, wenn die Winter¬
wasser sie geschwellt haben. '
Die Glocke hatte schon zur Tafel gerufen — deren Preis in demjenigen der
Passage, fünfundzwanzig Piaster bis Tultscha — einbegriffen ist —ich war der
letzte, der vom Verdeck hinabstieg in die nicht besonders geräumige Kajüte. Daher
fand ich denn auch die lange Haupttafel so vollständig besetzt, daß es unmög¬
lich gewesen wäre, selbst einen Aankce dazwischen hincinzuquetschcn, was doch
etwas heißen will. Einigermaßen veüegen blickte ich umher, denn Hunger
hat man auf dem Wasser immer — doppelten vielleicht, wenn man für seine
Befriedigung vorausbezahlt hat? — und suchte auf den gleichgiltigen Gesich¬
tern der Stewards Trost und Hoffnung. Der großen Tafel gegenüber war
in einer Ecke noch ein kleiner Tisch mit zwei Couverts servirt; eben nahmen
der Moldauer Oberst und ein Herr im schwarzen Frack diese Separatplätze
ein; als jener meine hilflose und sogar etwas spaßhafte Verlegenheit gewahrte,
gab er sofort dem Herrn Oberkellner einen Wink, dieser stürzte mit einem
Couvert herbei, und der Schwarzbefrackte lud mich in vortrefflichem Französisch
an den kleinen Tisch. Das nahm ich dankbar an, und saß um so behaglicher
dem Obersten gegenüber, als ich bemerkte, daß wir mit besonderer Aufmerk¬
samkeit, ja fast Auszeichnung bedient wurden. Ich wollte mich der vor mir
aufgepflanzten Flasche des leichten, fast wasserhellen Moldauer Weines be¬
dienen, da bat mich der Oberst so verbindlich um die Erlaubniß, mir ein
Glas Bordeaux einschenken zu dürfen, daß ich dankbar annehmen mußte, so
wenig auch der feurige Klarer ein Getränk ist bei dreißig Grad Hitze im Ka¬
jütenschatten. Die Kosten der Unterhaltung bei Tisch bestritt vorzugsweise
der schwarze Herr, mein Nachbar; sie begann mit dem Lobe des französischen
Weines und führte zu der kühnen Behauptung, daß man diesen nirgend
besser trinke, wie in Bukarest; dem eifrigen Redner schien es eine völlig aus¬
gemachte Sache, nicht des Streitens werth, zu sein, daß es überhaupt nur
zwei Städte in der Welt gäbe, Paris und Bukarest. Der Oberst, ein sehr
schweigsamer Gast, welcher gewohnt schien, unterhalten zu werden, gab seine
Bekräftigung dieser Ansicht mit energischem Kopfnicken und einem sehnsüchtigen
Blick in das rothe Licht des emporgehaltener Glases; ich wunderte mich ein
wenig darüber, daß Jassy nicht mindestens als dritte im Bund erwähnt wurde.
Nachdem ich die Resultate eines mehrwochentlichen Aufenthalts in Galatsch und
der Moldau mit einiger Noth zu einem kleinen Panegyrikus zusammengefloch¬
ten hatte, schien der Oberst etwas warm zu werden, und es kam die Rede auf
die jetzige und künftige Bedeutung der Donaufürstenthümer. Leider habe ich
damals nicht Acht genug gegeben, um den ganzen Inhalt des Gesprächs noch
im Gedächtniß zu haben; er lief aber darauf hinaus, daß sich hier, an der
untern Donau, die Geschicke, die Zukunft Europas und der Welt entscheiden
würden. Auch die Abstammung der Wlachen oder lieber Rumänen von den
alten Römern kam zur Sprache, und ward als viel sichrer betrachtet, wie
diejenige der heutigen Italiener. Ich gestehe, daß ich während meines Auf¬
enthalts in den Donauländern weit öfter an Hunnen, Mongolen und Pet-
schencgen erinnert worden bin, wie an alte Römer; doch hütete ich mich wohl
diesen Gedanken laut werden zu lassen, da derselbe gradezu. einen Hochver¬
rat!) gegen die liebste Einbildung des Volkes ausgesprochen hätte. Der wieder
schweigsam gewordene Oberst gab sich, nicht die Mühe, in das Lob einzustim¬
men, das sein Begleiter, offenbar ein Franzose, freigebig und blumig der
moldauischen Armee spendete; da ich dieses herrliche Kriegsheer bei diversen
Gelegenheiten in den verschiedenartigsten Situationen zu beobachten Gelegen¬
heit gehabt hatte, so konnte ich mir leicht denken, was der Oberst von diesem
Lob seiner Truppe hielt, wenn er nicht blind war. Doch schoß er von Zeit
zu Zeit aus seinen etwas unsicher schwimmenden schwarzen Augen einen bö¬
sen Blick hinüber an den Haupttisch, welchem der Pascha mit aller Würde
des gereiften Weltmannes präsidirte; obgleich ihm grade nicht sehr ähnlich,
erinnerte mich doch dieser Moldauer Kriegshäuptling mehr als einmal an
Napoleon den Dritten. Daß der besondere Tisch, überhaupt sein ganzes Be¬
nehmen, auch seine besondern Ursachen haben müsse, erschien mir klar, aber
ich gab mir keine Mühe, darüber nachzuforschen. Hier ist eine Warnung ein¬
zuschalten für leichtsinnige Touristen: Behandle jeden, der dir unterwegs auf¬
stößt, mit Ehrfurcht und merke dir seine Rede, denn wenn du selbst weißt,
was der Mann ist, so weißt du doch nicht, was er noch werden kann! Mich
interessirte damals Omer Pascha weit mehr, wie mein stolzer Wirth, was ich
heute bitter zu bedauern habe. Der Schwarzrock nahm mich schließlich tüch¬
tig ins Gebet über mein Vaterland, den Zweck meiner Reise u. s. w.; ich
mußte ein ordentliches Verhör bestehen; daß ich einen Ausflug in die Dobrud-
scha machen wollte, schien mich in i>er guten Meinung der beiden Herren et¬
was herabzusetzen; „was in aller Welt haben Sie dort zu suchen? Keine
Civilisation, keine Gesetze, kein Comfort." „?as lo moins du mondo," be¬
kräftigte der Oberst und reichte mir artig die erste Papyros, die er mit un¬
nachahmlicher Fertigkeit gerollt hatte.
Wir stiegen auf das Verdeck, um daselbst den köstlichen Nero, auf türkische
Art bereitet, zu schlürfen — beiläufig gesagt, sind Kaffee und Tabak das Ge¬
nießbarste der ganzen Türkei. Tultscha erschien, von Höhen umkränzt, am
rechten Ufer des Stroms, langsamer arbeitete die Maschine, und der Zrinyi
wandte sich in großem Bogen dem, Lande zu.
Eben gesellte sich der lange, hartblonde Schotte wiederum zu mir; bei
dem Beginn der Tafel hatte er mich in meinen Nöthen vollständig verleugnet,
denn er saß breit und gut, erwünschte Fülle vor sich. Ich richtete an ihn
die Frage, ob er meinen Tischgenossen, den moldauischen Oberst kenne.
„Pah, ob ich ihn kenne!" entgegnete er wegwerfend. „Er ist lange genug
Gouverneur von Galatsch gewesen, um jedermann im Gedächtniß zu bleiben,
der in dieser lackirten Räuberhöhle eine Zeit seines Daseins, jedenfalls die
schlimmste desselben, zuzubringen gezwungen war. Es ist der Oberst Kuza.^
Dieser Name sagte mir nichts. „Bekleidet er gegenwärtig noch einen
solchen ho.hen Posten?" frug ich weiter.
„Was nennen Sie hohen Posten in diesem Land?" fuhr mich der roth¬
borstige Barbar an. „Wer Hierzuland die rechten Wege kennt, und sie zu
wandeln sich nicht scheut, der gelangt auf jeden Posten, dem er entgegensteuert.
Dieser da hat schon mehr als eine Rolle gespielt. Jetzt ist er Oberst. Auf
dreihundert Soldaten gibt es in der Moldau mindestens fünfhundert Obersten.
Wer dem Kaimakam hübsch um den Bart geht, ihm von Zeit zu Zeit ein
unverzinsliches Darlehn verschafft und erfolgreich für ihn kuppelt, der erhält
das Patent eines Obersten und damit hotta!"
Die Landungsglocke trennte mich von dem gallsüchtigem Scotchman. Ich
nahm meine Reisetasche und betrat sinnig, me-g. mseum v«rtan8 den Boden
der Dvbrudscha. zunächst aufsuchend das „deutsche Gasthaus" des Herrn Franz
Ringier, welches ich allen meinen Nachfolgern hiermit bestens empfohlen haben
will, was um so wirksamer sein wird, da es kein anderes gibt.
Oberst Kuza, der mit seinem Begleiter nach Ismail fuhr, winkte mir
vom Verdeck aus würdig ein Lebewohl zu; ich bin mindestens fest überzeugt,
daß es mir gegolten und nicht dem türkischen Pascha und seiner Suite, für
welche stattliche Carrossen bereit standen.
Zu den interessantesten Erscheinungen, welche das vorige Jahr auf dem
Gebiet der Reisebeschreibung gebracht hat, gehört Atkinsons Werk „'Aosta-n
anÄ Orionwl SilxzM" (London, Hurst und Blackett). Während Livingstone
das Innere Südafrikas aufschloß und unter den Völkern am Zambesi den ersten
Samen der Civilisation ausstreute, während Barth die geheimnißvollen Neger-
länder hinter der Sahara durchwanderte, die Räthsel von Timbuktu löste und
den Schleier lüftete, der die Quellen des Niger und des Tschndsees verhüllte,
durchstreifte Atkinson, nicht minder kühn und beharrlich, in siebenjähriger
Wanderung die Steppen und Felsenwildnisse des Mongolenlandes. Die Ge¬
genden, die er uns schildert, sind die, wo die weltgeschichtlichen Orkane sich
zusammenzogen, die unter dem Namen der Hunnen- und Tartarenzüge Asien
bis an den Euphrat und bis zum gelben Meer, Europa bis zu den katalau-
nischen Gefilden, und später bis ans Riesengebirge erschütterten. Wir durch¬
streichen mit ihm die Wüste Gobi, überfliegen aus schnellen Steppenrossen das
weite Grasland der chinesischen Tartarei. besuchen Kirgisensultane der großen
und der kleinen Horde, darunter solche, welche sich rühmen, das Blut Dschmgis-
khans in ihren Adern zu haben, erfahren mit ihm unter mancherlei Aben¬
teuern, daß der alte Raubgeist im Kleinen noch heute fortlebt, und begreifen
im Anblick der grausigen Gebirgswelt. die wir durchklettern, der Wildbäche,
die wir durchschwimmen, der unheimlichen Krater und Lavaströme, auf die
wir hinabschauen, der furchtbaren Sandstürme, welche durch die Einöde fegen,
den Ursprung und das Wesen jener weltgeschichtlichen Vorgänge, die uns mehr
in das Bereich der Natur, als in das des Geistes zu gehören scheinen.
Wie das Land, so die Menschen, wenigstens in Zeiten des Anfangs.
Es war die Seele des unbarmherzigen Vulkans, des plötzlich anschwellenden
Bergstroms, des grausamen Steppenorkans, die unter Dschingiskhan und Ti-
mur Leng von hier aufbrach, um die Städte Chinas und Hindostans zu ver¬
brennen, in Persien und Syrien Schädelpyramiden aufzuthürmen, Rußland
und das östliche Deutschland in Blutseen zu verwandeln. Es war der Geist
der Gobiwüste, welcher durch die Horden dieser Eroberer sein ödes Reich über
die ganze alte Welt auszubreiten strebte.
Wir folgen im Nachstehenden dem unerschrockenen Reisenden auf einigen
seiner Ausflüge an der Grenze zwischen China und Nußland, und zwar ge¬
sellen wir uns ihm zu, während er sich der Gobi nähert. Das weniger
Charakteristische lassen wir aus, und bemerken nur noch, daß das Buch mit
einer Anzahl sorgfältig ausgeführter Trachtenbilder und Landschaften aus¬
gestattet ist, die von Atkinson an Ort und Stelle aufgenommen wurden.
„Stunde aus Stunde waren wir geritten, ohne einer Unterbrechung der
monotonen Hügel und Thäler der Steppe zu begegnen. Bisweilen öffnete sich
eine Aussicht nach Osten über die Sarchawüste mit ihrem gelben Sand, ihren
purpurnen Felskammer und ihren zahlreichen Todtenhügeln. An einer Stelle
konnten wir den Dschabakanfluß an seiner dunkelgrünen Ufervegctation er¬
kennen, wie er sich über die Ebene hinwand. Diesem Anblick wendeten wir
bald nachher den Rücken, indem wir eine Bodenerhebung überstiegen und die
Gobi vor uns erblickten. Diese Wüste streckt sich vom Kessilbach-Nur bis zu
den Siotkibergcn mehr als zweitausend Meilen*) aus, während ihre Breite
zwischen zwei- und siebenhundert Meilen wechselt, und ist von unzähligen
Hügelkämmen durchschnitten, deren Formen in der Ferne in lichtblauen Dunst
verschwinden. Im Süden erheben sich die Schneegipfel des Syanschan, unter
denen sich der Vulkan Peschan befindet. Wir kamen dann über die Steppe,
über welche die asiatischen Horden zogen, deren Wanderung de Quincey in
seinem „Exodus der Tartaren" so schön geschildert hat. Ich habe seine Er¬
zählung mit höchstem Interesse gelesen und halte die Schlußscene, wo die
Tartaren und die wilden Kirgisen sich in den See stürzen, für furchtbar
tragisch.
Die Kosaken störten mich in meinem Sinnen, indem sie mir eine sern
im Westen aufsteigende Rauchsäule zeigten, von der wir wußten, sie könne
nicht von unsern Leuten kommen. Es waren unzweifelhaft Kirgisen da, und
jetzt mußten wir auf unsrer Hut sein, da sie westlich von unsrer Route lagerten
und sehr bald den Rauch unsres Feuers gewahr werden konnten. Wir bestie¬
gen unsre Pferde und ritten bergab, der Spur unsrer Freunde folgend, die wir
denn auch in weniger als einer Stunde in einem kleinen grasigen Thal ent¬
deckten, in welchem ein klarer Bach schäumend und hüpfend über sein felsiges
Bett herabrieselte. Alles war vorbereitet, daß wir hier Nachtruhe halten
konnten und es mußten während der Nacht Wachen ausgestellt werden, da
wir leicht einen Besuch jener herumschweifenden Banden bekommen konnten,
welche sich fortwährend in der Steppe hin und herbewegen. Um die Dämmer¬
stunde wurden die Pferde von der Weide geholt und neben uns festgemacht.
Dann schlief jeder neben seinen Waffen, um sie für den Fall eines Angriffs
sofort zur Hand zu haben. Alle wußten, daß unsre Sicherheit von uns allein
abhing, daß wir von niemand Hilfe zu erwarten hatten, wofern wir uns über¬
raschen ließen, daß unser Schicksal dann besiegelt sei und wir sämmtlich in
die Sklaverei verkauft werden würden. Das war ein starker Sporn zur Wach¬
samkeit und Tapferkeit, und alle waren entschlossen, sich auf keinen Fall lebend
fangen zu lassen."
Es ereignete sich indeß während dieser ersten Nacht im Lande der kirgi¬
sischen Räuber nichts, und die kleine Karawane setzte am nächsten Morgen
ihren Ritt weiter fort. „Nachdem wir drei Stunden geritten, zeigte sich ein
eigenthümlicher t'uppelförmigcr Hügel im Südosten. An demselben vorüber¬
zugehen, konnte uns nicht sehr weit von unserm Curs abführen, und ich war
begierig zu wissen, was es damit für eine Bewandtniß habe. Ich stieg vom
Pferde und kletterte den felsigen Abhang der Schlucht neben dem Hügel hinab,
wo ich fand, daß der Boden der Schlucht mit einer Lavaschicht bedeckt war,
welche aus der kuppelförmigen Erhöhung herabgestossen sein mußte. Als ich
den Ort erreichte, sah ich, daß die Substanz aus mehren Stellen ander Seite
des Hügels hervorgequollen war; es war indeß nur eine kleine Quantität,
die sich auf dieser Seite ergossen hatte. Ich beschloß dann die Kuppel zu
ersteigen, um zu sehen, wo sie geplatzt war. Das Ganze war von dunkel¬
grauer, ins Purpurne schillernder Farbe und sah aus, als ob es in weichem,
fast flüssigen Zustand in die Form einer ungeheuren Blase emporgetrieben
worden. Es war nach allen Richtungen gespalten und gebrochen, aber nicht
in regelmäßigen Schichten. Nachdem ich das Gestein genau untersucht, ent¬
deckte ich, daß die ganze äußere Hülle basaltartig war. Ich fand Olivin in
kleinen grünlichen Krystallen, an einigen Stellen schien es durch die ganze
Masse hindurchzugehen, aber nur in kleinen Theilchen. Der Hügel, welcher
keinen einzigen Grashalm trug, war kein regelmüßig kreisförmiger, sondern
von elliptischer Gestalt. Als ich auf dem Gipfel stand, bemerkte ich in der
Entfernung von zwanzig bis fünfundzwanzig Werst im Südosten einen ähnlich
gestalteten Hügel. Wir richteten unsre Schritte nach dieser Gegend und stiegen
so allmälig nach der Ebene hinab.
Bald nach Mittag sahen wir zwischen einigen andern niedern Hügeln im
Westen etwa zehn Werst entfernt einen Ani. Nach einer Berathung hielten wir es
für das Beste, uns nach demselben hinzubegeben und zu sehen, wie seine
Bewohner Fremde behandeln würden. Nach kurzer Zeit ritten wir durch eine
große Herde von Pferden und Kameelen. Die kirgisischen Hirten kamen auf
uns zu und fragten nach Woher und Wohin. Wir sagten ihnen, daß
wir vom Ubsanur kämen und nach dem Ulundschur wollten. Darauf
erfuhren wir. daß der Ani ein sehr großer sei und dem Sultan Baspasihan
gehöre, und daß wir ihn dort mit seinem Stamm antreffen würden. Jeder
Kirgise, dem wir begegneten, hatte seine Streitaxt am Sattel hängen, aber
ob sie sich damit gegen Menschen oder Thiere sichern wollten, wußten wir
nicht. Nachdem wir ein paar Werst geritten, kam ein Kirgise auf uns zu
galoppirt, zeigte uns die Lage des Anis und ritt dann schnell auf denselben
zu, als ob der Anblick unsrer Waffen ihn veranlaßt, zu eilen, um dem Sul¬
tan Gelegenheit zu geben, uns einen warmen Empfang zu bereiten.
Ein kurzer Ritt weiterhin brachte uns auf den Kamm einer Hügelkette,
von welcher wir aus den Ani hinabschauten, der an einem Bach im Thale
lag. Etwa eine Werst entfernt von dem Ani glänzte ein Landsee. Auf der
einen Seite desselben stand dichtes Schilf, auf der andern breitete sich ein
grasbewachsenes User aus, auf welchem Schafe und Ziegen weideten. Wir
bemerkten jetzt, daß mehre Leute auf ihre Pferde sprangen, um uns entgegen¬
zukommen; das war sicher eine Friedensgesandtschaft. Als wir zusammen¬
trafen, legte einer seine Hand auf meine Brust und sagte „Amar". Ich folgte
seinem Beispiel und so ritten wir weiter. Bei unsrer Annäherung schien in
dem Ani große Bewegung zu herrschen. Zwei Männer hatten ihre Pferde
bestiegen und waren davongeritten. Andere sammelten Strauchwerk, und alle
waren beschäftigt. Unsere Escorte führte uns zu einer großen Jurte, an deren
Thür ein langer Spieß in den Boden gesteckt war, von dessen blitzender Spitze
ein schwarzer Roßschweif herabhing. Ein schöner hochgewachsener Mann em-
pfing uns an der Thür, ergriff die Zügel meines Pferdes, gab mir seine Hand
zum Absteigen und führte mich in die Jurte.
Dies war Sultan Baspasihan. Er war ein starker Mann mit einem
rothen Gesicht und trug einen schwarzen Sammetkalat mit Zobel besetzt und
um die Hüften einen karmoisinrothen Shawl; seinen Kops bedeckte eine kegel¬
förmige Mütze von rothem Tuch, die mit Fuchspelz besetzt war und von deren
Spitze eine Eulenfeder herabhing — das Zeichen seiner Abstammung von
Dschingiskhan. Ein bocharischer Teppich wurde ausgebreitet, auf welchem
wir Platz nahmen. Dann brachten zwei Knaben Thee und Obst herein. Sie
waren in gestreifte seidene Kalats gekleidet, hatten Fuchspelzmützen auf und
grüne Schärpen um den Leib. Es waren seine Söhne. Die Sultana war
bei einem andern Sultan auf Besuch. Die Jurte war geräumig. Aus der
einen Seite verbargen seidene Vorhänge die Schlafstelle. Daneben standen ein
Berkut, d. h. ein großer schwarzer Jagdadler und ein Falke, die mit Ketten
an ihre Sitzstäbe gefesselt waren, und ich bemerkte, daß alle Eintretenden sich
in respectvoller Entfernung von dem gefiederten Monarchen hielten. Auf der
andern Seite befanden sich drei Böckchen und zwei Lämmer in einem kleinen
Verschlag. Hinter mir lag ein Hausen von Kasten und bocharischen Teppichen,
so wie der große Kumisschlauch der Sultansfamilie. Zwischen uns und der
Thür saßen acht oder zehn Kirgisen, welche alles, was ich that, mit großer
Aufmerksamkeit beobachteten, und draußen war eine Gruppe von Weibern,
deren kleine schwarze Augen sich starr auf den Fremden hefteten. Meine Jagd¬
jacke, meine Aufschlagstiefeln und mein Filzhut waren Gegenstände von Inter¬
esse, aber mein Gürtel mit den Pistolen darin bildete den Hauptanziehungs¬
punkt. Der Sultan wünschte die letztern zu untersuchen, ich händigte ihm
eine ein, er drehte sie nach allen Seiten um und sah in die Läuse hinein.
Dies genügte ihm nicht, er wünschte mich damit schießen zu sehen und bot
ein Böckchen als Scheibe an, indem er wahrscheinlich dachte, daß ein so
kleines Feuergewehr keine Wirkung haben werde. Ich lehnte sein Böckchen
ab, riß ein Blatt aus meinem Skizzenbuch, machte ein Ziel in die Mitte und
gab es dem Kosaken, welcher es als Scheibe aus einen gespaltenen Stock
steckte. Der Sultan erhob sich, und alle verließen die Jurte. Ich folgte ihm
und ging nach der Scheibe. Mir wohlbewußt. daß wir unter gefährlichen
Leuten waren, nahm ich mir vor. ihnen zu zeigen, daß selbst diese kleinen
Dinger gefährlich seien. Ich entfernte mich fünfzehn Schritt von der Scheibe,
drehte mich um und schoß ein Loch durch das Papier. Der Sultan hielt
dies augenscheinlich für ein Taschenspielerstückchen und sagte etwas zu seinem
Sohn, welcher sogleich in die Jurte lies und seinem Vater eine chinesische
Holzschüssel brachte. Diese hing er eigenhändig auf den Stock, und als er
zu seiner Stelle neben mir zurückgekehrt war. sandte ich eine Kugel hindurch.
Die beiden Löcher wurden sorgfältig untersucht, und jetzt war man hinläng¬
lich überzeugt. Es war dies aber eine erwünschte Gelegenheit, die Vortreff¬
lichkeit unserer Bewaffnung zu zeigen; denn die Leute, unter denen wir uns
befanden, waren eine Nüuberhorde, welche die Autorität der chinesischen Be¬
hörden für nichts achtete und ihre Raubzüge ungestraft machte."
Es wurde nun ein Gelage zubereitet, bei dem ein Kessel mit gekochtem
Hammelfleisch die Hauptrolle spielte. Ein Teppich wurde ausgebreitet, aus
den sich der Sultan und sein Gast setzten. Um sie reihten sich die ältesten
und angesehensten Männer der Horde, dann folgten in einem weiteren Kreise
die weniger Vornehmen und die Knaben. Weiber und Mädchen nahmen den
letzten Play ein, mit Ausnahme der Hunde, welche in einiger Entfernung
standen und bei dem Vorgang augenscheinlich ebenso interessirt waren, als
die andern. „Als alle Platz genommen, kamen zwei Männer in den inner¬
sten Kreis, jeder mit einem gußeisernen Gesäß von der Gestalt einer Thee¬
kanne. Der eine näherte sich dem Sultan, der andere mir, und sie gössen
uns warmes Wasser über die Hände. Für ein Handtuch hatten wir selbst
zu sorgen. Diese Ceremonie wurde mit jedem Anwesenden vom Sultan bis
zum Hirten vorgenommen, nur die Weiber und Kinder blieben unberücksichtigt.
Nachdem die Abwaschungen vollzogen waren, brachten die Köche lange Holz¬
tröge, den Mulden der Fleischer ähnlich, herein, in denen Haufen von ge¬
kochtem Hammelfleisch lagen. Der eine Trog, in dem sich zugleich gekochter
Reis befand, wurde zwischen den Sultan und mich gestellt. , Jedermann zog
sein Messer aus der Scheide, von Tellern wurde völlig abgesehen. Mein
Wirth suchte aus der dampfenden Masse ein schönes Stück heraus, steckte mir
es in die Hand und begann dann sich selbst zu versorgen. Dies war das
Zeichen, über die Speisen herzufallen. Die Kirgisen, welche den Trögen am
nächsten saßen, griffen nach den Stücken, welche ihnen am meisten gefielen,
aßen ein Stück davon und gaben es dann dem hinter ihnen Sitzenden; nach¬
dem dieser davon das Beste abgebissen, gelangte das Stück in den dritten
Kreis, von diesem zu den Knaben und dann, nachdem es durch alle diese
Zähne und Finger Spießruthen gelaufen, erreichte der Knochen, fast alles
Fleisches beraubt, die Frauen und Mädchen. Endlich, nachdem diese
armen Geschöpfe daran genagt, bis nichts mehr daran war, wurde der Knochen
den Hunden zugeworfen. Im Verlauf des Mahles bemerkte ich, wie drei
kleine nackte Rangen hinter dem Rücken des Sultans, dessen Aufmerksamkeit
auf die Kreise vor ihm gerichtet war, auf unsern Trog zukrochen. Ihre klei¬
nen Augen beobachteten ängstlich seine Bewegungen, und als sie nahe genug
waren, rissen ihre Hände ein Stück Fleisch heraus, worauf sie sich in der¬
selben verstohlenen Weise hinter einen Hausen Lederdccken zurückzogen und
ihre Beute verschlangen. Ich sah sie dies mehrmals thun und ergötzte mich
höchlich an ihrer Schlauheit. Jenseit der Weiber und umgeben von einem
Nudel Hunde saß, einen dürren Schenkelknochen in der Hand, ein Kind von
etwa vier Jahren. Ich verwunderte mich erst darüber, aber als ich Knochen
unter sie werfen und die Hundegesellschast aus diese zustürzen sah, begriff ich
den Plan des Kleinen. Er ließ sich durch ihr Geheul nicht schrecken, seine
knöcherne Waffe fiel gewichtig auf ihre Nasen, und häufig trug er die Beute
davon. So verschwanden die gekochten Schafe in merkwürdig kurzer Zeit,
dann wurde in großen Schüsseln das Wasser, in denen sie gesotten worden,
herumgereicht und von den Kirgisen mit augenscheinlichem Behagen getrun¬
ken. Hierauf gössen wieder zwei Maun uns warmes Wasser über die Hände
und nun stand alles auf und ging wieder an seine Geschäfte."
Der Sultan wünschte dann auch die Büchsen der Fremden kennen zu ler¬
nen und war außerordentlich erstaunt, als er Atkinson und seine Leute ein
Papier von sieben Zoll Breite-und Länge auf zweihundert Schritt weit treffen sah,
während seine Kirgisen die Scheibe auf sechzig Schritt fehlten. Die Reisenden
wünschten am nächsten Morgen aufzubrechen. Der Sultan begleitete sie bis zu
einem andern, ihm ebenfalls angehörigen Ani, und sie hatten bei dieser Tour
Gelegenheit, an einer Jagd Theil zu nehmen, bei welcher sie die Geschicklichkeit
und Starke seines Jagdadlers kennen lernen sollten.
„Nachdem wir unsern Morgenimbiß eingenommen, wurden für mich und
den Sultan Pferde gebracht. Ich sollte diesen Tag eines seiner besten Rosse
reiten, einen schönen Grauschimmel, welchem mein englisches Gebiß gar nicht
zu gefallen schien. Auch der Sultan und seine beiden Söhne ritten schöne
Thiere. Der älteste Knabe trug den Falken, welcher nach dem Federwild
ausfliegen sollte. Ein wohlberittener Kirgise hielt den Adler, welcher an eine
Sitzstange befestigt war, die in einer Art Fahncnschuh auf seinem Sattel
stand. Der Adler trug Fesseln und eine Kappe und schien vollkommen ruhig.
Im Gefolge des Sultans waren seine drei Jäger oder Leibwächter mit ihren
Gewehren und etwa zwanzig andere Kirgisen in hellfarbigen Kalats, von
denen mehr als die Hälfte mit Streitäxten bewaffnet waren." —
„Wir waren' noch nicht weit gekommen, als verschiedene Stücke Roth¬
wild aus dem Schilf eines stehenden Gewässers hervorsprangen und in der Ent¬
fernung von etwa dreihundert Uards von uns über die Ebene hinsetzten. Augen¬
blicklich wurden dem Adler die Kappe und die Fesseln abgenommen, er sprang
von seiner Stange auf und stieg in die Lüfte empor. Ich beobachtete ihn,
als er sich drehte, und glaubte, er habe die Thiere nicht gesehen, aber das
war ein Mißverständniß. Er hatte sich setzt zu einer beträchtlichen Höhe er¬
hoben und schien sich eine Minute lang sammeln zu wollen. Dann that er
ein paar Flügelschläge und schwebte in gerader Richtung auf seine Beute zu.
Ich konnte nicht bemerken, ob er seine Fittige bewegte, aber er schoß mit
furchtbarer Schnelligkeit dahin. Die Kirgisen stießen ein Freudengeheul aus
und wir galoppirten auf die flüchtigen Hirsche zu. Als wir noch zweihundert Yards
von ihnen entfernt waren, stieß der Adler auf seine Beute herab. Der Hirsch
that einen Sprung nach vorwärts und siel. Der Adler schlug eine Klaue in
seinen Hals, die andere in seinen Rücken und hackte dann mit seinem Schnabel
die Leber des Thieres heraus. Der Kirgise, der ihn unter seiner Aufsicht
hatte, sprang von seinem Pferd, warf ihm die Kappe über den Kopf und
befestigte ihm die Fesseln wieder an den Füßen und nahm ihn dann ohne
Schwierigkeit von dem Wilde weg. Er bestieg hierauf sein Pferd wieder, ließ
von seinem Gehilfen den Adler auf seine Stange setzen, und der letztere war
zu einem neuen Flug bereit."
In dieser Weise jagt man Füchse, wilde Ziegen und Rehe. Hunde
nimmt man bei solchen Jagden nicht mit, da der Barkul sie anfallen und
todten würde. Man behauptet, daß er sogar den Wols angreist und über¬
windet. Kein Thier der Steppe entgeht ihm, es müßte denn im Stande sein,
sich in eine der Höhlen in den Felsen zu verkriechen.
Die Jäger fanden dann noch wilde Schweine, deren mehre erlegt wur¬
den, wobei aber auch das Pferd vori einem der Kirgisen unter den Hauern
eines Ebers fiel. Dann ritt man in scharfem Trabe nach dem Ani, wo man
übernachten wollte. „Bald saßen wir in der Jurte des Sultans und es wurde
in großen Bechern Kumis herumgegeben. Ich gestand, Thee vorzuziehen,
und dieser war bald bereitet, aber als die Kirgisen zusahen, wie ich trank,
war ich überzeugt, daß sie mich für einen vollständigen Barbaren hielten und
mich wegen meines Mangels an Geschmack bemitleideten."' Dann wurde
dampfendes Hammelfleisch aufgetragen und rasch verzehrt, worauf man sofort
schlafen ging.
„Eben graute der Tag, als ich hinausging, um nachzusehen, wo wir
uns befanden, und die Schneegipfel des Syanschan entdeckte. Sie hoben sich
kalt und gespenstisch von dem tiefblauen Himmel ab. Bald darauf wurden
sie von den Strahlen der Sonne getroffen und leuchteten wie Rubinen. Ich
saß auf dem Boden und beobachtete die Veränderungen der Färbung, bis die
ganze Landschaft erleuchtet war. Unmittelbar um mich war ein lebensvolles
Bild. Auf der einen Seite molten Männer mehr als hundert Stuten und
trugen die ledernen Milcheimer nach dem Kumisschlauch in der Jurte. Da¬
neben waren die Fohlen in zwei langen Reihen an Pflöcke befestigt, die in
den Boden getrieben waren. Vor mir und auf der andern Seite molten
die Weiber Kühe. Schafe und Ziegen, und eine kleine Strecke hinter diesen
sah man Kameele, die ihre Jungen säugten. Rings um den Ani war die
Steppe voll animalisches Leben. Der Sultan sagte mir, daß hier mehr als
zweitausend Pferde, halb so viel Ochsen und Kühe, zweihundertachtzig Kameele
und mehr als sechstausend Schafe und Ziegen weideten. Das Geschrei der
Kameele, das Gebrüll der Bullen, das Wiehern der Pferde, das Blöken der
Schafe und das Geinecker der Ziegen bildete ein Concert, wie ich es in Europa
nie gehört hatte."--
Von Sultan Baspaschan begab sich Atkinson zu Sultan Sabeck, den er
glücklich erreichte, nachdem er vorher mehren Hordenführern geringern Ranges
und dem berüchtigten Räuber Kubaldos einen Besuch abgestattet hatte. Der
Weg ging theils über Weidegründe, theils über nackte Steppen und kahle
Hügelwellen. An einer Stelle war die Steppe auf eine weite Strecke mit
den Löchern und Geweben von Taranteln bedeckt, weiterhin schössen sie mehre
Fasanen, noch weiterhin passirten sie Salzseen, deren Ränder in der Abend¬
sonne prachtvoll wie Ketten von Rubinen und Diamanten flimmerten. Ein¬
mal erblickten sie auf der Steppe das Spiel der Fata Morgana: einen schönen
See, an dessen Gestade ein große Stadt sich ausbreitete, einzelne hohe Bäume
und einen ausgedehnten Wald, alles so getreu gemalt, daß es schwer war,
sich zu überzeugen, wie man nur ein Bild, keine Wirklichkeit vor sich habe.
Endlich erreichte man den Ani des Kubaldos, der aus siebenundzwanzig Jurten
bestand. Die Fremden wurden wie bei Baspasihan freundlich empfangen, mit
Thee, getrocknetem Obst und Hammelfleisch bewirthet und überhaupt mit Aufmerk¬
samkeit behandelt. Indeß merkten sie bald, daß die Räuber etwas gegen sie
im Schilde führten. Der Räuberhauptmann that verdächtige Fragen, er-
kundigte sich nach den Feuerwaffen der Reisenden, wünschte die Pistolen At-
kinsons zu kaufen und erweckte auch sonst Argwohn, indem er namentlich
wollte, die Fremden sollten aus ihrer Reise zu Säbel seinen Freund Ultigun
besuchen. Atkinson stellte sich, als werde er diesem Wunsche folgen, beschloß
aber, einen andern Weg einzuschlagen. An dem Essen vermochte er nicht Theil
zu nehmen, da die Eingeweide des geschlachteten Schafes nach echter Kirgisen¬
sitte so wenig gereinigt waren, daß ganze Klumpen verdauten Grases in
den Kesseln schwammen. Die Leute des Kubaldos sahen außerordentlich
wild aus. Die meisten hatten Pelzröcke an, einige auch Kleider aus Pserdc-
haut, bei denen die Mähne am Rücken herabhing, was ihnen ein besonders
abenteuerliches Aeußere gab. Atkinson 'fürchtete nicht, während seines
Aufenthaltes im Ani selbst angegriffen zu werden und schlief ruhig neben dem
Nüuberhauvtmann. Als er aufstand, war Kubaldos fort, und ein Kosak
meldete ihm, daß er während der Nacht mit einigen seiner Leute davon-
geritten war. Dies war seltsam, da Kubaldos sie am Tage zuvor eingeladen
hatte, noch einige Zeit bei ihm zu bleiben, und Atkinson beschloß, sofort auf¬
zubrechen. Man frühstückte, sattelte die Pferde, steckte frische Zündhütchen auf
die Gewehre und ritt fort.
„Ich befahl dem Kosaken, einen der Kirgisen nach Kubaldos zu fragen.
Der Mann antwortete, er sei gegangen, um nach einigen Pferden zu sehen'
und werde um Mittag wiederkommen. Ich ließ ihn dann Müßen und be¬
dauern, daß ich nicht aus seine Heimkunft warten könne. Der Kirgise sagte,
daß er Befehl habe uns nach dem Ani Ultiguns zu führen, wenn wir vor
der Rückkehr seines Häuptlings aufzubrechen wünschten. Er wurde indeß be¬
nachrichtigt, daß wir seines Beistandes nicht bedürften, was ihn zu wundern
schien. Er versicherte, daß Kubaldos wegen unsres Besuchs bei seinem Freunde
Vorkehrungen getroffen Hütte und böse sein würde, wenn wir ihn nicht auf¬
suchten. Ich trug ihm auf, dem Häuptling für seine guten Absichten gegen
uns zu danken und ihm zu sagen, daß es mich betrüben würde, wenn er
unsere Abreise übel nähme, daß wir aber seinen Zorn nicht fürchteten und
uns im Nothfall vertheidigen könnten und wollten."
Nachdem sich die Reisenden von einer Sklavin, welche, von Kubaldos ge¬
raubt, bei einem entfernten kleinen Ani Dienste verrichtete, nach dem Wege
zu Sultan Säbel erkundigt, ritten sie in scharfem Trabe davon und gelangten
nach einigen Stunden von der Grassteppe in eine sandige Wüste und drei
Stunden später an einen Fluß, wo sie sich für die Nacht lagerten. Hier hiel¬
ten sie Rath, was weiter zu thun sei. Die meisten glaubten, daß Kubaldos
sie mit seiner Bande verfolgen werde, und es war sehr wahrscheinlich, daß er
bald nach Mitternacht an dieser Stelle eintraf. Man bereitete sich daher vor,
ihn blutig zu empfangen. Die Büchsen wurden geladen, die Pferde bei
Dunkelwerden in die Nähe des Lagerplatzes gebracht und dann Wachen aus¬
gestellt. Ein Kosak, ein Kalmuck und zwei Kirgisen sollten die erste Wache
übernehmen, zwei Kosaken und zwei Kirgisen die zweite, Atkinson selbst mit
dem Dolmetscher Tschackaboy und zwei Kalmücken die dritte. Außerdem wußte
man, daß die Hunde jede Annäherung von Menschen oder Thieren melden
würden.
„Alle mit Ausnahme der Wachen waren bald eingeschlafen. Als ein
Kosak mich anrührte, sprang ich auf, überrascht, daß die Stunde so schnell
vergangen. Meine drei Wachtgesährtcn standen auf ihrem Posten und die
bisherigen Wachen verließen uns, sie hatten kein anderes Geräusch als das
Murmeln des Flusses gehört, auch hatten die Hunde nicht angeschlagen. Die
Nacht war schön, kein Wölkchen zu sehen, die Sterne strahlten mit großer
Klarheit, und die tiefste Stille herrschte über der ganzen Gegend. Die Natur
schien zu schlafen, wir hörten auf dem Rasen nicht einmal unsre eignen Fu߬
tritte, und nirgend entdeckte unser Auge einen Gegenstand in der tiefen Finster¬
niß, welche die Steppe einhüllte. Da wurde plötzlich die ganze Ebne von
einem blauen Licht erleuchtet. Ich fuhr einen Augenblick zusammen, und in¬
dem ich dann aufschaute, sah ich ein großes Meteor von prachtvoll blauer
Farbe langsam von Süden nach Norden über den Himmel ziehen. Nach
etwa dreißig Secunden zersprang es mit einem großen Blitz entzwei und ein
Geräusch wie ferner Kanonendonner ließ sich hören. Der Lärm erweckte einige
von unsern Leuten, welche glaubten, wir hätten unsere Gewehre abgeschossen.
Bald erschienen andere Meteore, sie waren klein und von hellrother Farbe,
schössen mit großer Schnelligkeit herab und ließen häufig einen langen Schweif
von weißen Funken hinter sich. Gegen halb zwei Uhr wurden sie sehr zahl¬
reich und immer schöner. Einige waren hell karmoisinroth, andere tief pur¬
purblau. Sie sielen in verschiedenen Richtungen, aber vorzüglich gegen Nord¬
west, und so ging es länger als eine Stunde sort, während welcher Zeit ich
ihrer hundert und acht zählte. Oft sah ich zwei oder drei aus einmal. Dies
begab sich am 11. August neuen Stils.
Wahrend dies vor sich ging, vergaß ich Kubaldos und seine Bande.
Noch saß ich da und sann über das Schauspiel nach, von dem ich Zeuge ge¬
wesen, als ein neben mir liegender Hund zu heulen begann. Wir blieben voll¬
kommen still — bald darauf wiederholte co es, und jetzt fingen auch die an¬
dern Hunde an dumpf zu heulen. Tschuckaboy und einer der Kosaken, welche
neben mir lagen, erklärten, daß die Hunde etwas auf der Steppe hörten.
Ein langer schmaler Lichtstreifen ließ sich jetzt am nordöstlichen Horizont sehen.
Bald darauf bellten die Hunde. Die Kirgisen hießen sie still sein, da ihr
Gebell die Verfolger auf unsre Spur leiten mußte. Sie hätten uns aber
nicht unvorbereitet überfallen können, denn wir waren auf unsrer Hut. Ich
wies jetzt die Kosaken an, nicht eher als aus meinen Befehl zu schießen, und dann
sollten nur vier aus einmal feuern, jeder auf einen bestimmten Kirgisen von
rechts angefangen. Während sie wieder luden, sollten die andern vier schießen."
Die Hunde hatten sich nur geregt, weil Rehe in der Nähe waren. Als
es hell wurde, ließ man daher ruhig wieder die Pferde grasen, ging den
Fasanen nach, die hier ausgespürt worden, und ritt nach einem guten Früh¬
stück weiter. „Die Kirgisen dachten indeß, daß wir mit Kubaldos noch nicht
fertig wären. Nach dem, was die gefangene Frau gesagt, hatten wir eine
lange Tagereise vor uns, ehe wir die Weidegründe am See erreichen konnten.
Fünf bis sechs Stunden ritten wir über eine sandige Fläche, auf der an
mehren Stellen die Salsolapflanze wuchs. Dann wurde das Land wellen¬
förmig und in weiter Ferne konnten wir die Gipfel anscheinend hoher Berg¬
kämme' erblicken. Dann ritten wir über eine Grasflüche und weiterhin durch
eine Gegend, auf welcher Zwerggebüsch wuchs. Um die Mitte des Nach¬
mittags bekamen wir zuerst den See zu Gesicht, von dem die Frau gesprochen.
Derselbe war von einem Gürtel grüner Wiesen umgeben. Im Süden zeig¬
ten sich einige hohe Bergrücken, welche sich nach Westen hin verzweigten. Wir
wären etwa fünfzehn Werst von diesen, indem wir grade auf die Mitte des min¬
destens vierzig Werst langen Sees zürnten, und es war nothwendig uns zu ent-
scheiden, nach welcher Seite wir uns wenden sollten. Nach einiger Ueberlegung
entschlossen wir uns, südwärts zu gehen, da wir dachten, daß diese Route uns
eher nach des Sultans Ani bringen würde. Nachdem wir gegen zehn Werst
weiter geritten, änderte sich die Landschaft völlig. Ungeheure Granitblöcke
lagen über den Boden hingesäct und kleine Schluchten zogen sich nach den
felsigen Kämmen hinaus. Hier singen unsre Hunde ein Böckchen von einem
Nudel wilder Ziegen. Wir ritten ziemlich in südlicher Richtung weiter, wo
wir eine gute Aussicht erreichten. Ich konnte in dieser Gegend keine Weide¬
plätze sehen, was mich überzeugte, daß Sabcck noch weiter südlich zu suchen
sei. Plötzlich hörte der Bergzug auf. und ein weites Thal streckte sich nach
dem Gebirge im Westen hin. Zwischen den beiden Bergkämmcn lag ein
Theil des Sees, der sich gegen fünfzehn Werst in das Thal hineinzog und ungefähr
vier Werst breit war. Unmittelbar uns gegenüber lief eine lange Felscnzunge
in das Wasserbecken hinaus, wo sie mit einer steilen Klippe endigte.
Während ich diese Scene zeichnete, bemerkte einer der Leute, wie etwa
auf der Mitte des Berges an der andern Seite des Sees Rauch aufstieg,
welcher, als er auf ihn hinwies, die Aufmerksamkeit der ganzen Gesellschaft
auf sich lenkte. Die Kirgisen sagten, daß Kubaldos und seine Rüuberschar
vor uns angekommen seien, indem sie gewußt, daß wir diesen Weg nehmen
müßten. Da es spät war, beschlossen wir, unser Lager am Seeufer auf¬
zuschlagen. Die aus dem Berge mußten uns beim Hinabsteigen sehen, da sie
gewiß Wachen ausgestellt hatten. In kurzer Zeit erreichten wir das Gestade
und fanden einen schönen Platz zwischen Gebüschen und gutem Gras, etwa
eine Werst südlich von jener Landzunge. Wer auch die Leute waren, deren
Feuer wir gesehen, sie mußten sehr bald an dem aufqualmcnden Rauch unsres
Feuers sehen, daß sie Nachbarn hatten.
Während die Leute unser Abendessen bereiteten, untersuchte ich mit einem
Kosaken und Tschuckabcn, die schmale Felsenzunge. Ich sand. daß sie an
einigen Stellen vier, an andern zwanzig Schritt breit war. .An einigen
Stellen war der Damm mit Gras bedeckt, an andern nackter Fels, zu beiden
Seiten war tiefes Wasser. Am andern Ende starrten seltsam geformte Massen
eines dunkelrothen Gesteins empor, darunter eine mit einer tiefen Grotte.
Während ich mich damit beschäftigte, diese wunderbare Bildung zu zeichnen,,
untersuchten meine Begleiter sie in der Absicht, sie zu unserm Nachtquartier
zu machen. Sie sagten, es sei kein Zweifel, daß eine große Anzahl von
den Leuten des Kubnldos zur Hand seien, und daß man sich des Nachts,
wenn wir schliefen, auf uns stürzen würde. Hier wäre eine Stelle, wo w^
uns ihrer erwehren könnten und wenn es fünfhundert wären. Ein Theils der
Landzunge war nicht breiter als zwölf Fuß, die Stelle war zerklüftet und es
lagen große Blöcke darüber. Die schmale Passage befand sich gegen hundert Aards
vom Ufer und war vierzig Uards lang. Wir konnten jedermann, der sich dahin
wagte, niederschießen, und unser erwarteter Besuch war nicht gewohnt, einem
tödtlichen Feuer die Stirn zu bieten. Wir kamen überein, bis zu völligem
Dunkelwerden in unserm Lager zu bleiben, dann die Pferde an das andere
Ende der Felsenzunge zu schaffen und sie dort unter der Obhut von vier Kir¬
gisen zu lassen, welche auch die Hunde mit sich nehmen und ^sie hindern soll¬
ten zu bellen. Die letzteren sind so gut gezogen, daß wir nicht zu fürchten
hatten, sie würden uns verrathen.
Nachdem wir diesen Plan erörtert, kehrten wir in das Lager zurück und
gaben die nöthigen Befehle zu seiner Ausführung. Während des Abends
waren verschiedene Männer auf den Bergen gesehen worden, die uns beob¬
achteten. Sie konnten alles sehen, was mit unsern Pferden vorgenommen
wurde, welche, als es dämmerte, herbeigebracht und zwischen uns und dem
See an Pflöcke festgemacht wurden, wie wenn wir die Nacht hier bleiben
wollten. , Man legte Haufen von Brennholz auf das Feuer, welches mit
Heller Flamme emporschlug und den Räubern zeigte, daß wir uns zum Schla¬
fen vorbereiteten. Aber als die Nacht hinreichend dunkel geworden, wurden
unsere Rosse gesattelt und zurecht gemacht, um nach unserer Feisencitadelle
gebracht zu werden. Zwei Kalmücken blieben zurück, um das Feuer zu unter¬
halten, bis Tschuckaboy sie abrufen würde. Wir ritten dann so lesse als
möglich nach unserm Zufluchtsorte, und nachdem wir das Ende des schmalen
Ganges erreicht, stiegen wir ab und ließen zwei Kosaken mit den Kirgisen
gehen, um unsere Pferde an den vorhin bezeichneten Ort zu schaffen. Die
Kosaken sollten zusehen, daß sie gehörig festgemacht würden, und dann zu
uns zurückkehren, nachdem sie den Kirgisen strengen Befehl ertheilt, die Hunde
ruhig zu erhalten. Wir ließen uns die Satteldecken bringen und bereiteten
uns mit ihnen etwa fünfundzwanzig Schritt vom Ende des schmalen Ganges das
Nachtlager. Ein Kosnk und ein Kirgise legten sich am andern Ende näher am
Ufer hin, um der Annäherung der Räuber zu lauschen; sobald sie diese ver¬
nähmen, sollten sie sich über die Felsen nach uns zurückschleichen. Tschuckaboy
hatte seine Kalmücken vom Feuer weggerufen, und einer derselben wurde als
Wache ausgestellt. Wir fühlten uns jetzt in unserer Position vollständig sicher
und legten uus zum Schlafen nieder. Das Feuer in unserm alten Lager fla¬
ckerte noch immer mit weithin leuchtender Flamme auf. Ich beobachtete sein
zitterndes Spiegelbild auf dem Wasser ein Weilchen, während ich auf dem
Ufer lag, und siel dann in tiefen Schlaf.
Ehe noch die erste Wache vorüber war, kamen die beiden Borposten zu
uns herangekrochen und meldeten, daß die Schurken in unserm Lager wären.
Büsche waren auf das Feuer geworfen worden, und die auflodernden Flam¬
men hatten unsere Schildwachen Leute zu Pferde erblicken lassen. Ich gab jetzt
Befehl, wenn jene sich auf dem schmalen Theil der Landzunge zeigen sollten,
so sollten nur drei Mann auf einmal feuern. Dies würde uns drei Salven
geben, und ich war überzeugt, daß mein Gewehr in der Vertheidigung des
engen Passes gute Dienste thun werde. Zwei Kosaken und ich wollten zu¬
erst schießen, dann Tschuckaboy und seine Kalmücken, dann die andern. Nach¬
dem dies allen,klar gemacht worden, warteten wir gelassen auf die Ankunft
des Feindes.
Es währte nicht lange, so hörten wir die Tritte von Pferden am Ufer,
aber es war zu dunkel, um irgend einen Gegenstand zu erkennen. Die Räuber
kamen langsam daher geritten und hielten plötzlich an der Landzunge. Mehre
sprachen sehr rasch, aber die Kirgisen konnten nicht hören, was sie sagten.
Ein Theil der Verfolger rückte dann auf der Landzunge vor und wir ver¬
nahmen, wie sie näher kamen. Sie erreichten endlich die schmale Stelle, wo
nicht mehr als drei Mann nebeneinander reiten konnten. Dies brachte sie
zum Stillstehen. Aus unserer Seite war jede Büchse bereit, aber wir konnten
keinen Menschen sehen. Sie standen da und sprachen, aber keiner wagte es,
hinüberzureiten. Jetzt war jedes Wort von ihnen deutlich zu hören, und
bald erkannten wir auch die Stimme von Kubaldos. Die Bande blieb an
dieser Stelle gegen zehn Minuten, dann gingen sie nach dem Ufer zurück und
ritten im Trabe nach Norden ab. Die Kirgisen erklärten uns jetzt, was sie
gehört. Kubaldos war sehr ärgerlich, daß wir entwischt, nannte uns Feig¬
linge und sagte seiner Bande, daß wir leicht gefangen werden könnten. Er
war überzeugt, daß wir nach dem Nordende des Sees gegangen seien und
daß er durch rasche Verfolgung uns bei Tagesanbruch erreichen und in die
Moräste jagen könne. Selbst wenn wir diese glücklich passirten, würde er
uns sicherlich wenigstens nach der Steppe treiben, von wo wir Sultan Sa-
becks Ani nicht unter drei Tagen erreichen könnten. In der Zwischenzeit
könnte man uns leicht abschneiden, da unsere Pferde wegen Wassermangel
entkräftet sein würden.
Die Kirgisen wünschten, daß wir so rasch als möglich nach Süden zu
aufbrachen, aber diesem Plan wollte keiner von meinen Leuten beistimmen.
Wir kamen endlich überein, mit Tagesgrauen wegznreiten, ohne vorher die
Pferde gefüttert und selbst gefrühstückt zu haben. Denn mit dem Anbruch
des Morgens würde Kubaldos sein Mißverständniß gewahr werden, und mit
müden Pferden wahrscheinlich vierzig Werst von uns entfernt sein. Wir hielten
aufmerksam Wache, wurden aber nicht wieder gestört, bis die Pferde zum
Satteln herbeigebracht waren. Dies geschah im Dunkeln, und als der erste
schwache Strahl des Morgenlichts im Osten sich zeigte, wurden die Pferde
über die Felsenzunge geführt. Wir wendeten uns jetzt nach Süden, indem
wir dem Seeufer folgten, und es war bald hell genug, daß wir die Spur
unsrer Feinde erkennen konnten. Die Kirgisen meinten, es müßten vierzig bis
fünfzig Mann mit Kubaldos sein, welcher ohne Zweifel sicher war. daß er
mit dieser Uebcrmncht Sieger bleiben müßte. Nachdem wir das Ende des
Sees erreicht, folgten wir ihrer Spur und ritten durch eine schmale Furt.
Dies brachte uns auf die Ostseite, und wir gingen jetzt auf den Berg zu,
wo unsre Gegner gelauert, und zogen uns an seinem Fuß hin.
Das Tageslicht breitete sich jetzt rasch über Berg und Steppe aus und
gab dem Pflanzenwuchs um den See eine tiefe sammtgrüne Färbung. Wir
folgten noch immer der Spur unsrer Feinde und fanden jetzt, daß sie von
der andern Seite des Gebirgs gekommen waren. Der Rauch, den wir gesehen,
war von einem Feuer aufgestiegen, welches ihre Kundschafter sich gemacht
hatten. Ein zweistündiger Ritt brachte uns zu einem kleinen See mit gutem
Gras, wo wir deutliche Spuren entdeckten, daß dies ihr Lagerplatz gewesen
war. Wir beschlossen hier unsre Pferde weiden zu lassen, selbst ein Frühstück
einzunehmen und dann weiter zu gehen und Sabeck aufzusuchen. Da wir
unsern Thieren hinreichend Zeit zum Fressen lassen mußten, so schlug ich einem
Kosaken und Tschuckaboy vor, mit mir den Berg zu ersteigen und nach dem
Ani des Sultans Umschau zu halten. In ungefähr einer Stunde waren wir
auf dem Gipfel, obschon das Hinaufsteigen an einigen Stellen ziemlich schwie¬
rig war. Das Gestein war dunkelrother Granit, durch den sich von Osten
nach Westen dicke Quarzadern hindurchzogen. Vegetation war kaum zu sehen,
und der Berg hatte ein sehr zerklüftetes und ödes Aussehen. Kein Ani war
zu erblicken, ebenso wenig irgend ein lebendes Wesen, so weit sich auch diese
unermeßliche Ebene unter uus ausdehnte. Wir suchten an den Ufern des
Sees nach Menschen, aber es war niemand zu entdecken. Nachdem wir ver¬
schiedene große Klippen überstiegen, erreichten wir einen Punkt, der eine Aus¬
sicht mehr nach Süden bot, und siehe da, hier fanden wir den von der ge¬
fangenen Kirgiscnfrau als Merkzeichen von Sabecks Lager erwähnten spitzgipf-
ligen Berg. Dieser war ein vortrefflicher Wegweiser für uns, und in weniger
Zeit als wir zum Heraussteigen gebraucht, gelangten wir wieder zu unsern
Leuten hinab, wo wir alles marschfertig antrafen. Wir verließen das Weide¬
land und betraten eine dürre Wüste von Sand und Kieseln, unter denen ich
mehre schöne Achate und Karneole entdeckte. Hätte ich Zeit gehabt, so hätten
sich viele gute Proben davon sammeln lassen. Erst nach einem Ritt von mehr
als fünf Stunden sahen wir den Gipfel des Berges vor uns, auf den wir
hinzureiten hatten. Wenn der Ani dort war, so konnten wir ihn vor Dunkel¬
werden nicht erreichen, und jetzt begannen wir zu fürchten, daß wir nicht im Stande
sein würden Wasser zu finden. Wir erblickten im Südwesten die schneeigen
Gipfel des Syanschan viel näher, als wir sie je bisher gesehen, und ein kühler
Wind von dieser Seite gestattete uns, unsre Pferde zu scharfem Lauf arm-
treiben ohne sie zu ermüden. Noch ein paar Stunden, und der kegelförmige
Berg trat stolz und kühn aus der Ebne hervor. Indem die Kirgisen auf
gewisse dunkle Linien zeigten, die in der Ferne sich über die Steppe hinzogen,
sagten sie. das seien Wcidegründe, die wir vor Sonnenuntergang erreichen
würden, und um ihre Verheißung wahr zu machen, setzten sie ihre Pferde in
raschen Trab. Sie hatten Recht gehabt. Eine Stunde vor Sonnenuntergang
sahen wir nicht blos Weideplätze, sondern auch weidende Kameele und Pferde.
Dies war ein freudenvoller Anblick für Mensch und Thier, und bald daraus
erreichten wir auch die Herden."
Die Reisenden hatten das Ende ihrer Mühen und Gefahren erreicht.
Sie waren gerettet. Die Leute im Ani nahmen sie freundlich auf und führ¬
ten sie am nächsten Morgen zu ihrem Sultan, der acht Stunden weiter
lagerte und den Fremden ebenfalls wohlwollend begegnete. Sabeck war einer
der reichsten Herdenbesitzer dieser Gegend, er war reicher wie der wieder zu
Gnaden gekommene Hiob, denn er besaß nicht weniger als achttausend Pferde,
sechshundert Kameele und so viele Kühe, Ochsen, Schaft und Ziegen, daß er
sie nicht zählen konnte.
Aehnliche Abenteuer erlebte Atkinson noch eine gute Anzahl. Bald
drohten Räuber, bald Abgründe, bald Tiger. Einmal wäre bei einem Haar
die ganze Karavane in einen Morast versunken, den eine trügerische Decke von
Nasen verhüllte. Ein andermal retteten sie sich mit genauer Noth vor einem
Wirbelsturm. Keinen Abend waren sie sicher, ob sie den Morgen erleben
würden. Aber der gute Stern des Europäers führte sie glücklich aus allen
Gefahren, und nachdem Atkinson seine Mappe mit zahlreichen Skizzen gefüllt,
noch die Gebirge und Seen Ostsibiriens besucht und auch dort fleißig gezeich¬
net, kehrte er wohlbehalten in die Heimath zurück.
Der feindlichen, mindestens zweideutigen Haltung Frankreichs, so wie dem
entschieden feindseligen Benehmen Piemonts gegenüber hat Oestreich, um sei¬
nen Besitz und das Recht der Verträge in Italien für alle Eventualitäten
zu sichern, in seinen italienischen Provinzen militärische Maßregeln getroffen,
die wir in ih'rem Zusammenhang überblicken wollen. Seine Rüstungen und
Vorbereitungen Mit Oestreich nicht wie Frankreich in geheimnißvolles Dunkel,
noch braucht es dieselben zu entschuldigen, denn es bereitet sich nur vor, einem
unrechtmäßigen Angriff kräftig entgegentreten zu können. So ist man in Tu¬
rin wie in Paris gewiß sehr gut über uns") unterrichtet. Jedermann kann
ja die einrückenden Truppen zählen und die Geschütze auf den Wällen sehen.
Dies soll auch das Publicum in Deutschland erfahren. Es wird daraus er¬
sehen, wie vortrefflich die neue militärische Organisation des Kaiserstaates
und wie gut Oestreich gerüstet ist, die anmaßende Einmischungspolitik von der
Seine her am Po zu empfangen.'
Die östreichische Armee in Italien zählte zu Anfang dieses Jahres, wo
sie sich noch auf dem Friedcnsfuß befand, in drei Armeecorps 55,000 Mann
und 120 bespannte Geschütze. Inder ersten Hälfte des Januar rückte ein viertes
Corps aus Wien nebst einigen Bataillonen Grenzern u. s. f. in die Lombardei,
wodurch die Streitkräfte in Italien eine Vermehrung um 25,000 Mann und
48 Geschützen erhielten. Gegen Ende Februar, als eine friedliche Lösung der
Differenzen mit Frankreich unwahrscheinlicher wurde, kündigte die officielle
östreichische Korrespondenz an, daß einige der in dem lombardisch-venetianischen
Königreich stationirten Regimenter, welche ihre Werbbezirke in den entfernteren
Provinzen der Monarchie haben, angewiesen wären, die beurlaubte Mannschaft
einzuberufen. Wenige Tage später, am letzten Februar, (es war der Tag nach
der Ankunft Lord Cowlcys in Wien) erging von Wien der telegraphische Be¬
fehl, die Armee in Italien aus den Kriegsstand zu setzen, was gleichzeitig auch-
mit mehren in den deutschen Provinzen stehenden Corps geschieht. Bereits
treffen die Transporte zur Ergänzung der zur hiesigen Armee gehörenden Re¬
gimenter ein, und die aus allen Punkten der Monarchie einberufenen Urlauber
werden ihre Abtheilungen completirt haben, ehe vierzehn Tage seit Erlaß
des Befehls verflossen sind. Die im Frieden unbespannten Batterien, deren
Cadres immer bestanden hatten, werden mit den in den andern Provinzen
der Monarchie bereits eingekauften Pferden bespannt, der Train orgnnisirt;
die Armirung der Festungen und festen Plätze ist schon vollendet, ihre Appro-
visionirung im Werke. Oestreich steht also in dem Augenblick, wo diese Zeilen
zur Öffentlichkeit gelangt sein werden, vollkommen schlagfertig da. Die öst¬
reichischen Streitkräfte sind durch diese Ergänzungen augenblicklich aus ungefähr
150,000 Mann und 320 disponible Feldgeschütze gebracht, was als authen¬
tischer Effectivbestand betrachtet werden darf. Hierzu kommen die vierten
Bataillone der in Italien stehenden Regimenter, und die in Mobilität gesetzten
Grenzbataillone, welche ebenfalls in kürzester Zeit nachrücken und im Laufe
dieses Monates noch hier eintreffend die disponible Armee abermals um
40,000 bis 50,000 Mann verstärken werden. Daß endlich noch eine beliebige
Anzahl Geschütze zu jeder Zeit aus den andern Provinzen nach Italien geschickt
werden können, brauchen wir kaum beizufügen.
Es sei erlaubt, hier einige, wenn auch nicht officielle. aber ebenfalls
richtige, ans der Organisation der östreichischen Armee abgeleitete Zahlen über
die Stärke zu geben, auf welche diese Armee zu jeder beliebigen Zeit gebracht
werden kann, ohne daß dem Staat und d?r Bevölkerung besondere Opfer ab¬
verlangt, oder außergewöhnliche Anstrengungen gemacht werden müßten. (Der
Verfasser denkt als Soldat nur an die Menschen-, nicht an die Geldkräfte.
D. N.) Das östreichische Heer zählt 62 Jnfanterieregimenter, 32 Jäger¬
bataillone, 14 Grenzinfantcrieregimenter, 16 schwere, 24 leichte Cavalerieregi-
menter, zusammen 288 Escadrons; ferner 14 Artillericregimenter. jedes zu
112 Geschützen, 12 Genie-, 6 Pionier-, 3 Sanitätsbataillone, das Flotillen-
corps und 19 Gcnsdarmcrieregimenter. Auf dem Kriegsstand bestehen die
Jnfanterieregimenter aus 4 Feldbataillonen. 1 Grenadier- und dem Depot¬
bataillon, im Ganzen aus 32 Compagnien zu 200 Mann (die Unteroffiziere
inbegriffen). Jedes Infanterieregiment ist sonach im Kriege 6400 Mann stark.
Dies gibt für die Linieninfanterie
Die Grenzrcgimcnter können 3, im Nothfall auch mehr
Bataillone zum auswärtigen Dienst in das Feld stellen,
Und um alle Abtheilungen auf diese ihre volle Stärke, den Kriegsstand
zu bringen, besitzt jeder Ergänzungsbezirk der Monarchie für die Regimenter
und Bataillone, welche demselben zugewiesen sind, mehr als die erforderliche
Zahl beurlaubter Mannschaft, Leute, die bereits einige Jahre gedient haben,
und nur in den Hauptort des Bezirkes einberufen zu werden brauchen, um von
dort an die auswärts stehenden Regimenter abgesendet zu werden. Ferner hat
jedes Regiment oder Bataillon die Waffen, Kleider und Ausrüstungsgcgcnstände
in seinem Vorrat!), um die zur Ergänzung ausdem obigen Stand einberufeneMann-
schaft unverweilt bekleiden und bewaffnen, sich sonach complet auf den Kriegsfuß
setzen zu können. Eine neue Rekrutirung und Einberufung der nächsten Con-
tingente ist somit erst dann nothwendig, wenn die Armee noch außergewöhn¬
lich über den oben angegebenen systematisirten Stand vermehrt, neue Ba¬
taillone errichtet, oder die im Laufe eines Feldzuges stattfindenden Verluste
ersetzt werden sollen. Wie groß die Hilfsquellen der Monarchie in dieser Be¬
ziehung sind, hat sich schon wiederholt bewährt, und ohne das Land sehr zu
erschöpfen, könnte, wenn es erforderlich sein sollte, die Armee noch bedeutend
vermehrt werden. Und sind von den obigen Zahlen, welche die Stärke der
östreichischen Armee in Kriegszeiten angeben, jetzt gleich nur 450,000 Mann
auswärts verwendbar, so giebt dies zwei Armeen — die eine für Italien
und die zweite für einen anderen Kriegsschauplatz — von einer Stärke, wie
sie in europäischen Kriegen bisher nur selten vorzukommen pflegten.
Unter den weiteren militärischen Veranstaltungen, um die Behauptung
der Lombardei gegen einen eventuellen piemontesisch-französischen Angriff zu
sichern, sind hervorzuheben die an einigen Punkten unternommenen und zum grö߬
ten Theil bereits vollendeten Befestigungen. Diese Punkte sind Piacenza, dessen
Befestigung vervollständigt wurde, und das als einer der bedeutendsten Punkte
am oberitalienischen Kriegsschauplatz betrachtet werden muß; sodann der Brücken¬
kopf von Borgoforte über den Po; Pavia am Ticino, welches in einer unglaublich
kurzen Zeit zu einem starken Place du Moment, hart an der piemontesischen
Grenze gemacht wurde; endlich Laveno am Langen See, der Stationsort für
die dortige Flotille, mit Küstenbatterien. Nächstdem ist Venedig gegen die
Seeseite, so wie auch gegen das Land hin bedeutend verstärkt, ein dem neuen,
sehr starken Kriegshafen von Pola sind alle Werke vollendet worden; in
Dalmatien werden zur Vervollständigung der Küstenvcrtheidigung Anordnungen '
getroffen.
In der hiesigen Bevölkerung — namentlich in den untern Classen, unter
Kleinbürgern und Bauern — herrscht im Allgemeinen keine besonders gefähr¬
liche Stimmung. Die Einberufung der Urlauber für die italienischen Regi¬
menter geschieht ohne Störung, die Leute rücken willig ein, nur äußerst wenige
Fälle kamen vor, daß einige entwichen, obwol in Piemont, unmittel¬
bar an der Grenze, zum Empfang der Deserteure und Flüchtlinge Werbdepots
eingerichtet sind. Die nach den deutschen Provinzen abgehenden Transporte
der einberufenen Urlauber sieht mau oft sogar singend und soldatisch heiter
mit der Eisenbahn'ihre Heimath verlassen. Bezeichnend für die Denkart
und das Urtheil eines Theils der niedern Volksclassen war eine Scene, bei
der Schreiber dieser Zeilen zufällig gegenwärtig war, und wo einer der ein¬
berufenen italienischen Soldaten laut in Anwesenheit einer großen Anzahl
feiner Landsleute sich über die Helden der hiesigen provocirenden Partei aus-
Ueß, sie als Maulhelden bezeichnete und sie als Leute verwünschte, welche die
eigentliche Schuld trügen, daß er und so viel andere, die sein Schicksal theilten,
jetzt abermals ihre Familie und ihren Beruf verlassen müßten. Und diese
Partei ist es auch, welche die Auftritte verursachte, die in den letzten Wochen
stattfanden (die Demonstrationen bei der Leichenfeier des Dandolo, die Verhin¬
derung der Volksbelustigungen), und ohne Unterlaß die große gleichgiltige
Menge der Bevölkerung bearbeitet, theilweise auch terrorisirt. um der Negie¬
rung Verlegenheiten zu bereiten, und besonders um Vorfälle herbeizuführen,
welche für die hiesigen Zustände die Sympathien Europas zu erwecken geeig¬
net wären, und durch welche unsere Exaltirten hoffen, eine Krisis, viel¬
leicht eine Einmischung des Auslandes zu bewirken. In dieser Beziehung
ist es ihnen gelungen, daß die Vergnügungen, welche die letzten Wochen des
italienischen Karnevals so lebhast zu machen pflegen, dieses Jahr in allen
Städten der Lombardei unterblieben, während im Venetianischen der Fasching
keine Störung erlitt. Es genügte, daß einige Schreier erklärten, es sei jetzt, jn
eurem für das Vaterland so wichtigen Moment nicht an der Zeit, sich zu be¬
lustigen; die andern, welche sich gern im Fasching unterhalten hätten, wagten
es nicht zu opponiren, theils aus Furcht insultirt zu werden, theils weil von
den Belustigungen unter diesen Umständen wenig zu erwarten war, und alles
fügte sich dem Gebot der Helden des Pflasters und der Kaffeehäuser. Das
Land erhält durch diese Art Opposition einen Anstrich von Aufregung, die
im Grunde nicht besteht. Es fällt weniger als jemals jemandem, selbst den
Exaltirtesten nicht, ein, aus diesem Schmollen hinauszutreten und gegen die
Regierung ernsthaft zu conspiriren. Man denkt nur an Befreiung durch Fremde,
die freilich bequem genug ist. Sie hegen noch immer die sichere Hoffnung —
und diese ist in der That sehr allgemein verbreitet und bei vielen auf das
festeste eingewurzelt — daß Frankreich mit Oestreich anbinden werde (in welcher
Absicht das allein geschehen könnte, wollen sie sich wol selbst nicht eingestehen)
und daß die Franzosen demnächst vor Mailand erscheinen werden. Ganz
ohne Hehl erzählen sie, Nachrichten aus Marseille und Toulon zu haben über
die Vorbereitungen, die dort getroffen seien, 50,000 Mann nach Genua übcr-
zuschiffen, um sie von dort mittelst der Eisenbahn an den Ticino zu werfen,
wo die piemontesischen Truppen auch in der That in beträchtlicher Zahl (an¬
geblich 50.000 Mann mit 6000 Pferden und 86 Geschützen) concentrirt stehen
— eine Operation, welche wirklich in sehr kurzer Zeit ausgeführt werden
könnte. Zum Schluß meinen sie. worin unbefangene Beurtheiln ihnen einiger¬
maßen beistimmen müssen, daß Piemont, sowol um Frankreich mit Gewalt
in einen Krieg mitzureißen, als auch weil es auf dem einmal betretenen Weg
seiner Politik sich leicht zu einem solchen Schritt verleiten lassen kann, und
in der That auch kaum umzukehren im Stande ist, sich zu Acten offener Feind¬
seligkeit gegen Oestreich bewegen läßt, welche dem letztern Staat das Recht
geben winden, aus seiner Jahre lang gewissenhaft beobachteten Defensive
hinauszutreten.
Der östreichische Kaiserstaat hat bekanntlich durch das kaiserliche Patent vom
29. September 1858, kundgemacht im Rcichsgcsetzblatt vom 7. October 1.858,
Seel. XI^I., ein neues Gesetz über die Ergänzung des Heeres erhalten. Das vierte
Hauptstück handelt von der „Befreiung von der Pflicht zum Eintritt in das Heer".
Nach §. 20 desselben sind befreit: „Die ordentlichen und öffentlichen Studirenden
an einer Universität, einer Rcchtsakcidcmic, an der orientalischen Akademie in Wien,
an einem Obergymnasium und an einer Bergakademie, wenn sie sich g.) über ein
tadelloses sittliches Betragen und mit der allgemeinen Vorzugsclasse, oder, wo eine
solche allgemeine Classe nicht gegeben wird, mit durchaus Vorzugsclasscn im Fort¬
gange ausweisen. Maturitätszeugnisse über das vollendete Gymnasium werden die¬
sen Nachweisen gleich gehalten, b) Studirende, welche im Vorjahr sich an einer
Studienanstalt befanden, wo halb- oder ganzjährige Prüfungen nicht stattfinden,
müssen nachweisen, daß sie im nächstverflossenen Studienjahr in disciplinärer Hinsicht
tadellos waren, und durch ein Kolloquium über jedes Hauptfach darthun, daß sie
den Unterricht mit ausgezeichnetem Fortgang genossen haben."
'
An diesesGesetz reiht sich ein den Verwaltungsbehörden vor kurzem zugekom¬
mener „provisorischer Amtsunterricht zur Ausführung des Gesetzes über die Ergänzung
des Heeres", in dessen 23. §. es in der Erklärung über die Nachweise zur Erlangung
der Befreiung Seitens der Studirenden wörtlich heißt: Folgende Kategorien sind
nicht befreit: Alle Studirenden an ausländischen Unterrichtsanstalten.
Nachweise über bloße Frcqucntation, über Privatstudium, so wie alle Zeugnisse von
ausländischen Studienanstalten zum Zweck der Befreiung selbst eines später im In¬
land ordentlich und öffentlich Studirenden sind nicht anzunehmen."
Wir wollen hier nicht untersuchen, ob sich diese, in dem kais. Patent nicht
enthaltene beschränkende Bestimmung mit den allgemeinen Culturintercsscn unsers
Kcuserflaatcs in Einklang bringen lasse; wir wollen ebenso wenig erörtern, ob da¬
mit der, durch den Ministerialerlaß vom 2. Oct. 1855 ausdrücklich aufrecht erhal¬
tene §. 46 des Ministerialerlasscs vom 1. October 1850 (Rcgblatt. cXXX Stück),
betr. die Studicnrcform an den sser. Universitäten, welcher den sser. Staatsange¬
hörigen gestattet, solche nicht sser. Hochschulen, an welchen Lehr- und Lernfreiheit
besteht, zu besuchen und zur erfreulichen Folge gehabt hat, daß die k. bairische
Staatsregierung den bairischen Studirenden durch Anschlag am schwarzen Bret auch
ihrerseits den Besuch der juristischen Facultäten in Oestreich freistellte, nicht förmlich
aufgehoben sei: das aber kann nicht unbeachtet gelassen, ja nicht nachdrücklich genug
betont werden, daß, falls der „Amtsuntcrricht" im Geiste des kais. Patentes verfährt
und demnach „alle Studirenden an ausländischen Unterrichtsanstalten", also auch
an ausländischen Universitäten, absolut militärpflichtig sind, die evangelische Kirche
und Schule in Ungarn und Siebenbürgen in ihrem Rechte sowol, als auch in ihren
hcjligsten Bildungsinteressen unheilbar verwundet wird. ' Da nämlich die Pflicht zum
Eintritt in das Heer (ez, 3 des k. Patents) mit dem ersten Januar beginnt und
durch sieben Jahre, die Dienstpflicht im Heere selbst acht Jahre dauert, so würde in
den weitaus meisten Fällen der Besuch einer ausländischen Universität gleichbedeu¬
tend sein mit Einreihung in das kaiserliche Heer; oder mit andern Worten, jene
Bestimmung des „Amtsuutcrrichtes" kommt in der Praxis einem Verbot der aus¬
ländischen Universitäten gleich.
Die evangelische Kirche in Ungarn, wie jene in Siebenbürgen hat ein verbrief¬
tes, gesetzliches Recht auf den Besuch ausländischer, namentlich deutscher Bildungs-
anstalten. Dieses Recht der Protestanten in Ungarn wurzelt in dem §, 5 des 26.
Gcsetzartikcls vom Jahre1790 — 1. In Siebenbürgen erhoben Fürst und Stände diese
Freiheit noch im Jahre 1659 zu einem „xerxstrmm et ii-rovoeabils Aeerstum"
und das Gesetzbuch der Compilatcn (III. 9, 1) droht jedem, der auch nur den An¬
trag auf Einschränkung oder Abschaffung dieses Artikels mache, Gottes Fluch im
zukünftigen Leben, Ehrlosigkeit in diesem. Der erste Novcllarartikcl vom Jahre 1752
hielt diese Freiheit ausdrücklich aufrecht und die protestantische Kirche Siebenbürgens
hat dieselbe immer für einen Grund- und Eckstein ihres Gedeihens betrachtet.
Nicht mit Unrecht! Denn daß sie in den schweren Jahrhunderten, deren Druck
auf ihr gelastet, nicht verkümmert ist, daß sie in Erkenntniß, in Glauben und Leben
der Mutterkirche in Deutschland nicht unwürdig wurde, verdankt sie wesentlich den
deutschen Hochschulen.und der ungestörten Freiheit ihres Besuches. Nicht einmal
Türken- und Tartarenkricgc, nicht langdauernde Tyrannei siebenbürgischcr National-
sürsten haben ihn gehindert; viele hundert Söhne des sächsischen, wie des magyari¬
schen Volkes haben, für den Dienst der Kirche, der Schule, des Staates sich vorbe¬
reitend, aus den ewig frischen Quellen ihre Bildung getrunken, wohin jene insbesondere
auch das nie erloschene Heimweh nach dem Mutterland zog und — zieht. Den
evangelischen deutschen Hochschulen verdankt dos Sachscnland in Siebenbürgen seine
Bildung, seine Schule ihre Blüte, seine Literatur ihren Aufschwung, sein gesäumtes
nationales Leben und damit vorzüglich auch seine evangelische Kirche, einen der be-
deutendsten Factoren der Erhaltung, der Schönheit, der Würde.
Und nun sollen „alle Studirenden an ausländischen Unterrichtsanstalten", also
auch die Studirenden der Theologie und des Lehramtes, militärpflichtig sein, wäh¬
rend entsprechendes Studium in Oestreich frei macht?!
Man könnte einwenden, die Studirenden der Theologie auch an ausländischen
Universitäten seien nach §. 16 des k. Patentes als „Kandidaten des geistlichen Stan¬
des" der A. C. frei, „wenn sie sich mit einem von ihrem Superintendenten bestätig¬
ten Zeugniß des Vorstehers einer theologischen Lehranstalt darüber ausweisen, daß
sie mit entsprechendem Fleiß und Erfolg den theologischen Studien oblägen und
hinsichtlich ihres Betragens nichts Nachtheiliges vorgekommen." Diese Ansicht könnte
Bekräftigung finden in §. 19 des „Amtsunterrichtcs", der von den „Kandidaten des
geistlichen Standes der A. und H. Confession und des unitarischcn Glaubensbekennt-
nisses nur die in §. 16 des Hecrcrgänzungsgesetzes bezeichneten Documente fordert:
aber Thatsache isis, daß die Behörden, seitdem sie den Nmtsuntcrricht erhalten, bis
jetzt nur die Ansicht ausgesprochen haben: alle Studirenden an ausländischen Un-
terrichtsanstnltcn seien als solche militärpflichtig.
Die Grundgesetze der evangelischen Kirche in Ungarn und Siebenbürgen fordern
daher gebieterisch eine Abänderung der ihnen widerstreitenden, im k. Patent über
die Ergänzung des Heeres ohnehin nicht begründeten, beschränkenden Vorschrift des
Amtsuntcrrichtcs. Die Abänderung dieser beschränkenden Bestimmung, welche einem
der heutigen vaterländischen Gesetzgebung offenbar zuwiderlaufenden Verbot der
deutschen Universitäten gleichkommt, fordert aber nicht nur das Recht und das Inter¬
esse der evangelischen Kirche Oestreichs; es fordert sie auch das gcsannnte Cultur-
lcbcn Neuöstrcichs, welches die langjährige, künstliche Absperrung von der geistigen
Entwicklung Deutschlands nur zu sehr hat entgelten müssen; es fordert sie nament¬
lich die Wissenschaft in Oestreich, die, wie der Minister für Cultus und Unterricht
vor kurzem in dem wiener Sophiensaal mit beredten Worten ausgesprochen, fortan
mit der geistigen Forschung in den übrigen deutschen Bundeslanden Hand in Hand
gehen soll.
Auf den Aufsatz „Der Protestantismus und das Lnicnthum" in unserm Neu-
jahrshcft ist in der „Königsberger Sonntagspost" eine Entgegnung erfolgt. Auf
die Verdrehungen derselben im Einzelnen einzugehen, wäre überflüssig; wir erinnern
nur an den doppelten Gesichtspunkt, von dem wir ausgingen.
Was den Staat betrifft, so halten wir es für unstatthaft, daß er sich in
Privatangelegenheiten einmischt, so lange sie nicht in das Gebiet der Criminaljustiz
übergreifen. Shcckcr, Methodisten, Quäker, Jrvingiancr, pietistische Conventikel,
freie Gemeinden — das alles geht ihn nichts an, so lange seine Gesetze nicht über¬
treten werden.
Was dagegen das Publicum betrifft, so halten wir seine völlige Gleichgiltig-
keit gegen die „freien Gemeinden" für gerechtfertigt. Wir bestreiten nicht das locale
Bedürfniß solcher Institute; es ist dasselbe Bedürfniß, das vor zwei Generationen
die Conventikel hervorbrachte. Weiche Gemüther, schöne Seelen u. s. w. haben
das Bedürfniß einer intensiverer Erbauung, als ihnen die Kirche, namentlich die
Protestantische Kirche bietet, die das Weib zum Schweigen verurtheilt. Die moder¬
nen „aufgeklärten" Conventikel sind viel weniger fratzenhaft als die alten. — Fra¬
tzenhaft bleiben sie aber doch, sobald sie sich für ein geschichtliches Culturmomcnt
ausgeben, und der Vergleich mit der Reformation macht einen widerlichen Eindruck.
— Sie sind nicht der Beginn einer neuen Zeit, sondern der Rest des alten Indivi¬
dualismus, den wir allmälig überwinden lernen. — Wenn vor fünfzig Jahrcr
Zacharias Werner, oder Bettina, oder Nadel, oder die Schriftsteller des Athenäums
von einer neuen Religion träumten, die Herz, Geist und Einbildungskraft gleichmütig
befriedigen sollte, so war das in, der Richtung jener Zeit, die das Genie, die schöne
Seele, die Suvjcctivität überhaupt für weltbewegende Mächte ansah; jetzt fließt der
Strom von der entgegengesetzten Seite, wir suchen die Subjectivität in Zucht zu
nehmen und jene allgemeinen Mächte des Lebens wiederherzustellen, deren Mangel
Deutschland herabgedrückt hat. In England hat die Geschichte den umgekehrten
Weg eingeschlagen. — Nichts widerstrebt dieser Richtung so entschieden, als der
Dünkel des subjectiven Prophctcnthums — das Ritterthum vom Geist, um bei dem
beliebten Namen stehn zu bleiben. Dies subjective Prophetcnthum ist im Gefühl
seiner Urkraft, etwas hervorzubringen, bald geneigt, sich an jeden fremden Stroh¬
halm zu klammern; hat es lange genug mit sich selber kokettirt, so wird es endlich
müde, und wenn es dann doch noch eine Rolle spielen will, so wird es wol katho¬
lisch — wie früher Z. Werner, Fr. Schlegel, neuerdings Danaer, der in dieser
Beziehung gewiß ein cclatantcs Beispiel ist. — Jede innere Auflösung der prote¬
stantischen Kirche stärkt die katholische: das ist eine so allgemein bekannte Wahrheit,
daß man sie nur am Pregel vergessen zu haben scheint.
Die Ritter vom Geist nennen diejenigen, die. den Visionen und Offenbarungen
Widerstand leisten, Philister. Aber der echte Philister ist grade derjenige, den jedes
Strohfeuer ergreift: man lese die Philistcrblüttcr aus den Zeiten Nonges und Do-
wiats, wie durchdrungen namentlich das schöne Geschlecht von den Deklamationen
dieser interessanten Persönlichkeiten war; man lese die Extrablätter der Freude sowol
über die Revolution als über die Reaction, über die Zukunftsmusik und über das
Tischrücken. Solchem Strohfeuer Widerstand zu leisten, ist nicht grade schwer, aber
immerhin nicht ohne Verdienst: die Geschichte würde auch ohne das immer wieder
ins rechte Geleise einlenken, aber man hat doch dann das Gefühl der Kontinuität.
In der ewigen Fluktuation der großen europäischen Frage scheint in dem Augen¬
blick, wo dies geschrieben wird, die Chance für den Frieden zu sein; ob das freilich
bis dahin, wo der Brief im Druck erscheint, noch fortdauert, ist sehr die Frage.
Ueberhaupt sind die Fricdcnsausfichten noch sehr unbestimmter Art. Nußland scheint
aus Konferenzen zu dringen, um die italienischen Verhältnisse aufzutragen, und Oest¬
reich scheint unter gewissen Umständen daraus eingehn zu wollen. Das heißt freilich
noch nicht Entscheidung der Sache, sondern Vertagung. Wie lange werden die bei¬
den zunächst betheiligten Mächte, Sardinien und Oestreich, diesen Aufschub ertragen?
Oestreich wird und muß als eine Hauptbedingung ernsthafter Unterhandlungen die
Entwaffnung Piemonts fordern, und welche Macht wird dies durchzuführen unter¬
nehmen? — Daß die östreichische Presse die eine Stilübung des Moniteur, die Ab¬
kanzelung der deutschen Zeitungen (die der englischen und französischen war vorher¬
gegangen) ausbeutet, um das preußische Ehrgefühl aufzustacheln, dem es wahrlich
acht schmeichelhaft sein kann, in jenem Blatt gelobt zu werden, ist in der Ordnung;
aber der Ernst der Sache ist uns jetzt so nahe getreten, daß die ruhige Ueberlegung
das Gefühl zurückdrängt. — In Deutschland scheint die Stimmung sich dahin zu
wenden, daß Preußen mit den übrigen Bundesstaaten sich vereinigt, um wo möglich
den Frieden zu erhalten, dann aber ruhig den Zeitpunkt festzustellen, wo man, im
Interesse des Bundesgebiets, dem bedrohten Oestreich den Rücken zu decken hat; an
ein Beschleunigen dieses Moments, um den Krieg vom Po an den Rhein zu ver¬
legen, denkt trotz der vorhergehenden Declamationen niemand mehr. In England
sind alle Parteien darüber einig, diese Friedenspolitik zu unterstützen; die Tones
erlassen einen Drohbrief nach dem andern an den Grafen Cavour; die Radicalen
(Roebuck) sprechen' sich gegen jeden Cabinetswechscl aus, der die Chancen des Kriegs
vermehren könnte; die Whigs (vint^ Ac>v3) versprechen sür den Fall ihrer Herr¬
schaft eifrige Unterstützung der preußischen Haltung. — In den Conferenzen über
die orientalische Frage wird man der russisch.französisch-rumänischen Idee den Sieg
verschaffen; Oestreich wird nachgeben, und durch diese Nachgiebigkeit sich in der ita¬
lienischen Frage ein leichteres Spiel zu erkaufen suchen; und da die Revision der
Vertrüge etwas sehr Unbestimmtes ist, da weder Frankreich noch Sardinien ihre An¬
sprüche formulirt haben, so ist es möglich, daß eine Verständigung — d. h. eine
neue Vertagung der Frage — zu Stande kommt. Zwar kann eigentlich keiner der
betheiligten Staaten nach den furchtbaren Opfern, die bereits gebracht sind, eine
solche Vertagung wünschen; aber vielleicht rechnen sie auf eine günstigere Combina¬
tion im nächsten Jahr — vielleicht, wenn nicht ein unvorhergesehener oder ein vor-
hergeschcner Ausbruch in den kleinen italienischen Staaten zur Entscheidung drängt.
So ist Europa gewissermaßen in den Händen des blinden Zufalls.
Die preußischen Kammern setzen, ungestört durch diesen Kriegslärm, ihre Be¬
rathungen sort. Auch die eifrigsten Demokraten, die den Gothaismus mit so viel
Mißtrauen betrachtet haben, werden jetzt zugeben müssen, daß das, was sie so nen¬
nen, nicht mehr existirt. Die liberale Partei, im Allgemeinen, wie billig, der Re¬
gierung zugethan, zeigt sich doch durchweg unabhängig, und erwägt jede Frage aus¬
schließlich nach dem Bedürfniß des Landes und der Logik des Gesetzes. Die scharfe,
von einem strengen Princip getragene Opposition des alten Kühne und feiner Par¬
teigenossen gegen die Centralisation der Eisenbahnen durch den Staat wird gewiß
alle befriedigt haben, die den Absolutismus durch freie Entwickelung der individuellen
Thätigkeit zu bekämpfen gedenken. Der einzige Schatten, der noch über unserer con-
stitutionellen Entwickelung schwebt, ist die jetzige Zusammensetzung des Herrenhauses,
und auch hier hoffen wir, daß die fast einmüthige Haltung der Abgeordneten die
Regierung in den Schritten, die gegen die Paralysirung des Staats durch einen
neuen künstlichen Feudalismus geschehn müssen, ermuthigen, stützen und kräfti¬
Abriß der physischen Geographie für Schulen und zur Selbstbe-
lehrung von E. Voll. Zweite sehr vermehrte Auflage. — Neubrandenburg, C. Bruns-
low. 185ö. — Der Versasser ist derselbe, dem wir die vor vier Jahren erschienene gute
Spccialgcschichte Mecklenburgs verdanken. Sein Abriß der physischen Geographie leistet
alles, was man von einer populären und aus das Nothwendigste beschränkten Schrift
über den Gegenstand zu fordern berechtigt ist.— > '
Der Evmpaß. — Archiv für das gesammte Gebiet der Volkswirthschaft mit
besonderer Berücksichtigung Deutschlands und deutscher Interessen. Herausgegeben von
Henrik Glogau. I.Band. April bis November 1858. — Frankfurt a. M. C. Schömann.
— Ein seinem umfassenden Plan wie seiner gründlichen und gewissenhaften Aus¬
führung nach lobenswerthes Unternehmen, dem wir die allgemeinste Theilnahme
wünschen. Eine retrospective Revue aller in das Gebiet der Volkswirthschaft ein¬
schlagenden Erscheinungen und Ereignisse, in der Haltung objectiv, in der Anord¬
nung des Stoffs übersichtlich, erfüllt diese Monatsschrift in Wirklichkeit ein Bedürf-
niß, das sich bei der fortwährend wachsenden Fülle der Gegenstände des hier behandelten
Gebiets von Tag zu Tag fühlbarer macht., Das beigegebene Generalregister über den
Inhalt der im vorliegenden Band zusammengefaßten Hefte macht das Werk zu einem
brauchbaren Nachschlagebuch für den Geschäftsmann wie für den Gelehrten, der bei
keiner Frage über Handel, gewerbliche Zustände, Posten, Telegraphen und Eisenbahnen,
Volkswohlfahrt, Polizei, Arbeitslöhne, Armenwesen, Staatspapiere u. d. in. umsonst
nach der Antwort suchen wird. Wenn die Einregistrirung von Thatsachen bisher
das Hauptstrcben des Herausgebers gewesen zu sein scheint, so war sie, wie die
selbstständige Auffassung und freie Behandlung einzelner Materien, z. B. Münz-
und Zollwesen zeigt, nicht sein ausschließliches Ziel, und wir hören, daß eine Er¬
weiterung des Unternehmens beabsichtigt ist, bei welcher man, ohne etwas von
dem jetzigen Plan aufzugeben, häufiger und ausführlicher die Tagesfragen der Volks¬
In dem Art. „Zur Grundsteucrfrage in Preußen" in Ur. 11
muß es Seite 405, Zeile 20 statt Offiaza heißen: Offiara.
Mit Ur. beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch .alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März 1859.Die Nerlagshandluug.