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]]>Zeitschrift für Politik und Literatur,
herausgegeben
von
GlWMW SMKMG und IMWV GKlZ)M^As»
18. Jahrgang.
II. Semester. IV. Band.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Heroig>
1859.
trauensmänner und der tiroler
g. S. 348,
ffentlichung der Bundestagsproto-
S. 361.
mirte Kirche Kurhesseus und Herr
, S. 401.
nd Schilderungen.
el Wanger-Oge. S, 16. 55, 102,
ischen Presidios in Marokko. S. 4l.
scher Reisender über die Mormonni-
n Utah. S. 146.
nteuer mit Goethe. S. 195.
n und Hofnarren im Alterthum,
0.
us Marokko, S. 4S5. 500.
chten in London, S, 469,
sche Tagesfragen.
anzösischen Kriegshafen und ihre
en, S. 25. 49.
ndeskriegsverfassung, S. 89.
Geschichte: v. Wolzogen. S. 116, Diepen-
brock. S. 159. Droysen. S. 233. Pückert.
S,235,Havemann, S. 235. Klopp. S. 235
Giesebrecht, S, 235, Schirrmacher, S, 236
v, Wietersheim. S. 236, Preller S. 240
Leucer. S. 240, Schlözer, S, 319, Paatz
S, 320, Fryxel, S. 400, Carus. S, 400.
Ewald. S. 400.
iteraturgeschichte: Wenzel. S. 119
Stieglitz, S, 119. George Sand, S. 359
Goedeke. S, 421, Viehoff. S. 422
v. Vippen, S. 422. Spieß. S. 423
Marggras. S, 423, Klenke. S, 423, Pal
damus, S. 423, Schäfer. S. 424, Düntzer
S, 424. Blitz. S. 424. Hirsch. S. 477.
ramen: Hcrsch. S. 160. Eckardt. S. 353
omane und Novellen: Roquette S
119. Dickens S. 199. Bachmann. S. 473
eue Dich tungen: Ka-orgs Miot. S, 496
Fernen Caballero, S- 497. Fanny Le
wald. S. 498. Paul Heyse. S. 499
Nuneb.erg. S, 499.
yrik: Klette, S. 119. Simrock, S. 120,
Heubner, S, 199, Souza. S, 360. Rohr
bach. S, 440. Bodenstedt. S- 499.
eiseliteratur: Himly. S. 120. Wies
ncr, S, 438, Rodenberg, S, 438, Scholtz
S. 433.
Musikalien: Moscheles S. 360.
otizen: S. 160.
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Pacht und v. Ramberg, S, 153-
Sardinien ist der einzige constitutionelle Staat des unglücklichen, unter
geistlicher und weltlicher Gewaltherrschaft seufzenden Italiens und als solcher
hat er die Sympathien aller derer für sich, welche Gesetz und Gerechtigkeit
als die Grundsäulen einer jeden staatlichen Einrichtung anerkennen. Vor
allem aber müssen wir Protestanten die Negierung Sardiniens darum hoch¬
achten, weil dieser Staat in Italien der einzige ist, weicher Religionsfreiheit
proclcnnirt hat und den Protestanten vollkommene Gleichheit vor dem Ge¬
setz und unverkümmerte staatsbürgerliche Rechte gleich den Katholiken ge¬
währt, während in manchem katholischen Lande den Protestanten aus dem
Papier, aber nicht in der Praxis Rechte eingeräumt sind.
Jedermann kennt im Allgemeinen die Geschichte der Waldenser Pie-
monts und was sie seit Jahrhunderten unter der Glaubenstyrannei Roms
gelitten haben; wie treu sie demohngeachtet an ihren legitimen Herrschern,
den Herzogen von Piemont, hingen, die sie mehr als einmal aus der Gefahr
retteten und doch zum Dank für ihre Aufopferung eine nur geringfügige und
vorübergehende Erleichterung ihres Schicksals errangen.
Nachdem die grausamen Verfolgungen der Waldenser, in denen Tausende
derselben hingeopfert wurden, seit dem Anfang des vierzehnten Jahrhunderts
mit größeren und kleineren Unterbrechungen bis zu den Zeiten der französischen
Revolution gedauert hatten, ging den Verfolgten ein glücklicherer Stern auf.
Doch noch drohten einzelne Blitze; denn als im Jahr 1792 zwischen Frankreich
und Oestreich der Krieg erklärt war, schlug sich Piemont auf die Seite Oest¬
reichs. Gegen das Ende dieses Jahres aber war schon Savoyen von Montes-
quiou und die Provinz Nizza von Anselm erobert und mit Frankreich vereint
worden, welches sich zur Republik erklärte. Victor Amadeus der Dritte hatte
in diesem Kriege den Waldensern unter Gaubius Anführung die Vertheidigung
der Grenzen anvertraut. Die ganze Streitmacht der Waldenser war auf dein
Kamine der Alpen gelagert, um den eindringenden Feind abzuwehren, und in
ihren Thälern waren nur Greise, Kinder und Weiber zurückgeblieben.
Da gab der Fanatismus den Papisten den Plan ein, eine zweite Bar¬
tholomäusnacht zu begehen und die armen protestantischen Familien, deren
Beschützer zur Vertheidigung des Vaterlandes fern waren, zu vernichten. Die
Liste der Verschworenen zählte siebenhundert Namen. Eine Schar Banditen, in
Luzern versammelt, sollte aus ein gegebenes Zeichen sich über die Gemeinden
von Se. Jean und La Tour werfen und alles mit Feuer und Schwert vertilgen.
Das, Haus des Pfarrers von Tour, das Kloster Recollets und mehre Häuser
der Katholiken staken voll von diesen Blutmenschen.
Allein edle Katholiken hatten sich geweigert, an dem scheußlichen Complot
Theil zu nehmen und der Pfarrer von Luzern, Don Brianza, beeilte sich so¬
gar, die Bedrohten von demselben in Kenntniß zu setzen. Auch der Capitän
Odetti kam, ihnen Nachricht zu ertheilen und seine Freunde unter denselben
zu beschützen.
Boten wurden an den General Gaudin gesandt, um ihn zu bitten, mit
seinen Truppen in die Thäler zu kommen. Der wackere General, der an keine
solche Niederträchtigkeit glauben wollte, entließ die Waldenser erst, nachdem
selbst die Stadtbehörden von La Tour und Villar bei ihm erschienen waren.
Im Fluge eilten die vor Zorn über die Niederträchtigkeit knirschenden Wal¬
denser zu den Ihrigen und warfen ihr Gepäck und alles ab, was ihren Sturm-
lauf hindern konnte. Als die Verschworenen die tapfern Waldenser ankommen
sahen, entflohen sie aus dem entgegengesetzten Thor des Klosters Necollets.
Das Namensverzeichniß der Verschwörer wurde dem Herzog von Aosta
dem Sohn von Victor Amadeus, übergeben; allein keiner von den Ucbel-
thätern wurde von diesem bestraft, ja er machte dem General sogar noch Vor¬
würfe und ertheilte ihm seinen Abschied. Desto mehr verehrten die Waldenser
den wackern Mann.
Die Franzosen, welche die unglückliche Lage der Waldenser unter ihren
Herrschern kannten, suchten sie zu verlocken, allein sie hielten fest an der Treue
gegen das Regentenhaus. Und doch brachte dies edle Benehmen die Ver¬
leumdung nicht zum Schweigen. Der kranke Commandant der schwachen, un¬
haltbaren und mit wenigen Truppen besetzten Citadelle von Mirabouc, Namens
Meßner, ein Schweizer und Protestant, wurde erschossen, weil er den Platz
hatte übergeben müssen. Einer der Ordonnanzoffiziere des im Commando
auf Gaudin gefolgten Frosti. ein Waldenser, wurde unschuldig des Verraths
angeklagt und zum Tode verdammt. Die beiden höchsten Offiziere des Schweizer¬
militärs, der Oberst Maranta und der Major Gönnt, wurden ins Gefäng¬
niß geworfen; denn das tyrannische piemontesische Gouvernement wurde in
dem Grade Mißtrauischer, je mehr die Gefahr wuchs. Der General Zimmer¬
mann, der alte Oberste der Schweizergarden in Paris, der dem Blutbad ent¬
gangen und in sardinische Dienste getreten war, obgleich Katholik, forderte
für die Waldenser die bürgerlichen und politischen Rechte, welche ihnen Frank¬
reich angeboten hatte, und der Herzog von Aosta übernahm es. seinem Vater^
die Forderung des edlen Mannes vorzulegen. In dem Antwortschreiben ver¬
sprach er, nach rühmlicher Erwähnung der der Krone von Seiten der Wal¬
denser stets bewiesenen Treue und ihrer Tapferkeit, denselben nach dem
Kriege alles zu verwilligen, was sich mit der Einrichtung des Staats
vereinbaren lasse!! — Erlaubt wurde den Waldensern, unter den Ihrigen
als Aerzte zu fungiren; es wurde versprochen, fiscalische Mißbräuche abzu¬
schaffen und es sollten den Waldensern nicht mehr ihre Kinder in unreifem
Alter weggenommen werden, um sie katholisch zu erziehen! Nach Beendigung
des Krieges sollten die Waldenser noch besondere Zeichen des speciellen Schutzes
des Regenten erhalten. Als aber die Gefahren für dies Mal vorüber waren,
trat die frühere Härte gegen die tapferen Vaterlandsvertheidiger wieder ein;
die Vorstellungen des Generals Zimmermann fruchteten nichts.
Auf Victor Amadeus war der Herzog von Aosta, nnter dem Namen Karl
Emanuel der Vierte, gefolgt, und an diesen richteten nun die Waldenser ihre
Bitten um Abhilfe der Bedrückungen. Allein die Minister antworteten ab¬
schläglich; die Reaction stieß abermals die Waldenser zurück, sobald man nicht
mehr ihrer Waffen bedürfte.
Erst als die Monarchie durch die Errichtung der ligurischen und der
cisalpinischen Republik mit neuen Gefahren bedroht wurde, änderte sich wieder
die Sprache des Hoff, und die Waldenser erhielten mit den Katholiken beinahe
gleiche Rechte als Bürger.
Als Napoleon Italien jedoch verlassen hatte und der Thron Sardiniens
wieder befestigt schien, sing man bereits wieder an, die Bitten der Waldenser
abzuschlagen. Neue Drohungen eines Kriegszugs von Seiten Frankreichs
hatten eine abermalige Aenderung der Sprache des Cabinets gegen die Wal¬
denser zur Folge. Dieses wetterwendische Benehmen brachte die Regierung
um alle Achtung. Ruhmlos legte Karl Emanuel die Krone nieder und begab
sich nach Cagliari.
Unter Suwarow drang eine russische Armee in Piemont ein. Verwundete
Franzosen und Invaliden, die Ueberreste der Armee von Verona, wichen vor
den Russen zurück und langten aus Wagen geschichtet in dem hilfsbedürftigsten
Zustande in La Tour an. Ein blinder Lärm, daß die Kosaken nahten, scheuchte
die Wagenführer mit ihren Wagen in die Flucht und die armen Kranken und
Verwundeten mußten sich zu Fuß nach Marguerit schleppen, wo sie Halt mach¬
ten und dann am Abend in Bobi anlangten. Der ehrwürdige Pfarrer da¬
selbst, Emanuel Rostan und seine Pfarrkinder retteten sie. Ein Tages¬
befehl des Obergenerals der französischen Armee ehrte diese That und er¬
zählte, wie Rostan die Thalbewohner ausrief, die dreihundert verwundeten oder
kranken Franzosen auf ihren Schultern über die Grenze zu tragen. „Diesem
Aufruf," hieß es, „wird sogleich Folge gegeben. Man übersteigt den Col la
Croix, eine der längsten und schwierigsten Alpenhöhen, die noch von Schnee
bedeckt ist. Nach einem zehnstündiger, beschwerlichen Marsch gelangt man
ins erste französische Dorf, wo die Kranken abgeliefert werden. Sie vergaßen
ihre Leiden, um ihre Retter zu segnen und die Bewohner des jenseitigen Thales
Luzern kehren nach dieser über alles Lob erhabenen That zu ihrem Herde
zurück u. s. w."
Diese edle That wurde aber den Waldcnsern von ihren piemontesischen
Feinden zum Verbrechen gemacht und auch Suwarow erließ an sie eine sehr
drohende Proclamation.
Die Nüssen rückten in Pignerol ein. Appii^ welcher spater in Frankfurt
a. M. als Prediger fungirte, rettete durch sein muthiges Benehmen die Wal-
denser vor den Gefahren einer Plünderung und erhielt von einem comman-
direnden russischen Offizier sogar die Erlaubniß, Patrouillen zum Schutz er¬
richten zu dürfen. Unter den größten Gefahren machte sich Appin abermals
auf den Weg ins russische Hauptquartier, da nur ein untergeordneter Befehls¬
haber ihm, wennauch schriftlich, seine Zusagen ertheilt hatte, und erhielt von
dem Fürsten Bagration die Bestätigung derselben. Es war die höchste Zeit;
denn schon sammelten sich fünf- bis sechshundert Menschen mit Stricken, Säcken
u. s. w. und verlangten Waffen, um die Barbets (der Schimpfname der Wal-
denser) zu plündern und sie zu ermorden. Kroaten trieben sie auf Befehl
Bagrations auseinander. Appin hatte sich ihm mit seinem Kops für die
ruhige, gesetzmäßige Haltung der Bewohner des Thales Luzern verbürgt.
> Ein Waldenser, Namens Maranta, hatte in Frankreich eine Schar
Freiwilliger geworben, mit welcher er die Kosaken angriff, allein zurückgeworfen
wurde. Die Waldenser sollten mit ihnen, sagten ihre Feinde, im Einverständ¬
nis) sein und so wurden ihre Deputaten verhaftet; einige von ihnen hatten die
Flucht ergriffen. Appin rechtfertigte die Seinigen gegen die papistischen An¬
klagen und bewies ihre Lügenhaftigkeit.
Napoleon war aus Aegypten zurückgekehrt und die Schlachten bei Montebello
und Marengo waren geschlagen. Ganz Piemont nebst der Lombardei fiel in die
Hände der Franzosen. Die Siege, an denen die Waldenser keinen Theil hatten,
verschafften ihnen zuerst eine Stellung, wie sie sie vorher nie eingenommen,
noch je geahnt hatten; sie wurden politisch gleichberechtigte Bürger und nie¬
mand hinderte sie mehr an der freien Ausübung ihrer Religion, für welche
sie seit Jahrhunderten gekämpst und geblutet hatten.
Nach Karl Emanuels Abdankung trat nämlich eine provisorische Regie¬
rung in Piemont ein, welche der Kirche alle weltliche Macht nahm und das
Civilgesetz proclamirte. Aller Unterschied der Rechte und Pflichten zwischen
Bürgern und Bürgern, zwischen Katholiken und Protestanten wurde aufgehoben.
Appin erhielt den Titel eines Municipaloffiziers und die Nationalgarde des
Thales Luzern leistete in Tour den Eid der Treue. Selbst der Erzbischof
von Turin, obgleich er die kirchlichen Zehnten eingebüßt hatte, empfahl Ord¬
nung und Toleranz.
Nachdem Piemont 1799 in Departements eingetheilt worden und die
Waldenserthäler zum Pvdepartement geschlagen worden waren, wurde die Ver¬
waltung desselben einer Centralcommission untergeben, in welche Geymet. der
Moderator der Waldcnsertafel, gewählt wurde. Später wurde er zum Unter-
präfecten in Pignerol ernannt.
Seit die Waldenser französische Unterthanen geworden waren, erhielten
sie von England aus keine Unterstützung zur Besoldung ihrer Prediger mehr,
und daher geriethen diese in die größte Noth, so daß die Gemeindemitglieder.
die bei der großen damals herrschenden Theurung selbst kaum zu leben hatten,
für sie Nahrungsmittel erbetteln mußten. Die Executivgewalt Piemonts ver¬
minderte daher in wohlwollender Absicht (aber in der Folge zeigte sich das
Verderbliche derselben) die katholischen Pfarreien in den Thälern der Waldenser
von 28 auf >Z und wies das Einkommen den Waldensern zu.
Als Napoleon nach Mailand ging, um die eiserne Krone auf sein Haupt
zu setzen, empfing er in Turin auch eine Deputation der Waldensertafel. „Sind
Sie einer der protestantischen Geistlichen dieses Landes?" fragte Napoleon den
Wortführer derselben, Peyron, der um die Stelle Geymets getreten war. —
Ja, Sire, ich bin Moderator der Waidenserkirche. — „Gehören Sie unter die
Schismatiker der römischen Kirche?" — Nein, wir sind keine Schismatiker,
sondern wir bilden eine abgesonderte Kirche. —
Darauf änderte Napoleon schnell, wie von einer plötzlichen Erinnerung
ergriffen, den Gegenstand der Unterhaltung und fragte: „Hat es nicht unter
Ihnen tapfre Männer gegeben?" — Ja, Sire, den Pastor und Obersten Ar-
naud, welcher unsere Väter wieder in ihre Heimath geführt hat. — „Ihre
Berge sind die besten Vertheidiger, die Sie nur haben können. Cäsar gelang
es nur mit Mühe, sie zu übersteigen. Ist. was man über Arnauds Rückkehr
berichtet, alles wahr?" Ja, Sire, aber wir glauben fast, daß unser Volk von
der göttlichen Vorsehung beschützt worden ist. — „Seit wann bilden Sie eine
unabhängige Kirche?" — Seit Claudius, Bischof von Turin, gegen das Jahr
820. — „Welche Besoldung empfangen Ihre Geistlichen?" — Wir haben
gegenwärtig gar keine feste Besoldung. — „Empfingen Sie nicht eine Pension
von England?" Ja, Sire. die Könige von England sind stets bis auf die
neuesten Zeiten unsre Beschützer und Wohlthäter gewesen. — „Und jetzt?" —
Die Unterstützung hat. seit wir die Unterthanen Ew. Majestät sind, aufgehört. —
.Ist für Sie nicht die Organisation eingetreten?" — Nein Sire. - „Reichen
Sie ein Memoire ein und schicken Sie es nach Paris, und die Organisation
soll Ihnen auf der Stelle die nöthigen Mittel schaffen."
So berief denn der Moderator, in seine Thäler zurückgekehrt, eine Ver¬
sammlung der Geistlichen nach Se. Jean zu einer Berathung, und es wurde
an den Cultusminister eine Petition aufgesetzt, um die kirchliche Organisation
zu erbitten, und zweitens wurde ein Organisationsplan für die Waldenser-
gemeinden selbst eingereicht, welche in fünf Consistorialdistricte getheilt werden
sollten, um ihnen das Recht zu mehren, besondere Synoden zu halten.
Auch an den Minister des Innern und der Finanzen wurde ein gleiches
Memoire eingesandt, besonders um ihn zu bitten, daß die Negierung den
Waldenscrpredigern und ihren Unterrichtsanstalten das ihnen entzogene National¬
eigenthum als Fond anweisen mochte, aus welchem die Besoldungen flössen.
Der Präsident des pariser Consistoriums entschied, daß die Waldenser-
gemeinden nur drei Consistorien zu bilden hätten; die Prediger könnten ferner,
in Rücksicht der Volkszahl in ihren Thälern, nur in die dritte Besoldungsclasse
gesetzt werden; denselben die Nationalgüter zur Besoldung zu überlassenj, würde
sich thun lassen. Man habe den Präfecten des Podepartcments aufgefordert,
genaue statistische Nachweisungen über die Waldenserthäler zu liefern.
So schien sich die Sache in die Länge ziehen zu wollen. Als daher
Napoleon von der Krönung in Mailand zurückkehrte, eilte der Moderator der
Waldenscrtafel nach Genua und erhielt bei demselben eine neue Audienz, welche
zur Folge hatte, daß die Waldenserprediger nach der Ankunft Napoleons in
Paris sofort ihre habere Besoldung erhielten, unbeschadet der ihnen vom
Staate versprochenen Einkünfte. Alle Prediger wurden in ihrem Amte bestätigt,
und es gereichte den Waldensern zu hoher Freude, daß auch Geymet Unter-
präscct blieb.
Das furchtbare Erdbeben vom 2. April 1808 (ein Zeitgenosse sagt,
daß binnen zwei Jahren 1 5 — 16,000 Erderschütterungen gespürt worden seien)
brachte den Waldensern, welche ansingen, sich ihres glücklicheren Zustandes
recht zu freuen, unsägliches Unglück; denn aller Handel und jedes Gewerbe
stockte; man baute aus Furcht nicht die Aecker und jeder war nur bemüht,
das armselige Leben zu retten. Allein nach wenigen Jahren traf die Wal-
denser ein viel größeres Unglück. Napoleon wurde gestürzt, der wiener Con-
greß vergrößerte das Königreich Sardinien durch die Einverleibung der Re¬
publik Genua in dasselbe, aber die Waldenser sanken wieder in das alte Joch
zurück. Denn nachdem Victor Emanuel der Vierte 1814 von der Insel Sar¬
dinien durch eine englische Flotte abgeholt worden war und Peywan und
Appin, von den Waldensern zu Deputirten gewählt, um den König zu be¬
glückwünschen, sich in Genua einfanden, wurden sie nicht vorgelassen, sondern
mußten ihre Bittschrift, in welcher sie Victor Emanuel baten, er möge ihnen
eine gleiche Behandlung wie seinen übrigen Unterthanen angedeihen lassen,
dem englischen General Bentink überreichen. Trotz der Empfehlung desselben
that der neue König grade das Gegentheil von dem, was die Waldenser
baten: er erließ noch vor seiner Ankunft in Turin ein Edict, durch welches
alle alte Maßregeln der Intoleranz und Zurücksetzung wieder in volle Kraft
traten. Die Waldenser sollten an katholischen Festtagen nicht arbeiten, sollten
keine Güter außerhalb der Thäler erwerben, die Katholiken sollten in ihrem
Gemeinderath. selbst wenn sie die Minderzahl ausmachten, die Majorität
bilden u. s. w.
Da man so die Waldenser in einen Zustand zurückzuversetzen drohte,
welcher dem Geist des Jahrhunderts Hohn sprach; so sandten sie an den
König eine neue Deputation, weil sie hofften, wenn sie ihn an den wohlwollen¬
den Brief seines Vaters an sie erinnerten, er werde vielleicht doch dessen Ver¬
sprechungen erfüllen. Die Deputation erhielt am 28. Mai 1814 Audienz beim
König. Er nahm sie zwar wohlwollend auf und hatte auch vielleicht wirk¬
lich gütige Gesinnungen, allein der katholische Klerus, weicher die Waldenser
nur noch mehr haßte, da die französische Negierung sie durch Aufhebung von
katholischen Pfarreien u. f. w. begünstigt hatte, und welcher den König ganz
beherrschte, stellte sie diesem als Rebellen dar, die unterdrückt, statt begünstigt
zu werden verdienten. So wurde, wie einer der Deputaten sich ausdrückt,
die Petition zerrissen, und alsbald erfolgte der Befehl, daß die Nationalgüter
von den Waldensern der Negierung zurückgegeben werden sollten. Darauf
ließ man auch die von diesen neuerbaute Kirche zu Se. Jean schließen, und
sie mußten ihren Gottesdienst wieder in der alten verfallenen Kirche zu Chia-
bas halten, welche sich innerhalb der Grenze von Angrogne befand. Der ein¬
zige Gewinn von der Gesandtschaft war für die Waldenser der Erlaß eines
königlichen Patents, durch welches ihnen die bis zum Jahre 1794 genossenen
Vergünstigungen, aber auch mit allen möglichen Beschränkungen von ehemals,
garantirt wurden.
Die Entziehung aller Quellen, aus welchen die Besoldungen ihrer Geist¬
lichen geflossen waren, und die neuen Hindernisse, welche man ihren Religions-
übungen in den Weg legte, veranlaßten die Waldenser zu der Absenkung einer
dritten Deputation. Diese sollte den Gebrauch der Kirche zu Se. Jean, ser¬
ner die Erlaubniß, die Besitzthümer behalten zu dürfen, welche die Waldenser
unter der vorigen Regierung'außerhalb ihrer Grenzen erworben hatten, so wie
eine Schadloshaltung für die Einbuße an Nationalgnt zur Besoldung ihrer
Geistlichen reclamiren. Der König schien nicht abgeneigt zu sein, schob aber
seinen Bescheid hinaus.
Der englische Gesandte versprach, ihr Gesuch zu unterstützen; allein die
alten Feinde erhoben stets ihre gewöhnlichen falschen Anklagen gegen sie, und
so wurde am 4. Jan. 1315 ein Edict publicirt, durch welches alle frühern
Gesetze wieder in Kraft gesetzt wurden. Vergebens erneuerten die Waldenser
ihre Vorstellungen.
Als Napoleon von Elba zurückgekehrt war und die Könige von neuem
vor ihm zitterten, bemühten sich die Hofschranzen und die römische Priester¬
herrschaft, den König glauben zu machen, die Waldenser würden Napoleon
zufallen und Unruhen erregen, weil sie von ihm so begünstigt worden wären;
nur der edle Graf Brotti nahm sie in Schutz und verbürgte ihre Treue. Und
sie bestätigten durch ihr Verhalten seine Meinung von ihnen. Denn trotzdem
daß ihre Geistlichen nur größtentheils von den freiwilligen Gaben ihrer Pfarr-
kinder leben mußten, weil die englische Unterstützung nur vermindert seit dem
Jahre 1.814 wieder gezahlt wurde, und trotzdem daß Waldenser, welche unter
französischer Herrschaft auch nur den kleinsten Posten eingenommen hatten,
abgesetzt wurden, wankten die wackeren Männer doch nicht in ihrer Treue ge¬
gen den undankbaren König. (Auch Gcymet wurde abgesetzt, obgleich er sich
in seiner dreizehnjährigen Amtsführung selbst die Achtung der Katholiken er¬
worben hatte. Arm, wie er gewesen, schied er aus seinem Amte, und ver¬
waltete fortan bis zu seinem 1822 erfolgten Tode die Stelle eines Lehrers
an der lateinischen Schule mit einem Gehalt von höchstens siebenhundert
Franken.)
Nach dem Befehl der Negierung mußten die Waldenser die Güter wie¬
der herausgeben, welche sie bei der Aushebung der katholischen Pfarreien in
ihren Thälern unter französischer Herrschaft erhalten hatten; allein damit war
der katholische Klerus nicht zufrieden, sondern verlangte auch noch für die
Nutznießung derselben die entsprechende Summe. In der Besprechung über
diesen Gegenstand vor dem Intendanten der Provinz Pignerol, dem oben er¬
wähnten Grafen Frotti, ging es hart her. Endlich trat der jüngste katholische
Geistliche auf und sprach: „Die Waldenser haben nicht nur gesetzmäßig die
Güter innegehabt, da sie dieselben von der damals in Piemont anerkannten
Regierung bekommen hatten, sondern sie haben dieselben auch wohl verwaltet,
wie die uns vorgelegten Rechnungen beweisen und sie uns also in gutem Zu¬
stand erhalten; wir dürfen also nichts mehr von ihnen fordern." Diese frei¬
müthige Erklärung machte dem Streit ein Ende.
Nochmals wendeten sich nun die Waldenser an den König um Hilfe ge¬
gen die Noth chrer Geistlichen, welche Hunger litten; allein die Antwort des
Ministers war keine günstige, und nur nach längeren Bemühungen gelang es
dem englischen Gesandten, den .König für bessere und weisere Maßregeln
zu stimmen. Der König versprach in einem Edict, für den Unterhalt der
Geistlichen der Waldenser sorgen zu wollen, auch sollten sie die außerhalb
ihrer Grenzen erworbenen Besitzungen behalten dürfen; ferner sollten die
Protestanten künftig Ingenieure, Architekten, Mediciner u. s. w. werden
können.
Kurz dmauf kam der König ganz von den Vorurtheilen zurück, welche
man ihm bislang gegen die Bewohner der Thäler einzuflößen bemüht ge¬
wesen war, und erlaubte ihnen, ihren Gottesdienst wieder in der im I. 1807
erbauten und 1814 geschlossenen Kirche zu Se. Jean zu halten.
Eine 1816 angestellte Volkszählung in den Thälern ergab, daß in den¬
selben 10,»75 Protestanten und 4075 Katholiken lebten.
An den politischen Ereignissen des Jahres 1821, welche die Abdankung
Victor Emanuels des Vierten zu Gunsten seines Bruders Karl Felix herbei¬
führten, nahmen die Waldenser nicht Theil. Sie sandten an den neuen Kö¬
nig indeß eine Deputation, die aber nicht zur Audienz gelangte. Karl Felix
sprach: „Man sage ihnen, daß ihnen weiter nichts fehlt, als daß sie nicht
katholisch sind!"
So konnten die Unterdrückungsmaßregeln gegen die Protestanten, die nun
erfolgten, nicht Wunder nehmen. Die in Pignerol ansässigen Waldenser em¬
pfingen den Befehl, das Land binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen,
und nur auf Verwendung Preußens und Englands wurde ihnen der fer¬
nere Ausenthalt gestattet. Jedoch wurde ihnen nicht erlaubt, in Turin eine
Schule zu errichten, und wenn ein Waldenser außerhalb der Thäler gestorben
war. mußten seine Erben fünfhundert Franken bezahlen, um seinen Leichnam
der Schmach eines unehrlichen Begräbnisses zu entziehen.
Im I. 1828 empfingen die Notare der Provinzen Saluzzo und Pignerol
eine vertrauliche Mittheilung, durch welche es ihnen untersagt wurde, irgend
einen Act vorzunehmen, durch welchen ein Waldenser ein Eigenthum außer¬
halb der alten Grenzen erwerbe. Auch die Mischehen und die Ehen zwischen
solchen, welche in dem von der römischen Kirche (was ging die Waldenser
diese an?) verbotenen Grade verwandt waren, wurden aufs neue streng unter¬
sagt; kurz der Papismus gewann wieder die Obergewalt und die Vergangen--
heit hatte für den Augenblick die Neuzeit völlig zurückgedrängt.
Im Jahre 1833 verbot man bei zwei- bis fünfjähriger Gcfüngnißstrafe
das Einbringen von Büchern u. s. w., welche gegen die Principien der ka¬
tholischen Religion, der Moral oder des monarchischen Princips verstießen.
(Also durften die Protestanten auch keine für sie geschriebenen Religions- und
Unterrichtsbücher mehr von auswärts einführen und im Lande durften keine
gedruckt werden.) Außerdem empfing der Statthalter von Pignerol eine ge¬
heime Instruction, die freien Tendenzen der Thalbewohner zu überwachen.
Dieser Statthalter war aber der bekannte Schriftsteller. Alberto Notta,
welchem der König von Preußen für die humane Behandlung der Waldenser
den rothen Adlerorden ertheilte, und dieser Mann leistete der Negierung durch
sein Benehmen bessere Dienste, als wenn er streng verfahren wäre. Er berief
die ihm als verdächtig bezeichneten Personen zu sich und überzeugte sie. daß
es in ihrem eigenen Interesse läge, keinen Anstoß zu erregen. Und dies half.
Im Jahre 1331, den 17. April, bestieg Karl Albert den Thron von Sardinien;
allein seine Regierung ging noch geraume Zeit im alten Gleise. Denn im
Jahre 1841 gelangte wieder an die Waldenser eine Aufforderung, sich ihrer
Besitzungen außerhalb der ihnen von den alten Gesetzen vorgeschriebenen Gren¬
zen binnen einer festgesetzten Frist zu entäußern. Die von dieser Maßregel
Betroffenen wendeten sich mit einer Bittschrift an die Regierung und der Se¬
nat zu Turin entschied dahin, daß die Waldenser in dem Besitz derjenigen
Güter bleiben sollten, welche bereits vor dem 17. April 1831, als dem Zeit¬
punkt, wo Karl Albert den Thron bestiegen hatte, in ihrem Besitz gewesen
wären. Eine neue an die Regierung eingereichte Bittschrift führte aus, daß
die alten Grenzen wegen der gewachsenen Bevölkerung jetzt viel zu eng wären
und daß man daher den Waldensern gestatten möchte, alle außerhalb erwor¬
bene Besitzungen zu behalten. Allein diese Bitte fand kein Gehör, sondern
der Minister hielt die Entscheidung des Senats aufrecht.
Dn entwarf mit Erlaubniß der Regierung die Waldensertafel eine genaue
Statistik der Thäler, um zu beweisen, daß sie in zu enge Grenzen eingeengt
wären. Diese Darlegung der Sachverhältnisse erwirkte endlich für die Wal¬
denser die Erlaubniß, auch das nach dem Jahre 1331 außerhalb der Thäler
erworbene Grundeigenthum zu behalten, wenn sie bei der Regierung um eine
besondere Ermächtigung dazu einkamen.
Endlich aber schlug für die Waldenser wieder die Stunde der Befreiung
von allem sowol weltlichen als geistlichen Druck. Denn noch bevor die
Stürme des Jahres 1848 daherbrausten, hatte Karl Albert aus freier Ent¬
schließung und ohne alle äußere Nöthigung seinem Volk eine Constitution
zugesagt. Die Strenge der alten Verordnungen gegen die Waldenser war be¬
reits durch die persönlichen Maßregeln des seine Zeit begreifenden Königs
außer Kraft gesetzt und auch der römische Klerus änderte gegen sie sein Sy¬
stem der Verfolgungen. Nur noch durch Schriften suchte er sie zu bekämpfen
und es erschienen die „Pastoralbriese", auf welche einige Geistliche der
Waldenser antworteten. Doch circulirten diese Widerlegungen nur im Ma¬
nuskript unter den Waldensersamilien. Die Briefe hatten kein Resultat und
die Aufgeklärten gaben den Waldensern Recht.
Der König konnte sich indeß den Anforderungen des Klerus zu einer öf¬
fentlichen Demonstration nicht entziehen, und so willigte er, im Jahre
1844, als Großmeister des Ordens des heiligen Mauritius und Lazarus, ein,
persönlich der Einweihung der Kirche der neuen Congregation zu Tour beizu¬
wohnen, die unter Anrufung dieser Heiligen vor sich ging.
Schon war nach Tour der Befehl gekommen, für Einquartierung der Li¬
nientruppen, welche den König als Leibwache begleiten sollten. Quartier zu
machen: da traf auf einmal die frohe Nachricht ein. daß der König befohlen
habe, die Garden sollten ihm nicht folgen; er hätte, habe er gesagt, derselben
in der Mitte seiner Waldenser nicht nöthig.
Und so geschah es; das Militär ging nach Pignerol zurück. Die Mar¬
quis von Luzern und von Angrogne baten den König, sich von dem Waldenser-
militär empfangen zu lassen. Obgleich er nun nur zur Feier einer katholi¬
schen Ceremonie erschienen war. so gewährte er doch die Bitte. Und so bil¬
deten alle wehrhafte Männer der Thäler Luzern, Angrogne und Prarusting
beim Einzug Karl Alberts. der sich unter feierlichem Schweigen nach der
neuen katholischen Kirche begab, ein Spalier. Während der König seine An¬
dacht verrichtete, hatten sich die Waldenser aus den Straßen von Luzern auf¬
gestellt und empfingen ihn nun bei seiner Rückkehr mit nicht enden wollenden
Freudenrufen.
Lebhaft ergriffen von diesem herzlichen Empfang ließ Karl Albert, vor
den Thoren des Palastes von Luzern stehend, die Waldensercompagnien nach
ihren Communen und mit ihren Fahnen vor sich vorüberziehen und grüßte
jede Fahne. Mit freundlichem Lächeln bemerkte er es. wenn ein Fahnenträger,
nicht zufrieden, seine Fahne vor ihm zu senken, ihn auch noch durch Abnahme
seines Hutes grüßte. — Welch eine Veränderung im Vergleich mit den ersten
Regierungsjahren des Königs, namentlich aber mit dem Zustand der Wal¬
denser unter Karl Felix!
Auch die Beamten der Waldensertafel erfreuten sich beim König eines
gnädigen Empfangs; er gab sich dem Volk der Waldenser ganz hin und nahm
keine andere Deputation an. Vor seiner Abreise händigte er dem Syndicus
von La Tour ein reiches Geschenk für die Armen beider Konfessionen ein. Aus
seinem Wege loderte ein Kranz von Freudenfeuern aus den Bergen ringsum¬
her. — Am Eingang des Schlosses in La Tour ließ er ein Brunnenmonu¬
ment mit der Aufschrift errichten: „König Karl Albert dem Volke, welches ihn
mit so großer Liebe empfing. 1845. Auf dem Rückweg sprach der König:
„Niemals werde ich die Liebesbezeugungen der Waldenser vergessen, welche
dem Thron von Savoyen noch dieselbe Treue bewahrt haben, durch welche
sich einst ihre Vorfahren auszeichneten."
So bot die Einweihung einer der Waldenserkirche ursprünglich feindlichen
Anstalt, statt die Besorgniß, welche sie zuerst bei ihnen hervorgerufen hatte,
zu rechtfertigen, den Waldenscrn vielmehr eine Bürgschaft von Glück und
Schutz unter ihrem freisinnigen, aufgeklärten König.
Welche gründliche Veränderung in der ganzen Staatseinrichtung vorge¬
gangen war, das bewies am schlagendsten der Umstand, daß der Oberst
Beckwith, ein Wohlthäter der Waldenser, ein Invalid, welcher mehr als ein¬
mal in Gefahr stand, durch niedrige Kabalen aus dem Lande verwiesen zu
werden, weil er Aufklärung verbreitete und den ein Bischof in einem Journal¬
artikel „den Abenteurer mit dem hölzernen Beine" nannte, vom König den
Orden des heiligen Mauritius und Lazarus erhielt.
Die Waldenser, unter welchen dieser Oberst Beckwith ein Engel des
Segens war, feierten seinen Namen unter anderem durch eine Inschrift über
einer der vielen durch seinen Edelmut!) gegründeten Schulen, welche lautet
„Der Name des Obersten Beckwith werde von allen, welche hier eintreten,
gesegnet! — Das ganze Land wiederholte in seinem Herzen diese Worte.
Was der König bisher gleichsam nur privatim für die Waldenser gethan
hatte, das gewann im Jahre 1847 öffentliche, gesetzliche Gestalt. Denn ge¬
gen das Ende dieses Jahres begannen die lange schon von Karl Albert er¬
wogenen socialen und politischen Reformen ins Werk gesetzt zu werden: die
Reform des gerichtlichen Verfahrens, bei welchem statt der bisherigen schrift¬
lichen Procedur das mündliche Verfahren eintrat; die Bildung von Geschwo¬
renengerichten und die Aushebung der exceptionellen Gerichtsbarkeit; und am
22. November 1847 wurde das Gesetz über die Gemeinde- und Provinzialräthe
erlassen, durch welches die Wahl der Waldenser nicht weiter beschränkt war.
Die Bildung der Nationalgarde ging unmittelbar daraus vor sich.
Der Marquis von Azeglio, welcher später Minister wurde, setzte damals
seinen Namen an die Spitze einer Petition, welche die vollständige Emanci¬
pation der Waldenser und der Juden bezweckte. Er wendete sich deshalb in
einem Rundschreiben an alle Bischöfe des Königreichs, um sie für diese Ma߬
regel zu gewinnen; und man muß lobend anerkennen, daß mehre derselben
sich nicht abgeneigt zeigten.
Später richtete der edelmüthige Marquis seine Bitte an den König selbst,
welcher sich einige Tage nachher eine Petition der Waldenser anschloß. Der
öffentliche Geist unterstützte diese Schritte. Denn bei einem patriotischen Fest¬
mahl am 12. December zu Pignerol erhob sich der Advocat Audostredi und
sprach: „An dem Fuße dieser auf uns herabschauenden Gebirge leben zwanzig¬
tausend unserer Brüder, welche des Bürgerrechts beraubt sind und gleichwol
sind sie gebildete, arbeitsame Männer, stark an Armen und Herzen wie alle
andere Italiener. An uns ist es, unsere Stimme zu ihren Gunsten zu er¬
heben; an uns, ihren nächsten Brüdern, zu verlangen, daß das Vaterland für
sie eine echte und keine Stiefmutter sei; an uns, zuerst zu rufen: „Es lebe
die Emancipation der Waldenser!" Mit Enthusiasmus wiederholte die
ganze Versammlung diesen Ruf.
Zwei Wochen später fand ein ähnliches Festmahl zu Turin statt. Der
Kapellan der protestantischen Gesandtschaften hielt auf demselben eine Rede
ähnlichen Inhalts. Ganz Piemont und sogar Sardinien theilten diesen patrio¬
tischen Aufschwung des Fortschritts. Derselbe stützte sich aber vornehmlich
auf das edle Versprechen Karl Alberts. seinem Volk eine Constitution zu ge¬
ben, so wie auf die liberalen Reformen, welche der neue Papst. Plus der
Neunte, in seinen eigenen Staaten damals einleitete.
Das Statut, oder die „constitutionelle Charte" des Königreichs Sar¬
dinien wurde am 8. Februar 1848 publicirt. Sie setzte eine Wahlkammer und
sehr freisinnige Bedingungen der Wählbarkeit ihrer Mitglieder fest. Der En¬
thusiasmus war ein allgemeiner, und die Waldenser theilten ihn. obgleich sie
immer noch, gemäß den alten Edicten. nur eine geduldete Partei waren.
Die Freiheit der Presse gestattete indeß der öffentlichen Meinung, sich für
deren Emancipation allgemein auszusprechen, und bald verbreitete sich in der
Hauptstadt das Gerücht, daß ein Edict in diesem Sinn erlassen werden würde.
Dies geschah den 16. Februar 1848 gegen Abend. Sogleich strömten Tausende
unter den Fenstern des Repräsentanten der Waldenserthäler. Amadeus Berl.
Pfarrers der Gemeinde zu Turin, zusammen und sangen die patriotische
Hymne: „Brüder Italiens. Italien ist erwacht u. s. w." ^ratelli ä'Itiüia
— I/Iwlia s' s clestg. ete.) Die Freudenbezeugungen dauerten bis tief in
die Nacht hinein. Am andern Morgen erschien folgendes Edict:
„In Betracht der Treue und guten Gesinnung der Waldenserbevölkerung
haben Unsere königlichen Vorfahren sich in Gnaden bewogen gefunden, durch
mehre von Zeit zu Zeit getroffene Maßregeln die alten Beschränkungen zum
Theil ganz abzuschaffen, zum Theil zu andern. welche die Waldenser in ihren
bürgerlichen Rechten beeinträchtigten, und Wir selbst haben in gleicher Weise
denselben neue ausgedehntere Privilegien bewilligt.
Jetzt, wo die Beweggründe der alten Beschränkungen nicht mehr statt»
finden und wo das Verfahren, nur schrittweise in ihrem Zustande Verbesse¬
rungen eintreten zu lassen, sein Ziel gesunden haben muß. ist es Unser gnä¬
diger Wille, daß die Waldenser an allen Wohlthaten Theil haben sollen, welche
aus den allgemeinen Grundsätzen unserer Gesetzgebung entspringen.
Infolge dessen haben Wir durch Gegenwärtiges mit gutem Gewissen,
in königlicher Machtvollkommenheit, nachdem Wir die Meinung Unseres Con¬
seils darüber vernommen haben, befohlen und befehlen wie folgt:
„1.) Die Waldenser treten hinfort in alle bürgerliche und politische Rechte
gleich allen anderen Unserer Unterthanen; sie dürfen in voller Freiheit alle
Schulen und die Universität besuchen und akademische Grade erwerben.
2) In Hinsicht auf ihre Religionsübung und ihre bestehenden Schulen
findet keine Neuerung statt.
3) Durch Gegenwärtiges sind alle zuwiderlaufende Verordnungen auf¬
gehoben, und Wir befehlen dem Senate und der Rechnungskammer, dieses
Decret einzuregistriren, es zu beobachten und beobachten zu lassen, indem Wir
wollen, daß es in die Sammlung der Negierungsacten aufgenommen werde."
Als dieses Decret in den Thälern bekannt wurde, erregte es einen allge¬
meinen Jubel. In La Tour illuminirte man am 24. und 25. Februar die
ganze Stadt; die Compagnien der Waldenser mit ihren Fahnen zogen auf und
der Pastor Meille hielt in der Kirche von Des Copiers eine ergreifende Rede.
Den ganzen Tag zogen die Compagnien der Nationalgarde in der Stadt um¬
her und sangen patriotische Lieder, namentlich das:
Ocm 1'a,22urg. eoearclg, sul xstto
(non iiÄioi in euorv et<z.
(Wörtlich: Mit der blauen Cocarde auf der Brust —
mit italienischem Entzücken im Herzen u. s. w.
Darein mischt en sich die Rufe: Es lebe Italien! Es lebe die Constitution!
Es lebe Karl Albert! — Der folgende Tag, ein Feiertag, war speciell zur
Feier der Emancipation der Waldenser bestimmt. Man hatte den Bewohnern
der Berge den Grund des Freudenfestes mitgetheilt und gegen Abend, wäh¬
rend die Stadt illuminirt wurde, leuchteten von allen Berggipfeln Hunderte
von Feuern.
Als auch nach Pignerol die freudige Nachricht gelangte, baten die daselbst
wohnenden Waldenser den Commandanten um die Erlaubniß, ihre Wohnun¬
gen illuminiren zu dürfen. Sie erfolgte, und auch alle Katholiken thaten
dasselbe. Auch an den folgenden Festen der Waldenser nahm die katholische
Bevölkerung freudigen Antheil. In Se. Jean zeichnete sich z. B. das Pres-
byterium durch seine glänzende Erleuchtung aus und der Prior ließ sogar die
Glocken läuten!
Aber alle Feste in den Thälern, bei welchen sich eine so schöne Harmonie
zwischen den Katholiken und Protestanten zeigte — (denn nur von Fanatikern
aufgestachelt ist das Volk des Hasses fähig) — waren nichts im Vergleich mit
dem, was in Turin geschah. Für den 28. Februar war ein Nationalfest an¬
gesagt, auf welchem alle Provinzen des Königreichs vertreten werden sollten,
um die Einführung der Constitution zu feiern. Am 27. hatten sich die Wal-
denserdeputirten aufgemacht, und wo sie vorüberzogen, rief man: „Es leben
unsere Waldenserbrüder! Es lebe die Gewissensfreiheit!" In Turin fanden
die Mitglieder der Deputation, an welche sich noch andere Waldenser ange¬
schlossen hatten, in besonders für sie eingerichteten Wohnungen Aufnahme.
Mehre Kaufleute hatten ihre Magazine geleert, um deren Räume würdig
auszuschmücken.
Am folgenden Morgen versammelten sich die Deputirten auf dem Platz
vor dem neuen Thore. Ein Zug weiß gekleideter Mädchen mit blauen Leib¬
binden, jede eine kleine Fahne tragend, schritt ihnen bei ihrem Einzug ins
Thor voraus. Auf sie folgten mehr als sechshundert Männer mit einer präch¬
tigen Fahne, auf welcher das königliche Wappen in Silber gestickt war und
welche die Inschrift führte: „Karl Albert die dankbaren Waldenser".
Diese wurden mit den lebhaftesten Beifallsrufen von der versammelten
Menge empfangen; Tücher wehten aus den Fenstern; von den Balconen reg¬
nete es Blumen auf die Mädchen und es erscholl der tausendstimmige Ruf:
„Es leben unsere Waldenserbrüder! Hoch die WaldenseremancipationI"
Selbst Unbekannte umarmten die Waldenser. drückten ihnen die Hände
und beglückwünschten sich und sie wegen des Friedens und der Freiheit, welche
alle italienische Herzen damals hofften. Sogar römische Priester drängten sich
durch die Reihen und umarmten die Waldenser, indem sie riefen: „Es lebe
die Freiheit! Es lebe die Brüderlichkeit!"
Als der Zug der Deputationen der Provinzen geordnet wurde, um vor
dem königlichen Palast vorüberzuziehen, wurde den Waldensern der erste Platz
angewiesen. „Sie sind — sagte man — lange genug die Letzten gewesen,
heute sollen sie die Ersten sein!" Kurz es ist nicht möglich, den Eifer, die
Liebe, den Enthusiasmus zu beschreiben, mit welchem die Waldenser überall
empfangen wurden. Wenn man aus der Straße einen Fremden sah. so faßte
man ihn am Arme und wenn man aus die Erkundigung: woher? erfuhr, er
wäre ein Waldenser. so siel man ihm um den Hals. Früher waren aus der¬
selben Stätte von römischen Priestern Scheiterhaufen angezündet worden und
die Volksmenge hatte sich ebenso gedrängt, Zeuge des Märtyrertodes der
Waldenser zu sein und jetzt?--
Doch auf dein Antlitz des Königs zeigten sich schon Spuren von Unruhe
und Besorgniß; denn er hatte von Frankreich her die Nachricht von dem Sturz
des Königs erhalten und bald brannte der Aufruhr in fast allen Ländern Eu¬
ropas. Die Oestreicher wurden aus Mailand und Venedig vertrieben; Sici-
lien erklärte sich von Neapel unabhängig und Rom gab sich eine demokratische
Verfassung. Nur in Sardinien herrschte — Dank der gegebenen Constitution!
Ordnung. Allein der König, von den Wünschen der Demokratie (? d. Red.) ge¬
drängt, erneuerte den Krieg gegen Oestreich, wie man sagt gegen die Meinung
und den Willen der Chefs der Armee, da die Soldaten ungeübt waren. Der
Erfolg ist der Welt bekannt: Karl Albert dankte zu Gunsten seines ältesten Soh¬
nes, des gegenwärtigen Königs, Victor Emanuel ab. verließ sein Vaterland
und starb am 28. Juli 1849 zu Oporto. Tief war die Trauer der Waldenser
um diesen König, welcher ihnen endlich die ersehnte Erlösung aus allen Drang¬
salen gebracht hatte. Aber sein Sohn hat treu gehalten an der gegebenen
Verfassung, und gegenwärtig bilden die Waldenscrthäler mit ihren arbeitsamen,
frommen Einwohnern, im Verhältniß zu ihrer Bevölkerung den civilisirtesten
Theil des Königreichs Sardinien. Wenn das Land klein ist. so ist das Volk
desto größer; es ist groß durch seinen evangelischen Geist. — So schließt Mu¬
ston sein Werk: I/Isi-asi Ac-s ^Ixes etc.
Seitdem Religionsfreiheit herrscht, breitet sich der Protestantismus in
Sardinien immer mehr aus und auch in dem Theil der Lombardei, welcher
im letzten Frieden diesem zugefallen ist. wird das überall der Fall sein und
so auch überall der finstere, mittelalterliche Geist der Verfolgung gebannt wer¬
den, welcher von Rom ausgeht; der Geist der Zeit ist mächtiger als er.
Von den Ufern Hollands bis zur Mündung der Weser zieht sich in bogenför¬
miger Linie, immer in gleicher Entfernung von der Küste, eine Kette von Inseln
hin, die meist dem Königreich der Niederlande und Ostfriesland, also Hannover,
angehören. Den ostfriesischen Inseln, welche die Namen Borkum, Zuist,
Norderney, Baltrum, Langer-Oge und Spiker-Oge führen, schließt
sich östlich die vldenbmgische Insel Wanger-Oge an. Weiter ins Meer
hinausgerückt folgt dann der rothe Felsen von Helgoland, der vor den
Mündungen der Weser und Elbe Wache hält. Diese Inseln und Eilande
scheinen von der Natur wie Schanzen aufgeworfen, um den wilden Sturm¬
lauf des Oceans zu brechen, und wirklich leisten sie, im Verein mit den am
Küstensaum erbauten Deichen, nicht geringe Hilfe. Gleichwol wird die Ab¬
wehr derselben oft genug vor der Gewalt der Nordweststürme zu Schanden.
Ein Blick auf die Karte zeigt die furchtbarsten Einbrüche des Meeres in das
Land, die aus einer uns noch zugänglichen Zeit stammen: die Zuyder-Zee in
Holland, den Dollart in Ostfriesland und den Jahdebusen im Herzogthum
Oldenburg. Von Jahr zu Jahr verlieren die genannten Inseln an Wider¬
standskraft, und jene äußersten Bollwerke des Festlandes schwinden sämmtlich,
langsamer oder schneller, dahin. So bleibt uns Deutschen wenigstens der
leidige Trost, daß unsere den Briten zugefallene Insel Helgoland auch diesen
nicht verbleiben, sondern unter der Hand eines höhern Herrn zerbrechen wird,
um dann niemandem mehr anzugehören.
Erwägt man die Lage dieser Inseln und ihre seit Menschengedenken fort¬
gesetzte Zerbröckelung, so liegt der Gedanke nahe, daß sie zu einer Zeit, von
der wir keine Kunde haben, einen Theil des Festlandes bildeten, und also
nichts als Küstentrümmer der nordwestdeutschen Ebene sind — verlorene Posten,
deren Erhaltung man aufgegeben hat, weil die ungeheuern Kosten einer hin¬
reichenden Bedeichung in keinem Verhältniß zu dem Gewinn der unfruchtbaren
Eilande ständen. ..Wäre die Anhänglichkeit der Menschen an den Boden, auf
dem sie geboren wurden, nicht so groß; verlöre die Gefahr, die uns täglich
bedroht, nicht einen guten Theil von ihrem Schrecken: diese Nordseeinsulaner
würden sich längst nach dem sichern Festland übergesiedelt haben; aber gleich
den Bewohnern der Bergabhänge des Vesuv und Aetna, trotzen sie leichtsinnig
dem Verderben, und lachen über das Schwert des Damokles. das am dünnen
Haar über ihrem Haupte schwebt. Jene Südländer halten wenigstens Wohn¬
sitze von außerordentlicher Fruchtbarkeit und Schönheit fest, während im Gegen¬
theil diese Friesen mit dem Ocean um Sandinseln ringen, die kaum dürftiger
gedacht werden können. Schritt vor Schritt weichen sie der aus Westen an¬
dringenden Gefahr, und wenn Neptun mit gewaltigem Dreizack ihre dürftigen
Aecker und Wohnungen zerreißt und zerschmettert: richten sie weiter ostwärts
ihre Hütte und, wenn es sein muß, ihr Kirchlein auf und pflanzen ihre Kar¬
toffeln, welche nebst Fischen und andern Seethieren ihre Nahrung bilden.
Auf den kleinern friesischen Inseln im Westen Schleswigs, den sogenann¬
ten Halligen, findet ein ähnlicher Kampf trotzigkühner Menschen mit den
wilden Elementen Statt, welcher um so furchtbarer ist. als diese Eilande, deren
Zahl jetzt etwa noch sechzehn beträgt, nur von wenigen Familien bewohnt
werden, so daß an eine größere, gemeinsame Abwehr gegen das Meer nicht ge¬
dacht werden kann. Der einzige Schutz dieser armen Menschen, welche nichts
als ein paar Schafe besitzen, die sich von hartem Schilfgras nähren, besteht
in aufgeschütteten Erdhügeln von zwanzig Fuß Höhe, Warften genannt.
Daraus erbauen sie, wie dies auch in den Marschgegenden des Festlandes
geschieht, ihre Wohnungen. Jede höhere Flut überdeckt die Eilande bis zu
den Warften; dann sind in dem weiten Ocean nur noch diese Punkte wasser¬
frei — hier und dort eine Hand voll Erde mit einem Gebäude darauf, in
welchem Menschenherzen schlagen: Greise, Weiber, Kinder, vor deren Schwelle
der unerbittliche Tod lauert, indeß vielleicht der Herr des Hauses auswärts
auf einer Seefahrt begriffen ist. Hat eine gewöhnliche starke Flut die Höhe
von zwanzig Fuß. so kann die Springflut, wenn sie vom Nordwest gepeitscht
wird, doppelt so hoch anlaufen. Von Angst erfüllt flüchten die Bewohner
mit ihren Schafen unter das Dach; aber wie fest auch das Haus eingerammt
sein mag, nicht immer ist es im Stande, den anstürzcnden Wasscrbergen zu
widerstehn. Die Balken werden losgespült und neigen sich; die Wogen, welche
durch die zertrümmerten Laden und Fenster in die Wohnung gebrochen sind,
zerreißen, immer höher steigend, auch das Dach, und Menschen und Vieh
sinken in das weite Grab der Wasserwüste.
Da der männliche Theil der Nordseeinsulaner sast nur aus Schiffern be-
steht, so lernen sie früh den Gefahren des Meeres die Stirn bieten. Ihren
von den Vätern angestammten Sitz aufzugeben, weil derselbe leicht eine Beute
des Meeres werden könnte, liegt diesen tapfern Herzen ebenso fern, als ihr
Schiff zu verlassen, weil sie damit scheitern könnten. Nur die Sorge um
Familie und Habe, welche dem Wohnsitz anvertraut bleiben, macht einen Unter¬
schied; aber auch der Verlust von theuern Menschen und Glücksgütern fällt bei
dem Seemann nicht so schwer ins Gewicht. Wie der Soldat, ist er ein Sohn
der blinden Göttin Fortuna, an jähe Glückswechsel jeder Art gewöhnt. Heute
schlägt ihm der Sturm einen Bruder, morgen einen Sohn von dem Deck
seines Schiffes weg; aber fest bleibt er am Steuer und würgt den Schmerz
in die Brust hinab. „Menschen sind sterblich, pflegt er zu sagen, und ob
einer, der nichts mehr spürt, von Würmern oder von Fischen gebissen wird,
lauft aus eins hinaus. Wenigstens ist der nasse Tod ein gesunder Tod, und
wir werden ebenso schnell als billig besorgt."
Wanger-Oge ist abzuleiten von dem altfriesischen Stamm der Wangrier,
deren Gebiet im Westen des Jahdebusens lag und jetzt ein Theil der olden-
burgischen Herrschaft Jever ist. Ich besuchte die Insel im Sommer 1844 mit
meiner Familie und verweilte daselbst sechs Wochen. Da es klares Wetter
war, konnten wir sie schon von dem gegenüberliegenden Festland recht wohl
sehen. Obschon sie keine malerischen Formen hat. nahm sie sich doch mit ihrer
Hochaussteigenden Kirche, mit demi runden Leuchtthurm und den Salinegebäu¬
den, wo Salz aus Seewasser gewonnen wurde, stattlich genug aus. — Im
hellsten Sonnenschein soll sie einer Schneelandschaft, bei dunklem Wetter einem
Walde gleichen.
Oft erscheint die Insel seltsam in die Luft gehoben — updragt (aufge¬
tragen) — wie es im Plattdeutschen heißt; es gehört das zu den Zauberwerken
der Fee Morgana. die bekanntlich in Afrikas Sandebenen besonders thätig
ist. Diese Erscheinung, die mit einem guten deutschen Wort Kimmung heißt,
erklärt sich durch die dickere Luftschicht auf der See und dem flachen Strande,
erzeugt durch das in der Sonne verdampfende Meerwasser. Ich habe sie wie¬
derholt zur Abendzeit im Kleinen auf der Insel beobachtet. Vögel, die auf
dem Wasser schwammen oder auf den Sandbänken saßen, schwammen oder'
saßen, so schien es, wunderbar groß in der Luft. Personen, die in der Ferne
vor mir herschritten, gingen wie auf Stelzen, und nahmen sich mit ihren
Riesenbeinen phantastisch genug aus. Helgoland, das gewöhnlich, auch beim
hellsten Wetter, wegen zu großer Entfernung nicht gesehen wird, steigt, wenn
der Zauberstab der Fata Morgana winkt, bisweilen hinter dem Horizont her¬
vor und wird dann von dem „Auge der Wangrier" gesehen.
Regelmäßige Reisegelegenheiten nach Wanger-Oge gab es damals zwei¬
erlei: entweder mit den Dampfschiffen, die von Bremen aus die drei Bade-
lnseln Helgoland. Wanger-Oge und Norderney während der heißen Monate
besuchten, oder mit dem Fährschiff, das in dieser Zeit täglich von dem Fest¬
land kam. und zugleich die Briefe nebst vielen andern Dingen besorgte. Mit
ihm pflegten besonders die Oldenburger und die Ostfriesen die Ueberfahrt zu
machen, und auch wir benutzten diese Gelegenheit. Wir waren sehr früh von
Jever aufgebrochen, um zur rechten Zeit an der Friedrichsschlcuse bei Karo¬
linen-Siel in Ostfriesland, von wo die Abfahrt mit der Flutzeit Statt fin¬
det, anzulangen, und hatten zu Wagen das üppige Marschland auf den glat¬
ten, schmalen Kleistraßcn, welche der Sieltiefcn wegen oft wunderliche Zick¬
zacklinien beschreiben, bis zur „goldenen Linie" — so heißt der Küstenpunkt
bei der Fricdrichsschleuse — durchschnitten. Dörfer, Kirchen. Hüusergruppen,
von Eschen. Linden, Erlen, Weiden oder Obstbäumen umgeben, stattliche
Windmühlen nach holländischer Art gaben der Landschaft ein weit bewegteres
Leben, als wir es auf früheren Ausflügen in der kahlen butjadinger Marsch
gefunden hatten. Felder mit Bohnen, welche Frucht als Sklavenspeise nach
Amerika geht, mit dem herrlichsten Getreide und goldenem Raps von erstaun¬
licher Höhe wechselten fortwährend mit der üppiggrünen, blumengestickten, von
zahllosem Vieh bedeckten Weide. Hier und da erhob sich eine schwarz und
weißgefleckte Kuh langsam von dem weichen Lager und schüttelte den Thau
der Nacht von dem breiten Rücken. Schmucke Landmädchen traten mit blank-
gcscheuertcn Eimern, die an einem Tragholz, wie die Schalen einer Wage,
Von ihren Schultern niederschwebten, und deren breite Messingreise von weit¬
her in der Morgensonne glänzten, aus den stattlichen Häusern, um das Vieh
zu melken.
Wir kamen über Alt-Garms-Siel, wo vor zweihundert Jahren ein
von Seeschiffen häufig besuchter Hafen war, das aber jetzt drei Viertelstunden
von der Küste entfernt liegt. Dies erklärt sich aus dem Verfahren, daß man
dem Gebiete des Meers einen Streif nach dem andern entreißt, indem man
die „Groden". d. h. das Land jenseits des Deichs, durch neue Deiche einhegt.
Auf diese Weise setzt sich Ring an Ring, und während die Inseln von Jahr zu
Jahr schwinden, wächst das Festland in das Meer hinaus, und man erobert das,
was die See jählings in großen Stürmen an sich gerissen, langsam wieder
zurück. Die Entfernung von der Friedrichsschleuse bis Wanger-Oge mag
anderthalb Meilen betragen. Bei recht gutem Winde ist dieser Weg mit dem
Fährschiff bald zurückgelegt; in der Regel dauert es aber einen halben Tag,
weil die Fahrt durch den langen Kanal, der von der Schleuse in das Meer
führt, und das Laviren auf der See viele Zeit kostet. Ist Aeolus übelgelaunt,
so kann es auch wol einen ganzen Tag dauern. Das ist dann, im Anblick
der nahen und doch unerreichbaren Insel, eine große Prüfung der Geduld,
verbunden mit einem gründlichen Studium der Seekrankheit. Die Fuhrleute,
um die wahrscheinliche Dauer der Fahrt befragt, geben, auch beim günstigsten
Wetter, keine entschiedene Antwort, weil ein schnelles Umsetzen des Windes
nur allzuhäufig ist. Es war ein schöner, sonniger und doch nicht heißer Tag,
als wir den Kanal hinab dem Meer und der Insel entgegenführen. Auf den
Ufern rechts und links, welche, immer weiter auseinandergehend, sich wie
grüne Zungen in die See erstreckten, weideten die schönsten Rinder und Schafe;
junge Pferde galoppirten mit flatternden Mähnen an dem äußersten Rande
des Grodens im tiefen Gras, indem sie uns ein fröhliches guten Tag! guten Tag!
zuwieherten. Allmälig rückten die Landspitzen immer ferner; das Vieh nahm
sich nur noch wie weiße und schwarze Flecken im Grünen aus. Silberweiße
Seeschwalben umschwärmten in zackigen Fluge mit dem schrillen Ruft kriäh!
kriäh! unser Schiff, tauchten spielend die Flügelspitzen und die rothen Füßchen
ins Wasser und haschten, unserer Wellenspur folgend, kleine Fische. Hier und
da sah das naßglänzende Haupt eines Seehunds oder der schwarze Rücken
eines Delphins aus den Wellen hervor. Sieh, jetzt schnellt er sich empor,
und der weiße Bauch glänzt in der Sonne. Arion, du mußt ein guter Rei¬
ter gewesen sein, wenn du auf diesem tollen Springer die Meerflut durch¬
schnitten hast. In großem Zickzack rückten wir — denn der Schiffer mußte
den Wind von der Seite fassen — der Insel immer näher, deren Formen sich
allmälig deutlicher entwickelten. Jetzt konnten wir die Hauptspitze des hohen
Kirchthurms von den kleineren Spitzen, welche sie umstehen, unterscheiden.
Man zeigte uns den Wagen des Vogts, der am Ufer hielt, um uns aus dem
Schiffe, das nicht völlig landen konnte, abzuholen. Bis an die Achsen fuhr
er ins Meer hinein und nahm uns auf, indeß Badegäste und Insulaner in
neugierigen Gruppen sich sammelten. So kamen wir zu Wagen, und nicht
zu Schiffe, auf Wanger-Oge an.
Das Meer zwischen dem Festland und unserer Insel ist im Ganzen nur
seicht und zeigt nicht leicht hohe Wellen; erst auf der Nordseite Wanger-Oges
tritt uns Neptun in voller Größe und Majestät entgegen. Zur Ebbezeit
wird jene Strecke großentheils wasserfrei. Auch ist es bekannt, daß Graf
Anton Günther von Oldenburg, der berühmte Pferdezüchter, über das
„Watt" — so heißt mit einem friesischen Worte das ganze Ufergebiet,
welches nur während der Flut unter Wasser steht — wiederholt von
Ieverland nach Wanger-Oge geritten ist. Noch zu Anfang unseres Jahr¬
hunderts — hat man mir erzählt —fingen Wagen nach der Insel; ja, die
Wanger-Oger sollen noch jetzt Wege kennen, um zu Fuß hinüber und her¬
über zu gelangen — trotz der Einschnitte, welche das Meer seitdem in das
Watt gegraben hat.
Nach Norderney fahren die Badegäste den ganzen Sommer hindurch vom
Festland während der Ebbe im Wagen.
Das Watt bei Wanger-Oge besteht großentheils aus Sandbänken; doch
findet man auch ganze Strecken, wo der Kiel. d. h. die fette Marscherde, noch
blos liegt — ein Beweis, daß hier vor Zeiten Marschboden und Festland
war. welches die Stürme abgeschält und stückweise abgeschlagen haben. Auch
bedienen sich die Insulaner dieses Kiels statt des Lehms, und füllen denne
das Fachwerk ihrer Hütten. Um die Ebbezeit wachsen Inseln und Küsten
weit ins Meer Humus; mit der Flut schrumpfen sie plötzlich zusammen. So
ist auch WangevOge wahrend der Ebbe ringsum von einem ungeheuren
Waldgebiet umgeben, und man kann auf den schnell trocknenden Sandbänken
weit hinaus der zurückgezogenen See entgegengehen und die reiche Pflanzen-
und Thierwelt in dem bloßgelegten Meeresschoß durchforschen. Aber wehe
dem Wanderer, der seine Zeit nicht bemißt und von der Flut sich überraschen
läßt! Siehst du dort den dunklen Streif am Horizont, der immer näher
kommt und immer höher steigt? Die weißen Weilcnhäuptcr überstürzen sich,
als wollten sie dich ergreifen. Du fliehst nach dem Lande; aber eine tiefere
Stelle des Watts, welche du vorher noch durchschreiten must, hat plötzlich
von der Seite Wasser bekommen. Wasser vor dir. Wasser hinter dir; du
siehst den Tod vor deinen Augen. In solch peinlicher Klemme ist ein Be¬
kannter von mir gewesen, und nnr die rasche Hilfe einiger Insulaner, die
glücklicherweise zur Hand waren, entriß ihn mitten durch Flut und Wogen¬
gebraus dem nahen Verderben.
In alten Zeiten war Wanger-Oge eine beträchtliche Insel und hatte
eine sichere, von vielen fremden Schiffen besuchte Bucht. Zwei Kirchen er¬
hoben sich, die eine im Norden, die andere im Westen der Insel. Aber die
Stürme aus Nordwest fegten immer mehr Land hinweg; die fruchtbarsten
Strecken sielen der See anheim; auch die Kirche im Norden wurde eine Beute
des wilden Elements. Die im Westen folgte ihr später nach unter der Ne¬
gierung des Fräuleins Maria, jener in Jeverland noch vielgenannten Erbtoch¬
ter aus dem Hause des friesischen Häuptlings Edo Wimmeke. welche vor
ungefähr dreihundert Jahren ihre Herrschaft Jever mit der dazu gehörigen
Insel Wanger-Oge den Grafen von Oldenburg vermachte. Hört man von
diesen untergegangenen Kirchen, so erinnert man sich der uralten, in die Ost¬
see gesunkenen Stadt Vineta auf Usedow, von welcher die Sage geht, daß
ihre Glocken noch im Meere läuten. Infolge der erwähnten Verheerungen
brachen die Wanger-Oger ihre Wohnungen ab, insoweit die See nicht be¬
reits diese Arbeit für sie übernommen hatte, und bauten sich weiter südost-
wärts an. Noch vor wenigen Jahrzehnten sah man Spuren von alten Häu¬
sern und Brunnen; aus dem halbzerrisseuen Kirchhof starrten lange Zeit
Sargtrümmer und Todtengebeine hervor, bis in der Nacht zum 4. Februar 1826
der Rest des Gottesackers von der Flut hinweggerissen wurde. Graf Jo°
dann von Oldenburg baute um 1600 den über zweihundert Fuß hohen
Thurm, der in seinen verschiedenen Stockwerken als Leuchtthurm, Kirche und
Raum für Strandgut diente; denn was von dem Gute Schiffbrüchiger in die
Hände der Insulaner siel, galt diesen als rechtmüßige Beute; wobei natür¬
lich die Gefahr sehr nahe lag, daß die guten Wanger-Ogcr einem in Noth
befindlichen Schiff nicht zu Hilfe eilten, um dem Schicksal, das ihnen viel¬
leicht reiche Geschenke vorbereitete, nicht vorzugreifen. Es sind kaum achtzig
Jahre her, daß der Pfarrer von Wanger-Oge sonntäglich mit seiner Gemeinde
in aller Andacht „sür einen gesegneten Strand" betete. Solche insularische
Anschauungen über Mein und Dein erscheinen freilich dem Binnenländer selt¬
sam genug. Unter Johanns Negierung geschah es auch, daß alterthümliche
Münzen und Geräthschaften auf Wangcr-Oge ausgegraben wurden. Der Fund
wird dahin erklärt, daß der vom Sturm an die Küste der Insel verschlagene
Germ alticus hier verweilt habe, um seine Schiffe ausbessern zu lassen. Unter
Johanns Sohn Anton Günther war die Insel noch anderthalb Meilen lang
und eine Viertelmeile breit. Sie besaß noch immer viel schönes Weideland;
ja, man zählte 1730, also hundert Jahre später, noch 202 Matt fette Weide
und 70 Matt geringere.
Aber nun schritt das Verderben rasch heran, und je höher die Deiche des
Festlands wuchsen, desto schlimmer verfuhr die See mit den ungeschützten Inseln.
Die Weiden wurden mehr und mehr überhäutet, und die Viehzucht der Wanger'
Oger beschränkte sich auf immer kleinere Strecken.
Unterdessen war Jeverland an die Fürsten von Anhalt-Zerbst gekommen,
während sich die Grafschaft Oldenburg zu einer dänischen Provinz erniedrigt
sah. Fürst Friedrich August von Anhalt Zerbst suchte die Verödung Wanger-
Ogcs zu bekämpfen; quer durch die Insel zog er in Schlangenlinien Zäune
aus Strauchholz, um den Sand aufzufangen, und pflanzte den Sandhafer*)
an. welcher merkwürdige, viele Ellenlange Wurzeln mit Häkchen treibt, wodurch
man die Dünen fest zu machen und mit Vegetation zu bekleiden hoffte. Aber die
Gewalt des Elements erwies sich stärker als die Hand der Menschen: seit
1776 ist kein Heu mehr auf der Insel gemacht worden. Natürlich gerieth
hierdurch die Viehzucht in gänzlichen Verfall, und die Einwohner sahen sich
großer Armuth Preis gegeben. Um ihnen aufzuhelfen, schoß ihnen der Fürst Geld
zu Schiffen vor, und bis auf den heutigen Tag sind Frachtfahrten auf der
Nord- und Ostsee und auf den benachbarten Strömen die Hauptbeschäftigung
der Männer auf Wanger-Oge geblieben. Auch ließ er geräumige Kasernen
Herrichten und legte Soldaten auf die Insel. Als das Haus Anhalt-Zerbst 1793
ausstarb, kam die Herrschaft Jever als Kunkellehen an die Kaiserin Katha-
rima die Zweite, bekanntlich eine Prinzessin von Zerbst, und Rußland gewann hier¬
durch einen Fuß in Deutschland, wornach Peter der Große vergebens gestrebt hatte.
Indessen trat Alexander 1807 im tilsiter Frieden die deutsche Herrschaft an
Holland ab, und Jever mußte Napoleons Bruder Ludwig huldigen.
In jener Zeit, wo der französische Kaiser die große Handelssperre gegen
England errichtet hatte, erwarben die Wcmger-Oger schönes Geld, indem sie
an>in großen Schleichhandel Helgolands, das die Briten zur Hauptwaarennie¬
derlage gemacht hatten, eifrigen Antheil nahmen. Als aber Napoleon 1810 Hol¬
land dem Kaiserreich einverleibte, und die Grenzen des letzteren bis Lübeck aus¬
dehnte, wurde unsere Insel von den Franzosen besetzt und der Verkehr und
England unterbrochen.
Endlich kehrten 1813 Oldenburg und Jeverland zu dem angestammten
Fürstenhause zurück. Herzog Peter Friedrich Ludwig war eifrig bemüht, die seinem
Lande von der Hand des fremden Despoten geschlagenen Wunden zu heilen,
wenn auch in der Verwaltung Rückschritte Statt fanden. Nun geschah auch
unserer Insel manches Gute; es wurde nicht nur in der Nähe derselben eine
Austernbank angelegt, sondern auch, im Jahr 1819, das bekannte Seebad
errichtet, welches seitdem vielen Tausenden Gesundheit und herrliche Erfrischung
gewährt, den Wanger-Ogern aber eine ganz neue Quellendes Erwerbs er¬
öffnet hat. Im Jahr 1810 erbaute Großherzog Paul Friedrich August einen
Leuchtthurm von 74 Fuß Höhe auf der Mitte der Insel. Die besseren
Verhältnisse der Insulaner machten sich bald fühlbar. Statt der elenden Hütten
mit Wänden aus Kiel, mit Dächern aus Stroh und drei Thüren nach drei
Seiten, von denen nur jedesmal die geöffnet wurde, welche der Windseite
am entferntesten lag. entstanden jetzt Häuschen aus Ziegelsteinen, die eher ge¬
eignet waren. Winters ein Schirm gegen den Sturm zu sein und Sommers
Badegäste aufzunehmen.
Zur Zeit, als wir die Insel besuchten, hatte sie in der Richtung von
Westen nach Osten eine Stunde, in der Richtung von Norden nach Süden nur
wenige Minuten Ausdehnung. Diese schmale Gestalt gab schon damals der
Befürchtung Raum, daß ein heftiger Sturm sie zerreißen könne.
Wanger-Oge ist ein Sandfeld mit größern und kleinern. theils kümmer¬
lich begrünten, theils ganz nackten Hügeln, welche von Sturm und Wind auf¬
geworfen worden sind. - Um ihre Häuser pflanzen die Einwohner Kartoffeln
und Mohrrüben, welche, durch hohe Umwallung gegen Versandung geschützt,
bei guter Düngung gedeihen. Uebrigens liegt der Sand in den flachern
Theilen der Insel nicht tief. Noch zu Anfang des Jahrhunderts rühmte man
die wcmgeroger Kirschen, welche portugiesischen Ursprungs waren. Was wir
von Obstbäumen bei dem Conversationshause und der Predigerwohnung sahen,
Waren sehr kümmerliche Reste. Ueberhaupt gelangt die Kirsche im ganzen
Herzogthum nur schwer zur Reife, während man in Gärten gute Aepfel- und
Birnensorten hat. Wanger-Ogc ist im Ganzen baumlos; die heftigen Stürme,
welche über die Insel fegen, dulden diesen Schmuck der Landschaft nicht;
namentlich sollen die nordwestlichen Winde jungen Zweigen den Tod bringen.
Nur niedriges Weidengestrüpp und verkrüppelter Hollunder — der Pöbel unter
den Baumgcschlechtern, der sich demüthig vor dem Sturm krümmt — fristet
hier sein trauriges Leben. Dennoch ist das Klima nicht so unfreundlich, als
man denken sollte; kühle Sommer und milde Winter sind überhaupt diesen
Küsten eigen. Große Kämpfe hat man öfters mit dem Winde zu bestehen,
der so stark werden kann, daß man, um die Ecke biegend, plötzlich wie vor
einer Wand steht und schlechterdings nicht mehr weiter zu kommen vermag.
Uebrigens erkältet man sich, was anfangs allen Badegästen auffällt, auch bei
rauhem Wetter nicht leicht, weil der Wind nicht scharf und trocken, sondern
feucht und mit Salzwassertheilchen erfüllt ist. Im hohen Sommer, wo die
Sonne nur sehr kurze Zeit unter dem Horizont verweilt — zur Zeit der „hellen
Nächte", wie es im oldenburgcr Kalender heißt — ist wenig Abkühlung mög¬
lich. Brütet dann die Hitze der Hundstage auf diesen Sandflächen und Dünen,
so leidet man — zumal in den engen Stübchen der Schiffer und bei dem
Mangel an Schatten — sehr. Zum Glück pflegen diese windstillen, glühen¬
den Tage nicht anzuhalten; schnell erhebt sich wieder die reine, kräftige Luft,
die schon allein eine treffliche Kur ist.
Die Gewitter aus Wanger-Oge beginnen meist mit heftigen, gefährlichen
Windstößen; sie Pflegen rund um die Insel zu ziehen und entladen sich dann
mit großer Gewalt. Im Winter wird nur dann strenge Kälte fühlbar, wenn die
Insel ringsum in Eis eingeschlossen ist, was selten geschieht, da bekanntlich See¬
wasser nur schwer gefriert; bleibt das Meer offen, so lindern dessen Ausdünstungen
die Strenge der Witterung. Brunnen grübe man natürlich überall mit Leichtig¬
keit; sie liefern, auch auf den Sandbänken, ein reines, klares, durch den Sand
geläutertes Wasser, das aber ohne Geist ist. Wer erforschen will, was Dünen
sind, der findet auf Wanger-Oge reiche Gelegenheit dazu. Diese aus dem
feinsten Sande bestehenden, durch Quereinschnitte scharf gegliederten Hügelzüge
von dreißig bis fünfzig Fuß Höhe laufen, durch Längenthaler voneinander
geschieden, in gleicher Richtung hintereinander her; gegen das Meer fallen sie
steil ab, während sie gegen das Land weniger schroff geneigt sind. Gelingt
es der Pflanzenwelt nicht, Fuß auf ihnen zu fassen: so bleiben sie ein Spiel
des Windes und ändern ihre Schichtungen, indem die alten Gipfel oder Firsten
einbrechen und neue sich bilden. Da die heftigsten Winde von der See her
kommen, so wandern auf diese Weise die losen Dünen immer weiter ins Land
hinein, und der Raub des Meeres an der Feste ist ein doppelter: auf nassem
und aus trocknem Wege. So gibt es z. B. an der Küste des atlantischen
Oceans, wo bei der Heftigkeit der Stürme und der Wucht der Wassermassen
Dünen von zweihundert Fuß Höhe aufgeworfen werden. Gegenden, welche in
einer Ausdehnung von sechs Stunden durch die vorrückenden Dünen zur Wüste
geworden sind, und wie man am östlichen Abhang des Vesuv Dörfer trifft,
von denen nur noch die Dächer aus dem schwarzen steinernen Lavagrabe hervor¬
ragen: so sieht man in der Bretagne und in Südfrankreich große Striche, wo
Häuser und Ortschaften durch Dünenwanderung untergegangen sind, und nur
noch ein paar Kamine oder einen Kirchthurm wie Finger aus dem Sandmeer
hervorstrecken*). Die wangeroger Dünen sind nicht so mächtiger Art. Man
findet die höhern Hügelzüge am Nordrand bis weit in den Osten der Insel,
wo diese Rücken aus Flugsand eine förmliche Wüste bilden, deren Anblick das
Gefühl unsäglicher Einsamkeit erweckt. Hier ist das weite, nur selten von
dem Fuß eines Menschen betretene Reich der Strandvögel, deren Eier in den
Einschnitten der Sandhügel ein weiches Bett finden. Sonst hauste auch das
wilde Kaninchen in den wangeroger Dünen, wo es. nach seiner Art. tiefe,
weitverzweigte Gänge grub
'7
In einem frühern Artikel d. Bl. wurde mit einigen Worten der trefflichen
Einrichtung der französischen Kriegshafen gedacht. Jetzt, wo beim Hinblick
auf die italienische Frage ein Krieg zwischen den beiden Westmächtcn von
Woche zu Woche möglicher erscheint, wo mindestens beide Mächte auf eine
Weise rüsten, welche die Möglichkeit eines solchen Kriegs als nahe voraus¬
setzt, wird es von Interesse sein, die Meinung eines nach eigner Erfahrung
urtheilenden Engländers über jene Häfen und die Thätigkeit ihrer Werften zu
vernehmen. Wir meinen das sechste Capitel von Busks ,Molch ok tlo
>vo!'1ü«, aus dem wir das Folgende im Auszug mittheilen.
Cherbourg. für England der wichtigste französische Kriegshafen, liegt
nur 63 englische Meilen von den Needles und nur 70 von Portsmouth ent¬
fernt, so daß die Valetta, allerdings einer der schnellsten Dampfer der eng¬
lischen Marine, die Strecke von hier bis zu diesem britischen Hauptkriegshafen
in 4 Stunden 48 Minuten zurücklegen konnte. Es liegt an einer Bucht, die
'
von zwei Vorgebirgen gebildet und durch einen Wasserbrecher vor Stürmen
gesichert ist. Dieser Wasserbrecher, unzweifelhaft der größte der Welt, stellt
sich der Bewegung der Wellen als ein Wall von behauenen Steinen entgegen,
der sich 20 Fuß über der Oberfläche der See erhebt. 12.333 Fuß lang ist und
ein 8 Fuß dickes und 5 Fuß hohes Parapet trägt. An seiner Basis hat er
eine Breite von durchschnittlich 880 Fuß. Die Rhede, die durch ihn gebildet
wird, hat, da sie eine Fläche von ungefähr 2000 englischen Ackern umfaßt,
reichlich Platz für alle Kriegsschiffe Frankreichs. Der Wasserbrccher läßt im
Osten eine Einfahrt von 3600 Fuß und im Westen eine zweite frei, die etwas
mehr als zwei englische Meilen breit ist, so daß Schiffe bei jedem Wetter mit
Leichtigkeit ein- und auslaufen können. Auf dem großen Damm stehen 4 Forts,
am westlichen Ende das Musoir Ouest, in der Mitte ein Hauptfort, dann
weiter westlich die Batterie Jntermvdiaire, endlich am Ostende das Musoir Est.
Das große Centralfort hat ungefähr 510 Fuß im Durchmesser und ist gegen
die See hin von runder, gegen den Hafen hin von elliptischer Form. Es ist
mit Kasematten und Kasernen versehen und durch einen tiefen, breiten Graben
rechts und links von der Plattform des Dammes getrennt. Seine Armirung
wird in 40 Geschützen schwersten Kalibers bestehen, die Forts im Osten und
Westen sollten ursprünglich je 40, die Batterie Jntermsdiaire 14 Kanonen be¬
kommen. Die Plattform des Dammes ist nicht für schweres Geschütz geeignet,
doch können hinter ihrer Brustwehr geschickte Schützen gute Dienste thun. Bis
jetzt hat keines der Forts auf dem Wasserbrecher irgend welche Armirung, und
sehr wahrscheinlich wird keines der beiden Forts am Ende desselben mehr als
22 Geschütze erhalten; außerdem aber ist zu bemerken, daß das Westfort um¬
gebaut werden muß, ehe es den Anprall feindlicher Geschosse und die Erschütte¬
rung, welche die eigne Artillerie bewirken müßte, ohne Schaden aushalten kann,
da infolge des Einsinkens der Grundmauern ein großer Riß durch die ganze
Außenwand entstanden ist. Ueberhaupt wird der ganze Wasserbrccher, wie es
scheint, nur mit sehr beträchtlichen Kosten auf die Dauer erhalten werden
können.
Bon den übrigen Fortisicationen dürften viele, die man dem Plan nach
auszuführen beabsichtigte, nie in Angriff genommen werden. Die wichtigsten
von denen, welche jetzt fertig sind oder sich ihrer Bollendung nähern, sind das
Fort Jay6rial und das Fort de Flamands. Ersteres deckt, auf der Insel
PMe gelegen, mit dem Ostfort des Wasserbrechers die östliche Einfahrt in die
Rhede und wird mit 56 Kanonen und 14 Mörsern armirt werden. Es ist bomben¬
fest und hat einen Ofen zum Glühendmachen von Kugeln. Letzteres, ebenfalls
bombenfest und mit 60 Geschützen armirt, steht auf einem Landvorsprung eine
halbe Kanonenschußweite südwestlich von jenem. Für die Stadt und den in¬
nern Hafen mit den Werften ist die wichtigste Befestigung das Fort, welches
von ungeheuren Granitblöcken erbaut und mit Kasernen für etwa 4000 Mann
versehen, den Hügel du Route krönt. Es ist. indem es außer der Stadt auch
einen großen Theil der Rhede und auf der andern Seite die Eisenbahn be¬
herrscht, der Schlüssel der ganzen Position, wird jedoch zu seiner Vollendung
noch geraume Zeit erfordern. Die Milttärstadt mit den Werften und innern
Hafen liegt nordwestlich von der alten bürgerlichen Stadt. Sie ist von der
letztem durch Walle und einen tiefen mit der See in Verbindung stehenden
Graben getrennt und durch verschiedene Batterien und Forts vertheidigt. An
ihrer Nordostecke erhebt sich auf einer Felsenzunge das Fort du Houel. welches
mit seinen 52 schweren Kanonen die Rhede vollständig beherrscht. Die Erd-
werte, die sich an der östlichen und nördlichen Seefront hinziehen, sind gut
gebaut und werden, wenn sie ihre volle Armirung erhalten haben, mit 82 bis
84 Feuerschlünden gespickt sein. Hinter der Stadt ragen in einem Halbkreis
über den Thälern, welche auf die Rhede zulaufen, die Redouten des Couplets
und du Tot und die Forts des Forches und d'Octeville. Die Westseite der
Rhede wird durch die Batterie Ste. Anne und ein sehr starkes, mit 46 Kano¬
nen und 4 gewaltigen Mörsern armirtcs Fort aus Point Querqucville so wie
durch ein Fort auf dem vor der westlichen Einfahrt liegenden Klippeneiland
Cavagnac vertheidigt werden; indeß ist auch hier noch vieles zu vollenden,
ehe die Rhede vollständig sicher ist.
Im englischen Parlament wurde behauptet, daß Cherbourg einer feind-
lichen Flotte mindestens 3000 Feuerschlünde entgegenstellen könne. Dasselbe
wurde in diesen Blättern gesagt. Buhl. der die Sache gründlich untersucht
hat. nennt dies eine ungeheure Uebertreibung. Er hat die Schießscharten
gezählt und die verschiedenen Forts, Schanzen und Batterien angesehen und
das Ergebniß war. daß nur etwa für 320 Kanonen und ungefähr 40 Mörser
Raum vorhanden ist, ausgenommen die Werke auf dem Wasserbrecher, wo
noch 74 bis 80 Feuerschlünde Platz finden. Wir müssen annehmen, daß er
Recht Hot. zumal auch Capitän Pia in seinen sehr genauen „Notes on Oder-
vourg« von den Batterien und Forts am Lande sagt, daß sie in runder
Summe 314 Kanonen und 32 Mörser haben. Indeß verlieren die Werke
Cherbourgs dadurch nicht an Furchtbarkeit, indem 440 Geschütze, die ihr Feuer
kreuzen, vollkommen hinreichen, einen Angriff von Schiffen zu vereiteln.
Der Kauffahrteihafen Cherbourgs befindet sich ungefähr in der Mitte
des südlichen Randes der Rhede an der Mündung der Bäche Trotebec und
Divette. Der Kriegshafen liegt etwas weiter nach Westen. Er besteht aus
drei großen Becken, die größtentheils in den Felsen gehauen sind. miteinander
in Verbindung stehen und um sich die gewaltigen Etablissements des Arsenals
und der Werften haben. Das äußerste Becken, in welches von der Rhede ein
breiter Kanal führt. wird das Bassin Napoleon oder Avant Port Militaire
genannt. An seiner Südseite befinden sich 4 bedeckte Werftschlippen und ein
großes trocknes Kalfaterdock, in welchem Linienschiffe ersten Ranges ausgebessert
werden können. Das Bassin hat eine Länge von 950. eine Breite von 768
und eine Tiefe von 55 Fuß. 1813 vollendet, würde es recht wohl 15 bis 15
Linienschiffen Sicherheit gewähren. Das zweite, 1829 fertig geworden und
Bassin Charles genannt, ist etwas kleiner. Das dritte, welches im Sommer
1858 eingeweiht wurde, heißt das Arriere Bassin du Port und hat bei einer
Länge von 1365 und einer Breite von 650 Fuß eine Tiefe von 60 Fuß. Die
Felsenmasse, welche herauszuschaffen war, als man dieses Riesenbecken begann,
betrug 1,074.422 Kubikmetres. Es hat an seiner Westseite 7 Werstschlippen,
von denen jetzt 6 fertig sind, und 7 Kalfaterdocks, von denen die beiden größten
420 Fuß lang sind. Vi.er von diesen Docks sind im Stande, bei hohem Wasser
die größten Schiffe der französischen Flotte sammt aller ihrer Armirung und
sonstigen Ausrüstung aufzunehmen. Von der Arbeit, welche die Aushöhlung
dieses ungeheuern Bassins und der auf dasselbe mündenden Docks gemacht hat,
kann man sich einen Begriff machen, wenn wir bemerken, daß das Gestein
aus Quarz und Gneiß besteht, und daß man dasselbe nur auf bergmännische
Weise wegschaffen konnte. Die Fläche, welche die drei Bassins mit ihren
Docks und Schuppen einnehmen, umfaßt nicht weniger als 256 englische Acker,
und man hat ausgerechnet, daß die Becken, welche den innern Hafen bilden,
sehr bequem 40 Linienschiffe auf einmal fassen können.
Man ersieht aus dieser Skizze, daß die Werke Cherbourgs aus drei Classen
oder Gruppen bestehen: 1) dem Molo oder Wasserbrccher (viguo), welcher den
äußern Hafen oder die Rhede mit seinem Damm gegen Sturm und Wellen¬
schlag, mit seinen Forts gegen feindliche Schiffe schützt, 2) den Becken des
innern oder Kriegshafens, 3) den Vertheidigungswerken am Saum der Rhede,
auf den Höhen hinter der Stadt und auf den Inseln östlich und westlich vom
Wasserbrecher. Außer diesen gibt es dann noch lange Reihen von Arbeits¬
schuppen der verschiedensten Arten, Magazine, Seilergänge, Segelböden, ein
ausgedehntes Zeughaus und eine Kesselschmiede, die mit Dampf betrieben wird,
und in welcher außer Dampfkesseln auch andres Eisenwerk der Schiffe, Anker,
Ankerketten u. a. in Massen angefertigt werden können. Um diese gigantischen
Unternehmungen zu Stande zu bringen, hat die französische Nation während
der letzten fünfzig Jahre in runder Zahl jährlich 1,250,000 Franken oder
333,333 Thaler ausgegeben, so daß Cherbourg mit allem Zubehör dem Staats¬
schatz mindestens 62,500.000 Franken oder 16.666.650 Thaler kostet. Nach
französischen Angaben aber belaufen sich die Kosten dieses ersten Kriegshafens
Frankreichs sogar (mit Einrechnung des Wasserbrechers, der etwa 75 Millionen
Franken kostet) auf nahe an 170 Millionen.
Wenn diese Ausgabe sehr beträchtlich ist, so ist auch das Ergebniß von
höchster Bedeutung, Dieses Ergebniß besteht in einem Hafen, in welchem ein
Heer von 100.000 Mann mit allen Bedürfnissen an Heergeräth. Munition.
Lebensmitteln. Pferden binnen wenigen Stunden eingeschifft werden kann.
„Wer eine derartige Operation noch nicht gesehen hat. sagt Buhl. vermag
sich kaum eine Vorstellung zu machen von der Raschheit. mit welcher franzö¬
sische Truppen an Bord geschafft und wenn sie dort sind, sammt allem Zube¬
hör in den verschiedenen Mumm untergebracht werden. 2000 Mann wer¬
den auf ein Linienschiff gerechnet, und da die großen Docks 40 Fahrzeuge
der Art fassen können, so könnte man mit dieser Anzahl in jedem Augenblick
80.000 Mann an Bord marschiren lassen, ohne daß man dazu Boote bedürfte."
und sobald sie den innern Hafen verlassen hätten, könnte eine ebenso starke
Macht auf Schiffen, die inzwischen auf der Rhede gewartet hatten, untergebracht
werden. „Dies ist, sagt unsre Quelle, eine große Thatsache, die werth
ist. daß man sich ihrer stets erinnert." Dieselbe wird aber noch bedeutsamer
bei folgender Betrachtung.
Frankreich richtet seine Aufmerksamkeit nicht blos auf Cherbourg. sondern
es ist mit gleichem Ernst darauf bedacht, auch seine übrigen nördlichen Häfen
zu verbessern und deren Vertheidigungswerke zu verstärken. Ob dies im Hin¬
blick auf einen Angriff auf England oder in Befürchtung der Möglichkeit eines
Angriffs von England her geschieht, muß dahingestellt bleiben. Auf keinen
Fall bedeutet es den Frieden und herzliches EinVerständniß zwischen den
Mächten am Kanal. Man kann kaum annehmen, daß ein Staat, dessen Fi¬
nanzen sich eben nicht im blühenden Zustand befinden. Millionen auf Millio¬
nen ausgeben sollte, um Mittel der Zerstörung zu schaffen, wenn er nicht
eine Zeit und einen Ort im Auge hätte, wo er sie zu benutzen gedächte. Eins
ist sicher, daß über kurz oder lang wieder Krieg von Frankreich ausgehen
wird; denn selbst wenn der Wunsch darnach in Paris nicht vorhanden wäre
(der letzte brachte doch nur mäßige Lorbeeren), so hat keine Regierung es in
ihrer Gewalt, eine so mächtige Flotte und ein so starkes Heer wie Frankreich
zu halten, ohne sie zu verwenden. Sie sind, namentlich in Frankreich, gleich
dem Schwert der Sage, das Blut haben mußte.
Der wichtigste nördliche Kriegshafen Frankreichs nach Cherbourg ist unzweifel¬
haft Brest. Es liegt an einem der prächtigsten Naturhäfen der Welt, der nur
durch einen schmalen und wohlbefestigten Kanal von der See her zugänglich
ist. Die Bevölkerung der Umgebung ist eine wesentlich maritime, und auch
nach andern Seiten hin besitzt Brest alle Eigenschaften eines Kriegshafens er¬
sten Ranges. Die Stadt besteht aus zwei verschiedenen Quartieren, von denen
das eine, auf dem rechten Ufer des Flusses Parseit gelegen. Recouvrance
heißt, während das andere, welches auf der linken Seite liegt, den Namen
Brest im engern Sinn führt. Da die Bedürfnisse der Sckiffscchrt die Erbau-
lag einer Brücke zwischen den beiden Stadttheilen nicht zulassen, so hat der
Verkehr zwischen denselben Schwierigkeiten, auf deren Hebung man bedacht
war, ohne bis jetzt ein Auskunftsmittel zu finden. Brest selbst zerfällt in¬
folge seiner Lage am Fuß und am Abhang einer steilen Hohe in eine Ober-
und eine Unterstadt. Mehre der von oben nach unten laufenden Straßen sind so ab¬
schüssig, daß sie nur zu Fuß passirt werden können, und die Dächer mancher fünf
Stock hohen Häuser befinden sich auf gleicher Höhe mit den Gärten ihrer höher
wohnenden Nachbarn. Ein tiefer, aber schmaler Grund, gebildet von der
Mündung des Penseld, zieht sich vom Hafen herauf um den Hügelrücken,
auf dem die Stadt steht und bildet das Becken des innern Hafens. Auf der
Südseite der Mündung dieses Grundes erhebt sich auf einem sanft abfallenden
Felsen das alte Schloß oder Castell von Brest. Es ist von fünf gewaltigen
Thürmen stark'ire. welche durch Curtincn verbunden sind, die über hundert
Fuß Höhe haben. Diese Werke sind mit einer beträchtlichen Anzahl sehr
schwerer Kanonen armirt, aber die obere Reihe hat zu viel Elevation, um von
großem Nutzen zu sein. Das Castell ist alt, aber bedeutende Theile wurden um das
Jahr 1690 von Vauban hinzugefügt. Der Grund ist oberhalb des Castells
auf beiden Seiten mit einer Mauer eingefaßt, welche die Stadt von dem Ar¬
senal, dem Hafenbecken und den Werften trennt. Aus dem Nordufer des
Flusses, in einiger Entfernung Don dessen Mündung, befinden sich vier große
Werftschlippen, von denen zwei offen, zwei bedeckt sind. Weiter oben, aus
dem andern Ufer trifft man acht Kalfaterdocks, die gelegentlich auch zum
Bauen von Schissen benutzt werden. An diese stoßen, vom Quai durch einen
offnen, mit Ankern aller Größen bedeckten Raum getrennt, die Gießerei, eine
Scgelfabrik, Seilerwerkstätten u. a. in bedeckten Gebäuden von 1200 Fuß
Länge. Hieran endlich reiht sich ein anderer offner Platz, auf denen Hun¬
derte und aber Hunderte von Schiffskanonen zu sofortigen Gebrauch bereit
liegen. Außer den Gebäuden und Werkstätten, die man gewöhnlich in einem Platz
von diesem Charakter antrifft, findet sich hier noch eine große und sehr wohl¬
eingerichtete Kaserne für Seeleute, die sich in allen Beziehungen vortheilhaft
von den elenden, ungesunden Schiffsrümpfen unterscheidet, in denen England
seine nicht unmittelbar im Dienst an Bord nöthigen Matrosen unterbringt.
Mehre Tausend Verbrecher waren bisher beschäftigt, die schmutzigsten und
beschwerlichsten Arbeiten der Wersten von Brest zu thun, indeß ist das Sy¬
stem, nach dem man diese Leute benutzte, jetzt aufgegeben, und bald werden
sich keine Galeerensträflinge mehr hier befinden.
Der Kriegshafen von Brest mit seinen Wersten umfaßt ein Areal von 131 eng¬
lischen Ackern. Die Zahl besoldeter Arbeiter, welche regelmäßig hier beschäftigt sind,
beläuft sich auf mehr als 5000, und man zahlt ihnen durchschnittlich einen Lohn
von jährlich 3,750,000 Franken. Jedes Jahr könnte man in diesem Hasen drei
Linienschiffe mit Masten. Raaen. Segeln, Tauwerk. Kanonen, kurz allem, was
zu ihrer Ausrüstung gehört, ohne Überanstrengung fertig machen, ja vielleicht
noch außerdem zwei bis drei Fregatten zweiter Classe. Was endlich die In¬
genieurabtheilung betrifft, so können Dampfmaschinen von 50» Pferdekraft
binnen zwölf Monaten vollendet werden.
Neuerdings wurden bedeutende Summen zur Verstärkung und weitern
Ausdehnung der Festungswerke Breses angewiesen, und da hier im Punkt
der Vertheidigung weniger erforderlich ist. als in Cherbourg. so werden die
Werke dieses Hafenplatzes wahrscheinlich in wenigen Jahren ebenso vollstän¬
dig sein, als die jenes Hauptoperationspunktcs.
An einer wohlgewählten Stelle des nördlichen Theils der Bucht von Bis-
caya und im Departement Morbihan steht Lorient. Bis zum Jahr 1789
war dieser Ort wenig mehr als ein Depot für die von der französischen Com¬
pagnie aus Indien eingeführten Waaren. Lange Zeit hatten Havre und Nan¬
tes das Monopol des Handels mit Indien. China und den Ländern am
Senegal gehabt. Um das Jahr 1605 ließ sich eine Gesellschaft, die von
Ludwig dem Vierzehnten ein Privilegium erwirkt, auf dem Südufer der Bretagne
nieder und errichtete hier an geeigneten Orten große Reihen von Lagerhäusern,
aber erst im Jahre 1718 gerieth dieselbe, die sich inzwischen vergrößert und
das Monopol des Tabakshandels so wie das Privilegium Lotterien zu veran¬
stalten erlangt hatte, auf den.Gedanken, eine Stadt zu erbauen, welche der Mittel-
Punkt ihrer kaufmännischen Geschäfte sein sollte. Zu diesem Zweck kaufte sie
die damals nur mit Haidekraut bedeckte Ebne Loch Noch Yan an. die an dem
Zusammenfluß des Scorff und des Blavet liegt. Bald darauf erhob sich die
Stadt, ein Hafen wurde ausgegraben und der Ort mit Wällen umgeben.
Der Handel, den die neue Stadt mit dem Morgenland trieb, verschaffte ihr
den Namen L'Orient, der- 1738 durch ein von Versailles datirtes Cdict be¬
stätigt wurde.
Der Schiffsverkehr, den die wachsende und eine Zeit lang reiche Gesell¬
schaft hier entstehen ließ, erreichte bald beträchtliche Dimensionen, aber dieses
Leben war nicht von Dauer. Im Jahre 1770 löste sich die Gesellschaft aus,
aller Handel zog sich von Lorient zurück, und das einzige Geschäft, welches
die Einwohner von jetzt ab Jahre hindurch betrieben, war das sehr beschei¬
dene der Meeraal- und Sardinensischerei. Gegen das Ende des ersten
Kaiserreichs indeß fand die Bedeutung Lorients als eines Kriegs- oder
vielmehr Werfthafens Anerkennung. Während der letzten vierzig Jahre sind
die nothwendigen Einrichtungen getroffen und allmülig vergrößert worden,
und die hiesigen Schiffswerften geben gegenwärtig 2500 bis 3000 Schiffs¬
zimmerleuten, Schmieden, Segelmachern u. a. Beschäftigung. Die Stadt ist
schmuzig und düster. Sie besitzt keinerlei Merkwürdigkeiten, mit Ausnahme
des Denkmals, welches man hier dem tapfern Bisson errichtet hat. Die
Wersten, welche von der Stadt durch eine hohe Mauer geschieden sind, nehmen
eine Fläche von 106 englischen Ackern ein. Auf beiden Seiten des Scorff
befinden sich die Werftschlippen, von denen aber nur zwei für den Bau von
Linienschiffen, die übrigen lediglich für Fregatten und Dampfschiffe geeignet
find. Zwischen dem, was man das Zeugamt nennen könnte, und dem Flusse
befinden sich lange Reihen von Gießereien und andern mit dem Schiffsbau
in Verbindung stehenden Werkstätten. Weiterhin trifft man ein geräumiges
Magazin, welches altes enthält, was zur Ausrüstung von Kriegsschiffen ge¬
hört. Alles ist vortrefflich geordnet, so daß jedes Schiff, welches hier herkommt,
um erlittene Verluste zu ersetzen, ohne Verzug mit dem Erforderlichen ver¬
sehen werden kann. Die hauptsächlichsten Gebäude, welche das Arsenal bil¬
den, liegen aus dem rechten Ufer des Scorff zwischen der Stadt und dem
Fluß, indeß befinden sich auch mehre Werftschlippen auf dem linken Ufer neben
einer kleinen Bucht südlich und östlich von der Stadt.
Im Ganzen sind hier sechzehn Werftschlippen und ein Kalfaterdock;
aber sie sind meist unbedeckt, nur das eine Schupp ist mit einer bleibenden
Bedachung versehen. Es gibt außerdem noch zwei größere Schuppen und
ein Dock, die indeß noch nicht fertig sind. Auch sagt man, daß verschiedene
Gebäude und Einrichtungen vergrößert werden sollen. Endlich denkt man an
eine Vertiefung und Erweiterung des Hafens. Der letztere ist gegen einen
feindlichen Angriff ziemlich gut durch die starke Festung Port Louis verthei¬
digt, welche mit 200 bis 220 Kanonen armirt ist und die Einfahrt voll¬
kommen beherrscht.
Im Westen streicht die 2V« deutsche Meilen lange Landzunge, auf welcher
Quiberon steht, ins Meer hinaus und wirkt als Wellenbrecher gegen die
Flut des atlantischen Meeres, welche die Sicherheit der Rhede bedrohen
würde, und im Süden entsprechen die Inseln House, Hoedic, Groix und
Belleisle demselben Zweck.
Ungefähr 36 deutsche Meilen südwestlich von Lorient und an der Mün¬
dung der Charente steht Rochefort, welches seiner Wichtigkeit nach den
dritten Rang nater den Kriegshafen Frankreichs einnimmt. Es ist wie jenes
eine moderne Stadt, nicht älter als etwa zweihundert Jahre und sehr regel¬
mäßig gebaut. Der Gründer des Kriegshafens war der große Colbert.
Das Areal des Hafens und seiner Werften, seitdem erweitert, bedeckt gegen¬
wärtig 131 Acker und schließt 13 Werftschlippen und 2 Docks ein; ein
Schupp und ein Dock werden jetzt hinzugefügt. Die Rhede ist ebenso ge¬
räumig als sicher vor Stürmen. Sie wird von den Inseln Oleron, Air,
und R6 und den beiden starken Forts Bayard und Eilet, vertheidigt, die
sich aus einer Sandbank zwischen den beiden zuerstgcnannten Inseln er-
heben. Auf diese Festungswerke sind auch in der neuesten Zeit bedeutende
Summen verwendet worden. Das Matrosenhospital ist ein sehr schönes Ge¬
bäude. Es besteht aus neun verschiedenen Häusern, die zusammen über
1200 Betten enthalten und deren Einrichtung in jeder Hinsicht Lob verdient.
Die ungeheure Ausdehnung des Krankenhauses wird nicht Wunder nehmen,
wenn man in Betracht zieht, daß Nochefort bis vor einigen Jahren für eine
der ungesundesten Städte Frankreichs galt. Ein ausgedehntes System von
Wasserabzügen und Gräben indeß hat jetzt die Fieberatmosphäre über der
Stadt und ihrer Nachbarschaft erheblich vermindert.
Das mit Mauern umgebene Arsenal hat zwei Thore, von denen indeß nur
das eine, die Porte du Soleil, dem Publicum offen steht. Die Reihen der
Arbeitsschuppen und Schuppen dehnen sich eine große Strecke längs der
Charente aus. Ein sehr geräumiges Gebäude, welches auch einigen Anspruch
auf Eleganz macht, enthält eine sehr eigenthümlich construirte und zu ihrer
Zeit äußerst zweckmäßige Sägemühle, die indeß jetzt nicht mehr benutzt wird,
da sie durch eine von Dampf getriebene Maschine ersetzt worden ist. Unter
einem Schuppen mit weitgespannten Dach sieht man eine Anzahl von Eisen¬
hämmern, welche zwischen 200 und 300 Mann beschäftigen. Sodann be¬
findet sich hier ein gewaltiger Dampfhammer, denen ähnlich, welche, von Nas-
myth erfunden, in Woolwich in Gebrauch sind. Sehr große Eisenplatten
zu Schornsteinen und andern Theilen von Dampfmaschinen, oft 2000 bis
3000 Pfund schwer, sind aus diesen Werkstätten hervorgegangen. In
einem Etablissement daneben macht man Kessel für Kriegsdampfer, und
namentlich solche, welche nach dem sogenannten Tubularsystem gearbeitet
werden, werden mit einer Sorgfalt und einem Geschick verfertigt, welches
auch von den besten Arbeiten englischer Dampstesfelschmiede nicht über¬
troffen wird. Ueberhaupt ist alles Maschinenwesen in diesem Hafen aus-
, gezeichnet, namentlich aber gilt dies von den Maschinen, welche zum Bohren,
Glätten, Raspeln und Hobeln von Metallgegenständen dienen. Die Vorräthe
an Holz, die hier lagern, sind sehr groß, und die Teiche, in denen das Holz
vor seiner Verwendung zubereitet wird, haben fast dieselbe Ausdehnung wie
die benachbarte Stadt. Das alte Gefangnenhaus, in welchem früher die
Galeerensträflinge verwahrt wurden, ist in ein Magazin verwandelt worden;
dahinter liegt ein anderes Magazin, in welchem man Masten und Segel auf¬
bewahrt, und hinter diesem wieder trifft man die Seilergänge, Schuppen von
fast 1200 Fuß Länge. Ein großer Vorrath von Ankern aller Größen, lange
Reihen von Schiffskanonen und Kugelpyramiden bedecken Hunderte von
Quadratruthen und zeigen die Nähe der Kanonengicßerei an, in welcher Ge¬
schütze von allen Kalibern, Mörser, Wagen und anderes Zubehör der Artillerie
in größten Massen angefertigt werden. Die Säle und Galerien, in welchen
die Handwaffen, Pistolen. Büchsen. Karabiner und Entersübel aufbewahrt
werden, könnten die gestimmte Mannschaft der französischen Flotte mit dem
Erford erkiesen versehen.
Toulon nimmt unter den Kriegshüfen Frankreichs den zweiten Rang ein.
Seine Lage ist schon von Natur sehr stark, da es im Hintergrunds der
tiefen Bucht liegt, welche die äußere und die innere Rhede einschließt. Hin¬
ter der Stadt erheben sich Schicht aus Schicht Züge felsiger Höhen, auf denen
man. wo sich irgend ein Platz für ein Fort oder eine Batterie fand, Positions-
gcschütze aufgestellt hat, schier bis zum Gipfel des Färör hinauf, der die
See um 1700 Fuß überragt. Zwei kleine Vorgebirge trennen die Rheden,
jedes derselben ist mit einem Fort von beträchtlicher Stärke gekrönt. Das
Kreuzfeuer der Geschütze dieser Fortificationen würde jedes feindliche Fahrzeug,
welches den Eingang zu forciren versuchte, sofort in den Grund bohren.
Der Hafen oder die innere Rhede selbst ist wieder durch zwei Molen in zwei
Abtheilungen geschieden, von denen die zur Rechten den Namen Ancienne
Darsc, die zur Linken die Bezeichnung Nouvelle Darse führt. Die letztere ist
der Kriegs-, jene der Kausfahrteihnsen. Der Kriegshafen umfaßt eine Wasser¬
fläche von 55 Ackern, der Kauffahrteihafen ist etwas geräumiger. Letzterer
wird aus seiner Nordostseite von einem Quai begrenzt, auf dem täglich Ladun¬
gen von allen Mittelmeerländern, vorzüglich Getreide, ausgeschifft werden.
Hinter den Häfen im Westen steht das neue Arsenal von Castigneau mit
seinen Docks, seinen Werstschlippen und andern Werkstätten und Magazinen.
Der Eintritt ist Fremden nicht gestattet. Die Baumeister müssen bei Errich¬
tung dieses Etablissements mit ungewöhnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen
gehabt haben. Der Boden war morastig und auch sonst nicht für den
Zweck geeignet. So machte der Bau außerordentliche Kosten, indeß ließ
man sich nicht abschrecken, und das Ergebniß entsprach der Ausdauer,
die man entwickelte. Die Werften bedecken ein Areal von 240 Ackern, und
sie umfassen zwanzig vollständig fertige Werftschlippen und drei Docks; fünf
andere werden noch hinzukommen. In der Nouvelle Darse (clarse bedeutet
eigentlich den der See am nächsten gelegenen Theil einer Hafenstadt oder
Flottenstation) haben — allerdings eng zusammengedrängt — 28 Linien¬
schiffe ersten Rangs und zu gleicher Zeit 24 Fregatten von den größten
Dimensionen Platz. Selbst die strengste und minutiöseste Untersuchung
würde in der innern und äußern Einrichtung der mit dem Hafen und dem
Arsenal verbundenen Gebäude nur geringe Mängel zu entdecken vermögen.
Die Magazine, welche alles zur Ausrüstung einer großen Flotte Erforderliche
enthalten, liegen höchstens 20 Schritt vom Wasser, die Mastenspeicher, die
Segelböden, die n 80 Fuß langen Räume, wo das Tauwerk aufbewahrt wird,
die Zwiebackbäckereicn u. s. w hängen zusammen, und da das Mittelmeer
so gut wie keine Ebbe und Flut hat, so können zu jeder Stunde Schiffe ein¬
laufen, um sich repariren zu lassen. Das Hafenbecken aber ist so geschützt, daß
auch der grimmigste „Lcvanter" hier den Schiffen keinen Schaden z^ thun ver«
mag.
Nicht so sicher ist die sonst sehr geräumige äußere Rhede. Sie hat felsi¬
gen Grund, verschiedene gefährliche Untiefen und darum höchstens für ein
halbes Dutzend Linienschiffe Raum. Weiter draußen ist Platz für eine gute
Anzahl mehr, indeß ist der Ankergrund auch hier unzuverlässig, auch ist die¬
ser Theil der Rhede den an diesen Küsten häufig vorherrschenden West- und
Südwestwinden ausgesetzt.
Die Stadt, schon 1793, wo sie in die Hände der Briten fiel, stark be¬
festigt, ist seitdem mit vielen neuen Werken versehen worden, und wenn man
sie auch nicht als uneinnehmbar bezeichnen kann, wie Cherbourg, so würde es
doch eine sehr gewaltige Flotte und bedeutende Zerstörungsmittel erfordern,
um das Feuer ihrer Forts und Batterien zum Schweigen zu bringen.
In Toulon liegen in der Regel eine größere Anzahl von Kriegsschiffen
vor Anker, als in irgend einem der übrigen französischen Häfen, „aber viele
derselben befinden sich (nach den Beobachtungen Busks) in sehr zweifelhaftem
Zustand und ein Vergleich selbst mit den schlechtesten der englischen Marine
würde für diese ungünstig ausfallen."
Der in Wien erscheinende „Wanderer" brachte
jüngst eine Correspondenz aus Innsbruck, worin berichtet wurde, die Mehr¬
zahl der Mitglieder des im August versammelten verstärkten ständischen Aus¬
schusses habe „gegen die Besitzberechtigung der Protestanten in Tirol protestirt,
obwol die Protestanten mit Bewilligung der Regierung in den letzten
Jahren Grundeigenthum erworben haben." Diese Nachricht ist in zwei Be¬
ziehungen ungenau. Nicht blos die meisten der einberufenen Vertrauens¬
männer, sondern alle anwesenden mit Ausnahme eines einzigen, des Dr. Cle-
mann aus Innsbruck, legten jene Verwahrung ein; er allein hatte den Muth,
sich dieser Versammlung gegenüber auf das Gesetz, die kaiserlichen Patente
vom 4. März 1849 und 31. December 1851 zu beziehen; er vermochte aber
keinen der angeblichen Repräsentanten Tirols zu überzeugen, daß ihrem An¬
trag das Wort des Kaisers entgegenstehe. Unrichtig ist serner, daß die Pro¬
testanten in letzter Zeit mit Bewilligung der Regierung in Tirol Grund und
Boden erwarben. Die am 16. November 1855 erfolgte Versandung des Kaufes
des Schlosses Rottenstcin in Obermais nächst Meran durch den ehemaligen
k. preußischen Hauptmann Karl Rudolph Apel aus Berlin wurde von der
k. k. Statthalterei beanstandet, und dem damaligen Bezirksvorsteher eine
scharfe Rüge ertheilt, weil er sie ohne vorläufige Genehmigung dieser Behörde
vorgenommen. Er rechtfertigte sich ohne Bezugnahme auf obige Patente le¬
diglich damit, daß die Versandung nur eine Art der Vormerkung sei und in Tirol,
wo keine öffentlichen Bücher im Sinn des Allgemeinen bürgerlichen Gesetz¬
buches bestehen, das Eigenthum blos bedingt, nämlich unter der Voraussetzung
der rechtlichen Giltigkeit des Actes selbst übertrage. Auf Antrieb des Decans
Santner in Meran begab sich eine Deputation dortiger Bauern, den Decan
selbst an der Spitze, zum Erzherzog-Statthalter Karl Ludwig nach Botzen und
überraschte ihn mit der eingelernten Erklärung: „Sie wollten keine Preußen
werden, sondern Oestreicher bleiben," was Se. kaiserliche Hoheit für ihren An¬
trag auf Nichtigkeitserklärung des Kaufes gewinnen sollte. Bisher erfloß dar¬
über noch keine Entscheidung; das Schloß Nottenstein ging aber mittlerweile
durch Kauf vom 28. Mai dieses Jahres in das Eigenthum der Frau Gräfin
Lucy Stenbock. ebenfalls einer Protestantin, über. Am 4. Juli 1855 hatten
auch zwei Hamburger Bürger Ferdinand und Minna Wendlandt in der Nähe
von Botzen ein Landgut gekauft, auf Grund dessen der erstere um die Erthei-
lung der österreichischen Staatsbürgerschaft einkam. Dieses Gesuch wurde von
der k. k. Statthalterei durch Erlaß vom 27. März 1856 mit dem Bemerken
zurückgewiesen, daß er als Protestant nach dem östreichischen Toleranzgesetz
vom 13. October 1781 nur mittelst Dispens zum Haus- und Güterankauf zu¬
gelassen werden könne, und sonach vorerst die gesetzliche Dispens zum frag¬
lichen Ankauf nachzuweisen habe, (sie!) Der dagegen ergriffene Recurs blieb
noch bis zur Stunde unerledigt. Im Jahr 1858 kaufte der Fürst Alexander
von Lieven ein Bauerngut nächst dem Schloß Lebenborg im Bezirksgericht
Lana bei Meran; der Erwerbsact kam aber nur-durch einen Zufall ins Ver-
sachbuch. Die k. k. Statthalterei hatte nämlich im Präsidialwege alle Bezirks¬
vorsteher auf die Vorschriften des Toleranzpätentes rücksichtlich der dazu für
Protestanten nöthigen Dispens aufmerksam gemacht, und da der Bezirksvor¬
steher sein Unterpersonal davon nicht unterrichtet hatte, und damals abwesend
war, decretirte der Actuar ohne weiteres die Versandung. Bei einem zweiten
Ankauf des Fürsten Lieven in derselben Gegend wurde dessen politische Ge¬
nehmigungverweigert, der Verkäufer belangte den Fürsten auf Vertragserfüllung,
dieser aber, der mittlerweile den Vorsatz, sich in Tirol niederzulassen, auf¬
gegeben hatte, legte gegen die ihm nun auch im Civilweg verweigerte Ver¬
sandung die Berufung an das k. k. Oberlandesgericht ein, um dadurch einen
rechtlichen Beweis der Unmöglichkeit der Leistung zu erlangen. Das k. k. Ober-
landesgericht theilte aber nicht die Ansicht der k. k. Statthalterei, erwog, daß
die Rechtsgleichheit zwischen den Bekennern der verschiedenen christlichen Kon¬
fessionen schon durch die deutsche Bundesacte (Art. XVI.) anerkannt, somit
auch in Tirol zur Geltung gekommen sei; daß ferner das kaiserliche Patent
vom 4. März 1849 den Grundsatz aussprach: der Genuß der bürgerlichen und
Politischen Rechte sei vom Religionsbekenntnisse unabhängig; daß auch das
spätere Patent vom 31. December 1851 die „Gleichheit aller Staatsangehö¬
rigen vor dem Gesetz" bestätigte; daß endlich nur die Israeliten von dieser
Rechtsgleichheit spater ausgenommen worden, und trug sohin die Versandung
des fraglichen Kaufvertrags dem k. k. Bezirksgericht Lana ohne weiteres auf.
Dies ohngefähr die Vorgänge über die letzten Ankäufe von Protestanten
in Tirol. Es geht daraus klar hervor, daß wenigstens die administrative
Behörde an der Ansicht festhielt, das Toleranzgesctz vom Jahre 1781 bestehe
noch in voller Rechtskraft, und fort und fort Anstand nahm, die daselbst vor¬
gesehene Dispensation „ohne alle Erschwerung" zu ertheilen. Wir erwarten
demnach sehnlichst eine Beendigung dieses offenbar nur provisorischen Zustan¬
des, worüber selbst die Behörden verschiedener Ansicht sind, ein Gesetz, das
die Besitzsähigkeit der Protestanten in Tirol bestätigt, und den Artikel XVI.
der Bundesacte so wie die Patente vom 4. März 1849 und vom 31. Decem¬
ber 1851 in Ausführung bringt. Nicht minder sehen wir einem kräftigen Ein¬
schreiten der Regierung gegen die kirchlichen Uebergriffe entgegen, die sich in Sachen
der gemischten Ehen bemerkbar machen. In früheren Fällen der letzten Jahre
hatte man außer dem schriftlichen auch noch ein eidliches Versprechen beider Braut¬
leute über die katholische Kindererziehung, einen Eid des katholischen Theils über
die Gewinnung des protestantischen für den Uebertritt zum Katholicismus, und
noch andere Eide gefordert, die sich auf volle sieben steigerten, und worüber
ebenso viele einzelne Protokolle aufgenommen wurden. Man wollte nämlich
auch das „Aergerniß" des öffentlichen Aufgebotes beseitigen, und forderte von
beiden Theilen die eidliche Versicherung, daß sie weder ein anderes Eheverhält¬
niß eingegangen, noch ihnen sonst irgend ein Hinderniß bekannt sei. Nun
glaubte man einen großen Schritt weiter wagen zu können, und stellte
den Grundsatz auf, daß in Tirol keine gemischten Ehen mehr Statt haben
dürfen. Der Fürstbischof von Trient erklärte vor kurzem über ein diesfälligcs
Dispcnsgesuch, das vom schriftlichen Versprechen des protestantischen Theils
über die katholische Kindererziehung in vollständig legaler Form begleitet war:
»Ich kann demselben nicht entsprechen, weil mir als Diöcesan-Bischof die
strenge Pflicht obliegt, die Einheit im Bekenntniß des katholischen Glaubens
in meiner Diöcese stets aufrecht zu erhalten und alles jene, was dieselbe
stören oder hindern könnte, sorgfältig zu entfernen. Diese Pflicht genau zu
erfüllen wird von mir um so mehr gefodert, da Tirol eine ganz katholische
Provinz ist, deren gesammte Bevölkerung sich immer zur katholischen Religion
bekennt*) hat, derselben noch treu anhängt, und um die Aufrechthaltung der
Einheit im katholischen Glauben auf den öffentlichen Landtagen sowohl als
bei anderen sich darbietenden Gelegenheiten"*) wiederholt und dringend ge¬
bethen hat. Deswegen kann und darf ich als Bischof der in Tirol gelegenen
Diöcese Trient die gemischten Ehen nicht begünstigen, sondern muß die mir
auferlegte Pflicht treu und genau erfüllen." Alle Vermittlungsversuche blieben
fruchtlos. Dem katholischen Theile erübrigte angesichts unseres Eherechtcs nur
ein Ausweg, die Auswanderung aus dem östreichischen Kniserstaat, wozu
ihm denn auch von der k. k. Statthaltern die Bewilligung ertheilt wurde.
Wenn die Bischöfe des Landes solchen Ansichten huldigen, ist es erklärlich,
daß die Geistlichkeit, die im verstärkten ständischen Ausschuß gebührend ver¬
treten war, und die mit ihr einverstandener Vertrauensmänner ein Ansuchen
an die Regierung stellten, wozu der intelligente Theil der Tiroler nie seine
Zustimmung erklären wird.
Um zunächst meinen eignen Standpunkt der Bewegung gegenüber festzustellen,
die seit dem Frieden von Villafranca begonnen hat, erlauben Sie mir die Bemerkung,
daß ich weder ein „Gothaer" noch ein „Eisenacher", sondern ein Preuße bin. Das
soll nicht blos eine statistische Notiz sein, sondern ich will damit eine Ansicht aus-
sprechen: die Ansicht nämlich, daß es sür die Bestimmtheit, ich möchte sagen An¬
schaulichkeit dieser Bewegung zweckmäßiger gewesen wäre, wenn sich Preußen ganz
von derselben ausgeschlossen hätte. Ich habe dafür mehrfache Gründe.
Zunächst gibt die gegenwärtige Parteibildung eine ganz falsche Vorstellung von
der Stärke der Partei. In Preußen ist die Ueberzeugung, daß Preußen eine höhere
und stärkere Stelle innerhalb des Bundes einzunehmen das Recht und die Pflicht
habe, fo allgemein, daß, die Ultramontanen und die Männer der Krcuz-
zeitungspartci abgerechnet (und auch die letzteren nicht ganz), das gesammte Volk
sich zu derselben bekennt. Und das ganze Volk, in Waffen geübt, ist bereit, sür
dieselbe einzutreten.
Es gibt also eine ganz falsche Vorstellung von der Stärke dieser Partei in
Preußen, wenn nnr einzelne Namen — wie achtungswerth sie auch sein mögen
— ein derartiges Programm unterzeichnen. Worauf es den Regierungen und dem
Volk ankommt, ist, zu wissen, wie stark und wie lebhaft diese Ansicht in den mittei-
und kleindcutschcn Staaten vertreten sei.
Denn das ist doch die Aufgabe dieser Programme: es gilt nicht, unmittelbar
etwas durchzusetzen, wozu weder die gesetzliche noch physische Macht vorhanden ist, son¬
dern nur, den Regierungen ein Material zur Erwägung bei ihren weitern Schritten
zu unterbreiten: die Kenntniß nämlich von den Ansichten des Volks und namentlich
der gebildeten Classen. — Der andere Zweck, den man noch haben könnte, sich
untereinander zu verständigen, könnte viel einfacher erreicht werden; dazu siud keine
Programme nöthig.
Die zahlreiche Theilnahme von Preußen gibt außerdem vou der ganzen Be¬
wegung eine schiefe Ansicht. Man legt sie so aus, als sei sie von der preußischen
Regierung hervorgerufen. Zwar ist diese Idee im höchsten Grade'abgeschmackt —
die Herren v. Unruh, Schulze, Zabel u. s. w. stehn mit der preußischen Regierung
in keinem nähern Verhältniß als etwa die Herrn v. d. Pfordten, v. Beust u. s. w.
— aber auf die Abgeschmacktheit einer Behauptung kommt es den Feinden Preu¬
ßens nicht an, wenn es gilt, die Gespensterfurcht der blinden Menge anzuregen.
Die Folge ist, daß namentlich in Süddeutschland diejenigen, die sich zur Unter¬
zeichnung eines derartigen Programms verstehen, die Sache so betrachten, als machten
sie dadurch der Krone Preußen eine erhebliche Concession, und wären berechtigt, da¬
für ihrerseits Concessionen zu verlangen. So ist es in Frankfurt wirklich geschehn
und es sind von preußischer und überhaupt norddeutscher Seite so starke Concessio¬
nen gemacht worden, daß von dem ursprünglichen Inhalt des Programms herzlich
wenig übriggeblieben ist, und daß ich für meinen Theil — ohne der abweichenden
Ansicht meiner Freunde irgend wie nahe treten zu wollen — gar keinen weitern
Inhalt darin mehr finde, als allerlei fromme Wünsche, über welche die Regierungen
ganz ruhig zur Tagesordnung schreiten könnten.
Die Sache verhält sich ihrem Wesen nach ganz anders.
Allerdings wird der preußische Staat schon durch seine geographische Lage
dringend aufgefordert, mit seinen Nachbarn durch ein engeres Band sich zu verketten
als das lose der deutschen Bundesverfassung; aber zur Noth kann er auch in der
alten Weise sortbestehn. Das Bedürfniß des Anschlusses an einen größern Staat
ist vielmehr in Kleindeutschland vorhanden, und die Frage, welche Bewegungen wie
die Eisenacher zu lösen haben, ist folgende: führt dieses Bedürfniß die Po¬
pulation der Mittel- und Kleinstaaten zu Oestreich oder zu Preußen?
sehen sie in dem engern Anschluß an den einen oder den andern Staat einen grö¬
ßern Gewinn für ihre geistigen und materiellen Interessen?
Oder um mich noch bestimmter auszudrücken: der wichtigste Gewinn der eisen¬
acher Bewegung wäre, die Frage endlich so zu stellen, wie ich sie oben gestellt habe,
d. h. einzusehn, daß jeder dritte Weg eine Thorheit ist.
Eine Thorheit ist die Idee der Trias. Die Schwächern können dem Stärkern
folgen, gleich Starke können aber nur durch die Gleichheit der Interessen verdürbe»
werden. Die bairische und hannoveranische Regierung mögen gewisse Interessen
gemeinsam haben; der Baier und Hannoveraner hat keine gemeinsamen Interessen,
d. h. keine Interessen, die ihm specifisch als solchem beiwohnen, die er nicht mit dem
Preußen oder Oestreicher theilt.
Eine Thorheit ist die Volksvertretung im Bunde ohne eine starke, mit Recht
und Macht ausgerüstete Centralgewalt.
Eine Thorheit ist die Bildung einer deutschen Centralgewalt, die nicht aus Oest¬
reich oder aus Preußen hervorgeht.
Eine Thorheit ist die Idee einer preußischen Hegemonie, der auch Oestreich unter¬
worfen sein sollte.
Sobald diese Sätze, die jedem Nichtfanatiker ohne weiteres einleuchten, auch den
Fanatikern beigebracht find, ist die Wahl nur zwischen zwei Eventualitäten:
Entweder Wiederherstellung des östreichisch-deutschen Kaiserreichs, mit bedeu¬
tender Schwächung des preußischen Staats (denn ohne diese würde das Kaiserthum
die Verhältnisse nicht ändern);
Oder Errichtung eines engern Bundes (Union) unter Preußens Vorsitz inner¬
halb des weitern Bundes, dessen Rechte und Pflichten im Uebrigen durch eine solche
Union nicht wesentlich alterirt werden.
Die letztere Ansicht wurde zuerst von Nadowitz und dem Ministerium Branden¬
burg vertreten; dann durch die Könige von Hannover und Sachsen (im Dreikönigs-
bündniß), endlich durch sämmtliche Kleinstaaten adoptirt; von der Versammlung in
Gotha (den Resten der Weidcnbuschpartci, die den Unionsgcdankcn als ein s-IIsr
aufnahm, da sie eigentlich etwas Anderes gewollt) als Abschlagszahlung angenom¬
men; in Erfurt und zuletzt in Olmütz von der preußischen Regierung aufgegeben.
Diese Ansicht ist neuerdings in dem gothaer Programm wieder aufgenommen, und
Se. Hoheit der Herzog von Koburg-Gotha hat infolge dessen erklärt, er stehe noch
heute auf dem Standpunkt, den 1349 nach dem Drcikönigsbündnisz sämmtliche
deutsche Fürsten mit Ausschluß von Oestreich, Baiern und Würtemberg eingenommen.
Wenn infolge dieser Erklärung Oestreich einen Protest einlegt, — in einer
Form, deren Schicklichkeit die Herren Diplomaten untersuchen mögen, da das nicht
unsere Sache ist — und die Zwecke des Programms als einen Bundcsbruch be¬
zeichnet, so ist dabei seine Vergeßlichkeit das Merkwürdigste: denn Oestreich selbst schlug
nach Olmütz eine Reform des Bundes vor, die in mancher Beziehung den Fürsten
größere Opfer ihrer Souvcränetütsrcchte zumuthete als das Project der Union; und
der Vorschlag einer Umgestaltung der Bundesverhältnisse kann, so weit er auch gehn
möge, so lange er sich auf dem Boden friedlicher Agitation, der Meinungspropaganda
und auf dem Boden des Gesetzes bewegt, als ein willkürliches Heraustreten aus dem
Bunde nicht betrachtet werden.
Der Zeitpunkt der Agitation scheint insofern nicht ganz glücklich gewühlt, als
sich in diesem Augenblick wenig erreichen läßt, indeß konnte sie doch nicht umgangen
werden. Die östreichisch-ultramontane Presse hatte seit dem Beginn des Kriegs
eine sy planmäßige und erfolgreiche Polemik gegen Preußen fortgesetzt, daß es end¬
lich Noth that, der Nation die Augen zu öffnen; und daß grade der Friede von
Villafranca der Wendepunkt sein mußte, ist eine Nemesis, deren wir uns herzlich
freuen. Die Verhandlungen während des Kriegs hatten aber deutlich gezeigt, daß
zwischen den nomineller und den wirklichen Rechts- und Machtverhültnissen des Landes
ein unheilvoller Widerspruch obwaltete.
Es war in Frankfurt der Versuch gemacht worden, durch Majoritätsbeschluß
Preußen zu einem Krieg zu zwingen, den es — für jenen Augenblick — nicht wollte.
Preußen hat gegen dies Beginnen Protest eingelegt; es war dazu, wie wir glauben,
auch nach dem Wortlaut der Bundesverfassung berechtigt; aber darüber kann man
streiten; die Hauptsache ist, daß eine solche Zumuthung gegen die Natur der Sache und
gegen den Geist des Bundes ist; daß sie niemals gestellt wurde, auch nicht in den
Zeiten des Kaiserthums; daß bei dem Abschluß der Bundesverfassung auch nicht im
Traum an die Möglichkeit eines solchen Falls gedacht wurde. Der Bund wurde
in Gefahr gesetzt, nicht durch Preußen.
Gegen diesen Widerspruch zwischen nominellem und wirklichem Recht muß etwas
geschehen, wenn Deutschland den auswärtigen Feinden gegenüber nicht wehrlos
werden soll. — Noch scheint von keiner Seite ein bestimmter Vorschlag geschehen
zu sein; doch steht in nächster Zukunft etwas der Art bevor. Sobald das geschieht,
hat jeder Bürger die Verpflichtung, Partei zu nehmen, aber nicht in der Weise,
daß er zugleich Ja und Nein sagt. — Und das ist bei der letzten Versammlung in
Frankfurt wirklich geschehen.
Ueber diesen Punkt erlauben Sie mir, mich in meinem nächsten Brief zu ver¬
Wenn es aus der Landkarte eine Anzahl dunkler Punkte gibt, von denen
man, falls sie von den Zeitungen erwähnt werden, in der Regel nicht viel
mehr weiß, als daß sie da oder dort liegen, so sind diejenigen von ihnen,
welche uns in Europa oder hart dabei ausstoßen, keineswegs immer die am
wenigsten dunkeln. Es wäre möglich, daß mancher von den Forts an den
Pehomündungen genauere Vorstellungen hätte, als von der Republik San
Marino, und es könnte geschehen, daß die Leser, wenn zu gleicher Zeit ein
neuer Moskitokönig gewählt und das Fürstenthum Monaco verkauft würde,
sich über das Reich des erstem unterrichtet funden, während ihnen in Betreff
des letztem das Herz schlüge, salls ein wißbegieriger Sohn oder jüngerer
Bruder sich Auskunft darüber erbäte.
Ein solcher dunkler Punkt sind nun auch die spanischen Colonien in Nord¬
afrika, ja sie sind wol in unserm geographischen Wissen der dunkelste am
ganzen weiten Mittelmeer. Gleichwol machten einzelne von ihnen in den
letzten Jahren wiederholt von sich reden: wir lasen vor zwei Jahren von
dem Unglück der preußischen Kriegsmarine in der Bucht von Melillah, die
spanische Post brachte in diesem Frühling mehrmals Berichte von der Be¬
lagerung dieser Festung durch die Mauren des Rif, sie erzählte in den letzt-
verwichenen Wochen von heftigen Kämpfen vor Ceuta, sie meldete erst in
diesen Tagen, daß die Königin Jsabella sich anschickt, der braunen Majestät
von Marokko wegen unverbesserlicher Piratengelüste der Bewohner jener Pro¬
vinz den Krieg zu erklären.*) Vermuthlich werden, falls dies sich bestätigt,
jene Kolonien die Operationsbasis bilden, vielleicht benutzt Spanien selbst die
Gelegenheit, sich hier mehr auszubreiten, und so möchte es nicht unzeitgemäß
sein, wenn wir über diesem obscurer Winkel die Sonne aufgehen ließen.
So sei denn zunächst bemerkt, daß diese Colonien oder Presidios
(Wasserplätze) vier an der Zahl sind. Die östlichste ist das zwischen dem Aus¬
fluß des Muluwijeh und dem Kap Tres Forcas — arabisch Ras Ed Deir.
d. i. Klosterkap — gelegne Melillah. welches nur wenige Stunden von der
zu Algerien gehörigen Stadt Tlemsen und etwa 50 Leguas*) südlich von
der spanischen Hafenstadt Almeria liegt. Das nächste Presidio nach Westen
hin ist Al Bucemas, ein Fort auf einer Felsenkuppe, die sich vor der Bai
Mczemmah. 36 Leguas südlich von dem Punkte der spanischen Küste erhebt,
aus dem die kleine Stadt Motril steht. Noch weiter westlich folgt das Pre¬
sidio Penom deVelez delaGomera, 28 Leguas südlich von Malaga und
ebenfalls auf einer Felseninsel. Endlich schließt die Reihe dieser Festungen
mit dem Gibraltar gegenüber gelegnen Ceuta.
Keine dieser Colonien umfaßt mehr Gebiet als die Kanonen ihrer Forts
bestreichen können. Ihr Zweck ist gegenwärtig in der Hauptsache, als Verban¬
nungsorte für spanische Verbrecher zu dienen. Ihr Charakter ist der von kleinen,
aber starken, fast uneinnehmbaren Felsenburgen. Bedeutenden politischen Ein¬
fluß vermögen sie bei den Machtverhältnissen Spaniens und seiner hiesigen
Nachbarn: Englands und Frankreichs, nicht auszuüben. Dennoch sind sie den
Marokkanern ein Dorn im Auge, wie die unaufhörlich wiederholten Angriffe
beweisen, die von denselben auf sie unternommen werden. Vielleicht ahnt
das Volk, daß diese Festungen einmal als Stützpunkt zu einer Eroberung die¬
nen könnten, die das von der Natur reich ausgestattete Küstenland Marokkos
gar wohl verlohnen würde. Die Gegend ist hier nichts weniger als wasser¬
arm. Sie hat im sehn einen bis nach Fez hin schiffbaren Strom und eine
große Anzahl kleiner Flüsse. Sie besitzt verschiedene gute Hafen. Das Klima
ist gesund, der Boden, wo er bebaut wird, im höchsten Grade fruchtbar.
Man säet in den ebnen Strichen Korn, Durrah, Reis, Mais und Hülsenfrüchte
liefert Oel, Baumwolle, Tabak, Krapp, Indigo, Scham, Wachs. Honig. Hanf.
Safran, Salz und Salpeter in den Handel und zieht Pferde, Rindvieh, Schafe
und Geflügel. Die Abhänge der Berge prangen in den mannigfaltigsten Laub-
schattiruugen. Man findet hier die Zeder, die Stein- und Korkeiche, die Car-
ruba, Wallnußbäume, Akazien und Oliven. Endlich ist bekannt, daß die
Ausläufer des Atlas, die sich durch diese Striche ziehen, Kupfer, Blei und
Eisen und selbst Gold und Silber in sich bergen. Sollte eines oder das andere
dieser Presidios einmal in die Hände der Mauren fallen, so würde es sich ohne
Zweifel sofort in eine Seeräuberburg verwandeln. Sollte dagegen Spaniens
Seemacht sich einmal wieder der Höhe nähern, die sie früher innehatte, oder
sollte, was leichter denkbar ist, England oder, was ebenso möglich, Frankreich sich
bei Gelegenheit dieser Festungen bemächtigen, so würden sie, hier in Verbin¬
dung mit Oran und Algier, dort im Verein mit Gibraltar, von sehr wesent¬
lichem Einfluß aus Handel und Schiffahrt des Mittelmeeres sein.
Wir betrachten nun die Presidios einzeln. Melillah (arabisch Ras Ed
Deir), wie bemerkt an der Bucht gelegen, in die sich der Muluwijeh ergießt, steht
auf einem Landvorsprung, der mit dem Kontinent nur durch einen schmalen
Isthmus zusammenhängt. Es ist nach Ceuta der größte und angenehmste Ort
der spanischen Besitzungen auf dieser Küste. Indeß ist die Hitze im Sommer
außerordentlich stark, und da die Bewohner mit Ausnahme einiger Privilegium
und streng überwachten Lieferanten auch im Frieden von jeder Verbindung
mit dem marokkanischen Festland abgeschnitten sind und jetzt überdies ein Zu¬
stand herrscht, bei dem man bei keinem Spaziergang vor die Walle hinaus
sicher ist, den Kopf in den Handen der maurischen Nachbarn lassen zu müssen,
da ferner äußerst selten ein anderes Schiff hier anlegt, als der monatlich nur
einmal hier ankommende Postdampfer, der die Verbindung mit Malaga unterhält,
so ist die Bezeichnung „angenehm" cum ^raro salis zu nehmen, und im Hin¬
blick hierauf entschließen sich nur sehr wenige Spanier, sich hier niederzulassen.
Die Bewohnerschaft besteht demnach fast lediglich aus der Besatzung und den
hierher deportirten Verbrechern (Prefidiarios und Sentenciados); von Soldaten
befinden sich in Melillah 800, von Strafgefangnen gegen 1500 Mann. Den
Befehl führt ein Oberst, der zugleich als Civilgouverneur fungirt. Der Platz
gilt für uneinnehmbar, indeß empfand man die Belagerung, welche in den letzten
Jahren von den Umwohnern unternommen wurde, trotzdem, daß diese nicht
mehr als eine Kanone besaßen und dieselbe nicht einmal gehörig zu brauchen
verstanden, schwer genug. Die Hauptwerke der Festung stammen aus dem vo¬
rigen Jahrhundert, die neueste Zeit hat sie mit nicht unwichtigen Verstärkun¬
gen versehen. Das Hauptthor befindet sich auf der Westseite. Es wird durch
den starken Thurm von Se.Jago vertheidigt, der mit den Außenwerken durch
einen bedeckten Weg in Verbindung steht. Der gegen Süden hinaustretende
Winkel ist durch eine runde Brustwehr mit einem Thurm geschützt. Eine an¬
dere Brustwehr mit einem in elliptischer Form erbauten Reduit sichert die öst¬
liche Seite; die nördliche endlich ist von Natur sturmfrei, da hier der Felsen,
auf dem die Stadt liegt, als schroffe Wand gegen das Meer abfällt. Einen
Kanonenschuß südlich von den Wällen befindet sich ein kleiner, ziemlich sicherer
Hafen, der indeß so wenig Tiefe hat. daß er nur Fahrzeugen von geringem
Tiefgang. Felukken und Schebeckcn die Einfahrt erlaubt. Ein großer Vortheil
ist, daß es der Festung nicht an gutem Trinkwasser mangelt. Man hat mehre
Quellen, die so reichlich fließen, daß man sie zur Bewässerung von Gärten
benutzen kann, und überdies ist für Nothfälle durch eine Anzahl von Zisternen
gesorgt, in denen man das Wasser aufbewahrt, welches die hier sehr heftigen
Regengüsse des Winters liefern.
Nicht fern im Süden von Melillah trifft man hart am Gestade der Bucht
den großen Salzsee Resifah, welcher bis zum Jahre 1755, wo Erdbeben den
Zugang verschlossen, einen vortrefflichen Hafen bildete. Ferner liegt in ge¬
ringer Entfernung von hier die Lagune von Puerto Nuevo, die als Saline
dient, und auf welche jetzt die französischen Nachbarn ihr Augenmerk gerichtet ha¬
ben. Sie stand noch im Jahre 1818 in solcher Verbindung mit der See.
daß vermittelst derselben ein Getreidehandel mit dem Innern getrieben werden
konnte. Ihre Einfahrt ist zwar jetzt versandet, soll sich jedoch leicht wieder
herstellen lassen. Könnte man die Lagune öffnen, so würde sie der sicherste
Hafen der ganzen marokkanischen Küste werden, und der Besitz derselben würde
die Franzosen zu Herren des dortigen Gestades machen. In der Nähe liegt
eine isolirte Anhöhe, welche, mit einigen Festungswerken versehen, die Ge¬
gend nach dem Innern hin beherrschen würde. Diese letztere ist wohlbebaut,
getreidereich und hat ergiebige Bleigruben.
Al Bucemas. auch Alhuehucemas genannt, das nächste Presidio nach
Westen hin. liegt etwa zwanzig Leguas, also einen Grad, von Melillah ent¬
fernt. Es dient als Verbannungsort für besonders schwere Verbrecher, deren
sich jetzt gegen hundert hier befinde», während die Garnison dreihundert
Mann stark ist. Auf hoher steiler Klippe gelegen und rings vom Meer um¬
geben, beherrscht diese kleine Jnsclfestung mit ihren Kanonen die ganze von
den Vorgebirgen Guilatas und Moro gebildete Bai und damit den Ausgang
der bekannten Provinz Ris. der nördlichsten des marokkanischen Reiches. Die
Stadt steht auf einer von Westen nach Osten ansteigenden Fläche. Im Westen
wird sie von zwei Schanzen vertheidigt, deren Feuerschlünde einen beträchtlichen
Theil der Küste bestreichen und ihre Geschosse bis vor die Thore des Städt¬
chens Wadi Nazor senden können, dessen Bewohner, mit andern Ortschaften
vereint, die Besatzung wo möglich noch enger einschließen und härter bedrängen
als die von Melillah. Auf der Südseite befinden sich drei weitere Batterien,
die durch Courtinen verbunden sind. Im Innern des Platzes erhebt sich ein
starkes Castell. flankirt von vier Rundthürmen, die den Waffenplatz einschließen.
Thore hat die Festung zwei, das wichtigste öffnet sich nach Westen. An der
Südseite findet man einen kleinen Hafen, der als Stationsort für die Felukken
der spanischen Küstenwache dient und ziemlich sicher vor Stürmen ist. Brunnen
besitzt Al Bucemas nicht. Man muß sich daher mit Cisternenwasser behelfen,
welches theils vom Winterregen geliefert, theils von spanischen Schiffen zu¬
geführt wird. Indeß ist das kein Nachtheil, da die Felsenzisterne, in der man
den Wasservorrath aufbewahrt, sehr geräumig ist und überdies die Eigen¬
schaft hat. das hineingcfüllte Wasser zu verbessern, so daß es nach wenigen
Tagen dem wohlschmeckendsten und kühlsten Quellwasser gleichkommt.
Fahrzeuge fremder Nationen werden in Al Bucemas in der Regel nicht
zugelassen, auch ist die Garnison strenger beschränkt und beaufsichtigt, als in
den übrigen Presidios. Die Ursache davon liegt in folgendem Vorfall. Die
Truppen, welche im Jahre 1839 die Besatzung bildeten, wurden, da sie zur
Strafe hierher verlegt worden waren, was beiläufig auch von einem Theil
der jetzigen Garnison gilt, von dem Gouverneur mit großer Härte behandelt.
Die Folge davon war, daß eine Meuterei ausbrach. Die Verschworenen
setzten die Sentcnciadvs in Freiheit und versuchten in Verbindung mit den¬
selben zur See nach Arragonien zu entkommen, wo sich damals karlistische
Jnsurgenteuhaufen herumtrieben. Der Versuch schlug fehl, da die leichten
Fahrzeuge, deren sie sich bedienten, gegen die starken Winde der hiesigen Küsten
die See nicht zu halten vermochten. So waren die Meuterer genöthigt, sich
nach dem zu Algerien gehörigen Schlupfhafen Marsa Kebir, nicht weit von
Oran zu flüchten, wo man sie gern aufnahm und später in die Fremdenlegion
einreihte. Die spanische Regierung aber verdoppelte infolge dessen ihre Strenge
in Al Bucemas.
Penom de Velez. das dritte Presidio Spaniens an der marokkanischen
Küste, ist gleich dem vorhergehenden eine Jnselfestung. Es liegt auf einer
Klippe, die gegenüber dem sogenannten Campo del Moro aus den Wellen
emporsteigt. Die Meerenge zwischen dem Eiland und dem Festland heißt El
Fredo und ist etwa 3200 Fuß breit. Am Eingange dieses Kanals erhebt sich
ein kleines Fort, welches, auf einem Vorsprung des dem Platz zur Basis
dienenden Hauptfclsens erbaut, und mit mehren Geschützen schwersten Kalibers
armirt, mit jenem Hanptfelsen nur durch eine schmale natürliche Brücke in
Verbindung steht, zu der die Kunst lediglich insofern beigetragen hat, als sie
dieselbe gangbar machte. Tritt man durch das von einer starken, in Stein ge¬
hauenen Batterie so wie durch die Festungswerke des im Westen gelegenen
Stadtviertels Santa Trinidad vertheidigte Hasenthor, so gewahrt man die
ziemlich geräumige Pulverfabrik. Dieselbe ist mit einer Schartenmauer ein¬
gefaßt und wird von einer sehr respectabeln Batterie so wie von dem eben¬
falls für eine hartnäckige Vertheidigung eingerichteten Stadtviertel von San
Francisco beschützt, in welchem sich das Zeughaus befindet. Im nächstfolgen¬
den Quartier von San Juan trifft man die große Hauptzisterne, die das im
Winter gesammelte Regenwasser bewahrt und wenn ihr Vorrath zu Ende geht,
von Malaga aus mit Wasser versehen wird. Neben dem genannten Thor
und im Stadtviertel San Antonio erheben sich die Gebände, in denen die
Sträflinge wohnen, und das große Magazin, in welchem die Festung ihre
Lebcnsmittelvorräthe verwahrt. Dieselben sind mit einem breiten tiefen Graben
umgeben, über den eine Zugbrücke von Holz und eine wohlbewachte steinerne
Brücke nach dem Artilleriegebäude hinüberführen. Hier läuft auch eine kleine
Esplcmnde hin, neben welcher die Kirche der Festung steht, die der Lantg. Lorr-
cexelvn als la, Virgen geweiht ist. Ganz unten gegen den Fuß des Felsens
hin folgt das Quartier San Miguel, in dem man das Haus des Gouver¬
neurs, ein gut eingerichtetes Spital und ein zweites Pulvermagazin trifft, und
das an das Stadtviertel San Iuliano stößt.
Die Strafkolonie zählt im Durchschnitt etwa hundert Sentenciados, die
Garnison besteht aus zweihundert Mann, Bewohner, die nicht zu diesen
beiden Classen gehören, hat der trostlose Ort, der wie ein Adlershorst auf
seinem Klippencilcmd hangt, nur ein paar Dutzend. In die Mauern ein¬
geschachtelt, eng zusammengedrängt in die beiden Straßen, welche die Stadt
bilden und von denen die eine über der andern hinläuft, von allen Genüssen
der Civilisation abgeschieden, an eine Insel von wenigen Schritten Umfang
gekettet, finden die Soldaten ganz ebenso wie die Sträflinge ihre einzige Zer¬
streuung darin, daß sie die auf dem blauen Meer vorübersegelnden Schiffe zählen,
und es ist nicht zu verwundern, wenn sie die endlich nach langem Harren
erfolgende Ablösung als Erlösung begrüßen.
Die Entfernung von hier bis Ceuta beträgt etwa siebzehn deutsche
Meilen. Die Küste zwischen Pelor de Velez und Ceuta ist großentheils von
Mauren bewohnt. Etwa in der Mitte zwischen beiden Orten liegt die volk¬
reiche Stadt Tetuan (arabisch Titauan), westlich von Ceuta das bekannte
Tanger (arabisch Tanijah). Ceuta selbst befindet sich auf der Halbinsel gleiches
Namens, Gibraltar gegenüber, von dem es die hier etwa zwei deutsche
Meilen breite Meerenge trennt. Ob der alte Name schla oder Septum auf
die sieben Berge zurückzuführen ist, welche die Halbinsel wie ein Felsenkranz
umgeben, mögen die Gelehrten entscheiden. Gewiß ist nur, daß hier schon
im sechsten Jahrhundert ein Castell Septa-stand, welches von Justinian den
Vandalen entrissen wurde. 618 nahmen es die Westgothen ein, mit deren
Statthalter, dem Grafen Julian, der arabische Feldherr Musa einen Vertrag
zur Eroberung Spaniens abschloß, welcher jedoch erst 711 zur Ausführung
kam. Ceuta blieb nun in den Händen der Mauren, die es zum Hauptstapel¬
platz des Landes erhoben, bis es 1415 in die Hände der Portugiesen siel.
Mit ganz Portugal kam es 1580 unter Philipp dem Zweiten an die Krone
Spanien, bei der es auch nach der Wiederabtrennung Portugals verblieb. Ver¬
geblich wurde die starke Festung wiederholt von den Marokkanern belagert.
So 1697 vom Sultan Mulei Ismael und so 1732 unter der Führung des
Renegaten Ripperda. Selbst die Unterstützung, welche die Engländer den An¬
greifern liehen, vermochte nichts gegen die Stärke der Festungswerke. Im
Jahre 1810 wurde die Stadt auf kurze Zeit den Briten eingeräumt. Würde
sie ihnen einmal ganz abgetreten, so möchte sie mit Gibraltar vereint genügen,
die Meerenge vollständig zu sperren, während sie jetzt die Wichtigkeit jenes
ihres Gegenpartners auf der spanischen Küste unzweifelhaft etwas vermindert.
Heutzutage ist Ceuta der Hauptsitz der politischen und militärischen Ver¬
waltungsbehörden sämmtlicher Presidios und Residenz eines Suffraganbischofs
der Diöcese Sevilla. Es hat einen geistlichen Gerichtshof und mehre Mönchs¬
und Nonnenklöster, die indeß ohne Ausnahme dem hiesigen permanenten Ober-
kriegsgericht untergeordnet sind. Das Gebiet der Stadt besteht in einem Theil
-der Halbinsel, der gegen das Meer schroff abfällt und gegen das Innere des
Landes hin von jenen sieben Bergen abgeschlossen ist. Die letztern ziehen in
der Richtung von West-Süd-West nach Ost-Nord-Ost hin und sind unter
dem Namen der Alminaskette bekannt. Westlich von Ceuta erheben sich die
malerischen Klippen eines 2200 Fuß hohen Berges, der von den Engländern
Apes Hill, von den Spaniern Sierra Bulloned, von den Arabern Dschebel
Musa genannt wird. Eine schmale Erdzunge verbindet die Halbinsel mit dem
afrikanischen Continent. Die Stadt ist mit mächtigen' Festungswerken um¬
geben, die mit Geschick und Umsicht angelegt worden sind und mit löblicher,
sonst in Spanien nicht eben häusig zu flutender Sorgfalt erhalten werden.
Auf der Punta del Acho, der höchsten Spitze des Gebirgs der Halbinsel, steht
Nu Wartthurm, von wo man die Küste und das Meer aus eine weite Strecke
überblickt, und die Schiffe, welche die Meerenge passiren, zu überzählen so wie
in alle gegenüberliegenden Häfen zu sehen vermag. Der Hafen von Ceuta
ist mittelmäßig und mit dem von Gibraltar weder nach Tiefe, noch nach Ge¬
räumigkeit noch auch nach Sicherheit zu vergleichen. Die eigentliche Stadt,
auf leicht nach dem Meer hin geneigtem Boden gelegen, ist regelmäßig ge¬
baut. Die Häuser gleichen sich sehr. Sie sind von zierlicher Gestalt und
zeigen schon von fern ihre vorspringenden Balkone, die mit vielfarbigen Gar¬
dinen verhüllt oder mit grünen Jalousien geschlossen sind. Die Dächer sind
flach, die Wände der Häuser fast ohne Ausnahme nach maurischer Sitte weiß
getüncht, was sie sehr anmuthig aus den grünen Gärten hervortreten läßt,
welche sie umgeben und die Luft mit ihrem Blumengeruch und Orangenduft
erfüllen. Die Höfe und Straßen sind mit bunten, viereckig behauenen Steinen
gepflastert, die mitunter zu bizarren Zeichnungen mosaikartig zusammengestellt
sind. Während der Sommerabende bieten drei Reihen prächtiger alter Bäume
und besonders die Promenade der Königin (el?as6s ac 1a lieilia) angenehme
Spaziergänge, die viel besucht sind. Dank der bergigen Umgebung ist die
Stadt aufs reichlichste mit Quellen und Brunnen versehen. Jedes Haus be¬
sitzt seinen Brunnen, und die Zisternen enthalten so viel Wasser, daß die ge¬
stimmte Bevölkerung wenigstens zwei Jahre daran genug hätte. Der Gesund¬
heitszustand ist im Allgemeinen gut. Für Kranke ist durch zwei geräumige
Spitäler gesorgt, welche im Fall einer Belagerung mehre Hunderte von Ver¬
wundeten aufnehmen könnten. Da sie jetzt nicht beide gebraucht werden, so
hat man das eine bis auf Weiteres zum Ofsizierspavillon eingerichtet. Die
Kirchen der Stadt sind wie überall im Süden zahlreich, indeß zeichnet sich
keine durch schöne Bauart oder sonst eine Merkwürdigkeit aus. Die Wohnung
des Gouverneurs, die Ingenieurschule und das große Verpflegungsmagazin
sind Gebäude, die sich nur durch ihre Größe von den übrigen Häusern der
Stadt unterscheiden,
Ceuta hat gegenwärtig eine Garnison von 3500 Mann und etwa 2500
Sträflinge. Unter letztern sind indeß nur ungefähr tausend eigentliche Ge¬
fangene, da die übrigen den verschiedenen Privathäusern der Stadt als Ar¬
beiter und Dienstboten zugetheilt sind. Jene eigentlichen Strafgefangnen ha¬
ben die Arbeiten unsrer Festungsstrüflinge zu verrichten, man läßt sie die Stra¬
ßen kehren und verwendet sie bei der Ausbesserung und Erweiterung der ziem¬
lich ausgedehnten Festungswerke. Außerdem werden sie nach den Handwerke»,
die sie vertreten, zur Anfertigung von Kleidungsstücken, Gerathen u. s. w.
für den Bedarf der Besatzung angehalten und zur Bedienung der Offiziere,
Unteroffiziere und Soldaten gebraucht; denn selbst der gemeine Musketier und
Kanonier befaßt sich hier mit den gewöhnlichen Kasernenverrichtungen unsrer
Truppen durchaus nicht, sondern widmet alle Zeit, die ihm der Waffendienst
seel läßt, dem Dolce far niente der Siesta.
Einwohner, die weder Strafgefangne noch Soldaten sind, hat Ceuta
höchstens 600. Dieselben bestehen aus einigen Spaniern, vielen Juden und
einer Anzahl von Negern und Mulatten. Sie beschäftigen sich ausschließlich
mit der Pflege ihrer Frucht- und Gemüsegärten und mit dem Fischfang. Nament¬
lich ist es der Thunfisch, der hier in Massen gefangen wird. Man berechnet, daß
monatlich gegen 150,000 Stück in die Netze gehen. Davon müssen nach einem
alten Uebereinkommen täglich 500 in die .Küchen der Garnison abgeliefert
werden; die übrigen werden gedörrt oder eingesalzen in die Häfen von Va¬
lencia, Malaga und Cadix ausgeführt. Ein anderer Ausfuhrartikel wird durch
den Ertrag der Obstgärten gebildet. Obgleich die Stadt Obst in großer
Menge erbaut, liefert Tetuan hauptsächlich den Bedarf an Früchten, da die
Bewohner Ccutas es vorziehen, die ihrigen an die hier landenden Schiffe und
nach Spanien zu verkaufen, und die marokkanischen Städte, deren Haupt¬
erwerbsquelle ihre Orangen-, Granaten- und Olivenpflanzungen sind, die
Früchte derselben zu beispiellos wohlfeilen Preisen abgeben. Ebenso bezieht
Ceuta den größten Theil seines Bedarfs an Fleisch und Getreide aus Marokko.
Doch wird dieser Handel nur von eigens damit beauftragten Lieferanten unter
strenger Aufsicht des Gouverneurs betrieben. Im Uebrigen unterhält die Fe¬
stung nur insofern Verkehr mit dem Innern von Marokko, als alle Monate
zweimal von Gibraltar eine englische Karavane hier anlangt, welche durch
die Wüste nach Tanger geht. Die Spanier dürfen, seit man verrätherische
Verbindungen zur Ueberiiefe rung der Festung an die Mauren entdeckt hat, mit
Ausnahme jener Lebcnsmittellieferanten sich in keiner Weise den afrikanischen
Nachbarn nähern, und die Gouverneure sind beauftragt, dieses Verbot mit
aller Strenge des Kriegsrechts aufrecht zu erhalten. Nachlässigkeit oder Nach-
sicht in dieser Beziehung würde ihre sofortige Absetzung und rücksichtslose Be¬
strafung zur Folge haben.
Fast ganz auf den Verkehr unter sich beschränkt und von der übrigen Welt
beinahe abgeschieden, leben die Bewohner Ceutas ziemlich dasselbe einförmige
Leben wie die deo übrigen Presidios. Die einzige Verbindung, in der sie
mit dem Mutterland stehen, ist die, welche durch die allwöchentlich zweimal
von Algesiras ankommende Poftschaluppe vermittelt wird. Mit den übrigen
Presidios steht nur die Oberbehörde in Verkehr. So gilt auch Ceuta in der
spanischen Armee als Strafgarnison, und trotz der schönen Lage an der sonne-
beglänzten blauschimmernden Meerenge und dem stolzen Felsen von Gibraltar
gegenüber trifft man unter den Soldaten mehr schwermüthige Gesichter als
irgendwo in der nördlichen Heimath.
«>'.'.K ki'-in»'/!.' >!', .-.i5>'i>n!>, 5/6- gi-S .chcui nimm chls t<j.'^,z <«s .f«i
Nachdem wir im vorhergehenden Capitel mit dem Verfasser einen Blick auf
die Häfen und Arsenale Frankreichs geworfen haben, wird es von Interesse
sein, die Wersten derselben, deren Ausdehnung und Thätigkeit näher in Augen¬
schein zu nehmen und einen Vergleich mit denen Englands anzustellen. Die
folgenden Tabellen zeigen erstens das Areal der Werften (mit Einschluß der
Bassins) und sodann die Zahl der Werftschlippcn und Ausbesserungsdvcks in
den verschiedenen Häfen. Zu bemerken ist noch, daß bei der französischen Auf¬
zählung die Kanonenschuppen und Lebensmittelfabriken mit gerechnet sind, was
bei der englischen nicht der Fall ist.
Nach dem oben Bemerkten ist es schwer, ohne weitere Daten anzugeben,
welches die genaue Ausdehnung der Werften Frankreichs ist. Wenn wir aber
annehmen, daß die Kanonenschuppen u. a. in den fünf Häfen ein Areal von
etwa 82 Ackern einnehmen, ein Raum, der eher zu groß als zu klein berechnet
ist, so ergibt sich immer noch, daß die englischen Werften 200 Acker weniger
Raum haben, als die französischen. Dazu kommt, daß die Franzosen 76, die
Engländer nur 44 Werstschlippen besitzen, wogegen diese letztern allerdings 34,
die erstem nur 24 Docks haben.
Von den 44 englischen Schuppen eignen sich nur 9 zum Bau von Linienschiffen
ersten Ranges, von den 34 Docks können nur 6 Schiffe dieser Art ausnehmen.
So muß man denn, um den wachsenden Bedürfnissen der britischen Marine
gerecht werden zu können, mehre der Schuppen sowol als der Docks erwei¬
tem und umbauen, und das erfordert natürlich sehr beträchtliche Kosten. So
braucht man jetzt unter der Rubrik „Neue Bauten" 585.862 Pfd. Se., wäh¬
rend das Jahr 1852 nur mit 265,140 Pfd. Se. figurirt. Ebenso ist die Rub¬
rik „Vorräthe" mit 100,000 Pfd. Se. mehr als im verfloßnen Jahr vertreten.
Aber England wird diese Anstrengungen fortsetzen und verdoppeln müssen,
wenn es die Herrschaft auf dem Meer sich erhalten will.
Die große Anzahl der jetzt im Dienst befindlichen Schiffe Englands be¬
wirkt, daß der Verbrauch von Holz zu Reparaturen beträchtlich größer ist,
als in frühern Jahren. Ebenso steigert die wachsende Größe und Stärke
der Schiffe die Kosten der Marine bedeutend; wenn vor zehn Jahren das
größte Schiff der britischen Flotte 210 Fuß Länge hatte, so besitzt dieselbe jetzt
mehre, die 350 Fuß lang sind. Ferner ist eine Dampferflotte weit kostspieliger,
als eine Flotte von Segelschiffen. Schon der Bau eines Dampfers kostet mehr,
dann aber nutzt sich ein solcher auch viel rascher ab, und es muß fast unauf¬
hörlich an den Kesseln geflickt und gen.ndert werden. Endlich aber erfordert
die Heizung derselben schon an der englischen Küste, noch mehr aber bei den
Stationen im Mittelmeer-und in den tropischen Gewässern sehr erhebliche
Ausgaben. Die Vorräthe von Material zum Schiffbau und von Kohlen,
welche sich in den acht englischen Werfthäfen befinden, zeigen eine bedeutende
Vermehrung seit 1852. Es lagerten hier:
In den fünf französischen Kriegswersten ist gegenwärtig der ganze Vor¬
rath von Schiffsbauholz (Eichenholz und Mahagony) nicht größer als 40.000
Ladungen oder 1,560,000 Kubikfuß, was ungefähr so viel beträgt, als man
in einem Jahr verbraucht. Nach der letzten officiellen Abschätzung des Wer¬
thes aller Fahrzeuge, welche die französische Flotte bilden, haben die Rumpfe
derselben einen Werth von 115,338,700 Franken, während das sonstige Zu¬
behör, die „Äceessoires cle con^ues et nu MÄt6ri«z1 en service" auf weitere
127,367,900 Franken gewürdigt wird, so daß der Werth der ganzen Flotte,
die im Dienst befindlichen, die im Bau und die in der Ausbesserung begriffenen
Schiffe eingerechnet, ungefähr 250 Millionen Franken betrüge, eine Summe,
die wahrscheinlich kaum die Hälfte dessen ist, was die Flotte ursprünglich
gekostet haben wird.
Die folgende Tabelle zeigt die Zahl der Schiffszimmerleute, welche auf
den englischen Werften im Jahr 1357—58 beschäftigt waren und zugleich die
Löhne, welche sie empfingen, so wie den Werth des Materials, das sie ver-
Nljnil. Ff-»' N'lkj'iMV MN^U°/1IZU»,'» Un'Z Zi.'it t MlNu IlVV .tMIiSniP
arbeiteten:'
England hätte also in diesem Jahr für den gedachten Zweck 719,885 Pfd.
Se. oder 4,799,233 Thaler ausgegeben. Aber jene Schiffszimmerleute bilden
nur einen kleinen Theil der gewaltigen Menge von Arbeitern aller Art, welche
die Kricgswerftcn beschäftigen, und welche im Jahr 1855 über 12,000, im
Jahr 1857 über 17,000 Mann betrug, während sie sich im gegenwärtigen
Jahr auf 16,334 Köpfe beläuft, wozu noch 1245 kommen, die in den Matrosen¬
hospitälern, Bückereien und ähnlichen Anstalten verwendet werden. Dagegen
rechnet Buhl für die französischen Kriegshafen 22.560 Arbeiter zusammen,
deren Löhne jährlich etwa 15,250,000 Franken betragen.
Die Zahl der Dampfschiffe, welche in den letzten zehn Jahren aus den
englischen Wersten hervorgegangen sind, indem sie entweder neu erbaut oder
aus Segelschiffen in Dampfer verwandelt wurden, beträgt 354, und es befin¬
den sich darunter 33 Linienschiffe, 21 Fregatten, 39 Korvetten und Schaluppen
und 162 Kanonenboote. Gegenwärtig baut man an 35 neuen. Schrauben-
schiffen. Darunter sind 14 Liniendampfer (von denen nur 3 weniger als 800
Pferdekraft haben, und von welchen die 4 größten, der Prince of Wales mit
131, die Victoria mit 121, der Howe mit 121 und der Duncan mit 101 Kanonen
noch im Laus dieses Jahres vom Stapel gelassen werden sollen, und 8 Fregatten,
die großenteils Schiffe ersten Ranges mit 600—800 Pferdekraft sind und je 50
Kanonen tragen werden. Mit Einrechnung der aus den Werften befindlichen
Fahrzeuge besitzt England jetzt an Schiffen: 95 Linienschiffe (worunter 52 mit
Schraube) 96 Fregatten, darunter 29 Schrauben- und 9 Raddampfer, serner
4 mit Dampf bewegte Mörserschiffe, 214 Korvetten. Briggs und Schaluppen,
darunter 142 Dampfer, endlich 8 schwimmende Batterien, 162 Dampskanonen-
boote und eine Anzahl Blockschiffe, Jachten und Transportschiffe. Im Ganzen
zählt die englische Marine jetzt 751 Fahrzeuge, unter denen 530 Dampfer sind.
Die 43 Segellinicnschiffe haben nur noch geringe Bedeutung; Buhl meint,
daß höchstens 15 von ihnen bei einem Krieg wirklich brauchbar sein würden.
Von den 58 Segclsregatten und den 79 kleinern Raddampfern (Korvetten u. d. in.)
glaubt er dasselbe, indem er annimmt, daß von jenen Fregatten nicht mehr
als 15—16, von diesen Radkorvettcn u. d. in. allerhöchstens 24 zu Kriegs- ,
zwecken verwendbar seien.
Aus den französischen Wersten befinden sich jetzt 46 Schiffe, und zwar zu¬
nächst an Dampfern: 4 Schraubenlinienschiffe von 800—900 Pferdekraft
und je 90 Kanonen, ferner 5 Schraubenfregatten von ebenfalls 800—900
Pferdekraft. von denen 4 mit dem neuerfundenen Eisenpanzer versehen sind, dann
3 Fregatten mit Hilfsschraube, 2 Korvetten, 8 Schraubenavisos und 7 Trans¬
portschiffe mit Hilssschraube; sodann aber an Segelschiffen : 12 Fregatten von
42—56 Kanonen, 3 Corvetten und 2 Briggs. Außerdem ist Befehl er¬
theilt worden, so rasch als möglich 20 Transportschiffe zu bauen, von denen
jedes 2500 Mann Soldaten, 150 Pferde und 1200 Tonnen an Vorrnthen auf¬
nehmen kann. Im Ganzen besteht die französische Marine jetzt mit Hinzu¬
rechnung der im Bau oder Umbau begriffnen Fahrzeuge aus 449 Schiffen.
Darunter sind 14 Segel- und 37 Dampflinienschiffe, 101 Fregatten, unter
denen 61 Dampfer sind, ferner 18 Segel- und 20 Dampfkorvettcn, 55 Schoo-
ner, Kutter und Briggs, 8 Schraubenkanoncnschiffe, ebenso viel schwimmende
Batterien, 47 Dampf- und 26 Segeltransportschiffe und 20 Schraubenkanoncn-
boote. Die ganze Flotte führt 8422 Geschütze und ihre 265 Dampfer haben
etwa 77,820 Pferdekraft.' ^ > >
Die Pferdekraft der englischen Dampferflotte betrug im Jahr 1852: 44,482,
die der französischen 27,240. Seit dieser Zeit haben beide Seemächte ihre
Dampferflotten ungefähr in gleichem Maß verstärkt. England hat infolge dessen
gegenwärtig nicht mehr dasselbe relative Uebergewicht über Frankreich, wie
damals. Im nächsten Jahr wird, wenn man die Dampfmaschinen, die jetzt
in beiden Ländern angefertigt werden, hinzuzählt, die englische Flotte seit 1852
um 55.030, die französische um 54,804 Pferdekräfte verstärkt worden sein, so daß
in diesem Zeitraum England seinem Nebenbuhler nur um 226 Pserdckräfte
vorausgekommen wäre. Von diesem Wachsthum fallen bei der englischen
Marine 18,700, bei der französischen 24,640 auf Linienschiffe, Dazu kommen
noch die 3000 Pferdekraft der französischen eisenbekleideten Fregatten, so daß die
französische Flotte in dieser Zeit in Betreff seiner Schiffe ersten Ranges um bei¬
nahe 10,000 Pferdekraft mehr zugenommen hat, als die britische. Ein ähnliches
Verhältniß findet im Bereich der Fregatten und Blockschiffe statt, in welchem d^le
englische Marine nur um 7793, die französische dagegen um I3,ioo Pferdekraft
vermehrt wurde. Im Ganzen haben also England und Frankreich seit acht
Jahren in Betreff ihrer Linienschiffe und Fregatten zugenommen:
Andrerseits hat England mehr für solche Fahrzeuge gethan, welche unter
dem Rang von Fregatten stehen. Auf diesem Gebiet ist die britische Flotte
um 28,537, die französische um 13,464 Pferdekraft gewachsen, und zwar kommen
davon bei jener 8690, bei dieser 2240 Pferdekraft auf Kanonenboote. Ende
dieses Jahres (1859) wird die englische Dampferflotte 99,512 Pferdekraft und
eine Tonnenzahl von 457,881 haben und mit 8246 Kanonen armirt sein,
während die französische 82,044 Pferdekraft haben und gegen 6200 Kanonen
führen wird.
Nach dem Gesagten scheint es, daß die Flotte Frankreichs nicht fern da¬
von ist, der englischen ebenbürtig zu sein, zumal da letztere nothwendig (der
Colonien wegen) zerstreut sein muß. Die Sache stellt sich aber doch anders.
Es ist hier der Ort, ein großes, oft vorgebrachtes Mißverständniß zu widerlegen.
Frankreich hat vielleicht eine genügende Macht, um England mit einer Invasion
zu überwältigen, es wird aber, wenn diese Invasion nicht sofort gelingt,
wenigstens seht nicht die Macht haben, mit England einen langen Seekrieg zu
führen, und zwar deshalb nicht, weil ein solcher Krieg mit Dampf geführt
werden müßte.
Selbst die Franzosen geben das zu. Weit entfernt nämlich mit den
Schriftstellern übereinzustimmen, welche annehmen, daß der Dampf, indem er
eine Umwälzung in den Verhältnissen des Seekriegs hervorbrachte, alle Natio¬
nen für die Zukunft in dieser Hinsicht gleichstellen werde, geben sie ohne wei¬
teres zu, daß England infolge dieser Umwälzung und seiner fast unerschöpflichen
Vorräthe guter Kohlen gegen alle Völker Europas entschieden im Vortheil ist.
Dies erhellt bei folgenden Betrachtungen. Der größere Theil der Kohlen.
Welche jetzt die französische Marine verbraucht, wird in Newcastle und Cardiff
gekauft, da man gefunden hat, daß eine Mischung von Kohlen aus den eng¬
lischen Nordgmfschaften und Wales und französischer Kohle weit besser ist, als
französische Kohle allein. Selbst in Toulon, wenige Meilen von den Kohlen¬
gruben von Grand Conde, wird auf allen Kriegsdampfern mit britischen
Kohlen geheizt, obwol diese 34—35 Franken per Tonne kosten, während
die französischen um weniger als die Hälfte dieses Preises zu haben sind.
Die englische Admiralität dagegen gibt in den heimischen Häfen für die besten
Kohlen per Tonne nur 12—18 Schilling, also 15—22 Franken. Der Ar¬
tikel der Heizung bildet jetzt, wie bemerkt, eine sehr wichtige Rubrik bei der
Abschätzung der Kosten einer Flotte, da der Verbrauch bei den größern Fahr¬
zeugen nicht selten 100 Tonnen täglich übersteigt, ein einziges solches Schiff
also binnen 30 Tagen für 18,000 Thaler Kohlen verbrennt.
Dazu kommt, daß trotz der ungeheuern Vorräthe von Kohlen in den
französischen Kriegshafen im Fall eines Krieges, besonders eines Krieges mit
England, der Preis dieses Artikels in wenigen Tagen außerordentlich steigen
würde. Ein Beweis dafür war der Krieg mit Rußland, wo die französische
Negierung für die Tonne Waliser Kohlen 70—80 Franken zahlen mußte,
dennoch aber diese statt der heimischen benutzte. Bei einem Kriege mit Eng¬
land würde man anfangs die englische Kohle kaum zu 100 Franken per Tonne
bekommen und später, wenn die Vorräthe in Frankreich erschöpft wären, über¬
haupt keine mehr haben können.
In Frankreich findet sich so wenig zu Marinezwccken brauchbare Kohle,
daß. wenn Feindseligkeiten zwischen ihm und England ausbrechen und eine
Zeit lang fortdauern sollten, der Preis der Feuerung die Operationen der
französischen Flotte sehr beträchtlich stören würde. Frankreich würde dann in
der Hauptsache von Belgien abhängig sein, und es würde in diesem Fall ent¬
weder ungeheure Preise zahlen oder sich die nothwendige Kohle durch Erobe¬
rung Belgiens verschaffen müssen. Bei dem Versuch einer solchen Eroberung
würde es sicher Holland und Preußen sich gegenübcrsehen.
Man hat nach sorgfältig angestellten Versuchen herausgerechnet, daß die
Maschine eines französischen Kriegsdampfers, wenn sie mit voller Kraft wirkt,
stündlich 100 Kilogramme Kohlen auf jede Pferdekraft verbraucht. Da die¬
selben aber in der Regel nur mit halber Kraft arbeiten, so wird etwa die
Hülste weniger verbraucht. Ein Geschwader von 10 Kriegsdampfern also,
von denen jeder 900 Pferdekraft hätte, würde, falls es mit halber Kraft führe,
zwischen Toulon und Algier etwa 900 und zwischen Toulon und Brest mehr als
5000 Tonnen verbrauchen. Man kann sich hiervon eine Vorstellung der Kosten
machen, welche dieser einzige Artikel bei einer großen Flotte verursachen würde.
Die Fahrt einer solchen von Toulon bis in den Kanal würde, die Pferdekraft
derselben nur dreimal, so groß als/ die jenes Geschwaders und den Preis der
Kohle nur zu 80 Franken per Tonne angenommen, nicht weniger als für
1,200.000 Franken Kohlen erfordern.
Aber die Anwendung von Dampf bei der ganzen Flotte jeder großen
Seemacht ist heutzutage eine Grundbedingung ihrer Stärke, und so wird ferner¬
hin ein reichlicher Vorrath zu Marinezwecken verwendbarer Kohle für eine solche
Macht die Hauptfrage sein. Alle Offiziere, welche 1849 von der zur Unter¬
suchung dieser Sache niedergesetzten Commission befragt wurden, erklärten,
daß nach der damaligen Beschaffenheit der französischen Maschinen kein Schiff
bei stürmischem Wetter ohne Hilfe ausländischer Kohle die See halten könne,
und das hat sich bis heute nicht geändert. Es ist indeß weder unmöglich noch
unwahrscheinlich, daß man mit der Zeit ein Mittel entdecken wird, durch welches ^
die Einrichtung der französischen Dampfkessel der Feuerung, welche das Land
selbst liefert, sich anpaßt. Aber selbst dann würde die große Entfernung der
französischen Kohlengruben von den meisten Kriegshafen ein schwer empfun¬
dener Nachtheil für die Flotte sein, wenn sie der Krieg auf die eignen Hilfs¬
quellen verweisen sollte.
Der Naturforscher findet auf Wanger-Oge mancherlei Ausbeute. Was
zunächst die Pflanzenwelt angeht, so ist diese freilich sehr ärmlich bestellt;
doch verdienen die seltsamen Dünengräser, deren ich schon oben gedachte,
seine Aufmerksamkeit.
Ein Salzkraut, das auch im Binnenland in der Nähe von Salinen, ge¬
troffen wird, salievririg, irmritima, hier Krückfoot (Krückfuß) genannt, überzieht
zuerst den noch unbenarbten Seeschlamm. Die Insulaner bereiten sich einen
Salat daraus.
Bessere Ausbeute gewähren die wunderlichen Seegewächse, womit an vielen
Stellen das Meer wie mit einem buntfarbigen Teppich überstrickt ist: die ver¬
schiedenen Tangatten, als Fadentang. Blasentang, Schotentang, sügeförmiger
Tang, Zuckertang, der hier die Länge von zwanzig Fuß erreicht.
Oft treiben Seegewächse, die der Sturm anderswo losgerissen hat, an;
die von Helgoland führen nicht selten Trümmer eines rothen Gesteins mit sich,
aus dem jene Insel auferbaut ist.
An dem nördlichen Strande von Wanger-Oge findet man bisweilen Bern¬
stein, und zwar in Verbindung mit Braunkohle, die ja für dessen ursprüng¬
liche Lagerstätte gilt.
An Vögeln ist aus unsrer Insel kein Mangel. Der unvermeidliche Spatz
findet sich natürlich auch hier; Hänfling und Rothkehlchen lassen ihren Gesang
hören; aber die Nachtigall, welche sonst in außerordentlicher Menge über das
Land verbreitet ist, bleibt fern, weil ihr das Gebüsch fehlt. Andere Wander¬
vögel, wie Schwalben, Bachstelzen — im Oldenburgischen Quicksteert*) genannt
— und Lerchen besuchen die Insel. Ein schncpfenartiger Vogel mit rothem
Kopf und Schnabel: der Kampfhahn (aus der Gattung der Strandläufer)
gibt einen guten Braten. Die Männchen kämpfen um die Weibchen mit großer
Heftigkeit, indem sie ihren hohen Federkragen aufstellen, und mit dem langen,
spitzen Schnabel wie mit einem Degen aufeinanderstoßen. Die besondere Auf¬
merksamkeit des Fremden aus dem Binnenland erregen die Schwimmvögel.
Von Tauchern kommen hier vor der Troll- und der Papageitaucher. Ihre
Füße stehen, wie bei ihrem größern Vetter, dem Pinguin, ganz nach hinten,
so daß sie auf dem Lande sich bald senkrecht erheben, bald, zusammenfallend,
auf Brust und Bauch fortrutschen, wobei sie ihre zum Fliegen ganz unbrauch¬
baren kleinen Flügelstummel wie Arme gebrauchen, um sich weiter zu helfen.
Wenn sie bei der Ebbe sich verspätet haben,,kann man sie auf diese Weise
manövriren sehen, und es ist dann nicht schwer, die tölpischen Vögel zu haschen.
Ihr Flaumenpelz wird gleich den Eiderdunen geschätzt. Möven und See-
schwalben gibt es in großer Anzahl. Ein überaus niedliches Thier ist die
kleine Möve von der Größe einer Lerche, mit zart bläulichgrauen Flügeldecken und
Unterhals. blendendweißen Kopf und Leib, glänzendschwarzer Kopfplatte und
zinnoberrothen Schwimmfüßchen. Sie fliegt schnell und in beträchtlicher Höhe.
Wie ein Raubvogel auf einer Stelle in der Luft sich haltend, schießt sie dann
.plötzlich auf ihre Beute ins Wpsser nieder. Die Möven fliegen oft, besonders
bei drohendem Sturm, die Flüsse hinauf und erscheinen dann auch im Binnen¬
land. So habe ich sie wiederholt in der Nähe Mannheims über dem Rhein
gesehn und mich jedesmal ihrer Erscheinung gefreut. Sie schienen mir Grüße
vom Meer zu bringen, mit dem ich doppelt, vom Süden und vom Norden
her, befreundet bin, und nach welchem jeder, der es kennen gelernt und ver¬
loren hat, Heimweh empfinden muß. Wer sich übrigens mit dem ganzen
Vogelreichthum Wanger-Oges bekannt machen will, muß die Insel in der käk-.
tern Jahreszeit besuchen; dann stellen sich auch wilde Schwane, wilde Gänse,
wilde Enten, Eidergänse, Sammtenten und Sägetaucher ein.
Der Strand Wanger-Oges ist mit vielen Muscheln bedeckt, wenn auch
die Nordsee die Mannigfaltigkeit und Schönheit der Schalthiere nicht aufzu-
weisen hat, wie die südlichen Meere. Leere Schalen, sehnte genannt, liegen
auf dem Watt in solcher Menge, daß ganze Schiffsladungen davon hinweg
gebracht werden, um Kalk daraus zu brennen. So ist z. B. der Kalk, der
in der Stadt Oldenburg beim Bauen verwandt wird, in der Regel aus solchen
Muscheln bereitet. Zur Zeit der Ebbe wird auf der Schillbank, d. h. auf
der Stelle des Watts, wo die Muscheln aufgehäuft liegen, eine Waschung
derselben vermittelst der Schillgabel und des Schillkorbs vorgenommen. Der
Austern hab ich schon oben gedacht; sie werden mit einem Netz, dessen Beutel
und Bügel von Eisen sind, zur Ebbezeit von der Austerbank losgerissen und
gehören, unmittelbar aus dem Meer auf den Tisch gelangend, zu den Lecker¬
bissen der Insel. Auch die Scheidemuschel oder Messerscheide, die sich mit
ihrem kegelförmigen Fuß bei der Annäherung eines Feindes schnell in den
Sand gräbt, und die violette bärtige Miesmuschel, auch Blaubart genannt,
sind eßbar. Die anderthalb Zoll lange Entenmuschel hat ein Gehäuse von
fünf Schalen; man findet sie massenweise an schwimmenden Holzstücken,
Schiffen und andern festen Gegenständen, an welche sie sich mit ihrem langen
häutigen Stiele heftet. Oeffnet das Thier, welches eine Lieblingskost der
wilden Enten ist, die Schalen, so zeigen sich zehn Paar federbuschähnliche
Arme. Strahlenthiere von bekannter Gestalt sind die Seesterne und Seeigel.
Ein drittes Thier dieser Gattung, das hier getroffen wird, ist die Seeanemone,
aus der Familie der Seenesseln. Es verdankt seinen Namen den die Mund¬
öffnung umgebenden Fühlfäden, welche sich bei schönem Wetter blumcnartig
ausbreiten. Uebrigens besitzt dies Geschöpf, das sich rutschend langsam fort¬
bewegt, eine außerordentliche Lebenskraft; es kann, ohne Schaden zu nehmen,
einfrieren und lebt zerschnitten in einzelnen Theilen weiter, indem jedes Stück
ein neues Thier bildet. Wcmger-Oge hat drei Arten von Medusen oder
Quallen. Diese seltsamen Thiere sehen auf den ersten Blick wie ein Haufen
Gallerte aus; betrachtet man aber die zitternde Masse, welche, ans Land ge¬
bracht, schnell dahinstirbt und, so scheint es, in bloßes Wasser zerfließt, auf¬
merksamer: so gewahrt man eine bestimmte Form und zahlreiche Organe; man
hat einen schönen, kunstvollen, wenn gleich sehr hinfälligen Bau vor sich.
Auf einem Spaziergang am Strande sah ich Quallen von der Größe eines
Menschenkopff. kreisrund, oben schwachgewölbt wie eine Käseglocke, unten
etwas ausgehöhlt, durchsichtig wie farbloses Glas, mit bräunlichen, röthlichen
oder himmelblauen Streifen wunderbar gesäumt. Der Rand dieser Medusen
ist mit unzähligen Fühlfäden besetzt, die, so lange das Thier lebt, in bestän¬
diger Bewegung sind und bei der Berührung ein brennendes Jucken erregen,
daher sie den Badenden beschwerlich fallen. Doch wird man erst im Spät¬
sommer von ihnen belästigt. Die größten Quallen, die am Strande der Insel
beobachtet worden sind, die Haarquallen, haben zwei Fuß im Durchmesser
und Fühlfäden von achtzehn Fuß Länge.
Unter dem zahlreichen Gewürm, das auf dem Watt herumspaziert, zeich¬
net sich die vier Zoll lange und zwei Zoll breite Seemaus oder Glanzraupe
aus, die in den herrlichsten Negenbogenfarben schimmert. Welche seltsame
Kostgänger der liebe Gott an seiner großen Tasel sitzen hat, davon legen die
verschiedenen Krebsgeschlechter, denen man hier begegnet, ein recht auf¬
fallendes Zeugniß ab — von dem Flohkrebs an, der nur einen halben Zoll
mißt, bis zum Hummer, der einen Fuß lang ist, ja, wenn es hoch kommt, die
Größe von drei Fuß und ein Gewicht von zwölf Pfund erreicht. Der kleine
Flohkrebs schwimmt auf dem Rücken und schlüpft mit seinen vier Scheren und
zehn Füßchen den Fischen in die Kiemen hinein, wo er schlimme Geschwüre
verursacht. Außerordentlich ist die Kraft, die der Hummer in seinen Scheren
hat; wie mit einer großen Beißzange zwickt er damit einen Finger durch.
Der Hauptfundort dieses Thieres, das bekanntlich weit und breit als Lecker¬
bissen verschickt wird, sind die Felsenritzen der Scheren Norwegens; für beson¬
ders schmackhaft gelten die Weibchen. Das zarteste Krebsfleisch liefert die
Garnele. Die Garnele, auch Gamal oder Gemal genannt, kommt an den
Küsten von Deutschland, England und Frankreich in ungeheurer Menge vor;
besonders reich im Oldenburgischen ist der Jahdebusen. Kinder und Weiber
fangen sie auf dem Watt mit einem besondern Garn, das auf Wanger-Oge
Phuuk genannt wird. Dies Krebschen erreicht kaum die Größe eines kleinen
Fingers; die Schale ist ganz weich', die Fühler länger als das Thier selbst;
der Schwanz besitzt eine außerordentliche Muskelkraft. Dieser Theil wird allein
gegessen; denn die Scheren sind wenig entwickelt- Die Garnelen werden, wie
die Krebse überhaupt, in den Monaten, die kein N enthalten, genossen.
Gekocht sehen sie blaßroth aus und sind mit Recht eine Lieblingskost der
Oldenburger. Einen komischen Anblick gewährt der zur Familie der Krabben
gehörige Taschenkrebs, auch Tasche genannt, dessen markiges Fleisch ebenfalls
genossen wird. Er sieht eher wie eine gepanzerte Riesenspinne als wie ein
Krebs aus, erreicht die Breite einer Spanne und das Gewicht von fünf Pfun¬
den und kann sehr behende vorwärts, seitwärts und rückwärts laufen. Die
Strandkrabbe oder gemeine Krabbe, welche denselben lächerlichen Gang hat
und ebenfalls eßbar ist, kommt an der Küste Wanger-Oges außerordentlich
häufig vor. Im August wechseln sie die Schale. Da der neue Panzer noch
sehr weich ist, sind sie in Gefahr, von ihren Kameraden gefressen zu werden;
weshalb sie sich auf einige Tage verkriechen. Bei diesem Schalenwechsel wird
der alte Magen gegen einen neuen vertauscht; der alte Magen ist die erste
Kost, die der neue verdaut. Die Strandkrabben sind wahre Kannibalen, die
sich gegenseitig mit großem Appetit verzehren. Ost sieht man zwei größere
um einen kleinern sich streiten, und wenn einer seinen Mitbruder verschlungen
hat, sieht er gar nicht aus, als ob er Gewissensbisse darüber empfände. Diese
Thiere fressen auch gern Austern; da sie aber nicht die Kraft besitzen, die
Muschel, welche sich vor dem Angriff des Feindes verschließt, aufzubrechen:
so fassen sie ein Steinchen mit der Schere, schieben es geschickt zwischen die
Thür der Frau Auster, bevor dieselbe zugegangen, und gelangen so ohne
Schwierigkeit ins Haus. Unter den Krabben wäre Wundarzneikunde ein
sehr unnöthiges Studium, denn sie haben eine wunderbare Kraft sich wieder
herzustellen. Wird ihnen ein Bein gequetscht oder nur festgehalten, so brechen sie
es unbedenklich in dem darüber befindlichen Glied — wie der Tischler einen be¬
schädigten Stuhlsuß — ab, und in sechs Wochen ist ein neues nachgewachsen.
Ebenso machen sie es mit den Scheren. Ein sonderbarer Gesell ist auch der Ein¬
siedler- oder Bernhardkrebs, ein langgestrecktes Thierchen, etwa drei Zoll groß,
dessen rechte Schere weit ausgebildeter ist als die linke. Um den Hintertheil
seines Körpers, der ohne Panzer ist, zu schützen, sucht der Diogenes — denn
auch diesen dritten Namen sührt er — in Schneckenhäusern seine Zuflucht.
Er frißt die Schnecke und nimmt von der angemaßten Wohnung so festen
Besitz, daß er sich lieber zerreißen läßt, als daß er daraus wiche. Eine
glühende Kohle, aus den Wirbel des Schneckenhauses gelegt, vermag ihn allein
zu vertreiben.
Von den Fischen, welche das Meer bei Wanger-Oge hegt, nenne ich
zunächst den Dornhai, einen Vetter des Haifisches, der aber nur drei Fuß
lang wird; den winzigen Sandaal — so genannt, weil er sich in den Sand
einzugraben pflegt — ein Thierchen, das die Fischer als Köder zu gebrauchen
Pflegen; die zwei Fuß lange und kaum fingersdicke Meernadel, auf Wanger-
Oge Windspier*) geheißen, und die Meerspinnc, eine Art Tintenfisch, von
dem die Sepia und das weiße Fischbein gewonnen werden. Die trauben-
förmigen Wohnungen der Brut werden oft, eine Faust groß, an den Strand
der Jusel getrieben.
Von eßbaren Fischen erwähne ich den Stör, der eine Länge von acht¬
zehn Fuß und ein Gewicht von zweihundert Pfund erreicht. Er hat den zu¬
gespitzten Kopf eines Windhundes und ist mit fünf Reihen harter Knochen-
schilder versehen. Von dem Maul hängen ihm wurmühnlichc Bartfasern
herab, womit er die kleinern Fische, die ihm zum Fraße dienen: den Hering,
den Schellfisch und die Makrele, ködert. Bekanntlich werden die Eier des
Störs als Kaviar verspeist. Aus seiner Blase, die sehr groß ist, wird die
Hausenblase, das englische Pflaster und der Mündlein gewonnen. Dieses
gwße Thier gewahrt also den mannigfaltigsten Nutzen. Eßbare Fische sind
ferner der Glattrochen, der Schellfisch und der Kabeljau, welcher bekanntlich
an der Luft getrocknet Stockfisch, srischeingesalzen Labberdan und trocken ein¬
gesalzen Klippfisch heißt und uns den Leberthran liefert, und der rothe See¬
hahn. Dieser fußlange Fisch, der oben und ans der Seite schön roth mit
weißen Punkten, unten aber silberweiß ist, läßt, wenn er angegriffen wird,
einen Ton hören, der mit dem Rufe des Kuckuks Aehnlichkeit hat. Zu den
schmackhaftesten Fischen Wanger-Oges gehören die Schollen mit den Unterab¬
theilungen, gemeine Scholle, Steinbutt und Zunge. Die Schollen sind höchst
sonderbare, ganz scheibenförmige, seitwärts schwimmende Fische. Ihre Augen
befinden sich nebeneinander auf der Seite, auf welcher sie nicht schwimmen,
so daß also die rechtäugigen Schollen aus der linken, die linkäugigen auf der
rechten Seite schwimmen. Umgekehrt verhält es sich mit den Naslöchern, die
den Augen gegenüberstehen. Da sie keine Schwimmblase haben, bleiben sie meist
aus dem Boden des Meeres; als Speise dienen ihnen Schnecken, Krebse und Wür¬
mer. Der Knabe des Fischers, bei dem wir auf Wanger-Oge wohnten, fing sie zur
Ebbezeit, indem er ein Netz mit eisernem Bügel das Ufer entlang an dem Rande des
Wassers vor sich herschob: denn sie stecken dann in dem feuchten Sand. Die
größte Art Scholle ist der Steinbutt, der seinen Namen den Steinchen ver¬
dankt, die sich bei seinem Aufenthalt im Ufersand bei starkem Wellenschlag in
seine Haut schieben; die kleinste die Zunge, welche die Gestalt und Größe
einer Schuhsohle hat.
Der Schollenfang ist ein wichtiger Zweig der Fischerei, und da die Ham¬
burger Kaufherrn eine außerordentlich leckere Tafel führen, so geht dieser köst¬
liche Fisch in großer Menge nach der reichen Hansestadt. Die Schollenfischer
wohnen großentheils in dem nahen Dorfe Blankenese. Ihre kleinen Fahr¬
zeuge, Ewer genannt, zeichnen sich durch ein hohes, spitzes Vordertheil, durch
einen Mast und Segel von ganz besonderer Form aus. Das Innere der Bote
ist großentheils Fischbehälter. Stark gebaut und von ebenso kühnen als geschickten
Männern geführt, verstehen sie den Stürmen Trotz zu bieten. Solche blankcncser
Ewer sieht man oft zu dreißig oder vierzig auf der wangeroger Rhede liegen, wenn
ungünstiger Wind sie verhindert, nach der Elbe zurückzukehren. Weht es dann
aus Westen, so ziehen sie, einer um den andern, mit gespannten Segeln,
wie Schwäne, durch die Oster Harle: so heißt die Meerstraße im Norden
der Insel, die durch das Watt hindurchführt. Endlich muß ich noch zweier
Meerbewohner gedenken, welche der Ordnung der Säugethiere angehören: des
Delphins und des Seehunds. Der Delphin, Braunfisch oder Tümmler, wie
er hier gewöhnlich genannt wird, ist ein lustiger Gesell, der durch seine tollen
Sprünge und Purzelbäume, so wie durch die zwei Springbrunnen, welche er
durch die auf seinem Kopf befindlichen Naslöcher treibt, den Seefahrer belustigt.
Er liebt es, den Schiffen heerdenweise nachzuziehen und den Abfall aus deren Küche
zu verschlingen. Man jagt ihn um seines Fettes willen; der kühne Springer läßt
sich aber nur schwer fangen. Daß Musik ihn anziehe, scheint eine Fabel zu sein. Der
Delphin erreicht die Länge von zehn Fuß. Ausnahmsweise wurde einer bei
Wanger-Ogc ausgefischt, der noch anderthalb Fuß weiter maß und achtzig Kannen
Thran lieferte; er war an einem Lachs erstickt, der ihm noch im Halse stak.
Dem Binnenländer weit bekannter ist der Seehund oder die Robbe,
welche ja oft auf Messen und Märkten gezeigt wird. Ihr Kopf, der dem
eines Hundes ähnlich sieht, wird anziehend durch ein großes braunes Auge
von so viel Ausdruck, daß mehr Seele dahinter zu lauschen scheint, als hin¬
ter den Augen der meisten andern Thiere. Dieses sehnsüchtig blickende und doch
wieder kluge Auge und der aufgerichtete büstenänhliche Oberkörper hat ohne
Zweifel Veranlassung zu der Sage von den Meerweibchen gegeben. — Die
Robbe bringt zwei Junge zur Welt, die sie zärtlich liebt und um deren Verlust
sie Thränen vergießen soll. Sie ist gescheidt. läßt sich leicht zähmen und lernt
gelehrig, wie sie ist — mancherlei Kunststücke. Obwol sie aus ihren halb
in Haut verwachsenen Vorderfüßen nur rutschen kann, so macht sie doch, bei der
ungemeinen Beweglichkeit ihres Nackens, einen gewandten Eindruck. Sie ge¬
wöhnt sich an den Menschen wie ein Hund, dessen Stimme mit der ihrigen
Aehnlichkeit hat.
Es ist mir ein Fall bekannt, daß Schiffersleute eine Robbe hielten, die
M einer Ecke der Stube in einem Loch zu liegen Pflegte und von den Kin¬
dern mit Fischen, die sie ihr singen, gefüttert wurde. Als aber mehre Haus¬
thiere starben, sagte eine alte Frau, die bei der Familie wohnte: daran sei
die böse Robbe Schuld, die müsse fortgeschafft werden. Darauf nahm sie der
Hausvater mit in sein Fahrzeug und warf sie, als er auf dem hohen Meer
war, über Bord. Aber nach wenigen Stunden erschien sie wieder in dem
Schifferhäuschen und nahm zur großen Freude der Kinder den altgewohnten
Platz wieder ein. Zum zweiten Mal wurde die Robbe mit ins Schiff ge¬
nommen und diesmal viel weiter weggebracht, und zum zweiten Mal kehrte
sie, nach Verlauf eines Tages, zurück. Man konnte sich nicht entschließen, das treue
Thier zu todten; aber die alte Frau stach ihr, nachdem die Kinder weggeschickt
worden waren, die Augen aus. So übergab man sie einem Grönlandsfahrer,
der sie hoch im Norden dem Meer überlieferte. Was geschah? Nach einigen
Tagen hörten die Schiffersleute in tiefer Nacht ein Rutschen und ein Winseln
vor ihrem Hause — und siehe! der geblendete Seehund lag. auf den Tod
erschöpft, vor der Thür und starb, nachdem er noch einmal die Stimme seiner
Freunde vernommen hatte
Bekanntlich wird dem Seehund wegen seines Fells und seines Fettes
nachgestellt; aber er setzt sich tapfer mit scharfem Biß und Schwanzschlägen
zur Wehre. Ans Wanger-Oge wird die Robbenjagd nur im Kleinen betrieben.
Zwei wohlbewaffnete Schützen besteigen mit einem Jungen ein Boot und
fahren zur Ebbezeit nach den großen Sandbänken vor Spiker-Oge. In den
tieferen Stellen des Watts, welche noch voll Wasser stehen, halten sich leicht
Seehunde auf, die es versäumt haben, dem zurückgewichenen Meer zu folgen.
Die Jäger legen sich nun vor dem Wasserbecken aus den Bauch, indem sie
das Gewehr im Anschlag halten, während der Junge die Bewegungen eines
auf dem Sande kriechenden Seehunds nachahmt. Die Arme kreuzend stützt
er sich auf die Ellnbogen und rutscht so, den Kopf emporhaltend, aus den
Ellnbogen und Knien hin und her. Die jungen Seehunde lassen sich durch
diese Bewegungen, die man Huckseln nennt, leicht tauschen und kommen,
aus dem Wasser emportauchend, heran; worauf dann die Jäger sie vor den
Kopf schießen. Die älteren Seehunde, die schon mehr Erfahrung haben, kön¬
nen nicht leicht auf diese Weise berückt werden. Man beschleicht sie, wenn sie
ihre Siesta auf dem Sande halten, und schlägt oder schießt die Schlafenden
nieder.
Ich selbst habe eine kleine Seehundsjagd von Wcmger-Oge aus mit ge¬
macht. Wir waren sechs Personen: drei Badegäste, von denen zwei, als eif¬
rige Weidmänner des Festlandes, Gewehr und Schießbedarf mit auf die In¬
sel gebracht hatten, während ich, der dritte — ein Fremdling in den rauhen
Freuden Dianas — als Dilettant mitging, und drei Insulaner, von denen
einer als Seehundsjäger von Gewerbe unsere Unternehmung mit Rath und
That unterstützte, die beiden andern aber das Boot leiteten. Unsere Fahrt
ging nach den großen Sandbänken der Nachbarinsel Spiker-Oge: es waren
also hannoverische Seehunde, denen wir Oldenburger nachstellten.
Noch lebt unter den Wanger-Ogern die Erinnerung, daß man von ihrer
Insel aus die Hähne von Spiker-Oge habe krähen hören; jetzt sind die zwei
„Augen" meilenweit auseinander, und nur ihre Sandbänke — durch einen
tiefen Einschnitt des Meers, die Harte, getrennt — sind sich nahe geblieben.
Der Schiffer, der am Steuer unseres Bootes saß, erzählte uns von Dörfern
zwischen Spiker-Oge und dem Festland, die schon seit Hunderten von Jahren
untergegangen seien; er wies nach einer Stelle hin, wo ein Dorf Olmen ge¬
legen habe, dessen sechzig Schritt lange Kirche und daneben der aus rohen
Steinen („Kieselsteinen") erbaute Thurm") bei niedrigem Wasserstand noch
lange hinterher sichtbar geblieben seien.
Auf der Sandbank angelangt, ließen wir den Steuermann bei dem Boote
zurück; die Uebrigen zerstreuten sich über die weiten Flächen, um die Wasser¬
becken auszusuchen. An einem derselben, aus dem ein junger Seehund mit
neugierigen Augen eine Secunde lang aufgetaucht war, machteich mit einem
der Festlandjäger Halt. Der Vorschrift gemäß legten wir uns nieder in den
feuchten Sand, und während er, auf den Bauch hingestreckt, sein Gewehr
nach der Stelle richtete, übernahm ich, um mich doch auch nützlich zu machen,
die bescheidene Rolle des Huckseljungens. Aber das Thier schien doch einige
Zweifel zu hegen, ob ich mit meinen Brillengläser moor den Augen ein Bru¬
der Seehund sei; denn es tauchte noch einmal an einer andern Stelle auf,
verschwand aber im Nu wieder, um uns auf immer Lebewohl zu sagen. An¬
dere von der Gesellschaft versuchten anderswo ihr Glück, aber mit ebenso
wenig Erfolg. Es sielen Schüsse; aber nur die Wasserfläche, keine Robbe
wurde verwundet. Die Festlandjäger stießen einige Flüche über dies nasse
Weidwerk aus.
Unterdessen begann das Meer in bedenklicher Weise zu steigen, und wir
sammelten uns vor dem Boote, um nicht von der Flut überrascht zu werden.
Nur der wangeroger Jäger, der sich zuletzt noch von den andern getrennt hatte
und mit seiner langen rostigen Flinte am weitesten gegangen war, fehlte noch.
Wir äußerten seinetwegen Besorgniß gegen unsern Steuermann; aber dieser
gab lachend zur Antwort: das sei ein alter Praktikus, der gewiß zur rechten
Zeit, und wahrscheinlich auch nicht mit leeren Händen kommen werde.
In der That sahen wir ihn jetzt in der Ferne auftauchen, beladen mit
einem Thier, das so groß als er selber war. Einer der Schiffer eilte ihm
entgegen, um die Last mit ihm zu theilen; denn es war die höchste Zeit, daß
wir zu Schiffe gingen. Der von ihm erbeutete schöne, fette Seehund wurde
in das Boot geworfen, und wir verließen den Strand, der sich nun schnell
vor unsern Blicken in Meer verwandelte. Wir spannten das Segel, und mit
reißender Geschwindigkeit durchschnitt das schiefliegende Fahrzeug die brausen¬
den Wogen, welche schäumend an dessen Brust emporschlugen.
Als wir vor Wanger-Oge anlangten, war es Nacht geworden. Aus dem
Dunkel tauchten hier und dort, wie Feuerwürmchen, die Lichter der Badeinsel
hervor; die Laterne auf der dunklen Säule des Leuchtthurms begann auf ein¬
mal zu stammen, und über das Meer zu uns her lief in wunderbarer Schön¬
heit eine goldene Straße, die mit den schwankenden Wellen auf und nieder
Zitterte.
Uebrigens hatte der Schluß unserer Jagdfahrt auch seine komische Seite.
Da selbst die höheren Theile des Watts vor der Insel von der Flut überspült
waren, aber uoch nicht Fahrwasser genug sür unser Boot hatten: so wurde
dieses an einem eingerammten Pfahle festgekeilet, wir Badegäste aber, d. h.
die zwei Festlandjäger und ich , der Hucksler, bestiegen den Rücken der drei
Wanger-Oger, welche ihre Beinkleider bis unter den Leib ausgerollt hatten.
So langten wir rittlings in voller Nacht auf der Insel an, wo unsere Frauen
weht ohne große Besorgniß uns entgegenharrten. Auch Dr. Chemnitz, der
Badearzt, stellte sich ein und sprach, indem er den Finger dräuend erhob:
„El. el, meine Herrn, ist es auch recht, solche aufregende Strapazen
während der Cur zu unternehmen?!"
Um die Geschichte der dramatischen Kunst in ihrem innern Zusammen«
sang richtig zu übersehen, müßte man nicht nur die Stücke nach ihrer Zeit¬
folge im Auge behalten, sondern auch die Art und Weise ihrer Darstellung.
Denn in jeder bedeutenden Periode des Theaters steht der Dichter mit dem
Schauspieler in lebendiger Wechselwirkung, der eine wird durch den andern
angeregt und zum Theil bestimmt, und wir würden manches Dichterwerk, für
dessen Verständniß wir jetzt weitläufige philosophische Motive zu Hilfe neh¬
men, unbefangener würdigen, wenn wir uns ein bestimmtes Bild von den
Künstlern machen könnten, deren Talent und Neigung den Dichtern vorschwebten.
Aber ein solches Unternehmen ist ebenso schwer als wünschenswert!), und
Schiller hatte nicht Unrecht, den Schauspieler zu beklagen, daß er nur sür den
Augenblick wirke, während der Dichter vor einem unverständigen Publicum
sich auf eine einsichtsvollere Nachwelt berufen könne. Namen großer Künstler
sind uns in hinlänglicher Zahl aufbewahrt, auch von ihren Liebesabenteuern
hat uns die Geschichte und die Sage hinlänglich unterrichtet; aber was für
uns die Hauptsache wäre, zu wissen, wie sie die Phantasiegemälde der Dichter
in Fleisch und Blut verwandelten, davon erfahren wir nur sehr Weniges und
Unzusammenhängendes. Diesen Mangel an bestimmten Nachrichten empfin¬
den wir z. B. auch in dem besten Buch dieser Art, in Eduard Devrients
Geschichte des deutschen Theaters. Was Fleiß, gesunde Schule, Scharfsinn
und liebevolles Nachdenken aus dem Stoff machen konnten, ist hier geleistet;
aber ein Bild, welches nur die Augen wirklich überliefern, kann das gelehrte
Studium nicht ergänzen.
Zum Theil liegt dieser Mangel gleichzeitiger Nachrichten an der Gedanken¬
losigkeit der Berichterstatter, aber die Sache hat auch ihre innern Schwierig¬
keiten. So gewissenhaft man sich bemüht, den allgemeinen Eindruck wieder¬
zugeben, den eine bedeutende künstlerische Persönlichkeit aus den Zuschauer
macht, so ausführlich man beschreibt, so sorgfältig man analysirt: das Beste
kann man doch nicht überliefern. Die technischen Hilfsmittel, die Einwirkung
des Verstandes und was sonst der Analyse unterworfen ist, das läßt sich wol
wiedergeben; aber den springenden Punkt, das eigentlich Geniale des Künst¬
lers kann man nur empfinden, nicht zerlegen.
Wir sind uns dieser Schwierigkeiten wohl bewußt, indem wir den Ver¬
such machen, von einer bedeutenden Künstlernatur einen Umriß zu geben.
Diese Schwierigkeit wird noch dadurch vermehrt, daß wir Marie Seebach nur
aus einem Gastspiel kennen, freilich aus einem sehr umfangreichen Gastspiel,
welches ihre bedeutendsten Rollen enthielt: allein vollständig lernt man den
Künstler doch nur in dem ruhigen Zusammenwirken mit der Bühne würdigen,
zu der er gehört. Jedes Gastspiel, schon weil es das Ensemble unterbricht,
hat etwas Unruhiges für den Darsteller wie für den Zuschauer; es ist doch
in jeder Persönlichkeit irgend etwas, woran man sich erst gewöhnen muß, um
den Kunstgenuß rein zu empfangen, und man hat alle Ursache vorsichtig zu
sein, ehe man . auch aus einem Cyklus von beiläufig zwanzig Vorstellungen
allgemeine Schlüsse zieht.
Marie Seebach wird durch die öffentliche Stimme unter den jetzt lebenden
und wirkenden Schauspielerinnen als die erste bezeichnet, und wir pflichten
diesem Urtheil vollkommen bei. Es ist ein hoher Genuß, wenn man daran
gewöhnt ist, Schauspielerinnen von mehr oder minder angenehmem Naturell
unter den verschiedensten Masken ganz unbefangen sich in ihrem eigenen
Wesen ergehen zu sehn, einmal im schroffen Gegensatz dazu eine echte Künstler¬
natur zu bewundern, die den ernsthaften Willen und die Kraft besitzt, aus
ihrer eignen Individualität herauszugehn und sich in die Figur zu verwan¬
deln, die der Dichter gewollt und gedacht hat. An jener Art von Schau¬
spielerinnen fehlt es nicht, unsere jungen Damen sind heute so liebenswürdig
Wie vor fünfzig, vor sechzig, vor hundert Jahren, und wenn man sich damals
an den Gurlis, an den Johannen von Montfaucon u. s. w. erfreute, so haben
wir in unsern Tagen das Lorle, die Grille und andere Rollen, zu deren Darstel¬
lung nur ein angenehmes Naturell gehört. Dazu kommt jetzt noch das große
Hilfsmittel des Schwäbelns, das immer reizend klingt, namentlich aus dem
Munde eines Nichtschwaben. Wenn sich Marie Seebach in diesem Genre
oder in dem des Salonstücks versucht, so wird sie, so anerkennenswert!) auch
hier ihre Leistungen sein mögen, leicht zu übertreffen sein; in dem Charakter¬
stück dagegen und namentlich in demjenigen, das eine tiefere Innigkeit der
Seele erfordert, eine Innigkeit, die von der gemüthlich angenehmen Oberfläche
Wohl zu unterscheiden ist, wird sie nicht leicht ihres Gleichen finden.
Auch die bedeutendsten Künstler werden die Spuren ihrer Zeit an sich
tragen, schon der Dichter, noch weit mehr der Schauspieler, dem der Stoff ja
überliefert werden muß. Vor einigen Jahren erschien in diesen Blättern ein
Porträt von Davison; so verschieden die Persönlichkeiten sind, so erinnert doch
wanches in dem Spiel der einen an die Art und Weise der andern und
vielleicht prägt sich in ihnen beiden der Charakter der gegenwärtigen Kunst¬
periode am schärfsten aus. Beide werden nicht von dem allgemeinen Strom
einer mächtigen poetischen Bewegung leicht getragen, sie müssen sich mit An¬
strengung das Poetische in einem im Ganzen unproductiven Zeitalter er¬
kämpfen. Das ist nicht die Schuld des Künstlers, er wird von den positiven
Bedingungen seines Zeitalters bestimmt und seine Aufgabe kann nicht weiter
gestellt werden, als diese Bestimmungen in so idealer Form als möglich seiner
Natur anzupassen.
Dreierlei Umstände charakterisiren in Bezug aus den Schauspieler die
heutige Kunstperiode.
Einmal wird der Schauspieler von den Dichtern sehr wenig gefördert.
Zwar ist die Periode von 1839—1843 auch in Bezug auf das Theater viel
bedeutender als die von 1811—1839, und wenn die Stücke nur zum Lesen
geschrieben wären, so würde man aus diesem kurzen Zeitraum vielleicht immer
drei lesbare Stücke auf eines jener längern Periode rechnen können; ja auch das
theatralische Geschick in der Entwicklung der Handlung hat zugenommen. Aber für
den Charakterdarsteller ist sie entschieden ungünstiger, weil ihr Motiv (Aus¬
nahmen natürlich abgerechnet) die geistreiche Willkür ist. Die Classe der Geist,
reichen, der Dilettanten, der Genies, der Künstler, der Literaten u. s. w., die
vor fünfzig Jahren doch immer nur eine kleine Colonie in der Masse des
Philistertums bildete, hat sich seitdem in sehr bedenklicher Weise ausgebreitet
und die Dichter sind daher leicht versucht, alle ihre Figuren nach dem Schema
geistreicher Dilettanten zu entwerfen. Grade die talentvollsten und beliebtesten
unter unsern Theaterdichtern haben es namentlich in den Jahren 1339—48
so gemacht und dadurch im Anfang das Publicum sehr geblendet, aber doch
keine dauernden und lebendigen Figuren geschaffen. Die Franzosen haben für
den Schauspieler, der zuerst die Rolle eines Dichters aus dem geschriebenen
Wort in Fleisch und Blut überträgt, den zweckmäßigen Ausdruck: er schafft
die Rolle. Nun nenne man uns eine weibliche Figur von Gutzkow, Hebbel
oder Laube, die von einer Schauspielerin auf diese Weise geschaffen wäre oder
hätte geschaffen werden können. Und das sind die gefeiertsten Dichter dieser
Periode. Bei männlichen Rollen geht es eher, denn Männer haben doch
irgend eine andere Bestimmtheit; aber sobald Frauen überwiegend geistreich
sind, was man so geistreich nennt, hört in der Regel alle Natur bei ihnen
auf. Wie eine Schauspielerin eine geistreiche Frau darstellt, ist ganz gleich-
giltig, denn es ist in ihr keine innere Bestimmtheit.
Der schönste Beruf des darstellenden Künstlers also, neue Gestalten zu
schaffen, wird unsern heutigen Schauspielerinnen nur selten zu Theil. Der
Ruf, den sie erwerben, liegt fast durchweg in den ältern classischen Stücken.
Shakespeare, Goethe, Schiller, das ist die Welt unsrer heutigen Künstler,
wenn nicht etwa noch ein Virtuosenstück von Scribe oder der Birchpfeiffer dazu
kommt. Bei diesen classischen Rollen ist aber die Schauspielerin selten ganz
unbefangen, denn sie hat die ältern berühmten Vorbilder vor Augen, deren
Art sich durch eine lange Tradition fortgepflanzt hat, und da die Freude an
der Nachahmung nicht grade zu der Signatur unsrer Zeit gehört, so fühlt die
Schauspielerin von Talent sich leicht versucht, ihre Vorgänger dadurch zu über¬
bieten, daß sie die Rollen geistreich d. h. capriciös, allenfalls auch etwas ba¬
rock auffaßt. Es ist ein sehr seltnes Verdienst, dieser Neigung des Zeitalters
zum Subtilisiren gegenüber das starke Gefühl für Wahrheit festzuhalten, wie
es bei Marie Seebach der Fall ist.
Mit den dramatischen Dichtungen gehn die Bühnen Hand in Hand; mehr
und mehr verliert sich, in ihnen, was man früher Schule nannte. Wir meinen
damit nicht Schule in dem idealen Sinne, wie es Eduard Devrient versteht,
sondern Schule in der Weise Schröters, Ifflands, auch Goethes, trotz der
einseitigen Richtung des letzern. Die Schule besteht in der Disciplin, vereine'
mächtige künstlerische Persönlichkeit seine Bühne unterwirft. Lange nachdem jene
drei Männer die Bühne aufgegeben hatten, wirkte ihre Schule durch ältere,
tüchtige Schauspieler noch sort; sie ist jetzt, wenn nicht abgestorben, doch im
schnellen Absterben begriffen; eine neue Schule ist nicht entstanden, und so hat
jeder Einzelne im Nebel seinen Weg zu suchen. Das Gefühl der Achtung
vor einer reifern Kunst verliert sich mehr und mehr; „dem genialen Geschlecht
wird es im Traum bescheert;" und immer seltner werden die Schauspieler,
die auch nur die äußere Technik des Handwerks sich angeeignet haben.
Die Spitze erreicht diese Anarchie und dieser Individualismus in der Art
und Weise unsrer Gastspiele. Man mag lächeln, wenn man liest, wie sorg¬
fältig Goethe seine Schauspieler unter Schloß und Riegel hielt, wie sie trotz
ihres kläglichen Gehalts sich nicht erlauben durften, irgend wo anders auf¬
zutreten; aber die Heimathlosigkeit unsrer Tage ist ein noch viel ärgeres Ex¬
trem. Bald wird es Regel sein, daß Künstler von größerm Ruf gär kein festes
Engagement mehr annehmen, daß sie nur auf den Eisenbahnen zu Hause sind,
und Tag aus Tag ein aus einer Stadt in die andere sich Hetzen lassen. Für
das Publicum hat das manche Annehmlichkeit, denn fast jede Mittelstadt kann
nun die größten Künstler Deutschlands mit eignen Augen anschauen; der
Künstler selbst kann schnell reich werden und was ihm doch das Süßeste in
seiner Laufbahn ist, der unmittelbare Erfolg, der Jubel und die Begeisterung
der Menge, wird ihm reichlicher und brausender zu Theil. Aber er lebt auch
viel schneller als sonst, und selbst wenn seine physische Kraft einer so aufreibenden
Thätigkeit widersteht, so ist er doch der schweren Versuchung ausgesetzt, durch
starkes Auftragen der Farben dem fremden Publicum rasch zu imponiren, aus
Mangel an jener Sammlung, die für jeden Künstler nothwendig ist, das
Mechanische der Kunstmittel überwuchern zu lassen, und endlich aus dem Künstler
zum Virtuosen herabzusinken. Daran ist z. B. in unglaublicher Schnelligkeit
die Rachel künstlerisch und physisch zu Grunde gegangen.
Dies sind die allgemeinen Zeitverhältnisse, sehen wir nun zu, wie inner¬
halb derselben sich das Talent unsrer Künstlerin entfaltet hat.
Marie Seebach ist in den letzten zwanziger«; sie ist aus einer Schau¬
spielerfamilie und auf dem Theater groß gewachsen. Mit seltenen Ausnahmen
ist das bei allen darstellenden Künstlern der Fall, und es möchte im ganzen
auch das naturgemäße sein: eine technische Vorbildung, deren Resultate all-
mälig so zur Natur werden, daß man sich ihrer mit genialer Bewußtlosigkeit
bedienen kann, ist für die Kunst günstiger als eine specifisch literarische Vor¬
bildung. Doch auch die letztere hat sie sich in einem nicht geringen Maß
angeeignet, ob nachträglich aus eigner Kraft, oder durch die Sorgfalt ihrer
Eltern, ist uns nicht bekannt. In ihrer frühsten Jugend wurde sie im ganzen
wenig beachtet; sie trat im Soubrettenfach und als Localsängerin auf, und
setzte verhältnißmäßig erst spät ihren Uebergang ins Tragische durch. In
Hamburg kam sie zuerst zur Geltung und hier darf nicht unerwähnt bleiben,
daß das Hamburger Publicum durch warme und liebevolle Theilnahme so
manches bedeutende Talent groß gezogen hat. Die Münchner Vorstellungen,
durch welche sich Dingelstedt das Verdienst erwarb, die bedeutendsten Kräfte
Deutschlands zu einem lebendigen und fruchtbaren Wettstreit zu vereinigen,
machten zuerst das größere Publicum mit diesem seltnen und bereits zu einer
großen Reise entwickelten Talent bekannt. Seitdem stieg ihr Ruhm schnell
durch Gastspiele, durch ihre Anstellung am wiener Hoftheater, später in Han¬
nover; seit einigen Monaten ist sie mit dem Tenoristen Niemann verheirathet,
der gegenwärtig durch Kraft und Wohlklang der Stimme wie durch vollen¬
dete Bildung zu den besten dieses Fachs gehört. Dies sind die äußern
Umrisse eines Lebens, welches wol manche ernste Schicksale durchgemacht
haben mag.
Um uns von ihrer Kunst ein Bild zu machen suchen wir uns zunächst
ihre äußere Erscheinung zu versinnlichen. Ein ausdruckvolles und ausdruck-
fähiges Gesicht, ein Auge, das namentlich innige Gefühle schön und zu¬
weilen hinreißend wiedergeben kann, eine durchaus nicht imposante, aber
wohl gebaute Gestalt, die ihre Bewegungen mit vollkommener Sicherheit be¬
herrscht, eine deutliche wohlklingende und von allen unreinen Elementen völlig
befreite Stimme, die sich in einen bedeutenden Umfang der Tonlage sicher be¬
wegt und sich ohne ängstliche Anstrengung zu großer Kraft steigern kann: endlich
was für die ganze Erscheinung vielleicht das charakteristische ist: im Auge, in
der Gesichtsbildung, in den Mienen, in der Stimme etwas eigenthümlich
Geistiges, das den Zuschauer selbst da. wo sie nicht in lebhafterer Bewegung
ist, aufmerksam macht, anzieht und fesselt. Dies sind die Elemente über die
sie verfügen kann. Stellt man sie z. B. mit einer Rachel zusammen, so
steht sie dieser in mancher Beziehung nach, ihr sinniges und seelenvolles Auge
hat nicht jene dämonische Kraft, die uns aus dem dunklen Auge der Rachel
entgegenblitzte und uns gewissermaßen den Glauben an das Entsetzlichste
ohne Anstrengung einjagte: der Versuch, mit einem bloßen Blicke eine gewal¬
tige Herzensbewegung zu erzählen, wird von ihr nur mit äußerster Vorsicht
gewagt werden dürfen. Ebenso ist es mit der Stimme. In dem tiefen Alt
der Rachel hörte man schon von fern den Donner der innern Leidenschaften
grollen, und wenn sie ihnen den Zügel ließ, so war kein Widerstand möglich;
die ganze Erscheinung war ein Dämon geworden. Alle diese Naturwirkungen,
die freilich einen außerordentlichen Zauber ausüben, darf unsere Künstlerin
nur behutsam versuchen: es muß ihr, wenn wir uns so ausdrücken dürsen,
wehr daran liegen den Zuschauer zu überzeugen als ihn zu überraschen. Wenn
also auch nicht die ganze Zeit einer gedankenvollen Ausfassung der Kunst zu¬
strebte, so würde unsere Künstlerin durch die Eigenthümlichkeit ihrer Natur¬
anlagen dazu veranlaßt werden, ihren genialen Instinkt durch das Nachdenken
Zu leiten.
Hier muß auf ein Mißverständniß aufmerksam gemacht werden, das uns
leicht begegnet, wenn wir die entgegengesetzten Pole, die aber zu einem Wesen
gehören, von einander trennen. Die Bezeichnung eines denkenden Künstlers
hat gewöhnlich etwas Geringschätzendes, man pflegt darunter denjenigen zu
verstehn, der die fehlende Natur durch Kunst ersetzt, wobei man vergißt, daß
so etwas im eigentlichen Sinn gar nicht möglich ist. Ein denkender Künstler
^se vielmehr derjenige, der die Grenzen und den Umfang seiner Natur voll¬
kommen kennt, die ersteren nie übertritt, und die letzteren zur vollen und
harmonischen Geltung bringt. Ein denkender Künstler ist ferner derjenige, der
ernsthaft in die Intentionen des Dichters eindringt und uns nicht blos die
Stimmungen, sondern auch den Geist derselben zur Evidenz bringt.
U.in nun aber diese allgemeinen Sätze, die für sich betrachtet etwas Ab-
stractes und daher Undeutliches haben, an einem bestimmten Beispiel zu er¬
läutern, wählen wir die Rolle der Julia. Der zweite Theil der Rolle, der in
seiner Tendenz klar genug ist, wird von unsern bessern Schauspielerinnen durch¬
weg mehr oder minder gut wiedergegeben; von dem ersten Theil haben wir
aber jetzt zum ersten Mal eine ergreifende Anschauung gehabt. Es kommt hier dar¬
auf an. dem Zuschauer die plötzliche alle Schranken überfliegende Leidenschaft der
^ulla zu erklären d. h. in sinnlicher Klarheit darzustellen. Man kann sagen, daß
Shakespeare in dieser Beziehung der Darstellerin wenig oder gar nicht vorgearbei-
^ hat, und so poetisch die erste Scene sich liest, so hat sie uns bei der Aufführung
urinier nur sehr wenig bewegt. Bei Marie Seebach sühlt man, wie der erste Kuß
^ ganzes Wesen im Innersten durchschauert, wie sie in der Mischung von
Jubel und vorgreifenden Schmerz, in der innern Trunkenheit, die ihr alles
Bewußtsein raubt, die Worte hinredet, ohne im geringsten zu bedenken, was
sie spricht, wie die kleinen Späße, die sie mit Romeo austauscht, ihr Herz
gar nicht berühren. Das ist freilich zunächst geistreich gedacht, aber wäre es
nicht zugleich innig und tief empfunden, so würde der bloße Geist keine er¬
hebliche Wirkung ausüben, und was innige und tiefe Empfindung heißt, kann
man vollständig bereits aus ^dieser Scene entnehmen. — Ein anderer Ver¬
such, die plötzliche Leidenschaft zur Anschauung zu bringen, gelingt ihr nicht
ganz: als Romeo eintritt, bleibt sie wie von einem Zauber getroffen gebannt
stehn. Auch dies ist richtig gedacht, aber hier hat die Künstlerin zu wenig
ihr Material erwogen, und es möchte überhaupt daran zu erinnern sein, daß
solche Effecte nur in den äußersten Fällen gewagt werden dürfen, denn nichts
führt leichter in Manier, wie wir bereits bei sehr bedeutenden Schauspielern
und Schauspielerinnen beobachtet haben.
Wir sagten vorher, daß ihr Spiel zunächst den Eindruck des Durchdach¬
ten und Geistigen macht , und dies zeigt sich in zweierlei. Einmal sucht sie
die tiefere Bedeutung jedes Satzes, ja man möchte sagen jedes Wortes in ihrer
Rolle zu durchdringen und so weit es der Dichter gewollt zur Geltung zu brin¬
gen; sodann bemüht sie sich, ein deutliches in allen Punkten detaillirtes Bild
von der Figur, die der Dichter im Sinne gehabt, in ihrer Seele gegenwärtig
zu machen, und diesem Bilde gemäß jede Färbung, jeden Ton der ganzen
Rolle zu moduliren; sie sucht sich mit einem Wort vollständig in die Figur
zu verwandeln, die sie darstellt. Es ist ihr das in einem Grade gelungen,
wie wir in Deutschland nichts Aehnliches gesehen haben. Mit einer Gewissen-
haftigkeit, die gegen das Bemühen unsrer meisten jungen Schauspielerinnen, in
jeder Rolle welcher Art sie auch sein mag, hauptsächlich ihre eigne Liebenswürdig¬
keit zur Geltung zu bringen, sehr vortheilhaft absticht, verschmäht sie auch die härte¬
sten Mittel nicht, die Umrisse der Figur, die sie darstellt, deutlich hervortreten zu las¬
sen. Und wenn sie es in einzelnen Fällen, z. B in Shakespeare's Zähmung der Wi¬
derspenstigen, ein wenig zu weit treibt, so ist die ganze Richtung doch im höchsten
Grade anzuerkennen, und bei ihrem angebornen Sinne für Maß und Ordnung
überschreitet sie die Grenzen nur selten. Bei der Hervorhebung ihres Verdienstes
haben wir nicht blos den Vergleich mit den Duodezdamen des Theaters
im Auge, bei denen ein hübsches Gesicht oft das einzige ist. was sie für die
Kunst mitbringen, sondern sehr bedeutende Künstlerinnen, wie z. B. Frau Bayer-
Bürk. Wie fein sie auch in solchen Rollen zu nüanciren versteht, die eine große
Verwandschaft haben, zeigt z. B. der Vergleich ihres Klärchens und ihres
Gretchens: es sind wirklich nicht blos zwei verschiedene Masken, sondern zwei
verschiedene Personen, die uns gegenüberstelln.
Es versteht sich von selbst, daß auch das vielseitigste Talent in der Cha-
raktcristik seine Grenzen hat. Richtig angelegt war. so viel wir zu beobachten
Gelegenheit hatten, jeder Charakter. Zur vollständigen künstlerischen Geltung
Wu das Fach von Klärchen. Gretchen. Julien (also wahrscheinlich auch Des-
demona und die verwandten Rollen; Lady Macbeth haben wir nicht gesehn).
Schon etwas ferner liegt ihr das Schillersche Drama, und das Lustspiel und
das Salonstück bietet ihr keine Gelegenheit, ihre eigentliche tiefere Kraft zu
entfalten.
Bei dieser Aufmerksamkeit sowol auf das Detail als das Ganze der
Rolle haben wir zuweilen ein Mittleres vermißt, nämlich die Beachtung der
Stimmung, die in jeder Scene herrscht. Zuweilen kommt es vor. daß sie ein¬
zelne Worte, einzelne Nedenwendungen stark nüancirt. was zwar dem absoluten
Wortsinn nach richtig ist. auch nicht der Rolle im Ganzen widerspricht, wol
aber der Färbung der bestimmten Scene, gegen welche das einzelne Gefühl
in Schatten treten sollte. Als z. B. Gretchen von ihrem todten Schwesterchen
"zählt, läßt sie eine Trauer hervortreten, die hier nicht Hingehort; in der
Wahnsinnsscene nüancirt sie die Worte: durch das Brausen der Hölle u. s. w.
»hört ich den süßen Ton" mit einer Innigkeit, die hier nicht blos gegen
die reale, sondern auch gegen die künstlerische Farbe verstößt. Wir könnten
noch einige Beispiele anmerken, glauben aber daran genug zu haben, um in
dieser Hinsicht der von uns so hochgeehrten Künstlerin eine nochmalige Revi¬
sion ihrer Rollen zu empfehlen. Seltener, aber doch einigemal begegnet uns
"n anderer Fehler, daß der bürgerliche Ton. der Ton von Gretchen und
Klärchen in freilich gleichgültigen Bemerkungen einer Rolle hervortrat, die
diese Nuance eigentlich ausschließen sollte. Wenn wir dagegen über den Aus¬
druck einzelner Stellen mit ihr nicht ganz einig sind, so wollen wir dieses
Urtheil nicht als maßgebend aufstellen, denn bei dem gewissenhaften Nachdenken
unserer Künstlerin ist es möglich. daß wir bei einer zweiten Aufführung ihrer
subjectiven Auffassung Recht geben würden. Ein anderer Fehler, den man
ihr öfters vorwirft, daß sie übertreibt, ist in dieser Allgemeinheit zu unbestimmt
und in besondern Anwendungen, die wir zuweilen gehört haben, durchaus
unwahr. So finden wir z. B. ihr stummes Spiel höchst discret und maßvoll,
namentlich auch in der Rolle Gretchens. wo wir andere berühmte und un.
berühmte Schauspielerinnen tausend Allotria haben treiben sehn (z. B. das
beliebte Spiel mit dem Putz), die hier in der bescheidensten Weise nur ange¬
deutet wurden. Wenn man nun gar behauptet, daß sie in der freilich furcht¬
baren Wahnsinnsscene am Schluß zu stark aufträgt, so ist uns vollkommen
Unverständlich, was man damit meint: man müßte etwa von einer Kindes-
wörderin, die ihre Hinrichtung erwartet, und im Gefühl ihrer Schuld in Ra¬
serei verfallen ist. verlangen, sie solle sich gebährden wie eine verliebte Schäferin.
Bekanntlich hat Marie Seebach für die Scene mit dem bösen Geist den
Ausweg gefunden, daß sie ihn selber spricht, was psysologisch vollkommen
richtig, da der böse Geist doch nur die Stimme des Gewissens repräsentirt,
theatralisch aber ein ungeheurer Fortschritt ist: denn der böse Geist von der
schnarrenden Stimme einer Statistin gesprochen, wobei dann allenfalls noch
eine Figur mit Eulenflügeln zum Vorschein kam, hat uns schon manchmal in
Verzweiflung gesetzt.
Diese Scene, wie die vor dem Muitergottesbilde (daß ihr wankender
Schritt nach diesem Bilde etwas länger dauerte als nöthig, ist im Grunde
unwesentlich) quollen aus dem innersten Herzen hervor, und von der Gewalt
dieser Empfindung wurde man fortgerissen, auch wo man mit einzelnen Aus¬
drücken nicht einverstanden war. Als die Krone dieser Leistungen möchten wir
aber die ernsten Scenen in Klärchen bezeichnen, und der Ausdruck mit dem
sie das bekannte Lied sang, war über alle Beschreibung ergreifend. Auch die
Scene mit den Bürgern, obgleich hier einzelne Mißklänge vorkamen, war tief
gedacht und empfunden, man sieht wie das feurige Mädchen, das mit der
größten Zuversicht eintritt, immer hoffnungsloser wird, wie ihre letzten Kraft-
anstrengungen nur aus der Verzweiflung entspringen und wie ihr Tod sich
als ein nothwendiger Naturproceß herausstellt.
Da wir mehre Scenen des Faust erwähnten, möge uns noch verstattet
sein, über die Ausführung dieses Stücks einige Bemerkungen zu machen. Man
hat den ersten Theil dieses Stücks (bis zur Hexenscene d. h. bis zur Ver¬
jüngung des Faust), der nach unsrer Ueberzeugung völlig undramatisch und
untheatralisch ist, mit allerlei Hokus Pokus ausgestattet, man läßt z. B. die
Träume des Faust wirklich aufführen, und da die schaulustige Menge sich an
diesen bunten Geschichten sehr amüsirt, so ist ja auch dagegen nichts zu sagen.
Dagegen sollte auf den zweiten Theil, der in gewisser Beziehung wirklich dra¬
matisch ist, mehr Aufmerksamkeit verwendet werden. Das Stück zerfällt in
eine Reihe von Tableaux, und da durch die artige Erfindung des Zwischen¬
vorhangs das Mittel gegeben ist, jede einzelne Scene zu schließen, so sollte
man nicht Scenen aneinandersädeln, die nicht znsanunengehören. Es ist z. B.
völlig absurd, den Monolog „meine Nuhe ist hin" mit dem bekannten Neli-
gionsgefpräch zusammenzubringen. Auch das letztere wird in der Regel nicht
richtig aufgefaßt: man stellt es so vor, als ob Faust, um das gute Gänschen
zu beschwichtigen, aus seinem Register ein Fach aufzieht und ihr daraus ein
Credo vorliest, so gut oder schlecht es sein mag. So hat sich Goethe die
Sache freilich nicht gedacht. Faust ist nicht ein Wagener, der seinen Glauben in
Schubfächern registrirt hat, und sie nur aufzuziehn braucht, er ist ein Grübler, der
mit Gott, dem Unbekannten ringt, und jene Frage des naiven Kindes erweckt in
seiner Brust Empfindungen und Gedanken, die er nun vor sich hinspricht, ohne
sich an die Person, die ihn anhört, zu erinnern. Auch das gute Gretchen mag
wol, während sie ihn anhört, durch diese Jdeemeihe zu verwandten dunklen
Ideen angeregt werden und erst nachdem sie sich gesammelt, fällt ihr natürlich
der Herr Pastor ein. Die Bemerkung ist insofern nicht unwesentlich, als diese
Stelle eine der wenigen ist, die Faust Gelegenheit gibt, sich von einem ge¬
wöhnlichen Don Juan zu unterscheiden, und wenn man diesen Unterschied
ganz vergessen könnte, so verlöre das Stück doch jede Pointe.
Wir fühlen lebhaft, wie ungenügend diese Bemerkungen sind, von einer
bedeutenden Natur ein vollständiges Bild zu geben; sie sollen auch nur einen
Beitrag bilden, der anderweitig ergänzt werden möge. Ein geistvolles durch¬
dachtes Spiel, ein wahrhaft künstlerischer Sinn, ein gewissenhaftes Streben
nach dem Wahren, die Fähigkeit sich in die Tiefen des Gemüths hineinzu¬
denken und ein reger Sinn für das wahrhaft Schöne und Poetische, das sind
die hohen Vorzüge unsrer Künstlerin. Möge sie zum Schluß noch einen ernst¬
haften Rath beherzigen. Sie schafft, und das ist gerade das Schöne an ihr,
aus dem Innern heraus, aber ein solches Schaffen reibt auf, und eine zu stark
gespannte Anstrengung schadet nicht blos der physischen Kraft, sondern auch
der künstlerischen Leistung. Auch der nachschaffende Künstler bedarf der Samm¬
lung; eine so aufreibende unruhige Thätigkeit, wie sie ein fast Tag für Tag
ununterbrochenes Gastspiel nöthig macht, läßt bedenkliche Spuren zurück.
Die Rachel in ihren letzten Jahren ist ein warnendes Beispiel. Marie See¬
bach steht jetzt auf der Höhe ihres Rufs und ihrer Kraft: von dem Maß und
der Grenze, die sie sich setzt, hängt es ab, ob sie die Abwege vermeiden wird
I- S.
In einem Schriftchen, dessen ausführliche Erörterung ich nur vorbehalte (Deutsch-
w ^ und der Friede von Villafranca) bezeichnet I. Fröbel die „fixe Idee des
^ationalitätsprincips" als eine der krankhaften Illusionen, die uns in unsrer Ent¬
wicklung zurückbringen. Er hat dabei theils Deutschland und Italien im Auge, die
""es seiner Meinung die Fähigkeit, sich politisch (als Einheitsstaaten) zu constituiren.
nicht besitzen, theils Oestreich, das, obgleich aus verschiedenen Nationalitäten zusammen-
öchtzt, unter allen Staaten Europas den größten und edelsten Beruf und die gc-
sichertste Existenz haben soll. Aber neben dieser endlichen Beziehung kommt es ihm
— der fortwährend gegen alle Doctrinen declamirt — hauptsächlich darauf an,
eine Doctrin festzustellen, dieselbe Doctrin, für welche A. Rüge seit 1843 gegen die
nationalen in die Schranken trat.
„Als historischer Vorgang ist die Richtung der Zeit aus Zersetzung größerer
politischer Gebilde in ihre Naccnbestandtheile, dieses Zurücksinken von einem sittlichen
in ein naturhistorischcs Verhältniß, eine Erscheinung des europäischen Verfalls, die
zu den trübsten Gedanken veranlaßt. Das Nationalitätsprincip, von einem ober¬
flächlichen Liberalismus als ein Pfand der Hoffnung auf bessere Tage begrüßt, ist
in Wahrheit ein Gift, von welchem das europäische Abendland mit der Auflösung
bei lebendigem Leibe bedroht wird." Und indem er die Anschauungen des seligen
Diezel adoptirt, sährt er sort: „Die bloße Thatsache, nur einer einzigen Nationa¬
lität anzugehören, ist schon hinreichend, einen Staat vom eigentlich großstaatlichcn
Charakter auszuschließen. Der w ahre Großstaat ist das, was wir ein Reich nennen.
Nur Reiche zählen im Großen in der Culturgeschichte, und der Begriff eines Reichs
schließt den der Einfachheit aus." Diese abstracte Doctrin zu illustriren, malt er
in wohlfeiler Komik aus, was geschehn möchte, wenn z. B. Oestreich oder die Ver¬
einigten Staaten sich in die kleinen Sprachgruppcn auflösen wollten, aus denen sie
zusammengesetzt sind.
Die Sophistik ist zwar ziemlich handgreiflich, aber es ist doch nothwendig, aus
die Trugschlüsse aufmerksam zu machen, weil etwas von solchen Redensarten immer
in der Vorstellung der Menge haften bleibt.
Wenn es wirklich Menschen gibt, die von der Berechtigung der Kaschuben, der
Nuthcnen, der Gorallcn u. s. w. träumen, einen Staat zu bilden, so sind diese scdcn-
salls nicht zurechnungsfähig und einer Widerlegung nicht werth. Das Nationalitäts¬
princip — das wir für das höchste, das leitende der neuen Geschichte, sür den ein¬
zigen Träger der Zukunft halten — sagt etwas ganz Anderes.
Die Nationalität ist nicht der Naturzustand, aus dem die Geschichte sich heraus¬
gearbeitet hat, sondern es ist der ideale sittliche Zustand, dem die Geschichte aus ihren
elementaren Voraussetzungen entgegenstrebt. Stämme und Stammverbindungen hat
es im Mittelalter gegeben, die Nationen sind ein Erzeugniß der neuen Geschichte;
und zwischen beiden liegt ein gewaltiger Unterschied.
Aus der Anarchie der Völkerwanderung entwickelte sich allmälig eine Fülle
privatrechtlicher Beziehungen, die nur den Einzelnen an den Einzelnen knüpften,
jedes Ganze aber ausschlossen; bis allmälig die wachsende Macht der Könige dem
Privatrecht eine untergeordnete Bedeutung gab. Das Streben der Könige ging
dahin, ihre Besitztümer zu erweitern und zu arrondiren und sich im Innern absolut
zu machen. Aus diesem Streben erwuchsen die modernen Staaten — Frankreich,
England, Oestreich, Spanien, Rußland, Preußen u. s. w.
Wenn zunächst ihre Unterthanen in keiner andern Gemeinschaft standen, als
eben die Unterthanen des nämlichen Herrn zu sein, so gelang es den Königen, durch
das von Montesquieu ganz richtig definirte Princip der Ehre, die Unterthanen an
sich heranzuziehn und in ihnen das Gefühl zu erregen, daß sie an dem Staat be¬
teiligt seien. Ruhmvolle Waffenthaten, der Amtsdicnst, die Akademien, der Glanz
der Höfe, das alles kam dazu. So entstand die Grundlage der Nation, das Ge-
Mcingefühl; und aus dem Bedürfniß der Gemeinsamkeit ging innerhalb des Staats
— wie in Frankreich und England — die Ausgleichung der Dialekte hervor; die
gemeinsame Sprache wurde das Kennzeichen der Nation. Ob einzelne eroberte
Provinzen mit anderer Zunge dazukamen, war gleichgiltig; der Franzose, der Eng¬
länder, der Russe kannten sich an der Sprache.
Nun trat das Bedürfniß ein, diese zunächst nur ideale Einheit des Staats
mit der Nation real zu machen, d. h. den Bürgern einen wirklichen Antheil am
Staat zu geben. In England war das constitutionelle System naturwüchsig ent¬
standen, die andern Staaten ahmten es seit der Revolution nach. Das Wohlthä¬
tige dieses Systems liegt nicht allein in der Controle der Regierung, sondern darin,
daß es das gemeinsame nationale Bewußtsein wirklich constituirt.
Einer von diesen Nationalstaaten — der polnische — wurde zertrümmert; ein
anderer — Deutschland — löste sich in verschiedene Staaten auf, doch erst nachdem
die Gemeinsamkeit der Sprache befestigt war; Italien wurde die Beute des Auslands.
Aber die einmal erwachte Völkerseelc regte sich fort und fort, und ihr Trieb, sich
«nen Körper zu geben, wurde die Federkraft der neuen Zeit.
Nicht jede Kraft hat das Recht zum geschichtlichen Erfolg; nicht jede Nation
die Möglichkeit einer staatlichen Existenz. Es gehören dazu manche andere Bedin¬
gungen: die Größe und innere Lebenskraft des Volks; ein ausgedehntes und zusammen¬
hängendes Local; endlich der historische Organismus eines Staats, der sich all-
Mälig zur Nation erweitern kann. Daß man noch nicht allgemein im Klaren
ist, welcher von den historischen Staaten der Trüger der deutschen Nation sein kann,
hält die Constituirung Deutschlands auf, macht sie aber nicht unmöglich; die Klar¬
heit wird kommen und es sind dazu schon gute Anfänge gemacht. Der Trieb der
Nation, aus dem idealen Gebiet ins reale überzugehn, und auf der andern Seite
der kraftvolle Organismus des Staats, der diesem Trieb Befriedigung bietet — so¬
bald beides sich entgegenkommt, wird auch der Umschmclzungsproceß Deutschlands
Und Italiens nicht ausbleiben. Freilich muß man nicht damit anfangen, eine Sprach-
karte zu entwerfen und danach seine politischen Einrichtungen zu treffen: nur die-
ttnigcn Länder können einem Staat angehören, die er beherrschen und sich assimiliren
kann; die Träumerei von der Einverleibung Lieflands in ein deutsches Reich gehört
in die politische Kinderstube.
Von diesem Standpunkt aus betrachten wir es als einen sehr erheblichen Ge¬
winn, daß man jetzt, nach dem Frieden, die Bestrebungen Sardiniens richtiger
würdigt als früher. Freilich haben die Italiener die rechte Feuerprobe noch nicht
^standen, aber ihre bisherige Haltung ist doch in hohem Grade geeignet, die über¬
weisen Politiker zu beschämen, die ihnen die Fähigkeit der Organisation absprechen.
^Ub daß jeder Fortschritt der nationalen Sache in Italien auch die deutsche fördert,
kann nur der leugnen, der die Macht der Ideen in der neuen Geschichte und ihre
Fortpflanzung leugnet: d. h. der Doctrinär in der Maske des altklugen Empirikers,
Wie
Die altchristlichen Kirchen nach den Baudenkmalen und älteren Beschreibungen und
der Einfluß des altchristlichen Baustyls aus den Kirchenbau aller späteren
Perioden. Dargestellt und herausgegeben für Architekten, Archäologen, Geist¬
liche und Kunstfreunde von Dr. Hübsch. 1 — 3 Liest, incl. Gr. Fol. 18
Tafeln Abbild, u. 9 Tafeln Beschreibung. Karlsruhe. 1858. —
Wir halten es sür unsre Pflicht, das vorstehende Werk, in dessen Wesen und
etwaige wissenschaftliche Bedeutung wir nach seiner Vollendung genauer einzugehen
gedenken, vor der Hand wenigstens zur Anzeige zu bringen. Da bis jetzt von den
zehn beabsichtigten Lieferungen nur drei und von den sechzig Platten des Ganzen
nur achtzehn erschienen sind, überdies der bis jetzt gelieferte Text und die beigegebe-
nen Platten sich nicht vollständig decken, so ist ein eingehendes Urtheil über die
einzelnen Bauwerke, deren Beschreibung, Beurtheilung und Ergänzung noch un¬
möglich. Ein längeres Schweigen aber ist ebenso unthunlich, da der Versasser es
für gut befunden hat, dem Werke selbst den Zweck desselben in ziemlich anspruchs¬
voller Weise vorauszuschicken und da es nicht an Solchen gefehlt hat. die auf Treu
und Glauben ohne die erforderlichen Kenntnisse feine Ansicht adoptirt und ohne
weiteres in die Welt hinaustrompctct haben. Wir wollen mithin unsrerseits nur
das prüfen, was wir bis jetzt haben.
Ueber den Zweck des Werkes klärt uns schon der Titel, noch mehr der Prospect
und die Vorrede selbst aus. Der Verfasser hat sich zunächst zu viele Ziele gefleckt
und wir besorgen um deswillen schon, daß er keines erreichen wird. Er will zu¬
nächst eine angebliche Lücke ausfüllen, die nach seiner Behauptung zwischen dem
Zeitalter Konstantins und dem Karl des Großen in der Literatur der altchristlichen
Baugeschichte vorhanden sein soll. Erst beweise er uns, daß das Werk von Quast
über die altchristlichen Bauwerke Ravennas nicht ein in wissenschaftlicher Hinsicht
fast unerreichbares Musterwerk ist, daß die Basiliken Roms von Gutensohn und
Knappe, von dem Text reden wir nicht, keine genügende und wahrheitsgetreue An¬
schauung geben und daß Salzcnbcrgs altchristliche Bauwerke Konstantinopels in jeder
Hinsicht auch in der rein äußerlichen Ausstattung, auf die Hübsch besonderen Werth
zu legen scheint, gerechte Ansprüche nicht befriedigen, daß endlich über die Katakomben
von dazu Befugten und Unbefugter nicht mehr als erforderlich ist, zusammen
geschrieben worden ist und wir wollen unsern Namen unter diesen ersten Theil seines
Programms setzen.
Der Verfasser macht sich, und auch das flößt uns gerechte Besorgnisse ein, nicht
etwa nur mit Liebe, sondern gradezu mit Enthusiasmus an seine Aufgabe. „Die
kirchliche Poesie und die Musik der altchristlichen Periode gab die erhabensten Muster,"
fagt er und er geht daher jetzt darauf aus, uns auch die Großartigkeit, Mannig¬
faltigkeit der Anlage und Anordnung, die echte Originalität und den strengen Or¬
ganismus der Grundformen nebst der glänzenden Pracht der inneren Ausschmückung
der gleichzeitigen Bauwerke darzuthun. Was jene angestaunten Musterwcrke der Poesie
und Musik betrifft, so wird das Organ für christliche Kunst ihm beistimmen, wir
und manch anderer aber nicht; wenn wir in Hinsicht der Architektur dazu gezwungen
werden sollen, so zeige uns Herr Hübsch, daß es ein künstlerisch genialer Einfall,
nicht aber Mangel an Zeit, Geld und Geschicklichkeit war, welcher jene von ihm
angestaunten Baumeister die Säulen und Architrave von altclassischcn Werken stehlen
ließ, statt sie selbst zu arbeiten, daß sich in der Durcheinandcrwürfclung der verschie¬
denen Säulenordnungen das malerische Princip der Neuzeit, uicht aber grenzlvse
Geschmacklosigkeit darin zu erkennen gibt und daß endlich nur die christliche Bescheidenheit,
nicht aber Mangel an eigner Erfindungsgabe Ursache ist, daß man die Muster der
Alten in Rom wenigstens ganz ohne allen Verstand copirte. Sobald dies geschehen
sein wird, klatschen auch wir ihm Beifall für den Gedanken, über dessen Originalität
er selbst noch betreten zu sein scheint.
Der seine Takt, den Fortschritt in den Bauten Ravennas im Vergleich zu de¬
nen Roms und derer Ravennas wiederum im Vergleich zu denen Konstantinopels
herauszufühlen, geht Herrn Hübsch vollkommen ab, denn er würfelt bis jetzt alle
Bauwerke dieser drei Vororte bunt durcheinander. Ich meine, was Kugler, Kinkel
und Quast gesichtet, sollte man einer Caprice zu Liebe nicht so rücksichtslos durch-
cinandcrwerfcn und das alles um des naiven Einfalles willen: „die romanische
Bauart sei eigentlich nur eine Fortsetzung jener altchristlichen, keineswegs aber eine
im Vergleich zu der letzteren gesteigerte und mehr organische Ausbildung der kirch¬
lichen Baukunst/' Daß heißt nun denn doch alle bisherigen Resultate unsrer Wis¬
senschaft nicht widerlegen, sondern auf den Kopf stellen. Die Fortsetzung hat bis
letzt gar niemand in Abrede gestellt; aber es ist denn doch noch etwas mehr, meinen
Wir. Die romanische Zeit umfaßt jenen Gährungsprvceß, in dem die abend- und
wvrgcnländischen Elemente, die Herr Hübsch bei seinem Mangel an historischem Sinn
nicht zu scheiden im Stande ist, sich mischen und aus dem dann erst das geklärte
Wunderwerk der gothischen Baukunst sich streng organisch in der Construction und
phantasievoll in der Gliederung entwickelt. Das kann nun freilich der nicht heraus¬
fühlen, der geschmacklos und voreilig genug war, schon vor Jahren zu behaupten:
die Gothik schaffe nur Glashäuser, gehe im Thurmbau auf und leiste in der Wölbe-
kunst nicht das Höchste, Letzteres deshalb, weil einige Gewölbe italienischer Bauten
10—20' Raum mehr überspannen sollen, als die des kölner Doms. Daß übri¬
gens die romanische Baukunst ein Kulminationspunkt sei, hat bis jetzt kein be¬
deutender Kunsthistoriker behauptet. Sie ist vielmehr und bleibt, was sie war, der
Uebergang von den mühsam nachgeahmten Formen des classischen Alterthums zu
^n freien selbstständigen Schöpfungen der Blütezeit des christlichen Mittelalters.
Das Dritte, was der Verfasser seiner eigenen Aussage nach bezweckt, ist: durch
^in Werk dem heutigen Kirchenbau von erheblichem Nutzen zu fein und der Gegen¬
wart die würdigsten Vorbilder zu geben. Mit einem Wort, was die Pracraphacliten
für die Malerei find, das will Herr Hübsch für die Baukunst werden. Wenn der
bedanke auch nur in seiner Art neu wäre, wir wollten ihn hingehen lassen und
f"ne Nichtigkeit durch Erfahrung erproben. Aber die auf diesem Grund errichteten
^Mscligcn neueren Kirchenbauten Berlins, die doch immer noch das haben, was die
^christlicher, und Herrn Hübschs eigene Bauwerke nicht kennen, die reine und graziöse
"Atile Gliederung, brechen dieser Richtung ein für alle Mal den Stab. Der ver-
hältnißmäßig glänzende Eindruck der Basilika Münchens wird, wer hat das bis jetzt
in Abrede gestellt, nicht durch die Genialität und Gediegenheit der Construction, die
Feinheit der Gliederung, sondern durch die Pracht des Materials, die Schönheit
der Gemälde erzielt. Welchem Baumeister in der Welt stehen aber heutzutage
solche Mittel zu Gebote wie Herrn Zicblcmd unter Ludwigs Negierung!
So viel über die allgemeinen Grundsätze des Werkes, die wir für falsch und
zeitwidrig halten. Davon ganz unabhängig ist die Ausführung, die sich durch eine
übertriebene Sauberkeit und Eleganz auszeichnet. Wenn wir die früher gelieferten
Abbildungen der bereits publicirten Werke mit den jetzigen vergleichen, so ist uns
beim ersten Anblick klar, daß der Zeichner daraus ausging, seine Lieblingskinder in
möglichst günstigem Licht erscheinen zu lassen. Der Farbenton einzelner Platten war
überflüssig, weil er nur dazu geeignet und da ist, das Auge durch den malerischen
Reiz zu bestechen und die armselige Gliederung des Aeußeren zu verdecken. Diese
Bauten kommen mir vor wie italienische Bettler und Banditen in ihren bunten
malerischen Flicken: sür den Menschenkenner bleiben sie deswegen doch Gesindel. Der
große Schwarm der Romantiker wird sie vielleicht um deswillen günstiger beurtheilen;
ein gewissenhafter Richter vergibt ihnen auch nicht einen ihrer vielen Diebstähle.
Auch mit den zahlreichen Restaurationen des Verfassers sind wir nicht einver¬
standen: ihre Nichtigkeit zu prüfen, überlassen wir gediegenen Architekten. Dem
großen Publicum hat Herr Hübsch damit einen Gefallen gethan, uns nicht. Der
Forscher will die Ruine als Ruine haben; er läßt sie auch nicht einmal ausfegen,
wenn er sie untersuchen will, wie Herr Hübsch gethan hat. Jeder Maßstab für
vorurtheilsfreie Beurtheilung ist ihm dadurch entzogen. Wie viel Wesentliches kann
die Hand des Restaurateurs vernichten!
Endlich vermissen wir in dem Werk bis jetzt die Ordnung, die Herr Hübsch
hoffentlich wenigstens in dem allgemeinen Theil des Textes nicht ebenso sehr ver¬
nachlässigt haben wird wie in diesem, wir meinen die Anordnung nach der Locali-
tät. Die ältere Archäologie gibt sich jetzt Mühe, die Localität der Kunstwerke zu
bestimmen; Herr Hübsch reißt die an den Boden gefesselten Monumente der Neuzeit
aus demselben heraus, um uns zu zeigen, daß die Kirchen Roms, Ravennas und
Konstantinopels genau genommen ein und dasselbe sind. Ich denke, man wird nicht
unvorsichtig genug sein, sich Sand in die Augen streuen zu lassen. Fast ist uns
diese Verblendung an einem im Uebrigen gebildeten Schriftsteller wie Herr Hübsch
unerklärlich. Nur das ewige Hcrumbewcgcn in einem eng abgegrenzten Kreise kann
zu solcher Kurzsichtigkeit führen. Gewissenhafte Sorgfalt, ein zeitweiliges Vertiefen
in einzelne Gegenstände, aber dabei ein freier weiter Umblick, das sind die Haupt¬
erfordernisse eines Forschers; letzterer geht Herrn Hübsch gänzlich ab.
In Einzelheiten können und wollen wir noch nicht eingehen, wenn es aber
mit der Kritik im Uebrigen so bestellt ist, wie auf den ersten vier Seiten, so haben
wir wenig zu erwarten. Da lesen wir die alte zur Genüge widerlegte Behauptung
„die Katakombenkapellen, in denen sich die geängstigten Christen Nachts zum Gottes¬
dienst versammelten." Auch die nicht geängstigten Christen liebten bekanntlich des
Nachts sich zu versammeln und der Zweck der Verbergung der Gemeinde war nicht
der der Katakomben; man ist nach Konstantin dort mehr zusammengekommen als
vor ihm; das beweisen die Gemälde derselben. Ein Riegel hätte hingereicht, T«M
sende zu vernichten, das warf schon Förster ein. Die Malereien der Kapellen nennt
Herr Hübsch roher und flüchtiger als die pompejanischen und das soll ein Beweis
sein, daß sie vorkonstcmtinisch sind. Zum Beweise der Pracht der vorkonstcmtinischcn
Bauwerke muß wiederum die Kirche zu Nicomedien herhalten. Ist es denn Herrn
Hübsch wirklich unbekannt oder will er es nicht wissen, daß die Prätoriancr dieses
angebliche Prachtwerk nach Lactantius Bericht „binnen wenigen Stunden" („pg.u-
6>s Iwris") mit Beilen und anderen eisernen Instrumenten dem Erdboden gleich
wachten? Wir bewilligen Herrn Hübsch Pulver dazu und er soll dies Kunststück an
der ärmlichsten Basilika Roms in der gegebenen Zeit nachmachen.
Die Kirche Sant. Agostino bei crocifisso zu Spvlcto wird deshalb sür v^rkon-
stantinisch erklärt „weil die drei Thürgestellc und die Einfassungen der drei Fenster
>n der Vorderfacadc so seine Laubornamentc zeigen, wie sie in den späteren christ¬
lichen Perioden kaum mehr vorkommen." Wie wäre es, wenn, wie in hundert
anderen Fällen, alte Vaustücke hier benutzt wären? Alles übersteigt die Naivetät,
als Beispiel von den wenigen mit Sicherheit „der vorkonstantinischcn Jncunablc-
periodc angehörigen Denkmalen" den ältesten Theil des Domes in Trier als Muster
!U geben und nun frisch draus los zu ergänzen.
Wir haben uns nie durch Tagesstimmen und eine glänzende Außenseite bestechen
lassen; das ist der Grund, der uns bewogen hat, die schwachen Seiten dieses Werkes
aufzudecken, dessen Fortgang wir herzlich wünschen. Sein Werth beruht aus dem,
was neu darin publicirt ist; nur muß es sich nicht herausnehmen, grade die ge¬
legensten Forschungen der Vergangenheit auf den Kopf zu stellen und Architekten-
d
Im Verlag von G. Westermann in Braunschweig ist soeben das erste Heft
°wer Monatsschrift ausgegeben worden, welche unter dem Titel „Unsre Tage"
^ seit 1845 erschienenen „Ergänzungsblättcr zu allen Conversationslcxiken" fort¬
an soll. Das Heft enthält einen Ueberblick über die französische Geschichte seit
Wiederherstellung des Kaiserthums, Abhandlungen über die Alpen und ihre Pässe,
^er den Krieg und das öffentliche Leben, über Opiumcultur und Opiumverbrauch
den Völkern des Orients (letzteres doch wol keine der wichtigsten Tagesfragen),Über die Vcrfassungsverhältnisse in Oestreich (unsrer Meinung nach zu hoffnungs-
^"h). endlich kleine Aufsätze über den indischen Rebellen Tantia ToHi, über Weder,
^ jetzt von den Russen eroberte Burg Schcunyls, über den kürzlich verstorbenen
englischen Maler Leslie und über Lcsscps, den Mann des Suczkcmalhumbugs.
Wir wünschen dem Unternehmen guten Erfolg, der nicht ausbleiben wird, wenn
die Redaction ihre Stoffe noch mehr als hier nach den Bedürfnissen „unsrer
Tage" wählt.—
Von E. A. Roßmäßlcrs ncubegründetem naturwissenschaftlichen Volksblatt „Aus
der Heimath" liegen uns jetzt die ersten sieben Hefte vor, und wir können dar¬
nach däs Unternehmen unsern Lesern bestens empfehlen. Roßmäßler verbindet mit
gründlicher Kenntniß der Natur die Gabe anschaulich und anmuthig zu schreiben,
und vpn einigen seiner Mitarbeiter, z. B. von B. Siegcsmund, der über „Winter¬
schläfer, Winterflüchtlinge und Wintcrheldcn" unter den Thieren berichtet, so wie
von I)r. A. E. Brehm, der unter dem Titel „die schwarze Familie" das Leben der
Naben schildert, gilt dasselbe. Die beigegebenen Holzschnitte sind gut geschnitten und
sehr sorgfältig gedruckt. —
Wir knüpfen hieran die Bemerkung, daß die früher von uns angezeigten perio¬
dischen Blätter: „Der Eompasz. Archiv für das gesammte Gebiet der Volks¬
wirthschaft. Herausgegeben von H. Glogau" und „Des Knaben Lust und Lehre".
Herausgegeben von H. Masius uns in ihren weiteren Heften zugegangen sind.
Beide Unternehmungen fahren fort, die Empfehlung zu verdienen, die wir ihnen zu
Theil werden ließen. Ferner ist zu erwähnen, daß neben dem „deutschen Wörter¬
buch" der Gebrüder Grimm, von dem eine neue Lieferung (die zweite des dritten
Bandes: Einöde bis Engführung) die Presse verlassen hat, zwei andere zu erscheinen
begonnen haben. Das eine, von Chr. F. L. Wurm herausgegeben, nennt sich-
„Wörterbuch der deutschen Sprache von der Druckerfindung bis zum
heutigen Tage" und erscheint in der Hcrderschen Verlagshandlung zu Freiburg
i. Br.; das andere, von Or. Daniel Sanders zusammengestellt, kommt unter dem
Titel „Wörterbuch der deutschen Sprache" bei O. Wigand in Leipzig heraus.
Da von dem einen wie von dem andern erst einige Lieferungen erschienen sind,
müssen wir uns für jetzt aus diese Anzeige beschränken. Eine ausführliche Besprechung
>i>
Mit Ur. 40 beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im October 1859.Die Verlagshandluttg.
Das Problem der deutschen Einheit ist bis jetzt an der Existenz der beiden
deutschen Großmächte gescheitert, die in den seltensten Fällen, und eigentlich
nur dann übereinstimmten, wenn es galt, den revolutionären Geist einzudäm¬
men. Das alte Sprichwort: tres taeirwt collegium, hat einen handgreiflichen
Sinn: unter Dreien ist eine Abstimmung möglich, unter Zweien nicht. Aber
auch jene Abstimmung hat nur dann ein wirkliches Resultat, wenn die beiden
Uebereinstimmenden die Mittel haben, den Dritten zu zwingen, oder wenn
die Gleichheit der Lage und der Principien so groß ist, ihn zu einer freiwil¬
ligen Unterwerfung zu veranlassen. So war es eine Zeit lang mit der heiligen
Allianz; Rußland war der dritte Mann der deutschen Trias: der deutsche Bundes¬
tag hatte nicht viel Anderes thun, als den Inspirationen dieses Kollegiums
SU folgen. Der letzte Act der heiligen Allianz war die Einverleibung Krakaus;
bald darauf erfolgte die Revolution, und mit ihr das vorläufige Ausscheiden
Rußlands aus dem Herrschercollegium Deutschlands.
Das vorläufige: denn das Bedürfniß eines Dritten stellte sich immer
lebhafter heraus. Zuerst suchte man ihn im Reichsverweser, dem provisorischen
Lehnsherrn über die beiden Großmächte; dann bot sich die Krone Baiern an;
das Resultat war die Bildung einer östreichischen und einer preußischen Partei,
die beide die collegialische Form der Herrschaft durch eine einheitliche zu ersetzen
^achteten.
Der Bürgerkrieg stand vor der Thür, da trat Rußland wieder ein. Schon
hatte es den „phaetonischen Flug" der preußischen Politik im dänischen Kriege
Aufgehalten; schon hatte es durch Niederwerfung der Ungarn Oestreich wieder
hergestellt; jetzt erklärte es sich im Collisionsfall für Oestreich ; die Folgen waren
Dlimütz, die Restauration in Schleswig-Holstein und Kurhessen, der Bruch
Preußens mit der Revolution, der Bundestag. Preußen hatte aufgehört, der
Führer einer progressiven Partei zu sein.
Aber Rußland ging nicht so weit, als Oestreich wollte. Oestreich hatte
die beste Absicht, jetzt die Rolle Preußens zu spielen, den nationalen Einhcits-
gebauten für sich auszubeuten, und successiv das Kaiserthum wieder herzustellen.
Die Mittelstaaten, noch im Verdruß und Schreck über die preußischen Vcr-
größerungsplüne, gingen eine ziemliche Strecke mit, aber Rußland blieb kalt,
und da dieser Druck aufhörte, sammelte auch Preußen so viel Widerstandskraft,
daß die dresdner Konferenzen als schützbares Material zu den Acten gelegt
und die alten Rechtsverhältnisse wieder hergestellt wurden.
Oestreich fand bald Gelegenheit zur Rache. Man hat seine Haltung im
orientalischen Krieg einfach als Undankbarkeit bezeichnet; das ist übertrieben.
Rußland hatte nicht ganz gethan, was man gewollt, und es schien sich jetzt
die Gelegenheit zu ergeben, die Hegemonie über Deutschland, die man von
Rußland nicht erlangt, im Kampf gegen Nußland mit Hilfe der Westmächte
zu erobern. Es war ein kühner, ein großer Gedanke; aber seine Ausführung
erforderte eine heroische Entschlossenheit, und Oestreich handelte so, als ob ihm
Europa die Kaiserwürde als Geschenk höflich entgegentragen würde. Das ge¬
schah nicht, und das Resultat war, daß nach dem Frieden Oestreich mit
sämmtlichen Großmächten verfeindet war, daß man ihm zuerst in der türkischen
Grenze, dann in der italienischen Verlegenheiten bereitete. Hütte hier nicht
Preußen, trotz seines gerechten Grolls, die Bundestreue bewahrt, so würe
eine europäische Coalition gegen Oestreich und damit vielleicht eine gänzliche
Umgestaltung der Weltkarte möglich gewesen.
Verfolgen wir in dieser Periode die Politik der Mittelstaaten. Hannover
und Sachsen waren im ersten Schreck 1849, da Oestreich noch hilflos schien,
dem allgemeinen Trieb der Fürsten gefolgt, die in Preußen ihre Stütze suchten.
Dann verbanden sie sich mit den beiden südlichen Königreichen zu Bregenz,
und einer nach dem andern der Kleinstaaten schloß sich an. Damals war
Oestreich der mächtige Herr, und die Parole: Wenn mein Kaiser befiehlt,
ziehe ich ins Feld. — Der Dritte schien gefunden; die Coalition von Bregenz;
Herr v. d. Pfordten gab dieser Ansicht in den dresdner Konferenzen Ausdruck, in¬
dem er nach dem Fürsten Schwarzenberg und Herrn v. Manteuffel als Eben¬
bürtiger eine Rede hielt. Wie wir gesehen, war die Auffassung nicht ganz
correct: Rußland war der echte Dritte.
Die Mittelstaaten begriffen es bald, als Nußland ausgeschieden werden
sollte, als es einen Augenblick schien, als ob Preußen mit Oestreich im Ein-
verstündniß sei. Der bamberger Bund war gegen Oestreich und Preußen zu¬
gleich, für Rußland; später schloß sich Preußen in der Hauptsache an.
Die Politik der Mittelstaaten schien nun genau vorgezeichnet, und der
geistvollste Staatsmann derselben hat sich in mehren Noten mit vollkommener
Offenheit darüber ausgesprochen: balanciren zwischen Oestreich und Preuße»;
diejenige Macht bekämpfen, die aggressiv auftritt, diejenige stützen, die das
Alte erhält.
Eine vollständige Neutralität ist dabei freilich nicht zu denken; denn von
Oestreich, dem völlig arrondirten Staat, droht keine unmittelbare Gefahr, wäh¬
rend Preußen, dessen Gebiet auf das wunderlichste mit den alten deutschen
Staaten verschlungen ist, schon durch seine Existenz dem Besitzstand seiner Nach¬
barn gefährlich ist. Die Koalition der Mittclstaatcn Wird sich daher in ge¬
wöhnlichen Zeiten stets an Oestreich anschließen. Die Blätter der Coalition
haben es in neuester Zeit zuweilen so dargestellt, als sei das neue Regiment
in Preußen seiner politischen Färbung. wegen bedenklich, aber das war ein
Vorwand; die Feindseligkeit gegen Preußen war, als Manteuffel und West-
Phalen an der Spitze standen, ebenso groß als jetzt: wenn in Preußen das
Junkerthum herrscht, wird man in Bamberg gegen die Reaction declamiren,
und bei einem liberalen Gouvernement wird man vor demokratischen Umtrieben
warnen. Jede Regierung Preußens wird den bamberger Blättern verdäch¬
tig sein.
In dieser Coalition lag für Deutschland noch eine andere Gefahr. Die
Zeiten des Rheinbunds sind noch unvergessen, und es gaben sich in den letzten
Jahren einige sehr bedenkliche Symptome kund, als wolle man wieder auf
eigne Hand Politik machen. Zur Ehre Deutschlands erwies sich beim Aus-
bruch der italienischen Krisis diese Besorgniß als grundlos, die Volksstimme
freilich aus sehr verschiedenen Elementen zusammengesetzt — rief laut zum
Krieg gegen Frankreich, und die Regierungen der Mittelstaaten schlössen sich
ohne Zögern dieser Bewegung an. Freilich hörte man damals im bamberger
Lager einige sehr bedenkliche Stimmen-. Preußen wurde bedroht, daß im Fall
es sich nicht fügte, alle conservativen Mächte sich Oestreich und Frankreich
anschließen würden; doch wol gegen Preußen.
Die Bundesverfassung wurde im Lauf dieser Krisis anders interpretirt
als gewöhnlich. Bisher hatte man — fnctisch — angenommen, ein durch¬
greifender Beschluß der auswärtigen Politik könne nur gefaßt werden, wenn
die beiden Großmächte einig wären. In Frankfurt wurde nun der Versuch
gemacht, durch Majoritätsbeschluß Preußen in einen Krieg zu poliren, der
außerhalb des Bundesgebiets lag. Die Verhandlungen über diese Ansicht,
die eine wesentliche Umgestaltung des „Staatenbundes" in einen Bundesstaat
Zur Folge haben würde, sind durch den Frieden von Villafranca unterbrochen.
Was nun die Staatsmänner der Mittelstaaten unter Trias verstehn. ist
klar. Die Regierungen der Mittelstaaten haben wenigstens ein gemeinsames
Interesse: zu verhüten, daß weder Oestreich noch Preußen zu mächtig werde,
und namentlich den Vergrößerungsplänen des letztern zu widerstehn. Auf
^rund dieser gemeinsamen Interessen haben sie sich miteinander zu verbinden,
Und da ihre Streitkraft zusammengenommen der jeder einzelnen Großmacht'''
annäherungsweise gleich ist, durch ihr Gewicht in allen Streitfragen, wo
Oestreich gegen Preußen steht, den Ausschlag zu geben.
Ob der Plan den Wünschen und Hoffnungen der deutschen Nation gerecht
wird, ist eine andere Frage; ob er durchführbar ist für eine aggressive Politik,
muß sich erst in der Probe zeigen: aber eine Träumerei ist er nicht, und wo
es sich blos um Erhaltung der bestehenden Zustände handelt, hat er sogar
in den meisten Fällen die sichere Aussicht auf Erfolg. — Jetzt wird aber ein
ganz andrer Triasplan aufgestellt, der noch das Pikante hat, von einem demo¬
kratischen Schriftsteller auszugehn.
Fröbels Broschüre ist schon im vorigen Heft erwähnt; von ihr ist heute
die Rede.
Es macht einen wunderlichen Eindruck, wenn jemand mit dem sanften Ton
einer durch langes und besonnenes Nachdenken gewonnenen ruhigen Ueberzeu¬
gung, mit dem stillen Lächeln eines über alle Widersprüche erhabenen praktischen
Verstandes Excentricitäten vorbringt, denen man kaum mit der Phantasie folgen
kann; wenn er in kühlem Geschäftston Dinge als unumstößlich wahr erzählt,
deren Unwahrheit jedem Kinde bekannt ist. So hat es Fröbel während seines
ganzen schriftstellerischen Auftretens gemacht, und sein milder, humaner Ton
hat manchen betroffen gemacht, den von seinen Parteigenossen schon der Jn-
stinct zurückhielt. Mit dem aufrichtigen Wunsch, die Realität der Dinge zu
sehn, verbindet er die absolute Unfähigkeit, die Augen aufzumachen; und die
anscheinende Nüchternheit seiner Betrachtung wird durch eine Combinations-
gabe paralysirt, die sich nicht selten zur wildesten Träumerei steigert. Mit einer
hohen weltmännischen Verachtung aller Doktrinärs verbindet er einen doktri¬
nären Sinn, der aus einigen wenigen speculativen Abstraktionen ein ganzes
Gewebe politischer Vorstellungen hcrcmsspinnt.
Er gehörte bekanntlich 1348 zu den Führern d.er demokratischen Partei,
von der er heute sagt, „sie sei mit sehr mäßigem Verstand ausgerüstet und
könne kaum Ansprüche darauf machen, über das A B C der Politik hinauf¬
zureichen." Er spricht (S. 24) von den wohlbegründeten historischen Ansprüchen
der deutschen Kleinstaaten; wie er über das Nationalitätsprincip denkt, ist schon
gesagt. Er spricht entschieden gegen die Wiederaufnahme der Reichsverfassung von
1849, gegen die Wiedereinberufung eines deutschen Parlaments. Ebenso ener¬
gisch spricht er gegen die Hoffnungen, die sich auf eine Revolution richten. „Auch
der fanatischeste Revolutionär wird mir zugeben, daß eine Politik, die keine andere
Basis als die einer solchen Hoffnung hat, weniger Aussicht auf Erfolg haben
kann, als ein ökonomisches Unternehmen, welches sich auf einen gehofften
Lotteriegewinn gründet . . . Neubildungen freilich werden auf den Umsturz
des Alten folgen; aber sie werden muthmaßlich etwas ganz Anderes darstellen,
M die Umsturzpolitiker sich gedacht haben ... Die Revolution ist das große
Mittel der Russisicirung Europas, und das Heil der deutschen Nation beruht
in der Vermeidung derselben."
Der leitende politische Grundgedanke, von dem er ausgeht, ist die Gefahr,
die Europa von einer Coalition Rußlands und Frankreichs droht. Gegen
diese Gefahr gibt es nur zwei Schutzwehren: Oestreich und die katholische
Kirche. (Den letztern Gedanken läßt er wieder fallen; vielleicht kommt er spater
darauf zurück.) Oestreich zu schützen ist die Pflicht nicht blos jedes deutschen
Patrioten, sondern eines jeden, der sich für die europäische Civilisation interessirt.
Napoleon der Dritte erscheint ihm als der genialste Mann des Jahrhunderts;
er traut ihm sogar äußerst menschenfreundliche Zwecke zu; aber — „sind wir
Deutschen so tief herabgekommen, daß, sei es auch in bester Absicht, nur über
uns verfügt werden darf? und könnte nicht die Rettung für uns so schlimm
ausfallen als die Gefahr selbst?" Deutschland mußte um jeden Preis den
östreichischen Besitzstand in Italien erhalten; und hier vergißt er plötzlich, was
er von der Lächerlichkeit des Nationalitätsprincips gesagt. „Die deutsche
Nation hatte eine Satisfaction zu fordern. Wo ein deutscher Staat über
außerdeutschcs Gebiet herrscht, da herrscht die deutsche Nation (!! glückseliger
Nudolstädter! glückseliger Sondershäuscr!) über eine andere Nationalität, und
diese Herrschaft ist Nationatangelegenheit. Es war eine Angelegenheit ver¬
letzter Nationalehre, gefährdeter Nationalmacht, bedrohter Nativnal-
eMenz," u. f. w. — Er tadelt „die sonderbare und zugleich unpolitische Ein¬
mischung Preußens in das östreichische Regierungssystem" —: „erinnert dieser
Vekehrungsversuch nicht an den frommen Eifer, welcher einen Kranken in der
Stunde der Noth mit der Zumuthung eines Religionswechsels quält?" —
Wir wissen von diesem Bekehrungsversuch Preußens gegen Oestreich gar nichts,
aber diese Gleichgiltigkeit gegen das östreichische Regierungssystem ist charakte¬
ristisch für den ehemaligen Collegen N. Blums. „Wer die Unentbehrlichkeit
Oestreichs nicht anerkennt, ist entweder nicht zum Politiker geeignet, oder er
ist im russischen Interesse und gehört zu den Feinden Europas." Die Geg¬
ner Oestreichs seien bestochen: „Ich wiederhole hier nicht etwa allgemeine
und unbestimmte Vermuthungen, sondern ich spreche mit dem vollen Bewußt¬
sein dessen, was die Worte bedeuten, ein Urtheil aus, welches aus Thatsachen
beruht." „Einem meiner Freunde, der in Deutschland eine Zeitschrift heraus¬
gibt, bot man eine Summe an, die man ein Vermögen nennen kann,
Kenn er in seinem Blatt das „Nationalitätsprincip" verfechten wolle." —
Warum werden diese interessanten Umstände nicht genauer mitgetheilt?
Bis dahin kann man indeß, auch wenn man die Ansichten des Verfassers
uicht ganz theilt, die Berechtigung derselben nicht in Abrede stellen. Oestreichs
^kistenz ist jedenfalls wünschenswerth — sie für nothwendig zu erklären,
heißt dem lieben Gott ins Handwerk pfuschen — und der wünschenswerthest?
Ausgang der deutschen Krisis — der wünschenswertheste und unwahrschein¬
lichste — eine Einigung zwischen Oestreich und Preußen. — Nun folgt aber
die abenteuerliche Seite der Schrift, die Lösung der deutschen Frage, wie sie
Fröbel sich denkt.
Fröbel ist nicht großdeutsch. „Die Vereinigung Deutschlands unter öst¬
reichischen Scepter — ein Gedanke, zu dem die Absicht gar nicht in Oest¬
reichs Charakter liegt — ist eine Unmöglichkeit. Vorher müßte Preußen ver¬
nichtet, der Geist Norddeutschlands erdrückt, Nußland bis zur Ohnmacht gelähmt
— kurz die übrige politische Welt auf die eine oder die andere Weise zur
Unthätigkeit gezwungen sein."
Als „Realpolitiker" — denn so nennt sich heute jeder Doctrinär — prüft
er zunächst das wirklich Bestehende. Der Unterschied von Nord- und Süd¬
deutschland will nichts sagen: „ungleich bedeutungsvoller ist es, daß wir Oest¬
reicher, Preußen und deutsche Kleinstaatler sind, und daß der, welchen das
letzte trifft, sich dessen nicht zu schämen hat." Also das stolze Bewußtsein,
einem Kleinstaat anzugehören, soll zwischen dem Oldenburger, Mecklenburger,
Badenser und Baier eine engere Verwandtschaft hervorbringen, als der in der
Sprache wie im Leben hervortretende Gegensatz zwischen Süd und Nord! „Die
strategische Aufstellung unsrer geistigen Kräfte ist ein Dreieck, dessen Spitzen nicht
nur aus die Hauptverhältnisse der europäischen Politik deuten (nach welcher Seite
der Politik mag wol die Spitze der Staatengruppe Mecklenburg-Anhalt-Schwarz-
burg-Hessen-Sachsen-Baiern-Baden gerichtet sein?), sondern auch die großen
Charakterzüge im deutschen Volksgeist bezeichnen." „Wir nehmen die Mittel-
und Kleinstaaten als eine Gruppe, die den beiden großen gegenüber ein ge¬
meinsames Interesse hat (die Bewohner dieser Länder? oder die Fürsten?), und
im Gegensatz gegen bureaukratisch zugestutzte Einförmigkeit und centralisirten
Staatsmechanismus das politische Leben nach der Seite des Volkes hin re-
präsentiren." . .
Dies ist wieder ein Punkt, in dem sich die Fröbelsche Beobachtungsgabe
herrlich offenbart. Daß er sich im wirklichen Leben umsieht, und z. B. die
bairischen oder rudolstädter Beamten mit den preußischen vergleicht, das wäre
von einem Träumer zu viel verlangt; er durfte aber nur die „Fliegenden Blät¬
ter" aufschlagen, um sich über die Existenz von mittelstaatlichen „Staatshämor-
rhoidariern" zu unterrichten. Was aber die Kleinstaaten betrifft, so dürfte die
Zahl der Bureaukraten die eines preußischen Kreises um das Dreifache über¬
steigen. Je kleiner der Staat, desto zahlreicher und unfähiger die Bureaukratie;
desto eingeschränkter und dürftiger das wirkliche Leben des Volks, da der Hos"
alle Kräfte an sich zieht. Bierstuben, in denen man kannegießert, mögen in
Kleinstaaten zahlreicher sein; ein wirklich „politisches Leben des Volks" findet
in ihnen nicht statt. Auch wo constitutionelle Einrichtungen stattfinden, bringn
sie es doch um zur Kirchthumspolitik. Danach ermißt sich der Werth der fol¬
genden Bemerkung: „Weit entfernt, daß es wünschenswert!) wäre, den bureau¬
kratischen Centralismus des preußischen Systems über das übrige Deutsch¬
land auszubreiten, wird es vielmehr die Aufgabe der kleinern deutschen Staaten
werden müssen, durch ihren Geist deccntralisirend und örtliche Selbstregierung
befördernd (örtliche Selbstregierung in Flachsenfingen!!), auf Preußen einzu¬
wirken."
Aber die Aufgabe dieser Gruppe geht noch weiter. „Einzeln den beiden
deutschen Großstaaten gegenübergestellt, machen die Mittel- und Kleinstaaten
jede zweckmäßige Organisation des Ganzen unmöglich." „Für sie muß also
eine andere Sicherung des Bestandes und der Unabhängigkeit gefunden werden,
als die in der jetzigen Bundesverfassung enthalten, eine Sicherung, durch die
sie in das richtige Verhältniß nicht nur des R echtes, sondern auch der Macht
Mit den beiden deutschen Großstaaten treten. Dieser Zweck wird erreicht,
wenn die deutschen Mittel- und Kleinstaaten (sammt und sonders) unter sich
zu einem engern Bunde zusammentreten, der sich nach eignem Interesse und
Gutdünken zur dritten deutschen Macht organisirt, und als solche mit
Oestreich und Preußen ebenbürtig zu einer deutschen Dreihcrrschaft zusammen¬
tritt. An diese dritte deutsche Macht dürfte von Seiten der beiden andern
keine die innere Organisation beschränkende Anforderung gestellt werden, außer
daß sie sich, in welcher Form es auch sei (vielleicht wieder ein Kleinkaiserthum?)
eine die Einheit und Kraft der Action nach außen zulassende Bundesgewalt
schaffen, die im Stande sei. den Souveränen von Oestreich und
Preußen würdig an die Seite zu treten. Von abgesonderten Heer-
Wesen und abgesonderten diplomatischem Verkehr der einzelnen Staaten im
^gern Bunde der kleinen dürfte nicht die Rede sein, aber der deutsche Klein¬
staatenbund würde dadurch als Ganzes eine politische Stellung gewinnen,
deren Ehre und Macht auf jedes, auch das kleinste seiner Glieder (Waldeck
"ad Lippe-Detmold) zurücksiele." „Dem diplomatischen Verkehr — und dies
wäre eine Lebensfrage — müßte eine Organisation gegeben werden, die eine
Reiche- und gemeinsame Betheiligung der drei Glieder der deutschen Drei-
berrschaft bedingt und sicherte."
Zunächst füllt auf. daß die Schwierigkeiten, diesen engsten Bundesstaat
gründen, nicht kleiner sein dürften als diejenigen, die der preußischen
^nion im Wege stehn. Vor allen Dingen wäre doch wol freiwillige Ein¬
stimmung der Betheiligten nöthig. Ob nun aber die vier Mittelstaaten sich
^ju versteh» werden, einem unter ihnen oder einer andern durch Volksver¬
tretung controlirten Centralgewalt ihre Armeen und ihre Diplomaten abzutreten?
^'r meinen, das Fröbelsche Project wird niemand so lächerlich vorkommen,
"is den Regierungen der Mittelstaaten selbst, auch wenn sie es, um anderweitigen
Projecten ein Paroli zu bringen, in ihrer Presse protegiren sollten. Den Klein¬
staaten wird vollends schwer deutlich zu machen sein, daß die Ehre und
Macht des dritten deutschen Staats auf ihre Häupter zurückfällt. Preußen
kann eine solche Conföderation nicht dulden, weil seinem an sich schon zer¬
stückelten Gebiet dadurch der Lebensnerv abgeschnitten würde; es könnte eher
ein östreichisch-deutsches Kaiserthum dulden. Oestreich wäre es fast ebenso
nachtheilig als eine preußische Union. Nußland und Frankreich würden eine
oontMeration rtuwa,mz allerdings gern sehen, und darin liegt der Kern der
ganzen Sache: die Bildung eines solchen Bundes wäre der erste entscheidende
Schritt zur Herrschaft des Auslandes.
Und nun denke man sich diesen dritten Staat wirklich gegründet, und —
schlage die Landkarte auf! Mecklenburg! Anhalt! Baiern! Baden! Hannover!
— Die Lächerlichkeit springt in die Augen/
Dieses ganze Nebelbild hätte eine eingehende Besprechung nicht verdient,
wenn es nicht dazu beitrüge, die öffentliche Meinung weiter zu verwirren,
durch abenteuerliche Einfälle den natürlichen Lauf der Entwickelung zu be¬
einträchtigen. Für jetzt sind wir der Meinung, daß weder ein Groß- noch
ein Kleindeutschland zu Stande kommt; es wird vorläufig beim Alten bleiben,
oder das Bedürfniß des Volks muß mehr und mehr ein bestimmtes Ziel suchen.
Man tadelt Preußen seiner abwartenden Haltung wegen: sie ist aber die allein
richtige. Je erwerbslüsterner sich Preußen zeigt, desto größeres Mißtrauen
wird ihm entgegenkommen: befestigt es dagegen seine innern Institutionen,
so daß man es als ein Glück empfindet ein Preuße zu sein; bewahrt esseine
Unabhängigkeit von Oestreich, dessen Einfluß dreißig böse Jahre hindurch
seine Kräfte paralysirt hat; und tritt es bei allen nationalen Angelegen¬
heiten mit Offenheit hervor, so wird die reife Frucht ihm in den Schooß
fallen, nach der es jetzt vergebens die Hände ausstrecken würde. „Moralische
Eroberungen in Deutschland machen." Das drückt den Kern der Sache
aus; moralische Eroberungen macht man nur dadurch, daß man das Gefühl
erregt, es sei eine Ehre und ein Glück, der schwarzweißen Fahne zu folgen.
Da die deutsche Bundeskriegsverfafsung infolge der preußischen Note vom
6-Juli dieses Jahres oft besprochen worden, gleichwol aber, wie wir uns über¬
zeugt haben, selbst von denen, welche über sie reden, wenig gekannt ist, so werden
die Leser dieser Blätter es uns vielleicht Dank wissen, wenn wir sie mit diesem
wichtigen Gesetz in seinen Grundzügen bekannt machen. Es werden sich daran
gewissermaßen unwillkürlich die Fragen knüpfen, inwiefern die Bundeskriegs-
vcrsassnng praktisch ausführbar oder nicht ausführbar sei und ob die Unaus-
führbarkeit in ihr selbst oder vielmehr außer ihr liege, endlich wie dann,
Wenn eine neue zu schaffen wäre, diese etwa eingerichtet sein müßte, damit
ihre Vorschriften für praktisch ausführbar gelten konnten.
Die Grundzüge der deutschen Bundeskriegsverfassung stellt das „organische
Gesetz" vom 9. April 1821 in 24 Artikeln auf; „nähere Bestimmungen" in
zehn Abschnitten, so wie besondere Beschlüsse über die Bundcssestungen regeln
die Einzelheiten. Wir thun bei unserm Vorhaben um besten, den Artikeln des
organischen Gesetzes Schritt für Schritt nachzugehn, jedem derselben eine kurze
Uebersicht der auf ihn bezüglichen nähern Bestimmungen folgen zu lassen und
dann unsere Bemerkungen beizufügen.
„i. Das Bundesheer ist aus den Contingenten aller Bundesstaaten zu¬
sammengesetzt, welche nach der jedesmaligen Bundesmatrikel gestellt werden."
Nach der Bundesmatrikel von 1842, welche, so viel uns bekannt, noch
jetzt, oder besser gesagt, jetzt wieder giltig ist, stellt jeder Bundesstaat ein ein¬
faches Contingent mit einem Procent der Bevölkerung, was nach den damals
angenommenen Bevölkerungszahlen ein Gesammtheer von 233,776 Mann
ÜWt dann eine Reserve mit V- Procent zehn Wochen nach der Mobilmachung
oder einem bezüglichen Bundesbeschluß, endlich einen Ersatz mit V° Procent.
Daß diese Heeresmacht für einen so großen politischen Körper wie der deutsche
Bund ganz unzureichend wäre, wofern derselbe mit den .seiner Größe ent¬
sprechenden Ansprüchen, d. h. als europäische Großmacht austreten wollte,
leuchtet sofort ein. Doch der Bund als solcher übt das Recht der Kriegs¬
erklärung nur zu Vertheidigungszwecken. Das heißt nichts Anderes, als daß
er sich des Anspruches auf die GroßmachtsteUung begeben hat. Und dabei
fließt er zwei europäische Großmächte lose in seinen Verband ein, welche
als solche für allgemeine europäische Interessen, für ihren eignen Vortheil,
Um ihren Einfluß oder Besitz zu mehren, nicht blos um sich zu wehren, Kneg
sühren tonnen, welche demgemäß jede einzeln viel bedeutendere Hcereskräste
'
halten, als der Bund von ihnen fordert, ja bedeutendere als die ganze normirte
Bundesstreitmacht zusammengenommen. Nach den Ursachen der numerischen
Schwäche des Bundesheeres braucht man nicht lange zu suchen. Sie liegen 1)
darin, daß der deutsche Bund ein sehr loser Verein ist, dessen einzelne Glieder
weit auseinandergehende Interessen haben dürfen, keine politische Einheit; kein
Bundesstaat, sondern ein Staatenbund; 2) darin, daß er sich, was hiermit
nahe zusammenhangt, gegenüber dem Ausland eine seiner Größe und materiellen
Kraft durchaus unwürdige Stellung vorgeschrieben hat oder hat vorschreiben
lassen. Wie wenig würdig diese Stellung ist, darüber ist erst neuerdings
wol jeder Deutsche belehrt worden, dem die bekannten Noten Gortschakoffs
Walewstis und Russells über das, was dem Bunde zu thun erlaubt sei, noch
die Rothe der Scham und des Zornes ins Gesicht zu treiben vermochten. An
der Schwäche des deutschen Bundesheeres trägt nicht die Kriegsverfassung, son¬
dern die politische Verfassung des Bundes die Schuld — dieser Satz wird
uns immer wieder begegnen. Als 1848 daran gedacht ward, Deutschland eine
politische Verfassung zu geben, vermöge deren es eine seiner materiellen und
geistigen Kraft würdige Stellung unter den Ländern Europas einnehmen könnte,
war eine der ersten Forderungen, welche man aufstellte, die nach einer Verstärkung
des Bundesheeres. Die Stärke des einfachen Contingents ward auf I V-,
die der Reserve auf V, Procent der Bevölkerung erhöht und das Bundesheer
kam dadurch bei der Art, wie man damals zählte, aus 840,000 Mann. Die
eintretende Reaction erstickte das Kind im Mutterleibe. Sobald der deutsche
Bund zu einer wirklichen politischen Einheit würde, müßte auch für sein Heer
der Grundsatz aufgestellt werden, daß es aus allen Streitkräften der Einzel¬
staaten zu bestehn habe. Naturgemäß dürfte dann auch kein einzelner Staat
im Bunde das Recht der Kriegserklärung haben, sondern nur der Bund.
„2. Das Verhältniß der Waffengattungen wird nach den Grundsätzen
der neuern Kriegführung festgesetzt."
Nach dem zweiten Abschnitt der nähern Bestimmungen soll V? des Con¬
tingents aus Reiterei bestehen; auf je 1000 Mann sollen zwei Geschütze ins
Feld gestellt, eins im Depot gehalten werden; auf jedes Geschütz werden
36 Mann gerechnet. Ein Bclagerungspark von 200 Stücken wird außerdem
aufgebracht. Die Feldpivnniere sollen '/-,<», des Heeres ausmachen; Sappeure
und Mineure für den Festungskrieg geben Oestreich und Preußen. Jeder dieser
Staaten stellt außerdem einen Brückentrain für große Ströme, jedes der nicht
Preußen oder Oestreich angehörigen Armeecorps einen Brückentrain für 400
Fuß Flußbreite. Mindestens der zwanzigste Theil der Infanterie soll aus
Scharfschützen bestehen. Diese Bestimmungen konnten selbstverständlich nicht
ausnahmslos durchgeführt werden. Wenn z. B. ein Staat ein Kontingent
von 200 Mann stellt, wäre es unvernünftig, dabei nun 30 Reiter und ein
'-''>'.''.'?<liuiv^'-1'et«,Ui'l,'1(tZMlMI!»it.'IVI
halbes Geschütz von ihm verlangen zu wollen. Außerdem kann man mehre
dieser Bestimmungen heutzutage als veraltet betrachten. Aber die Aenderung
ist ohne alle Schwierigkeit und die Bundeskriegsverfassung stipulirt sogar selbst
von Zeit zu Zeit Aenderungen des Waffenverhältnisscs. indem sie dasselbe
nach den Grundsätzen der neuern Kriegsführung geregelt wissen will.
„3. Zur Bcresthaltnng für den Fall des Krieges wird das Bundesheer
schon im Frieden gebildet und dessen Stärke, so wie die innere Einteilung
durch besondere Bundesbeschlüsse bestimmt."
Nach den „nähern Bestimmungen" soll das einfache Contingent so marsch-
und schlagfertig erhalten werden, daß es vier Wochen nach erfolgter Auffor¬
derung zur Verfügung des Oberfeldherrn stehen kaun. Im Einzelnen wird fest¬
gesetzt, daß der volle Stand an Offizieren für das Contingent auch im Frieden
stets präsent (im Dienst) gehalten werden soll; dasselbe gilt für-/- des Kriegs¬
fußes der Unteroffiziere und Spielleute und für V° der bereits eingeübten Sol¬
daten der Infanterie, also ohne Rücksicht auf die für die Ausbildung erst ein¬
gestellten und in dieser begriffenen Rekruten. Bei der Cavalerie find Offiziere,
Unteroffiziere und Trompeter auf vollem Stande, von der Mannschaft V» im
Frieden präsent zu halten. Aehnliche Bestimmungen gelten für Artillerie und
Genie in Hinsicht auf die Mannschaft, dann für die Pferde und das Kriegs¬
material. Die ununterbrochene erste Präsenz der Rekruten behufs ihrer Aus¬
bildung ist auf ein halbes Jahr festgestellt, worauf zeitweise Beurlaubung
eintreten kann. Die ganze Prüscnzzeit für den Soldaten, also einschließlich
der Einberufung zu Wiederholungsübungen soll nicht weniger als ein und ein
halbes bis zwei Jahr betragen. In voller Stärke mit Einberufung aller
Beurlaubten sollen die Contingente mindestens vier Wochen jährlich geübt
werden. Zu größern Manövern sollen die Contingente der kleinern Staaten
Ehrlich mindestens divisionsweise zusammengezogen werden. Von Zeit zu Zeit
sollen auch Uebungen dieser Contingente in ganzen Armeecorps stattfinden,
um'e dies beim achten und zehnten Bundescorps wirklich schon zu mehren
Malen der Fall gewesen ist. Ueber diese Vorschriften können wir uns der
Anmerkungen enthalten, da im Wesentlichen nur Dinge zu sagen wären, die
^ir bereits im zweiten und dritten Artikel der „militärischen Tagesfragen"
berührt haben.
..4. Das Bundesheer besteht aus vollständig gebildeten, theils ungemisch¬
ten, theils zusammengesetzten Armeecorps, welche ihre Unterabtheilungen von
Divisionen, Brigaden u. s. w. haben."
In Anwendung dieser Artikel ist das Bundesheer zunächst in zehn Armee-
korps und eine Reserveinfanteriedivision eingetheilt. Das erste, zweite und
dritte Armeecorps stellt Oestreich mit 94,822, das vierte, fünfte und sechste
stellt Preußen mit 79,484, das siebente Baiern mit 35,600 Combattanten.
Dies sind die sogenannten ungemischten Corps, die übrigen drei sind gemischte
oder zusammengesetzte. Das achte Corps wird von Würtemberg, Baden und
Hessen-Darmstadt gestellt und zählt 30,150 M.; das neunte, 21,718 M., wird
von Sachsen, Hessen-Kassel, Nassau und Luxemburg-Limburg gegeben; das
zehnte, 28,067 M., von Hannover, Braunschweig, Holstein-Lauenburg, den
beiden Mecklenburg, Oldenburg, Lübeck, Bremen und Hamburg. Die Con-
tingente aller bisher nicht erwähnten kleinen Staaten bilden die zur Besatzung
der Bundesfcstungcn bestimmte, in dreizehn Bataillone formirte und 11,106
Combattanten zählende Reservcinsanteriedivision. Für die Untereintheilung
der Armeecorps gilt, daß ein jedes derselben mindestens zwei Divisionen, eine
Division mindestens zwei Brigaden, eine Brigade zwei Regimenter gleicher
Waffe, ein Cavalericregiment vier Escadrons, ein Infanterieregiment zwei
Bataillone, ein Bataillon „in der Regel" nicht unter 800 M.. eine Escadron
durchschnittlich 150 M. und eine Batterie sechs oder acht Geschütze haben soll.
Bei jedem Armeecorps soll auf die Bildung einer starken Cavalerie und Ar-
tillericreserve Bedacht genommen werden. Obgleich die Bundeskriegsverfassung
nur sagt, daß jedes Armeecorps mindestens zwei Divisionen, jede Division
mindestens zwei Brigaden haben solle, ist doch in der Anwendung diese
unzweckmäßige Zweitheilung die Regel, von welcher nur wenige Ausnahmen
bestehen. Eine Aenderung dergestalt, daß jedes Armeecorps in vier bis fünf
nächste Unterabtheilungen zerfiele, welche man dann entweder Brigaden oder
Divisionen nennen möchte und welche nicht wieder in Brigaden einzutheilen
wären, würde sehr wünschenswert!) sein. '
„5. Kein Bundesstant. dessen Contingent ein oder mehre Armeecorps für
sich allein bildet, darf Kontingente andrer Bundesstaaten mit den seinigen in
eine Abtheilung vereinigen."
Dieser Regel ist denn auch, wie schon aus dem Vorigen sich ergibt, ge¬
treulich nachgelebt worden. Eine der auffälligsten Erscheinungen an dem
Bundesheer ist dessen Buntschcckigkeit in Bezug auf Ausrüstung, Bewaffnung,
Uniformirung. Reglements, Commandoworte u. s. w. Allerdings wird gesagt,
das schade ja nicht so viel, man solle nur an die bunte Napoleonische Armee
von 1812 denken u. s. w. Indessen hat doch noch kein Mensch behauptet,
daß diese Buntscheckigkeit ein großer Vortheil sei; im Gegentheil weist selbst
die Bundeskriegsverfassung darauf hin, daß wenigstens in den einzelnen Armee¬
corps möglichste Gleichförmigkeit erzielt werden solle. Und mochte die Napo¬
leonische Armee, bestehend aus einem Kern des herrschenden Volks und an
dessen Triumphwagen mitgeschleppten oder auch vor ihn gespannten Sklaven,
so buntscheckig sein, wie sie wollte — paßt dies für eine Vereinigung brüder-
lich zusammengehöriger Völkerschaften? Wir sagen aber ferner: diese Bunt-
checkigkeit ist das äußere Anzeichen, ist die Ausprägung vieler einzelner inner-
lich vollständig unberechtigter Souveränetätsgclüste, die der Imperator Na¬
poleon allerdings niederzuhalten wußte, und mir so weit duldete, als sie sich
in den Grenzen unschädlicher Spielerei bewegten, denen aber die politische Ver¬
fassung des deutschen Bundes einen großen Spielraum gewährt, sich auf stö¬
rende Weise geltend zu machen. Artikel 5. des organischen Gesetzes ist der
Vertreter dieser politischen Souvcränetätsgelüste in der Kriegsverfassung des
deutschen Bundes; er ist zugleich ein Zeuge der Eifersucht der großen und
mittleren Bundesglieder untereinander, der Besorgnis!, daß eins von ihnen
auf Kosten des andern sich stärken könne. Ein mildes Mittel, zu der von uns
für äußerst vortheilhaft gehaltenen Gleichförmigkeit im Bundesheerwesen zu
gelangen, wäre es grade, wenn die Contingente der kleinen Staaten, die
nicht einmal Armeedivisionen, geschweige denn Armeecorps bilden können, in
die Armeecorps der großen Staaten hineingesteckt würden. Wenn Preußens
Militärconventionen von 1849 dies anstrebten, so widersprachen sie allerdings
dem Artikel 5. des organischen Gesetzes und wurden auch vom Standpunkt
desselben aus und auf Grund desselben von der immer wachen Rivalität der
übrigen Staaten angegriffen. Aehnliche Bestrebungen, nicht blos auf mili¬
tärischem, auch auf dem im allgemeiner« Verstand politischen Gebiet, werden
immer auftauchen müssen, so lange nicht ein Gedanke die deutsche Nation
ergreift und sie auf einen Schlag über kleinliche Hindernisse hinwegbringt, die
sie sich selbst geschaffen hat. Hören wir Herrn von Schleinitz in der Eir-
cularnote vom 6. Juli dieses Jahres. Er findet darin: „namentlich in
den frühern Besprechungen mit dem östreichischen Cabinet habe sich die
Ueberzeugung nur fester stellen können, daß eine militärische Action Deutsch¬
lands sich immer am besten unter die militärisch am festesten organi-
sirten Mächte des Bundes vertheilen und an dieselben anlehnen würde,
so daß die südlichen Staaten ihre Streitkräfte unter Oestreichs, die nördlichen
unter Preußens Führung stellten und auf beiden Kriegstheatern im Einzelnen
selbstständig, aber unter gemeinsamer Verständigung operirten." Wir können
gegen diese Ueberzeugung um so weniger etwas einwenden, als sie auch die
unsere ist, — nämlich so lange es nur einen deutschen Bund gibt und die
deutsche Nation noch kein Wort gesprochen und kein Wort mitzusprechen hat —
um so weniger, als wir unter Voraussetzung dieser allerdings nicht erfreulichen
Umstände diese Ansicht schon vor sechs Jahren") des Weitern entwickelt haben.
Der schweizerische Bund besteht bekanntlich aus einer Anzahl souyerä-
" er Staaten (Cantone genannt), welche nicht weit hinter der Anzahl Verdeut¬
schen Bundesstaaten zurückbleibt, aber er hat ein einheitliches Bundes¬
heer. In dieser Beziehung, wie in einigen andern, ebenso nothwendigen,
sind die souveränen Cantone „mediatisirt". „Ja," sagt man, „solche rcpubli-
karische und demokratische Cantonsrcgierungen kann man-schon Mediatoren,
aber souveräne Fürsten?" Wir antworten: konnte etwa Sachsen an Rußland,
Liechtenstein, oder was in diesem Zusammenhang dasselbe ist, Baiern an Frank¬
reich den Krieg erklären?
„6, Bei den zusammengesetzten Armeecorps und Divisionen werden sich
die Bundesstaaten, welche es betrifft, über die Bildung der erforderlichen Ab¬
theilungen und deren vollständige Organisation untereinander vereinigen.
Wenn dies nicht geschieht, wird die Bundesversammlung entscheiden."
Der Forderung dieses Artikels ist durch die sogenannten Corpsacten,
Übereinkünfte zwischen den Staaten, welche ihre Contingente zu einem und
demselben zusammengesetzten Armeecorps stellen, allerdings entsprochen worden;
aber unzweifelhaft wäre es im Interesse gleichförmiger Organisation besser
gewesen, wenn der Bund diese selbst festgestellt hätte, nur unter dem Vorbehalt
von Reclamationen der betreffenden Staaten, deren Berechtigung er dann zu
begutachten gehabt hätte.
„7. Bei der Organisation der Kriegsmacht des Bundes ist auf die aus
besonderen Verhältnissen der einzelnen Staaten hervorgehenden Interessen der¬
selben in so weit Rücksicht zu nehmen, als es mit den allgemeinen Zwecken
vereinbar anerkannt wird."
Dieser Artikel erscheint allerdings höchst unschuldig und billig; z. B. wenn
man ihn dahin versteht, daß ein Staat, der eine wohlorganisirte Landwehr
hat. diese zum Contingent stellen darf, daß von kleinen Contingenten die
Stellung vou Cavaleric und Artillerie nicht verlangt wird, daß die Contin¬
gente von solchen Staaten zu größeren Truppcnkörpern zusammengelegt werden,
welche einander benachbart sind (was beim neunten Armeecorps bekanntlich
nicht der Fall ist), und was dergleichen Dinge mehr sind. Aber man ficht
leicht ein, daß sich am Ende jedes beliebige Gelüst irgend eines Potentaten
betreffs Uniformirung und Zustutzung seiner Duodezarmee bis auf den Ludwigs¬
schnitt oder Wilhclmsschnitt der Backen-und Schnauzbärte hinab auf Rechnung
dieses Artikels nehmen läßt, daß es endlich nach ihm ganz in der Ordnung
befunden werden kann, wenn Dänemark holsteinische Bataillone unter dänische
Offiziere und dänisches Commando stellt und nach Kopenhagen in Garnison
legt oder wenn Oestreich Kroaten und Italiener als Besatzungen in die
Bundcssestungen schickt.
„8. Nach der grundgesetzlichen Gleichheit der Rechte und Pflichten soll
selbst der Schein von Suprematie eines Bundesstaates über den andern ver¬
mieden werden."
Artikel 8. und Artikel 5. fordern ziemlich die gleichen Betrachtungen her¬
aus. Artikel 8. gehört nicht in die Kriegsverfassung, sondern in die politische
Verfassung des Bundes. Er würde, wenn man die Stelle nicht wüßte, eins
welche der Ton zu legen ist, als ungeheurer Unsinn erscheinen. Denn es ist
natürlich gar nicht möglich, daß Waldeck oder Liechtenstein dieselben Pflichten
haben können, wie Oestreich oder Preußen. Der Kern der Sache ist der,
daß die Fürsten von Waldeck oder Liechtenstein dieselben Rechte im Bunde
haben sollen, wie die Regenten von Oestreich oder Preußen.
„9. In jedem Bundesstaat muß das Contingent immer in einem solchen
Stande erhalten werden, daß es in kürzester Zeit nach der von dem Bunde
erfolgten Aufforderung marsch- und schlagfertig und in allen seinen Theilen
vollständig gerüstet ausrücken kann."
Vgl. hierzu die Bemerkungen zu Artikel 3.
„10. Die Stärke und Zusammenziehung des aufzustellenden Kriegsheeres
werden (in jedem einzelnen Fall) durch besondere Bundesbeschlüsse bestimmt."
Durch einen Bundesbeschluß wird also in jedem Aufgebotsfall fest¬
gesetzt, ob das ganze einfache Contingent oder ob nur einzelne verhältnißmäßige
Theile desselben aufzustellen sind und an welchen Punkten die Armeecorps oder
die entsprechenden größeren Abtheilungen sich zu concentriren haben.
Der fünfte Abschnitt der näheren Bestimmungen: „Mobilmachung des
Bundcsheeres" enthält einige allgemeine.Vorschriften über die anzuführende
Munition, das ärztliche Personal, das Material sür den Gesundheitsdienst,
die Bäckereien, die Transportmittel und die Rangverhältnisse der Offiziere
verschiedener Contingente, die in demselben Corps vereinigt sind. Vorschriften,
die wir hier nur summarisch anführen, weil sie einerseits manches zu wünschen
übriglassen, weil aber andererseits, so lange die volle Souveränetät der deut¬
schen Landesfürsten besteht, etwas Genaueres darüber kaum zu bestimmen
wäre und weil wir drittens überzeugt sind, daß bei einer andern politischen
^onstruction des Bundes die Feststellung verbesserter Vorschriften in diesen Be¬
ziehungen keine Schwierigkeit haben würde. Nur einer Vorschrift wollen wir
bei dieser Gelegenheit, da sie sich in dem Abschnitt V. der nähern Bestim¬
mungen befindet, ausdrücklich erwähnen. Sie ist im §. 36. enthalten und
heißt wörtlich: „Wenn das Vundesheer ausrückt, wird von dem Oberfeldherrn
sür alle Contingente ein gemeinschaftliches Erkennungszeichen vorgeschrieben.
>Zeder Winkelstaat in Europa hat seine festen Farben, an denen seine Bürger
l^es erkennen, das große Deutschland, — der deutsche Bund mit seinen vierzig
Millionen — hat nichts der Art. Ist das nicht bezeichnend? Ist §. 36 der
Zasern Bestimmungen der Bundeskriegsverfassung nicht ein Paragraph, der
^les aufwiegt, was wir bisher im Einzelnen schon gesagt haben oder noch
s"gen müssen?
Wird vielleicht der Oberfeldherr der Soldaten des deutschen Bundes grüne
^weiglcin auf ihre sehr verschiedenartigen Kopfbedeckungen beordern? Oder
^äste ^- schwarzgelbe oder schwarzweiße Cocarden und Bänder? Schwerlich!
Schwarzrothgold? Es würde ihn vor ein Kriegsgericht bringen, den De¬
magogen. Oder beliebt er Barbu in allen Farben des Regenbogens, damit
kein souveräner Einzelstaat sich verletzt fühlen könne? oder graue Barbu.
was ungefähr auf dasselbe hinauskäme?
„11. Die Anstalten müssen so getroffen sein, daß das Bundesheer voll¬
zählig erhalten und im Fall der Nothwendigkeit verstärkt werden könne. Zu
diesem Ende soll eine besondere Reserve bestehen."
Zur Deckung des eigentlichen Abgangs dient der Ersatz, welcher, wie wir
bei Artikel 1. gesehn, in der Stärke von V« Procent sogleich nach dem Aus¬
rücken des Heeres (einfachen Contingents) aufgestellt wird und in dieser Stärke
beständig vollzählig erhalten werden soll. Sechs Wochen nach dem Ausrücken
des Heeres wird ihm die Hälfte des Ersatzes (also ^/^ Procent der Bevölke¬
rung) zur Ergänzung nachgesendet und dafür ein neues Vi, Procent im Lande
aufgestellt. Dann folgt immer von zwei zu zwei Monaten eine neue Hälfte
des Ersatzes dem Heere nach. Doch soll der in einem Jahre ausgestellte (oder
nachgesendete) Ersatz nicht V2 Procent der Bevölkerung übersteigen, damit wenn
einzelne Contingente außergewöhnliche Verluste erlitten haben, deren Staaten
nicht außer Verhältniß angestrengt werden. Als Abgang beim Heere (welcher
ersetzt werden muß), werden betrachtet alle Todte, Gefangene, Deserteure sofort,
alle Vermißten nach einem Zeitraum von vier Wochen, alle im Spital befind¬
lichen Kranken und Verwundeten, welche nach drei Monaten für nicht tauglich
zum Felddienst erklärt werden. Die übrigen Verwundeten und Kranken — (de¬
ren möglicherweise eine sehr große Zahl sein kann) sollen nicht zum Abgang
gerechnet werden; wenn sie aber den zehnten Theil eines Contingents über¬
steigen, sollen sie dennoch von ihrem Staate bis zu dem oben bezeichneten
Maximum hinauf ersetzt werden, um eine zu große Schwächung des Heeres
zu vermeiden. Die Reserve, für welche wenigstens die Cadres auch im Frieden
vollständig unterhalten werden sollen, dient zu außerordentlichen Verstärkungen
des Bundeshcercs und rückt auf einen Bundesbeschluß hin aus. Die Ein¬
richtungen müssen so getroffen sein, daß dies Ausrücken zehn Wochen nach
dem betreffenden Bundesbeschluß stattfinden kann. Wir müssen noch bemerken,
daß in den Erläuterungen und Ergänzungen zu der Bundeskriegsvcrfassung
vom 24. Januar 1841 von der Bundesversammlung die Erwartung ausge¬
sprochen ist, diejenigen Staaten, welche die Besatzungen der Bundesfcstungcn
stellen, würden dieselben nicht in ihre Contingente einrechnen, sondern beson¬
ders liefern, damit die im freien Felde operirende Armee nicht zu sehr g^
schwächt werde.
Wir fassen nun diejenigen Artikel des organischen Gesetzes zusammen,
welche von dem Oberfeldherrn handeln, nämlich:
„12. Das aufgestellte Kriegsheer des Bundes ist ein Heer und wird
> ^ ^ . ^ ^ c ».l .^-^^ ,
von einem Feldherrn befehligt." „13. Der Oberfeldherr wird iedesmal, wenn
die Aufstellung des Kriegsheeres beschlossen wird, von dem Bunde erwählt.
Seine Stelle hört mit der Auflosung des Heeres wieder auf." — „14. Der
Oberfeldherr wird von der Bundesversammlung, welche seine einzige Behörde
ist. in Eid und Pflichten des Bundes genommen." — „15. Die Bestimmung
und Ausführung des Operationsplanes wird ganz dem Ermessen des Ober-
feldherrn überlassen. Derselbe ist dem Bunde persönlich verantwortlich und
kann einem Kriegsgericht unterworfen werden." — „16. Der Oberfeldherr ist
stehalten, alle Theile des Bundesheercs. so weit es von ihm abhängt, durch¬
aus gleichmäßig zu behandeln. Er darf die festgesetzte Heercseintheilung nicht
abändern; doch steht ihm frei, zeitliche Detachirungen zu verfügen."
Wie man sieht ist die Stellung des Oberfeldherrn schon in dem organi¬
schen Gesetze mit besonderer Weitläufigkeit festgesetzt. Die fünf Artikel desselben
werden nun noch im sechsten Abschnitt der nähern Bestimmungen, welcher die
§K. 45—66 der Bundeskriegsvcrfassuug enthält, weiter erläutert, ohne daß
indessen wesentlich etwas hinzugefügt wäre, es müßte denn sein, daß außer
dem Bundesoberfeldherrn auch jedesmal noch ein „Generallieutenant des
Bundes" gewählt werden soll, ein Stellvertreter also des Oberfeldherrn und
zwar aus der Zahl der Corpscomniandanten. Die Frage der Oberfeldherrn¬
schaft hat. wie uns ja allen noch in frischem Gedanken, in neuester Zeit eine
große Rolle gespielt. Als im Juli dieses Jahres das Bundesheer aufgestellt
werden sollte, beantragte Preußen beim Bund, daß kein Bundesoberfcldherr
gewählt werden, sondern Preuße», der Regierung von Preußen als solcher,
die Leitung und Verwendung der Bundestruppen überlassen werden solle, und
Oestreich stellte den Gegenantrag, daß allerdings ein Bundesoberfeldherr zu
wählen sei, sür welche Stelle es den Prinzregcnten von Preußen vorschlug.
Oestreich war im formellen Recht, es stützte sich auf §. 45 der Bundeskriegs¬
verfassung (nähere Bestimmungen): „Der Oberfeldherr wird jedesmal, wenn
die Aufstellung des Kriegsheeres beschlossen wird, von dem Bunde in der
engern Versammlung gewählt" Dagegen sagte Preußen: „Preußen hat als
wie europäische Großmacht eine vermittelnde Stellung angenommen; von
diesem Standpunkt aus hält es nunmehr eine Truppenaufstellung sür nöthig;
^ muß aber darauf bestehen, daß ihm die Contingente der übrigen deutschen
Staaten als deutsche Auxiliartruppen gestellt werden. Andernfalls kann Preußen
durch jeden Bundcsbeschluß aus seiner vermittelnden Stellung herausgedrängt
werden. Um so mehr würde das der Fall sein, wenn sein Regent zum ver¬
antwortlichen Buudesoberfeldherru erwühlt werden sollte." Uebrigens. ward
'was hinzugefügt, könne man die Wahl eines Buudesoberfeldherru immer um¬
gehen, ohne damit aus den Schranken der Bundesverfassung herauszutreten.
Denn K, 46 der Kriegsverfassung bestimme: „In Fällen, wo man nur einen
Theil des Bundesheercs zusammenzuziehen für nöthig erachtet, bleibt es der
Beschlußnahme der Bundesversammlung vorbehalten, wegen des Oberbefehls
besondere Verfügungen zu treffen." Dieser Paragraph traf zu. Preußen hatte
in seinen Anträgen immer das östreichische Contingent aus dem Spiel gelassen
und mit Recht konnte es davon reden, daß ja nur ein Theil des Bundesheeres
aufgestellt sei oder aufgestellt werden solle. Aber wie wenn die Ereignisse sich
weiter entwickelt hätten, wenn Oestreich seinen Antrag, das ganze Bundesheer
auszustellen, durchgesetzt, wenn es sein eignes Contingent gestellt hätte?
Man sieht, daß. wie die Sachen jetzt stehen. Conflicte nie ausbleiben
werden, während man zugeben muß. daß die Bestimmungen der Bundcs-
kriegsverfassung in Bezug auf die Stellung des Oberfeldherrn in einem wohl-
geordneten Staatswesen vollkommen in der Ordnung, ja die einzig möglichen
wären.''nuntlki'ijUi-ni'M?'i'l')6n<it»o'tun',z<?«>«liess
lÄti»z
Der §. 47 der nähern Bestimmungen präcifirt das Verhältniß so:
„Der Oberseldherr verhält sich zum Bunde, wie jeder commandirende
General zu seinem Souverän; die Bundesversammlung ist daher seine einzige
Behörde, welche mit ihm durch einen aus ihr gewühlten Ausschuß in Ver-
,H't6 UioU'iVttUUi'^IN?^,,, lU? ^lOtt lutin^'ij MIM IlN!»(kan1l'ittVN?<Zi,!l''> UII^
bmdung steht."
Es würde schwer sein, irgend eine andere Formel für das Verhältniß
des Bundesoberfeldherrn zu finden. Der Mangel, die praktische Unausführ-
barkeit, liegt auch hier nicht in der Kriegsverfassung, sondern ganz einfach in
der politischen Verfassung des Bundes, nämlich 1) darin, daß die Bundes¬
versammlung kein wirklicher Souverän ist, der frei über dem Ganzen waltet,
sondern ein stehender Kongreß von Gesandten verschiedener Souveräne, der
nach höchst verschiedenartigen Interessen und Jnstructionen beschließt und durch
seine Abhängigkeit nach allen möglichen Richtungen hingezogen wird; 2) darin,
daß der Bund eine Anzahl von Mächten einschließt, welche auch außerhalb
des Bundes sich ausbreiten und ebenso wol durch ihre Interessen dem Bunde
im einen Fall zugetrieben, als im andern von ihm entfernt werden können;
daß in ihm selbst zwei europäische Großmächte stehen. Was den ersten Punkt
betrifft, so zeigt schon der §. 47 die herrschende Unklarheit, indem der Bund
als der Souverän, die Bundesversammlung die einzige Behörde des Ober¬
feldherrn genannt ist. Dies ist ganz richtig: die Bundesversammlung ist wirk¬
lich nicht in der Weise der Repräsentant des Bundes, daß man diese beiden
Wörter beliebig miteinander vertauschen könnte. In Bezug auf den zweiten^
Punkt hat der neueste Zwiespalt die Sachen zu vollständiger Klarheit gebracht.
Ein Bundesglied führte auf eigne Faust Krieg und durfte ihn führen, ohne
den Bund zu fragen; ein anderes wollte vermittelnd auftreten zu gleicher Zeit
und durfte dies wieder, ohne den Bund zu fragen. Aber man sage es doch
nun grade heraus — nicht mehr sage man: die Bundcskriegsverfassung ist
'üls l^/l sui!<i> ki/ I'llslMII'^iliuls, l'^Hi)^; Il6 >!I 'Illl?-^
unausführbar, sondern: die Bundesverfassung überhaupt ist unausführbar, ist
eine große politische Unwahrheit. Sie muß zerbrochen, muß wenigstens ab¬
geändert werden. Die Initiative hierzu gehört unsers Trachtens Preußen.
Es ist am Ende, wenn es sich mit Kühnheit waffnet, groß genug, seinen
Austritt aus dem Bunde zu erklaren, zumal wenn es klug genug verfährt,
sich neuer Bundesgenossen aus dem alten Bund und außerhalb des alten
Bundes ohne Unterschied zu versichern.
In dem Folgenden können wir uns kurz fassen und auf wenige Bemer¬
kungen beschränken.
„17. Die Befehlshaber der einzelnen Truppenabtheilungen werden von
dem Staate, dessen Truppen sie befehligen sollen, ernannt. Für die Abthei¬
lungen, welche aus mehren Kontingenten zusammengesetzt sind, bleibt die Er¬
nennung dieser Befehlshaber der Vereinbarung der betheiligten Regierungen
überlassen "
„18. Die Pflichten und Rechte dieser Befehlshaber, welche aus ihren
Verhältnissen zu dem Bunde hervorgehen, sind denen des Oberfeldhcrn analog.
Sie haben unbedingten Gehorsam von allen ihren Untergebenen zu fordern,
so wie ihren Vorgesetzten zu leisten.
In dem VII. Abschnitt der nähern Bestimmungen sind die Pflichten und
Befugnisse der Corpscommandanten noch weiter erörtert, ebenso wie im VI. Ab¬
schnitt diejenigen des Oberfeldherrn.
„19. Die Gerichtsbarkeit steht den Befehlshabern der Heeresabtheilungen
Zu, nach den von den Bundesstaaten denselben vorgeschriebenen Grenzen."
Die Erläuterung dieses Artikels enthält der X. Abschnitt der nähern
Bestimmungen. Er beschäftigt sich wesentlich mit den Strafbefugnissen des
Oberfeldherrn. da diejenigen der Corpsbefehlshaber u. f. w. theils durch die
Bestimmungen der Corpsacten, theils durch die Strafgesctzgebungen der Staaten
geregelt sind, welchen die betreffenden Contingente angehören. §. 93 im
X. Abschnitt lautet: „Gegen das Verbrechen des Meineides, des Verraths,
Feldflüchtigkeit und der Insubordination werden im Bundesheere durch
besondere Kriegsartikel Strafbestimmungen getroffen, welche dem gestimm¬
ten Kriegsheer als gleichförmiges Gesetz gelten sollen." Dann §. 94. „Die
w den (Bundes-) Kriegsartikeln nicht genannten Verbrechen und Vergehen
werden nach den bei den Kontingenten der einzelnen Staaten giltigen Gesetzen
beurtheilt."
§. 94 würde im weitesten Maße zur Anwendung kommen müssen, da
unsers Wissens jene verheißenen Bundeskriegsartikcl noch nicht existiren.
Das Martialgesetz verkünden (den Belagerungsstand erklären) kann der
Dberfeldherr im Feindesland ohne weiteres; auf Bundesgebiet aber nur im
Einvernehmen mit den betreffenden Regierungen. Wir halten diese leptere
Bestimmung für eine der unzweckmäßigsten der gesammten Bundeskriegsver-
fassung. Die Gründe sind leicht einzusehn.
„20. Die Verpflegung des Bundcsheercs wird unter oberster Leitung
des Oberfeldherrn durch Bevollmächtigte sämmtlicher Armeecorps besorgt und
innerhalb der Bundesstaaten unter Mitwirkung derjenigen Landescommissaricn,
welche es betrifft." „21. Auf besondern Bundesbeschluß wird aus den matri-
kularmüßigen Beiträgen sämmtlicher Bundesglieder eine eigne Kriegskasse er¬
richtet." „22. Die Vergütung von Durchmarsch- und Cantonnirungskosten,
so wie die von andern allgemeinen Leistungen in den Bundesstaaten soll nach
billig ermäßigten Preisen geschehen und den Landesunterthanen so schnell als
möglich baare Bezahlung geleistet werden." „23. Allenthalben ist der Grund¬
satz einer gleichen Vertheilung der Lasten und Vortheile sowol rücksichtlich der
Heeresabtheilungen als der Bundesstaaten zur steten Richtschnur zu nehmen."
Wir haben die vier Artikel 20—23 zusammengezogen, welche sich wesent¬
lich auf den Unterhalt des Bundesheeres im Kriege beziehen, obgleich aller¬
dings Artikel 23 noch eine allgemeinere Bedeutung hat. Der ganze Artikel 9
der nähern Bestimmungen über die Verpflegung besteht in einem einzigen Para¬
graphen 86: „Sobald die Contingente des Bundesheeres unter die Befehle
des Oberfeldherrn treten, geschieht die Verpflegung derselben nach den Vor¬
schriften des sür das Bundesheer entworfenen Verpflegsreglements, welches zu¬
gleich die Jnstructionen für die verschiedenen Verpflegsbecimten enthält."
Dieses Bundesverpflcgsreglcment, welches allerdings höchst nothwendig
wäre und nicht blos-Verpflegungstarife aufstellen, sondern auch die Leistungs¬
pflichten der Einwohner und den Geschäftsgang diesen gegenüber feststellen müßte,
scheint aber bis heute noch nicht zu Stande gekommen zu sein. Wie viel von
einer guten Verpflegung abhängt, hat erst der letzte Krieg wieder bewiesen,
und man sollte nach Friedrichs des Großen Grundsatz: daß man bei einem
Heere mit dem Bauche anzufangen habe, das Verpflegsreglement bei der Kriegs-
verfassung eines neuen Bundes obenanstellen.
„24. Zwischen sämmtlichen Bundesstaaten soll ein allgemeines Cartell
bestehen."
Alle Deserteure und militärischen Verbrecher also müssen von jedem Staat
oder Contingent demjenigen ausgeliefert werden, welchem sie durchgegangen sind-
Bundesfestungen sind Mainz. Luxemburg. Landau, Ulm und Rastatt.
Ueber dieselben gelten folgende Bestimmungen: die Kosten ihrer Errichtung,
Unterhaltung und Armirung werden von sämmtlichen Bundcsgliedern nach der
Geldmatrikel bestritten und alle Bauwerke, die den betreffenden Platz zur Festung
machen, so wie die zugehörigen liegenden Gründe sind Eigenthum des Bundes.
Dock bleibt die Staatshoheit über eine Bundesfestung demjenigen Staat, dem
sie angehört und wird nur besonders jn Kriegszeiten durch die dem Bund
Zustehenden Festungs- und Besatzungsrechte beschränkt. Nach dem Reglement
von 1853 erhält Mainz eine Friedensbesatzung von 3000 Preußen und 3000
Oestreichern. wozu dann noch die Hessen-darmstädtische Garnison tritt; Luxemburg
von 4000 M. Preußen und Luxemburgern; Ulm von 5000 Würtenbergern
und Baiern und 300 M. östreichischer Artillerie; Rastatt von 2500 Badcnsern
und 100 östreichischen Genietruppen.
Unsrer Meinung nach sollte es keine Festung aus deutschem Gebiet geben,
welche nicht Bundesfestung wäre.
Die technische Behörde der Bundesversammlung für das Militärische ist
die sogenannte Bundesmilitärcommission. Sie besteht aus sechs ersten Bevoll¬
mächtigten, welchen noch weitere Gehilfen beigegeben sind. Von diesen Bevoll¬
mächtigten stellen Oestreich, Preußen und Baiern je einen und die drei gemischten
Armeecorps auch je einen. Der östreichische Bevollmächtigte führt in der Com¬
mission den Vorsitz; die Beschlüsse werden nach Stimmenmehrheit gefaßt. Die
Commission hat über den Stand der Bundescontingente Buch zu führen, ferner
die Aufsicht über die Bundesfestungen und den Dienst in ihnen, dann die be¬
sondern Aufgaben betreffs zu machender Borschläge u. s. w. zu lösen, welche
ihr von der Bundesversammlung gestellt werden. Die speciellen Geschäfte
sind nnter die Mitglieder vertheilt. Diese letztern aber sind — und hier zeigt
.sich einmal wieder der bekannte Pferdefuß — bezüglich der besondern Aufträge,
die sie von ihren Regierungen erhalten, nur letztern verantwortlich.
Nach dem Gesagten hoffen wir, wird es wol allen Lesern ebenso gehn
wie uns; sie werden die Bundeskriegsverfassung für ziemlich unschuldig an
»nsrcr militärischen Schwäche erklären müssen, sie werden sich sagen, daß die¬
selbe bis auf einige Kleinigkeiten, betreffs deren man verschiedener Ansicht
^in kann, so gut ist, als es nach den Umständen möglich. Sie werden mit
uns übereinstimmen, wenn wir sagen: der Grundgedanke für die Schöpfung
einer neuen Bundcskriegsverfassung muß eine politische Verfassung des Bundes
.sein, welche die Souvcränetätcn insoweit beschränkt, als es zur Herstellung einer
einheitlichen Thätigkeit des Bundes nöthig ist. Das Militärische würde dann
k
Obschon auf Wanger-Oge Schule und Predigt hochdeutsch sind, so konnten
wir uns doch nur mit denjenigen Insulanern verständigen, welche durch einen
häufigeren Verkehr mit den Fremden sich deutlich zu machen gelernt hatten;
denn die Mundart dieser Fischer ist ein friesisches Platt, das von dem Platt
des benachbarten Festlandes wesentlich abweicht. Mit meiner Wirthin, der
Schiffersfrau, konnte ich mich leidlich unterhalten; von den Gesprächen der¬
selben mit ihren Kindern oder Nachbarn war es mir nicht möglich, Zusammen¬
hängendes aufzufassen. Ich gebe hier ein kleines Gespräch mit einem
Wanger-Oger Jungen, das ich mir aufgezeichnet habe, als Probe jener frie¬
sischen Sprache.
Wu hätzst du, Fenth? (Wie heißt du, Junge?)
Tiak.
HM du nochj Alters? (Hast du noch Eltern?)
Il habb no'um Man. Min Puy is vertrunken int Sei, alls hi no
Engellaun fahret is. (Ich habe noch eine Mutter. Mein Vater ist in der
See ertrunken, als er nach England gefahren ist.)
Hätzst du nochj Brors nur Shwesters? (Hast du noch Brüder und
Schwestern?)
Il habb dree Brors nur hwo Shwesters. (Ich habe drei Brüder und
zwei Schwestern.)
Wollt du ok cum Shipper woirn? (Willst du auch ein Schiffer werden?)
Ol, Hür, ik nur min Brors ok. Wi wollt Ki Shippers woirn. (Ja,
Herr, ich und meine Brüder auch. Wir wollen alle Schiffer werden.)
Wär lebbt jun von? (Wovon lebt ihr?)
Min Man is Bodwif; ik, fangh Fish? nur Nbab, nur min Shwesters
sriken Shilkhes. (Meine Mutter,ist ein Badeweib; ich fange Fische und Krebse
(Krabben) und meine Schwestern stricken Netze.)
Ein junges Mädchen nennen die Wanger-Oger Faun, ein Kind Bom,
eine Stube Pissel, einen Schlüssel Kam, einen Löffel Lätz, ein Messer Shaks,
einen Pfannkuchen Ol'stäter. Unter quiddern verstehen sie das Sprechen ihrer
Mundart.
Ein sehr eigenthümliches Idiom hatte sich die Frau des Vogts auf
Wanger-Oge gebildet. Da sie von Geburt eine Engländerin war, und nun
seit einer Reihe von Jahren in Verkehr mit den Insulanern und Badegästen
stand: hatte sie Englisch, Friesisch, Platt- und Hochdeutsch in einen Topf
geworfen und daraus ein Idiom zusammengebraut, das höchstens für ihren
Mann genießbar war.
Im Winter 1838, als ich noch in Elberfeld wohnte, bekleidete der
Dichter Freiligrath, dessen Poesie damals noch weit entfernt von jedem po¬
litischen Inhalt war, die Stelle eines Handelscorrespondenten in Barmer.
Die beiden Städte grenzen zusammen und wir sahen uns oft. Eines Tages
besuchte mich ein alter Freund, der bekannte Starkiof. damals großherzoglich
oldenburgischer Cabinetssecretür. der einigen Ruf als Novellist und Verfasser
von Romanen besaß. „Führen Sie mich zu dem Dichter des Löwenritts!"
so lautete seine Bitte, und wir machten uns Abends — denn nur um diese Zeit
konnte man Freiligraths habhaft werden — auf den Weg. Ich stellte den
Eabinetssecretär und geheimen Hofrath dem handelsbeflissenen Poeten vor;
Wie Flasche edlen Weins brachte das Gespräch bald in Fluß. Ich war damals
"och unbekannt mit der Nordseeküste; um so aufmerksamer hörte ich Starklof
ZU, als er mit großer Lebhaftigkeit die Eigenthümlichkeiten seiner Heimat und
insbesondere Wanger-Oges schilderte. Zufällig ließ er das Wort fallen: der
badecommissär sei ein bejahrter, für diese Stelle wenig geeigneter Mann.
Wir saßen — wie dies in der Gesellschaft des liebenswürdigen, gemüth¬
lichen Dichters in der Regel der Fall war — bis nach Mitternacht zusammen,
^n suchen Morgen, als der geheime Hofrath schon wieder abgereist war,
stand Freiligrath vor meinem Bett. „Verzeihe, sagte er, daß ich dich im
süßen Morgenschlummer störe. Ich habe den Rest der Nacht nicht mehr ge¬
schlafen; ein neuer Lebensplan ist mir durch den Kopf gegangen. Daß ich
^» Handelskram verabscheue, weißt du längst. Dieser Starklof hat mir,
ohne es zu ahnen, die rechte Straße gewiesen: ich werde Badecommissär auf
Insel Wanger-Oge!"
Was der Brausekopf von mir verlangte, war: ich solle bei dem geheimen
Hofrath wegen der Stelle „auf den Busch klopfen". Die Sache, meinte er,
^lebe keine Schwierigkeiten haben, da doch sicher ein Cabinetssecrctär bei
hinein Großherzog vieles vermöge. Wie zu erwarten war, gab Starklof
°>»e verneinende Antwort auf meinen Brief. Der Großherzog habe, so schrieb
^> an einem Dichter — darunter verstand er sich selbst — schon genug;
^ttdies sei die Stelle ja noch besetzt. Als ich nach Wanger-Oge kam, war
^leide Badecommissär — nun schon ein Siebziger — noch immer aus seinem
Kosten. Er war der größte Hypochonder, den man sehen mochte, und lebte
^ vollsten Ueberzeugung, daß in der See baden das unnützeste Ding von
^ Welt sei; daher er auch die neuangekommnen Kurgäste mit den Worten:
"^as wollen Sie hier? Geld vertrödeln, Langeweile genießen und umgehend
^ bannen gehn?" oder mit ähnlichen Reden empfing. Was aber dieser gute
kann verbrach, das machte seine Gattin, die treffliche Wirthschaften» im
Conversationshause, die berühmte Kochsünstlcrin und stattliche Dame reichlich
wieder gut. An sie wandten sich auch die Fremden, mochten sie nun in dem
Conversationshause oder sonst auf der Insel eine Unterkunft suchen.
Aas von dem Landesfürsten erbaute und von ihm und seiner Familie häufig
benutzte Convcrsationshaus diente einem dreifachen Zwecke: einmal war es
das, was der Name ausdrückt, ein Sammelpunkt der auf der Insel zerstreut
wohnenden Kurfremden, wo sie. wenn nicht täglich, so doch öfter in der Woche,
sich zur Mahlzeit und zu geselligen Vergnügungen zusammenfanden; dann aber
auch Gast- und Kurhaus, indem man daselbst nicht nur wohleingerichtete
Quartiere, wenngleich in beschränkter Anzahl, sondern auch Bäder fand; denn
schwächliche Personen, denen der Arzt das offne Meer untersagte, nahmen
hier ihr Seewasserbad in der Wanne. Die in dem Conversationshause be¬
triebene Wirthschaft, so wie die ganze Badeanstalt, gingen auf Staatskosten.
Zu den geselligen Vergnügungen gehörten nicht allein Gesellschaftsspiele, kleine
Bälle für Große und für Kinder, Bilderstellen u. f. w., sondern auch gemein¬
schaftliche Ausflüge in die Insel, z. B. die Spaziergänge in die Wangcr-
Oger Schweiz. Diesen kühnen Namen führte eine Gegend in den Dünen,
wo man geschützt vor dem Winde, auf dem Rasen gelagert, Kaffee zu genießen
^t-I'."''!l,'i,ii Mi'lltttli'M als>l! 5»j —! litt/,' et'j ki/Un! i?6 lit b'M<un4> Il'UD"
pflegte. ,„.
Nur in den Bademonaten, also vom Juni bis in den September, gab
es einen Fleischer auf Wcmger-Oge; derselbe versorgte auch das in dieser Zeit
bestehende Speisehaus, von welchem die Fremden, die nicht im Conversations¬
hause aßen, ihre Kost bezogen. Nur dann gab es einen Arzt und einet^
Apotheker auf der Insel. Im Frühjahr, Herbst und Winter waren also die
ständigen Bewohner Wanger-Oges auf ihre — natürlich oft sehr dürftigen
Vorräthe und auf die Sendungen, die mit dem Fährschiffe von dem Festlande
kamen, angewiesen; aber das Fährschiff ging dann weit seltner und sah sich
öfters in der Lage, seine Fahrten ganz auszusetzen. Man denke sich die Lage
des Predigers auf Wauger-Oge! Die Einsamkeit und Verlassenheit, worin
er dann lebte, war ungleich größer als die des Pfarrers in dem Hospiz auf
dem Sanct-Gotthard, wo die Verbindung mit der Welt doch anch im Winter,
offen bleibt. Für die beste Badezeit gelten auf Wcmger-Oge die Monate
Juli und August; im Juni ist, wie Doctor Chemnitz zu sagen pflegte, „das
Meer noch nicht reif". Da die Wirkung zum guten Theil von einem starke»
Wellenschlag abhängt, so wurde nur bei steigender Flut gebadet; daher die
Badezeit mit der Flutzeit auf- und abrückte. Auch die Tafclsiunde im Conver¬
sationshause mußte sich diesem Wechsel bequemen. Der Badestrand lag na¬
türlich auf der Nordseite der Insel, von wo die großen Wellen, auch in weiter
Ferne ungehemmt, in ungebrochener Kraft herankommen. Aus festem See'
fand bestehend und sanft abhängig, zeigte sich dieser Ort ebenso sicher als
bequem. Dabei war das Ufer so günstig gestaltet, daß Herren und Damen
ihren besondern Strand hatten, so daß kein Auge von dem einen zu dem
andern gelangen konnte. Während sehr viele Seebäder an der Küste liegen,
wo in der Regel eine Mischung der See mit süßem Wasser stattfindet: konnte
das Meilen weit vom Festland entfernte Wanger-Oge sich rühmen, ein reines,
ganz unverfälschtes, durch trefflichen Wellenschlag bewegtes Meer seinen Bade¬
gästen zu gewähren. Wie in andern Seebädern, wurde man in Badckutschen
in das Wasser geschoben. Von dem Badekabinct, das sie enthielten, führte
eine kleine Treppe in das offne Meer. Wenn wir auch am frühen Morgen
und bei kühlem Wetter badeten, so erkälteten wir uns doch nicht, weil die
salzige Flut einen zu starken Reiz auf den Körper ausübte. Ueberhaupt hörte
man nicht über Schnupfen oder Katarrhe klagen, so viel auch die Badegäste
im heftigen Winde gingen. Tritt man zum ersten Male, ein schwaches, nack¬
tes Geschöpf, dem furchtbaren Elemente gegenüber; sieht man die weißen Wellen¬
berge, die einen hinter den andern, auf sich zustürzen: so kann man sich schwer¬
lich eines kleinen Grausens erwehren. Aber bald wird man mit dem an¬
springenden Ungeheuer vertraut, und man läßt jubelnd den brüllenden Löwen
mit den weißen Mähnen über sich wegspringen. Verschwindet man auch
unen Augenblick in der schäumenden Flut; wird man auch niedergeworfen,
wie der Sklave vor seinem Gebieter niedersinkt: schnell richtet man sich wieder
empor und dringt, die rechte Schulter vor, wie ein kampflustiger Ringer der
nächsten Wellenbank entgegen. Siehe, da kommt es gegangen, das hohe
krystallene Haus; oben wölbt es sich wie ein Dach, um dich einzuhegen; das
Dach zerbricht über dir und löst sich in weißen Gischt, und die grüne Mauer
stürmt weiter, um an dem aufsteigenden Ufer vollends zu zerschellen. Man
badet natürlich diesseits der eigentlichen Brandung, da der erste, heftigste An¬
prall der See an der abfallenden Küste Gefahr bringen würde. Von Schwim¬
men kann hier nicht die Rede sein. Ein Bewohner der Ostseeküste, wo man
bekanntlich den Wechsel von Ebbe und Flut nicht kennt, ein kühner Schwim¬
mer, badete zu meiner Zeit auf Wanger-Oge. Seiner Kunst vertrauend wagte
^ es, sich durch die Brandung hindurchzuarbeiten, um sich jenseits auf den
Wellenhügcln, wie er gewohnt war. zu wiegen. Allein der Rückschlag der
^ogen in der Brandung war so groß, daß er trotz der äußersten Anstrengung
Mehl zurückzukehren im Stande war. Endlich warfen ihm die Badewärter —
von denen keiner schwimmen konnte — indem sie, sich die Hände reichend,
eine Kette bis in die Brandung bildeten, ein Tau zu, das glücklicherweise
"och hatte beschafft werden können; halb bewußtlos faßte es der Untergehende
und gelangte so endlich, mehr todt als lebendig, ans Ufer zurück.
Da wir Herren uns ziemlich weit von unsern Badekutschcn entfernten, und
"si nicht auf die Nummern, die sie trugen, achteten: so geschah es nicht selten,
daß dieser oder jener, zurückkehrend, in das falsche Fuhrwerk geriet!), was denn
nach Umständen zu heiteren oder ärgerlichen Begrüßungen Veranlassung gab.
Ein Bekannter von mir erlebte einen komischen Auftritt andrer Art. Er
hatte sich zu einer Zeit, wo nicht gebadet wurde, in eine Kutsche gesetzt, um,
wie behauptet wurde, dem großartigen Meer gegenüber, in völliger Abgeschlossen¬
heit an seine Geliebte zu schreiben. Plötzlich aber erfaßte ein heftiger Wind¬
stoß seinen leichten Wagen von hinten mit solcher Gewalt, daß derselbe mit
seinem erschrockenen Insassen wie ein Pfeil in das Meer hineinschoß. Da
kein Badewärter zugegen war, blieb unserm Liebesritter nichts Anderes übrig,
als, seiner schönen Toilette zum Trotz, vor den Augen der lustwandelnder
Badegäste an das Ufer zu waden.
Mitunter geschah es auch, daß, wenn die Wärter besonders beschäftigt
waren, das Zurückziehen der Kutschen zu lang hinausgeschoben wurde. Dies
hatte zur Folge, daß dieselben einsandeten und erst mit der Ebbezeit zurück¬
gebracht werden konnten. Auf buse Weise wurde während meines Aufent¬
halts auf Wanger-Oge eine Dame mitten im Meer festgehalten. Vergebens
war es, daß sie die Klingel der Kutsche erschallen ließ und durch die Brandung
um Rettung rief. Als endlich die Hilfe kam, war es zum Fahren zu spät,
und die Dame mußte von der Badewärterin auf dem Arm durch die Wellen
getragen werden. ^„.i-,,.,c>'i ^s.si^ -i,,!
Diese Badeweibcr waren mir eine merkwürdige Erscheinung. Ihre gro¬
ßen, magern, starkknochigen Gestalten, ihr struppiges Haar, die von der be¬
ständigen Arbeit in der Sonne braungeröstete Haut, die nackten, bronzefarbigen
Arme, das zerfetzte, hochaufgeschürzte Kleid, womit sie ins Wasser gehen,
theils um die Kutschen der Damen vor und zurückzuschieben, theils um ihnen
selber nöthigenfalls im Kampfe mit den Wellen beizustehen, dies alles gibt
ihnen ein entschieden hexenartiges Aussehen. Das Baden der kleinen Kinder,
die nur eben untergetaucht werden und natürlich ein entsetzliches Geschrei er¬
heben, gehört ebenfalls zu den Geschäften dieser Weiber auf dem Badestrande
der Damen. Man erzählte uns von einer förmlichen Badeweiberempörung
bei Gelegenheit eines Geschenks, das eine Prinzessin von Preußen zweien die¬
ser Grazien mit Bernsteinschnüren gemacht hatte. Da das Trinkgeld, welches
die Wärter und Wärterinnen üblicherweise nach dem letzten Bade von den
Curgästen erhalten, in eine gemeinsame Kasse fällt, an welcher alle jene Leute
in gleicher Weise Theil haben: so wollten die Weiber auch die beiden Bernstem-
schnüre, die dazu noch silberne Schlösser hatten, Perle um Perle vertheilt
wissen, und geriethen, als die Beschenkten, von ihren handfesten Ehe¬
männern unterstützt, Widerstand erhoben, in förmliche Berserkerwuth. Nur
nach langen Unterhandlungen und mit Hilfe einiger bis an dio Zähne bewaff'
unter „Landdragoner" — dergleichen für die Badezeit immer nach Wanger-
Oge beordert wurden — gelang es dem Vogte der Insel, vor dem die sämmt¬
lichen Seeteufelinnen erscheinen mußten, den Aufstand zu dämpfen.
Da die mit Seewasser durchnäßten Haare nur schwer trocknen, so sind
die Damen genöthigt. Stunden lang mit aufgelösten Haaren als ebenso viele
Ophelien umherzuwandeln. Sie tragen dann ein Teller- oder Taschentuch
über den Rücken und dazu den sogenannten helgolander Hut. der hinten
ganz offen ist.
Obschon ich im Allgemeinen das Stillliegen und die Körperpflege in den
Bädern hasse, so war mir doch der Aufenthalt auf Wanger-Oge im hohen
Grade angenehm, nicht nur, weil mir die von Gästen aus nah und fern zu¬
sammengesetzte Gesellschaft wohlbehagte, sondern auch, und ganz besonders,
weil der stete Verkehr mit dem Meere beim Baden und auf den Spaziergängen
am Strande einen großen Reiz auf mich ausübte. Die chemische Mischung
des Seewassers, die Vermengung desselben mit allerlei thierischen Stoffen,
seine Bewegung durch Wellenschlag und Flut, dies alles sammt der eigen¬
thümlichen Beschaffenheit der Luft wirkt auf den Körper als wunderkräftige
Würze. Um so mehr ist man erstaunt zu erfahren, daß die Seebäder in
Deutschland erst durch Lichtenbergs Empfehlung, nach dem Vorgange der
Engländer in Gebrauch gekommen sind.
Der belebende Eindruck der Flut ist so groß, daß sogar — wie mir auf
Wanger-Oge versichert wurde — Sterbende nicht leicht verscheiden, so lang
die See im Steigen ist. Chemnitz erzählte uns von einem Arzte, der es
gewagt habe, im vierten Paroxismus eines nervösen Tertiarsiebers, beim
Eintritte der trockenen Hitze, sich ins brausende Meer zu stürzen. Der Erfolg
Kar, daß die Krankheit wich, nachdem ihm den ganzen Tag über wie einem
Lustigberauschten zu Muthe gewesen, und er auch von andern dafür gehalten
worden war.
Wir hatten unsere Wohnung in einem Schifferhäuschen aufgeschlagen,
Ko uns zwei einfache, niedrige, aber reinliche Stübchen mit der Aussicht auf
das brandende Meer eingeräumt worden waren. Rings auf dem Simse stand
Geschirr, welches der Hausherr von mancherlei Seefahrten mitgebracht hatte:
Theekannen, Tassen, Teller. Schüsseln, Krüge und Töpfe aus Amsterdam,
London, Kopenhagen, Bergen und Petersburg: die Frau Schifferin wußte die
Geschichte jedes Stücks zu erzählen. Federbetten mit einer Schütte Stroh
darunter, welches, wenn man sich legte, auf allen Seiten hervorquoll; die
Nachbarschaft des nur durch eine Bretterwand getrennten Stalls, wo der Trom¬
mler des Morgens, der Hahn, und ein paar Schafe sich sehr vernehmbar
Machten, hinderten uns nicht, vortrefflich zu schlafen. Mancher hätte vielleicht
Einsiedelei, in die wir uns eingesponnen hatten, unbequem oder langweilig
gesunden; uns sagte die völlige Zwanglosigkeit, die ja einen Hauptreiz des
Landlebens ausmacht, außerordentlich zu. Auch gewährte der nahe Verkehr
mit meinen Schisfersleutcn den schützbaren Vortheil, vieles über die Insel
in Erfahrung zu bringen. An Regentagen, deren es aber nicht viele gab,
mußte ein mitgebrachtes Buch oder die kleine Leihbibliothek des Wanger-Oger
Lehrers aushelfen. War aber das Wetter nur irgend leidlich, so wurden
größere oder kleinere Streifzüge unternommen, indem ich bald die Dünen aus
und ab stieg, bald, zur Ebbezeit, auf dem Watt umherstreifte. Stunden lang
konnte ich, den Saum der Insel entlang, so dicht am Wasser gehen, daß die
Wellen über meinen Fuß hinwegspülten. Stunden lang, auf einen Sandhügel
gelagert, Auge und Seele an dem Anblick des wogenden Meeres weiden. Je
ferner von Menschen die Gegend war, die ich betrat, je stiller und abgeschlos¬
sener von aller Welt: desto deutlicher glaubte ich das Wehen des Geistes zu
vernehmen, der das All durchdringt. Ich hatte elf Jahre zuvor Monate lang
auf einer der schönsten Inseln des Mittelmeers gelebt, wo unter dem blauen
Himmel des Südens eine Gegend von wunderbarer Pracht ausgebreitet lag:
wie kam es doch, daß ich nun auf der öden Düne Wanger-Oge so hohen
Genuß fand? Weil die See überall ein gleich erhabenes Schauspiel bietet.
Zeigt das Meer des Nordens nicht das durchsichtige Jndigoblau des Golfs
von Neapel, kleidet es sich vielmehr in weit ernstere Farben: so ist es desto
gewaltiger in seinen Bewegungen, desto großartiger und grauenhafter in seinem
Zorn. Nur die Majestät der Alpenwelt, der ewig ruhenden, laßt sich mit
der Majestät des Meers, des ewig bewegten, vergleichen. Wer weder die
eine noch das andere gesehen, weiß nicht, wie schön und groß die Welt ist.
Das Leuchten der See ist im Norden eine seltene Erscheinung. Nur ein¬
mal während meines Aufenthalts aus Wanger-Oge, als sich grade ein großer
Theil der Curfremdcn Abends im Conversationshause eingefunden hatte, trat
diese Erscheinung bei schwülem Wetter ein. Auf den Ruf eines Herrn, der
mit den Worten: „Das Meer leuchtet!" in den Saal gebrochen war. rannte
alles hinaus. Aber die Wellen hatten einen nur sehr schwachen Schimmer;
dagegen konnten wir dem mit Seewasser getränkten Strande durch Stampfen
und Schlagen sprühendes Feuer entlocken. Man muß diese Erscheinung
um von den tropischen Gegenden gar nicht zu reden — am mittelländischen
Meere beobachten, wenn in lauen Sommernächten die Wellen leuchtend zum
Ufer wallen, wenn jedes fahrende Schiff eine lange tiefe Feuerspur hinter sich
läßt; wenn ein Boot mit im Takte rudernden Matrosen bemannt, einem durchs
Wasser schießenden Riesenkrebse mit goldenen Füßen gleicht; wenn du selbst,
aus dem nächtlichen Bade steigend und das Wasser von dir abschüttelnd, von
tausend Funken sprühst. Von furchtbarer Schönheit ist das stürmende Meer
— ein Anblick, der übrigens in der Badezeit nur selten geboten ist. Fahr'
und Dampfschiffe halten sich dann fern, und die Kurgäste sind Gefangene der
Insel, ja bisweilen des Hanfes; denn der Wind kann mit solcher Heftigkeit
wehen, daß man nur liegend am Ufer zu verweilen vermag.
Am Z8. und 19. August jenes Sommers, als ich auf Wanger-Oge ver¬
weilte, tobte zur Zeit der Springflut ein heftiger Sturm. Ich hatte den Tag
zuvor mit einem älteren Freunde aus Oldenburg bei dem heitersten Wetter
einen Gang um die Insel gemacht. Er hatte in Heidelberg studirt und bei
Walch, dem Pandektisten, mit einigen Landsleuten ein Privatissimum gehört.
Der Herr Professor, einer der gelehrtesten und wunderlichsten Männer seiner
Zeit, war unglaublich unbekannt mit allem, was außerhalb seiner Wissenschaft
lag, und ebenso ungeschickt es aufzufassen. In der Absicht, etwas über das Meer
zu erfahren, welches er, der Göttinger, nie gesehen, richtete er an die olden¬
burger Studenten verschiedene Fragen. Es kam die Rede auf „lange Seen",
d. h. auf Wellenbänke, die einander in gleicher Richtung folgen, ohne sich
einzuholen, und auf „kurze Seen", welche dicht hintereinander laufen, über¬
einander fortrollen und sich brechen. Walch suchte sich dies nach seiner Art
verständlich zu machen. „Bitte! sagte er zu meinem Freunde, lassen Sie uus
die eine Wellenbauk Cajus, die andere Sempronius nennen. Wie verhält es
sich nun mit der verschiedenen Bewegung?" „„Bei den langen Seen, erwie¬
derte mein Freund, folgt Cajus dem Sempronius, ohne ihn zu erreichen; bei
den kurzen faßt er ihn beim Nacken und stürzt sich über ihn hinaus."" „Stürzt
über ihn hinaus. Gut, jetzt verstehe ich."
Ich lachte über den Stockjuristen, der sich die Wellenbewegung nur da¬
durch zurecht legen konnte, daß er die Namen gebrauchte, womit die Rechts-
gelehrten und Philosophen beliebige Personen zu bezeichnen Pflegen. Jetzt
>var reichliche Gelegenheit zu sehen, wie Cajus den Sempronius überwältigte;
über wahrlich, die Lust zu lachen stand mir fern im Anschauen der Tragödie,
die hier vor mir gespielt wurde. Die grauen Wolken hingen tief herab. Ein
furchtbarer Orkan durchwühlte die See, welche in schwarzen, oft ganz von
kochendem Schaume bedeckten Hügeln aus und nieder ging. Mit grauenhaften:
Gebrüll rannte die Brandung wie Hunderttausende weißmnhnigcr Rosse die Dünen
hinan. Einige Herren, welche von dem auf einem höhern Theile des Ufers gelege¬
nen Pavillon des Conversationshauscs, an die Pfosten angeklammert, das er¬
habene Schauspiel genießen wollten, wurden dort bald von den anspritzenden
^ec- und Schlammgüsscn hinweggepeitscht. An dem äußersten Ufer tobte die
Windsbraut so heftig, daß man dem höchsten Räude nur kriechend sich zu
Nahen und, durch den Damm oder die Düne bis zur Brust gedeckt, dem Sturm
'Ah Antlitz zu schauen vermochte. Einen kläglichen Anblick gewährten die Wei-
und Kinder derjenigen Schiffer, welche man um diese Zeit ausgelaufen
"der heimkehrend wußte. Einige starrten in stummer, bewegungsloser Angst
"i die wildempörte Wasserwüste hinaus; andere irrten händeringend unter
Klagen und Wimmern umher; andere standen mit gefalteten Händen und
murmelten Gebete. Fortwährend hörte man Nothschüsse; aber niemand konnte
von der Insel aus Hilfe reichen, da Wanger-Oge nicht, wie Helgoland, Loot-
senboote hat.
Am andern Morgen, da der Sturm sich gelegt hatte und die See nur
noch hohl ging, gewahrten die Insulaner mit ihren Falkenaugen Schiffstrüm¬
mer in weiter Ferne. Es war, wie sich bald zeigte, ein Boot mit durchbroche¬
nem Boden, dem gegen Mittag ein halbzertrümmerter Mast und ein „Stern"
— so nennen sie den Spiegel oder das Hintertheil des Schiffes — folgten.
Als der Stern näher kam, stieß eine der am Ufer umherirrenden Frauen el»
herzzcrschneidendes Geschrei aus. Sie hatte ihn erkannt und wußte nun, daß
ihres Mannes Fahrzeug zertrümmert und sie selbst eine Wittwe war.
Die Badegäste sammelten für sie, so daß sie und ihre Kinder wenigstens
vor der nächsten Noth geborgen waren.
Als ich am Abend des Tages mit meiner Wirthin, der Schiffersfrau,
über den traurigen Borfall sprach, erwiederte sie: „Ja, ja, wir Wanger-Oge-
rinnen müssen alle auf ein gleiches Schicksal gefaßt sein. Heute trifft es die,
morgen, jene. Manchmal geht es aber auch umgekehrt bei uns. und der
Tod schafft Wittwer. statt Wittwen. Vor sieben Jahren wohnte in dem Häus¬
chen neben der Schule ein Mädchen, das man seiner Schönheit wegen allge¬
mein die Nose von Wanger-Oge hieß. Ein junger Schiffer, der Bruder meines
Manns, gewann ihre Gunst, und heirathete sie. Sie gebar Zwillinge, aber
die zwei Knäbchen und sie selber hatten den Tod davon. Am folgenden
Tag kam der Mann von einer längeren Fahrt zurück und fand die drei Lei¬
chen in seinem Hause. — Der geheime Hofrath Starklof, den Sie kennen wer¬
den, hat die traurige Geschichte in Verse gebracht."
Das wettergebräunte Gesicht des Schiffers. unter dessen Dach wir hausten,
kam uns nur einmal vor Augen. Es war eines Abends, als er von einer
Fahrt nach Norwegen und Schweden heimkehrte: doch schon in dersel¬
ben Nacht ging er wieder auf sein Schiff, auf dem er nur einen Jungen zu-
rückgelassen hatte, besorgt gemacht durch einen Umschlag des Wetters, der
sich anzukündigen schien. Am folgenden Tag erfuhren wir, daß er eine neue
Fahrt angetreten hatte.
Wanger-Oge ist überhaupt sehr arm an Männern, nicht nur, weil diesel¬
ben durch ihr Gewerbe als Frachtschiffer nach außen gezogen werden, sondern
auch weil die See so viele verschlingt. Auf dem kleinen Kirchhofe der Insel
liest man fast nur Namen von Weibern und Kindern auf den Kreuzen. Den¬
noch fällt es einem jungen Menschen von gesunden Gliedern nicht ein. etwas
Anderes zu treiben, als zu Schiffe zu gehen.-
Welche große Anziehungskraft der Stand des Seemanns aus den Ol
denburger ausübt, hab' ich dem Leser schon M meinem Aufsätze über Olden¬
burg auseinandergesetzt. In dem Häuschen neben uns auf Wanger-Oge
wohnte der Sohn eines Beamten aus der Hauptstadt, ein junger Mann, der
nach langem Körperleiden durch das Seebad sich kräftigen sollte. Derselbe
war zwei Jahre zuvor aus der zweitobersten Classe des Gymnasiums ausge¬
treten, um — wie der Ausdruck immer lautet — Schiffer zu werden. Da
der Seemannsdienst von unten aus erlernt werden muß, so war er zuerst als
Schiffsjunge eingetreten und dann zum Lichtmatrvsen aufgerückt. Als solcher
Machte der kühne, kräftige Jüngling mit einer breiner Kausmannsfregatte eine
Fahrt nach Rio Janeiro. Unterwegs siel er aus dem Mastkorb, in den er
Während des Sturms hatte klettern müssen, auf das Verdeck und brach ein
Bein. Der Capitän, der im Nothfall auch die Stelle eines Pfarrers, Doc-
tors und Wundarztes, so gut es abgehen will, versieht, schindelte ihn. Das
Bein war aber so schlecht eingerichtet, daß der arme Junge zu Rio Janeiro
sich einer zweiten Cur unterwerfen mußte, wobei das Bein von neuem künst¬
lich gebrochen wurde. Aber die brasilianischen Wundärzte schienen es nicht
^ick besser als unser Capitän zu verstehen; denn als der junge Mann nach
Europa zurückkehrte, ging er mit der Krücke. Das gebrochene Bein war kür¬
zer als das andere, und es eiterten noch fortwährend Knochensplitter heraus.
trat wieder ins Gymnasium ein und setzte die alten Studien fort; aber
bald wurde sein Zustand so unleidlich, daß er beschloß, sich einer neuen und
Mündlichen Cur zu unterwerfen. In dem großen Hospital zu Hannover wurde
das Bein zum zweiten Male künstlich gebrochen, und diesmal gelang eine
^ständige Heilung, wenn auch das eine Bein etwas kürzer als das andere
bheb. Wieder „Schiffer" zu werden, das mußte er sich ganz aus dem Sinne
Ichlagen. Auch dachte ich mir, daß ihm die See nun gründlich verleidet sei.
^ber ich irrte mich. Eines Tages fragte ich ihn auf Wanger-Oge: „Was
denken Sie zu studiren?" „Die Heilkunde," gab er zur Antwort. „Mit meinem
^rzen Bein kann ich doch noch immer Schiffsarzt werden."
Da das Baden, wie wir es im Binnenland gewöhnt sind, an den Kü¬
sten der Nordsee infolge der kühleren Temperatur und des veränderlichen
^asscrstandes nur wenig betrieben wird, so findet man in jenen Gegenden
^nig Schwimmer; auffallenderweise verstehen sich auch die meisten Schiffer
^'ehe darauf. Wir würden uns. sagen sie, nur um so länger quälen, wenn
^ von Bord geschlagen werden. Viele dieser friesischen Schiffer tragen einen
fernen Knopf am Hemde, damit, falls ihr Leichnam an einen bewohnten
^and geräth, ihre Bestattung damit bestritten werden kann.
Gleich in den ersten Tagen meines Aufenthalts auf der Insel machte
^ die Bekanntschaft eines alten verwachsenen Mannes, der die Lampen des
^chtthurms besorgte, und sich daneben als ein Tausendkünstler von großem
Talent, der aber nie von seiner Insel hinweggekommen war und nichts, was ihn
fördern konnte, gesehen hatte, mit allerlei sinnreichen Holz- und Metallarbeiten
beschäftigte. Die Einsiedelei in dem Thurme, dessen unteres Stockwerk er be¬
wohnte, sagte dem Humor des originellen Kauzes vortrefflich zu. Die Frem¬
den, welche ihn besuchten, wurden nicht nur durch den Wunsch, die innere
Einrichtung eines Leuchtthurms kennen zu lernen, herbeigeführt, fordernder
alte Lampcnwürter selber, der eine heitere Laune und eine nicht geringere
natürliche Beredsamkeit mit einer feinen Beobachtungsgabe und einer sehr ge¬
nauen Kenntniß der Insel verband, übte auf sie eine unverkennbare Anziehungs¬
kraft, und jedermann, den er auf seinen Thurm führte, pries ihn als vor¬
trefflichen Cicerone. Eines Abens, als ich mit ihm auf der Gallerie seines
Thurmes stand, kam, wie schon oft zuvor, die Rede auf das Seeleben, und
der Kleine sprach: „Ein rechtes Münnergeschlecht, diese Schiffer! Ihren Berus,
so gefährlich er auch sein mag, lieben sie über alles. Sogar die Weiber
werde» in der Seeluft zu Männern. Sehen Sie da unten das schwarze Kuff-
schiff, das eben seine Segel zum Trocknen aufspannt? Zwei Schifferburschen
hängen in seinen Raaen. Die Kuss führt den Namen Eintracht, wie am
Stern in goldener Schrift zu lesen steht. Der Schiffer, dem sie gehört, ist
Hinrich Schmers aus Brake, und die zwei Bursche in den Raaen sind
— seine Töchter. Ja, sehen Sie mich nur mit großen Augen an. Seine
Töchter, sag' ich Ihnen. Voriges Jahr verlor Schmers die beiden Söhne,
welche auf der Ueberfahrt von Alexen nach Bremer Hafen mit einem Boot
umschlugen und in der Weser ertranken. Schmers Haar wurde in einer Nacht
schneeweiß vor Schreck und Gram. „„Meine zwei Arme sind mir abgeschlagen
sagte er; ich bin ein völlig zu Grunde gerichteter Mann."" Da traten seine
zwei Töchter zu ihm und sprachen; „„Vater, wir sind groß und stark und
wohl im Stande, Mannesarbeit zu thun. Du weißt auch, Schisferhanthierung
war unsere Lust von Klein auf. Laß uns an die Stelle der Brüder treten.""
„Anfangs schüttelte der Alte den Kopf zu dem Vorschlage, dann aber ließ er
sich auf eine Probe ein. Die Mädchen legten Schisserkleidung an und erlern¬
ten mit Fleiß alles, was zum Geschäft gehört. Jetzt sind sie ganz so tüchtig,
wie ihre Brüder waren, und Hinrich Schwers findet in allen Häfen der Nord-
uud Ostsee dasselbe Vertrauen wie zur Zeit, da seine Söhne noch lebten.
Schade nur, dyß es mit seinem Schiff auf die Neige geht. Aber der Großherzog,
der ihn und die beiden Mädchen neulich zu Brake gesehen hat, will ihm
Mit ein paar hundert Pistolen unter die Arme greifen, und nun läßt sich
Schwers, wie ich höre, eine neue Küff bauen." Als der Lampenwärtcr diese
Worte gesprochen hatte, schlüpfte er auf seinen weichen Pantoffeln aus Sahl-
leiste hinweg, und kam gleich darauf mit einem großen Fernrohr wieder.
„Schauen Sie durch das Ding da die zwei fixen Dirnen an, sagte er. Sie
haben doch nur schwache Augen. Sind das nicht Blitzmädels, he?" Was mir
der kleine Mann auf dem Leuchtthurm erzählte, wurde mir am Abend dessel¬
ben Tages von einem Beamten aus Brake, der auch auf Wanger-Oge badete,
bestätigt.
Ueber das spätere Schicksal der Familie Schwers habe ich dem Leser nichts
Gutes mitzutheilen. Der wackre Schiffer ist im Januar 1843 mit seinem neu-
erbauten Kuffschiff sammt seinen Töchtern in einem heftigen Sturme unterge¬
gangen.
In wenig Monaten werden es drei Jahre, daß die Zeitungen uns berich¬
teten: Wanger-Oge sei von einem Sturme zerrissen worden. Nach den Er¬
kundigungen, die ich eingezogen, haben allerdings die gewöhnlichen December¬
stürme die nördlichen Dünen in der Mitte der Insel durchbrochen und den
Leuchtthurm unterwühlt, so daß derselbe abgerissen und durch einen neuen er¬
setzt werden mußte. Der Großherzog hat beschlossen, das unglückliche, viel¬
leicht noch auf eine Reihe von Jahren haltbare Wanger-Oge fallen zu lassen.
Das Conversationshaus wurde abgebrochen und der größte Theil der Ein¬
wohner vermocht, sich am Jahdebusen, wo sie eine bessere Zukunft erwartet,
anzusiedeln.
Wie die Insel nur noch als Ruine besteht, so auch das Seebad, das
gegenwärtig von einem Barbier aus Oldenburg kümmerlich unterhalten wird.
Die geringe Zahl der Badegäste, welche sich aus der Umgegend einfinden, wohnen
bei den wenigen Schiffern, die der Insel noch treu geblieben sind.
Bald wird das Auge der Wangrier, dem ich so werthe Erinnerungen
ES sind in Bezug auf die „Nationalpartei" wiederum einige Actenstücke
veröffentlicht, namentlich die Antworten der k. preußischen und der h. sächsischen
Regierung an Oestreich. Außerdem hat man in einigen Staaten gerichtliche
Verfolgungen gegen die Unterzeichner des eisenacher Programms eintreten lassen,
und zwischen den leitenden Ministern der Mittelstaaten finden Konferenzen statt,
um, vielleicht in Uebereinstimmung mit Oestreich, anderweitige Projecte für
eine Reform der deutschen Bundesverfassung zu ersinnen. Wie man auch über
den Werth dieser verschiedenen Thatsachen denken mag, so viel stellt sich mit
überwiegender Klarheit heraus, daß auf diesem Wege die deutsche Einheit
wenigstens nicht schnell zu Stande kommt. Die beiden erstgenannten Noten
setzen, wie billig, die freiwillige Einstimmung aller betheiligten Fürsten voraus,
und es läßt sich erwarten, daß von der andern Seite dieselbe Voraussetzung
stattfinden werde; mit einem Wort, es handelt sich wieder um Aufspeicherung
schätzbaren Materials. Die Zeit drängt aber; die europäischen Verwicklungen
werden vielleicht bald wieder eine Betheiligung Deutschlands in Anspruch
nehmen, und wenn bis dahin die deutsche Einheit nicht zu Stande kommt,
so muß man versuchen, wie es ohne deutsche Einheit gehn will.
In erster Linie steht noch immer die italienische Frage; an sie reiht sich
vielleicht bald die orientalische , die mit ihr auf das genaueste zusammenhängt.
Denn wie sich der europäische Areopag den Wünschen der Rumänen und der
Serben gegenüber verhalten wird, das hängt doch zum großen Theil davon
ab, wie sich Oestreich und Frankreich in Bezug auf die italienische Frage eini¬
gen. Daß sie sich bis jetzt noch nicht geeinigt haben, steht fest; der Kaiser
Napoleon ist rasch in seinen Entschlüssen, und so kann die Entscheidung über
Nacht kommen, um so mehr, da das unglückselige Ereigniß von Parma gezeigt
hat. daß es mit dem bisherigen Provisorium so nicht fortgehn kann.
Die Entscheidung darf Preußen nicht unvorbereitet treffen, und es muß
sich vorher klar machen, welche Partei es in dem zu erwartenden europäischen
Congreß zu nehmen, ob es sich überhaupt an demselben zu betheiligen hat.
Wartet es wieder ab. was ihm die Ereignisse bringen, so geräth es wieder
in jene Politik des Zufalls und der einander paralysirenden Rechtsbedenken,
die dem Frieden von Villafranca vorausging.
Zunächst liegt auf der Hand, daß von einem Rechtsverhältniß Preußens
gegen eine der betheiligten Mächte nicht mehr die Rede ist. Oestreich hat über
seinen Besitzstand mit Frankreich ohne Zuziehung eines dritten paciscirt. die
ehemaligen Beherrscher von Toscana. Modena und Parma stehen in keinem
Rechtsverhältniß zum deutschen Bunde. Preußen hat also nach dieser Seite
vollkommen freie Hand.
Wenn man blos das Wohl der Italiener berücksichtigt, so ist es augen¬
scheinlich, daß die Einverleibung jener Länder in das Königreich Sardinien
für sie der günstigste Ausgang sein würde. Die allgemeine Stimme hat
sich dafür ausgesprochen, Sardinien ist anerkannt der am besten verwaltete Staat
Italiens, er würde als Träger der Nationalität noch schneller fortschreiten,
und zugleich einen Umfang haben, der ihm verstattete, eine unabhängige
Politik gegen Frankreich, Oestreich und Rom zu treiben, ihn zugleich aber
verpflichtete, stets auf die Wünsche der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen, um
gegen die übermächtigen Nachbarn gesichert zu sein. Auch für Oestreich, wenn
es nicht mit drei Würfeln neunzehn Augen werfen will, wäre dieser Ausgang der
erwünschteste, denn er befreit es aus einem Labyrinth von Verlegenheiten,
aus denen es sonst keinen Ausgang gefunden hätte.
Freilich ist«nicht zu erwarten, daß es zu dieser Einsicht kommt, die Lei¬
denschaften sind immer mächtiger als die Ueberlegung. Es wird, so lange
ihm eine Hoffnung bleibt, aus allen Kräften sich gegen einen solchen Ausgang
sträuben. Aus demselben Grund wird Nußland für Sardinien sein; denn von
der angeblichen Annäherung der beiden Großmächte läßt sich noch nichts spüren.
England hat sich bereits so laut wie möglich für Sardinien erklärt. So bleibt
noch Frankreich übrig, dessen Sprache in den letzten Monaten seltsam ge¬
wechselt hat.
Wahrscheinlich hat das darin seinen Grund, daß in der Seele des Kaisers
der Entschluß noch nicht reif ist. Napoleon ist der Mann blitzschneller und
entscheidender Entschüsse; aber dann bedarf er einer Pause, sich zu sammeln.
In dieser Pause ruht sein Wille.
Es kämpfen in dieser Frage verschiedene Motive gegeneinander. Nicht
gern würde er seine Protcctorrolle aufgeben, nicht gern Sardinien zu groß wer¬
den lassen. Aus der andern Seite hat er wirklich einen gewissen Respect vor
dem Nationalwillen, vielleicht auch einige Achtung vor Victor Emnnuel. Es
wird ihm schwer, gegen Rom aufzutreten, und doch hat ihn Rom in der letz¬
ten Zeit sehr verdrossen. Vielleicht ist nicht der kleinste Grund, der ihn vom
endlichen Entschluß zurückhält, der Umstand, daß Preußen sich über die Rolle,
die es spielen will, noch nicht ausgesprochen hat.
Vielleicht wäre es ihm am angenehmsten, mit England, Preußen und
Nußland gemeinsam die bisherige Rolle auf friedlichem Wege fortzusetzen.
Gelingt ihm das aber nicht, so wird er sich — das steht unerschütterlich fest
- genöthigt sehn die Rolle des Eroberers zu versuchen. Erobern kann er
nur in Nheinpreußen, Rheinbaiern, Belgien. Wenn ihm also eine libe¬
rale Coalition nicht gelingt, so wird er es mit einer absolutistischen ver¬
suchen.
Darum scheint es uns die Hauptfrage des Tages, daß Preußen sich sel¬
ber klar macht, ob es unter keinen Umständen aus einem Kongreß für Italien
gegen die östreichischen Ansprüche aufzutreten gedenkt. Bei der Erwägung
dieses Frage spielen zu viel Gefühlsrücksichten mit, als daß man sie durch ein¬
fache Logik entscheiden könnte. Ist es aber einmal entschlossen, so ist es
auch dringend nothwendig, daß es dann mit Oestreich und den deutschen Mittcl-
staaten sich einigt, jeden Zwiespalt sorgfältig vermeidet, und den Bund befestigt,
der jeden Eroberungsplan Napoleons unmöglich macht. Sich unentschlossen
zwischen beide zu stellen, wäre eine Politik, die sicheres Verderben nach sich
Geschichte des reichssreiherrlichen v. Wolzogenfche n Geschlechts.
Von K. A. A. Frh. v. Wol zogen - Ne us an s. — 2 Bde., Leipzig. Brockhaus.
— Eine musterhaft gearbeitete Monographie, trotz des starken und achtungswerthen
Eifers des Verfassers für sein Geschlecht mit gewissenhafter historischer Kritik ausge¬
arbeitet. Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert haben sich die Wolzogen im
Kriege wie im Gelehrtenstande ausgezeichnet; die mitgetheilten Actenstücke aus ihrem
Leben geben zuweilen einen diesen Einblick in die Sitten der Zeit. — Die Memoiren
seines Vaters, des General Wolzogen. hat der Versasser schon früher herausgegeben;
einige Nachträge werden hier mitgetheilt. — Von den neuern Porträts interessirte
uns am meisten Wilhelm v. Wolzogen (geb. 1762). Schillers Mitschüler auf
der Militärakademie und späterer Schwager. Man hat neuerdings versucht, das
Andenken des Stifters desselben, des Herzog Karl von Würtemberg, wieder zu Ehren
zu bringen; durch die vorliegenden Mittheilungen fallen einige neue Streiflichter auf
diesen Charakter. — Im April 17 84 war Wolzogen aus der Akademie entlassen
und Lieutenant geworden; im September 1788 wurde er nach Paris geschickt, um
sich im Baufach auszubilden. Nach der Abreise zeichnete er in sein Tagebuch aus:
„Es war Nachmittags vier Uhr. als ich Stuttgart verließ. . . Im Ganzen entfernte
ich mich gern von einer Stadt, wo alles doch nur das Gepräge des Despotismus
an sich trägt, wo sklavische Unterthänigkeit gegen den Fürsten und übermüthiger
Mandarinenstolz gegen Untergebene jeden gesellschaftlichen Cirkel steif und unerquick¬
lich macht. Das edle Gefühl von der Größe und Würde des Menschen ist hier durch
morgenländische Negierungsfayon ganz unterdrückt worden; auch die besten Menschen
sind von diesem lieblosen Geist angesteckt, ob sie es gleich fühlen und sich deshalb
beschämt zurückziehn, um in ihrer Familie das zu suchen, was sie außer ihrem Hause
stets vermißten: Freiheit im Reden und Handeln. Daher der Mangel an Gescllschaft-
lichkcit in Stuttgart. . . Und doch besitzt die Stadt einen der brillantesten Höfe.
Freilich aber kommt dazu der geringe Reichthum der Noblesse; die schlechten Gagen
und die früher ganz exorbitanten Ausgaben, die das Hofleben verursachte, sind der
Grund davon. Der Herzog war eben rechter Hand von der Chaussee, um ein Ma-
mover einzurichten. Ich sah einige Leute über das Feld kommen, retirirte mich also
aus meinem Wagen, weil ich befürchtete, es sei der Herzog selbst. So weit ist es
hier gediehen, daß man sich scheut, ihm auch nur zu begegnen; denn sicher sieht er
sodann grade aus das, was entweder an Kleidung oder Ort des Aufenthalts nicht
ganz ordonnanzmäßig an einem ist, und ebenso sicher rügt er es auf die empfind¬
lichste Art. Ich ließ deshalb meinen Wagen fortfahren und nahm linker Hand einen
Umweg. . . Indessen war mein Kutscher immer zugefahren, und ich sand mich ge¬
nöthigt, gegen l'/s Stunde in der größten Hitze ihm nachzulaufen, ehe ich ihn
Wieder einholte. Der Bursch war infolge einiger frühern Erfahrungen von einem
so panischen Schrecken vor dem Herzog besessen, daß er sich nur in weitester Ent¬
fernung vor ihm sicher glaubte." — Im Januar 1789 kam der Herzog mit seiner
Gemahlin nach Paris. Wolzogen mußte sich seinem Gefolge anschließen und ihn
überallhin zu Visiten beim hohen Adel, ins Theater u. s. w. begleiten, auch die
Stelle eines Kammerherrn bei der Herzogin vertreten. Der Zweck dieses Aus¬
flugs war, „lauge Kerls" für die Stuttgarter Gardclegion zu werben. Nebenbei
kaufte Serenissimus Kunstgegenstände zum Schmuck seiner Residenz. Seinem Aer-
ger, daß Paris so viel großartiger war als Stuttgart, machte er dadurch
Lust, daß er gegen seine Umgebungen alle Herrlichkeiten von Paris herabsetzte,
namentlich die Kunstproductioncn. In die größte Wuth gerieth er, als er in der
italienischen Oper, die auf seine Kosten ausgebildete und dann von Stuttgart fort¬
gelaufene Sängerin Ballett! mit dem größten Beifall auftreten sah. Sobald ein
Actcur vermeintlich falsch sang, drehte er sich um und sagte zu seiner Begleitung:
„wenn er mir so gesungen hätte, würde ich ihm eine Ohrfeige gegeben haben." —
Wolzogen verlor öfters den Muth, Schiller hatte in seinen Briefen Gelegen¬
heit, ihn zu trösten, und ihn von voreiligen Aufgeben des Dienstes zurückzuhalten.
Ende 1792 erhielt er den gefährlichen Auftrag, ohne eigentlich officielle Stellung,
die französischen Zustünde zu beobachten; er führte darüber ein Journal, das bis
zum 28. März 1793 reicht. 1794 kehrte er zurück, und heirathete 27. Sept. zu Baucr-
bach seine alte Jugendfreundin Caroline v. Beulwitz, sehr zum Verdruß Schillers,
der 21. Nov. 1794 an seine Eltern schreibt: „Sie werden- nun wol wissen, daß
Wolzogen mein Schwager geworden ist. Ich wollte Ihnen von dieser Sache nicht
schreiben, theils weil ich immer noch gehofft hatte, sie rückgängig zu machen, theils
weil sie mir in vielem Betracht fatal ist. Nun ist es geschehn, und ich schlage sie
Wir aus dem Sinn, so gut ich kann. Diese zwei Leute schicken sich gar nicht zu¬
sammen und können einander nicht glücklich machen. Aber wem nicht zu rathen ist,
dem ist nicht zu helfen. Ich bekümmere mich nichts mehr darum. Diese Ge¬
schichte hat meine Schwägerin und mich ziemlich erkältet, und Sie werden Sich da¬
her nicht wundern, wenn sie ihnen wenig Freundschaft bezeugt." Diese Stelle theilt
der Verfasser zum ersten Mal mit; Boas hatte sie unterdrückt. Uebrigens stellte sich das
vnee Verhältniß bald wieder her, und daß Wolzogen Dec. 1796 als Kammerherr
"ach Weimar berufen wurde, geschah zum Theil durch Schillers Vermittlung. Er
schreibt darüber an Goethe: „Ich lebe sehr gern mit meiner Schwägerin, und mein
Schwager bringt durch seine mir heterogene Art zu sein, die doch wieder ein Ganzes
sür sich ist, xine interessante Verschiedenheit in meinen Cirkel." — Das Zusammen-
^ben war in der That nach Carolincns Bericht sür beide Theile sehr fruchtbar.
„Mein Mann hatte einen großen Sinn und sein Blick auf Welt und Menschen war
hell. Der'Kreis dessen, was zu erreichen möglich ist, lag in bestimmten Umrissen
ihm vor Augen . . . Aus dem Unmuth, den verdrießliche Dienstgeschäfte erzeugten,
flüchtete er sich zu Schiller, und in den originellsten Einfallen machte sich unsre
innere Freiheit Luft. Schiller freute sich der Wirkung seiner Dichtung aus eine so
klare Vorstellungskraft und ein durch das Leben erprobtes Gemüth ... er Pflegte
zu sagen: wenn es bei dem durchdringt, dann ist es gewiß tüchtig." — Bei Hofe
hatte er eine schwierige Stellung; die bedeutenden Geschäft-', die ihm anvertraut
wurden, erregten nicht selten den Neid seiner College»: „er war eine „nörgelnde"
Natur. Und zwar äußerte er diesen, mit seiner Kränklichkeit hinreichend erklärten
Charakterzug häusig da, wo ein geschmeidigeres Eingehn auf unschuldige Capricen
anderer nicht nur nichts geschadet, sondern ihm viel Verdruß hätte ersparen können.
So war ihm z. B. stets die Forderung einiger Damen am Hofe, in einer Hofcqni-
pagc abgeholt zu werden, ein Dorn im Auge; er schlug es entweder ab, oder
schickte die schlechtesten Wagen, die aufzutreiben waren, und machte sich damit
die einflußreichsten Damen zu Feinden. Auch gegen die Seinigen war er zuweilen
übellaunig. Gelehrte Damen, die zugleich gute Hausfrauen sind, gehören zu den
Seltenheiten. Caroline rechnete nicht, ihr Gemahl aber rechnete, rechnete zuweilen
vielleicht zu ängstlich, in einzelnen Fällen für die Seinen verletzend." Frl. v. Knebel,
deren böse Zunge uns in den Hofklatsch von Weimar zuweilen recht gründlich ein¬
führt, schreibt 3. Febr. 1803: „Wolzogen, dessen eigentlicher Charakter Schlauheit
ist, doch nicht genug, um sich einem gewöhnlichen Blick, wie der meinige zu ver¬
stecken, ist für mich eine wahre italienische Maske aus der Komödie, und da kann
er mich oft amüsiren. — 19. .Febr.: Man sagt so viel Böses von diesem dicken
Freund, daß ich fast Lust hätte, mich seiner anzunehmen — wenigstens aus Dank¬
barkeit, da er mich amüsirt, was hier zu Land schon etwas sagen will. So schlau
er übrigens sein mag — denn er hat eine Falstaffischc Natur — so hat er doch ein
besonderes Zutrauen zu mir und unterrichtet mich immer genau von seinen Grundsätzen,
die mich oft wegen ihrer Sonderbarkeit in Verwunderung setzen, die ich aber bei
näherer Untersuchung doch richtig finden muß. Auf den hiesigen Boden paßt er
aber wol schwerlich, und er wird zwar nicht verschlungen werden, aber er wird
verschlingen. Gleichgiltig ist er darum gar nicht, und ich möchte ihn nicht gern
zum Feind haben, denn bei seiner Weichheit und Faulheit hat er doch ein ewiges
Treiben in sich und steckt voller Projecte. und ich habe ihn schon etliche Mal an die
Magerkeit unsers Terrains erinnern müssen." — Sein tiefes Gefühl für Schiller
verrieth sich beim Tode des letzter», wo die Trauer sich bei ihm in fast leidenschaft¬
lichen Formen äußerte. — Kanzler Müller, freilich sein Rival in der Diplomatie,
sagt von ihm: „er war einer von jenen Männern, die bei großem Verstand und
vieler Schlauheit doch oft allzuviel berechnen, und aus angeborner Neigung, alle
Lebensverhältnisse aufs feinste und umsichtigste zu behandeln, doch mitunter in den
wichtigsten Fällen raschen Entschlusses ermangeln und von dem schnellen Wechsel der
Umstände überflügelt werden. Dabei war er bequem und liebte selten seine Meinung
entschieden herauszusagen, oder sich voranzustellen, um sich nirgend zu compromittiren."
— Er starb 17. Dec.'.1809, erst 47 Jahre alt, von seiner Gattin treulichst gepflegt. „Sie
beträgt sich, schreibt Frl. v. Knebel, in den Leiden ihres Mannes so hübsch und vor-
nehm, daß man glaubt, daß der Verstand doch zu etwas gut ist. Er soll öfters,
und besonders gegen sie, ganz unerträglich sein. Davon spricht sie aber nie, sondern
sucht nur immer ihn zu erleichtern und zu helfen, doch auch so, daß sie nicht selbst
untergeht. Ich hatte ihr wirklich so viel Kraft nicht zugetraut." — Caroline hat
stets ihres Mannes in treuer Liebe gedacht und seinen Charakter und seine großen
Verdienste richtig gewürdigt. —
Aus Weimars goldnen Tagen. Bibliographische Jubelfestgabe zur hun¬
dertjährigen Geburtstagsfeier Friedrich von Schillers, dargebracht vom Regierungs-
rath Dr. C. G. Wenzel. — Dresden, Arnold. — Das Buch enthält die auf Goethe
und Schiller bezügliche Bibliographie in einer Vollständigkeit, die noch sehr weit über
die höchst verdienstvolle Arbeit Gocdekcs hinausgeht, namentlich in Bezug aus die
Bücher, Zeitschriften und Programme, die über die beiden Dichter geschrieben sind.
Außerdem das Bibliographische über die fürstlichen Personen von Weimar in der
Zeit Carl Augusts. —
Die Cartons von Peter von Cornelius in den Sälen der königlichen
Akademie der Künste zu Berlin. Von Hermann Grimm. Berlin, W. Hertz. —
Eine vortreffliche, historisch geordnete Beschreibung und Kritik dieser Kunstwerke. —
Briefe von Heinrich Stieglitz an seine Braut Charlotte. In einer
Auswahl aus dem Nachlaß des Dichters herausgegeben von Louis Curtze. 2 Bde.,
— Leipzig, Brockhaus. — Der tragische Tod der Charlotte Stieglitz hat auch auf
ihren Mann eine größere Aufmerksamkeit gelenkt, als seinen dichterischen Leistungen
zukam. Der Herausgeber veröffentlicht die Briefe an seine Braut von der Ver¬
lobung bis zur Hochzeit, 1823—1828. Stieglitz macht den Eindruck einer guten,
anempfindcndcn, nicht bedeutenden Natur. In den Briefen herrscht lauter Liebe und
Sonnenschein; der Umfang ist etwas zu groß. Man sieht ihn fortdauernd an seinen
orientalischen Gedichten arbeiten; einiges erfährt man auch von jenen literarischen
Zustünden in Berlin, als Heines Dichtungen zuerst auftauchten; aber nicht viel.
Von der seltsamen Wendung, die Charlottens Charakter später nahm, zeigt sich keine
Spur. —
Erzählungen von Otto Noquette. — Frankfurt a. M. — Unter einer
großen Fülle belletristischer Leistungen, die uns vorliegen, heben wir diese vorläufig
als die beste hervor. Es herrscht in den Erzählungen ein sehr gesunder Humor,
Und einzelne Einfälle (z. B. in der ersten: der Frciwerber) sind von einer über¬
raschenden Wirkung. Hin und wieder muß der Verfasser die Neigung bekämpfen,
einen guten Einfall zu Tode zu Hetzen. —
Deutschlands Krieg es- und Sicgesjahrc, 1809—1815, im Liede deutscher
Dichter. Herausgegeben von H. Klette. — Berlin, Springer. — Die bekannten
Lieder von Arndt, Körner, Stägcmann, Meist u. s. w. in sehr verständiger Auswahl. —
Die Geschichte der Menschheit in ihrem Entwicklungsgange seit dem Jahr
1775 bis auf die neuesten Zeiten. Von C. L. Michelet. 1. Bd. Berlin, Schneider. —
Es sind Vorlesungen über die neuere Geschichte, in liberalem Sinn, der studirenden
äugend gewiß sehr nützlich; hin und wieder werden die Begebenheiten durch ein
»Philosophircndcs" Arrangement in Verwirrung gebracht. Thatsächlich Neues ist
u>ches darin, die Reflexionen sind nicht grade aus der Tiefe geschöpft und über manche
Achauptungcn ließe sich streiten. Der anspruchsvolle Titel erregt Erwartungen, die
der Inhalt nicht befriedigt; selbst die benutzten Hilfsmittel sind die allerbekanntesten;
von Tocaucvillc, Barante, Sybel u. f. w. ist keine Notiz genommen. Die ameri¬
kanischen Freistaaten erscheinen dem Verfasser auf der Höhe der Menschheit. Der
erste Band enthält die Geschichte der französischen Revolution und der daraus hervor-
Aus dem Leben eines Musikers. Von I. C. Lobe. Leipzig, Verlags¬
buchhandlung von I. I. Weber. 1859. — Der Verfasser hat in der goldnen Zeit
unsrer Literatur in Weimar gelebt und mit mehren der Größen dieser Periode
gelegentlich verkehrt. Was er von seinen Gesprächen mit Hummel, Goethe und
Zelter mittheilt, ist zwar nicht sehr bedeutend, aber immerhin von Werth, da mir
auch für das kleinste Fünkchen, das uns von jenem Glanz aufbewahrt wurde, dank¬
bar sind. Im Uebrigen enthält das Buch einige Jugendabcntcuer des Verfassers, sein
erstes Austreten als Flötenvirtuos, die Aufführung seiner ersten Symphonie, welche
in der Probe starb, die Aufführung seiner ersten Oper, die nur einmal über die
Bühne ging, u. s. w., ferner eine Charakteristik Mendelsohn-Bartholdys und ver-
schiedne kleine Aufsätze über musikalische Gegenstände. Die Manier, in welcher er er¬
zählt, ist etwas weitschweifig, indeß ist einiges mit viel guter Laune geschildert. Ein
Abenteuer, das Herr Lobe als junger Mann mit Goethe hatte, geben wir in ab¬
gekürzter Form in einer der nächsten Nummern. —
Deutsche Weihnachtslieder. Eine Festgabe von Karl Simrock. Leipzig,
T. O. Weigel. 1859. — Das Hauptgewicht in dieser Sammlung ist aus das dem
Volkslied verwandte Weih nachtslicd der ältern, d. h. der katholischen Kirche gelegt,
in welchem sich das Christfest mehr in seinem volkstümlichen Charakter (wir er¬
innern an die Krippen, das Kindclwicgcn, die drei Könige mit ihrem Sterne) spie¬
gelt, und das bis jetzt in Deutschland noch wenig erforscht und zugänglich gemacht
ist. Dann folgen in einem zweiten Buch die ältern evangelischen Kirchenlieder, die
sich auf das Weihnachtsfest beziehen, in einer Auswahl. Das dritte Buch endlich um¬
faßt die Advents-, Waldrandes- und Dreikönigslicder der modernen Dichter. Die
Sammlung ist nicht für den Gelehrten bestimmt, und so ist es gerechtfertigt, wenn
der Herausgeber die ältern Lieder durch Aenderungen in Sprache und Versbau teil¬
weise umgedichtet hat. Dem Ganzen ist eine Einleitung über das in unsern Weih¬
nachtsgebräuchen nachklingende altheidnische Julfest und die Weihnachtsfeier im Mit'
telältcr vorausgeschickt. —
Das Boot und die Karavane. Eine Fcnnilicnrcise ^durch Aegypten, Palä¬
stina und Syrien. Nach dem Englischen von E. A. W. Himly, v. und Prof.
Mit fünf Abbildungen. Leipzig, Verlag von B. Schlicke. 1860. — Eine recht an¬
schauliche Schilderung der genannten Länder des Orients zunächst für Kinder von etwa
zwölf bis vierzehn Jahren bestimmt, aber auch für Erwachsene lesbar. Die Ueber-
setzung könnte besser deutsch sein. Die Abbildungen sind hübsch, nur sollten die Säulen
des großen Saals von Karnak nicht aussehen, als ob sie aus Mauerwerk zusammen¬
gesetzt wären; sie bestehen wie die aller übrigen Prachtbauten Aegyptens aus müh>
Verantwortlicher Redacteur: 1). Moritz Busch — Verlag von F. L. Herbig
in Leipzig.
Druck von C. E. Elbert in Leipzig.
Der Nationalismus. Von Prof. Rückert in Jena. Leipzig, Hayncl.
Von der Wandelbarkeit der menschlichen Dinge gibt vielleicht keine histo¬
rische Erscheinung einen so schlagenden Beleg als das Schicksal derjenigen
Auffassung des Christenthums, die man mit dem Namen Rationalismus be¬
zeichnet. Es ist kaum zwei Menschenalter her, daß sie die herrschende Ansicht
aller Gebildeten und Ungebildeten war; nicht blos die Laien waren ihr erge¬
ben, sondern die überwiegende Mehrzahl der Geistlichen; in den meisten Schulen
Wurde sie gelehrt, und vollends in der Literatur betrachtete man jede abwei¬
chende Stimme als einen wunderlichen Einfall, den man nur durch Achsel¬
zucken zu widerlegen habe. Seitdem ist ein vollständiger Umschwung einge¬
treten. Der Rationalismus hat nicht blos auf der Kanzel und den Lehrstühlen
ein Terrain nach dem andern verloren, sondern er ist bei Dichtern und Philo¬
sophen, bei Freunden und Feinden des Christenthums in so schlechten Ruf
gekommen, daß man sich fast schämt sich dazu zu bekennen. Man weiß nicht,
wer weiter in den Jnvectiven gegen diese Glaubensform ging, die Rechtgläu¬
bigen oder die Atheisten.'
Erklärungen finden sich freilich für jede historische Erscheinung. Zuerst
empörte sich die junge aufkeimende Poesie gegen die Nüchternheit einer Welt¬
anschauung, aus der sie keine Bilder und Symbole nehmen konnte, und die-
ienige Schule, in der sich die Velleitäten der neuen Kunst um so stärker regten,
le geringer ihr wirkliches Vermögen war, brandmarkte die gesammte Auf-
Gärung mit dem Stempel hoffnungslosen Stumpfsinns. Dann erhob sich die
Speculation, die alle Geheimnisse der überirdischen Welt auf dem Wege des
Syllogismus zu erschließen wähnte, und es dem alten Glaubenssystem sehr
verargte, daß es diese Geheimnisse als etwas Gleichgiltiges bei Seite liegen
^eß. In den französischen Kriegen erwachte im Volk ein tieferes religiöses
Bedürfniß, man verlangte nach Thatsachen des göttlichen Mitgefühls, mit
welchen der Nationalismus kargte. In der Wissenschaft trat ein strenger
historischer Sinn, eine Kritik ein, der die wohlmeinende Voraussetzung, daß
^ Grund alle vernünftigen Menschen zu allen Zeiten dasselbe gemeint hätten,
ein Greuel war. Endlich und das ist von den mitwirkenden Ursachen doch
nicht die kleinste, glaubte man sich an den Höfen überzeugt zu haben, daß
die religiöse Freidenkern sehr dazu geeignet sei, den Geist der Rebellion zu
nähren. Man veranlaßte daher das geistliche Regiment, sür die Abhilfe eines
solchen Uebelstandes Sorge zu tragen. Und hier zeigte sich, daß es doch noch
kräftigere Mittel gibt als die Scheiterhaufen, der Ketzerei zu steuern: man
ließ einfach die Kandidaten, die sich nicht zum rechten Glauben bekannten, im
Examen durchfallen, und da-die menschliche Natur keineswegs so taktfest ist,
wie ihre Anwälte behaupten, so war die Folge, daß in nicht zu langer Zeit
dem Bedürfniß einer rechtgläubigen Lehre in der Kirche und in der Schule
vollständig abgeholfen war. Rationalistische Geistliche sind heute eine Selten¬
heit, dafür macht man im Glauben immer weitere Fortschritte, und wer nicht
von der persönlichen und fleischlichen Allgegenwart des Teufels überzeugt ist,
darf heute kaum mehr wagen, sich einen Christen zu nennen. Heute
morgen vielleicht nicht mehr; denn seitdem an höchster Stelle gesagt worden
ist, daß eine gewisse Art der Orthodoxie geeignet sei, Heuchler zu machen,
weht der Wind schon wieder aus einer andern Ecke.
Das alles sind wol Gründe, aber keine ausreichenden, und man wird
über den sichern Fortschritt der Menschheit doch einigermaßen zweifelhaft, wenn
man die Schriften des alten Kant in die Hand nimmt, und damit vergleicht,
was unsere Weisen sagen. Freilich unterliegt es keinem Zweifel, daß der
Rationalismus als historische Erscheinung betrachtet viele berechtigte Bedürf¬
nisse des menschlichen Gemüths unbefriedigt ließ, und daß ihm auch in wissen¬
schaftlicher Beziehung eine große Einseitigkeit anklebte; aber in seinem Princip
enthält er doch lediglich die Anerkennung, daß der Mensch ein denkendes und
zurechnungsfähiges Wesen ist; und daß man im Behagen über die Schwächen
seiner historischen Erscheinung so weit gehn konnte, auch sein Princip zu leug¬
nen, ist eins der bedenklichsten Symptome des neunzehnten Jahrhunderts.
Mit großer Freude begrüßen wir daher Schriften wie die vorliegende, die sich
einmal ganz unumwunden zu dem alten, angeblich überwundenen Standpunkt
bekennen. Rückerts Buch ist nicht blos seiner Gesinnung nach, sondern auch
wegen der gründlichen, besonnenen, leidenschaftslosen Arbeit im hohen Grade
lesenswerth. Die einzige Schwäche scheint uns zu sein, daß er den begriff¬
lichen Rationalismus nicht scharf genug von dem historischen scheidet, und von
diesem Gesichtspunkt aus sei uns erlaubt ihn zu ergänzen.
Die allgemeine principielle Voraussetzung des Rationalismus ist, daß es
in der Welt nur ein Dcnkgesetz gibt; nicht etwa zwei, die sich widersprechen;
und zwar gilt diese Voraussetzung für die praktische wie für die theoretische
Vernunft. Was heute Naturgesetz ist, kann nicht zu irgend einer Zeit will¬
kürlich verändert worden sein. Die Gesetze der theoretischen Vernunft lehrt
uns das Denken und die Erfahrung, die Gesetze der praktischen Vernunft
offenbart uns das Gewissen. Die Menschen können zu verschiedenen Zeiten
gegen die einen wie gegen die andern Geseße gefehlt haben; aber das Wesen,
welches wir als den ewigen Träger der Weltvernunft betrachten, Gott, kann
sich nicht widersprechen: er kann sein Gesetz nicht aufheben; er kann nicht in
irgend einer Zeit als Recht offenbart haben, was er in seiner ewigen, jeden
Tag erneuten Offenbarung, im Gewissen, als Unrecht brandmarkt.
Betrachtet man dieses Glaubenssystem im Interesse der Wissenschaft, so
steht man leicht, daß die eine mit dem andern steht oder fällt. Wären die
Denkgesetze oder, was dasselbe heißt, die Naturgesetze nicht ewig unveränder¬
lich, so wäre jede Wissenschaft eine armselige Spielerei, denn jede Wis-'
herschaft hat es mit Gesetzen zu thun, und das Naturgesetz hört auf, sobald
es auch nur eine einzige Ausnahme gestattet. Nicht besser wäre es mit der
Sittlichkeit bestellt, denn sobald das Gewissen, welches mich mit untrüglicher
Stimme gegen mein eigenes besseres Selbst und damit gegen Gott verpflichtet,
aufhört das letzte entscheidende Wort zu führen, sobald eine äußere Autorität
wir meine Pflichten auflegt, so ist das Motiv meines pflichtmäßigen Handelns
nur noch Furcht vor einem starkem, nicht mehr Glaube an ein höheres We¬
sen. Es mag klug und weise sein, wenn man aus Furcht vor den Höllcn-
stwfen dies oder jenes unterläßt, aber von Sittlichkeit ist dabei keine Rede
wehr, sobald man das zu Unterlassende nicht innerlich als ein Unrecht em-
pfindet.
Die echten Supranaturalisten — d. h. die an ein ewiges Natur- und
Sittengesetz nicht glauben — haben sich, wenn sie consequent waren, auch stets
Wit gründlicher Verachtung über die Wissenschaft und über die Sittlichkeit ans-
Kesprochen. Freilich ist diese Consequenz in unsern Tagen selten, und das
'se immer noch ein Trost: denn ein Mangel an Logik und Charakter ist noch
erträglicher als eine völlige Verderbniss des Geistes und des Herzens.
Um nun sogleich den Grundirrthum zu bezeichnen, in welchen der histo¬
rische Nationalismus im Gegensatz zum begrifflichen verfiel, nehmen wir seine
Auffassung der Geschichte zur Hand. In der richtigen Ueberzeugung von der
Ewigkeit und Unveränderlichkeit des objectiven Dcnkgcsetzes war er leicht ge¬
zeigt, den Wandel zu vergessen, dem das subjective Denken ausgesetzt ist.
>>ndem es ihm zunächst darauf ankam, in Bezug auf das Christenthum die
Einheit der Vernunft herzustellen. that er den christlichen Urkunden Gewalt
^U: er suchte in ihnen unsere eigne Empsindungs- und Anschauungsweise wieder¬
zufinden. Es sind hier wirklich sehr arge Mißverständnisse vorgekommen, aber
einmal trifft der Vorwurf nicht den gesammten Rationalismus. Man darf
ö' B. nicht Paulus mit Kant verwechseln. Paulus interpretirte im baaren
^use die von der Bibel berichteten Wunder und die unserm Gefühl wider-
strebenden Sittensprüche so, daß die Wunder wegfielen und daß die Sitten¬
sprüche etwas ganz Argloses sagen sollten, und kam in diesem Bemühen nicht
selten auf Trugschlüsse, die jedes Kind widerlegen kann. Kant dagegen be¬
hauptete nur, daß von der Bibel nur dasjenige verbindlich sein könne, was
Maximen für unser Handeln enthielte, und zwar solche, die unserm Gewissen
entsprächen. Er prüfte die Offenbarung an der Vernunft, und ohne weiter
über den Ursprung derselben zu grübeln, ließ er nur dasjenige gelten, was
durch die Vernunft bestätigt wurde.
Sodann wird die Haltung des historischen Nationalismus, die freilich
wie alles Justemilieu eine sehr undankbare war, durch seine zeitlichen Voraus¬
setzungen gerechtfertigt. Auf der einen Seite trat ihm die Lutherische Ortho¬
doxie entgegen, die mit der aufkeimenden Bildung ungefähr so viel Zusammen¬
hang hatte als der Buddhismus oder sonst ein ausländisches Religionssystem,
auf der andern Seite der französische Deismus (Voltaire), der sich zwar durch
den Glauben an Gott und an die Tugend sehr wesentlich von den Materia¬
listen jener Zeit unterschied, der aber in seinem Haß gegen das Christenthum
ebenso weit ging als diese. Freilich hatten die Franzosen unter dem Joch
der Jesuiten schwer gelitten, aber der Fanatismus, mit dem Voltaire und seine
Anhänger das Leides 1'Iutame! d. h. zerstört das Christenthum! wiederhol¬
ten, war doch nicht blos eine Versündigung an dem Fortschritt der Mensch¬
heit, sondern auch ein rasender historischer Irrthum. Voltaire besaß einen
außerordentlichen Scharfsinn, alles aufzuspüren, was die Geschichte des Christen¬
thums Häßliches und Lächerliches enthält, und einen ebenso außerordentlichen
Witz, diese Entdeckungen geltend zu machen, aber damit brachte er doch nur
eine schmähliche Caricatur des Christenthums zu Stande, und vergaß, daß
seine eigne Naturreligion, so farblos sie aussah, zum Theil ihr Bestes eben
den Einflüssen des so sehr geschmähten Christenthums verdankte.
Die deutschen Rationalisten gingen von der ganz richtigen Voraussetzung
aus, daß ein religiöser Fortschritt nur möglich sei, wenn man an das Be¬
stehende d. h. an den Glauben des Volks anknüpfe. Aber sie handelten zu¬
gleich im guten Gewissen; sie waren der festen Ueberzeugung, daß ihre Aus¬
legung des Christenthums die richtige sei. daß sie den Kern der Sache träfe.
Und hier mag man noch so stark ihre Irrthümer hervorheben, man mag z. B-
die symbolische Auslegung, die Kant von der Messiaslehre gibt, noch so be¬
fremdlich finden: sie enthält doch in der That die Hauptpunkte derselben, und
je -!und. irgend el« beliebiges anderes Religionssystem ähnlich auszulegen,
Würve schmählich mißlingen. Außerdem konnten sich die deutschen Theologen
auf die bessern ihrer Vorgänger selbst unter den Kirchenvätern berufen, bei
denen das creüo eMa adsurclum nur als Ausnahme vorkam; die sich vielmehr
ernstlich bemühten, die Dogmatik 'nach dem Maßstab ihrer Vernunft, so reif
"der unreif er war, auszulegen.
Will man zugleich gegen den Rationalismus und seine Gegner gerecht
sein, so muß man erwägen, daß er als historische Erscheinung nicht blos eine
theologische Form, sondern ein Denk- und Empsindungssystem enthält, welches
sich auf alle Kräfte der Seele, Verstand, Gefühl, Wille, Phantasie, gleichmäßig
^streckt, die einen mehr oder minder befriedigt und daher bei ihnen theils
ein freudiges Entgegenkommen, theils eine heftige Reaction hervorrief. Vor
dem Richterstuhl der theoretischen und praktischen Vernunft wird er den gün¬
stigsten Erfolg haben, dagegen das Gefühlsleben wenig in Anspruch nehmen
und der Phantasie sogar fortwährenden Anstoß geben. Gleichviel ob man
die Bedürfnisse, die er unbefriedigt läßt, für berechtigt hält oder nicht, sie sind
vorhanden und verlangen ihre Befriedigung mit der Gewalt einer Naturkraft.
Und grade die Religion ist dasjenige Gebiet, wo sich der Mensch mit seinen
Bedürfnissen nicht abweisen läßt. In der Wissenschaft und Kunst, im Recht med
un Stucitsleben erkennt er seine Grenzen an, in der Religion verlangt er das
Unbegrenzte. Eine Religionsform, die solchen Anliegen nur kalte Ablehnung
entgegensetzt, zeigt eben dadurch, daß sie einer wesentlichen Ergänzung bedarf,
wenn sie überhaupt fortdauern soll, und diese Probe hat auch der Rationa¬
lismus noch zu bestehn.
Die Feinde des Nationalismus, der von der Identität der Vernunft im Welt¬
ganzen ausgeht, sind in zwei entgegengesctztenlLagern zu suchen. Es sind dieSupra-
Uaturalisten und die Atheisten. Beide Parteien, so stark sie sich dem An¬
schein nach widersprechen, kommen doch in einem Hauptpunkt überein. Der
Supranaturalist. indem er die Ewigkeit und Ursprünglichkeit des Natur- und
des Sittengesetzes leugnet, macht dadurch das wirkliche Leben zu einem leeren,
'"haltlosen Traum, in dem das Licht der überirdischen Welt nur zuweilen blen¬
dend sich zeigt, wie das Leuchten eines fernen Gewitters. Die Welt ist ihm
Nur Erscheinung ohne ein Wesen, das zu ihr gehört; sie ist aus nichts ge¬
worden, sie fällt in nichts zurück, sie ist im Wesen nichts. Der Atheismus
Wid Materialismus kommt im Ganzen zu demselben Resultat: ihm ist zwar
die Erscheinungswelt als solche sammt ihren Gesetzen ewig, aber sie ist eben
"ur Erscheinung ohne Seele d. h. ein Räthsel ohne Sinn. Den Unterschied
wacht im Grunde nur die Stimmung; während der Supranaturalist in Seus-
und Wehklagen ausbricht über die Nichtigkeit dieser Welt, treibt der Atheist,
wenn er consequent ist, seinen Spott damit. Beiden tritt der Rationalismus
Mit dem ernsten puritanischen Bestreben, die Erscheinung überall an das
Rehen. den Geist an den Leib, Gott an die Welt, die Seele an ihre Be¬
stimmung anzuknüpfen, in gleicher Schärfe entgegen. Sehen wir nun, wie
weit ihm das auf den verschiednen Gebieten der Seele gelingt. Zuerst auf
dem Gebiet der reinen Vernunft.
Obgleich die Vernunft als universelle Macht auf die Stimmungen und
Leidenschaften, die immer individueller Natur sind, keinen unmittelbaren Ein¬
fluß auszuüben scheint, so gibt es doch Zeiten, wo auch sie sich zur Leiden¬
schaft steigert und die Führung der Geschichte übernimmt. Wenn auch Jahr¬
hunderte lang ihre Ansprüche so weit zurücktreten, daß sich der Menge ein
gewisser Haß der Vernunft bemächtigt, so wirkt sie doch im Stillen fort,^bis
in einer plötzlichen Explosion der Geist der Zeit seine Richtung verändert und
seine bisherige Form von sich abstreift. Wenn in einer solchen Umwälzungs¬
periode keine Hoffnung vorhanden ist. die Ansprüche der Vernunft innerhalb
der bestehenden Religion zu befriedigen, so wendet sie ihre zerstörende Kraft
gegen dieselbe, wie es zum Theil schon im Zeitalter Macchiavellis in Italien,
in viel höherm Grade durch-die Encyklopädisten in Frankreich geschah. Durch
die Reformation war nun in Deutschland der Weg gebahnt, innerhalb der
Theologie selbst den Bedenken der Vernunft Gehör zu verschaffen, und was
in der katholischen Kirche als Rebellion gegen das Christenthum aufgefaßt
wurde, als Christenpflicht, ja als Beruf des Gotteslehrers auszuüben.
Wenn auch Luther seinem Glaubenssystem nach nicht im Geringsten mit
dem modernen Nationalismus verwandt ist, so hat er ihn doch vorbereitet,
indem er, um eine Stütze gegen das Papstthum zu finden, der traditionellen,
d. h. wirklichen Kirche, das Bild einer idealen, ursprünglichen, entgegen¬
gesetzte und für die Rechtfertigung der letztern ausschließlich die heilige Schrift
gelten ließ. Daß zwischen dem Inhalt der Bibel und zwischen dem Inhalt
der Kirche, wie sie sich in der von ihm für kanonisch gehaltenen Zeit. d. h.
im vierten Jahrhundert sixirt hatte, ein sehr erheblicher Unterschied stattfand,
mochte er nicht zugeben, und wenn er den Gottesgelehrten wie den Laien die
Pflicht auferlegte, fleißig in der Bibel zu forschen, so war er fest überzeugt,
daß dadurch die Lehren des Katechismus nur immer tiefer begründet und be¬
festigt werden mühten. Doch konnte bald, auch bei der größten Hingebung
an die Kirche, die Wahrnehmung nicht ausbleiben, daß manche Punkte des
Bekenntnisses in der Bibel entweder gar nicht vorkämen, oder wenigstens so
unbestimmt ausgedrückt, daß erne andere Auslegung möglich sei. und so mußte
schon das Bedürfniß einer kirchlichen Vertiefung darauf führen, nach dem in¬
nern Zusammenhang der biblischen Geschichte zu forschen. mit'andern Worten
an sie den Maßstab der historischen Kritik zu legen.
Das Bedenkliche eines solchen Unternehmens hatten die Priester der alten
Kirche sehr wohl begriffen und den Laien das Lesen der heiligen Schrift ent¬
weder ganz untersagt, oder es wenigstens nur in der von der Kirche fest'
gestellten Auslegung erlaubt,
Wenn man im Anfang von der Ansicht ausging, die ganze Bibel sei
vom heiligen Geist dictirt. so mußte man doch bald einzelne, wenn auch nur
kleine Irrungen bemerken, die man unmöglich dem heiligen Geist zuschreiben,
deren Schuld man vielmehr dem irdischen Verstand des Schreibers aufbürden
wußte. Man mußte unterscheiden, was echt und was unecht war, d. h. was
wirklich vom heiligen Geist herrührte und was von dem Schreiber aus eignen
Kräften hinzugesetzt war. Auch dabei konnte man nicht stehn bleiben. Viele, ja
die meisten von den Geschichten, die in den Evangelien erzählt werden, rühren,
wenigstens der Form nach, von Augenzeugen her: hier hätte sich also der
heilige Geist eine unfruchtbare Mühe gegeben, wenn er dem Schreiber hätte
selbst dictiren sollen, was dieser mit eingesehn. Sobald man es aber nicht
wehr mit dem heiligen Geist zu thun hatte, mußte man die Glaubwürdig¬
keit der heiligen Schriftsteller, ihre Einsicht und ihr Verständniß ebenso prüfen
Wie bei einem weltlichen Chronisten: werden doch in der Bibel selbst den
wichste» Jüngern des Herrn zuweilen recht starke Vorwürfe gemacht. Wenn
wan also auch das Factum der Offenbarung als feststehend betrachtete, so
sah man sich doch genöthigt zu untersuchen, wie weit die Berichterstatter ge¬
eignet waren, diese Offenbarung zu fassen und wiederzugeben. Auch das war
noch nicht das Letzte. Denn man erinnerte sich, daß die Offenbarung in einer
bestimmten historischen Zeit vorgefallen war, die in intellectueller und sittlicher
Bildung noch keineswegs aus der Höhe der unsrigen stand, die im Gegentheil
>was in die ärgsten Vorurtheile verstrickt war. Wenn sich nun, fuhr man
weiter fort, Gott in seiner Offenbarung dieser Zeit verständlich machen wollte,
w mußte er sich in der Sprache derselben ausdrücken, mit andern Worten:
^ mußte an ihre Vorurtheile anknüpfen. Hier war nun ein breiter Spielraum
Kewvnnen für die Untersuchung, was von dem Inhalt der Offenbarung als
ewig und unabänderlich gemeint war, und was sich nur aus die Voraussetzungen
der damaligen Juden bezog. Hätte sich, dachte man im Stillen, Gott uns
offenbart, so würde er sich viel offner und unbefangner haben ausdrücken
können, während er unter diesen Umständen genöthigt war, sich der bildlichen
^ob symbolischen Redeweise zu bedienen. So ergänzte man denn die Lehren
Evangeliums nach dem Maß des gebildeten Bewußtseins unsrer Zeit —
^ob welches Maß hätte man auch sonst anwenden können?
Wenn diese Bemühungen mitunter einen fast komischen Eindruck machen,
^ kann man doch nicht leugnen, daß hier eine Logik der Thatsachen vorliegt,
aus der sich kein Glied wegbringen läßt. Nun war noch ein Schritt übrig,
der von Kant gethan wurde, mit einer Entschiedenheit, die nichts zu wünschen
übrigläßt: er ließ das Factum der Offenbarung dahingestellt sein, behauptete
^er. daß der Inhalt derselben in allen Theilen von der menschlichen Vernunft
geprüft, und daß erst nach dieser Prüfung festgestellt werden müsse, was davon
wirklich zur Religion gehöre und was nicht. Wenn nun die rechtgläubigen
Gegner des Rationalismus aus dieser Behauptung die letzte Consequenz zogen,
daß unter diesen Umständen die Offenbarung überhaupt etwas Ueberflüssiges
sei, so zuckte Kant die Achseln und hatte nichts dagegen einzuwenden.
Die größte Schwierigkeit bei dieser wohlmeinenden Auslegung, welche die
Identität der Vernunft durch die Uebereinstimmung der Bibel mit dem gegen¬
wärtigen gebildeten Bewußtsein nachweisen wollte, machten die zahlreichen
Wunder. Hier kam den Rationalisten der Umstand zu Hilfe, daß Christus
selbst auf die Wunder kein großes Gewicht legte, daß er vielmehr die Leute
tadelte, wenn sie nicht glaubten ohne Zeichen und Wunder zu sehen. In
der Zurückführung der Wunder aus Naturereignisse hat Paulus das Mögliche
geleistet, der z. B. das Wandeln Jesu auf dem Meer als ein Wandeln am
Meer interpretirte. Wenn Lavater diese Auslegung als dumm und frech be¬
zeichnete, so kann man ihm. von seinem Standpunkt aus. nicht Unrecht ge¬
ben. Andre gingen nicht so weit; sie betrachteten die damals geschehenen
Wunder als eine Accommodation an den Zeitgeist, gleichsam als einen Hokus¬
pokus, der dem rohen Volk der Hebräer vorgemacht werden mußte, um den
höhern Wahrheiten der Offenbarung Eingang zu verschaffen. Uns gegenüber,
setzten sie im Stillen hinzu, hätte Gott dergleichen nicht nöthig gehabt. Ueber¬
haupt mußte man bald zu der Untersuchung geführt werden, welche Beweiskraft
denn eigentlich in einem Wunder liegen kann? Wenn mal> uns vor unsern
Augen Holz in Eisen verwandelt oder einem Menschen den abgeschlagenen
Kopf wieder ansetzt, so wird man uns zwar dadurch, vorausgesetzt, daß keine
Taschenspielcrei obwaltet, überführen, daß unsre bisherige Auffassung des
Naturgesetzes auf schwachen Füßen steht; wenn man aber weiter gehn und uns
dadurch beweisen will, daß unsre Rechtsbegriffe irrig sind, daß was wir bisher für
böse gehalten gut sei oder umgekehrt, so werden wir diese Logik nicht gelten
lassen. Und dieser Nachweis ist doch bei einer Offenbarung die Hauptsache-
Nimmt man doch neben den göttlichen Wundern auch englische und teuflische an,
„von welchen aber, setzt Kant hinzu, die letztem eigentlich nur in Nachfrage kom¬
men, weil die guten Engel (ich weiß nicht warum) wenig oder gar nichts von
sich zu reden geben." ..Es mag sein, fährt er fort, daß die Person des Lehrers
der alleinigen für alle Welten giltigen Religion ein Geheimniß, daß seine
Erscheinung auf Erden so wie seine Entrückung von derselben, daß sein thatcn-
volles Leben und Leiden lauter Wunder, ja gar. daß die Geschichte, welche
die Erzählung aller jener Wunder beglaubigen soll, selbst auch ein Wunder (über¬
natürliche Offenbarung) sei. so können wir sie insgesammt auf ihrem Werth
beruhen lassen, ja auch die Hülle noch ehren, welche gedient hat. eine Lehre,
die unauslöschlich in jeder Ceele aufbehalten ist und keiner Wunder bedarf,
öffentlich in Gang zu bringen; wenn wir nur. den Gebrauch dieser historische"
Nachrichten betreffend, es nicht zum Religionsstück machen, daß das Wissen, Glau¬
ben und Bekennen derselben für sich etwas sei, wodurch wir uns Gott wohl¬
gefällig machen können." — „Was aber Wunder überhaupt betrifft, so findet
sich, daß vernünftige Menschen den Glauben an dieselben, dem sie gleichwol
nicht zu entsagen gemeint sind, doch niemals wollen praktisch aufkommen las¬
sen, welches so viel sagen will, als: sie glauben zwar, was die Theorie be¬
trifft, daß es dergleichen gebe, in Geschäften aber statuiren sie keine."
Untersuchen wir nun, in wie weit das Religionssystem des Nationalis¬
mus den Verstand befriedigen konnte, so werden wir die allgemeine Reaction
gegen die oft kindischen Auslegungen, welche Paulus versuchte, sehr begreif¬
lich finden. Anders verhält es sich mit Kant. Denn dieser suchte nur festzu¬
stellen, wie viel wir von Gott wissen können und wie viel uns für unsern
praktischen Gebrauch von ihm zu wissen nöthig sei; was jenseit dieser Grenze
^g, schob er als etwas, das man annehmen oder auch nicht annehmen könne, bei
Seite. Gegen diese Scheidung hätte der schlichte Verstand an sich nichts einzu¬
senden gehabt, wol aber empörte sich der speculative Geist, stolz auf seine
neuen Errungenschaften, gegen diese Resignation des Denkens, und Schelling
Und Hegel sagten von der überirdischen Welt eine große Menge von Dingen
aus. die sich mehr oder minder auf den Katechismus bezogen oder die sie
durch den Syllogismus festgestellt zu haben meinten. Da aber diese Fortschritte
der Speculation im Bewußtsein der Gegenwart nicht gehaftet haben, so dür¬
fen wir darüber wol zur Tagesordnung übergehn.
Was nun die von einer entgegengesetzten Seite angeregte Forderung be¬
trifft, man solle den Verstand überhaupt zum Schweigen bringen, wo es sich
n>n den Glauben handle, so können wir einen unverdächtigen Zeugen anfüh¬
rn, Gentz, der sich aus äußern und innern Gründen ernsthaft bemühte,
jener Forderung gerecht zu werden. Er schreibt 6. April 1817 an Adam
Müller: „Die Weltgesetze, werden Sie mir sagen, sind Offenbarungen Gottes,
denen die Vernunft sich unterwerfen muß. Ich frage daher: sind sie Ihnen
^on Gott unmittelbar geoffenbart worden? Antworten Sie: ja, so erwiedre
'H, ohne es weiter zu bezweifeln: desto besser für Sie! Mir wurde das Glück
^ehe zu Theil. Antworten Sie: nein! so ruht Ihre Ueberzeugung von jenen
Offenbarungen nur auf dem Glauben an das, was andern offenbart wurde,
^un. dieser Glaube fehlt mir ebenfalls." — „Um auch nur zu erkennen, daß
^ Gesetze gibt, die höher als alle Vernunft sind, muß ich schlechterdings ein
Medium haben, wodurch ich dies erkenne. Ist dies Medium die Vernunft,
f° tritt offenbar die Competenz der Vernunft wieder ein. Ist das Medium
"lebt die Vernunft, so muß ich wenigstens wissen, wo und was es ist. Er¬
lären Sie es mir, wie Sie wollen — mein erstes Bedürfniß wird immer
wieder das der Appellation an meine Vernunft sein; denn auf welchem an-
dem Wege soll ich mir sonst Rechenschaft geben, ob das Medium welches Sie
mir anzeigen, zulässig sei oder nicht?"
Wie nun durch äußere Motive von Männern mit starker Vernunft die An¬
sprüche der Vernunft bei Seite gestellt wurden, zeigt am deutlichsten ein Bries des¬
selben Gentz, der so kräftig die Sache der Vernunft in Glaubenssachen geführt, an
A. Müller 19. April 18is, als ihn das Attentat gegen Kotzebue in Angst gejagt
hatte. „Nie wird Religion wieder als Glaube hergestellt werden, wenn sie nicht
zuvor als Gesetz wieder hergestellt wird. Denn nur als Gesetz kann sie einen
Glauben des Gehorsams selbst in denjenigen begründen, die für den directen
Glauben unempfänglich waren oder geworden sind ... Ich weiß, daß keine
moralische und folglich auch keine politische Weltordnung bestehn kann, wenn
sich nicht Mittel finden, die Vernunft eines jeden zu bändigen, und wenn der
unselige Anspruch, vermöge dessen jeder seine eigne Vernunft als gesetzgebend
ansehen will, nicht aus der menschlichen Gesellschaft wieder zu verbannen ist
. . . Das Gesetz kann nur in der Religion zu finden sein . ., . Selbst hier
aber kann es keine feste Wurzel schlagen, wenn es nicht von einer fortdauern¬
den gesetzgebenden Macht regelmäßig verwaltet wird. Es muß folglich
eine Kirche bestehn, und in dieser Kirche muß Einheit und Unwandelbarkeit
in allem Wesentlichen das erste Princip sein. Sobald man einmal zugibt,
daß die Vernunft des Einzelnen in Sachen der Religion, nicht blos unter der
Hand rebelliren (welches sich nicht immer vermeiden läßt), sondern für sich
selbst und gar für andere gesetzgebend werden kann, muß das Nämliche auch
für alle Staatsverhältnisse gelten; und von dem Augenblick an Me die Gesell¬
schaft auseinander und alles sinkt in den wilden Naturzustand zurück. Kirche
und Staat dürfen immer nur sich selbst reformiren, d. h., jede wahre Reform
muß von den in beiden constituirten Autoritäten ausgehn. Sobald der Ein¬
zelne oder das sogenannte Volk in dies Geschäft eingreifen darf, ist keine
Rettung mehr. Der Protestantismus ist die erste, wahre und einzige Quelle
aller ungeheuern Uebel, unter welchen wir heute erliegen. Wäre er blos
räsonnirend geblieben, so hätte man ihn, da das Element desselben einmal tief
in der menschlichen Natur steckt, dulden müssen und können. Indem sich aber
die Regierungen bequemten, den Protestantismus als eine erlaubte religiöse
Form, als eine Gestalt des Christenthums, als ein Menschenrecht anzu¬
erkennen, mit ihm zu capituliren, ihm seine Stelle im Staat neben der eigent¬
lichen wahren Kirche, wol gar auf den Trümmern derselben anzuweisen, war
sofort die religiöse, moralische und politische Weltordnung aufgelöst. Was
wir erlebt haben, war nur eine nothwendige Folge und die natürliche Ent¬
wicklung jenes ersten Frevels. Die ganze französische Revolution und die noch
schlimmere, die Deutschland bevorsteht, sind aus derselben Quelle geflossen.
— Seine religiöse Ueberzeugung ist nicht im mindesten geändert, er hat nur
einen andern politischen Gesichtspunkt gewonnen; und von hier aus erkennt
er in der katholischen Kirche die einzige Bändigung der Revolution. So
dachte bald die Mehrzahl der deutschen Staatslenker, und man brachte Kotzebue
ein Todtenopfer, indem man die Vernunft in Banden schlug.
Der praktische Gesichtspunkt war für die Feinde des Rationalismus das
Entscheidende, und damit trafen sie den Kern der Sache, denn in der That
bezieht sich dieses Glaubenssystem weniger auf die theoretische als aus die
Praktische Vernunft, und seine Untersuchungen über die menschlichen Pflichten
sind ungleich bedeutender als seine Methaphysik.
Fast allen Religionen liegt die uralte Vorstellung zu Grunde, der Zorn
der Götter könne nur durch Opfer abgewandt werden. Am härtesten, wenn
auch nur symbolisch, war diese Lehre im Christenthum ausgesprochen: der
Mensch, ursprünglich nach Gottes Bild geschaffen, war durch eine geheimniß-
volle Schuld entartet, und nur das ungeheuerste Opfer, das Opfer seines ein-
gebomen Sohnes, der gewissermaßen als Repräsentant der ganzen Mensch¬
heit auftrat, konnte Gott versöhnen. Inwiefern nun diese stellvertretende
Buße den einzelnen Menschen zu Gute kam, darüber war die Kirche seit den
ältesten Zeiten getheilter Meinung, doch überwog in der Periode/ die der Re¬
formation vorherging, die Ansicht, daß man sich der göttlichen Begnadigung,
im Sacrament bestätigt, hauptsächlich durch gute Werke d. h. durch Opfer, im
Gehorsam gegen die unmittelbaren Diener Gottes gebracht, würdig machen
könne. Bei seiner entschiedenen Auflehnung gegen diese Diener Gottes ver¬
warf Luther diese Rechtfertigung durch gute Werke, und stellte statt dessen die
Rechtfertigung durch den Glauben fest. Diese Theorie spaltete sich im folgen¬
den Jahrhundert in zwei verschiedene Richtungen: die eigentliche Orthodoxie
suchte den Glauben in der unbedingten Annahme aller Punkte des Katechis¬
mus; dagegen verlangten die Pietisten eine inbrünstige Vertiefung in das
Leben Jesu, eine völlige Zerknirschung des Willens und das reuige Ersülltsein
Mit dem Bewußtsein der allgemeinen Sünde. Darin kamen sie überein, daß
seit dem Sündenfall der Mensch von Natur böse sei.
Gegen diese Ansicht wandte sich das Bewußtsein der Gebildeten, die na¬
mentlich seitdem Rousseau ihnen Muth gemacht, von der Ueberzeugung aus¬
lugen, daß Gott sich in der Natur offenbare, daß in der Natur alles gut sei,
s^glich auch der Mensch, so weit er der Natur folge. Wo denn doch das Böse
herkäme, darüber dachten sie entweder nicht nach, oder sie leugneten die Exi-
stenz des absolut Bösen überhaupt und ließen nur ein relativ Böses d. h. un¬
artiges, unvollkommnes gelten, welches sich im natürlichen Verlauf schon von
selbst corrigiren werde. Diese Lehre, die man wol als das eigentliche Kenn¬
zeichen des sogenannten Pantheismus auffassen kann, wurde in Deutschland
^u Dichtern und Philosophen wetteifernd verkündet, von niemand beredter
als von Goethe und Herder. Nach dieser Lehre war die Sehnsucht nach dem
Göttlichen nicht der Ausdruck einer innern Entzweiung, sondern das freudige
Erwarten eines letzten Schmucks, der zum ganzen Leben sich schicke.
Im harten Gegensatz gegen diese optimistische Ansicht begann der Philo¬
soph von Königsberg seine „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver¬
nunft" mit der Auseinandersetzung, daß dem Menschen ein radicales Böse bei'
wohne, und daß eben dies Gefühl ihn zu Gott treibe, daß er aber zugleich
durch das Gefühl des Erhabenen die Fähigkeit besitze, sich einen Gott, d. h>
ein Ideal zu schaffen, und daß dieser ewige Kampf zwischen dem Ideal des
Guten gegen die Existenz des Bösen, den Inhalt sowol der Geschichte als der
echten Religion ausmache. Die Rechtfertigung des Menschen geschehe durch
die unbedingte Unterwerfung seines Willens unter das Sittengesetz, das er
aber aus seinem eignen Innern schöpfe. Das'pflichtmäßige Handeln an sich
genüge noch nicht, wenn nicht das wahre Motiv, die pflichtmäßige Gesinnung,
hinzukäme, und die letztere sei nur da, wo sie sich im Handeln zeige. In der
Religion wie in der Philosophie habe der Mensch nichts Andres zu suchen,
als die Läuterung und Erhebung seines Gemüths zur Kraft der pflichtmäßigen
Gesinnung. Diese Lehre Kants wurde im Wesentlichen das Grundprincip
des Nationalismus.
Wenn Kant in der Annahme eines radicalen Bösen mit der Orthodoxie über¬
einstimmte, so war seine Ansicht von der Rechtfertigung der ihrigen entgegengesetzt-
Den Wortglaubcn stellte er nicht nur als etwas Gleichgiltiges, sondern als
etwas Schädliches dar, so weit er nicht zur sittlichen Gesinnung führte; nickt
die Gnade Gottes rief er an, sondern seine Gerechtigkeit, nicht aus der Schrift
leitete er den Inhalt des Rechts her, sondern aus dem Gewissen, und ließ die
Schrift nur gelten, insofern sie mit dem Gewissen übereinstimmte. — Noch
lebhafter bekämpfte er den Pietismus. Das Festhalten der Reue und Zer'
knirschung erschien ihm als etwas Schädliches und Verächtliches, und er ließ
das Gefühl der Reue nur als ein Uebergangsmoment gelten, in welchem si^
der Wille entschließt, sich unbedingt dem Gesetz zu unterwerfen. Ueber die
Versöhnung Gottes durch Stellvertretung vollends sprach er sich nur mit
kein Achselzucken aus.
Dabei darf man aber nicht übersehn, daß sein System dem herrschenden
Pantheismus, dem Glauben an die unbedingte Güte der Natur, ebenso ent¬
gegengesetzt war. Seine Anforderungen an den Willen waren ebenso streng
als die des Christenthums, und nicht blos Goethe und Herder sprachen sich zuweilen
sehr bitter darüber aus, sondern auch Jakobi, der zwar den Glauben an die all¬
gemeine Güte der menschlichen Natur nicht gelten ließ, wol aber für sa)
Seelen eine Ausnahmestellung in Anspruch nahm und sie von dem Joch des
setzes befreien wollte. Schiller, den die Kraft dieses strengen Gesetzes sehr anzog'
und der sich im Ganzen für Kant aussprach, milderte doch die Starrheit des
Gesetzes insofern, als er behauptete, dasselbe müsse nach der Wiedergeburt in
Fleisch und Blut übergehn und als Gesetz gar nicht mehr empfunden werden;
erst dann sei die Rechtfertigung der Natur vollzogen.
Noch gegen eine dritte Seite richtete sich Kants Polemik, gegen den Jllu-
nnnatismus, der von einem Zweckbegriff ausging, von dem Reich des Guten,
das auf Erden herzustellen sei: dieser Zweck müsse das herrschende Motiv
des menschlichen Handelns sein. Kant dagegen verwarf sowol die Träumerei
eines zu erwartenden Reichs des Guten, als auch die blos aus dem Zweck
hergeleiteten Maximen, und zeigte ganz richtig, daß es wieder der bekannte
Grundsatz der Jesuiten sei. Es ist eigen, daß derjenige Schüler Kants, der
den Begriff des kategorischen Imperativs auf die Spitze trieb, daß Fichte sich
u> seiner Gesinnung wieder den Illuminaten zuneigte. Freilich ist es schwer,
bei einem Pflichtsystem, welches von allen idealen Zwecken abstrahirt. die
Leerheit und Einförmigkeit zu vermeiden, und so wird auch der strengste und
eifrigste Philosoph dazu getrieben werden, von der Resignation in den uner-
^rschlichen Willen Gottes abzugehn und sich einen Plan der Weltregierung zu
denken, dem der Einzelne, wenn auch mit seinen schwachen Kräften, zu Hilfe
^ kommen habe.
Diese Abstraction von allen idealen Zwecken, diese Resignation in die
lehr Gebote, wie sehr man sie auch erweitern mag, bleibt wol immer die
schwächste Seite im Kantischen Moralsystem und im Rationalismus überhaupt.
^ ist schon bedenklich für das Verständniß der Geschichte, daß alles, oder
W alles, was Großes in derselben geschehen, außerhalb dieses Moralsystems
Welle werden muß, weil in demselben die weltbewegenden Mächte nicht in
Rechnung gezogen werden. In der bloßen Beobachtung des Gesetzes liegt
lvieder der Keim zu einem neuen Pharisäerthum, und während der heroischen
^äst des Einzelnen sehr viel zugemuthet wird, stellt man ihm nichts Andres
'N Aussicht als die Zufriedenheit des Gewissens, d. h. die an sich leere
Übereinstimmung mit sich selbst. Fichte hat allerdings versucht, die Seligkeit
"es wahrhaft Gläubigen, d. h. dessen, der sein Leben an eine Idee setzt, zu
schildern, aber mit dieser Idee ist er nicht blos über den Kantischen Pflichtbegriff
^"ausgetreten, sondern mit sich selbst in Widerspruch gerathen. Wie Segens-
^ich übrigens Kant durch seine Bekämpfung des moralischen Atomismus auf
^u Zeitalter eingewirkt habe, ist vielfach auseinandergesetzt worden, am
^sten von Schiller in seiner Abhandlung über Anmuth und Würde.
^ Am deutlichsten zeigt sich die Einseitigkeit des Systems, wenn man es
seiner Beziehung auf das Gefühlsleben betrachtet; von dieser Seite sind
^ auch die meisten Widersacher erstanden. Historisch genommen kann man
Strenge des Philosophen gegen die Überschreitungen des Gefühlslebens
vollkommen begreifen, denn der Pietismus hatte das ganze Zeitalter vergiftet und
der bei weitem größere Theil der Literatur war empfindsam, weibisch und wei¬
nerlich. Am deutlichsten zeigt uns das der Einblick in die massenhaften Correspon-
denzen jener Tage, wo die Seele in einer Weise verhätschelt wird, die alle Kraft in
ihr erstickt. Aber indem Kant das Uebermaß der Empfindung bekämpfte, trug
er dem tiefen Bedürfniß des Herzens zu wenig Rechnung. Das religiöse Ge¬
fühlsleben hat seinen kräftigsten Ausdruck im Gebet, und die Art. wie sich
Kant in seiner Religionslehre über das Gebet ausspricht, ist von einer schnei¬
denden Härte. Gegen seine Gründe läßt sich nichts einwenden, aber er ver-
kenntden tiefern Sinn, der im Gebet liegt, und verschmäht es im Stolz seiner
starren Gesetzlichkeit, dieser Tiefe einen andern angemessenen Ausdruck zu geben.
Von dieser Seite haben zuerst Jakobi. dann aber namentlich Schleiermacher
mit Erfolg gegen ihn angekämpft, und wenn auch bei dem letztern (wir meinen
hauptsächlich seine Jugendschriften) die zerflossene, blos musikalische Sprache,
die Weichheit und selbst Gegcnstandlosigkeit der Empfindungen denjenigen ab¬
stößt, der an den kräftigen Knochenbau des Kantischen Stils gewöhnt ist,
so hat er doch in der Religion ein Gebiet entdeckt, welches das Kantische
System, welches der Rationalismus überhaupt nicht beachtet. Daß Schleier¬
macher auf diesem Gebiet alle Räthsel gelöst, alle Fragen beantwortet habe,
wird schwer zu behaupten sein, aber er hat die Aufmerksamkeit darauf hin¬
gelenkt, und das ist ein Verdienst, das später seine Früchte tragen wird. Fichte
gab sich die Mühe, auch dem Gefühl eine Befriedigung zu verschaffen, aber
er fand sie nur in der Form des Enthusiasmus, und dem größten Philosophen
wird es nicht gelingen, den Enthusiasmus als die bleibende Stimmung des
Menschen zu fixiren. Von den spätern speculativen Philosophen, von Schel-
ling und Hegel, ist nach dieser Seite hin wenig geleistet; im Gegentheil haben
sie durch ihre Bemühung, jede Lebensform als gleichberechtigt zu begreisen, die
Kraft des Gefühls in einer sehr bedenklichen Weise abgeschwächt.
Es ist charakteristisch für Kants Religion und, setzen wir hinzu, es liegt
im Wesen des Rationalismus, der Sektenbildung abhold zu sein. Während
Schleiermacher von einer stillen Gemeinde ausging und sich im Grunde nach
einer stillen Gemeinde zurücksehnte, war für Kant, so eifrig er das Pfaffe"'
thun bekämpfte, die Organisation einer Kirche, die als Reich Gottes allmälig
die ganze Menschheit einschließen sollte, das Hauptaugenmerk, wie er denn
überhaupt nicht darauf ausging das Individuum frei zu lassen, sondern es in
Zucht zu nehmen. Ueberhaupt ist der Rationalismus zwar ein Compronnß
streitender Gegensätze und deshalb zu einem energischen Auftreten nicht recht
geeignet, aber ihm liegt doch vielmehr daran was er vorbereitet, wirkt und
schafft, als was er unmittelbar gibt.et
Wenn das individuelle Gefühlsleben im Gebet seinen Mittelpunktfind
so drückt sich die Gemeinsamkeit der Kirche hauptsächlich im Cultus aus. Sich
des Cultus anzunehmen wäre seiner allgemeinen Richtung nach die Haupt¬
aufgabe des Rationalismus gewesen, aber hier konnte er grade am wenigsten
leisten, weil er über die Phantasie keine Macht hatte.
Dieser Uebelstand liegt aber nicht ausschließlich im Rationalismus, die
gesammte protestantische Kirche hat darunter zu leiden, und vielleicht in der
altpuritanischen Form noch mehr als in dem modernen Kirchenwesen, das den
Sinnen doch einige Concessionen macht. Wenn in sittlicher Beziehung, in der
Jneinanderbildung des Heiligen und des Weltlichen, die Reformation durchaus
°M segenbringendes Ereigniß war. so ist nicht zu leugnen, daß sie dafür ästhe¬
tisch manche Opfer gebracht hat. In sittlicher Beziehung hat sie die Tren¬
nung zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Recht aufgehoben, sie hat
die Grundlage alles sittlichen Lebens, die Familie, auch dem Priesterstand
geöffnet, sie hat sich in den Staat auf eine Weise eingelebt, daß eine Tren¬
nung, wie man sie zuweilen aus doctrinären Gründen anstrebt, schwer, ja
Unmöglich fallen möchte. Aber in anderm Sinn ist die Kirche dem Volk
wieder fremder geworden, hauptsächlich durch die Aufhebung der Beichte und
der Messe, durch die Einschränkung der Festtage und der Sacramente. Die
Neffe öffnete dem individuellen Bedürfniß täglich die Kirche, der Einzelne ging
bwein. so oft er ein Bedürfniß fühlte. Bei uns stellt man sich dem Herrn
"ur im Sonntagsputz dar. man ist in der Kirche nicht mehr zu Hause, sondern
stritt sie nur in erhöhter Stimmung. In der Ohrenbeichte trug man die
Oheime Geschichte seines Herzens dem Vertreter Gottes vor und gab ihr da-
^es eine nicht geringe Wichtigkeit; bei uns hat die Beichte einen ganz all-
^Meinen abstracten Charakter: in der Vorbereitung auf das Versöhnungsmahl
^kennt man seine Sündhaftigkeit im Allgemeinen, wobei sich im Grunde nicht
Bestimmtes denken läßt/
In der alten Kirche wurde fast jede wichtige Handlung des Lebens zur
^else des Sacraments erhoben, das Wunder umgab den Menschen täglich,
^ ^ar zu Hause in dieser Wunderwelt. Die Reformation hat nur eins von
°^sen Sacramenten stehn lassen, an dem man sich wirklich betheiligt, das
^endmahl. und dieses ist so isolirt und der Lutherische Katechismus hat es
l° unbestimmt gelassen, wo eigentlich das Wunder anfängt, daß es schwer fällt,
^ in die richtige Stimmung zu versetzen. Der consequcntere Calvinismus,
^ in dem Abendmahl nur ein Erinnerungsfest feiert und das Wunder ganz
^ 'ugt. ist Beziehung der erste Schritt zur rationalistischen Auffassung
Religion. Und wie mit den Sacramenten, so ist es auch mit den Festen;
^ ^ Katholiken, namentlich in den südlichen Ländern, werden die Feste zur
z^°l)üben, bei uns weiß man sich grade ihrer Seltenheit wegen nicht darein
""den, und wo man sich bemüht, einen größern Ernst hineinzulegen, wie
durch die strenge Sonntagsfeier in Schottland und Amerika, geschieht es auf
Kosten der Gemüthlichkeit.
Diesen Mangel an Zusammenhang im protestantischen Cultus und die
Uebelstände, die daraus hervorgehn, hat schon Goethe ganz richtig charakten-
sirt, dem man gewiß eine übertriebene Vorliebe sür den Katholicismus nicht
zuschreiben wird. Die höchst merkwürdige Stelle steht in Wahrheit und Dich'
tung im sechsten Buch, Seite 89 und folgende. Sie ist nur wenig Jahre nach
dem Uebertritt Schlegels geschrieben, der Goethe im Anfang so sehr erzürnt hatte.
Goethe schildert die Sache ganz objectiv und man kann gegen seine Gründe
nichts einwenden, es ist nur so viel Ironie darin, als sich mit der Humorist«'
schen Ausfassung des Lebens verträgt, welche dieses Buch überhaupt charaktew
Sire. Goethe sucht sich deutlich zu machen, was die Romantiker eigentlich im
Katholicismus anzieht, und er. der keins von allen Bekenntnissen unterschrieben
hätte, die man ihm vorlegte, findet die vollkommen sachgemäße Erklärung.
Der Unterschied liegt nicht blos in der Größe und Zahl der Feste und
Sacramente, sondern auch in der Art und Weise ihrer Feier. In den LäN'
dern, wo das katholische Leben wirklich blüht, namentlich im Süden, haben
die Feste einen überwiegend frohen, ja man möchte sagen lustigen Charakter,
sie erinnern an Correggios Madonnenbilder aus der spätern Periode, aus
denen ein so übermüthiges, ausgelassenes Leben tobt, daß man in den Jubel
mit einstimmen möchte. Der protestantische Gottesdienst beschränkt sich f°'
ausschließlich auf die Predigt, bei der man doch nur Zuhörer ist. und die Lieder,
in denen die Gemeinde sich ausspricht, haben durchweg einen ernsten, ja i"'
weilen finstern Charakter. Die Freude des Festtags fängt erst außerhalb der
Kirche an. in der Schenke. Man kann sagen, daß fast jede Bewegung
den Katholiken einen sinnlich verständlichen Charakter trägt, bei den Prote'
standen eine Abstraction voraussetzt. Der Katholik wirst sich vor Gott oder
seinen Heiligen nieder, was das heißen soll versteht jedermann; der Protestan
dagegen, der die Pflicht hat, sich beim Eintritt in die Kirche im Gebet z"
sammeln, drückt diese Sammlung dadurch aus, daß er in den Hut sieht. ^
Symbolik dieses Verfahrens ist nur durch die Abstraction zu verstehn. An«?
der bilderstürmende Geist der Reformation hat zu der abfiracten Form de
Gottesdienstes viel beigetragen, denn wenn wir auch froh sein können, d>
greulichen Märtyrerbilder los zu sein, so vermissen wir doch schmerzlich
Mutter mit dem Kind, die den gemüthlichen Zusammenhang zwischen
und den Menschen viel lebhafter versinnlicht als das Bild des Gekreuzigte"'
das wir ausschließlich haben stehn lassen.
Alle diese Veränderungen hat die Reformation aus sehr wohl erwogen
Gründen eingeführt, und was der ästhetische Sinn verlor, hat der sittliche M
gewonnen. Aber ein Verlust bleibt es doch, und am auffallendsten zeigte er M
sobald der Rationalismus den dünnen Schleier wegzog, den die ältere Theo¬
logie über den, im Grunde nüchternen.Cultus ausgebreitet hatte.
Diese Entdeckung mußte namentlich in einer Zeit Anstoß geben, wo die
Phantasie nach einer freiern Bewegung strebte, wo die bildende Kunst auf¬
blühte und mit ihr im Bunde das dichterische Vermögen auf plastische Gestal¬
ten ausging. In der Musik hatte das protestantische Bewußtsein sich einen
ebenbürtigen Ausdruck gegeben, Sebastian Bach und Händel hatten das Ge¬
fühl in seinen Tiefen ausgewühlt; mit dem Wort wollte es nicht gelingen, und
so sehr sich Klopstock bemühte, die alte rechtgläubige Dogmatik zu Ehren zu
Gingen, er war doch zu rationalistisch gebildet, um das Göttliche in wirklichen
Gestalten auszuprägen. Die erste feurige Kriegserklärung gegen den bestehen¬
den Cultus war Winckelmanns Kunstgeschichte. Goethe hat sehr richtig bemerkt,
dnß Winckelmann nur darum.Katholik werden konnte, weil er eigentlich ein
Heide war, es war der heidnische Sinn für plastische Schönheit, der an den
Zackten Wänden und der erbaulichen Predigt Anstoß nahm. In diesem Zu¬
sammenhang betrachtet erscheinen Schillers Götter Grichenlcmds nicht mehr
^le ein vereinzelter Stoßseufzer; die Phantasie verlangte nach Nahrung und
suchte sie vergebens bei der Lutherischen Orthodoxie, vergebens beim Natio¬
nalismus. In derselben Zeit beginnt die Reihe der Wunderthäter und Mag-
Netiseurs; man war es müde, die geheimnißvolle Zauberwelt in der abge¬
schlossenen Vergangenheit zu suchen, man wollte sie im Leben gegenwärtig
^aben. Lavater durchstöberte das gesammte Leben nach Zeichen und Wundern,
alten Mystiker, namentlich Jacob Böhme, wurden wieder vorgesucht, wer
^Mittel besaß, pilgerte nach Italien, und wenn man mit der Antike fertig
^ar, so kamen die Madonnen an die Reihe.
Schillers vorübergehender Einfall, der aber, wie wir gezeigt, aus einem
^gemeinen Bedürfniß der Zeit entsprang, wurde durch Friedrich Schlegel zu
°wer Doctrin abgerundet: die Dichtkunst oder die Kunst im Allgemeinen könne
^'se dann wieder aufblühn, wenn die> Religion wieder mit einer umfäng¬
lichen Mythologie und Symbolik ausgestattet werde. Wie man nun diese
Ethologie zu Stande bringen könne, darüber waren die Meinungen getheilt;
^ge traten zum Katholicismus über, namentlich unter den Malern, der
)"en eine ausgedehnte, wenn auch nicht sehr plastische Mythologie darbot;
^dre suchten Hilfe beim transscendentalen Idealismus oder bei der Mystik.
schaffen wurde auf diese Weise nichts, aber durch die Ausdauer und den
^Usaminenhang in dem Ausdruck der Ideen entstand ein vollständiger Um-
det?""? " ^ öffentlichen Meinung, und wer sich zu den wahrhaft Gebil-
zählen wollte, mußte den Nationalismus als eine ganz prosaische, much-
^ und unbefriedigende Glaubensform beachten.
Die Nachwirkungen dieser Stimmung bestehen noch heute fort, obgleich wir
dem Princip! der Kunst, die nur sich selbst zum Zweck hat, fängst entwand'
sen sind. Eben darum ist es nothwendig, darauf aufmerksam zu machen,
daß trotz aller Uebelstände, die ihm ankleben, in seinem innersten sittlichen
Kern der Rationalismus ebenso im Recht ist gegen seine Gegner, die Ortho¬
doxen und die Pantheisten, als die Reformation im Recht ist gegen die alte
Kirchenform. Es ist nur eine Vernunft in der Welt, und das Wichtigste in
der Religion ist ihr sittlicher Geist: dieses Glaubensbekenntniß des Rationalis¬
mus ist auch das Prinzip der neuen Zeit.
Zwar wissen wir sehr wohl, daß man durch ein bloßes Aussprechen der
Bedürfnisse noch nichts schafft, daß die Einsicht in das Wesen der Kirche noch
nicht die Fähigkeit gibt, die Kirche zu reformiren: wol aber ist es zur Vorbe¬
reitung einer Reformation, die nur von der Kirche selbst ausgehen kann, wich¬
tig, die Ansprüche zu formuliren, die das Lcuenthum ihr entgegenzubringen
berechtigt ist.
Erstens: Die Kirche muß neben sich und in sich die Wissenschaft ertragen
können; kann sie das nicht, so setzt sie sich einem Kampf aus, der endlich
ihrem Verderben sührt.
Zweitens: die Kirche muß alle Anforderungen des sittlichen Geistes, ^
weit sie sich auf ihr Gebiet beziehn, befriedigen, sie darf keiner Anforderung
des sittlichen Geistes, auch außerhalb ihres Gebiets, widersprechen. Mit der
nothwendigen Tendenz, als Reich Gottes die allgemeine Kirche zu werdem nu>V
sie die Fähigkeit verbinden, auf dem Boden des Rechts alle andern Glauben^
formen, auch die sie innerlich verdammt, neben sich zu ertragen.
Drittens: wenn es auch eine unsinnige Anforderung wäre!, für jedes Gefuy
in ihr Befriedigung zu verlangen, so muß sie doch wenigstens dem individuellen
Gefühl die Möglichkeit geben, sich geltend zu machen/ Wir sind der festen Ueber¬
zeugung, daß der Protestantismus, ohne von seinem Gehalt etwas einzubüßen-
eine Reform des Cultus zuläßt, welche nicht blos eine größere, sondern auch
eine gemüthlichere Theilnahme der Einzelnen ermöglicht. Wenn man diesen
sichtspunkt festhält, so wird man auch die schwierigste Frage übet den innige^
Zusammenhang der Kirche mit der Kunst nicht für unlösbar halten.n
Es gibt kein kräftigeres. kein tiefer die Seele ergreifendes Mittel, de
innern Zusammenhang der Seele darzustellen, als die Kirche. Daß dieser A
sammenhang in der Gegenwart äußerst wenig hervortritt, daran hat ste>^
die materialistische Richtung unsers Zeitalters einige Schuld, aber bei weüe"'
nicht alle. Freilich war es früher eine bei weitem gemüthlichere Einrichtung, ^
die Kirchhöfe zugleich die Friedhöfe waren und daß man sich bei jedem ^
tritt in die Kirche der lieben Todten erinnerte; freilich hat der sanitätische
sichtspunkt, der beide voneinander trennt, dieser Gemüthlichkeit vielen Ubbo^
gethan. Aber solche Außendinge sind doch nicht die Hauptsache. Die Ha»p'
schuld der Trennung liegt,in dem neumodischen, künstlich hervorgerufenen Supra-
naturalismus. welcher dem Verstand, dem Gefühl und den mitten der Zeit mit
Anforderungen entgegentritt, die das Leben des Jahrhunderts nicht mehr er¬
tragen kann. Den Geist der Kirche mit dem Geist des Lebens zu versöhnen,
ist die große Aufgabe unsrer Tage, und der Nationalismus, der dieses Ziel
wenigstens ernsthaft im Auge hielt, soll in Ehren bleiben. auch wenn er es
''"un^'iT' !'5>>)ick^^'' 1 F)0!l No^kleb'"'' kli! ^lisij>-z I'-öd!'^/t n,^^
Als der Friede von Villafranca die Welt überraschte, klagte die allgemeine
stimme den Kaiser Napoleon der frevelhaftesten Inconsequenz an. Die Be-
freiung Italiens, welche mit so großen Worten angekündigt war. wurde nicht
Zeicht, Oestreich verlor zwar eine reiche Provinz, behielt aber seine offensive
Stellung und blieb italienische Macht, die Fürsten, welche in seiner Armee
^gen ihre Völker gefochten, sollten ihre Throne wieder einnehmen. Cavour,
Mann der nationalen Politik, trat zurück. In der That es schien ein ver-
^Sees Aufgeben eines Werkes, das. wie der Kaiser eingestehen mußte, weit
^er die Kräfte selbst des modernen französischen Despotismus ging. Es
^im. sagen wir, denn wir glauben, daß das beabsichtigte Ziel auf dem jetzt
Angeschlagenen Wege sichrer erreicht werden wird, als je durch die Fortsetzung
Krieges geschehen konnte, die italienischen Verhältnisse werden weiter kom¬
men, als wenn die französische Armee bis zur Adria vorgedrungen wäre. Na¬
poleon führte seinen Plan bis zu dem Punkt, wo das Interesse seiner eig¬
nen Stellung ihm Halt geboten, und überließ dann den rollenden Fels seiner
°'gelten Schwerkraft, was er nicht selbst ausgeführt, wird die Revolution voll¬
enden.,
Vergegenwärtigen wir uns seine Lage und die Widersprüche der begon¬
nenen Politik, welche mit jedem Schritt vorwärts für ihn unlösbarer werden
Mußten.
Als im vorigen Sommer Graf Cavour dem Kaiser in Plombieres seine
-Pläne vorlegte und derselbe darauf einging, konnte er sich die großen schole-
^Kleider nicht verbergen, welche ihm aus einer solchen Politik erwachsen muß-
In Frankreich konnte bei aller Sympathie der liberalen Partei für Ita-
lien ein kostspieliger, blutiger und doch gewinnloser Krieg nicht populär sein,
und mächtiger als alle liberalen Sympathien waren die Antipathien der kle¬
rikalen Partei, welche Italien in seiner gegenwärtigen Läge als ihren verletz¬
lichsten Punkt betrachtet. Die größte Schwierigkeit aber blieb, den Krieg zu
localisiren und Europa der Niederlage Oestreichs, auf die es vol allem an¬
kam, ruhig zusehen zu lassen. Es lag keine Verletzung des Völkerrechts vor,
wie 1853 der Einmarsch der Russen in die Donaufürstenthümer, an die sich
eine Vertheidigung des Gleichgewichts hätte knüpfen lassen, die Aufgabe war
also zunächst, eine Bewegung hervorzurufen,!, welche Oestreich verleitete, sich for
nett ins Unrecht zu setzen. Man weiß, wie verhängnißvoll dies gelang; das-
Ultimatum befreite den Kaiser aus der peinlichsten Lage, der officielle Vor¬
wand zum Krieg war gefunden, die Proclamation vom 3. Mai ward er¬
lassen, die Befreiung Italiens verkündigt, nacheinander schlossen sich Tos-
cana, Parma, Modena und die Legationen der Bewegung an, siegreich dran¬
gen die Verbündeten bis zum Mincio vor. )!""'
In welcher Lage befand sich Napoleon nach der Schlacht von Solferino?
Er hatte die Oestreicher geschlagen, aber mit großen Opfern und in einer
Weise, daß eine Niederlage für ihn keineswegs in das Gebiet der Unmög¬
lichkeiten gehörte. Sein Heer hatte stark von Krankheiten gelitten, in der
heißesten Jahreszeit sollte es eine Belagerung in den Sümpfen Mantuas be¬
ginnen, dazu mußten nothwendig noch Truppen aus Frankreich gezogen wer¬
den und der Essectivbestand der Rheinarmee selbst war nur 90,000 Mann.
Es hätte also eine starke Aushebung stattfinden müssen, welche gr»ße Unzu¬
friedenheit erregt haben würde. In demselben Augenblick hatte Preußen seine
Mobilmachung vollendet, forderte den Oberbefehl über ein Observations-
corps im Westen und der Kaiser konnte sich nicht darüber täuschen, daß der
Fortgang des Krieges die deutschen Heere unvermeidlich gegen ihn gewandt
hätte; dem doppelten Kampf in Italien und am Rhein war er nicht ge¬
wachsen, die Nothwendigkeit dieses doppelten Krieges und das Unvermögen
ihn aufzunehmen hat er selbst in seiner Rede und im Moniteurartikel vom
9. September offen zugegeben. Die ungarischen Revolutionäre drängten und
forderten Erfüllung der gegebenen Zusagen; ließ Napoleon ihnen freies Spiel,
so konnte Oestreich in Stücke gehen, aber die losgelassenen Wasser konnten
auch den Mann des Staatsstreiches mit wegschwemmen. Endlich steigerten sich
die Schwierigkeiten mit Rom täglich, die französischen Waffen mußten dort
beschützen, was sie wenige Meilen nördlich vernichten halfen. Wie wenn sich
die Ereignisse von Perugia in Rom wiederholten, sollte der General Goyos>
die Rolle des Obersten Schmidt spielen? Napoleons scharfer Blick übersah
alles dies vollkommen, nur ein plötzlicher Friede konnte aus diesem Labyrinth
führen, die Schwierigkeit war, den Kaiser von Oestreich dazu zu vermögen.
Daß ihm dies gelang bleibt ein Meisterstück seiner Macchiavellistischcn Politik.
Die richtige Schätzung seiner Gegner ist eine der bedeutendsten Eigenschaften
dieses merkwürdigen Mannes; so wie er seinen Kriegsplan darauf baute, daß
man in der Hofburg nicht nachgeben werde, während ein weises Einlenken
'hin das Schwert aus der Hand gewunden hätte, so war sein Friedensplan
darauf berechnet, daß die Hartnäckigkeit nach den ersten Niederlagen in Klein¬
muth umschlagen, und der Haß gegen Frankreich der Eifersucht gegen Preußen
weichen werde, welches im Begriff stand eine selbständigere Stellung einzu¬
nehmen. Wir wollen hier auf das Jmbroglio des Vermittlungsprojectes nicht
wieder eingehen, genug. Oestreich, das gleichzeitig in Berlin erklären ließ, es
werde nicht weichen und wanken von seinen heiligen Rechten, schloß einen
Frieden, der ihm eine reiche Provinz nahm.
Man wird sich nicht darüber wundern dürfen, daß dieses Werk der Noth
und List viele Fragen ungelöst ließ, sondern wird zugeben, daß der Moniteur
Recht hatte, wenn er später behauptete, der Kaiser habe durch den Frieden von
Lillafranca ebenso viel und vielleicht mehr erhalten als durch die Waffen.
Eine nähere Betrachtung des Inhaltes und der Consequenzen jener Stipu-
lation wird dies beweisen helfen.
Der einfachste Punkt ist die Abtretung der Lombardei, die Grenzregulirung
und Uebernahme der Schuldenquote mögen den Commissarien die größten
Schwierigkeiten bereitet haben, die Sache an sich ist klar. Oestreich tritt das
^chint ab und Frankreich übergibt es Sardinien, die erste Bedingung, die
völkerrechtliche Erwerbung des Eroberten war gelöst. Die zweite sollte die
^sser hartnäckig verweigerte Anerkennung der italienischen Nationalität von
Zeiten Oestreichs sein; das Project eines italienischen Bundes sollte verwirk¬
et werden, und als Bürgschaft seiner Aufrichtigkeit versprach der Kaiser Franz
Joseph für das ihm verbleibende Venetien die größten Concessionen, es sollte
National organisirt ein Glied des Bundes werden, als eoncMio sin« pu-i
U»n ward dafür die Rückkehr der Erzherzöge aufgestellt. Es konnte scheinen,
">s ob dies ein Aequivalent für den Gebietsverlust sei; nahmen die geflohenen
Ersten ihre Throne wieder ein, so hatte Oestreich in der zu errichtenden Con-
s°deration schon drei Stimmen. Venetien. Modena. Toscana. Dazu mußten
^ der Natur der Dinge nach der Papst und Neapel zu ihm neigen und so
^im es. daß sich dasselbe Uebergewicht des Einflusses im italienischen Bunde
würde erreichen lassen, welches Oestreich in Deutschland übt; während früher
^ Staaten der Halbinsel durch specielle diplomatische und militärische
^Nrüge vom Wiener Cabinet gefesselt werden mußten, war es künftig als
Bundesglied berechtigt in allen Angelegenheiten mitzusprechen, und der Druck.
Eichen sein hinter Venetien liegendes Reich auf die italienischen Verhältnisse
ausüben mußte, ließ gewiß keinen Vergleich mit dem Einfluß Hollands oder
Dänemarks im deutschen Bunde zu. Alles dies konnte indeß auch dem Scharf¬
blick Napoleons nicht entgehen, er hat bekanntlich zuerst in der Laguerroniere-
schen Flugschrift die Idee der Conföderation aufgestellt, aber wir können uns
nicht davon überzeugen, daß ein so eminent praktischer und kalt berechnender
Kopf nicht von vorn herein das Chimärische eines solchen Projektes erkannt habe.
Die unversöhnlichsten Gegensätze sollten in eine politische Corporation zusam¬
mengeschweißt werden und der Papst, der sich grundsätzlich von jedem Con¬
flict fern halten muß. an die Spitze treten. Wir haben von jeher das Ope-
riren mit dieser Verbrüderung nur für ein Kriegsmittel gehalten und glauben,
daß sie bei Seite geworfen wird, wenn sie ihren Dienst gegen Oestreich ge¬
than hat. Der Moniteur läßt das in seinem Artikel vom 9. September schon
durchblicken, obwol er die Spitze gegen die Italiener richtet. Wenn ihr die
Fürsten nicht wieder zurückkehren laßt, sagt er ihnen, so bekommt ihr keinen
Bund, durch welchen Oestreich euch als Nationalität anerkennt. Desto besser,
denken die Italiener, die wohl wissen was sie durch solche Anerkennung ge¬
winnen würden, so werden wir den östreichischen Einfluß und die Fürsten los.
Unter einer einzigen Bedingung hätte die französische scheinbare Concession
einen Werth für das wiener Cabinet gehabt, nämlich wenn die Wiederein¬
setzung der Erzherzöge nöthigenfalls mit bewaffneter Hand erzwungen werden
sollte. Aber dies, setzte Napoleon seinem jugendlichen Gegner von Villafranca
auseinander, sei unmöglich. Toscana sei sein Bundesgenosse geworden, ein
kaiserlicher Prinz führe den Oberbefehl. Frankreich hatte die Verträge, welche
Oestreich den Vorwand immer neuer militärischer Intervention gaben, vor
aller Welt angeklagt, es konnte jetzt nicht selbst zu seinen Gunsten einrücken
und seine eignen Verbündeten wieder unterwerfen oder sie durch östreichische
Truppen unterjochen lassen. Mehr oder weniger unterstellte daher Napoleon
die Ausführung der Bedingung, daß sich die betreffenden Länder der Restau¬
ration freiwillig fügen würden, er ging also die conüitiv 8ins Mg. mein wie
eine eventuelle Verpflichtung ein, er versprach nur seinen moralischen Einfluß
für die Wiedereinsetzung, mit der. wie wir glauben, es ihm keinen Augenblick
Ernst gewesen.
Die Ausführung dieses tief angelegten Planes entspricht ganz der MacckM-
vellistischen Feinheit, mit welcher der Kaiser seine Unternehmungen zum Z'^
zu führen weiß. Er nahm in seinen Reden und Proclamationen den Ton
patriotischer Selbstbeschränkung an- „Glauben Sie, meine Herren, nicht, daß
es mir viel gekostet, meine siegesmuthige Armee auszuhalten, offen vor Europa
von meinem Programm das Gebiet zwischen Mincio und Adria auszuschließen,
so viele edle Illusionen und patriotische Hoffnungen rechtschaffener Herzen zer"
stört zu sehen? Aber, wenn ich um Italiens Unabhängigkeit zu dienen gegen
den Willen Europas den Krieg geführt, mußte ich Friede machen, als die Ge-
meines eignen Landes gefährdet wurden." So sprach er zu den großen
Staatskörpcrn, er stellte das Heil der französischen Nation über seine Wünsche,
und die gerührte Menge jubelte über den vaterlandsliebenden Kaiser, er gab
vor Europa anscheinend seine Plane auf und beschwichtigte so das eifersüchtige
Mißtrauen der andern Mächte. Die Diplomaten wiegten ihre Häupter und
sprachen, der Kaiser erkennt sein Mißlingen an. er fängt an abwärts zu gehen.
Villafranca ist der Anfang des Endes und was dergleichen feine Dinge mehr
waren. Alle Welt spottete über den Kaiser, nur die Italiener nicht.> Als sie
sich vom ersten Erstaunen, welches der plötzliche Friede hervorrufen mußte, er¬
holt hatten, gingen sie ebenso energisch als ruhig ans Werk, ihre Unabhängig¬
keit zu behaupten und die stipulirte Rückkehr der Fürsten zu verhindern. Die
Proclamation von Mailand sagte ihnen: „die Vorsehung begünstigt bisweilen
die Völker wie die Individuen, indem sie ihnen Gelegenheit gibt plötzlich zu
Wachsen, «herunter der Bedingung, daß sie dieselbe zu benutzen wissen." Die
Italiener haben diese Lehre beherzigt und ihre Geschicke selbst in die Hand
genommen. Nacheinander ist in Florenz. Parma. Modena und Bologna
die Ausschließung der alten Dynastien ausgesprochen und die Vereinigung mit
Sardinien beschlossen, nichts hat die Führer der Bewegung in ihrem ebenso
umsichtigen als energischen Vorgehen aufgehalten. Sie zeigten Europa, daß
sie seit 1L48 gelernt hatten, das große Ziel der nationalen Einigung über alle
provinziellen Sonderinteressen zu setzen, und dies war für Städte wie Flo-
renz. Parma und Modena kein Geringes, die von der Residenz der Fürsten so
sehr abhingen. König Victor Emanuel konnte natürlich nicht unbedingt die ihm
"»getragenen Kronen annehmen, aber die Zusage die Sache Mittelitaliens vor
Europa vertreten zu wollen, war doch schon mehr als eine bedingte Annahme
und wurde überall so aufgefaßt, indem die Verschmelzung mit Sardinien durch
Hinwegräumung der legislativen und ökonomischen Schranken überall ange¬
bahnt war. England sprach sich immer offner, wenn auch nicht direct für
^nnexation an Piemont. doch für die Nichtrückkehr der Erzherzöge aus. Frank¬
reich sandte den Fürsten Poniatowsky und Grafen Reiset, anscheinend um die
Italiener zu überreden, daß sie besser thäten sich zu fügen, aber wir kennen diese
^'t doppelter diplomatischer Buchhaltung, welche Napoleon gewöhnlich führt.
Der Moniteur hielt den Italienern ihre Undankbarkeit vor und schalt sie, daß sie
'hr eigenes Wohl nicht erkennen wollten, aber fügte dabei sorgfältig hinzu:
»Die Erzherzöge werden nicht durch fremde Gewalt wieder in ihre Staaten
zurückgeführt werden", und wenn er sie etwas arg gezaust, kam sein offiziöser
Bruder, der Constitutionel und sprach ihnen wieder Muth ein. Man.wiro sich
innern, wie rauh die Schweizer oft während des ncuenburger Streites von
^u französischen Diplomaten und Regierungsblättern angefahren wurdenj,
Ehrenb dieselben Preußen mit großer Schonung behandelten, und das
Ende war, daß die Schweiz ihren Proceß vollständig gewann. Hütte Napo¬
leon Mittelitalien auch nur moralisch Zwang anthun wollen, so hätte dies
offenbar sofort nach dem Waffenstillstand geschehen müssen; statt dessen
ließ man die Ereignisse dort ruhig gehen und speiste Oestreich mit Ver¬
sicherungen der Freundschaft und gewundenen. Moniteurartikeln ab. Der
Kaiser Franz Joseph hat schon Gelegenheit genug gehabt, über den
Werth des hohen Alliirten bedenklich >zu werden, dessen Freundschaft er
mit den Zugeständnissen von Villafranca zu erkaufen dachte, und auch
die Zukunft wird ihm zeigen, wie vollständig er sich verrechnet.
Nach dem Vorstehenden müssen wir glauben, daß die Aussicht auf die
Restauration der Erzherzöge gering ist, und meinen, Deutschland habe wenig Ur¬
sache, sich darüber zu grämen. Der Friede von Zürich wird diese Fragen ganz
unberührt lassen und nur die Abtretung der Lombardei regeln, ein Kongreß,
heißt es, soll die mittelitalische Verwicklung losen. Wir zweifeln vorläufig
noch an seinem Zustandekommen. (Die Aussichten auf einen Kongreß sind in
den letzten Tagen gestiegen. D. Red.) Napoleon wird ihn aus einem
Grunde wünschen, nämlich die Verantwortlichkeit von sich auf die andern
Großmächte zu wälzen, andrerseits wird er ihn aber nicht wünschen, wenn
der Kongreß seinen Ansichten entgegentreten sollte. Oestreich ist entschieden
dagegen, Europa sich in seine Angelegenheiten mischen zu lassen, und kann von
England, Nußland und Frankreich schwerlich eine Förderung seiner Interessen
erwarten. Lord John Russell hat offen erklärt, sein Cnbinet werde keinen Kon¬
greß beschicken, der nicht den Wünschen der Bevölkerung Rechnung trage, mehr
als für alle andern scheint uns für Preußen daran gelegen, daß es sich vorn
Congreß fern halte. Einen irgend wie bedeutenden Einfluß dort zu üben,
kaun es sich nicht schmeicheln, es hat seit Anfang des Krieges so gut wie gM
außerhalb der italienischen Angelegenheiten gestanden,^ stimmt es nun gege"
die Restauration, so ist ein neuer Zwiespalt mit Oestreich da, spricht es sich
für die Restauration aus, so verdirbt es nutzlos seine Stellung zu Sardinien
und Mittelitalien, welche ihm unter Umständen doch sehr wichtige Bundes-
genossen werden können. Anders denken freilich unsre Donquixotcs der Leg^
timität, welche womöglich einen Kreuzzug predigen möchten, um jene Fürsten,
die wie die französischen Emigrirten gegen ihr Volk die Waffen trugen, wieder
einzusetzen. Es scheint, daß unsre Zeit sie grade am eindringlichsten über den
relativen Werth oder Unwerth der Legitimität belehren sollte. Wenn Fw>"'
reich mit seinen Revolutionen laut predigt, welches Verderben es bringen
muß, daß ein Land mit seiner Vergangenheit bricht und die Kr^ü-
ber Spielball der Prätendenten wird, so zeigt die neuere Geschichte
England, Schweden, Brasilien und Belgien, wie thöricht es ist, "
den menschlichen Rechten eines Hauses aus einen Thron ein göttliches Ne)
zu machen, nicht theologisch, sondern nur historisch ist die Legitimität zu
fassen. Die Kreuzzeitung mag es mit Recht preisen, daß Preußen sich mit
seinen Hohenzollern so verwachsen fühlt, daß eine Trennung von Volk und
Fürstenhaus rein undeutlich ist, jenes Vcrwachsensein aber existirte eben
nicht in Italien. Die Lombardei ward durch Willkür des wiener Congresses
Oestreich gegeben, das dieselbe antinational regierte, die Fürsten von Toscana,
Modena und Parma empfingen von Wien ihre Instruktionen und machten
dadurch sich und den deutschen Namen bei ihrem Volke verhaßt. Daher hat
sich dasselbe vollständig von ihnen gelöst. Es kann schwerlich vergessen werden,
daß der Großherzog von Toscana, ovwol freiwillig von der Legislative er¬
sucht zurückzukehren, die Oestreicher ins Land rief und die beschworne Verfas¬
sung zerstörte, und daß er im ersten Anfang der jetzigen Bewegung nicht ver¬
trieben ward, sondern selbst nach Oestreich floh. Es ist daher keine Pöbel¬
revolution, welche seine Ausschließung vom Thron ausgesprochen, sondern
hier wie in den Herzogthümern stehen die ersten Familien des Adels und
Vürgerstandes an der Spitze; würden die Fürsten selbst durch einen Zauber¬
stab wieder aus ihre Throne gesetzt, so wären sie in Verlegenheit Leute zu
finden, mit denen sie regieren könnten, da alle Welt gegen sie compromittüt
'se. Offenbar haben die Leiter der Bewegung auch sehr klug gethan, sich einem
Monarchisch organisirten Staat anzuschließen und die Schwerkraft der Verhält¬
nisse wird dahin führen, daß Europa die Annexion als eine vollendete Thät¬
liche annehmen muß. Preußen aber, sollten wir meinen, hatte am wenigsten
Ursache, eine Vergrößerung Sardiniens zu verhindern, das, wie die Verhältnisse
liegen, darauf angewiesen ist, seine Bundesgenossenschaft zu suchen. Wir sind
keineswegs der Meinung, uns aus sentimentalen Liberalismus für die Freiheit
oberer zu schlagen, aber da Italien sich jetzt wieder überlassen ist, so sollen
niir sein Weiterkommen nicht hindern und anerkennen, daß eine gewisse So¬
lidarität der liberalen Principien allerdings besteht, und daß es auf unser Fort-
Breiten nur günstig wirken kann, wenn freisinnige politische und religiöse
Grundsätze in Italien Boden gewinnen. Das schwierigste Verhältniß bleibt
das der Legationen, so wie es der offenbarste und doch kitzlichste Widerspruch
^ar, daß Napoleon die schlimmste Mißregierung in Italien schützte, während
^ den Anschluß des verhältnißmüßig gut regierten Toscana zugab. Sicher that
dies der älteste Sohn der Kirche nicht aus Pietät gegen das Oberhaupt, hom-
em weil er fürchtete in Conflict mit seinen Bischöfen zu Hause zu kommen.
^ erreichte jedenfalls das, daß die Oestreicher aus den Legationen abziehen
Mußten, während die Franzosen in Rom blieben. Schwerlich aber wird er
"es besonders darüber grämen, wenn durch die Gewalt der Verhältnisse des
Papstes Recht Abbruch litte, denn gewiß ist das ultramontane Regiment ihm
unbequem in Frankreich; man hat gesehen, daß die Polizei Abouts
römische Frage erst dann verbot, nachdem man wohlweislich 8000 Exemplare
davon hatte verkaufen lassen und daß der Verfasser gleichzeitig den Prinzen
Napoleon als Privatsecretär begleitete. Es scheint also das Wahrscheinlichste,
daß der Kaiser die Bevölkerung auch in den Legationen gewähren lassen
und dem Papst gegenüber die Unmöglichkeit zu interveniren vorschützen wird.
Demselben bleibt es dann überlassen, in thränenreichen Reden über die Un¬
gläubigen und Schänder des Besitzes des Stuhles Petri zu klagen, man weiß,
daß die Legationen dem Kirchenstaat nicht etwa von Gott gegeben sind, son¬
dern in blutigen Kriegen von Cesar Borgia erobert wurden, daß Papst Ju<
uns der Zweite Bologna beschoß und den Städten stückweise ihre municipalen
Freiheiten genommen wurden. Pio Nouv, sagt uns die weltliche Souveränetät,
sei zur Unabhängigkeit der geistlichen Gewalt nöthig, uns scheint die Würde
eines geistlichen Hauptes vielmehr darunter zu leiden, wenn die Interessen der
Kirche denen der weltlichen Herrschaft geopfert werden und ein Regiment von
Mißbräuchen erhalten bleibt, das seines gleichen nur in den orientalischen Des¬
potien hat, alles in in^vrvm Der glori^in. Die Sage geht, Nouv Pio werde
der letzte Papst sein, der in Rom herrsche, wir wollen dies dahingestellt sein
lassen, allein wie auch die Dinge sich in Mittelitalien wenden, eine Schwächung
der päpstlichen Gewalt und des Absolutismus in Mittelitalien wird unver¬
meidlich sein. Man halte dies nicht deshalb für unmöglich, weil von dem
Mann des Staatsstreiches diese große Bewegung ausgegangen, die Vorsehung
wühlt sich für ihre Zwecke oft sehr schuldige Werkzeuge und wir deutsche Pro¬
testanten werden keinen Grund haben, uns über das Ergebniß dieser Krisis zu
Unter dem Titel „Reise durch die Felsengebirge und die Hum¬
boldtgebirge nach dem stillen Ocean" ist soeben im Verlag der Brodt-
mannschen Buchhandlung eine kleine Schrift von Dr. I. Schiel erschienen,
die unter anderem Interessanten Mittheilungen über das Neujerusalem enthält,
welches die Heiligen vom jüngsten Tag am Salzsee gegründet haben. Diese
Mittheilungen sind das Ergebniß eines längern Aufenthalts unter den
enorm von Utah, und sie gewinnen dadurch einen hohem Werth, daß es
kein für oder wider Partei nehmender Amerikaner, sondern ein ruhig be¬
obachtender und überdies gebildeter Deutscher ist, der uns in ihnen seine Ansichten
über das merkwürdige Volk am Salzsee der Felsengebirge vorträgt. Wir
haben früher ausführlich über die Mormonen berichtet. Der folgende Aus¬
zug aus Dr. Schiels Bemerkungen wird theilweise als Beleg, theilweise auch
als Berichtigung jener Aufsätze dienen. Wir senden ihm nur noch voraus,
daß der Verfasser die Gunnisonsche Expedition begleitete, welche vor nunmehr
sechs Jahren Strecken von Utah im Auftrag der Centralregierung zu Was¬
hington zu untersuchen und zu vermessen hatte.
„Die große Salzseestadt liegt 16 Meilen vom Salzsee entfernt am west¬
lichen Fuß des Wahsatschgebirges in 40° 45' 30" nördlicher Breite und in
einer Höhe, die sich aus unsern sechsmonatlichen Barometerbeobachtungen zu
4350 Fuß über der Meeresfläche berechnet. Die Stadt ist sehr weit aus¬
gedehnt, und wenn man sich ihr vom Süden nähert, auf eine große Entfernung
sichtbar, doch macht sie durchaus keinen freundlichen Eindruck, denn obgleich
die Straßen gerade und weit sind, und fast jedes Haus ein Stück oder ein
Stückchen eingefriedigtes Land hat, so trägt doch alles noch zu sehr den
Charakter der Armuth und des Nothbehelfs. Die Straßen haben zwar Trot-
oirs, d. h. Seitenwege, die durch Gräben von der Fahrstraße getrennt sind,
aber diese sind bei schlechtem Wetter ebenso ungangbar wie die Straßen selbst,
und in allen nicht centralen Theilen, vorzüglich aber im südlichen Theil der
Stadt, haben Fußgänger, Reiter und Fuhrleute in der schlechten Jahreszeit
ehre gleiche Noth, um sich durch den tief gelockerten, morastigen Boden durch¬
zuarbeiten.
Die oben erwähnten Gräben dienen dazu, um das vortreffliche Wasser
eines Baches, welcher aus dem nahen Gebirge kommt, durch die ganze Stadt
!u führen — eine Einrichtung, die den Einwohnern viel Bequemlichkeit dar¬
bietet. Die Häuser sind meistens aus sogenanntem Adobe (Luftziegel) aus¬
geführt, einstöckig und mit Schindeln bedeckt. Blockhäuser sind verhältniß-
u^äßig selten, da das Holz auf eine Entfernung von 30—40 Meilen aus
dem Wahsatschgebirge geholt und daher sparsam verwendet werden muß. Im
Mittleren Theile der Stadt sind einige zweistöckige Häuser, darunter das neue
Haus von Brigham Uoung, das Zehnthaus und das Statehouse, letzteres
jetzt das einzige Haus in Utah, das ganz aus Stein erbaut ist. Auch
das Tabernakel liegt hier, ein eigenthümliches Gebäude, dessen Dach fast bis
^ Erde reicht, und das wie alle andern der Stadt aus Adobe gebaut ist.
^ das Haus nur bis zur Vollendung des großen Tempels für den Gottes-
^use dienen soll, fanden es die Heiligen praktisch, den unterirdischen Raum,
gewöhnlich zu Keller oder Souterrain verwendet wird, zu einer Art Hör-
saal einzurichten, in welchem die Bänke amphitheatralisch geordnet sind, so
daß man den unterstehenden Redner von allen Seiten sehen und hören kann,
und da die Decke dieses Saales, welche zugleich das Dach des Hauses ist,
die Form eines einfachen Tonnengewölbes hat, so wurde dadurch die nöthige
Höhe erreicht, und man brauchte den beiden überirdischen Seitenmauern des
Hauses nicht mehr als etwa vier bis fünf Fuß Höhe zu geben.
Der Gottesdienst der Mormonen beginnt gewöhnlich mit einem Gebet
des Oberpriesters, worauf ein Gesang der Gemeinde folgt, der in Ermange¬
lung einer Orgel mit einem guten sechsoctavigen Melodion begleitet wird. Eine
Engländerin, deren Mann auf dem Wege nach Californien starb, ist Orga¬
nistin und spielt das Instrument ganz leidlich. Auf den Gesang folgt eine
Rede, die ein vorher bestimmtes Mitglied des Vorstandes hält. Die Mor¬
monen behaupten zwar, der Redner erfahre nur kurz vorher, daß er zu spre¬
chen habe, die Reden würden ex temxors gehalten und ein jeder könne auf¬
gerufen werden, um über einen gegebenen Gegenstand zu sprechen. Dies ist
ein Kunstgriff, um das Volk in dem Glauben zu bestärken, Offenbarung und
göttliche Inspiration sei fortwährend in den Auserwählten thätig. Nach dem
Gottesdienst werden die Zehntarbeiten verkündet; denn jeder Mormone zahlt
der Kirche nicht nur den zehnten Theil seiner Arbeit, sondern auch den zehnten
Theil seiner Zeit; es wird indessen von der Verwendung des Zehnten der
Gemeinde niemals eine Rechenschaft abgelegt. Als ich eines Tages dem
Apostel Taylor, der als eine der gelehrtesten Stützen der Kirche angesehen
wird, bemerkte, daß dies gegen den Geist der amerikanischen Institutionen wäre,
suchte er mir auseinanderzusetzen, daß es am Ende besser wäre, die Klügeren
und Gelehrteren besorgten die Angelegenheiten eines Volkes, als daß das
Volk sich um alles zanke. Er wies dabei allen Ernstes auf China hin, als
sein Ideal einer Regierungsform.
Es ist mehr ärgerlich als interessant zu beobachten, wie das arme und
geistig verkommene, im Uebrigen meistentheils ganz ordentliche, arbeitsame Volk
aus Wales, Dänemark und Norwegen, denn dieses bildet die Hauptbevölkerung
des Thales, bearbeitet, fanatisirt und zu gefügigen Heiligen hergerichtet wird.
Es ist eine zwar nicht neue, aber für den Philosophen wie für den Staats¬
mann immerhin eine belehrende Erscheinung, zu sehen, wie hier gleichsam unter
seinen Augen eine angeblich geoffenbarte Religion entsteht und sich ausbildet,
wie der krasseste Unsinn, der handgreiflichste Betrug dazu dient einen Staat
zu gründen, einzurichten und für die Zwecke Weniger auszubeuten. Und doch
kann man von den leitenden Männern in Utah nicht sagen, daß es besonders
begabte oder auch nur talentvolle Männer wären; bei weitem die meisten unter
ihnen sind sogar höchst unwissend und von beschränktem Verstände. Auch von
religiösem Fanatismus, der sich wie ein Contagium überträgt, ist bei ihnen
durchaus nichts zu finden; sie besitzen höchstens den Fanatismus der Selbstsucht
und des Ehrgeizes, des an der Spitze Stehens der beschränkten und unbeschränkten
Köpfen eigen ist in Utah und außerhalb. Selbst Brigham Uouna/ist nichts
weniger als ein ungewöhnlicher Mensch. In einer stundenlangen Unterhaltung,
die ich mit ihm hatte, fand ich in seinem Urtheil über die mannigfaltigsten
Gegenstände weder Kenntnisse noch ungewöhnlichen Verstand, doch besitzt er
großes administratives Talent, was in Amerika nicht grade eine Seltenheit
'se, eine gute Portion sdrewäness und kennt seine Herde vortrefflich. Zudem
hat eine mystische Lehre mit hochklingenden Versprechungen zeitlicher und
ewiger Wohlfahrt zu allen Zeiten den unwissenden, gedankenlosen Menschen
^fesselt, und was dem gebildeten, denkenden Menschen als eine unver¬
antwortliche Blasphemie erscheinen muß, ist der unklaren Anschauungs-
Und Denkweise des großen Haufens oft gradezu angepaßt und willkom¬
men. Wie aber auch der thörichtste Glaube, wie religiöser Fanatismus ver¬
mag starke Le-idcnschaften in den Menschen zu unterdrücken oder wenigstens
zurückzuhalten, davon kann man zahlreiche Beispiele unter der Frauenwelt
^dass finden. Im Allgemeinen sind die Frauen in Utah der Lehre von der
^uiralität (pluralit^ miles) entgegen, viele sind indessen ganz damit ein¬
verstanden, ich habe sogar mehre den Wunsch aussprechen hören, ihre Männer
Möchten noch einige Weiber mehr nehmen, denn „etre more vitss tke more
^og.ijvn^ sagten sie; das Weib kann nämlich der Lehre der Mormonen zu-
^ge nur durch den Mann selig werden, und es ist daher die Pflicht des
Cannes, so viele als möglich zu salviren. Der psychologisch merkwürdigste
^it von Bekehrung, welcher mir unter den Mormonen vorkam, war der
^er englischen Familie, wovon die Frau und ihre zwei erwachsenen Töchter
^ Religion der Mormonen übergingen, während der Vater unbekehrt blieb,
^er aus Nachgiebigkeit und des lieben Friedens wegen mit nach Utah zog.
ob zwei Männer übereingekommen, daß sie die eine oder die andere
^rer Weiber vertauschen wollen, so erklären sie dem Propheten, oder einem
>^ner Stellvertreter, daß sie eine Offenbarung gehabt hätten, der zufolge sie
^e Weiber nicht salviren könnten, glaubten aber, daß der oder jener es thun
°une. Der Betreffende hat natürlich ebenfalls eine Offenbarung gehabt, durch
elche jhm sunt wurde, daß er der wahre Salvator sei, und daß Ab- und
.segeln hat weiter keinen Anstand. Nur die erste Frau hat in dem Haus-
^ des Mormonen die Stellung einer Hausfrau, nur sie ordnet alles an,
conimandirt die folgenden Nummern. Während sie den Namen ihres
"unes trägt, werden die andern Frauen nur mit dem Vornamen, höchstens
. „zweite, dritte u. s. w. Frau vom Bruder N." genannt, und was-
,. die l,g.^ gi^r, fortwährend in der unmittelbaren Nähe ihres Mannes
' leben die andern in besonderen Zimmern oder auch in Nebengebäuden
zusammengedrängt, verrichten die Arbeiten von Dienstboten und sehen ihren
Herrn nur gelegentlich. Manche von den Aposteln haben sogar eine Anzahl
Frauen auf den benachbarten Niederlassungen und besuchen dieselben nur
zeitweise.
Die Heiligen rühmen sich, daß ihre Religion eine heitere, und daß ein
trübwässeriges Muckerthum, wie es in Europa gefunden wird, bei ihnen un¬
möglich sei. Der Herr, sagen sie, wolle seine Kinder anständig, froh und glück¬
lich sehen, und dies ist nicht grade die schlechteste Seite ihres Dogmas. Sie
lieben die Musik und den Tanz, und ihre Tänze, bei denen Alt und Jung
tanzt, werden gewöhnlich durch Gebet und Gesang eingeleitet. Da geistige
Getränke nicht vorhanden sind, so findet bei ihren Festlichkeiten keinerlei Art
von Excessen statt, höchstens nur excessives Tanzen. Im Winter ist außer den
Bällen das Theater, natürlicherweise ein Liebhabertheater, den Heiligen eine
ihrer Hauptvergnügungcn, und ich muß es ihnen nachrühmen, obwol ich die
zweifelhafte Natur dieses Lobes eingestehe, daß ihr Theaterperswial ebenso gut
und manchmal besser spielte, als man es auf den Bühnen der größern Städte
des Westen sehen kann. Das Spiel einer Frau W. mußte ,in Betracht der
Verhältnisse ganz vortrefflich genannt werden, sogar in tragischen Rollen. Auch
begnügte man sich nicht mit kleineren Stücken, sondern spielte Stücke wie to
ok I^vos von Bulwer, Othello von Shakespeare, tds Kop^ moon in.
Ein Lieblingsstück war 5ngomar tke wibarian, bekanntlich die englische Be¬
arbeitung vom „Sohn der Wildniß". Die Bühne war enge und die Aus¬
stattung sehr dürftig, dagegen verwendete man viel aus das Costüm, das
freilich nicht immer der Zeit und dem Ort der Handlung des Dramas ent¬
sprach. So erschien der PseudoPrinz in der l^g.^ ok einem Stück, dessen
Handlung in die Zeit der französischen Revolution fällt, in dem kindischen
Flitterstaat eines mittelalterlichen Stutzers. Nach dem Spiel gab es gewöhn¬
lich noch einen Song, der unter allen Umständen ein conical song war oder
wurde, zu welchem das Publicum im Parterre (und der ganze Zuschauerrauw
bestand nur aus Parterre) zuweilen Chor sang, namentlich wenn der beliebte
Hormon Song gesungen wurde. Um dem Leser einen Begriff von dieser
transwaliKatcKitm rMti-? zu geben, will ich einen Vers dieses Liedes in dew
Urtext beifügen:
^ mormon kattier lites to hev,
His mormon tamilz^ agree,
l'dö xr-altklug bab^ ein bis Kufe,
Vries: vaääz?, ^ g,in g, mormon!
Lb.! tbs msrrz?, ob! the inerr^, Lb.! the nierr-z? mormoris!
^ never Knev vbat ^oz^ of-s betöre- ^ came amon-
zst tbs enormous!
Die beiden letzten Verse werden vom Chor wiederholt. Ich bedauere, daß ich
die Melodie dieses songs nicht beifügen kann, sie entspricht dem Inhalt des
Lieds vollkommen. Das Theaterorchcster. welches diese Gesänge begleitet und
das auch zuweilen im Tabernakel thätig ist, besitzt eine Anzahl Saiten- und
Vlasinstrumente, und obgleich dieselben meistens sehr falsch gespielt werden
und sich ost ganz unabhängig voneinander bewegen, so hindert dies die in
musikalischer Beziehung nicht sehr verwöhnten Heiligen nicht, ihre Musik etre
betest, musie on oartn zu nennen, eine Benennung, deren harmlosen Stolz
wan wol verzeihen kann. Es ist mit dieser echtest musie wie mit einer
großen Bierbrauerei, von welcher man mir einst in Lg.1t-I.g>Ke <nie^ sprach.
Nachdem ich in Begleitung des Topographen unseres Corps das Etablissement
nach langem Suchen gefunden hatte, fand ich in der Ecke einer Art Schup¬
pen einen Braukessel, der ungefähr eine Ohm fassen konnte und ein Kühlschiff,
das annähernd drei Fuß lang und nicht breiter war. Das Gebräu, welches
aus dieser Anstalt hervorging, war eine bitterlich saure Satire auf die Kunst
des Brauers. Die Beschreibungen der Mormonen sind in Beziehung auf ihr
eigenes Land spanisch-hyperbolischer Art. und man darf ihren Schilderungen
Nur einen sehr bedingten Glauben schenken.
Auch die Schilderungen der klimatischen Verhältnisse ihres Landes werden
V°n den Mormonen außerordentlich günstig und angenehm gehalten, und
^cum man ihnen glauben dürfte, so wäre das Klima von Utah das schönste
Welt; Krankheiten kämen gar nicht vor und die wenigen Fülle, welche
Wenfalls vorkommen könnten, würden durch den Glauben, d. h. durch Anf¬
ang der Hände von ihren Aposteln geheilt. Alles dieses ist natürlicherweise
^r reinste Humbug. Während unsers Aufenthaltes in der großen Salzsecstadt
Mischte daselbst eine Scharlach- und Masernepidemie, an welcher ziemlich
"'ele Kinder starben. Mehre von den Mormonen waren sehr darauf versessen.
d>eArzneistoffe, welche ich entbehren konnte, zulaufen, und einer ihrer Apostel,
^sser Frau krank geworden war, war so weit entfernt, von dem Auslegen
^mer Hände Heilung zu erwarten, daß er mir die Ehre anthat, mich zu
°>nem Besuch an dem Bett der Kranken und um eine Ordination zu bitten.
Das Pluralitätssystem der Heiligen der jüngsten Tage ist bei ihnen,keines¬
wegs zu einer allgemeinen Anwendung gekommen; nicht jeder Mormone ist
Besitz von mehrern Fra'um. bei weitem der größte Theil begnügt sich oder
^Nß sich mit einer einzigen begnügen, da ihm die Mittel der Unterhaltung
Lehrer abgehn oder auch der besitzwürdige Theil der Frauen von den Würde-
^gern der Kirche schon beansprucht worden ist. Dieser Umstand, verbunden mit
°er Einsicht mancher in die Mängel einer Verwaltung, wie man sie nur einer
'°^'de Idioten aufdrängen kann, und die Agitation der Majoriät der Frauen
Am die Plualitätslehre hatte in den letzten Jahren zu Spaltungen in der
Gemeinde und zur Vermehrung des Einflusses der bestehenden Sekten von
Dissenters geführt, die der Autorität des Propheten hätten gefährlich werden
können, wenn er nicht durch eine Rebellion gegen die Centralregierung, die in
dem vielfach genährten Groll der Mormonen eine Unterstützung fand, und
durch die dadurch veranlaßte Absendung von Vereinigten-Staatentruppen dem
Sturm vorläufig eine andere Richtung gegeben hätte. Das Pluralitätssystem
ist offenbar nur zum Vortheil der Bevorzugten der Kirche erfunden, auch wird
sich hierüber niemand wundern. Der Prophet allein besitzt das Vorrecht, dem¬
jenigen die Erlaubniß zur Vermehrung der Frauen zu ertheilen, den er für
gläubig hält, und dieses Vorrecht kann er auf seine Delegaten übertragen.
Das Weib, das ohne Erlaubniß außerhalb der Priesterschaft heirathet, hei'
rathet die Hölle, und es mag wol vorkommen, daß die bei vielen Frauen so
leicht anzuregende religiöse Schwärmerei es ihnen sichrer erscheinen läßt, in
dem Gefolge eines Apostels oder Hohenpriesters ins Paradies einzugehn. als
ihr Heil einem gewöhnlichen Heiligen anzuvertrauen, dessen eigne Ansprüche
auf einen himmlischen Stuhl weniger sicher, ja vielleicht zweifelhaft sind; auch
mag wol der weibliche Ehrgeiz, die weibliche Eitelkeit, die unter aller Schwär¬
merei fortlebt, dergleichen Gedanken unterstützen. Auch für diejenigen Frauen,
deren weniger gefälliges Aeußere keinen Mann zu dem Glauben verleiten konnte,
er könne sie erlösen, ist in Utah gesorgt. Eine jede Frau kann einen Mann
verlangen, der sie erlöst: „vn tue -zrounä ok tre riglit ana xi'ivilsM ok Sö!-
vation", und der Prophet, der ihr Gesuch entgegennimmt, kann irgend einen
Mann, den er im Stande glaubt sie zu unterhalten, beordern sie sich „anzu-
siegeln", wo nicht, so muß auch er giltige Gründe der Weigerung vorbringen.
Da nach der Mormonenlehre der Inhalt der Bibel ganz buchstäblich
nommer werden muß. denn „Gott ist redlich, wenn er zu den Menschen spricht,
und gefällt sich nicht in Doppelzüngigkeit, sondern gebraucht die Worte in
ihrem wahren Sinne", so kommen sie zu einer ganz entsprechenden Vor¬
stellung von dem Wesen und den Eigenschaften der Gottheit, und diese Vor¬
stellung ist in den Predigten der Apostel und Hohenpriester manchmal mit
einem Anstrich von Humor mitgetheilt. In einer Rede, die Brigham Uoung
vor den Aeltesten und Hohenpriestern im Tabernakel hielt, sagte er: „J^
erinnert Euch des ältesten Day (eines baptistischer Predigers auf dem Weg
nach Kalifornien), der uns so hübsch predigte. Ich predigte eines Tages, als
er anwesend war, und leitete im Verlauf der Rede die Gedanken auf unsern
Vater im Himmel, über dessen Natur er am wärmsten Aufklärung wünschte-
Er aß mit mir zu Mittag, und als wir bei Tische saßen, sagte er: „Bruder
Aoung, ich wartete mit bangem Herzen, und Mund, Augen und yhren offen-
etwas Glorioses zu hören." „Worüber. Bruder Day?" „Als ihr die Gott¬
heit beschriebet und grade an den eigentlichen Punkt gekommen wäret, den
ich so gern erklärt gehabt hätte, brandet Ihr ab und ginget auf etwas An-
teres über." Ich lachte und sagte: „Seid Ihr ein Prediger des Evangeliums,
und habt zwanzig Jahre einen Gott gepredigt, von dem Ihr nichts wußtet?"
»Ich kann Euch die Frage in ein paar Minuten beantworten." „Ich weiß
Bruder." sagte er. „es ist ein mysteriöser Gegenstand für einen sterblichen
Menschen." „Nun. so laßt mich fragen, könnt ihr mir sagen, wem unser
Vater im Himmel ähnlich sieht?" „Bruder Young, ich naße mir nicht an,
daß ich den Charakter der Gottheit beschreiben kann." Dies sagte er. wäh¬
rend die Farbe seines Gesichts bald bleich und bald roth wurde. Ich lachte,
und er glaubte, ich behandelte den Gegenstand leichtfertig. „Ich behandle den
Gegenstand nicht leichtfertig, aber ich lache über Eure Thorheit, daß Ihr, ein
Prediger in Israel, ein Mann, der zwischen den Lebendigen und den Todten
stehen sollte, dennoch nichts wißt von unserm Vater und Gott. Wäre ich an
eurer Stelle, ich würde niemals wieder eine Predigt halten, bis ich mehr von
Gott wüßte. Glaubt Ihr an die Bibel?" „Ich glaube." „Welche Aehnlich.
keit hatte Vater Adam mit Gott, als er in Eden war?" Ehe er antworten
konnte, fragte ich ihn weiter: „Welche Achnlichkeit hatte Jesus mit dem Men¬
schen, als er Fleisch wurde?" und: „Glaubet Ihr Moses, wenn er sagt. Gott
schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn? Dies
wäg Euch sonderbar scheinen, aber seht Ihr nicht bornr nah, daß der Herr
Adam schuf wie er war, und daß der Erlöser, von dem wir lesen, das be¬
sondere Bild seiner Person war?" Er lachte nun selbst über seine Thorheit.
"Nun." sagte er. „Bruder Young, ich habe mein Leben nicht hieran gedacht,
Und war ein Prediger zwanzig Jahre lang." Er hatte niemals den Charakter
des Gottes erkannt, den er verehrte, sondern ähnlich den Athenern hatte er
^nen Altar errichtet mit der Ueberschrift: „Dem unbekannten Gotte".
Die Gabe in fremden Zungen zu reden, ohne vorher von einer Gram¬
matik Gebrauch zu machen. ist in Utah eines der Lieblingsvorrechte. Wenn
Wnand fühlt, daß der Geist ihn treibt, so soll er „auf seine Füße stehen, sich
Mubig an Christus lehnen, seine Lippen bewegen und einen Gesang in einem
ihm beliebigen Takt hervorbringen, und der Herr wird ihm einen Dolmetscher
erwecken und er wird eine Sprache machen", so lautet die Vorschrift. Daß
aber trotz der doppelten Mühe, die sich der heilige Geist mit dem von ihm
bewegten gibt, diese Sprachübungen zu sehr komischen Scenen Anlaß geben,
^um man sich leicht denken. Man denke sich eine Versammlung, in der sich
plötzlich jemand erhebt und unter allerlei Grimassen Laute hervorbringt, wie:
^eniimii, pun-van, Kiaka Umasensl Alles ist stille, aber nach einer kurzen
^eile erhebt sich ein anderer und erklärt, der heilige Geist habe ihm verkündet
was es bedeute; daß es irgend ein Jndianerdialckt wäre, und hieße — folgt
Uebersetzung. Daß der Schalk bei solchen Gelegenheiten nicht immer fehlt,
denn der stirbt in der Welt nirgend aus, und daß Griechisch. Lateinisch,
Deutsch, Französisch und Spanisch, oder irgend eine von den bekannten neuern
oder alten Sprachen niemals zur Anwendung kommen und vom heiligen
Geist der Mormonen verschmäht werden, geben auch die Gelehrtesten unter
den Mormonen zu.
Wenn man sieht, was die Mormonen aus ihrem Land gemacht, seitdem
sie es in Besitz genommen haben, so kann man ihrem Fleiß und ihrer Aus¬
dauer ein Lob nicht versagen, aber die Bewunderung, die sie sich selbst zollen,
haben sie nicht verdient; und wenn man das Werk vergleicht mit dem, was
in Kalifornien in kürzerer Zeit durch die Uebcrlandemigration geschehen ist, so
erscheint es winzig, selbst dann noch, wenn man alle Unterschiede in Rechnung
bringt. Wer den Schilderungen der Mormonen nicht als Uebertreibungen
und absichtlichen Lügen mißtraut, der muß, wenn er sie liest, zur Ueberzeugung
kommen, das Jordanthal wäre ein Paradies, in dem sich Wunder auf Wun¬
der drängt. Wenn man von großartigen Nationalwerkstätten liest, in denen
jeder so lange Beschäftigung findet, bis er sich selbstständig machen kann, so
hat man sich einige Schuppen zu denken, in denen einige Hobelbänke, einige
Circularsägen und einige Schraubstocke und Drehbänke stehen, alles in ziem¬
lich fötalem Zustand, und an denen, so viel ich sehen konnte, nicht ein Dutzend
Manschen arbeiten; die Werkstätten scheinen sich selbst unter den Heiligen keines
großen Credits zu erfreuen. Aehnlich verhält es sich mit ihren höhern Bildungs-
anstalten, sie existiren nur in der Idee; das Schulwesen ist in Utah noch nicht
über die Elementarstufe hinausgekommen, was auch ganz begreiflich und in der
Ordnung ist. Auch ihre große Baumwollspinnerei ist eine Chimäre. In einem
Dachzimmer des Statehouse bewahren die Mormonen einige kostbare In¬
strumente, deren Gebrauch sie mir für die Zeit unseres Aufenthaltes in Galt-
Lake City anboten, da sie noch niemanden unter sich hätten, der Gebrauch davon
zu machen verstände. Cs war ein vortreffliches Roß'sches Mikroskop neuester Con-
stmctio« darunter, und das Erstaunen einiger Schriftgelehrten über die reelleren
Wunder, die ihnen das kleine Instrument offenbarte, als ich ihnen einige Objecte
unter die Augen brachte, war nicht gering. Sie besaßen nicht Wlemger als
sechs Barometer für Hdhenmessungen von dem bekannten englischen Mens«'
niker Troughton, aber alle hatten Luft in die Leere bekommen, oder waren
durch unverständigen Transport sonst schadhaft geworden; nicht ein einzig^
war brauchbar. Eim chemischer Apparat in Form eines großen Reagenzkastens
war ebenfalls vorhanden, ebenso ein Teleskop und kleinere Meßinstrumente-
Ein Theil der Bibliothek, für deren Anschaffung der Kongreß früher 5ovo
Dollars bewilligt hatte, und in welcher neben den großen englischen 'Ency¬
klopädien die Rechtswissenschaft ziemlich gut repräsentirt war, ist vor kurzem
in Feuer aufgegangen, und zwar wie man behauptet unter Vorwissen ter Be¬
hörden der Mormonen, denen namentlich die Rechtswissenschaft unbequem war-
Es gereicht mir zum besondern Vergnügen, die Versicherung geben zu
können, daß ich in dem ganzen Territorium nicht mehr als drei Deutsche traf,
die in die Gemeinschaft der Heiligen der jüngsten Tage eingetreten waren, und
von dem einen darf ich behaupten, daß sein Glaube nicht auf einen Fels
gebaut war. Der vornehmste dieser drei Würdigen war ein verkommener
Student, der aus Noth das Buch der Mormonen ins Deutsche übersetzt und
dem Missionär, für den er es bearbeitet hatte, von Hamburg aus nach Utah
gefolgt war. Er war Stadtingenieur in Provo, der zweiten Stadt dem
Range nach, und wartete mit Ungeduld, daß ihm der heilige Geist die Lehre
von der Congruenz und der Aehnlichkeit der Dreiecke offenbare, da ihm ohne
deren Kenntniß sein Geschäft sehr sauer wurde. Der zweite Landsmann war
ein Barbier, der die Bärte aller Nationen nach ihrer Bekehrung zu scheeren
hoffte, und einstweilen den hohen Preis der Bartseife beklagend in der großen
Stadt etwas Doctorei trieb. Der dritte war ein gewöhnlicher Mensch.
Wenn ich in der vorliegenden Schilderung den Heiligen der jüngsten Tage
irgend Unrecht gethan hätte, so würde ich dies um so mehr beklagen, als ich
die Schilderung mit einer großen Ungezogenheit gegen die Frauen in Utah
fließen muß. Ich nehme dieses Vergehen aus mich im Interesse und zum
Troste derjenigen meiner Landsleute, welche auf die Vorrechte der Heiligen mit
stillem Neid und vielleicht geheimen Wünschen blicken möchten. — In dem
ganzen Thal habe ich kein auch nur annähernd schönes Weib gesehen. .
So voreilig es wäre, in dem labyrinthischen Gang der Diplomatie irgend ein
l°steh Gesetz entdecken zu wollen, so sind diesmal die Symptome, die für das Zu¬
standekommen eines europäischen Kongresses sprechen, zu stark, als daß man sich
durch die Warnung des Kaisers Napoleon an die Italiener: sie möchten sich von
°>Nein solchen Kongreß nicht viel versprechen, — irremachen lassen sollte. Seit-
^ ist das Verhältniß in der That. Der Kongreß kann doch nur von den beiden
Wegführenden Mächten: Oestreich und Frankreich, einberufen werden; von diesen ist
, Östreich entschieden gegen einen Kongreß überhaupt, und der Kaiser Napoleon, sonst
^ ^gemeinen so sehr für Kongresse eingenommen, äußert erhebliche Bedenken.
^ drei andern Großmächte vollends scheinen nur mit äußerstem Sträuben einem
solchen Ruft Folge leisten zu wollen. Es sind, wie gesagt, die wunderlichsten
Aspccten: aber grade darum, weil der Drang der Umstände stärker ist, als
der Wille der Menschen, wird vielleicht diesmal der Congreß eine Wichtigkeit erlan¬
gen, wie keiner seiner Vorgänger. -l-.i ^,„<z >ki,-',
Der Drang der Umstände ist in der That gebieterisch. Die Zustände Mittel¬
italiens können, so wie sie sind, nicht bleiben. Frankreich kann nicht wohl interveniren,
es kann noch weniger dulden, daß Oestreich intervcnirt. Einen Localkricg zwischen
den italienischen Mächten zuzulassen, ist aber noch mehr gegen das Interesse der
Großmächte. Einseitig kann die Frage auf keine Weise gelöst werden, ganz Europa
muß sich an der Lösung betheiligen.
Es handelt sich hier um eine ganz neue Auffassung des Begriffs von europäi¬
schem Gleichgewicht. Bisher datirte man die Legitimität der Staaten bis auf den
wiener Kongreß. Zwar war das Gleichgewicht, welches derselbe geschaffen, sehr
sonderbarer Art, denn indem er gleichsam mit Vorbedacht überall Länder und Völ¬
ker zusammenfügte, welche nicht zusammen gehörten, so war daraus eine beständige
Unruhe hervorgegangen, die man als revolutionär bezeichnete, während es doch
nichts Anderes war, als das Zucken und Streben der Nationalitäten, sich von den
fremdartigen Elementen zu scheiden. Auch hatte man es mit dem Princip der Legi¬
timität, wenn es darauf ankam den Umständen Rechnung zu tragen, nicht allzu-
strcng genommen: das Königreich Polen war eine russische Provinz geworden, Kra-
kau war von Oestreich einverleibt, beides ohne Kongreß. An der Errichtung des
Königreichs Belgien hatte Europa sich betheiligt, auch das Königreich Griechenland
und das Fürstenthum Serbien kann man dahin ziehn. Neuerdings ist die Familie
Bonaparte aus den französischen Thron erhoben, trotz der Bestimmungen des Kongresses.
War man indessen auch vielfach vom Princip abgewichen, so war das Princip
selbst doch geblieben, gleichsam als ein Schatten, hinter den man sich flüchten konnte,
wenn es in der wirklichen Politik zu heiß wurde. Diesmal handelt es sich um
mehr. Der Krieg hatte eingestandnermaßen den Zweck, eine Revision des wiener
Kongresses vorzunehmen, es ist also nicht mehr eine Abweichung vom Princip, son¬
dern eine Aushebung desselben.
Allein das Unglück ist bereits geschehn und nicht wieder gut zu machen. Wenn
sich Europa an der Lösung dieses Conflicts betheiligt, fo müßte eine einfache Rück¬
kehr zum Princip der Legitimität auch den Frieden von Villafranca aufheben, was
weder die neutralen Mächte, noch die beiden kriegführenden gewillt sind. Es kommt
vielmehr darauf an, in Italien eine Ordnung herzustellen, die Europa Garantien
der Dauer bietet, so weit überhaupt irdische Dinge garantirt werden können.
Glücklicherweise bietet sich die Lösung sehr einfach, und diesmal trifft der Gcsammt-
willc der italienischen Nation mit den Interessen Europas zusammen. Die Ver¬
größerung Sardiniens durch Toscana. Modena und Parma, (von den Legationen
reden wir hier nicht, weil hier noch ein viel bedenklicherer Conflict entsteht) bringt
einen wahrhaft nationalen Staat zu Stande, der sich unabhängig vom Ausland
halten und der Revolution kräftigen Widerstand leisten kann. Ein zugleich militä¬
risch tüchtiges und im Sinn der bürgerlichen Ordnung verwaltetes Reich, das um
seines eignen Bestehens willen sich wol hüten wird, unruhigen Vcllcitüten zu folgen,
woher sie auch kommen mögen.
Für eine Einheit Italiens, gleichviel ob in monarchischer oder republikanischer Form,
find die Zustände nicht reif, wol aber ist der bestehende Organismus des piemon-
tesischen Staats kräftig genug, die verwandten Elemente seiner Nachbarländer voll¬
ständig in sich zu absorbiren und so einen wahren Einheitsstaat hervorzubringen.
Einer solchen Lösung widersetzt sich eingestandenermaßen nur Oestreich, aus
Principien des Rechts, gegen die man von seinem Standpunkt nichts einwenden
kann, die aber höhern Rücksichten weichen müssen. Wir glauben gern, daß auch
dem französischen Kaiser eine Losung nicht ganz bequem sein wird, die statt eines
Vasallenstaats einen unabhängigen Staat an feine Grenze setzt; aber ihm sind die Hände
in einer Weise gebunden, daß er sich kaum dagegen aussprechen wird, wenn das
"brigc Europa den nationalen Willen Italiens begünstigt. England hat sich bereits
ausgesprochen, von Nußland ist anzunehmen, daß es sich ebenfalls dahin neigt, wenn
auch aus keinem andern Grunde, als um Oestreich einen vermeintlichen Nachtheil
^zufügen. Einen vermeintlichen: denn wir sind fest überzeugt, daß Oestreichs
Staatsleben nur dann wahrhaft gefunden kann, wenn es aus den unseligen und
Unfruchtbaren italienischen Verwickelungen gelöst wird.
Preußens Stimme hat unter diesen Umstünden eine sehr erhebliche Bedeutung,
und darum wiederholen wir. daß es einen festen Entschluß fassen und sich über
°'Na Parteinahme klar machen muß. die für die nächsten Jahre maßgebend sein
wird. Seit einem Jahr ist die liberale und nationale Haltung für die preu¬
ßische Regierung maßgebend: wahrhaft fruchtbar und segensreich für das Land wird
ste aber erst dann sein, wenn sie nach innen und außen consequent gehandhabt wird,
^der die Consequenz im Innern ein andermal: was aber die auswärtige Politik
trifft, so soll Preußen daran denken, daß es vielleicht bald in die Lage kommen kann,
dnn europäischen Kongreß eine Frage vorzulegen, die mit der italienischen sehr ver¬
wandt ist.
Die Unterdrückung der deutschen Herzogthümer durch die Dänen wurde so lange
tragen, als man die Hoffnung hegen konnte, einmal auf gesetzlichem Wege davon
^freie zu werden. Diese Hoffnung ist durch das von den Großmächten unterzeich¬
ne londoner Protokoll, welches die Erbfolge in den Herzogthümern nach der däni-
schen Erbfolge modificirt. aufgehoben worden. An diesem Protokoll hat sich Oese-
^'es betheiligt. und Preußen, das anfangs protestirte, hat sich leider unter Mitwir-
^"g verschiedener Umstände verleiten lassen. nachträglich auch seine Unterschrift her¬
geben. Es hat die Ehrenpflicht gegen Deutschland, dies dadurch wieder gut zu
Aachen, daß es beim Kongreß die Revision jenes Protokolls, d. h. die Wiederherstel¬
lung des alten Staatsrechts beantrage. Vielleicht ist keine Zeit dazu geeigneter als
gegenwärtige, wo die öffentliche Meinung, und nicht mit Unrecht, von Preußen eine
^ästige Willensäußerung erwartet und wo die äußern Beziehungen wenigstens nicht
Unbedingt im Wege stehn. Wenn man sich der unterdrückten Italiener annimmt,
^° wird man die unterdrückten Holsteins nicht vergessen dürfen.
Die Bemerkungen gelten nur unter der Bedingung, von welcher auch Lord
^"du Russell die Betheiligung Englands am Kongreß abhängig macht. Wenn es
einfach um eine Sanction des Friedens von Villafranca handelt, so hat Preu-
Unter den Festgaben zum Andenken Schillers bleibt die bildende Kunst nicht
zurück; wir wollen hier einige der wichtigsten Beiträge verzeichnen.
Als „Festgabe zu Schillers hundertjährigem Geburtstag" erscheint in Stuttgart
bei Göpel, gestochen von Dcrtigcr, ein Portrait des jugendlichen Schiller, angeblich
von 1780, die Copie eines Originalgemäldcs im Besitz des Hrn. Friedrich.
Es wurde zuerst dem Historienmaler Nie. Guibai (geht. 1784) zugeschrieben; daß
es von diesem nicht herrühren kann, ist jetzt nachgewiesen, und die Stimmen der
meisten Kunstkenner sprechen sich für PH. Kr. Hetsch aus, Schillers Mitschüler
auf der Kunstakademie, später Galcricdirector in Stuttgart. Es wäre sehr erfreulich,
wenn auch nur die Zeit genau bestimmt werden könnte; das Original kennen wir
nicht; der (übrigens trefflich ausgeführte) Stich läßt kaum auf einen zwanzigjährigen
Jüngling Vermuthen. Das Gesicht ist sehr bedeutend: weicht aber nicht wenig von
den bekannteren Portraits ab. —
Schillcrfeier. Eine Sammlung von Portraits und Ansichten zu Schillers
Leben und Werken. Leipzig, Baumgärtner. — Die Sammlung enthält (gestochen
von A. Wcger) die Portraits von Schiller, Schillers Vater, Mutter und Schwester
Nanctte — durchweg höchst interessante Physiognomien; Charlotte v. Kalb (das be¬
kannte Miniaturbild, das ihr unmöglich ähnlich gesehn hat, wenn sie nicht etwa
noch Kind gewesen ist); Körner (ein herrlicher Kopf, gemalt von Graff, gestochen
von Sichling); die Herzogin Amalia (von Angelika Kauffmann) und Schillers
Todtenmaske; außerdem eine Zahl von Schillerhäusern und einige Kors ä'oeuvröS.
Das Ganze ist eine selonc Festgabe. —
Schiller-Galerie. Charaktere aus Schillers Werken, gezeichnet von Fried¬
rich Pacht und Arthur v. Ramberg. In Stahl gestochen von Fleischmann,
Froer, Geyer, Goldberg, Gonzenbach, Jaquemot. Lämmcl, Merz, Preiset, Raab, Ros-
dof, Schultheiß. Sichling u. a. — Mit erläuterndem Text von Fr. Pacht. Fünf¬
zig Blätter in Stahlstich nebst fünfundzwanzig Bogen Text. — Leipzig, Brockhaus.
— Diese glänzend ausgestattete Festgabe trägt einen freien künstlerischen Charakter,
auch die beiden Bildnisse, Schiller und Lotte, sind componirt, wenngleich nach
Anleitung vorhandener Portraits. Die beiden Künstler haben sich bemüht, im Geist
Schillers zu schaffen, und den Charakteren des Dichters einen plastischen Ausdruck
zu geben. Wie weit ihnen das gelungen ist, darüber muß im einzelnen Fall die
subjective Empfindung entscheiden: übt doch in Gedanken jeder Leser Schillers eM
ähnliches Werk aus, und findet in der wirklichen Anschauung das Bild seiner Phan¬
tasie mehr oder minder befriedigt. Der eine der beiden Künstler hat es übernommen,
ihre Auffassung auch durch Reflexion zu unterstützen, und sehr zum Vortheil der
Sammlung; denn seine Reflexionen sind geistvoll, sie sprechen von aufrichtiger Wahr¬
heitsliebe und tiefem Eindringen in den Sinn des Dichters, und versöhnen uns mit
manchen malerischen Einfällen, an denen wir zuerst Anstoß nehmen. Nur gegen
eins müssen wir protestiren: historische Portraits müssen der Geschichte entsprechen, der
Dichter mag nach Gefallen idealisiren, der Maler darf es nicht, am wenigsten be>
einer bekannten Figur wie Philipp der Zweite. — Ueberall empfindet man, daß
Cardinal Fürstbischof Melchior v. Diepenbrock. Ein Lebensbild von
seinem Nachfolger auf dem bischöflichen Stuhl (Heinrich Förster), — Breslau, Hirt.
— Ein kleine«, aber anziehendes Büchlein; man hätte nur gewünscht, daß der
geistvolle Verfasser etwas mehr ins Detail gegangen wäre, wo es sich um die ge¬
heimen Tiefen in einer reichbegabten Menschenseele handelte. Vielleicht legte ihm
hin und wieder sein Amt Rücksichten auf. — Melchior v. Diepenbrock war 1798
«u Bochvlt, im Fürstenthum Salm-Salm geboren. Die Neigung zog den feurigen
Knaben schon früh zum Kriegsdienst; 1810 wurde er in das militärische Lyceum
on Bonn gebracht, aber einige Zeit darauf wegen Ungehorsam entlassen. In den
Freiheitskriegen würd« er preußischer Offizier; leider zu spät, um an dem eigent¬
lichen Kampf betheiligt zu sein. Im Garnisondicnst begann sür ihn jenes regel¬
lose Soldatenleben, das er mit manchen schönen Zügen, aber auch mit verwegenen
thaten und wilden Streichen reich gezeichnet hat, und das seinem braven Vater
viel Geld, und seiner frommen Mutter viel Thränen kostete. Er wurde in streitig«
leiten und Duelle verwickelt, ließ sich verschiedene Excesse zu Schulden kommcnl, am
leisten aber versündigte er sich gegen die Gesetze der Subordination, und eine die¬
ser Vergehungen war so ernster Natur, daß sie, wäre nicht Gnade vor Recht er¬
gangen, eine lange Festungsstrafc nach sich gezogen haben würde. Er nahm seinen
Abschied mit so erbitterter Seele, daß er, bevor er sein Regiment verließ, in einem
Unfall leidenschaftlicher Wuth seine Uniform zerriß und seinen Degen zerbrach. —
^it sich zerfallen — schon in seiner wilden Jugend lag die tiefe Sehnsucht nach
°me», Unbekannten — trug er sich eine Zeitlang mit Selbstmordgedanken. Aus dem
Landgut seiner Eltern trieb er leidenschaftlich die Jagd: „Er war ohne Lebenszweck,
^»d ^ hadje,, ihm auch nicht der Mühe werth dergleichen zu suchen und zu ver¬
sagen." — In dieser Periode 1817 wurde durch seinen Freund Clemens Brentano
^ Professor Salier in seinem Hause eingeführt; auf einem halbstündigen Spazier-
„ wußte er so tief in Melchiors Seele einzugreifen, daß dieser fortan ein ält-
erer Mensch wurde. Er ging zur Beichte und trat bald darauf — noch mehr
,^res die „gottbegnadigte" Katharina Emmerich in seinem Entschluß bestärkt —
>N den geistlichen Stand. Den. 1823 erhielt er in Regensburg von Salter, dessen
emüthiger Secretär er nun wurde, die Subdiaconusweihe. Es soll ein rührendes
'it gewesen sein, wie der hochgewachsene, ritterliche, stolzblickcnde junge Mann —
"sen feuriges Auge manchen zittern machte — sich zu dem kleinen Salter hcrab-
kugte, um ihm die Hand zu küssen. Zuweilen erwachte noch in ihm die Neigung
^ Pferden, zur Jagd; doch unterdrückte er sie mit rücksichtsloser Entschiedenheit. —
29 gab gemeinsam mit Görres, die Schriften des Mystikers Suso heraus;
^ im Verein mit Schenk und Brentano einen „geistlichen Blumenstrauß". Nach
'Niger Zeit wurde er ins Domcapitel in Regensburg genommen; nach Saliers
ob 2y. Mai 1832 verharrte er in seiner Stellung. Bei einer neuen Bischofs-
"si in Breslau August 1841 kam auch er in Vorschlag; ernste Hindernisse stellten
' jdamals dazwischen, aber 15. Jan. 1845 wurde er wirklich gewählt. Nach
gern Sträuben nahm er die Wahl an, aber erst nachdem ihn der Papst un-
mittelbar dazu aufgefordert. Eben war (30. Märj 1845) Ronge excommunicirt;
zugleich handelte es sich um einen Kämpf gegen die Branntweinpest in Overschlesicn;
der neue Bischof kam mitten in eine streitende Kirche, und wurde nicht selten von Sorge
niedergedrückt. Alte Sehnsucht kam über ihn; seinen Freund Förster entließ er regel¬
mäßig mit den Worten: möchte diese Nacht meine letzte sein! — Eifrig für das Leben der
katholischen Kirche, entschlossen ihren Gegnern gegenüber, blieb er doch immer der
geistvolle Mann, der sür seine Dogmen gebildete, ja weltliche Gesichtspunkte zu finden
wußte. — Im Nov. 1850 wurde er Cardinal; als einige Zeit daraus der Anfall
eines wüthenden Ochsen sein Leben in Gefahr brachte, schrieb ihm der König: „El
el! Herr Cardinal! Sie haben doch nicht etwa Ihren Purpur irgendwo durchblicke»
lassen; das Geschlecht Ihres Gegners verträgt ihn nicht." „Der Purpur, erwiederte
dieser, war ganz und gar aus dem Spiele, aber jenes Geschlecht vertrüge auch die
schwarzen Röcke nicht." — Im Januar 1853 starb er, von den Seinigen hochgeach¬
tet und hochgelicbt.
Die Arme-Liese. Schauspiel in 5 A. von Hermann Hersch. Frank¬
furt a. M., Sauerländcr. — Das Stück hat auf den Bühnen entschiednes Glück
gemacht, weil es zwei dankbare Virtuose» enthält: den alten Dessauer als jugend¬
lichen Enthusiasten und eine geborne Marketenderin als Fürstcnbrcmt. Die Probe
der ruhigen Lectüre hält es nicht aus: der Spaß wird durch sentimentale und mo¬
ralische Anwendungen verkümmert, und wenn man sich diese Ehe als wirklich voll¬
zogen denkt, so muß man den Kopf schütteln, auch wenn man zu keinem Hof
gehört. — — t
Von Rüstows neuer Schrift „Der italienische Krieg" ist die zweite Ab¬
theilung erschienen, welche die Ereignisse des letzten Kriegs in Oberitalien bis zuo
Rückzug der Oestreicher hinter den Mincio verfolgt. Der Schluß des Werkes soll in
wenigen Tagen die Presse verlassen. — Von Lorcks „Zeithcftcn" liegt uns das
neunte vor, welches eine Abhandlung über die westslawischen Völker, ihre Stellung
in Europa und ihre Bestrebungen enthält, die lesenswert!) ist. Wenn der Verfasse
die Zahl der Sorbcnwendcn im Königreich Sachsen zu 60,000 annimmt, so ist das
viel zu hoch gegriffen, man müßte dann Dörfer mit rechnen, die seit vielen Jahrzehnten
nicht mehr Wendisch sprechen. — Auch von dem in gleichem Verlag erscheinenden
biographischen Lexikon „Männer der Zeit" ist eine neue Lieferung ausgegeben
Zu dem, was im ersten Artikel über Wcmgeroge in Betreff der sogenannten
goldnen Linie gesagt ist, wird uns bemerkt: „Die goldne Linie ist nicht ein Küste"-
punkt, befindet sich auch nicht unmittelbar bei der ostfriesischen, also hannoverschen
Friedrichsschleußc, sondern ist der Grcnzgraben zwischen Ostfriesland und JevcrlaN,
welchen man trifft, wenn man von Friedrichsschleußc oder Carolinensicl ein SW
Wegs nach Osten geht." ________-
Fragen wir uns einmal, was für ein Mann es war, mit dem sich die
Bundesversammlung vereinigte, als es die Vernichtung der verfassungsmäßigen
Rechte Hessens galt. Der Name Hassenpflug bedeutet langjährigen Vernich-
tungskampf gegen das Grundgesetz Kurhesseus, und nicht blos gegen dieses,
sondern gegen jede Freiheit, Selbstständigkeit, gesetzliche Ordnung, für boden¬
lose Willkür. Er hat diesen Kampf geführt mit so gänzlicher Gleichgiltigkeit
^gen die Güte der Mittel, mit so cynischer Dreistigkeit, daß wir um der
^hre des deutschen Namens willen hoffen, er wird einzig dastehen in der
^utschcn Geschichte. Hassenpflug begann seine Laufbahn mit der Beiziehung
^et berüchtigten Bundesbeschlüsse von 1332, Auslösung der Kammer und An-
Achtungen des bleibenden Ausschusses derselben, ja mit einem Verbot der Feier
^6 Jahrestags der Verfassung. Aus der neuen Kammer suchte er die Be-
"u>ten unter den seltsamsten Vorwänden zu entfernen,' hinterzog den Beginn
Sitzungen, untersagte eine kirchliche Eröffnungsfeier und kam einer An¬
lage durch abermalige Kammerauflösung schnell zuvor. Die Chikanen gegen
^ gewühlten Beamten wiederholten sich beim folgenden Landtag, es wurden
^'»selben die sonderbarsten Zumuthungen gestellt. Mit der Kammer von
^6 gi,^ ^ nachdem er das Seinige gethan, um alle Mißliebigen fern zu
^leer, noch weiter; zuletzt entließ er sie ohne Abschied. Das Recht der Ab-
Seordnetenversammlung zur Ausgabenbewilligung suchte er zu vereiteln, das
^ehe zur Initiative bei der Gesetzgebung zu bestreikn, ihr Recht zur Zu-
' unmung bei Gesetzen durch „Verordnungen" zu umgehen, ja ohne diese Zu-
unmung eine Steuer einzuführen (die Wegegeldsabgabe). Die Presse hielt er
^der, indem er selbst censirte, manche Kammerverhandlung ließ er nicht ver¬
deutlichen. Gegen Richter verfuhr er wegen von ihnen ausgesprochener rieb-
^'"cher Ueberzeugungen mit Rügen und Versetzungen; politische Gegner wie
rü Professor Jordan ließ er auf die gehässigste Weise verfolgen. Manches
^potische Regiment rühmt sich besonderer Fürsorge für die materielle Landes-
°hlfahrt und sucht sich wol damit zu rechtfertigen. Bei Hassenpflug war dies
M der Fall, er setzte die öffentliche Wohlfahrt fast unverhüllt andern Jnter-
essen nach, denen nämlich der privilegirten Adligen und Standesherren und
des Regenten, dem er die rotenburger Quart zuwendete und dem er eine Er-
sparniß von 300,000 Thlr. etatswidrig zu militärischen Spielereien opferte.
Man fragt umsonst nach den tieferen Zwecken einer solchen Politik, man
müßte sie denn darin finden wollen, daß er schließlich den doppelten Minister¬
gehalt bezog und sogar 8000 Thlr. nachgezahlt verlangte.
War es möglich, daß ein Land vor einem solchen Negierungshaupt Achtung
oder Vertrauen zu ihm fühlte? Wäre es nicht vielmehr natürlich gewesen,
wenn es den Widerwillen gegen einen solchen Minister auf denjenigen, der
ihn berufen hatte, auf die Obrigkeit überhaupt, die er vertrat, übertrage»
hätte? Mußte nicht die dringendste Pflicht gebieten, dem vorzubeugen, den
bösen Eindruck jenes Regiments durch einen anderen erfreulichen zu entkräf¬
ten? Statt dessen wurde das Treiben Hassenpflugs auch nach seiner Entlas¬
sung bis 1848, zuletzt nur noch offener, man könnte beinahe sagen ehrlicher,
aber auch fanatischer sortgesetzt. E,s wäre nutzlos, diese Verwaltungsperiode
im Einzelnen zu verfolgen, genug, ihr Charakter war die vollständige Ver-
neinung jeder Bedeutung des Landtags, die offenbare Verhöhnung desselben
und das allgemeine Bestreben, jedes verfassungsmäßige Recht der .Kammer
und der Einzelnen zu umgehen, zu verkürzen und illusorisch zu machen.
Man hätte erwarten sollen, daß 1848, als die Regierungen ohnmächtig
und gelähmt waren, der Grimm der Kurhessen sich gewaltig erhoben, jeder
Obrigkeit Anerkennung verweigert, denjenigen, die das Land so lange alß'
handelt hatten, mit Schimpf und Gewalt vergolten hätte, daß der durch die Künste
der Regierungen herabgewürdigte Constitutionalismus. bei Seite geschoben wor¬
den wäre, um einer Republik, vielleicht wilder Anarchie Platz zu machen. Aber
von alle dem geschah nichts. Nur in einer Stadt, in Hanau. wo sich auch
aus den benachbarten Staaten bewaffnete Massen gesammelt hatten, schienen
Excesse zu drohen, allein auch diese Stadt kehrte schnell zu vollständiger Ord¬
nung zurück, als das Ministerium Eberhard an die Spitze trat. Selbst w
jenen bewegten Tagen hatte das Volk in seinen Petitionen keine anderen
Forderungen als: Entfernung der verhaßten Mitglieder der Negierung, Erlaß
lange versprochener Gesetze, Sicherung des öffentlichen Rechts und der Ein¬
zelnen gegen die polizeiliche Willkür der eben vergangenen Jahre. In einer
Ruhe und Loyalität, welche dem entsprach, wurden, fast wie im tiefsten Fne'
den, zahlreiche Gesetze berathen und erlassen, Gesetze so conservativ, wie sie
in andern Staaten nicht einmal zur Zeit der blühenden Reaction erschienen
sind, ein Ablösungsgcsetz. das den Berechtigten die abzulösenden Leistungen
zum zwanzigfachen Capitalbetrag vergütet, ja — das einzige der Art in gM
Deutschland! — ein Gesetz, durch welches den Jagdberechtigten sür die weg'
fallende Jagd eine, wenn auch geringe Entschädigung zugesprochen wird-
Dem Kurfürsten selbst, der die Einkünfte der rotcnburger Quart seit langen
Jahren bezogen hatte, indem den Ständen das Gericht verweigert wurde und
der von ihnen angerufene Bundestag sich für incompetent erklärte, wurden
alle diejenigen Einkünfte, die er schon bezogen hatte, zum Opfer gebracht.
So handelte das hessische Volt, obwol Nahrungslosigkeit überHand nahm,
obwol die Verwirrung der deutschen Verhältnisse auf den Gipfel stieg und
immer neuer Stoff zur Unzufriedenheit sich bot, obwol endlich das Haupt des
Staates selbst zur Befestigung des Vertrauens nichts beitrug.
Da erscheint Hassenpflug. der Verhaßteste, der ausgemachteste Feind con-
stiwtioneller Ordnung. Daß er überhaupt erscheinen konnte und zu erscheinen
wogte, beweist, wie der Kurfürst ebenso wie er selbst auf die Loyalität der Unter,
thauen baute; wahrhaftig, man wundert sich, wie es in jener aufgeregten
Zeit möglich war. daß ein Hasscnpflng über die Grenze hereinkommen und
>in Lande bleiben konnte! Er tritt auf mit vieldeutigen Erklärungen, ver¬
weigert alsbald einen bestimmten Nachweis über den Eid auf die Verfassung,
verbietet dem Landtagscommissar, das fast einstimmige Mißtrauensvotum der
Kammer an die Staatsregierung abzugeben, verlangt eine Geldbewilligung
von 644,000 Thlr. aus unveräußerlichen, zu besondern Zwecken bestimmten,
«und den Stantsgläubigern verpfändeten Geldern, den Laudcmialgeldern; den
Bedarf sucht er damit zu begründen, daß er den augenblicklichen Kassenbcstand
lohne Rücksicht auf die noch zufließenden Einnahmen) als unzureichend für die
^vorstehenden Ausgaben bezeichnet, während die Hauptstaatskasse selbst in
'i«er Berichten bemerkt, daß daraus kein Deficit folge, obgleich er selbst das
Budget des Ministeriums Eberhard, das noch Einnahmen nachwies, nicht zu¬
rückzieht und obgleich der Etat der Ausgaben noch nicht festgestellt ist. Natür¬
lich lehnt der Landtag, seiner Pflicht gemäß, die Forderung ab. Er wird per¬
iod. Als er wieder einberufen ist, verlangt man sofort, wiederum ohne
Nachweis eines Deficits (das in der That nicht vorhanden war), ohne Zurück¬
nahme des vom vorigen Ministerium vorgelegten Budgets, ohne Vorlegung
Niles andern und vor einer Feststellung der Etats, einen Credit von 760,000
5dir. Der Landtag wendet sich sofort zur Prüfung des Budgets und lehnt
^e Proposition ab! Da mit demselben Monat (Juni 1850) die sechs Mo-
"ale ablaufen, über die hinaus nach der Verfassung von 1831 die Steuern
nicht forterhoben werden dürfen, fordert Hassenpflug die Genehmigung zur
Torterhebung der Steuern. Die Stündeversammlung will darüber — von der
^schnftsordnung zu Gunsten der Regierung abweichend — sogleich in Be-
Eichung treten, sobald sie nur den eben im Druck befindlichen Bericht ihres
Ausschusses gelesen hat. da — erfolgt die Auflösung. Nun hätten keine Steuern
'"ehr erhoben werden können, bis die neue Kammer zusammentrat. Deshalb
^"ehmigt der verfassungsmäßig bleibende ständische Ausschuß, obschon er dazu
besonderer Instruction durch den abtretenden Landtag bedurft hätte, zwei
Ausschreiben, durch welche der Regierung wegen der „ohne Vorsorge für den
Ablauf der Steuererhebungszeit erfolgten Auflösung der Ständeversammlung"
zum Zweck der einstweiligen Deposition gestattet wird, ^.diejenigen Steuern
und Abgaben fortzuerheben, die außerdem verloren gegangen wären. Im
August tritt der neue Landtag zusammen, alsbald wird ihm die Genehmigung
zur Forterhebung der Steuern und Abgaben bis Ende September ohne Prü¬
fung des Staatsbedarfs angesonnen. Um Verluste zu vermeiden, ist die Ma¬
jorität bereit, in die fernere Erhebung und Deposition der indirecten Ab¬
gaben zu willigen; die Regierung weist dies zurück; die Kammer bleibt da¬
bei und lehnt die Regierungsproposition ab und wird sofort, am 1. Sep¬
tember 1850, wieder aufgelöst. Nun soll der landständische Ausschuß ein
Steuerausschreiben, genehmigen, das der Landtag selbst nicht gebilligt hat;
er wird aber nur eingeladen, einer Sitzung des Gesammtministeriums „beizu¬
wohnen", in weicher außerordentliche Maßregeln in Betreff der Stcuerfrage
auf Grund des K. 95 der Verfassung") ergriffen werden sollten, und bittet,
um seine Zuständigkeit prüfen zu können, um nähere Auskunft über die beab¬
sichtigten Maßregeln. Es wird ihm diese Auskunft nicht gegeben, sondern
die Befugniß zur vorläufigen Prüfung seiner Zuständigkeit bestritten. Er ant¬
wortet, daß er, da seine Zuständigkeit auf §. 95 der Verfassung beruhe und
die Erhebung und Verwendung von Steuern nicht umfasse, und da er über
die „außerordentliche Begebenheit, für welche die vorhandenen Gesetze unzu¬
länglich seien." keine Auskunft erhalten habe, die Voraussetzung seiner Mit¬
wirkung nicht als gegeben betrachten könne. Das Ministerium erwiedert,
der „Verfnssungsbruch" der Ständeversammlung sei jene „außerordentliche"
Begebenheit und verlegt die Sitzung. An einer Sitzung auf solcher Grund-
läge soll der Ausschuß eben derjenigen Versammlung theilnehmen, weiche
die „Verfassung gebrochen" hat! Er lehnt natürlich ab. Aber ohne das abzu¬
warten, hat Hassenpflug schon am Tage zuvor eine Verordnung erlassen, durch
welche die Fort- und Nachcrhebung aller Steuern und Abgaben befohlen wird.
Der ständische Ausschuß remonstrirt, verlangt die Zurücknahme der Verordnung;
die Behörden beschließen, ihr keine Folge zu geben; denn §. I4ö der Verfassung
bestimmt, daß die landständische Bewilligung in den Steuerausschreiben erwähnt
werden soll, und ohne sie weder die ErHeber zur Einforderung berechtigt, noch die
Verpflichteten die Entrichtung schuldig sind, und §. Ki macht jeden Staats¬
diener verantwortlich, der sich einer Verletzung der Verfassung, „namentlich
auch durch Vollziehung einer nicht in der verfassungsmäßigen
Form ergangenen Verfügung einer höchsten Staatsbehörde" u. s. w.
schuldig macht. Die Behörden stellen dies vor und bitten, sie der Nothwenig¬
keit zu entheben, den Gehorsam zu versagen. Die Negierung verhängt den
Kriegszustand über das Land. Aber auch diese Maßregel scheitert an der
Treue der auf die Verfassung beeidigten Offiziere. Die Minister und der Kur¬
fürst entfernen sich, vor den Folgen der eignen Thaten fliehend, nach Wil¬
helmsbad. Bairische und östreichische Truppen ziehen ein, um „den Aufruhr"
W Hessen zu bewältigen, einen Aufruhr, den Hr. v. Manteuffel selbst eine
Revolution in Schlafrock und Pantoffeln nannte, um damit anzusprechen,
daß er das Gegentheil des Aufruhrs war, nämlich ein ernsthaftes Beharren
^f dem Recht.
Es ist offenbar: Hassenpflugs Streben war. während er sonst sich darauf
^schränkte, die Verfassung zu entkräften und zu untergraben, jetzt daraus ge¬
achtet, sie bei Seite zu werfen. Er konnte dazu den Streit zwischen Preußen
und Oestreich um die „Union" wie einen Hebel benutzen; jeder Fortschritt
Östreichs und der Reactivirung des Bundestags bezeichnet daher auch einen
'veitern Schritt Hassenpflugs gegen die kurhessischc Verfassung. Und wenn er
selbst geflissentlich und muthwillig dem Landtag jede Möglichkeit entzieht, seine
Forderungen zu prüfen und den Staatshaushalt festzusetzen, was die Voraus-
setzung jeder Steuerbewilligung bildet, insbesondere aber nach der kurhessischen
Verfassung dafür vorausgesetzt wird, beschuldigt er, beschuldigen andere mit
>I»n die Landstände der Steuerverweigerung und des Verfassungsbruchcs!
^ut doch verlangt er alsbald und erreicht beim Bundestag die Aufhebung
^ Verfassung und erkennt damit an, daß nicht der Bruch derselben, sondern
d>e Treue für die Verfassung ihm gegenübersteht.
Der Bundestag freilich, am 2. Septbr. ohne Preußen zusammengetreten,
^ußte damals die Wünsche Hassenpflugs erfüllen. Die Union zerfiel mehr
und mehr. Preußen, den offnen Kampf gegen Deutsche scheuend, schwankte;
Kurhessen mußte für den auflebenden Bundestag gewonnen werden. Grade
daß Preußen sich, so lange es an der Union festhielt, gegen die kurhessische
Regierung zu kehren genöthigt war. mußte Preußens Gegner bestimmen, sich
für dieselbe zu entscheiden, denn damit hatte Preußen ein Terrain erobert,
schritt aber der Bundestag als solcher in Kurhessen ein, so konnte er es nur
wie gegen ein aufrührerisches Land; da das Land sich lediglich auf die Ver¬
fassung stützte, so war die Verfassung die Ursache dieses „Aufruhrs"; Hassen-
pflüg konnte überhaupt nur um den Preis der Verfassung Kurhesseus gewon¬
nen werden. Mit Preußen also mußte diese fallen. Sie wurde durch die
politische Weltlage erdrückt. Das war abgemacht, ehe es entschieden wurde.
Allein den armen Kurhessen, denen man diese Verfassung als einen Keil
in die Wurzel <der Monarchie nahm, so wie dem sonstigen protanum vulZus
der Unterthanen konnte man doch nicht Gründe der äußern Politik bieten.
Daß man sie ihnen aus angeblichen Gründen der innern StaatswohlfalN't
und des Staatsrechts nahm, mußte auch mit solchen Gründen gerechtfertigt
werden. Ja es ist ein allgemeiner Zug der menschlichen Natur, alles Sein
und Werden als ein vernünftiges und harmonisches aufzufassen, das. was in
Recht und Ordnung störend eingreift, mit Recht und Ordnung doch in El»'
klang zu bringen; es liegt in diesen Begriffen, daß wir sie nicht als unter¬
brochen denken können; deshalb wird jeder Staatsstreich und sonstige kühne
Griff der Politik alsbald, wenn er gelingt, für viele zur Staatsaction. deshalb
macht die „vollendete Thatfache" alsbald ein wohlerworbenes Recht. Das
ist ein schöner Zug der Menschen und wir sind denen zu Dank verpflichtet,
welche die Beseitigung der kurhessischen Verfassung aus Gründen des Rechts
und des Staatswohls zu rechtfertigen suchten — je schwieriger die Aufgabe, dest"
verdienstlicher das Werk. *) Die Bundescommissare Graf Leiningen und
Staatsminister Uhden haben es in den Denkschriften, die sie 1851 der Bundes¬
versammlung überreichten, unternommen,
Sie durften dabei nicht von demjenigen ausgehen, was> für eine unpar¬
teiische Untersuchung den Ausgang bilden mußte, sie durften das Verhalten
der Regierung nicht anfechten, den Gang der Versassungsstrcitigkeiten oder
vielmehr — denn die Verfassung gab nur klare, unbestreitbare, lediglich von
der Regierung verletzte Normen — den Verlauf der stufenweise fortschreitenden-
Kampfe gegen die Verfassung nicht berühren, ja selbst die Abgeordneten-
Versammlung nicht zu sehr angreifen, da nicht sie, sondern die Verfassung am
Unglück Schuld war. Sie mußten sogar, wo sie neue Gesetze berührten, die
Unschicklichkeit begehen, die Sache so zu nehmen, als wäre der Kurfürst nicht
ein Factor der Gesetzgebung gewesen, als hätte er dabei geschlummert oder
der Menschenfurcht nachgegeben und nicht selbst die Ueberzeugungen in sich ge¬
tragen, aus welchen jene Gesetze hervorgingen. Was sie beweisen mußten,
war eigentlich keines Veweises fähig, ein bundestägliches Axiom, ein katego¬
rischer Imperativ, eine Herzenssache: die kurhessische Verfassung taugt nichts.
Freilich eine sehr fatale Situation für die Männer, die dazu ausersehen waren,
von denen der eine derjenigen Schule angehörte, die sich die historische nennt!
So ganz auf die wirkliche Geschichte verzichten und das Unwahre für wahr
»ehmenzu müssen!
Aber unsere Herren von der historischen Schule haben ihre Geschichte xg-r ox-
^Ueimö, in weicher das Lebendige nicht immer an die Stelle des Abgelebten
tutt. So auch unsere Gutachter. Da sie vom eben Geschehenen nicht wohl
^eden dursten, stürzten sie sich mit wahrer Wonne in die Tiefen der Vergangen¬
heit und der staatsrechtlichen Forschung. Sie entwickelten zunächst, daß es
^in Abstractum einer alleinseligmachenden Verfassung gebe — was freilich
für die Staatsmänner am Bundestage kaum des Erwähnens bedürfte, hier
U'N so weniger, weil die kurhessische Verfassung keineswegs ein Abstractum,
Widern etwas unglaublich Concretes, auf alle hessischen Verhältnisse, ramene-
"es gegen kalte Tracasserien, welche den Unterthanen seit Jahrhunderten zu
Theil wurden, höchst Passendes und Angemessenes ist. Sie gaben, um die
^ahre Verfassung für Kurhessen zu finden, eine Geschichte der Verfassung?.
Verhältnisse seit den älteren Zeiten und mußten dabei leider zu dem Resultat
Klangen, daß die Verfassung von 1831 auf dem förmlichsten Wege, dnrch
Einberufung der früheren Landstände und mit ihrer und des Kurfürsten voll¬
ständiger Genehmigung, ohne Ausübung irgend eines Zwanges, zu Stande
Tekominen ist. Sie waren aber so glücklich, eine Rede Jordans aufzufinden,
^ welcher dieser dem Repräsentativsystem — natürlich dem „französischen".
^ ein „deutsches" von manchen Leuten nicht anerkannt wird, — huldigte,
"ut daran die Bemerkung knüpfen zu können, daß diese Rede die Beseitigung
^' RegierungsMoposition in den meisten Punkten zur Folge gehabt zu haben
steine. Sehr erklärlich drangen nun in die Verfassung die „verderblichsten
Grundsätze des modernen französischen Constitutionalismus" ein und folge-
weise bot sie zu „destructiven Tendenzen" Halt dar. Die Commissäre wiesen
sehr einfach die verderbliche Wirkung der Verfassung nach, indem sie nur die
letzten Ergebnisse der Verhandlungen der Landtage mit der Regierung, nicht
aber, oder wenigstens äußerst unvollständig und unrichtig, den Hergang und
die Ursachen der Ergebnisse schilderten und damit zugleich den Beweis lieferten,
daß Oberflächlichkeit sich wohl verträgt mit absprechendem Urtheil. Nicht
minder eifrig kritisirten sie die seit 1831 erlassenen Gesetze, in denen die Sou-
veränetät des Volkswillens unverhüllt zum Durchbruch komme; sie erzählten
von dem Urmaß der Petitionen, von der revolutionären Partei in der Stände-
Versammlung, verschmähten es nicht, die Anekdote mitzutheilen, wie damals
etliche den Ausdruck: „Landesherr" als knechtisch abschaffen wollten, aber
damit durchfielcn, sprachen weislich nur im Allgemeinen von unverschleierten
Angriffen auf die Person des Landesherrn, die sich damals wiederholt und
gesteigert Hütten, und hoben eine Reihe von Gesetzen heraus, welche das
„monarchische Princip" beeinträchtigen sollen, und wußten dies mit Virtuosität
zu entwickeln. So sagten sie über das Gesetz vom 17. Juni 1848, durch
welches den Ständen bei der Besetzung des Oberappcllationsgerichts. >— das
zugleich Staatsgerichtshof ist, — ein Prüsentationsrecht und die Entscheidung
über Einwände gegen ihre Präsentation eingeräumt wird, es hätte freilich,
wenn erst auf diese Weise nach und nach der oberste Gerichtshof mit radicalen
Mitgliedern besetzt gewesen sei, bald die ganze Handhabe der Justiz in den
Händen der Umsturzpartei gelegen, auch die Mitglieder der übrigen Gerichts¬
hofe würden sich ihr bald zugewendet haben, da sie Aussicht auf Beförderung
zum höchsten Gerichtshof nur durch Unterstützung der Machinationen der radi¬
calen Versammlung erlangten und ihnen außerdem leicht eine Anklage wegen
Verfassungsvcrletzung drohte; ein Gesichtspunkt, der um seines Gegensatzes
willen doppelte Kraft hat, da aus den gleichen Gründen die vom Landesherrn
besetzten Gerichte eine Art juristischer Leibwache desselben bilden mußten;
hoben gegen das Gesetz, nach welchem die Staatsdiener, wenn sie zu Land¬
tagsabgeordneten gewählt worden, zur Annahme der Wahl der Genehmigung
der Regierung nicht bedürfen sollten!, und durch welches der Streit über §- ^
der Verfassung s„sobald ein Staatsdiener :c. gewählt ist, hat derselbe davon
der vorgesetzten Behörde Anzeige zu machen, damit diese die Genehmigung'
(welche nicht ohne erhebliche, der Ständeversammlung mitzuthei'
lente Ursache zu versagen ist) ertheilen, auch wegen einstweiliger Verschung
seines Amtes Vorsorge treffen könne'1 beseitigt wurde, gegen dieses Gcscp
hoben sie hervor, daß dadurch die Staatsdiener sich immer mehr zu eine»
selbständigen Macht ihrer Regierung gegenüber ausbildeten, indem sie "Ah
die späteren Vorgänge hindeuteten, bei welchen die nicht im Landtag de-
kindlichen Beamten gegen die Regierung an der Verfassung festhielten; gegen
das Gesetz, nach welchem auch das Kriegswesen nicht ausschließlich (ohne ver¬
antwortlichen Vertreter) unter den Landesherrn als Militürchef gehören soll,
bemerkten sie, daß damit das Militär unter einen verantwortlichen Minister gestellt
und dem unmittelbaren Einfluß des Landesherrn entrückt worden sei, ein Argu¬
ment, welches zugleich jede Ministerverantwortlichkeit trifft, insofern nicht abzu¬
sehen ist, warum blos für das Militär kein verantwortlicher Minister sein soll.
Sie mißbilligten das Gesetz wegen der Einführung von Bezirksräthen, durch wel¬
ches in diesen aus vom Volk gewählten, noch dazu nach laxen Grundsätzen ge¬
wählten Personen verwaltende Behörden geschaffen worden seien und ein kräftiges
Eingreifen der Regierung nach allen Seiten gehindert werde, und welches
somit wahre Volksgewalten ins Leben rufe — ein Gesetz, welches Hassenpflug
^lbst (was indessen die Commissarien nicht erwähnten) erst 1850 durch Verkün¬
digung des von seinen Vorgängern zu,Stande gebrachten Bezirksrathswahl-
^letzes vervollständigt hat, und welches in §. 2 mit klaren Worten anerkennt:
dem Ministerium des Innern die obere Leitung und Aufsicht, wie über¬
haupt die höhere Entscheidung in allen Angelegenheiten der innern Landesver¬
waltung zustehe. Sie zählten ferner einige andere Gesetze als den Stempel der
3eit an sich tragende auf, ohne specieller auf ihren Inhalt einzugehen,
darunter auch das obenerwähnte, für die damalige Zeit merkwürdig konser¬
vative Gesetz über Aufhebung der Jagdrcchte, so wie das Gesetz, welches den Be¬
rechtigten für die aufhörenden und abzulösenden Grundlasten den zwanzig fa¬
chen Betrag gewährt, gewiß ein entschieden unbilliges Gesetz! Sie legten end-
'es die Grundsätze des neuen Wahlgesetzes dar und schlössen diese>Darlegung mit
°em gewichtigen Bemerken, daß die auf Grund dieses Gesetzes berufenen Ver-
^Wmlungen gar keine legislatorische Arbeit mehr zu Stande gebracht hätten, und
Mit ihnen kein Haushaltungsctat habe vereinbart werden können und
'elbst dix liberalsten Ministerien bei den Finanzfragen in der Minderheit ge¬
geben seien. Sie mochten dies alles selbst zu bestimmt erfahren haben und
eshalb es nicht für nöthig halten, zu erwähnen, welche nothwendige legis-
"tori>che Arbeit von den Ständen verhindert worden sei, wie sehr die Ver-
^barung des Haushaltungsetats hätte beschleunigt werden müssen, da das
"Uisterium Eberhard ihn erst im Decbr. 1849 vorlegen konnte, Hassenpflug
im Febr. 1850 eintrat, alsbald jenen Credit von 644.000 Thlr. ver-
"ugte und die Stände nach dessen Verweigerung (15. März) vertagte, hier-'
"uf aber selbst die Berathung des Etats verhinderte, endlich bei welchen
^""nzfragen selbst die liberalsten Ministerien in der Minderheit geblieben seien,
^ sich dies wol von selbst verstand und namentlich die wichtige Uebereinkunft
^en der rotenburger Quart, von der wir vorhin sprachen, keiner Erwähnung
^ig war. Sie bezogen sich für diese Behauptungen auf die Denkschrift
Hassenpflugs. welche allerdings um so mehr Glauben verdiente, als ihre
Wahrhaftigkeit allen Glauben noch überstieg. Die Herrn Commissäre bewiesen
sogar vielleicht mehr, als sie beweisen wollten, da sie zugleich bemüht waren
darzuthun, daß das Gesetz über die Bildung des Oberappellationsgerichts und
das Wahlgesetz, weil dabei gewisse conservative Bestimmungen der
Verfassung von 1831 nijcht beachtet worden, in der That nicht einmal ge¬
hörig zu Stande gekommen seien.
Von der höchsten Bedeutung mochte der Bundesversammlung die Kritik
der kurhessische» Verfassung durch die Commissarien sein; denn es wurde, ihr
damit für ihre seitherige Praxis und deren vereinzelte und deshalb oft unzuläng-
liche Bemühungen eine förmliche und systematische Theorie geliefert, die Ent¬
stehung der landesherrlichen Gewalt (natürlich mit Uebergehung der vier deutschen
Republiken) historisch gegründet, das „monarchische Princip" in schwungvollen
Worten entwickelt, die Idee, der Zweck und die Beschränkung der landständische»
Verfassung auseinandergesetzt. Die Basis dieser Deduction bildeten nächst dein
über die Bedeutung des monarchischen Princips Gesagten der Art. 57 der wiener
Schlußacte, wonach die gesammte Staatsgewalt in dem Oberhaupt des Staates
vereinigt bleiben muß und der Souverän durch eine landständische Verfassung
nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stunde ge¬
bunden werden kann, die, freilich sehr magern, Bestimmungen des Art. 13 der
Bundesacte und der Art. 55 und 56 der wiener Schlußacte, und die Bundes-
bcschlüsse von 1832—1834. Das Resultat lief darauf hinaus, daß el»
sogenanntes constitutionelles System, wie es sich in Frankreich ausbildete,
abbrechend mit der Geschichte und willkürlich neue Staatsformen schaffend,
nicht ins Leben gerufen werden sollte. Die Commissarien sprachen sich zwar
nicht bestimmt darüber aus, ob ihr sogenanntes monarchisches System im
Gegensatz gegen das sogenannte constitutionelle ewig sür alle Zukunft be¬
stehen soll, ob die Gegenwart nicht ebenso wie die Vergangenheit, von der
sie es selbst beweisen, neue Zustände, Bedürfnisse, sittliche und rechtliche For¬
derungen aus sich gebären, folglich auch zu einer andern Form der Staats¬
verwaltung als jene vermeintlich x«r' monarchische fortschreiten kann oder
ob ihr ein solches Fortschreiten von Polizei- und Bundeswegen ver¬
boten und jene Form der Monarchie ungeachtet alles Fortgangs der Ge¬
schichte das höchste Ideal der Staatsverfassung und jedem Deutschen als das
letzte aller Ziele vorgesteckt ist. Allein für den Moment wenigstens (wobei sie
vielleicht das Jahr 1851 im Auge hatten) äußerten sie sich sehr entschieden geg^
alle Theorien der Staatsrechtslehrer über sogenannte constitutionelle Verfaß
sungen und für die Festhaltung des monarchischen Princips, wie es sich 6^
schichtlich entwickelt habe. Sie meinten damit nicht die wirklich geschichtlich^
Entwicklung, die ja fast aller Orten zu „sogenannten" constitutionellen Ver-
sassungen geführt hat. sondern die von ihnen, den beiden Staatsmännern,
selbst entwickelte, — und verdammten die kurhessische Verfassung als das ge¬
künstelte Machwerk einer sogenannten constitutionellen Verfassung, indem sie
der Darstellung ihrer Entstehung gewisse „rein persönliche Umstände", die
dabei mitwirkten und die in den Augen mancher eben constitutionelle Schran¬
kn nöthig machen, wol aus Delicatesse übergehen zu dürfen meinten. Da
«ach der Ansicht der Commissarien „alle staatliche Gewalt und Obrigkeit" (sollte
sich das auch auf gewisse constitutionelle staatliche Gewalten und aus gewisse
Uchterliche Obrigkeiten beziehen?) „nur auf Gottes Anordnung beruht," „die
Herrn von Gottes Gnaden als höchste obrigkeitliche Gewalt." „die hoch über
Volk hervorragt," „nur Gott für die Verwaltung dieses göttlichen Amtes
verantwortlich" sind, so erachteten sie sür nöthig Entfernung der Bestimmungen,
durch welche dem Volk eine Mitwirkung bei der Regulirung der Thron-
^lge, bei der Anordnung einer Regentschaft, bei der Bestellung eines Regent-
^aftrathes gestattet, der Regierungsantritt des Nachfolgers vom Versassungs-
^d abhängig gemacht, dem Landesherrn eine Civilliste, die nichts Anderes
ein Gehalt sei, ausgesetzt wird — ohne Zweifel sehr umfassende und von
seltener Logik zeugende Folgerungen! — Daraus, daß „der Staat sich erst in
der MgnsnHj«: zu der bestimmten Persönlichkeit in dem einen Herrn ausga-
b^det hat, und durch diesen als dieses persönliche Individuum seinen Willen
gibt," schlössen sie, daß dem Fürsten allein die oberste Entschließung,
der letzte entscheidende Wille zustehe und ihm das Recht und die Macht zu
gieren auf keine Weise verkümmert werden dürfe, daß eine Theilung der
Ochsten Gewalt an verschiedene sogenannte Factoren im absoluten Wider¬
spruch mit dem monarchischen Princip stehe, und hieraus wieder, daß die
Abhängige Stellung der Civil- und Militärbeamten, das Anklagerecht der
Stände gegen alle Beamte, die Ministervcrantwortlichkeit, die Beschränkung
der Regierung in der Verweigerung ihrer Genehmigung für den Eintritt gewast-
^ Staatsdiener in den Landtag, die Bürgerwehr, die Initiative der Stände (die
in der Gestalt der Petition auftreten dürfe), das Zustimmungsrecht dersel-
^ zu Verordnungen, welche die Handhabung oder Vollziehung bestehender Ge-
^e oder die Organisation, die Verwaltung und Polizei betreffen.
>^ner das Recht der Stunde zur periodischen Steuerbewilligung und Feststel¬
lt! des Staatsbcdarfs, das zu den allerbedenklichsten Verwicklungen führe, ja
ganze Existenz des Staats in Frage stelle, wofür die neueste hessische Ge-
!^'este den Beweis liefere, und welches auf das Recht der Zustimmung zu
^'sung bestehender und Einführung neuer Steuern beschränkt werden müsse,
^dlich die gemeinschaftliche Unterzeichnung der Landtagsabschiede durch Für-
-und Stände, daß alles dies verwerflich sei. Wer die Prämisse dieses
Busses trotz ihres hohen und vielleicht auch etwas dunkel-hohlen Tones ge-
mein erwägt, wird sich wundern und dafür Dank wissen, daß nicht, um jede
Theilung der monarchischen Gewalt zu hindern und dem Landesherrn überall
die letzte Entschließung zu verschaffen und nie die Regierung zu verkümmern,
gradezu die Cabinetsjustiz eingeführt und jede Vertretung des Volks beseitigt
werben soll, obschon für Letzteres bei Vollziehung der nöthig befundenen Be¬
schränkungen kein erhebliches Bedürfniß mehr sein mochte, daß nicht überhaupt
der Staat in die Cultusformen der asiatischen Vorzeit, ans welche die erhabe¬
nen Phrasen der Herrn Commissarien vorzüglich und weit mehr als auf irgend
ein modernes Staatswesen gepaßt hätten, zurückentwickelt werden soll!
Sodann wurde das Wahlgesetz der Verfassung von I83l einer strengen Kri¬
tik unterzogen. Nach dieser Verfassung ist die Wahl der einen Hälfte der städti¬
schen und ländlichen Abgeordneten nicht an Besitz, Stellung oder Stand gebun¬
den, sondern fast ganz unbeschränkt. Dies mißbilligten die Commissarien als
verderbliche Neuerung, nicht etwa deshalb, weil dadurch das Proletariat beigezo-
gen und aufgerührt würde, sondern deshalb, weil bei den Ständen nicht wissen-
schaftliche Kenntniß und Bildung — den Rath der Wissenschaft verschaffe
sich der Landesherr durch seine Beamten (auch wenn er ihn nicht hören w ni?>
— sondern nur die Kenntniß der Zustände des Lebens und zwar der specifische»
Verhältnisse, in denen sie leben, nöthig, folglich die Standesangehörigkeit die
Grundbedingung der Wählbarkeit sei, weil man, wenn man nicht hiervon
ausgehe, Literaten, Advocaten :c. Thür und Thor öffne, die nicht
selbst Stände, auch in der Regel kein Interesse für das ständische
Princip haben würden (ipsg. verba), und, da sie nicht auf diesem
festen Boden stehen, nicht diese individuelle Anschauung haben,
selbst unbewußt durch die Macht der Umstände gezwungen. n»r
Staats verbesserer nach abstracten theoretischen Ansichten werden
und so nach und nach die ständische Verfassung untergraben.
Wer wollte das Gewicht dieser Gründe verkennen? Wissenschaftliche Intelligenz
war ja von je her der Feind des historisch Bestehenden.. Die Intelligenz-
die aus dem hessischen Landtag entfernt werden soll, war die Ursache, daß die
Stände überall gegen die Kunstgriffe ministerieller Praxis das Recht, insbe¬
sondere die Verfassung zu wahren wußten, und daraus sind ja die hessische»
Wirren entstanden! Nur ein solcher. Landtag ist befähigt, für das Wohl eines
Landes im Sinn gewisser Staatsmänner zu wirken, in welchem blos die nicht-
wissenschaftliche Intelligenz oder die wissenschaftliche Nichtintelligenz vertrete»
ist. Man sieht, die Herren Vundescommissare sind der offenbare Gegensah
der ,,Staatsvcrbesserer nach abstracten theoretischen Ansichten", da sie den
kurhessischen Staat nur nach concreten praktischen Rücksichten verbessern!
Sie entwickelten ferner die Nothwendigkeit, aus der einen Versammlung ^
Stände in Kurhessen zwei Kammern zu bilden; denn das Zweikammersystem
hatte sich naturgemäß an das äste System der drei Curien angeschlossen, durch
die Vereinigung in eine Versammlung wurden die Stunde nivellirt. die Städte
und Bauern hatten zusammen 32. die Aristokratie hatte höchstens 20 Stim¬
men, konnte gegen jene Majorität nichts ausrichten und verlor so den ihr ge¬
bührenden Einfluß, folglich aber entbehrte auch die Regierung der Wirksamkeit
grade derjenigen Elemente, die vorzugsweise mit dem monarchischen Princip
verwachsen sind. Wie sehr die Regierung in der That der Stärkung durch
solche Elemente bedürfte, hat der inzwischen abgelaufene Zeitraum bewiesen,
uwem sie sogar trotz dieser conservativen Zusammensetzung der ersten Kammer
genug in der Minderheit geblieben ist und mithin das Wort der Com-
wissare selbst Anwendung leidet, daß wenn die Negierung bei so conservativen
Elementen dennoch in der Minderheit bleiben sollte, wol ihr die Schuld zu¬
geschrieben werden müßte. Wir würden es nur consequent gesunden haben,
^>cum die Commissarien, um die Amalgamirung der Stände noch gründlicher
Zu verhindern, auch für jeden der einzelnen in der ersten und zweiten Kammer
betretenen Stände, z. B. für die größeren Gutsbesitzer, für die bäuerlichen
Abgeordneten, für die städtischen, ja unter diesen für die Zunft- und Gilde-
feister und für die Großhändler und Fabrikbesitzer besondere Kammern ge¬
ödet hätten, damit wäre zugleich das cliviclö et. impera auf eine wahrhaft
vollendete Weise gesichert. Endlich wurde vorgeschlagen: die Abschaffung des
ständischen Ausschusses, der eine fortdauernde ständische Gewalt der Negierung
^llenüber, eine der Regierung gleichberechtigt zur Seite stehende Macht 'ge¬
bildet habe, was ebenso unvereinbar mit dem monarchischen Princip als mit
ständischen Wesen sei, die Herstellung eines Gerichtshofs zur Entscheidung von
Conflicten zwischen Justiz und Verwaltung, — weil sonst ein Uebergreifen der
flehte in die Hoheitsrechte nur zu sehr zu befürchten sei, — die Entfernung
leder Verheißung von Gesetzen ans der Verfassung, die Ausnahme einer Bestim¬
mung über die verbindliche Kraft aller Bundesgcsetzc (mir müssen uns freuen,
^r eine Vorbereitung für die Verwandlung des deutschen Staatenbundes in einen
^Undesstaat zu finden) die Beseitigung der Anordnung eines Compromiß-
^'indes zur Entscheidung von Zweifeln in der Verfassung, welche Entscheidung
°^ Bundestag übernehmen solle.
Wie nach diesem Gutachten die neue hessische Verfassung im Einzelnen
Waffen sein mußte, das brauchen wir kaum noch darzulegen; es ergibt sich
^ Theil auch aus dem, was kürzlich in diesen Blättern mitgetheilt wor-
°°n ist.
Schon unsere kurze Darlegung der Gründe der Commissarien wird ge¬
igen, ihre überzeugende Kraft erkennen zu lassen und zu beweisen, daß die
Undesversammlung die kurhessische Verfassung für unzulänglich und arti-
'°narchisch erachten mußte. Ihr Berichterstatter war der Gesandte von
Mecklenburg. Herr v. Oertzen. Er begründete zunächst die Pflicht zum Ein¬
schreiten des Bundes mit Art 26. der wiener Schlußacte („wenn in einem
Bundesstaate durch Widersetzlichkeit der Unterthanen gegen die
Obrigkeit die innere Ruhe unmittelbar gefährdet und eine Ver¬
breitung aufrührerischer Bewegungen zu fürchten oder ein wirk¬
licher Aufruhr zum Ausbruch gekommen ist und die Negierung selbst,
nach Erschöpfung der verfassungsmäßigen und gesetzlichen Mittel
den Beistand des Bundes anruft, so liegt der Bundesversammlung ob. :c."),
da es unbestritten feststehe, daß die kurfürstlich hessische Negierung bei einer
aus Veranlassung vou Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung
der landständischen Verfassung entstandenen Widersetzlichkeit von Unterthanen
gegen die Obrigkeit, namentlich bei Auflehnung der Behörden Legen die An¬
ordnungen der höchsten Staatsgewalt, die verfassungsmäßigen und gesetzlichen
Mittel zur Wiederherstellung der Ordnung ..für erschöpft erklärt" und den
Beistand des Bundes angerufen habe. Also die Widersetzlichkeit ist constatirt!
Ob aber auch die Gefährdung der inneren Ordnung und die Befürchtung auf¬
rührerischer Bewegungen, was noch außer der Widersetzlichkeit zur Voraus¬
setzung des Einschreitens des Bundes gehört? Und deshalb sind die ver¬
fassungsmäßigen Mittel wirklich erschöpft, weil die Regierung, die eine
Partei, sie für erschöpft erklärt? Diese Erklärung genügt zum Beweis?
Und doch fuhr der Herr Berichterstatter selbst fort: die Frage, aus welcher
der Streit in Kurhessen entsprungen, sei noch unentschieden! Diese Frage,
dcducirte er. den Ausgangspunkt des Streits, habe der Bund auch gar nicht
zu untersuchen, weil unter allen Umständen in einem monarchischen deut¬
schen Bundesstaat der Negierung das Recht und die Macht zustehen müsse, bei
zweifelhaften Verfassungsbestimmungen — Herr v. Oertzen untersucht aber auch
nicht einmal, ob die betreffenden Verfassungsbestimmungen nur im mindesten
zweifelhaft sind — diejenige Auslegung, welche sie für richtig hält, so lange
aufrecht zu halten, bis eine andere Auslegung auf verfassungsmüßigem oder
bundesrechtlichem Wege zur Geltung gebracht worden, und daß ein factisch^'
Widerstand der Unterthanen gegen die Obrigkeit unter keinen
Umständen von Bundeswegen anzuerkennen sei. Das nenne ich
doch probate Gründe, neben denen man anderer Gründe entbehren kann-
Von den provisorischen Maßregeln der Commissarien kommt der Ausschuß auf
die „Reform" der Verfassung und erklärt sich unter vollster Anerkennung der
Gründlichkett, Unparteilichkeit und Sachkunde, womit diese schwierige Frage
von den Commissarien bearbeitet sei. sowol mit den wesentlichen Principien,
die sie befolgt, als auch mit ihren hauptsächlichen Resultaten einverstanden-
Nur in einigen Punkten tritt er entgegen. Denn es sei historisch unrichtige
gewiß! — daß z. B. beständige Ausschüsse mit landständischen Verfassungen
unvereinbar seien, nur durch Mißbrauch in der Repräsentativverfassung
seien sie schädlich geworden. — eine feine Bemerkung! — anch könne es wol
in der jetzigen Monarchie noch besondere vom Staatsoberhaupt nicht aus¬
fliesende ständische Rechte und eigene Machtberechtigungen geben, — o glück-
Uches Mecklenburg, wo es möglich ist, daß die Stände noch ihr eigenes
persönliches Recht üben'. Man sieht, die Commissarien sind noch Neologen!
gelten vielleicht selbst bei Herrn v. Oertzen für ..Staatsverbesserer nach abstrac-
ten theoretischen Ansichten"! — Kein Zweifel war natürlich darüber, daß die
kurhessische Verfassung in wesentlichen Punkten mit den Bundesgesetzen unver¬
einbar sei. Ueber die Frage, ob sie deshalb auch ganz beseitigt werden müsse,
ging der Bericht mit leichter Mühe hinweg, der Bundesversammlung eine
ins Einzelne gehende Prüfung ersparend; das minder Wesentliche hänge ja
Mit dem Wesentlichen zusammen und dieses Wesentliche charakterisire sich schon
durch den Erfolg als unvereinbar mit den Bundesgesctzen. Ebenso glücklich
wird das Bedenken entfernt, daß Art. 56 der wiener Schlußacte vorschreibt:
-.die in anerkannter Wirksamkeit bestehenden landstündischen Verfassungen kön¬
nen nur auf verfassungsmäßigen Wege wieder abgeändert werden;" denn es
verstehe sich von selbst, daß das Bundesrecht von allen in einem einzel¬
nen Staat getroffenen Anordnungen unabhängig sei und selbstständig gelte,
die Verfassung eines Staates könne den Bund nicht fesseln, so lange er sie
Nicht selbst anerkannt habe, das Bundesrecht dürfe nicht „einer bloßen That¬
sache (dem Bestehen einer einzelnen Verfassung in anerkannter Wirksamkeit)" —
wieder eine gute Wendung! — untergeordnet werden. Da die neue Verfas¬
sung zur Beruhigung der kurhessischen Lande dienen solle, so müsse, ohne
daß damit ihre rechtliche Billigkeit in Zweifel gesetzt werde, den neu einzu¬
berufenden Ständen Gelegenheit gegeben werden, sich über sie zu erklären.
Zwei Differenzen der Commissarien mit der kurhessischen Regierung will er für
diese letztere entschieden wissen: Kassel nämlich soll, gegen die Ansicht der Com-
Wissarien und gegen sein langjähriges Recht, blos einen Deputirten senden;
die Ministerverantwortlichkeit wird gebilligt, weil es sich wol denken lasse,
daß ein im ungeschmälerten Besitz der Landeshoheit befindlicher deutscher Lan¬
desherr den Landständen eine Zusicherung ertheile, durch welche die Minister
für die Führung ihres Amtes besonders verantwortlich gemacht würden.
Am 27. März 1852 wurde von der Bundesversammlung über die Aus-
schnßanträge abgestimmt. Oestreich. Preußen, Baiern. Hannover, Baden, Groß-
herzogthum Hessen. Dänemark für Holstein und Lauenburg. Nassau. Mecklen¬
burg-Schwerin und Streich. Anhalt. Schwarzburg-Rudolstadt. Liechtenstein,
Neuß. Schaumburg-Lippe. Lippe, Waldeck. Hessen-Homburg stimmten unum-
Kunden dafür, daß die Verfassung von 1831 außer Wirksamkeit gesetzt und
d^ kurhessische Regierung aufgefordert werde, die revidüte neue als Gesetz zu
publiciren u. s. w. Hannover und Baden erinnerten nur gegen die Auffor¬
derung an die Negierung eine gewisse Verfassung zu publiciren. Baden
stützte seine Abstimmung aus das t'An. lreeomM, das durch die früheren Bun¬
desbeschlüsse ohne Badens Mitwirkung eingetreten sei. Königreich Sachsen
stimmte mit dem Bemerken bei. daß die Regierung, wenn sie auch den zu
Grunde liegenden Motiven nicht überall beizupflichten vermöge, die gestellten
Anträge doch als in den Verhältnissen begründet erachte. Braunschweig wollte
die Verfassung nur so weit, als sie bundeswidrig, außer Wirksamkeit gesetzt
wissen. Würtemberg und die freien Stände waren so glücklich, ihre Gesandten nicht
zeitig instruirt zu haben. Sehr klein war die Zahl der Gegner: die Nieder¬
lande für Luxemburg und Limburg, die großherzoglich und herzoglich sächsischen
Häuser, Oldenburg und Schwarzburg-Sondershausen. Oldenburg äußerte nur,
es habe seine Bedenken gegen die Anträge nicht überwinden können; Schwarz¬
burg-Sondershausen zaghaft: die Regierung habe zwar in der Voraussicht
der Annahme durch die Majorität nicht gewünscht isolirt zu widersprechen,
aber doch auch eine zustimmende Erklärung nicht für gerechtfertigt geachtet.
Der Gesandte der Niederlande sprach aus: seine Regierung sei überzeugt, daß
nicht die Art. 26 und 27, sondern lediglich der Art. 61 der wiener Schlußakte
auf den vorliegenden Fall zur Anwendung komme. Die sächsischen Häuser er¬
kennen überhaupt die Beschlüsse vor dem 12. Mai 1851 nicht als Bundcs-
beschlüsse an, wollen sich auf keine Weise bei der Ausführung dieses und des
Beschlusses vom 11. Juni 1851, durch den das Cvmmissorium für Oestreich
und Preußen zum Einschreiten in Kurhessen weiter erstreckt wurde, betheiligen
und verwahren sich ausdrücklich gegen jede Theilnahme an den Folgen. Und
das war gut!
Die Uebersicht der Staatseinnahmen und Ausgaben der östreichische"
Monarchie für das Verwaltungsjahr 1858, welche die Wiener Zeitung vom
11. Oct. veröffentlicht, hat einen höchst ungünstigen Eindruck hinterlassen
müssen. Nicht nur, daß wiederum ein Deficit vorhanden von beiläufig 40'/- M'^'
Fi., sondern es ist auch in dürren Worten der Bruch eines feierlich gegebenen
Versprechens eingeräumt, das Nationalanlehen von 1854 ist um 111V»
'M Geheimen überschritten. Das Patent vom 26. Juni 1854 verordnete zur
Deckung der außerordentlichen Kosten, welche der orientalische Krieg Oestreich
auferlegte, die Auflage eines Urlebens auf dem Wege der öffentlichen Unter-
Zeichnung von mindestens 350 und höchstens 500 Mill. Fi. Es wurden vom
20- Juli bis 19. August 506.783,477 Fi. gezeichnet, die Unterzeichnungen
Hütten also dem Patent zufolge um 6,788,477 Fi. reducirt werden müssen,
mie dies bei den französischen Anlehen stets sofort geschehen; indeß nicht allein
erfuhr man nichts hierüber, sondern unterm 10. October überrascht das
Finanzministerium die Welt mit folgender Bekanntmachung:
„Nachdem am 24. August d. I. der letzte Zahlungstermin des frei¬
willigen Urlebens vom Jahre 1854 abgelaufen ist, und nur noch ein¬
zelne Posten nachträglich zur Zahlung gelangen werden, hat sich die Ge-
sammtsumme der im Laufe dieser fünfjährigen Finanzpcriode ausgegebenen
Obligationen dieser Schuldgattung mit dem Betrage von 611,571,300 Fi.
C. M. herausgestellt, von welchem aber 23,492.100 Fi. C. M. im Ver¬
mögen des Staatsschuldentilgungsfonds sich befinden, so daß die Summe
. der im Umlaufe befindlichen diesfälligen Obligationen 585,079,200 Fi.
C. M. beträgt, womit nunmehr das freiwillige Anlehen vom Jahr 1854
seinen definitiven Abschluß erhält."
Das Aufsehen, welches diese lakonische Anzeige machte, war groß. Selbst
^le zahme wiener Presse vermochte nicht zu schweigen und gab ihr bestürztes
^staunen kund. Desto schärfer wird begreiflich die Sache im Ausland ve¬
rtheilt, wo keine östreichische Censur herrscht. Man weiß wohl, daß Ne¬
nnungen sich manche Operationen erlauben, welche die Gerichte bei Privaten
Stufen würden, aber ein so naives Eingeständniß, daß man sich an ein¬
gegangene Verpflichtungen nicht kehre, war selbst bei Oestreich neu. wenigstens
^'it 1811 nicht dagewesen, wo ein Patent Franz des Ersten im Februar das
^iserliche Wort verpfändete, daß die ausgegebenen Bankozettel nie im Nenn¬
wert!) heruntergesetzt werden sollten, und sie gleichwol im März auf V->
chres Werthes herabgesetzt wurden. — Wenn man solche Vorgänge mit dem
"Noth hat kein Gebot" moralisch entschuldigen will, so wird man finanziell
'Acht weit damit kommen. Jeder private wie öffentliche Haushalt beruht auf
^en und Glauben, in dem Maße als man übernommene Verpflichtungen
^stillt, wird man Credit genießen; doppelt ist aber solche Gewissenhaftigkeit
für jeden nothwendig, dessen Finanzen das Gleichgewicht von Einnahme und
Ausgabe verloren haben, und der daher für ihre Herstellung auf das Vertrauen
^mer Gläubiger rechnen muß. In dieser Lage ist Oestreich in eminenten Grade,
^as Deficit ist in seinem Staatshaushalt trotz hoher Steuern permanent, der
^lehr mit Papiergeld überschwemmt, die Valuta kann nur durch Silber-
^leben im Auslande wieder hergestellt werden, und man entmuthigt systema-
tisch die Kapitalisten, indem man sich über alle Verpflichtungen hinwegsetzt.
Die Entbindung der Bank von der Verbindlichkeit ihre Noten einzulösen, war
eine Verletzung des gegebenen Wortes, denn auf jedem Schein steht die Ver¬
heißung, daß die Bank aus Verlangen seinen Nennwerth in Silber auszahle.
Nachdem dieser Zustand zehn Jahre gedauert und um der durch den deutschen
Münzvertrag übernommenen Verpflichtung nachzukommen eine schüchterne Auf¬
nahme der Baarzahlungen kaum begonnen, hörte dieselbe Anfang dieses Jahres
schon wieder auf. Bisher waren wenigstens die Zinsen der Staatsschuld
vorschriftsmäßig gezahlt, die des Nationalanlehens sollten bekanntlich „mit fünf
vom Hundert in klingender Münze" entrichtet werden, aber bald nach Aus¬
bruch des Krieges ward verordnet, daß sie in Papier mit einem willkürlich
gegriffenen und viel zu geringen Ausgeld zu zahlen seien und dies dauert nach
dem Frieden fort. Aber die neueste Kundmachung des k. k. Finanzministeriums
ist das Schlimmste, was man erwarten ?ann< Bei den vorerwähnten Ma߬
regeln, die allerdings einen indirecten Bankrott einschließen, ging man we¬
nigstens offen zu Werke, hier nimmt man gegen die feierliche Zusage des
Staatsoberhauptes ein geheimes Anlehen aus. Ein Schuldner ist je nach der
Größe seiner Verbindlichkeiten mehr oder weniger zahlungsfähig, ein Staat,
der also statt 500 Mill. 611'/, Mill. leiht, muß einen um so viel größern
Theil seiner Einnahmen zur Verzinsung anwenden, ist also auch als weniger
creditwürdig für Uebernahme fernerer Verpflichtungen zu erachten. Jede Ueber-
schreitung eines fixirten Urlebens ist schlimm, aber insgeheim ohne irgend
eine Autorisation V- mehr aufzunehmen und dies während fünf Jahren zu ver¬
schweigen, auch jetzt noch nichts darüber zu sagen, wie dies Geld aus dern
Boden gestampft ist, da die Unterzeichnungen mit 506.788,477 Fi. als ge¬
schlossen erklärt wurden, das ist für die Finanzpflege gelind gesagt das. was
für die Rechtspflege Cabinetsjustiz ist. Und hierzu hat der Reichsrath, die
verantwortlichen Beamten, hat vor allem Herr v. Brück geschwiegen, der doch
von Anfang seiner Verwaltung an darum wissen mußte, da die Einzahlungen
auf das Nationalanlehen aus vier Jahre vertheilt waren. Der Kaiser von
Oestreich ist zwar ein absoluter Herrscher, aber wenn seine Regierung glaubt,
ihre Gläubiger, die doch nicht blos aus ihren Unterthanen bestehen, beliebig
behandeln zu können, so wird sie fühlen, daß der Spruch „Ehrlich währt aw
längsten" sich gegen sie in die Antithesis übersetzt.
Es liegt auf der Hand, daß nur durch einen vollständigen Bruch
einem solchen System eine Rettung von dem vollständigen Bankrott' und
eine Heilung der tiefen wirthschaftlichen Schäden möglich ist. Wir wollen
versuchen uns darüber zu orientiren, auf welchem Wege dies allein geschehe
kann, und sehen, ob es wahrscheinlich ist, daß man ihn einschlägt.
Der Ruin der östreichischen Finanzen ist auf zwei Hauptgründe zurück^
führen, die fortwährende Überschreitung der Einnahmen durch die Ausgaben
und die Entwertung der Valuta. Die Regulirung der letzter» muß noth¬
wendig der Wiederherstellung des Gleichgewichts im Budget vorausgehen, weil
sie alle Classen gleich drückt und sich bis in die kleinsten Geschäfte des täg¬
lichen Lebens fühlbar macht, vornehmlich aber weil sie durch den ungünstigen
Cours zum Ausland, dem in Silber gezahlt werden muß, allen Handel lähmt.*)
Nur wenn die Bank ihre Barzahlungen wieder aufgenommen und die
Noten nicht etwa in schlechten Silbersechsern, sondern in Gulden ohne Ein¬
schränkung eingelöst werden, hat man einen festen Grund für die Restauration
der Staatsfinanzen unter den Füßen.
Die östreichische Papiernoth ist ebenso sprichwörtlich geworden als seine
Finanznoth. Die ganze Zeit von Maria Theresia bis zum wiener Congreß
ist eine Reihe von Papiergeldemissionen. Entwerthungen und Einziehungen.
1811 betrug der Notenumlauf 1060,798.750 Fi. Diese wurden durch Patent
vom 24. März d. I. auf V» des Nennwerthes consolidirt (Ncalisationsscheine)
und 1813 ein neues Papier, zwölfjährige Vorschußnahme auf künstig ein¬
gehende Steuern (Anticipationsscheine) creirt. dessen Betrag allmälig ans fünf¬
hundert Mill. Fi. stieg. Der Staat konnte beide nach dem Frieden nicht ein¬
lösen, und so war es allerdings am besten, daß er dies eingestand und die
Scheine abermals herabsetzte, indem 250 Fi. mit ivo Fi. C. M. eingelöst
werden sollten. Wesentlich hierfür ward die östreichische Nationalbank ge¬
schaffen. Sie sollte den Austausch des Staatspapiergeldes gegen ihre jederzeit
in Silber einlöslichen Noten vermitteln, der Staat lieferte ihr durch Anlehen
und die französische Contribution einen Fond von Silber und verpflichtete
sich, die gegen sie contrahirte Schuld in jährlichen Raten von 200,000 Fi. C.
abzuzahlen.
Die Operation gelang, die Bank behauptete den Paricours und wurde,
da das alte Staatspapiergeld einen festen Cours bei ihr hatte, auch von dessen
Inhabern nicht gedrängt. Die erwähnte Maßregel aber machte die östrei¬
chische Finanzverwaltung activ und passiv von der Nationalbank abhängig,
'hre Operationen zur Regelung der Staatsschuld führten auf diesem abschüs¬
sigen Wege weiter, und es sollte sich zeigen, daß die Hilfe, welche ein Staat
b»n einer privilegirten Bank erhält, nur eine scheinbare ist, wenn nicht sein
eigner Credit auf festem Grunde steht. Der wahre Werth der Banknoten
b'ng doch wesentlich von der Zahlungsfähigkeit des Staates ab; denn sie be¬
ruhten zum großen Theil auf den hinterlegten Schuldverschreibungen und den
Schatzscheinen der schwebenden Schuld, welche die Bank zu discontiren über¬
nommen. Dies ist aber grade das Verhängnißvolle jeder derartigen Verbindung
zwischen einer privilegirten Bank und dem Staat, daß jene gern Vorschüsse
gewahrt, da letzterer ihr für den Betrag eine Vermehrung ihrer zinslosen No¬
ten zugestehen muß und dies nur zu leicht thut, wenn er sich damit aus den
augenblicklichen Verlegenheiten ziehen kann. Das war auch in Wien während
einer Reihe von Jahren der Verlauf gewesen. Im Anfang 1848 hatte die
Bank allein auf Schatzscheine 50 Mill. Fi. vorgeschossen und hatte im
Ganzen vom Staate 130 Mill. zu fordern. Alles dies aber ward geheim
betrieben, das Publicum erfuhr nichts davon; erst am 15. März 1848 veröffent¬
lichte die Direction eine Bilanz, wonach der Baarschatz 66 Mill. und der
Notenumlauf 214 Mill. Fi. war, ein Verhältniß von 1:3,29, immerhin noch
nicht übermäßig ungünstig. Aber es beruhigte nicht in jener Zeit, wo ganz Eu¬
ropa in Flammen stand, jeder wollte baares Silber haben, und trotz der Aus¬
fuhrverbote von Edelmetallen war am 25. Mai der Baarbestand auf 21 Mill,
gesunken. Daß der Stand in solchem Augenblicke seine Schuld zurückzahle und so
die Bank solvent erhalte war nicht möglich, dieselbe konnte auch uicht ihre Obli¬
gationen verkaufen, da sie fast um 50"/<, gefallen waren und ein Massenverkanf sie
noch mehr hätte sinken lassen, man entschloß sich also zu dem unheilvollen
Auskunftsmittel, die Bank ihrer Einlösungsverbindlichkeit zu entheben. Dieje
Insolvenz dauert jetzt mit der kaum nennenswerthen und wesentlich illusorischen
Unterbrechung der ersten Monate von 1859 elf Jahre. Gleichzeitig begannen
die Vorschüsse der Bank an den Staat, der für seine.ungeheuern außerordent¬
lichen Ausgaben nirgend anders Geld fand. Nach Besiegung der Revolution
traf man wol ernste Anstalten, um die Schuld des Staates an die Bank zu-
rückzuzahlen, man machte ein Silberanlchen nach dem andern, aber hier griff
das Deficit der Finanzen störend ein, das alle Anlehen verschlang, zum gro¬
ßen Theil auch das Nationalanlehen. Die verschiedenen Uebereinkünfte, welche
die Finanzverwaltung mit der Bank schloß, kamen theils nicht zur Ausführung'
theils konnten sie keine Hilfe bringen, weil letzterer schwer zu realisircnde
Werthe, wie Domainen für ihre Forderungen überwiesen wurden. Erst in den
Jahren 1856 — 58 machte man Ernst, der Bank zur Solvenz zu verhelfen,
wozu auch der mit dem 1. Januar 1859 in Kraft tretende deutsche Münz-
vertrag nöthigte. Indeß geschah dies in einer Weise, die uns bei der Mit¬
wirkung eines Mannes wie Brück unbegreiflich erscheint, man häufte das
Silber, das man mit großen Opfern im Auslande aufkaufte, unproductiv
den Kellern der Bank auf. so daß es noch als ein sehr gutes Geschäft be¬
trachtet werden muß, wenn die Bank ermächtigt ward, dem hamburgische"
Staate auf kurze Zeit zehn Mill. Gulden zu leihen, wofür sie 6<>/„ erhielt.
Die Aufnahme der Barzahlungen begann theilweise Ende vorigen Jahres.
aber ihrer Wirksamkeit trat die alte, faule Praxis der Bank in den Weg.
Sie hat nämlich durchgängig einen stabilen niedrigen Discont festgehalten.
c»s wenn sie von den Bewegungen des Marktes unabhängig wäre und jeder
billiges Geld fordern könne.
Vor zu großem Andrang schützte sie sich durch ein anderes mißbräuchliches
System, nur großen Häusern so liberale Hilfe angedeihen zu lassen. Um den
Andrang zur' Baareinlösung zu vermeiden, hätte die Bank einen Uebergang
vermitteln müssen durch Einschränkung ihres Credits und Erhöhung des Dis¬
kontos, und hierin hätte man weit gehen können, da eine solche vollkommen
legitime Erschwerung den Verkehr bewogen hätte, selbst noch auf andre Weise
Silber heranzuziehen. Statt dessen sing man ganz unvermittelt an und hatte
schon lange wieder ganz aufgehört, ehe die neue Suspension der Baarzahlungcn
dieses Frühjahrs und die neuen Vorschüsse der Bank decretirt waren.
Es liegt auf der Hand, daß ein andrer Weg eingeschlagen werden muß.
wenn eine Herstellung der Valuta möglich sein soll. Der Betrag der Bank¬
noten beläuft sich jetzt auf die enorme Summe von 478 Mill. Fi., während
der der englischen Bank noch nicht halb so groß ist. Eine solche Masse von
Papier muß nothwendig das Silber vollständig aus dem Verkehr verdrängen,
besonders wenn die Noten bis zu einem Gulden heruntergehen, es muß also der
Srößere Theil desselben eingezogen werden. Die Silbermittel hierzu wären vom
Staate vornehmlich durch die von Piemont zu zahlende Entschädigung für die
l°Mbardische Schuld, sowie durch ein Metallcmlehen, sei es im Ausland, sei
^. wie Boccarelli vorgeschlagen, im Inland aufzunehmen, jedenfalls müßte
dle obenerwähnte Summe stufenweis auf ca. 200 Mill. herabgebracht werden.
Was g^iß ein mehr als ausreichender Notenumlauf für Oesterreichs sämmtliche
Klonländer ist. anzufangen wäre mit Einziehung der kleinen Appoints, um das
Silber recht eigentlich in die Adern des gesammten Verkehrs dringen zu lassen,
^'on wo es von selbst immer zurückströmen würde.
Für die verbleibende Notenmasse von 200 Millionen müßte natürlich auch
genügender Baarfonds erhalten werden. Es ist bekanntlich ein sehr streitiger
Punkt, wie groß derselbe sein müsse, und wir wissen von volkswirthschaftlichen
Gesichtspunkt nichts für den mechanischen Satz des beliebten V» zu sagen; ein
^adliges Princip für Zettelausgabe vermögen wir, abgesehn von den schotti-
^en toll^ Stock Lautes nur in der Peelacte von 1844 zu finden. welche
"ur für die on>ri der Bank früher dem Staate geliehenen 14 Mill. Pfd. Se.
Ausgabe von Noten gestattet, während für jede weitere Emission Gold hinder-
t°Kt werden muß. Indeß ein solches Princip ist vorläufig in Wien noch nicht
°Urchzusi'N'>-->.' ..^>> >----...... -"--l......—-------^zuführen, und wenn nur die Notenmafse auf 2vo Mill. vermindert wird
site.^'d die Bank sich ihrer eigentlichen Aufgabe des Privatdisconto und Dcpo-
"öeschäfts in richtiger Weise annimmt, so wird wenigstens der wichtigste
Schutt zur Herstellung der Valuta gethan. Ohne dieselbe wird jeder Versuch
zur Regelung der Staatsfinanzen vergeblich sein, welche wir jetzt betrachten
wollen.
Es ist herkömmlich bei Oestreichs Vcrherrlichern geworden, von seinen uner¬
schöpflichen Hilfsquellen zu reden. Wir sind nicht geneigt zu bestreikn, daß die Ele¬
mente des Wohlstandes in den verschiedenen Kronländer, namentlich in Ungarn,
Galizien und den slawischen Provinzen noch großer Entwicklung fähig sind, aber
mit der Hoffnung aus künftige Steigerung der Einnahmen füllt man kein De¬
ficit aus, und die Verwirklichung aller solcher Aussichten hängt durchaus von
der vorgängigen Heilung der gegenwärtigen Gebrechen ab. nur diese kann
das Vertrauen der Kapitalisten und Arbeitskräfte beleben, um die schlummern¬
den Schätze des Bodens zu wirthschaftlich productiven zu machen. Mit der
Gegenwart also und ihrer Leistungsfähigkeit muß man rechnen, wenn man
den Staatshaushalt ordnen will, das Budget der Friedensjahre 1856—58
aber weist ein eingestandnes Deficit von 40—56 Mill. Gulden auf, welches
sich thatsächlich aber auf mehr als 70 Mill. beläuft. Es braucht keiner weitern
Bemerkung, daß eine solche Finanzwirthschaft direct zum Bankrott führt!
dem zu entgehen, müssen also die Einkünfte erhöht oder die Ausgaben ver¬
mindert werden.
Daß das Erstere sofort geschehen könne, bezweifeln wir entschieden. Das
letzte Jahr, das ein Gleichgewicht der östreichischen Finanzen zeigt, war tels
von 1846, das Budget belief sich auf 163 Mill. Im Jahr 1858 waren nach
Angabe der Wiener Zeitung die ordentlichen Einnahmen aus 274'/2 Mill. ge-
stiegen und doch ein Deficit von 40^2 Mill. da. Solche nackte Zahlen sprechen
mehr als alle Auseinandersetzungen. Die außerordentliche Steigerung der Ein¬
nahme theilt sich in Erhöhung und Ausdehnung der Abgaben und Heran¬
ziehung neuer Stcucrsubjecte. Die letztere war vollkommen gerechtfertigt,
1848 hatten Ungarn und Siebenbürgen ein vollständig getrenntes Finanz¬
system und trugen ganz unverhältnißmäßig wenig zu den allgemeinen Aus¬
gaben bei, sie wurden bei der Reorganisation den übrigen Provinzen gleich¬
gestellt, wodurch die Einnahme um nahe an 40 Mill. stieg; um 59 Mill.
d. h. 41°/o aber wurde dieselbe durch neue und erhöhte Steuern gesteige^'
Durch Gesetz vom 9. Febr. 1850 ward die Mutationsabgabe erhöht, das
Enregistrement auf alles ausgedehnt und die Bicrsteuer eingeführt, das Geseö
vom 11. April 1851 erhöhte die Grundsteuer um V->, dehnte die Gewerbesteuer
aus, führte die Einkommensteuer ein. Es ist wahr, daß Eisenbahnen,
waltungsreformen und namentlich die Grundentlastung die Steuerfähig^
erhöhten, aber alle diese Maßregeln kosteten bei ihrer Einführung enorm^
Summen, wie wir beim Ausgabebudgct sehen werden. Hier sei nur ^
Wähnt, daß die Ablösungskvsten. welche nicht im Budget stehen, trotz des Ä -
Zugs des sogenannten Pauschaldrittels, sich auf ein Capital von 500 Mill. Fi.
belaufen, die durch besondre Steuerzuschlage aufzubringen sind.
Bei einer solchen Anspannung der Steuerkräfte ist die Annahme gerecht¬
fertigt, daß höchstens der jetzige Steucrstand aufrecht gehalten werden kann.
Nun aber hat Oestreich durch den Frieden von Villafranca eine der reichsten
und höchstbesteuerten Provinzen verloren, ihre Abgaben waren per Kopf höher
als der Durchschnitt im Reiche überhaupt. Es betrugen die directen Steuern
2 Fi. 20 Kr. im Staate, 3 Fi. 47 Kr. in der Lombardei, die indirecten im
Staate 5. Fi. 18 Kr., in der Lombardei 6 Fi. 33 Kr., die Grundsteuer, weiche
das am 10. Octbr. 1849 bestätigte Gesetz vom 23. December 1817 auf 6°/»
für alle Theile der Monarchie festsetzte, betrug 1857 nebst Zuschlägen 38.38°/»,
un ganzen Staate 21,33°/». Es ist allerdings wahr, daß bei dem einmal an¬
genommenen System ein ganz unverhältnißmäßiger Aufwand von Militär und
Polizei erfordert ward, um die unruhigen Italiener in Schach zu halten, aber
l^lbst nach den ihr wenigst geneigten Statistikern deckte die Lombardei doch
^)re Ausgaben, während die andern Provinzen dies nicht thaten. Tritt dem¬
nach in jenem unproductiven Aufwand für bewaffnete Macht nicht eine ent¬
sprechende sehr erhebliche Verminderung ein, so wird die Abtretung der Pro-
^Uz auch ein finanzieller Verlust werden.
Nach dem Vorhergehenden ist um so weniger auf eine Steigerung der
Zunahmen zu rechnen, als Krieg und Valutaverhältnisse den Verkehr sehr ge-
^'t haben. Es bleibt also nur die Verminderung der Ausgaben, vor allein
^ unproductiven. wobei in erster Linie das Heer steht. Das Kriegsbudget
^ar 1847 - 61,200.000 Fi, und 1856: 123.330,000 Fi., also mehr als doppelt
^ groß, während die Gesammteinnahme, um gleichen Schritt zu halten, von
^ Mill. nicht blos auf 200-/2 Mill.. sondern auf 326.000,000 hätte steigen
Müssen. Dabei ist der außerordentliche Etat noch nicht mitgerechnet, welcher
W dem Jahrzehnt von 1848—57 : 440 Mill. betrug und die Kosten des eben
veendeten Krieges, welche sicher auf 150 Mill. sich belaufen werden.
Und wozu haben diese ungeheuern Ausgaben geführt? Ein in sich unhalt-
ares System der Unterdrückung der Nationalitäten zu fristen, das im Augen-
^uZ der Gefahr zusammenbrach, und nach zehnwöchentlichem Kriege einen
aurigen Frieden zu schließen. Nachdem man zehn Jahr eine der größten
^vpüischen Armeen als Schoßkind gepflegt, errang dieselbe im letzten Kampf
^nen einzigen Sieg, und man entschuldigt sich, indem man sich auf das Aus¬
üben der natürlichen Bundesgenossen beruft, als ob Oestreich ein Staat
Zeiten Ranges sei. Welche Früchte die offensive Stellung im orientalischen
gebracht hat, ist bekannt: Rußland hat man sich gründlich verfeindet
^„ die Donauprovinzen gegen sich gewandt, die Alliirten Oestreichs sind die
^et, der Papst, der König von Neapel und einige deutsche Mittelstaatcn,
die über sich nicht frei verfügen können. Die Finanzen werden gebieterisch
eine umfassende Verminderung des Heeres forder», aber wird der bewaffnete
Friede, der Villafranca folgt, wird die Gährung im Innern es dazu kommen
lassen? Bis zur Minciolinie wird ein großes Waffenlnger bleiben und schon
jetzt verlautet, daß Tirol als künftige Grenzprovinz gegen Italien stark befestigt
werden soll, also neue außerordentliche Ausgaben, die ins Ungemessene steigen
werden, wenn andre drohende politische Fragen herantreten.
Steht es nun vielleicht im Finanzministerium tröstlicher? Wir wollen es
hier nicht zu hoch anschlagen, daß seine Verwaltungskosten um 72°/° gestiegen
sind; denn viele derselben waren productive Auslagen, z. B. die Einrichtung
der ungarischen Steuerbehörden, die Grundsteuerprovisorien, die ncuorganisirte
Finanzwacht. Dagegen sind sehr schlimm die Unkosten, welche die Beziehungen
zwischen der Nationalbank und dem Fiscus. so wie die Unterbringung der An¬
kleben erheischten, selbst Czörnig berechnet diese Verluste von 1848—54 auf
83V-.Mill.Fi. ^- Nun aber die Staatsschuld? Sie betrug 1846: 1037 Mill..
1856: 2417 Mill. — Mehrbetrag 1380 Mill. !!! —
Hiervon beträgt die Schuld an die Bank 411 Mill.. die jetzt noch mindestens
um 133 Mill. Fi. durch den Vorschuß auf das gescheiterte englische Anlehen
erhöht ist. Eine Tilgung von Staatsschulden ist nur durch Amortisation kraft
ordentlicher Einkünfte oder durch Ueberschüsse zu bewerkstelligen. Bei einem Deficit,
wie Oestreich es hat, ist jede Tilgung illusorisch. Der Staat hat serner bereits
einen Theil seiner werthvollsten Domänen an die Bank cedirt. wodurch dock
die beabsichtigte Herstellung der Valuta so wenig ausgeführt ward, als durch
den Verkauf der Eisenbahnen. Auch hier ist also wenig Aussicht zur Erleich'
terung der Staatslasten.
Die Ministerien des Cultus, der Marine, des Aeußern werden schwerlich
zu reduciren sein, da ihre Ausgaben die vollste Berechtigung haben und man
vielmehr dem erstem noch eine gesteigerte Thätigkeit wünschen muß, denn die Ver¬
breitung der Bildung ist die erste Bedingung für die wirthschaftliche Selbst'
Ständigkeit der steuerzahlenden. Eine Summe von SV» Mill. für die geistig
Pflege der ganzen Monarchie wird gewiß nicht zu hoch scheinen. Ebenso
wenig wird die große Steigerung der Ausgaben des Ministeriums für Handel,
Gewerbe und öffentliche Bauten zu tadeln sein. Wenn die Bodenreichthi'w^
der östlichen Provinzen erschlossen werden sollen, so müssen zuerst ConnnuN'-
cationswege geschaffen werden, die bisher fast ganz mangelten. Man hat lo
Wesentlichen hierfür das sehr praktische französische System angenommen,
nach der Staat die großen Hauptstraßen baut, während Provinzen und Ge¬
meinden die kleinern Verbindungen ausführen, die Ausgaben hierfür wäre»
productive Capitalanlagen. Daß im Wesentlichen auch die sehr starke Steigt
rung des Etats des Justizmiiüsieriums wohl angebracht ist, kann nicht bezwe>'
seit werden, die Aufhebung der Patrimonialgerichte, die Anlegung von Hypo¬
thekenbüchern, die theilweise Trennung der Justiz von der Verwaltung waren
Kewiß nothwendig und erforderten starken Mehraufwand, wobei wir dahin¬
gestellt lassen müssen, ob man nicht hier in der Centralisation zu weit ging.
Entschieden möchten wir dies vom Ministerium des Innern behaupten, dessen
Etat nach dem des Kriegs und der öffentlichen Schuld der bedeutendste im Bud¬
get ist. Allerdings mußte eine neue Verwaltungsorganisation geschaffen werden,
das Reich, das 1848—50 auscinanderzufallen drohte, zusammenzuhalten,
wobei eine Centralisation unvermeidlich war. Aber auf den Grad derselben
kommt doch sehr viel an, es ist nicht richtig, wie Vertheidiger des französischen
Systems sagen, daß die Decentralisation die Verwaltung nur in die Peripherie
^'ge, aber an sich dasselbe bleibe, England beweist das Gegentheil. Eine eng-
^sche Selbstverwaltung ist nun allerdings nicht in Oestreich einzuführen, weil
unabhängigen Elemente dazu fehlen, aber wol darf man sagen, daß die
Centralisation in Oestreich nur so weit geboten war, als die Reichseinheit sie
forderte, die mechanische Nachahmung aber des französischen Einmischungs-
und Bevormundungssystems konnte um so weniger gute Früchte tragen, als
^ Organe für eine solche Beamtenarmee sehr mangelten und daher vielfach
glücklich gewählt wurden. Auch der Polizeietat ist übermäßig hoch,
^cum man selbst die kostspielige Gensdarmerie gelten läßt, welche unzweifel-
viel zur Herstellung der Sicherheit und des Rechtsschutzes gethan hat; man
envnge nur. daß die Polizei im lombardisch-venetianischen Königreich allein
^ Mill. Fi. absorbirte!
Fassen wir kurz unser Ergebniß zusammen. Zur Herstellung der östreichi-
^en Finanzen ist zuerst nothwendig Herstellung der Valuta, dann starke Ver¬
minderung des Armeebudgets, thunlichste Decentralisation und vor allem nach
"u>en und außen eine Politik der Versöhnung und Gewissenhaftigkeit, welche
^ nut den bestehenden Verpflichtungen genau nimmt und die Ursachen der
^vnflicte beseitigt. Auch dann wird Oestreich der Anstrengung seiner besten
^ste bedürfen, um wieder festen Boden zu gewinnen, geht es aber auf dem
'sherigen Wege fort, so wird alle Phraseologie über seine unerschöpflichen
'^lfsnuellen den Bankrott nicht aufhalten, der diesmal vielleicht mit der Auf-
"
Als wir die Möglichkeit eines französisch-preußischen Krieges am Rhein
analysirten. (Milit. Tagesfr. 1. Art.) ergaben sich zwei Paare von Fällen und
diesen entsprechend zwei Hauptkriegstheater, ein weiteres und ein engeres, je
nachdem Süddeutschland am Kriege Theil nehmen würde oder nicht.
Heute wollen wir einige Blicke auf das engere Kriegstheater werfen, wel¬
ches wir das niederrheinische nennen.
Dieses Kriegstheater breitet sich zu beiden Seiten des unterenM)einlauses
aus. Nachdem dieser Strom den Main aufgenommen hat, biegt er in die
Richtung des letztern Flusses westwärts ab und nimmt erst bei Bingen wieder
die Hauptrichtung nach Norden, doch mit einiger Neigung nach Westen an;
diese behält er auch nachdem er bei Köln aus dem Hügelland völlig in das
Tiefland getreten ist, um erst unterhalb Wesel sich wieder gegen Westen zu
wenden, bis er ins Meer fällt. Bei der Schenkenschanz an der holländisch'
preußischen Grenze theilt sich der Strom in zwei Hauptarme. Der nördliche
derselben behält zunächst bis Wyk by Duerstede den Namen Rhein; er hat
bei Arnheim die Assel nordwärts zum Zuydersee entsendet; bei Wyk by
Duerstede theilt er sich wieder in zwei Arme, deren nördlicher als krummer
Rhein bis Utrecht geht und hier wieder zwei Arme aussondert, die zur Zuyde»
see gehende Vendee und den dem Ocean zufließenden alten Rhein; der de>
Wyk by Duerstede abgez weigte Südarm ist der Leck, welcher über Rotterdam
zum Ocean geht.
Der südliche bei der Schenkenschanz abgesonderte Hauptarm ist die Waal;
mit ihr verschlingt sich auf mehrfache Weise der untere Laus der Maas. Dieser
Fluß, welcher auf dem Plateau von Langres entspringt, tritt bei Mastricht aus
dem Hügelland ins Tiefland; auch er behält wie der Rhein noch weit in das
Tiefland hinein die nördliche Hauptrichtung; vermöge derselben nähert er sich
dem westwärts abbiegenden Rhein' schon bei Grave bis auf anderthalb
deutsche Meilen und nimmt nun gleichfalls die Richtung nach Westen au-
Beim Fort Se. Andres sendet die Maas einen Arm zur Waal, während der
Hauptarm sich mit der Waal erst bei Gorkum vereinigt; so schließen die beiden
Flüsse die Insel ein, welche der bommeler Waard genannt wird. Unterhalb
Gorkum sind Waal und Maas kaum noch zu unterscheiden. Gemeinsam theilen
sie sich in eine Zahl von Armen, welche theils direct dem Meer zufließe"
und mit ihren Mündungen viele Inseln einschließen, theils nordwärts mit
dem Leck und südwärts mit der Elbe in Verbindung stehn.
Auf der ganzen Strecke, mit welcher wir es hier zu thun haben, ist der
Rhein ein mächtiger Strom; bei Köln, wo er eine der schmaleren Stellen hat,
ist er doch 1500, oberhalb der Schenkenschanz 2000 Fuß breit; die einzelnen
Anne nach der Theilung sind zwar minder breit, von 350 bis zu 800 Fuß,
aber ihre große Anzahl, zumal wenn man noch die Maas hinzunimmt, gleicht
dies bei der Nähe aneinander völlig wieder aus. Die Tiefe des Rheins ist
sehr verschieden, doch auf unsrer Strecke selten unter neun Fuß. Nur in der
Gegend von Bingen erschweren Klippen die Schiffahrt.
So wenig ein Strom als politische oder als natürliche Grenze betrachtet
werden kann, so sehr eignet er sich zu einer strategischen Grenze, in deren
Idee ja die Möglichkeit einer Thätigkeit zu beiden Seiten liegt, während doch
zugleich eine Trennung verlangt wird, die aber durchaus keine unüberwindliche
Zu sein braucht.
Man kann den Rhein zu einer Zerlegung seines Kriegstheaters in einen
südwestlichen und einen nordöstlichen Theil benutzen, aber es versteht sich von
^'lbst, daß man diese beiden Theile immer wieder in Gedanken zusammenfassen
wuß, wobei dann der Rhein selbst wieder das verbindende Glied wird.
Als südliche Grenze des niederrheinischen Kriegstheaters mag man auf
dem rechten Rheinufer die Mainlinie ansehen, auf dem linken Rheinufer da¬
gegen eine Linie von Mainz nach Paris, die von hier ab bis zum Meer dem
Lauf der Seine folgt; die westliche und nördliche Grenze bildet das Meer, die
Mich die Weser, oder noch besser eine Linie von Norden nach Süden, welche
den Harz durchschneidet.
In dem linksrheinischen Gebiet haben wir eine Wasserscheide, welche durch
die Nebenhoden des Plateaus von Langres mit den Vogesen in Verbindung
steht und sich etwa gegen Nordwesten über Cambray auf Boulogne dem Meer
Zuzieht.
Die Flüsse, welche von dieser Wasserscheide nordwärts abfließen, gehen
Heils dem Rhein, der Maas und der Scheide oder wie diese Hauptströme selbst,
direct dem Meere zu; die südliche Abdachung führt ihre Gewässer dem Meer,
de.r Seine und dem Gebiet der Rhone zu.
Die Berge und Hügel, welche die Wasserscheide bilden, hören an einer
^nie auf, welche man von Dünkirchen über Mastricht nach Köln ziehen kann.
Nördlich dieser Linie befindet man sich in der belgischen, holländischen und
^einpreußischen Tiefebene.
Einen Theil der Wasserscheide bildet die Kette der Argonnen zwischen den
^'ern Läufen der Maas und der Aisne; zwischen den mittleren Läufen der
^osel und Maas und westwärts über letztere hinaus an der Samvre dehnen
sich die Ardennen aus, welche theils mit ihren nördlichen hügeligen Ausläufern
das südliche Belgien bis zu der obengenannten Grenzlinie erfüllen, theils sich
südwärts in Nordfrankreich hinein, theils westwärts gegen das Meer ver¬
zweigen. nordostwärts der Ardennen zwischen Maas und Mosel, Ourthe und
Sure, dem Rhein und den Quellen der Roer und Erst liegen die Eifel und
die hohe Veer; zwischen der Mosel und der Nahe der Hundsrück, zwischen
der Nahe und dem linken Rheinufer oberhalb der Mainmündung die letzten
Ausläufer der Vogesen.
Dieses ganze Höhenland ist von geringer Erhebung, seine Bildung bald
gruppen-, bald mehr kettenförmig. Seine höchsten Punkte liegen! wenig
über 2000 Fuß über dem Meer. Nichts desto weniger bietet es der Bewegung
nicht geringe Schwierigkeiten. In den höhern Gegenden ist es schwach an¬
gebaut, oft stark bewaldet, moorig und sumpfig, dabei von vielen Bächen und
Flüssen zerrissen, die meist auf sumpfigem Boden entspringen, sich dann aber
in felsige schmale Betten tief einwühlen und diese Beschaffenheit behalten, bis
sie sich im Niederland in größerer Breite entfalten.
Von den Nebenflüssen des Rheins nennen wir hier die durchschnittlich
100 Fuß breite, zwischen 2—12 Fuß tiefe Nahe, die Mosel, welche auf
den Vogesen entspringt, von 100—600 Fuß breit ist, und nachdem sie bei
Trier die Saar von rechts, die Sure von links aufgenommen hat, bei Koblenz
mündet, und die Maas, insofern man diese als einen Nebenfluß des Rheins
gelten lassen will. Sie entspringt auf dem Plateau von Langres und erreicht
in ihrem untern Laus eine Breite von 1000 bis zu 2000 Fuß. Rechts nimmt
sie den Chiers, die Semoy, die Ourthe. die Roer auf, Flüßchen von 100-—
200 Fuß Breite, nicht schiffbar, mit Ausnahme der Ourthe; links fließen ihr
die Sambre und die Dommel zu.
Die Scheide, welche auf den Ardennen entspringt, im obern Lauf 200,
im untern bis 1600 Fuß breit ist. tritt in der Gegend von Gent aus dem
Hügelland ins Tiefland, begrenzt nun dasselbe, sich ostwärts wendend, eine
Strecke weit im Norden, fließt dann wieder anfangs nördlich, wendet sich
unterhalb Antwerpen nordwestlich und theilt sich zugleich in die beiden Arme
der Ooster und Wester Scheide, welche ihre Gewässer dem Meer zuführen,
Sie nimmt rechts die Haine, die Dender und die in ihrem untern Lause sehr
bedeutende Rüpel, links die Scarpe und Lys aus.
Von den französischen Flüssen auf dem südwestlichen Theil des Kriegs¬
theaters erwähnen wir die Somme, welche unterhalb Abbeville in den Kanal
fällt und die rechten Nebenflüsse der Seine, nämlich die Aube, die Marne,
die Oise mit der Aisne.
Zieht man auf dem rechten Ufer des Rheins eine bogenförmige Linie, welche
durch die Orte Mainz. Fulda. Eisenach, Nordhausen, Hannver, Osnabrück be-
Zeichnet sein mag, so schneidet oder berührt dieselbe die bedeutendsten Gebirge
"ut Höhen Norddeutschlands, nämlich den Taunus, den Vogclsberg. Spessart.
die hohe Rhön. das Westende des thüringer Waldes, den Harz, das Wcser-
gebirge und die miudensche Kette.
Man mag sich diesen Zug von ketten- und gruppcnförmigen Gebirgen
ganz wohl als die äußere Begrenzung eines Thalkessels denken, der zur Weser
und dem Rheine hin, also westwärts, mit im Allgemeinen niedrigeren Bergen
ausgefüllt ist.
Die Kette des Taunus liegt zwischen dem untern Main und dessen Fort¬
setzung, dem Rhein zwischen Mainz und Bingen einerseits, der Lahn andrer¬
seits.' Die Abfälle nach Süden sind steil, diejenigen zur Lahn hin sanft; die
bedeutendste Höhe, der Feldberg, steigt 2600 Fuß über das Meer auf. Ebenso
hoch steigen die Kuppen des gruppenfönnigen Vogelsberges auf; die der hohen
Rhön mock um 300 Fuß mehr; während der von ihr südwärts zum Main sich
abzweigende Spessart wieder auf 2000 und 1600 Fuß hinabsinkt.
Vom thüringer Wald, der sich zu 3000 Fuß höchster Höhe erhebt, kommt
hier nur der nordwestliche Theil in Betracht. Der Brocken, der höchste Punkt
des Harzes, steigt 3560 Fuß über das Meer aus. Der höchste Punkt in dem
Wesergebirge liegt auf dem Solling (1800 Fuß), während die mindensche
Kette zur Hase hin abfallend, sich nur zu 900 Fuß erhebt.
Alle diese Gebirge sind bewaldet und trotz ihrer geringen Höhe rauh und
unfruchtbar; am meisten gilt dies von der hohen Rhön.
Die gegen den Rhein hin in den Gebirgskranz eingelagerten Gruppen
und Ketten sind der mit dem Vogelsberg verbundene Westerwald zwischen Lahn
und Sieg, dessen höchster Punkt, der salzburger Kopf, 2600 Fuß über dem
Aieer liegt, mit dem Siebengebirge dicht am Rhein. — ferner das Sauerland
wie dem Rothhaargebirge, in welchem der Eberkopf zu 2000 Fuß aufsteigt,
Mischen Sieg und Ruhr, — endlich die Egge, welche sich mit ihrem Hanpt-
iwcig von den Quellen der Lippe längs der Weser und ziemlich parallel dem
Wesergebirge und der mindenschen Kette erstreckt und im südlichen höchsten und
bewaldetsten Theil der teutoburger Wald heißt, während ein Seitenzweig. der
baumlose, 800 Fuß hohe Haarstrang, das rechte Ufer der Ruhr begleitet.
Eine Linie von Köln zur Lippe oberhalb Wesel, dann längs diesem Flusse
"ber Paderborn, Detmold und Osnabrück nach Hannover scheidet auf dem
Achten Ufer des Rheins das Bergland von dem nördlichen Tiefland.
Dieses Tiefland ist im Ganzen eine fruchtbare Ebne, in welcher vorzugs¬
weise die Viehzucht gedeiht; wie fast ganz Holland, so ist auch an den Küsten
Oldenburgs und Hannovers das Land vielfach dem Meer abgewonnen und
^res Eindeichung geschützt. In solchen Gegenden finden sich überall zahlreiche
Kanäle, welche große Hindernisse der Bewegung abgeben. Große Moore sind
in ganz Holland, dann auch in Oldenburg und Hannover, namentlich an der
Aechte, an beiden Ufern der untern Ems und der Weser häusig.
Unter den Flüssen am rechten Rheinufer sind zunächst die Nebenflüsse des
Rheins selbst nördlich der Mainmünduug zu nennen, die Lahn, die Sieg, die
Ruhr und die Lippe. Alle diese Flüsse fließen von Osten nach Westen, wäh¬
rend die linken Nebenflüsse des Rheins eine vorherrschend nördliche oder nord¬
östliche Richtung haben, sie sind 100 bis höchstens 200 Fuß breit und ihre
Überschreitung macht wenig Schwierigkeiten, ja sie sind an vielen Punkten
zu durchwaten.
Rechte Zuflüsse des Mains, welche mit südlicher Richtung von der hohen
Rhön und dem Taunus Herabkommen, sind die fränkische Saale, Kinzig und
Nidda.
Nordwärts dem Meere zu fließen die Ems und die Weser. Die erstere
entspringt nördlich Paderborn in der Senne; hat im obern Laus 100, im
mittleren 400, im untern 1000 Fuß Breite und mündet in den Dvllartbusen.
Die Weser entsteht aus der Vereinigung zweier Quellflüsse, der Werra
und der Fulda; die Werra kommt vom thüringer Walde, die Fulda von der
Rhön. Jeder der beiden Flüsse erreicht eine Breite von 200 Fuß; die Weser
strömt nun als ein mächtiger Strom der Nordsee zu; bei der preußischen
Festung Minden, wo die Weser in das Tiefland eintritt, ist ihr Bett noch
einmal durch die dicht herantretenden Berge der Weser- und der mindensche»
Kette stark eingeengt j(?ortg, westrMliea,). Die Tiefe ist im obern und mitt¬
lern Lauf sehr wechselnd und sinkt mehrfach bei niedrigem Wasserstand auf
2 Fuß hinab.
Hiermit hätten wir nun ein übersichtliches Bild von der Naturbeschaffen-
heit des niederrheinischen Kriegstheaterts gegeben. Wir glauben, daß, wer
unsre Darstellung mit der Karte in der Hand verfolgt, sich die Hauptzüge
leicht so einprägen kann, daß sie ihm lebendig vor Augen stehen und auch
nicht leicht wieder dem Gedächtniß verloren gehn. Absichtlich haben wir
es daher vermieden, Detail einzumischen, welches nur zu leicht verwirrt, von
dem Wesentlichen ablenkt oder es verwischt. Absichtlich halten wir auch diesen
Artikel kurz, damit die Arbeit an ihm den Leser, der immerhin mit einet
Menge Namen zu thun hat, nicht ermüde, und verspäten die Betrachtung
dessen, was die Cultur für dieses Kriegstheater gethan hat, auf den nächste"
Wenn der Instinkt, welcher nach dem Abschluß des Waffenstillstandes von
Nillafranca einen Theil der liberalen Partei zu den bekannten Erklärungen
von Eisenach, Göttingen und Frankfurt trieb, von uns als ein vollkommen
uchtiger anerkannt werden mußte, so haben wir sogleich hinzugesetzt, daß wir
nut der weitern Ausführung des Grundgedankens nicht einverstanden sind,
^n dem an sich ganz gerechtfertigten Bestreben, die nationale Partei auf einer
Möglichst breiten Basis zu constituiren, haben die Führer dieser Bewegung
Concessionen gemacht, die den Begriff einer Partei aufheben. Einer der
Unterzeichner des Programms, Herr Jacob Venedey, hatte wenige Tage
vorher ein offenes Sendschreiben erlassen, worin er mit ziemlich bittrer Pole¬
mik gegen die Einseitigkeit der Gothaer, d. h. der Anhänger der preußischen
Hegemonie, sich seiner Gesinnung nach als einen Großdeutschen bekannte, zu-
o^ich aber vor der Bildung einer großdeutschen Partei warnte, weil die groß-
deutsche Gesinnung die ganze Nation umfassen müsse. Und ähnliche (Ne¬
nnungen haben noch andere Süddeutsche ausgesprochen, ohne sich dadurch von
^er Unterzeichnung eines Programms abhalten zu lassen, das sie so auslegten,
ob das an Preußen ertheilte Vertrauensvotum nur unter der Bedingung
theilt sei, daß Preußen sich an die Spitze der großdeutschen Partei stelle,
'vit andern Worten, daß Preußen selber an der Übertragung der Hegemonie
"n Oestreich arbeite. So klar ausgesprochen hat sich wol keiner der Unter-
Zehner die Sache gedacht; daß die Konsequenz aber eine ganz nothwendige
'se. dies zu zeigen ist die Ausgabe der folgenden Zeilen.
Die Bedeutung und der Einfluß einer Partei wird keineswegs durch die
Zahl derer festgestellt, die mit Bewußtsein und Zusammenhang ihr Princip
vertreten; die Zahl der Denkenden ist immer klein, es kommt nur auf die Ent¬
schiedenheit und Rücksichtslosigkeit der Ueberzeugung an. vorausgesetzt freilich.
diese Ueberzeugung in den Thatsachen einen wirklichen Halt findet. Eine
^bschwächung des Grundsatzes, um die Zahl der Bekenner zu erweitern, ist
ein Fortschritt, sondern ein Rückschritt in der Parteibildung. Dazu
^nrrnt noch ein andrer Umstand, desi wir Deutsche nicht außer Acht lassen
"rsen. Ein solcher Kompromiß, der widersprechende Ansichten hinter einem
Semeinsamen Symbol versteckt, ist nie ganz aufrichtig gemeint; jeder behalt sich
inne eigne Auslegung als die allein legitime vor, und wenn es dann zur
vtscheidung kommt, werden diejenigen, deren Auslegung sich als die schwächere
ttweist, steh dadurch entschädigen, daß sie die Andern Verräther schelten. So
geschah es 1848, blos weil man sich vorher nicht verständigt hatte, weil man
glaubte einig zu sein, und doch grade in der Hauptsache uneins war. Die
Hauptfrage war nämlich, ob die projectirte Staatsreform sich auf Oestreich
ausdehnen solle oder nicht, und das ist auch heute noch die Hauptfrage.
Das frankfurter Programm hätte möglicherweise sehr bald einer ernsten
Prüfung ausgesetzt werden können. Als die Conferenz zwischen drei Mittcl-
staaten, denen sich dann noch andere anschlössen, in München stattfand, hielten
wir es nicht für unmöglich, daß sie die nationale Partei zu ihren Zwecken
ausbeuten werde. Nach dem Programm der nationalen Partei sollte Preußen
die Initiative in vielen Dingen übernehmen, unter andern Einheit Deutschlands
durch Kräftigung der Centralgewalt und Volksvertretung am Bunde. Wie,
wenn nun die Mittelstaaten in dieser Initiative Preußen den Rang abgelaufen
hätten? Ihren Zwecken konnte es nicht zuwiderlaufen, denn unter der Cen¬
tralgewalt, deren Macht den einzelnen Staaten gegenüber verstärkt werden
sollte, verstanden sie natürlich den Bundestag, und was die Volksvertretung
betrifft, so hätte sich schon ein Wahlmodus ausfindig machen lassen, der das
Junkerthum als die echte Nation darstellte. Wenn sich Preußen dieser Art
von Reform widersetzt hätte, so würde man es als den Gegner des Fort¬
schritts, als den Gegner der nationalen Partei und ihres Programms haben
anklagen können. Es hatten sich in der That einzelne Nachrichten verbreitet,
die auf so etwas hindeuteten. Ersetzung der Stimmeneinheit am Bundes¬
tage durch Majorität; Ausdehnung der Gewalt des Bundestags über die ma¬
teriellen Verhältnisse, Aufnahme des gesammten Oestreich in den Bund. Er¬
nennung eines permanenten Oberfeldherrn auch für den Frieden: diese und
andere Punkte bezeichnete man als das Programm der mittelstaatlichen Partei.
Ein officielles Journal hat die Angaben als unwahr bezeichnet, und in der
That scheint die Animosität gegen die Freunde Preußens zu groß zu sein,
als daß man sich auch nur zum Schein auf ihre Wünsche einlassen könnte.
Man scheint sich stark genug zu fühlen, um rücksichtslos mit den eignen Ge¬
danken hervorzutreten.
In einer Zeit, wo man allgemein vom Bundestag erwartete, er werde
die brennendste Rechtsfrage, die kurhessische, in Betracht ziehn, haben die
Mittelstaaten den Antrag gestellt, die Bundeskriegsverfassung zu revidiren,
um zu ermitteln, ob sie wirklich den Bedürfnissen nicht genüge, zugleich aber
die Meinung hinzugefügt, daß wenn alle Bundesgenossen ihre Schuldigkeit
thäten, eine Verbesserung der Form nicht nöthig sei. Die Anspielung war
so einleuchtend, daß der preußische Bevollmächtigte einen Protest zu Protokoll
gegeben hat. In der That wird durch diese Frage der Kern der Sache be¬
rührt.
Nach der Ansicht Metternichs und der meisten übrigen Unterzeichner der
Bundesacte hatte dieselbe den Zweck: 1) Feindseligkeiten zwischen den ein¬
zelnen Bund esgliedern abzuschneiden; 2) das Bundesgebiet durch eine gemein¬
same Weh> Verfassung gegen auswärtige Angriffe zu sichern; 3) die regierenden
Fürsten und b is aus einen gewissen Grad auch die Mediatisirten gegen die
Uebergriffe des r evolutionären Geistes zu schützen. Dies ist das wahre Sach-
Verhältniß. Befriedigt hat es freilich niemanden und sobald einmal die Na¬
tion zu neuem Leben erwachte, mußte sie darnach streben, etwas Andres an
die Stelle zu setzen. Darüber dürfen wir aber heute, wo wir politisch reifer
sind als vor elf Jahren, nicht vergessen: 1) daß die Bundesverfassung man¬
ches Gute bewirkt hat. namentlich die Aufrechthaltung des Friedens in Deutsch-
land und, was damit zusammenhängt, das materielle Gedeihn; 2) daß sie
elastisch genug war, manches Gute, das sie selbst nicht schaffen konnte, we¬
nigstens nicht auf die Dauer zu hindern, z. B. den Zollverein und das con-
stitutionelle System, erst in den Mittelstaaten und dann in Preußen; 3) daß
^ leichter ist ihre Mängel zu entdecken, als eine Abhilfe, die allen Ansprüchen
genügte. Bis 1848 klagte man ausschließlich die Regierungen an, durch
ihren bösen Willen der Einheit Deutschlands zu widerstreben; seit 1848 ist
diese Klage nicht mehr zulässig; denn damals tagten die Vertreter des ge¬
säumten Volks, und es ist ihnen ebenso wenig gelungen als den Fürsten,
die ersehnte Einheit zu verwirklichen. Eine vollkommen friedliche Constituirung
^r Nation, ohne daß irgend ein Recht gekränkt würde, ist nur denkbar unter
der Voraussetzung, daß alle Fürsten und Völker nicht nur den gleichen guten
willen, sondern auch die gleiche Verstandeseinsicht haben, und diese Voraus¬
setzung drückt im Wesentlichen nichts Andres aus, als die Erwartung eines
Wunders. Ja, man könnte sagen, sie macht die Reform, die sie herbeiführen
sollte, überflüssig: denn vollkommne Menschen brauchen entweder gar keine
Verfassung oder sie können sich mit jeder beliebigen zufrieden geben.
Die Schwierigkeiten liegen nicht in der Form, sondern in der Sache.
Der deutsche Bund umfaßt zwei Großmächte, von denen jede zu stark ist,
sich der andern zu fügen, keine stark genug, die andre zu unterwerfen. Von
diesen Großmächten ist die eine, Oestreich, durch ihren außerdeutschen Länder-
Besitz in eine Menge von Conflicten verstrickt, welche den Interessen des deut¬
schen Volks fremd sind; sie ist, weil sie widerstrebende Nationalitäten in sich
bereinigt, auf militärischen Zwang angewiesen, einer freien Verfassung ent¬
weder gar nicht, oder nur unter Umständen fähig, die man wiederum ein
Zunder nennen müßte; ans demselben Grunde finanziell fortwährend zerrüttet
nebenbei noch mit dem ultramontanen System verflochten.
Oestreich kann dem übrigen Deutschland nichts bieten, als militärischen
^eistand, und diesen bedarf es seinerseits mehr, als es ihn gewähren kann, wie
^ gegenwärtige Krieg augenscheinlich gezeigt hat.
Während dieses Krieges waren sämmtliche deutsche Staaten darin einig,
daß man Oestreich zu Hilfe kommen müßte; auch darin waren alle einig,
daß ein Angriff aus die außerdeutschen Provinzen Oestreichs an sich den Bund
zur unmittelbaren Betheiligung nicht verpflichte, wie ja auch die Bundesacte
ausdrücklich besagt. Die Uneinigkeit zwischen Preußen und den Mittelstaatcn
bezog sich nur auf den Paragraphen, welcher die Frage: ob Gesahr sür das
Bundesgebiet vorhanden sei? der Bundesmajorität anheimgibt. Wenn
Preußen damals erklärte, sich nicht majorisiren lassen zu wollen, so meinte es
damit natürlich nur: die Gefahr für das Bundesgebiet muß wirklich vorhan¬
den sein, nicht blos formell constatirt, sonst konnte ja einmal eine Majorität
entscheiden, daß ein Krieg zwischen China und Japan eine Gefahr sür das
deutsche Bundesgebiet enthalte. Wenn also jetzt die Mittelstaaten darauf antragen,
jenen bisher unbestimmten Paragraphen dahin auszulegen, daß die subjective
Ansicht der einzelnen Bundesglieder, salls sie die Mehrheit gewinnen, aus
dem nomineller Vcrtheidigungskrieg einen realen Angriffskrieg machen kann, so
würde damit Preußen aufhören eine Großmacht zu sein, es könnte seine
Diplomaten entlassen und sich von Wien aus Gesetze und Vorschriften erbitten.
Denn so steht die Sache: nicht in Frankfurt, sondern in Wien wird die
Majorität gebildet; das wiener Cabinet kann nie und nimmermehr seine aus»
wärtige Politik, die eine consequente Diplomatie und unter Umständen schnelle
Entschlüsse erheischt, dem Bundestag zur Begutachtung unterbreiten. Welche
Verfassung auch in Oestreich eingeführt werde, in seiner auswärtigen und
innern Politik muß es souverän sein, wenn es nicht untergehn will. Wenn
nun die Folgen dieser souveränen östreichischen Politik einen Krieg nach sich
ziehn, und Oestreichs Freunde am Bundestag durch Majoritätsbeschluß Preußen
zwingen tonnen, an diesem Kriege Theil zu nehmen, so ist Preußen mediati-
sirt und ein östreichisches Nebenland geworden.
Wir bestreiten nicht die Berechtigung derer, die auf ein solches Resultat
wirklich ausgehn und es als ein Heil sür Deutschland betrachten; nur Auf¬
richtigkeit fordern wir von ihnen! Wir selber sind der entgegengesetzten Ueber¬
zeugung. Wir halten einen Fortschritt Deutschlands nur dann für möglich,
wenn es sich von Oestreichs auswärtiger und innerer Politik vollständig frei¬
macht, und weil diese Befreiung nur unter der Führung Preußens geschehn
kann, dessen Particularinteressen es ohnehin auf denselben Weg weisen, nur
darum halten wir den innigen Anschluß aller Liberalen an Preußen für die
Lebensfrage der Bewegung, für eine so wesentliche Frage, daß ihr gegen¬
über alle andern Interessen gar nicht in Betracht kommen.
Was aber die rechtliche Seite der Sache betrifft, so sind wir sest über¬
zeugt, daß diese Tendenz mit der Bundesverfassung und mit dem Staatsrecht
aller deutschen Länder vollkommen vereinbar ist. daß eine Bundesreform nach
dieser Seite hin in viel gelindem Formen zu bewerkstelligen wäre, als eine
Bundesreform nach der entgegengesetzten Seite. Vorläufig handelt es sich
überhaupt gar nicht um eine wirkliche Entscheidung, sondern nur. die öffent¬
liche Meinung vorzubereiten: dies wird aber nicht gefördert, wenn man. um
der lieben Einigkeit willen. Welsen und Waiblinger in einen Topf bunt durch¬
Die folgende Anekdote ist aus dem soeben bei I. I. Weber in Leipzig
erschienenen Buch Professor Lobes „Aus dem Leben eines Musikers"
entnommen. Lobe war in der Zeit, wo Goethe das Theater in Weimar leitete,
ein junger Mann, der in sich den Beruf zu einem großen Tondichter empfand,
eifrig componirte und studirte und sich lebhaft mit der Bühne beschäftigte.
Da wollte sein Unstern, daß zu den Sorgen um verbotene Octaven und falsche
Quinten und zu der Qual, die seinem jugendlichen Herzen der Generalbaß
wie seinen Geheimnissen bereitete, noch-« die Liebe trat. Eine kleine Schau¬
spielerin mit zweckmäßigem Gesicht wurde plötzlich der Gegenstand seiner Nei¬
gung, die er indeß nur durch Verfolgung der Angebeteten auf Schritt und
Tritt zu äußern wagte. Gab sie ihm bei einer Begegnung Gelegenheit, seinen
Gefühlen für sie Worte zu leihen, so verwandelte sich der angehende Don Juan
sofort in den steinernen Gast. Es half nichts, daß sie geduldig auf eine Er¬
klärung wartete, daß sie mit verschämt gesenkten Blicken stumm fragte, ob er
ihr etwas zu sagen hätte. Er hatte ihr nichts zu sagen. So ging sie end¬
lich sanft erröthend weiter. Da führte eines dunkeln Hcrbstabends ein böses
Schicksal die Katastrophe in diesem zarten Verhältniß herbei.
Es war eine Thcaterprove von Turanoot. Der Liebende hatte gehört,
daß die Geliebte in diesem Stück zum ersten Mal auftreten werde. Er mußte
der Probe beiwohnen. Durch ein Hinterfenster stieg er ins Orchester, von da
über die Barriere ins Parterre, wo er geheimnißvoll hinter einem Pfeiler ver¬
schwand. Wir lassen nun ihn selbst erzählen:
Es war finster, und nur die großherzogliche Loge, auf der andern Seite
des Hauses, der Bühne gegenüber, durch zwei matt flackernde Kerzen erhellt.
Wir befanden uns nämlich damals noch in der vorHund-aubrischen Zeit,
Goethe meist bei den Hauptproben zugegen zu sein pflegte.
Auch in dieser sollte er erscheinen; und bald machte sich ein leises fernes
Rollen hörbar, welches in schnellem Crescendo rasselnd näher kam und schnell
abbrach: Das mußte Goethes Wagen sein. Denn in den Gesprächen des
Schauspielerpersonals, das sich nach und nach auf der Bühne eingefunden
hatte, trat plötzlich eine Generalpause ein und die Mimen verzogen sich still
in die Koulissen. Nur der alte Regisseur Gemahl, der Vater des jetzigen
berühmten Künstlers, blieb auf der Bühne zurück. Kurz darauf trat Goethe
in die Loge. Auf den ehrerbietigen Gruß und die Frage Gemahls, ob Excellenz
befehle, daß die Probe beginne, erwiederte Goethe mit seiner vollen sonoren
Stimme freundlich: „Wenns beliebt." Er setzte sich, die Theaterklingel er¬
tönte und die Probe begann.
In dem ersten Act von Turandot treten bekanntlich nur Männer und
ein altes Weib auf. — Die gingen mich nichts an. Ich rührte mich daher
auch nicht in meinem Versteck. Zwar klopfte mein Herz unaufhörlich höchst
ungestüm in mir, aber ich blieb fest.
Im vierten Austritt des zweiten Acts erschien endlich Turandot. Diese
Rolle spielte die junge Theaternovize zwar noch nicht, aber eine der zwölf
Sklavinnen der Prinzessin darzustellen, war ihrem Talente bereits anvertraut
worden. So wie dieser Sklavinnenzug die Bühne betrat, wurde mein dra¬
matisches Interesse augenblicklich rege und ich fühlte mich mächtig von der
Handlung angezogen. Unglücklicherweise wurden die Sklavinnen, je sechs an
beiden Seiten der Bühne, ganz nahe den Koulissen, aufgestellt und meine
specielle Sklavin kam grade an die Seite, wo ich stand. Hierdurch wurde sie
natürlich meinen Blicken gänzlich entzogen. Ich wollte aber sehen und nicht blos
sie sehen, ich fühlte auch den unwiderstehlichen Drang, ihr meine Gegenwart be¬
merklich zu machen. Um beide Zwecke zu erreichen, mußte ich aus meinem Hinter¬
halt hervor. Ich versuchte es zunächst mit einem schüchternen Schritt; der half nicht;
ich wagte einen zweiten zuzugeben — die Mädchenrcihe kam mir etwas ins
Gesicht, aber die Eine und Eirizige konnte mich noch immer nicht bemerken.
So rückte ich denn allmälig in süßer Selbstvergessenheit, mein ganzes Wesen
nur auf einen Punkt fixirend, weiter und weiter vor, bis ich endlich mitten
im Parterre zu jedermanns Ansicht dastand! Wol erreichte ich meine Absicht,
sie erblickte mich wirklich — sie neigte ihr reizendes Köpfchen mir alsobald leise
grüßend zu. wurde aber auch gleich nach dieser schönen That mit Purpur ganz
Übergossen und stand, ihre langen, schwarzen Wimpern über ihre blitzenden
schwarzen Aeuglein eilig herabfallen lassend, da, wie ein schlafendes, aber süß'
träumendes Kind.
Dies sehend vergaß ich den letzten Nest der Welt, den ich bis dahin,
wenn auch wie von einem starken Nebel umhüllt, um mich herum bemerkt
hatte, und ohne mich weiter an etwas zu kehren, begann ich ihr so oft und
lange gegengrüßend zuzuwinken, bis sie es unter ihren halbgeöffneten Wimpern
hervorlugend mit zufriedener Miene bemerkte.
Nun denke mein sich, wie mir zu Muthe wurde, als in diese zarte Si¬
tuation, in diesen duftigen Zauber- und Liebestraum — aus der großherzog¬
lichen Loge — Goethe — mit zürnender Stimme — plötzlich (ich erzähle
historisch treu) donnernd und in majestätischem Rhythmus die Worte hcrab-
schmetterte:
„Schafft mir doch den Schweinhund aus den Augen!"
Wie ein tödtlich getroffener Hase that ich einige Sätze in die Luft, und
dann hinter den Pfeiler. Aber auch dort mich nicht sicher fühlend, faßte ich
in meiner totalen Geistesverwirrung den unglückseligsten Entschluß. Anstatt
auf dem Wege, auf dem ich hereingekommen, unbemerkt wieder hinauszu-
siüchten. was das Leichteste und Vernünftigste gewesen wäre, setzte ich. mich
Meiner equilibristischen Künste erinnernd, die ich mehrern Bereitergesellschaften
abgesehen und abgelernt hatte, mit beiden Händen auf der nächsten Bank an,
und schwang mich in fünf bis sechs Absätzen über die Sitze des ganzen Par¬
terre hinweg, nach der gegenüberstehenden Thür — vor den Augen aller auf
der Bühne Anwesenden! — Der ganze chinesische Hof, selbst Kaiser Altona
nicht ausgenommen, brach bei dem Anblick meiner Bajazzosprünge in ein ganz
gemeines deutsches Gelächter aus, und selbst Goethe soll sich eines Lächelns
nicht haben enthalten können.
Ich stürzte schamglühend in die düstere Herbstnacht hinaus, jagte wie ein
verfolgter Mörder meiner Wohnung zu und warf mich keuchend aus den ersten
Stuhl, an den ich anrannte und auf dem ich nicht nur an dem Ende meiner
Liebe, sondern auch an dem meines Lebens angelangt zu sein glaubte.
Und nun denke man sich, wie mir zu Muthe ward, als ich am andern
Tag erfuhr, daß ich mich ganz umsonst so blamirt hatte!
Im zweiten Act von Turandot werden die zweite Scene, die vierte und
der Ausgang dieses Actes mit Märschen begleitet. Diese Märsche hatte der
damalige Correpetitor Eulenstein in der Probe einstweilen am Clavier zu
spielen. Besagter Mann war zeitig an seinem Platze erschienen, hatte aber,
um der Langeweile des Wartens zu entgehen — cairtores amant Irnmvres —
°M Fläschchen Branntwein mitgebracht, aus welchem er sich, von dem heiligen
Dunkel des Orchesters schützend umhüllt, fleißig Bescheid that. Er erfüllte bei
ersten Marsch seine Schuldigkeit vollkommen. Auch den zweiten, bei dem
Auftritt der Turandot. führte er noch gut genug aus, nur daß er hier durch
einiges Tempo rubato die wenig musikalisch ausgebildeten Beine der mar-
lchirendcn Statisten einigermaßen wegen des Takthaltens in Verlegenheit brachte.
da an aber geriet!) er durch die letzten Züge aus seiner Flasche in jenen
Zustand, in welchem der Mensch, nach Feuerbach unzurechnungsfähig wird, —
wo der Trunkene sich zwar jedes gegenwärtigen Momentes bewußt ist, von
dem vorhergehenden aber schon nichts mehr weiß, und an den zunüchstfolgcn-
den durchaus nicht denkt. Als nun Turandot pathetisch zu declamiren begann'.
Wer ists, der sich aufs Neu vermessen schmeichelt
Nach so viel kläglich warnender Erfahrung — —
sing unten der Marsch wieder um, denn daß er (Eulenstein) einen Marsch zu
spielen habe, saß fest bei ihm, daß er es aber eben gethan, hatte er bereits
wieder vergessen. Die erstaunte Prinzessin hielt natürlich mit ihrer Rede an.
Gemahl, das tiefere Princip nicht ahnend, welches den Künstler unten belebte,
raunte ihm leise hinab, daß der Marsch noch lange nicht, erst am Schlüsse
des Actes, zu wiederholen sei.
Das verstand nun Eulenstein im Augenblick vollkommen und hörte mit
Spielen aus. Wäre Turandot, diese Zeit benutzend, gleich und eilig recitircnd
eingefallen, so hätte sie vielleicht diesmal ihre erste Rede, die ja nur aus fünf
Zeilen besteht, ohne weiteres Hinderniß zu Ende gebracht, und das folgende
Ungemach wäre über die stärkere Natur des Kaisers Altona gekommen. Aber
die Frauen lernen den Werth der Zeit nie schätzen! Die Künstlerin hielt sich
durch Gemahls Erklärung vor weiteren Eingriff in ihr Redcrecht gesichert, und
verlor durch einiges Rüuspern und prinzeßliches Jnpositursetzen mehre kostbare
Minuten. Was war die natürliche Folge? Daß Turandot bei ihrem zweiten
Versuch uicht einmal so weit wie beim ersten kam, daß der zudringliche Marsch
ihr jetzt schon nach der ersten Zeile ins Wort siel und sie wiederum zum
Schweigen brachte.
Nunmehr stieg in Gemahl eine Ahnung auf. Er eilte abermals ans
Proscenium vor, und rief jetzt mit stärker betonter Stimme hinunter, zuerst in
Allegro-Tempo. „Um Gotteswillen, haben Sie nicht gehört?" alsdann in
Adagio-Tempo übergehend: „Der Marsch kommt erst am Ende des zweite»
Actes!" Er sprach die zweite Hälfte in lauter Spondeen, um den Gedanken
gewichtiger zu machen und tiefer in Eulensteins Gedächtniß hineinzuschlagen-
Auch diesmal noch begriff Letzterer, was man von ihm begehre, und zog
die Hände von dem Clavier zurück. Gemahl gab darauf der Prinzessin einen
Wink, noch einmal anzusaugen. In dieser war aber unterdessen eine große
Veränderung vorgegangen, sie hatte eiuen tiefen Fall gethan, — aus ihrer
Rolle nämlich heraus, — und zeigte nur noch die höchlichst gereizte Künstlerin-
Mit hochrothem Gesicht, eingekniffenen Lippen und leidenschaftlich wogendem
Busen dastehend, schien sie mit sich selbst zu kämpfen, ob sie dem Wink Ge¬
mahls folgen und sich der Möglichkeit einer neuen Einsprache des schrecklichen
Marsches aussetzen, oder gradezu von der Bühne gehen solle. Diese Ueber-
legung und der Entschluß, es noch einmal zu wagen, nahm allerdings nicht
so viel Zeit in Anspruch, als das Lesen hier in der Beschreibung erfordert,
aber der Leser wird bereits ahnen! — — kurz, diesmal war ihre erneute
Anstrengung von noch geringerem Erfolg. denn kaum hatte sie mit grimmig
Muhenden Augen ihre Worte unmittelbar an den Unheimlichen unten richtend
begonnen:
ki.'!-ill'ullsi?l,:'> - >l,et > n .1
Ms et^n^v
Wer rsts, der sich auss Neu — —
als der unvermeidliche Marsch ihr auch aufs neue in die Rede fiel. Bebend,
sast weinend vor Zorn, wollte sie diesmal nicht nachgeben, sondern suchte mit
unmer mehr verstärkter, zuletzt sast kreischender Stimme das schreckliche Ton¬
stück zu übertönen. Aber auch der Spieler unten wollte seinen Marsch endlich
^renat zu Ende bringen und trommelte ihn in wildem Sturmtempo, und noch
^zu durch viele fehlgegriffen Tasten schrecklich zugerichtet und grausiger ge¬
wacht, fort und fort.
Goethe hatte wol die ersten Ausbrüche und Uebergriffe des Virtuosen
"icht bemerken mögen. Jetzt aber wurde ihm die Sache doch zu arg, und
!u>r derohalben jupiterte er die furchtbare Phrase herab, die ich so eitel war,
"uf mich zu beziehen: „Schafft mir doch den Schweinhund aus den
Augen!" Das Auge der „Sklavin" hat mich niemals wiedergesehen!
Klänge aus der Zelle in die Heimath. 1849—1859. Von O.L.Heub-
Uer. _ Dresden, Kurze. — Selten ist ein politischer Act mit so allgemeiner Freude
^Ub Dankbarkeit begrüßt worden, als die Begnadigung der Maigcfangenen von 1849
""eh zehnjähriger Haft. Ueber den Ereignissen jener unheilvollen Periode ist Gras
gewachsen, kaum erinnert man sich noch daran, was damals erstrebt und gesündigt
^>rde. Es war nichts übriggeblieben als die menschliche Theilnahme an dem
chicksal der Unglücklichen, von deren Vergehen man sagen konnte: wer sich rein
^>n Schuld fühlt, der werfe den ersten Stein auf sie! keiner hatte sich durch die
Agenten seines Privatlebens eine so allgemeine Achtung erworben als Heubner.
/e im Gefängniß gedichteten Lieder und Erinnerungsblatt-'r, die er nun als Gruß
"'ehe blos seinen Freunden, sondern allen zuschickt, die menschlich fühlen, lassen den
'en und gemüthlichen Kern seines Herzens noch deutlicher hervortreten. Möge es
vergönnt sein, mit uns eine Zeit zu erleben, wo die wahrhaft nationale Ge-
^Nnung sich bethätigen kann, ohne der Verführung ausgesetzt zu sein, freventlich in
^ Lauf des Gesetzes einzugreifen, wo der süße Name des Vaterlandes nicht blos
°^en idealen Fiebertraum, sondern eine lebensvolle Wirklichkeit ausdrückt. —
^Karies Dickens:^, kath ok t>vo Olties. Vol. 1. (Oolleotioii ok Lritisll
^ullo,.^ Il'Äuouiiit-! Däition). — Wie wenig auch die letzten Werke von Dickens
Eignet waren, den Nuhm des Dichters zu fördern: seinen neuen Roman wird doch
Erlesen, und auch empfinden, daß es noch der alte Zauberer ist. Die Atmosphäre,
in der er sich bewegt, ist leider wieder so ungesund als in den letzten Werken! er
spielt in den Zeiten vor dem Ausbruch der ersten französischen Revolution und schil¬
dert die Greuel der Aristokratie, die den Haß des Volks erregten. — Diesmal soll
der Umfang des Ganzen nur die Hälfte von dem betragen, was Dickens sonst gibt,
d. h. zwei Bände; nach dem Erscheinen des zweiten gehn wir ausführlich dar¬
Von Coburg, dem nunmehrigen Mittelpunkt des in Frankfurt begründeten Na-
tionalvercins, geht uns Nachstehendes zur Veröffentlichung zu:
Aufforderung
zum Eintritt in den deutschen Nationalverein.
Da dem deutschen Nationalvcrein die nach den Gesetzen der freien Stadt Frank¬
furt zu dessen Eröffnung daselbst erforderliche polizeiliche Genehmigung versagt worden
ist, so hat der gewühlte Ausschuß der ihm im Statut ertheilten Befugniß gemäß de»
Sitz des Vereins in die Stadt Coburg verlegt und allen erforderlichen Formalitäten
genügt.
Derselbe eröffnet daher seine Wirksamkeit mit dem heutigen Tage und hat zu
seinem Vorstande den Gutsbesitzer von Bennigsen aus Hannover, als Vorsitzen¬
den, den Rechtsanwalt Fries in Weimar und den Rechtsanwalt Streit in Co¬
burg erwählt und dem Letzter« die Geschäftsführung übertragen. Demnach
sind alle Zuschriften und Zusendungen für den Verein an den genannten Geschäfts¬
führer nach Coburg zu richten.
Die Beitrittserklärungen zu dem Verein erfolgen durch Unterzeichnung des Sta¬
tuts. Exemplare des letzter», so wie der erforderlichen Instruction, sind bei sämmt¬
lichen Ausschußmitgliedern niedergelegt, welche davon auf Erfordern jederzeit mit¬
theilen.
Indem der Ausschuß bemüht sein wird, die nationale Bewegung in unserm
Vaterlande, deren festen Kern zu bilden der Verein bestimmt ist, innerhalb der gesetzt
lichen Bahnen ihrem Ziele zuzuleiten, darf er sich bei dieser schwierigen, die größte
Ausdauer und Hingebung erfordernden Aufgabe der offnen und mannhaften Mit¬
wirkung aller Vaterlandsfreunde versichert halten. Denn das darf von jedem gefor¬
dert werden, dem es um die große Frage der nationalen Existenz wahrhaft Ernst
ist, daß er den Muth habe, für dieselbe mit Entschiedenheit einzustehn und sich seines
gesetzlichen Rechtes hierbei ohne Scheu zu bedienen.
In diesem Sinne wird das deutsche Volk — das hoffen wir mit Zuversicht
— den Grad von sittlicher Kraft und politischer Reife bekunden, ohne welchen die
ganze Bewegung der Berechtigung entbehrt und die hohen Güter der Ehre, Freiheit
und Selbständigkeit des Vaterlandes niemals errungen werden können.
Seit fast einem halben Jahrhundert schon hat sich das Bedürfniß einer Re¬
gelung des mecklenburgischen Abgabenwesens, welches noch zum größten Theil
«us der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts stammt, infolge des ungenügen¬
den Betrags der Einkünfte in den regierenden Kreisen aufs äußerste fühlbar
gemacht; und seit zwölf Jahren hat sich, durch die Reformen in den Nachbar¬
stanten, durch das Unzweckmäßige und die große Belästigung des herrschenden Sy¬
stems aufgerüttelt auch die öffentliche Stimme der Sache bemächtigt, Schrift und
Wort haben es erreicht, daß man über das an sich Nachtheilige der bestehen'
den Verhältnisse ziemlich allgemein die gleiche Ansicht hegt. Infolge dessen
hat es denn auch seit 1849 an Vorschlägen zur Abhilfe nicht gefehlt und seit
1850 indem mannigfache Berathschlagungen derjenigen Staatsangehörigen, welche
bei einer Aenderung zunächst Sitz und Stimme haben, stattgefunden. Diese
und ähnliche Verhandlungen, welche noch kürzlich fortgesetzt wurden, sind zu
^mein Resultat nicht gekommen. Wie die Sachen stehen, können sie noch
>!ladre lang vergeblich geführt werden, ohne etwas anderes zu erzielen, als
die Unmöglichkeit einer Einigung principiell entgegenstehender Ansichten und aus
diesen consequent abgeleiteter widerstrebender Forderungen nur immer deutlicher aä
veuloz darzulegen. Theilweise ist die Ursache hiervon darin zu suchen, daß man
^eit mehr die einzelnen contribuirender Classen der Staatsbürger, als den
Staat und seine Bedürfnisse ins Auge faßte, theilweise darin, daß man, sich
die einzelnen Abgabenpositionen haltend, das System selbst im Großen
und Ganzen einer Aenderung nicht unterziehen wollte.**) Man erkennt dies
deutlich schon an dem meisten, was bisher in dieser Angelegenheit geschrieben
ist; es läuft alles auf ein Flickwerk hinaus, was denn doch immer nur ein
den Anforderungen der neuern Staatswissenschaft nicht Entsprechendes gegeben
hätte. Wir wollen deshalb den Versuch machen, die bestehenden Ver¬
hältnisse im Ganzen zu schildern, dasjenige zu berücksichtigen,
was die Verhandlungen bisher zu Tage gefördert haben, und
schließlich die wahrscheinlichen Folgen eines Anschlusses der
Großherzogthum er an den Zollverein hervorzuheben. Persönlich
davon überzeugt, daß Mecklenburg nur durch den letztern in seinen Einnahmen
dauernd geregelt und zu Fortschritten in staatlicher und ökonomischer Beziehung
geführt werden kann, glauben wir auch darlegen zu können, daß die befürchteten
Nachtheile, welche man sich von einem Anschlusse verspricht, in finanzieller
Hinsicht sich nicht zeigen werden, sobald man nur den Zeitpunkt nicht ver¬
streichen läßt, in welchem es noch möglich wird, ihn an billige und den
eigenthümlichen Verhältnissen des Landes angemessene Bedingungen zu knüpfen.
Vereinbarungen irgend einer Art aber, welche nur eine augenblickliche Abhilfe
gewähren, dürften das Land dem Zollverein zwingend in die Arme führen,
und ob hiervon nicht ein unersetzlicher Verlust die Folge sein würde, geben
wir wohl zu bedenken.
Es ist sehr schwierig, von dem mecklenburgischen Abgabenwesen ein klares
und richtiges Bild zu entwerfen, wenn man die einzelnen Positionen nicht in
ihrem Verhältniß zum Ganzen auffaßt. Für uns ist letzteres die Aufgabe,
weshalb wir nur eine kurze Uebersicht der einzelnen Abgaben, deren Bedeutung
sich meistentheils schon aus ihrer Benennung ergibt, aufstellen.*) Die sämmt¬
lichen Abgaben bestehen in: i) ordentlichen Steuern: g,. des Doma-
niums: Hufen- und Neben- (eine Personal-) Steuer, b. der Ritterschaft'
Hufen- und Nebensteuer, e. der Landstädte: Häuser-, Acker-, Vieh-, Nah'
rungs- (eine Personal-). Schlacht-. Mahl-, Handelssteuer, ä. der Seestadt
Rostock: Accise. d. i. Handels- (Getreide- und Waaren-). Schlacht- und
Mahlsteuer. <z. der Seestadt Wismar: Seezoll (Licent). Staatsgeld. Accise
(eine Abgabe zu städtischen Zwecken). 2) Außerordentlichen Steuern (ein
Aufschlag zu den ordentlichen): g.. DieLandescontribution. umfassend:
Hufen- und Personalsteuer der Landbewohner; Grund-. Vieh-. Handels-. P»'^
sessions-. Nahrungs- und Personalsteuer der Stadtbewohner; Zins-. Pensions¬
und Gehaltssteuer; Personalsteuer charakterisirter Personen, der Advocaten,
Aerzte und Notare; Pachtsteuer der doberaner Spielpächter und Gastwirthe,
d. Prinzessinsteuer, c Stempel- und Cvllateralerbsteuer. ä. Proben-
reitersteuer, e. Branntweinimpost. 3. Zölle, Landzölle (dazu
Transitozoll auf der Berlin-Hamburger Eisenbahn), b. Damm- und
Brückenzölle, o. Elbzölle (wozu auch die Elbbinnenzölle gehören).
^ Sonstige Wasserzölle (der canalisirten Flüsse Elbe und Stör.)
Dies sind die Abgaben des Landes, deren gesammte Auskunft die einzel¬
nen Bewohner durchschnittlich freilich nicht schwer zu treffen scheint, da sie,
auf das Mittel repartirt, nur 2 Thlr. auf den Kopf beträgt. Aber in ihrer
ungleichen Vertheilung, wonach z. B. in den Landstädten ein Betrag von
2 Thlr. g jn der Stadt Wismar von 5 Thlr. 11 Sgr. 3 Pf., in der
Stadt Rostock von s Thlr. 21 Sgr. 4 Pf. auf den Kopf fällt, in der Be¬
freiung ganzer Classen von einzelnen Steuern, in der Belästigung des Verkehrs
durch wiederholte Erhebung, in der Trennung der Seestadt von der Landstadt,
bezüglich des Handels, in der Belastung ersterer dem Auslande gegenüber, in
der Begünstigung der Defraude bietet das bestehende System eine Menge von
Schäden, welche es drückend, für den Wohlstand nachtheilig und unhaltbar
Machen.
Von den genannten Abgaben finden zunächst Exemtionen statt, welche
eure der Hauptbedingungen vernünftiger und zeitgemäßer Besteuerung (nämlich
daß solche alle Staatsbürger möglichst nach dem Grade ihrer Leistungsfähigkeit
^'esse) nicht zur Geltung gelangen lassen. Die Ritterschaft ist für die Hälfte ihrer
Hufen steuerfrei und genießt auch hinsichtlich der Nebcnsteuer erhebliche Ver¬
günstigungen, desgleichen für ihre Fuhren Freiheit von den Landzöllen. Die
^ahnmgs-, Schlacht- und Mahlsteuern der Städtebewohner ferner werden
principiell als Pcrsonalsteuern betrachtet, weshalb die betreffenden Personen auch
weiter besteuert sind. Deshalb sollen jene Abgaben der Tendenz nach'
d^e übrigen Bewohner der Städte nicht betreffen, obwol grade diese, da sie
^eh sofort in indirecte Steuern verwandeln, sie as kaeto bezahlen müssen,
^er übrigens in den Städten sein selbstcrbautes Korn mahlen und sein eig¬
nes Vieh schlachten läßt, zahlt die Abgabe ebenfalls. Dagegen besteht die¬
selbe auf dem platten Lande überall nicht, weshalb auch geschlachtetes Vieh
und Mehl nicht vom Lande in die Stadt gebracht werden darf. Professionisten
(Handwerker) dürfen auf dem Lande nur wenige Gewerbe treiben und erlegen
dünn die Nebcnsteuer. In gleich irriger Ansicht wird die Handelssteuer als
eine Person«lstcuer der Kaufleute betrachtet, welche sie nur erlegen, insofern
ne mit Waaren Handel treiben, und es haben alle Nichtkaufleute. jedoch mit
Ausnahme der nichtadligen Bewohner Rostocks daher das Recht, für ihren
^gnen Bedarf und ihren Haushalt allein nach ihrem Belieben Waaren kommen
nu lassen ohne daß sie für diese eine Abgabe zu erlegen haben. Diese Be-
^ung von der Handelssteuer ist freilich dahin beschränkt, daß nicht mehre
Mlnilien zusammen für ihren Haushalt Waaren beziehen dürfen, aber — ab-
° >ehen davon, daß diese Beschränkung gar nicht controlirt wird, sich auch
gegenwärtig in der That nicht controliren. dagegen sehr leicht umgehen läßt —
bleibt sie doch eine den Handel a priori sehr drückende Befreiung, da sie nur
zum Bezüge größerer, die Transportkosten ausgleichender Warenmengen auf¬
fordert. Und zwar werden diese aus Hamburg und Lübeck bezogen, wo man
sie steuerfrei erhält, nicht von den Kaufleuten des eignen Landes, welche sie
unter allen Umständen theuer versteuern mußten. Die Hintanstellung der ein¬
heimischen Kaufleute ist es eben, welche dem hiesigen Handel so tiefe Wunden
geschlagen hat und noch schlägt, während man es doch nur billigen könnte,
wenn er vornehmlich berücksichtigt und dem auswärtigen Handel mindestens
gleichgestellt würde.
Aber der einheimische Handel wird in jeder Beziehung gedrückt und in
seinen nächsten Interessen durch die Trennung der Landstädte von den See¬
städten verletzt. Die Ursache dieses Mißverhältnisses ist für Rostock in der ex-
clusiver Stellung zu suchen, welche es früher als Hansestadt behauptete und
später, durch eigne Schuld freilich, beibehielt, für Wismar darin, daß es bis
1803 zu Schweden gehörte und sich auch jetzt nur noch im nomineller Pfand¬
besitz Mecklenburgs befindet. Dadurch haben sich Scheidewände zwischen den
Seestädten und dem übrigen Lande gebildet, welche in einem dem Fortschritte
und der Ausgleichung motorischer Mißstände mehr huldigenden Staate aller¬
dings längst würden beseitigt sein, in Mecklenburg sich aber der Heilig¬
keit und Unantastbarkeit des „von Alters her" erfreuen und. trotzdem daß
sie durchaus antiquirt sind, doch bis aufs Aeußerste „conservirt" werden
müssen. Der Handel Mecklenburgs sollte, wenigstens in dem östlichen mitt¬
leren und nördlichen Theile des Landes, sich direct an die Seestädte schließen-
Sie sind seine natürlichen Einfuhrplätze, und nicht nur durch eine zahlreiche
und vortreffliche Rhederei von fast 400 Schiffen, sondern auch durch eine gün¬
stige Lage und gute Häfen vollkommen im Stande, unter gleichen Verhält¬
nissen mit denjenigen Handelsstädten, welche ihnen in neuester Zeit einen sehr
bedeutenden Verkehr entzogen haben, vornehmlich also mit Hamburg, zu con¬
curriren. Sollte dies auch hinsichtlich einzelner Artikel nicht der Fall sein (es
wird z. B. Hamburg bezüglich der Viehausfuhr aus Mecklenburg nach Mg-
land wegen des schnellern Transportes immer, bezüglich mancher Colonial-
waaren bedingungsweise im Vortheil sein), so bleibt doch eine unverhältniß-
mäßige Beschränkung der Landeshäfen absolut verwerflich, da sie diese hindert,
zur Benutzung ihrer natürlichen Hilfsmittel die richtigen, eventuell neue Weg^
aufzusuchen und was auf der einen Seite ihnen etwa entgehen würde, durch
mercantile Anstrengung auf der andern Seite wieder zu gewinnen. Diese Ver¬
hältnisse fordern ein etwas näheres Eingehn, zu welchem es auch einer Be¬
trachtung der einheimischen Production, mit welcher der Handel im genauestes
Zusammenhange steht, bedarf.
Die Ausfuhr Mecklenburgs beschränkt sich auf die Erzeugnisse seiner Land-
Wirthschaft, und diese werden, bei dem Mangel an fast allen Fabriken im
Lande (deren Entstehung ebenfalls durch das Abgabcnsystein behindert wird)
Sum bei weitem größten Theile roh exportirt. In den 20 Jahren von 18Ä9
bis 1849 mei. wurden jährlich im Durchschnitte 24.138 Last 65 Schffl.") Ge¬
treide ausgeführt, wovon auf Rostock 10,870 Last 73 Schffl., im Durchschnitte
also etwas über 45°/° der Gesammtausfuhr fiel. Von der Totalaussuhr des
Jahres 1850 *") ezportirte Rostock hingegen nur 22,8 °/„ und Wismar 6,7°/«.
während nicht weniger als 58,9 °/„ nach und über Hamburg gingen. Das
Ausfuhrgeschäft der hiesigen Seestädte stellt sich als ein allmälig sinkendes
^r. Wenn nun die betreffenden Tabellen nicht die ganze Ausfuhr geben, da
uicht mit verzeichnet ist, was vermittelst ritterschaftlicher Freipässe über die
Grenze geführt wurde, so kommt die dadurch entstehende Differenz wahrschein¬
lich noch zum großen Theile Hamburg zu Gute, nicht aber Rostock, wo eine
genaue Controle stattfindet. Fragt man nun, woher dies Sinken der Aus¬
fuhr entstanden ist, so wird die Antwort sein müssen, daß es eine Folge von
be>n commerciellen Rückschritte Rostocks im Allgemeinen, von der durch die
Eisenbahn erleichterten Verbindung mit Hamburg, vorzüglich aber von den
durch die Steuerverhältnisse Rostocks erhöheten Exportkosten und in einigem
Grade von der durch sie erschwerten Rückfracht aus der Stadt in die Güter
^i. Wie mit dem Getreide verhält es sich mehr oder minder mit allen
übrigen landwirtschaftlichen Producten. mit Ausnahme des Viehes, wie schon
"'wähnt wurde. Dennoch ist es nachweisbar, daß die Ausfuhrverhältnisse aus
W dem ganzen Lande, mit Ausschluß des westlichen Theiles etwa, für Ro¬
stock insofern günstig liegen, als die Eisenbahnfracht von Hagenow an billiger
'se. als nach Hamburg, und als ebenfalls die Seefracht nach England nicht nur
theurer, sondern sogar etwas billiger ist, als von Hamburg aus. Dazu
^Mu>r, daß der rostocker Kaufmann augenblicklich noch etwas höhere Korn-
^reise in England erzielt, als der Hamburger, weil ersterer das Korn einer
ausgezeichneten Behandlung und Reinigung unterzieht, während letzterer mehr
einfachen Transits verkehrt. Dieser eben erwähnte Umstand hat, wie es
seinen möchte, die rostocker Ausfuhr bisher noch auf der Höhe erhalten, in
ber sie besteht; es ist jedoch klar, daß er eine dauernde Sicherheit nicht zu
lieben vermag. Denn alle natürlichen Vortheile werden durch die in Rostock
kund Wismar) erhobene Getreidesteucr vernichtet. Während die gesammten
^'ansitkosten für die Hamburger Last Getreide in Hamburg etwa 2^ Thlr.
fragen, werden in Rostock für die mecklenburgische Last allein an Steuer
2Vz, in Wismar über 2Vs Thlr. (nach dem Satze für Weizen, welcher den
Hauptexportartikel ausmacht) entrichtet, wozu dann die Hafenkosten u. s. w.
kommen. Nach genauester Berechnung ist der Getreidepreis in Rostock unter
übrigens gleichen Verhältnissen etwas billiger, als in Hamburg, ein Abschlag,
welcher besonders dadurch fühlbar wird, daß die vielen großen Güter so sehr
bedeutende Massen (auch an andern Producten) sortsenden. Ist nun ferner
dem Landmann in Hamburg die Gelegenheit gegeben, für seine Haushaltung
steuerfrei Waaren einzukaufen und mitzunehmen, was er in Rostock nicht kann,
weil er hier die vom Kaufmann erlegte Steuer mit zu bezahlen hat, so neigt
sich die Chance unstreitig zu Gunsten Hamburgs.
Der Handelstand der Seestädte ist aber nicht nur in Hinsicht des Exports
einheimischer Producte und des Wiederverkaufs fremder Waaren an die Pro¬
ducenten gedrückt, sondern auch in Hinsicht des Imports und des Verschleißes
importirter Waaren an die Kaufleute der Landstädte. Will beispielsweise ein
solcher Kaufmann der Landstadt für 100 Thlr. Waaren erstehen, so bereiten
ihm diese, wurden sie zur See bezogen, in runder Summe
Das macht zwischen Wismar zur See und Hamburg einen Steuerunter¬
schied von 160 °/o. Das Sonderbare an der hierbei normirenden Steuerweise
ist, daß die schon beim Importe in die Seestadt vorschriftsmäßig versteuerten
und verzollten Waaren, wenn sie in den Besitz eines landstädtischen Kauf¬
mannes übergehen, nochmals die sogenannte Landstadtnachstcuer und daneben
die Landzölle ze. der Hebestellen, welche sie passiren, zu tragen haben. Die
Landstadtnachsteuer beträgt, wenn die Waare von Rostock bezogen wird, V° Pi-'
wenn von Wismar aus, IV» Pf. von jedem Thaler des Werthes und der
schon in der Seestadt erlegten Steuer, so daß von letzterer sogar wieder eine
Steuer erhoben wird. Ist nun dieser Betrag schon nicht gerade gering, so ist
es nur um so natürlicher, daß der Kaufmann seine Waare gewöhnlich dort
sucht, wo er sie mit den geringsten Kosten und möglichst frei von Vexationen
haben kann, demnach Wismar und Rostock gegenüber in Hamburg. Der bil¬
ligere Bezug aus letzterem Orte ist durchschnittlich auf IV2 bis 3 Procent
zu berechnen. Will nun ein Großhändler der Seestadt Commissionswaaren
aus Hamburg beziehen, um sie gegen die Commission direct von dort an den
kleinstädtischen Kaufmann zu überlassen, so kann er dies nur heimlich thun,
weil er sonst für diese Waare in jedem Falle die Steuer bezahlen muß, welche
sie, nach Rostock bezogen, hätte erlegen müssen. Hierdurch wird verhindert,
daß der Credit des Großhändlers einen billigeren Waarenbezug von Seiten
Kleinhändlers vermittelt, ein sehr gravirender Umstand. — Dem Behag¬
en gegenüber dürfen wir wol darauf h'inweisen, daß möglichst freier Verkehr
une Lebensbedingung für gesunden Handel ist, und es wird sich wol ohne
Weiteres ergeben haben, warum der Handel der mecklenburgischen Seestädte
^artete und ihre Bedeutung für das Land jährlich sich mindert.
Diese Umstände werden dann weiter dadurch betrübend, daß sie auch die
k'rheinische Rhederei in hohem Grade betreffen. Rostocks frühere sehr wich¬
tige Handelsstellung gab die Veranlassung zum Wachsthum« der Rhederei
und es bildete sich dabei der Usus der sogenannten „Schisssparten", eine
^ctienunternehmung, nach welcher eine Anzahl Privatpersonen (32, 64, 128
U- s. w.) das Geld gab und jede dafür einen Antheil an Gewinn und Ver¬
lust erhielt. Dieser im Ganzen löbliche Gebrauch erleichterte, in Verbindung
u»t billigen Holzpreisen, den Schiffsbau sehr; günstige Conjuncturen kamen
^üher häufiger hinzu und so ist noch heute der Schiffsbau, trotz des sin¬
kenden Handels, ein bedeutender. Die natürliche Folge dieses verkehrten
Verhältnisses ist nun. daß die Schiffe Mecklenburgs in allen Häfen und
"us allen Meeren Fracht suchen und sich vom eigenen Lande entwöhnen. Die
Rhederei ist auf diese Weise einer Treibhauspflanze gleich geworden; für den
Augenblick noch am Leben, sogar blühend, liegt doch die Befürchtung nahe,
^ ein unerwarteter Luftzug ihr sehr gefährlich werden könne. Die Handels-
Bedeutung der mecklenburgischen Häfen liegt nämlich ohne Zweifel mehr nach
Skandinavien und Rußland, als nach der Nordsee hin, wenigstens ist in letz-
^'er Richtung eine Concurrenz 'mit Hamburg nur dann möglich, wenn jene
überlastet sind. Der Schiffsverkehr mit den nordischen Reichen ist be¬
hütend, das Bedürfniß eines Landes wie Mecklenburg an den Producten der¬
selben aber ist für die Zahl der Schiffe viel zu gering. Für die Hauptmasse
^ letzteren bleiben in Folge hiervon nur zwei Wege zur Beschäftigung:
^ daß sie für fremde Rechnung und 2) daß sie für die einheimischen Häfen
Zum Zwecke des Transithcmdcls durch Mecklenburg fahren.
Das Erstere geschieht, wie erwähnt wurde, in großem Umfange. Es ist
^Un aber leider nur ein kleiner Theil der hiesigen Schiffe von solcher Größe,
^» sie im Welthandel mit den Schiffen anderer Länder (Hamburg. Bremen
' ^ w.) concurriren können, und in Folge dessen wirft diese Art des Ver-
^s für ftemde Rheder nur geringe Vortheile ab, während sie die Gefahr
"ud die Assecuranzkosten (wegen der Kleinheit der Schiffe) vermehrt. Soweit
^end möglich, suchen deshalb die mecklenburgischen Schiffe für Rechnung der
^tseehäfen zu fahren und machen dabei auch ganz gute Geschäfte. Es ist
., ^ "icht zu verkennen, daß dies wieder auf die Rhederei der Ostseehäfen
^ besondere Stettins) nachtheilig drückt, und es bedarf nur einer unbedeuten-
^ Maßregel zu Gunsten dieser — wie sie schon in Rede gestanden hat und die
man Preußen gar nicht verargen kann und die zweifelsohne ins Leben treten
wird, wenn Mecklenburg bei einer Reorganisation des Zollvereins (1866) sei'
neu Beitritt hartnäckig verweigert um seiner Rhederei eine Wunde zu schla¬
gen, deren Heilung gar nicht zu ersehen ist.
Unendlich besser wäre es für sie gewesen, wenn der einheimische Handel
durch Beseitigung seiner Beschränkungen allmnlig gehoben worden wäre; jetzt ist
es dazu schon sehr spät, da der Handel sich seit längerer Zeit andere Wege ge¬
sucht hat, die er bekanntlich nur langsam verläßt. Uebrigens werden die See¬
städte auch in Zukunft wol hauptsächlich die Anfuhr nordischer Producte und
dessen, was die Schiffe als Rückfracht aus England importiren, besonders
Salz. Steinkohlen u. s. w. zu vermitteln haben. Sie könnten aber zugleich
für das nordwestliche Deutschland und weiter über Hamburg diese Zufuhr
und die Durchfuhr nordischer Producte durch Mecklenburg leiten. Ob sich dies
aber, wie jetzt vielfach behauptet wird, durch bloße Modifikation der hiesige»
Abgaben und vor dem Beitritt Mecklenburgs zum Zollvereine realisiren
läßt, ist uns sehr zweifelhaft. Durch den Beitritt hingegen würde dem Tran-
sito jener Producte sicherlich auch die Straße von Skandinavien und Ostrußland
über Rostock oder Wismar auf Magdeburg und Leipzig nach Süddeutschland
eröffnet werden, weil sie die geradeste und natürlichste ist; anderenfalls bleibt
sie größtentheils verschlossen und der Handel den preußischen Häfen gewahrt'
Wie dem aber auch sei, ein Transitohandel von der Bedeutung, daß er die
Rhederei beschäftigt, ist für Mecklenburg nur dann möglich, wenn die ihn
hemmenden Zollschranken fallen und dies führt uns wieder zur Betrachtung
der letzteren. Außer den vielfachen Binnen- (23 Haupt- und 32 Neben-) Zöllen,
welche die Freiheit des Verkehrs mit dem fremden Kaufmanne belästigen, ver¬
theuern die Ein- und Ausfuhrabgaben, welche auch vom Transtto erhöbe"
werden, die Waaren und zwingen den Kaufmann, ihren anderweitigen Bezug
zu suchen. Der Transits ist ein Verkehr, welcher unter Belästigungen nicht
gedeiht; ein Austausch von Waaren gegen Waaren, seltener von Geld geg^'
Waaren, kann er nicht Im- und Exportabgaben zugleich tragen, viel weniger
noch die Binnenzölle und sonstige Belästigungen des internen Verkehrs. Les'
lere müssen gänzlich, die nothwendigen Abgaben möglichst aufgehoben, d^
Erhebung erleichtert, zollfreie, unter Verschluß gelegte Entrepots gestattet, d>e
Steuerzahlung dem Kaufmann in dem Maaße, wie die Waaren in den
lehr übergehen, ermöglicht sein. Von allem diesem leistet das bestehe'^
Abgabensystem nichts; ein lebhafter Transits ist dem mecklenburgischen Gu'l>
Händler unmöglich, die Beschäftigung der Rhederei für das eigene Land ron'
immer unbedeutender, der Verkehr mit Hamburg dagegen nimmt in hot)e^
Grade zu — wir dürften wol sagen, daß die commercielle Bedeutung
hiesigen Seestädte leidet, der Handel überall bedrückt ist. Die Folge davo"
h>ar lange Zeit hindurch eine tiefe Erschlaffung des Handelsstrebens. welches
s>es jedoch neuerlichst zu kräftigen beginnt. Dampfschiffverbindungen mit Skan¬
dinavien und Nußland, die Bank in Rostock u. A. in. sind Zeugen hiervon.
Aber alle diese Anstrengungen verschwinden unter dem Drucke der Verhält¬
nisse, selbst die durch die Bank ermöglichte schnellere Circulation des Geldes
vermag der Kaufmann nur in beschränkter Weise zu benutzen.
Nicht jedoch blos Hamburg gegenüber sind die Seestädte im Nachtheil,
sie tragen auch Abgaben, welche in den Landstädten nicht statt finden. So
sind letztere z. B. befugt, mit Korn und Oelfrüchten steuerfrei zu handeln,
locum diese Producte landwärts gehen, eine Bestimmung, welche sie zwingend
von den Seestädten fortleitet. In den Seestädten sind die Materialien zur
Fabrikation besteuert, in den Landstädten nicht; in ersteren wird das Rohmate¬
rial dadurch vertheuert und wenn sie diesem durch billigeren Bezug zur See
begegnen, so kann die Landstadt dies wieder nicht, weil sie dann obendrein
wieder die Nachsteuer zu tragen hat. In den Landstädten allein ist serner
steuerfrei, was Künstler und Handwerker zum Betriebe ihres Geschäftes direct
^ziehen, alles Baumaterial, aller Trödelhandel, alle Jmportanda der Ritter-
schaft, die Fabrikate inländischer Wollfabriken, die Transits- und Speditions-
Oter u. s. w.
Bon den steuerpflichtigen Waaren wird die Abgabe meistentheils aä valo-
^i» *) erhalten, und zwar auf die bloße Declaration des Empfängers hin.
den Seestädten ist die Controle darüber sehr scharf; in den Landstädten,
welche meistens von allen Seiten offen sind, sehr gemüthlich, sie geschieht nicht
selten erst geraume Zeit nach dem Empfange der Waaren im Hause des Em¬
pfängers und da haben die Waaren oft die Zwischenzeit benutzt, um sich
gründlich zu verwandeln. Aus Seidenzeugen werden grobe Tuche u. s. w.,
Nebenbei wird auch, wenn man dem böswilligen Gerede trauen will, hier und
^ „geschmiert". Mit ritterschaftlichen Freipässen versehene Fuhren und Import¬
artikel von Privatpersonen werden gar nicht controlirt, sondern seit der jüngsten
3eit nur einfach registrirt. Wie sehr Alles dies die Defrauden begünstigt, ist
^ehr als notorisch. Schlimm aber ist es, daß auf Treue und Rechtlichkeit
gegründete Angaben mit solcher Gleichgiltigkeit gefälscht werden, wie es wirt-
^es geschieht. Zum Beispiele wollen wir nach dem Ares. f. Landes?. 1859 S. 456
Folgende anführen. Im Jahre 1856 wurden im Ganzen 2,671.060 Pfd.
^ssee als eingeführt declarirt. was bei der damaligen Bevölkerung von
542,064 Menschen**) in Mecklenburg-Schwerin und 99.628 Menschen in Menk-
lenburger Strelitz, von welcher Bevölkerung etwa 600.000 Konsumenten für
jenen Import zu rechnen sind, auf den Kopf etwa 4'/- Pfd. beträgt. Nun
verbraucht aber die Bevölkerung Hannovers pro Kopf über 7, diejenige von
Schleswig-Holstein etwa 6-/° Pfd. auf den Kopf, woraus Jeder, der die nahe¬
zu gleichen Verhältnisse dieser Länder mit Mecklenburg kennt, für dieses einen
Verbrauch von 6 Psd. pro Kopf wenigstens veranschlagen müßte. Es hätte
demnach die wirkliche Einfuhr beiläufig 3,600.000 Pfd. betragen oder es wären
ca. 930,000 Pfd. der Einfuhr nicht versteuert. Diese können aber nicht
der gesetzlich steuerfreien Einfuhr der Privaten zugeschrieben werden, weil diese
Befreiung in solchem Grade nicht benutzt wird und höchstens 250.000 Pfd. be¬
trägt. Eine ansehnliche Menge wird demnach der Desraude zur Last fallen.
Wer hieran zweifelt, der bedenke, daß Rostock bei einem natürlichen städtischen
und ländlichen Handelsrayon von ca. 40.000 Menschen nur 221,840 Pfd. als
eingeführt declarirt hat. also nur 5'/- Pfd. für den Kopf. Wismar hat bei
einem gleichen Rayon von etwa 29,000 Menschen gar nur 0.56 Pfd. pro Kopf
versteuert. Daß nun hierbei der Verbrauch des Landes nicht zu hoch berechnet wurde,
dafür kann derjenige des Zuckers und Syrups ein Beweis sein, welcher nach
einer statistischen Erhebung von 1845 sich auf 10'/- Pfd. pro Kopf, nach den
Einfuhr-Registern von 1856 (also mit Ausschluß der jedenfalls sehr geringen
Privateinfuhr) gar auf 13,6 Pfd. pro Kopf belief, während Hannover nach
den sorgfältigsten Ermittelungen nur 8.29 Pfd. pro Kopf consumirt. Diese
Zahlen geben keine statistisch durchaus sichere, aber eine moralische Ueber¬
zeugung.
Betrachten wir nun die Nachtheile des bestehenden Abgabenwesens, nament¬
lich der durch dasselbe bewirkten Abschließung des Landes, welche die hiesig
Industrie treffen. Am klarsten treten jene hervor, wenn wir die vom stati¬
stischen Bureau veröffentlichten Ausfuhrregister durchsehen. Hier erkennen
wir sofort, daß die Ausfuhr von allen solchen Fabrikaten, welche aus den
natürlichen Producten des Landes ohne große Mühe bereitet werden können,
Holz-, Sattler-, Bürsten-, Korbwaaren, dann Wagen, landwirthschaftliche Ge¬
rüche und Maschinen u. tgi. eine sehr geringe ist. Es wird Niemand be¬
haupten, daß dem Lande zu dieser Fabrikation die Vorbedingungen fehlen!
es besitzt dieselben reichlich und ermöglicht nach seinen eigensten Verhältnisse"-
Wie der oberflächlichste Blick lehren muß. eine nicht theure Fabrikation. Und
wie viele andere Quellen zu Nutzen dringender Industrie besitzt das Land
noch in seinen ausgezeichneten Thonlagern, Torfmooren. Braunkohlenlagern
u. s. w. Der Betrieb letzterer kann weder leben noch sterben, die Bereitung
des Torfes geschieht fast ausschließlich nach urväterlicher Methode, während
z. B. durch Pressung bereiteter (comprimirter) Torf gewiß ein sicherer Ausfuhr'
Artikel werden könnte. Jetzt genügt die Bereitung nicht dem eigenen
darfe, die Waldungen werden nur mit Mühe zum Schutze der Agricultur er¬
halten und der Forstfrevel gibt es verhältnißmäßig zahlreiche. Die schonen
^uarzsandlager werden zur Glasfabrikation selten oder gar nicht benutzt, die
Lumpen gehen fast unbenutzt nach auswärts, theils weil der gebotene Markt
ZU wenig umfangreich, theils weil die Bewegung gehemmt ist. Und doch muß
Man gestehen, daß Mecklenburg mit seinen billigen Wohnungen und Lebensmitteln,
wie im Ganzen geringen Comunalabgaben und vielen kleinen Städten für die
wohlfeile Fabrikation so günstig ist, wie irgend ein anderer Staat. Die Spiri¬
tus- und Brantweinbrennereien der Städte sinken jährlich, weil sie — selbst
besteuert — die Concurrenz mit den steuerfreien Gutsbrennereien nicht aushal¬
ten können. (Das Fabrikat der letzteren soll zwar gesetzlich in die Städte
uicht eingeführt werden, aber das ist eine Bestimmung auf dem Papiere, die
Controle fehlt.) Die Brauereien, einst so schwunghaft, unter- und erliegen der
drückenden Maischsteuer und anderen veralteten Bestimmungen. Die Leinen¬
fabrikation und besonders die noch vor wenigen Jahrzehnten so blühende
Tuchweberei kümmern dahin, weil sie, aller Concurrenz von Außen bloßgestellt.
Und nur den Absatz im eigenen kleinen Lande suchen können. Obwol die
Tuchweberei so tüchtig ist. daß ihre sehr guten äußerst haltbaren Zeuge ge¬
wiß euren weiteren Markt fänden, nimmt doch die Zahl der Weber und
und ihr Wohlstand jährlich ab. und nur die. in Mecklenburg einzige. Associa¬
tion derselben zum partiellen Maschinenbetriebe, so wie einzelne kleine
Erleichterungen von Seiten des Landes fristen ihr Dasein. Sollen wir alle
Gewerke einzeln durchgehen, die Verhältnisse drücken auf alle. Wohin
soll der Lederfrabrikant mit der zubereiteten Haut, wohin der Hutmacher.
^ohin irgend ein Anderer, der nicht gerade einzig auf Bestellung arbeitet,
"or den alleil verteuernden Steuern und Zöllen sich flüchten? — Man hört
W der Gegenwart, angeregt durch das augenscheinliche Sinken der Ge¬
werbe, die Frage auswerfen, ob es von Nutzen sein würde, wenn dem
Handwerke im Allgemeinen die Niederlassung auf dem flachen Lande er¬
öffnet würde, die jetzt fast durchgängig verboten oder, wo sie gestattet,
l»- B. beim Schmiede auf die Haltung Eines Gesellen) beschränkt ist?
Darauf gibt es für den Augenblick nur eine Antwort: ..Diese Erwei¬
sung nützt auf die Dauer nichts, wenn nicht die übrigen Schranken
^gleich mit fallen, würde sogar die Gewerke der Städte offenbar aufs
äußerste beschädigen; fallen aber jene Schranken, so vermögen die Städte
"Ach das Land zu versorgen." Auf die Handwerker derjenigen Städte, welche
"u der Grenze des Zollvereins liegen, wollen wir nur einfach hindeuten. Der
Concurrenz zuerst bloßgestellt und auf einen um so kleineren Absatz beschränkt,
fuhren sie ein klägliches Leben. Den Handeltreibenden dieser Städte, deren
2ahi in beiden Großherzogthümern 27 beträgt, geht es ebenso, und daß. um
dem Nachtheile zu entgehen, gerade hier der Schmuggel in den Zollverein leb¬
haft betrieben wird, ist allgemein bekannt. Dem Daniederliegen der Industrie
steht nun die bedeutende Auswanderung zur Seite — wahrlich, es ist ein
trauriger Humor, der hier noch von dem „glücklichen Mecklenburg" spricht und
sich freuen kann, daß das Land Fabriken nicht besitze, auch nicht „nöthig
habe!"
Schließlich müssen wir auch die Wirkung der bestehenden Verhältnisse auf
die sehr zahlreiche Classe der um Tagelohn Arbeitenden berücksichtigen. Daß
diese sich gar nicht oder doch nur mit äußerster Mühe aus ihrer Sphäre em-
porarbeiten können, liegt offen auf der Hand. Sie haben aber ferner, auf
den allerkleinsten Detailhandel angewiesen, einen großen Theil der Handels-
steuern allein zu tragen. Es ist dies freilich ein Umstand, der im Wesen in-
direcrer Besteuerung liegt und sich auch in anderen Staaten geltend mach«!
in diesen aber steht ihm dann wenigstens keine gesetzliche Befreiung gegenüber,
durch welche er erst doppelt fühlbar wird. Ein Tagelöhner zahlt an außer¬
ordentlicher Steuer Thlr. oder bei der seit Jahren stattfindenden dreifachen
Erhebung jährlich Thlr. Dazu hat er, wenn im Domanium wohnhaft,
nach dem Edict vom 4. October 1843 noch l'/°Thlr.. in den Städten noch
IV- Thlr. an ordentlicher und erhöhter Steuer, in beiden Fällen endlich noch
Comunalabgaben zu zahlen, die besonders im Domanium beträchtlich sind. Der
ritterschaftliche Tagelöhner dagegen erlegt außer jenem V- Thlr. gar nichts,
hat auch keine Schlacht-, Mahl-. Brenn- und Brauabgabcn zu tragen, da
solche aus dem Lande gar nicht bestehen. Die Prägravationen der üb¬
rigen Landestheile gegen die Ritterschaft zeigen sich in allen Verhältnissen und
sind, selbst wenn man sie für rechtlich begründet halten dürfte, doch mit den
Anforderungen der Gegenwart an ein gerechtes und zweckmäßiges Abgaben¬
system gewiß nicht in Einklang zu bringen. —
Hier wird nun die Frage Platz finden müssen, ob das Abgabcnsystem W
Mecklenburg sich vielleicht durch die Geringfügigkeit der Erhebungskosten aus¬
zeichne und dadurch einen Theil seiner Last, zunächst die unzureichende Con-
trole. ausgleiche? Auch dies muß entschieden verneint werden; denn es ist M
Erhebung der nachgewiesenen indirecten Steuern in den Landstädten des Groß-
herzogthums Mecklenburg-Schwerin, zur Erhebung einer Totalsumme von ca-
100.000 Thlr.. ein Personal von fast 200 Beamten mit einem jährlichen To-
talgehaltc von fast 43.000 Thlr. erforderlich; ebenso kostet die Erhebung vo«
64.800 Thlr. aus der rostocker Accise jährlich ca. 12.000 Thlr. Die Erhebungs¬
kosten betragen also in den Landstädten fast 27, in Rostock 18.5°/°. während
sie im deutschen Zollvereine sich auf wenig mehr als 5°/„ belaufen. — ^
Wir haben die bestehenden Verhältnisse hier in großen Zügengeschikt'
ohne zu sehr auf das Specielle, welches schon zum großen Theile a. a. ^'
nachgewiesen ist, einzugehen. Jenes soll zugleich als Vorbereitung auf den
dritten Abschnitt dieser Abhandlung: „die wahrscheinlichen Folgen des An¬
schlusses Mecklenburgs an den Zollverein" vorbereiten und ist mit Rücksicht
hierauf zu betrachten. Jedoch selbst wenn ein solcher Anschluß in längerer
Zeit noch nicht zu realisiren wäre, wenn dem Lande zunächst (wie zu befürch¬
tn) nur ein sür sich abgeschlossenes neues Abgabensystem zu Theil würde, so
müßten doch die hier namentlich aufgeführten Abgaben in jedem Falle besei¬
tigt oder gründlich modificirt werden. Solches würde demnach betreffen:
1. Die Schlacht- und Mahl-, Handels- und Professions- (Nahrungs-)
Steuer der Landstädte, soweit erstere noch nicht sixirt sind.*) Reinertrag ca.
los.ovo Thlr.
2. Die Accise in Rostock, zu 64,800 Thlr. veranschlagt, von welcher
Summe jedoch 14000 Thlr. zu städtischen Zwecken abgegeben und 11800 Thlr.
Zu Erhebungskosten verwandt werden. Die Schlacht- und Mahlsteuer mußte
Rostock, nach dem Vorgange der Landstädte, selbst ablösen. In Anschlag
kommen ca. 39000 Thlr.
3. Staatsgeld und Seezoll in Wismar mit ca. 14500 Thlr.
4. Die Probenreiterstcuer mit ca. 7500 Thlr.
5. Der Brantweinimpost mit ca. 1000 Thlr.
K. Alle Land- und Binnenzölle (Damm- und Brückengelder) mit einer
^wen Einnahme von ca. 26500 Thlr.
7. Beim Anschlusse an den Zollverein den Transitozoll auf der berlin-
hainburger Eisenbahn mit einem reinen Ertrag von ca. 70000 Thlr.
Daß ferner alle Exemtionen einzelner Personen oder Classen, alle un-
Tleiche Belastung und ungleiche Controle, alle unzweckmäßige Erhebung und
^rtheilung, namentlich alle Belästigungen des internen Verkehrs aufhören
'"üßten. versteht sich von selbst.
Die aus den also fortfallenden Abgaben evenirende und demnächst zu
^!ctzcmde reine Einnahmesumme betrüge hiernach ca. 193,500 oder ind. xos.
^ ca. 263,500 Thlr., mit Einschluß der Erhebungskostcn jedoch ca. 235.000
°der wei. xos. 7 ca. 325,000 Thlr.
Von den gegenwärtigen Abgaben würden ferner, eventuell modificirt, bei
^stände bleiben und mit sehr geringen Kosten sud. 2. 3 und 4 durch die
Magistrate, sub. 1 durch die großh. Aemter erhoben werden können:
1. Die ordentlichen und außerordentlichen Steuern des Domaniums
der Ritterschaft, deren künftiger Ertrag sich nach dem Staatsbedürfnisfe
und der Erhebungsweise verschieden herausstellen würde. Jetzt betragen sie
zusammen ca. 304000 Thlr.
2. Die Häuser- Acker- und Vichstcuer der Landstädte mit einer reinen
Einnahme von eg.. 16000 Thlr.
3. Die Einkommensteuern für verschiedene Classen der Bevölkerung mit
ca. 17000 Thlr.
4. Die Stempel- und Collateral-Erbsteuer mit 35 — 40000 Thlr.
5. Die Prinzessinsteuer, welche nur bei der Verheirathung einer Prinzes¬
sin aus beiden großh. Hausern zu 20000 Thlr. erhoben wird.
6. Die Wasserzölle, insoweit sie zur Instandhaltung ze. der canalisirten
Wasserstraßen bestimmt sind, mit ca. 4300 Thlr.
7. Die Elbzölle, sofern über diese eine Vereinbarung der Elbstaaten nicht
anderes beschließt. —
Der Ausfall in den Staatseinnahmen kann gedeckt werden entweder
durch directe oder durch indirecte Abgaben allein, oder, gemäß den richtigen
Principien neuester Staatswissenschaft, durch beide gemeinsam. Welche man
auch wähle, die schon oben angedeuteten Gesichtspunkte für eine gleichmäßige
Besteuerung müssen maßgebend sein. Für die Anlage indirecter Abgaben gibt
die Wissenschaft einige Grundregeln, welche alle neueren Staaten als giltig
anerkennen und ohne Ausnahme zur Basis ihrer Abgabensysteme angenommen
haben. Es sind dies kurz folgende:
1. Man verschone möglichst oder belaste leicht die allgemeine, auch dem
Aermsten nothwendigen Lebensbedürfnisse (Brod. Fleisch, Brennmaterial, grobe
Zeuge u. s. w.)
2. Man belaste vorzüglich solche Gegenstände, welche, weil allgemein
gebraucht (ohne daß sie zum Leben unumgänglich nothwendig) schon bei ge¬
ringem Tarife große Einnahme gewähren (Wein. Bier, Branntwein, Kaffee-
Zucker, Thee, Taback :c.)
3. Man belege keinen Artikel so hoch, daß in seinem Verbrauche eine
wesentliche Veränderung eintrete oder der Schmuggel befördert werde.
4. Die Erhebung geschehe möglichst nach Raum und Gewicht, nicht nach
der falsche Angaben befördernden Werthdcclarirung.
5. Erhebung und Controle seien leicht, möglichst billig, an die Grenzen,
wie ins Innere des Landes gelegt. Die Aufsicht umgrenze möglichst die Ge¬
biete großer Staatskörper oder Staatscomplexc und vermeide die Umgrenzung
kleinerer Gebiete thunlichst.
Die Lander, welche ganz oder theilweise dem niederrheinischen Kriegstheater
angehören, sind: Frankreich. Belgien, Holland. Preußen, Hannover, Nassau,
die drei Hessen, die beiden Lippe, Waldeck, Oldenburg. Braunschweig, die
thüringischen und sächsischen Herzogtümer. Wir beschäftigen uns einstweilen
'naht mit der Bestimmung der politischen Stellung dieser Länder, sondern unter¬
suchen nur, welche Hilfsmittel sie durch ihre Cultur der Kriegführung auf dem
niederrheinischen Kriegstheater bieten, welche Hindernisse sie ihr in den Weg
^gar können. Vorher erinnern wir nur kurz daran, daß bei einer solchen
Betrachtung immer drei Dinge vorzugsweise ins Auge zu fassen sind: Er¬
fahrung der Truppen, Bewegung und Gefecht. Auf Alles, was dabei wcsent-
ist. kommt man, wenn man nach dem Reichthum des Landes, der Art
seines Reichthums, nach den Wegeverbindungen und den festen Plätzen fragt.
Belgien steht im Centrum des Kriegstheaters, nicht im geometrischen,
"b'er im mechanischen. Nur bei regelmäßigen und ihrer Masse nach völlig
K^ichartig constituirten Körpern fallen geometrischer Mittelpunkt und Schwerpunkt
iuscirnmen. Bei Betrachtung kriegerischer Verhältnisse aber hat man es mit solcher
^gelmäßigkeit nie zu thun, nur aus den Schwerpunkt, nicht auf den geometrischen
Zielpunkt kommt es bei ihnen an. Belgien bildet diesen Schwerpunkt als
^ classische Boden des Kampfes zwischen Kelten und Germanen, wie zwischen
^°>namen und Germanen. Noch der letzte Völkerkampf zwischen Keltoromanen
t»!d Germanen wurde dort ausgefochten. Franzosen auf der einen. Preußen,
^gländer, Niederländer auf der andern Seite? Hier floß kein Slawenblut,
^lgien bildet den Schwerpunkt als möglicher Zankapfel, und. weil seine
^cirteistellung der Natur der Sache nach nicht im Voraus bestimmt werden
das Eisengewicht kann noch ,in der Masse leichter im Flusse begriffener
Stalle da- oder dorthin geschoben werden. Darum beginnen wir mit Bel-
^n und reden von diesem ausführlicher, um den Dingen die rechte Haltung
^ geben und Worte zu sparen. Belgien ist ein kleines Land von 536 Quadrat¬
en, auf denen aber fast 4'/2 Million Menschen wohnen. Auf die Quadrat-
°>le kommen also mehr als 8000 Bewohner. Wie raffinirt in einem solchem Lande
Wer die Landwirthschaft betrieben, wie sehr sie zur Gartenwirthschaft erho-
^ werden mag, sie kann die Bewohner nicht ernähren und man weiß ohne
^hen. daß entweder der Handel oder die Industrie die Hauptbeschäftigung
der Einwohner sein muß. In Belgien ist es die Industrie, alt begründet
wie seine Freiheit, begünstigt in neuerer Zeit durch die ausgedehnten und
reichen Steinkohlenlager des Landes. Die Belgier bauen auf ihrem Bo¬
den nicht so viele Lebensmittel als sie verbrauchen. Da aber das Land
reich ist und viele und gute Verbindungswege hat, da es außerdem
im Kriege immer mit dem einen seiner Nachbarn in gutem Vernehmen stehen
wird, so ist es leicht, das fehlende in rechter Zeit herbeizuschaffen, und seine
reiche Bevölkerung sorgt dafür, daß auf einem kleinen Striche Landes immer
eine verhältnißmüßig große Menge von Lebensmitteln concentrirt ist, die ge'
rügt. um auf einige Tage wenigstens auch einen bedeutenden Bevölkerungs¬
zuwachs, wie ihn eine einrückende Armee bringt, mitzuernähren. Wenn eine
solche Armee den Krieg in Belgien stehenden Fußes führen will, so muß sie
aus Magazinen leben, und diese müssen von außen her gefüllt werden; es werden
deshalb von Seiten jenes Heeres besondere Anstalten zu treffen sein, die
Magazine gefüllt zu erhalten. Dagegen wird die Armee, welche sich rasch in
und durch Belgien bewegt, ohne sich über das vernünftige Maß zu zersplittern,
leicht überall die nothwendigen Vorräthe an Ort und Stelle finden. Unter
den Verbindungswegen nehmen jetzt die Eisenbahnen wegen der Schnelligkeit,
mit welcher sie die Bewegung gestatten, den ersten Rang ein. Wenn auch ol't
mit Unrecht, werden sie doch sicherlich häufig die Richtungen der Operationen
bestimmen. Belgien gehört zu den europäischen Ländern, welche am reichst^
mit solchen ausgestattet sind. Als militärisches Centrum der belgischen Eisen'
bahnen muß Antwerpen betrachtet werden. Von dort aus hat man zunächst
die Verbindungen mit Südholland auf Breda und Moerdyk; eine directe nahe
Verbindung mit den übrigen holländischen Bahnen ist noch nicht hergestellt/
Südwärts gehen die beiden Hauptbahnen über Gent. Lille, Amiens einerseits
über Brüssel und Se. Quentin andererseits nach Frankreich herein und nach Paris-
Eine dritte Bahn geht von Brüssel über Namur nach Arion. die Fortsetzungen ti^
ser Bahn über Luxemburg nach Trier einerseits, nach Thionville andererseits
sind noch nicht hergestellt. Die Hauptverbindung mit Deutschland geht über
Mecheln, Löwen und Leyden, von dort mit zwei Zweigen über Mähen«
und Lütiich nach Aachen und von Aachen wieder in zwei Armen nach Düsst'
dorf und nach Köln. Die beiden nach Frankreich hineinführenden zur Grenj^
senkrechten Bahnen, sind einerseits von Parallelbahnen gekreuzt, andererftu
haben sie zahlreiche Abzweigungen, insbesondere nach der Meeresküste h»''
Als hauptsächlichste Parallelbahnen kann man diejenige von Charleroi übe
Mons, Als, Tournay und diejenige von Namur über Brüssel, Gent, Brügge
Ostende bezeichnen. Das Stück Lüttich- Mecheln von der Verbind»"«
mit Deutschland bildet außerdem auch noch eine Parallelbahn gegen ^
französische Grenze. Bei der großen Anzahl der Eisenbahnen ergibt
sich von selbst, daß ihre Richtungen vielfach mit denjenigen der andern
Hauptstraßen zusammenfallen werden. Wo das nicht der Fall ist. bilden
die größeren Kunststraßen gute Verbindungen zwischen den einzelnen Eisen¬
bahnzweigen. Die große Bevölkerung des Landes hat zur Folge, daß auch
Kreis- und Gcmeindestraßen in großer Zahl vorhanden und gut unter¬
halten sind; in dem nördlichen niederen Theile laufen die Straßen meist auf
den Deichen entlang, welche die Kanäle begleiten, wie es auch in Holland
der Fall ist.
Keine natürliche Grenze scheidet Belgien von Frankreich; im Gegentheil
haben wir gesehen, daß tue Wasserscheide, welche Belgien ihre Flüsse zusendet.
M Frankreich selbst liegt, so daß das nördliche Frankreich und das südliche
Belgien auch in der natürlichen Beschaffenheit des Terrains und der Cultur
große Aehnlichkeit mit einander haben. Zahlreiche Festungen liegen dagegen
der französischen Grenze zu; in erster^Linie Nieuport. Tournay. Mons. Char-
leroi und Marienbourg. in zweiter Linie Ostende. Oudenaerden. Gent, Namur
und Lüttich; in dritter Linie Antwerpen und Hasselt. Nieuport und Ostende
sind zugleich Seeplätze. Die Mehrzahl dieser Festungen sind unbedeutend in
Kezug auf ihre Stärke. Bedenkt man. daß ihre Unterhaltung sehr bedeutende
Kosten erfordern, daß ihre Herstellung auf einen gehörigen Fuß noch mehr
Kosten machen, ihre Besetzung im Kriege sehr bedeutende Theile der mobilen
Streitkräfte Belgiens verschlingen würde, so scheint es. daß diese Menge von
Festungen der Vertheidigung des Landes eher Schaden als Nutzen bringen
'Nüsse. In der That hat man auch in neuerer Zeit allmälig manche Plätze
^ denn ihre ursprüngliche Zahl war noch weit größer, als die oben an¬
geführte — gänzlich aufgegeben; aber erst seit kurzem ist man auf die Idee
gekommen, die ganze Vertheidigung des Landes aus einen Centralplatz zu
basiren. Man hat für diesen Antwerpen gewählt. Die reguläre belgische
Armee, welche in ihren wesentlichen Einrichtungen dem französischen Muster
"ansgebildet ist, soll auf dem Kriegsfuße 100,000 Mann zählen. Man rech¬
et, daß davon 40000 Mann verwendet werden müssen, um in Verbindung
Mit der Nationalgarde die festen Plätze des Landes zu besetzen. Es bleiben
dann noch 60000 Mann für die Verwendung im freien Felde übrig. 60000
Soldaten sind eine schöne Verstärkung für ein größeres Heer, welches Belgien
iur Hülfe gesendet würde; aber sie können sich unmöglich allein einer überlegenen
Annee gegenüber im freien Felde behaupten, wie sie z. B. Frankreich ohne
Mühe in kurzer Zeit gegen Belgien aussenden könnte, zumal, wie wir sahen,
^'n großes natürliches Hinderniß die belgische Grenze verstärkt, vielmehr im
Gegentheil Belgien nur als die natürliche Fortsetzung des nördlichen Frank-
^ichs erscheint. Die verfügbare Feldarmee würde daher das freie Feld bald
^"unen müssen. Sie könnte sich dann in die einzelnen Plätze der Grenze
vertheilen, um die Hülfsarmee derjenigen Verbündeten zu erwarten, auf welche
Belgien, von Frankreich angegriffen, wohl stets wird zählen können. Indeß
bei dieser Zersplitterung würde es schwierig sein, im rechten Augenblick die Armee
dann wieder zu concentriren, um in wirksamer Weise ihre Thätigkeit mit der
des erwarteten Verbündeten zu vereinigen. Man hat es deshalb vor-
gezogen, einen einzigen Platz auszuwählen und diesen durch Anlage eines
verschanzten Lagers und Fürsorge sür Magazine so einzurichten, das; die ganze
verfügbare Feldarmee — nach Abzug der Besatzungen für die Grenzfcstungen
— sich in ihn zurückziehen und die weitern Unternehmungen des Feindes s^
wol als der Verbündeten hier erwarten kann. Antwerpen, welches dazu be¬
stimmt wurde, liegt in der gleichnamige» Provinz, am rechten Ufer der Scheide.
Die reiche Handelsstadt, welche 90000 Einwohner zählt hat eine bastionirte
Umfassung, welche, unter Karl dem Fünften erbaut, durch ihre langen Cur-
tinen und kleinen Bastionen schon unserm alten deutschen Kriegsbaumeister
Daniel Speckle Anlaß zu nützlichen Betrachtungen gab. Die Citadelle vo»
Antwerpen wurde 1507 auf Befehl des Herzogs von Alba durch Paciotto von
Urbino nach neuer italienischer Manier erbaut. Sie ist ein bastionirtes Fünf'
cet und liegt oberhalb der Stadt, welche im Zaum zu halten, ihre Ursprünge
liebe Bestimmung war. An der Scheide unterhalb der Stadt liegen noch
mehrere Forts, um die Verbindung mit dem Meere offen zu erhalten, von
denen wir nur die beiden haupsächlichsten: Lillo am rechten und Liefkenshoek
am linken Ufer erwähnen wollen. In der berühmten Vertheidigung gegen
den Angriff des Herzogs von Parma 1584 erprobte Antwerpen mehr d>e
Kraft und den Freiheitssinn seiner Bürger als die Stärke seiner Befestigungen-
1746 nahmen die Franzosen unter dem Marschall von Sachsen die Citadelle
in sieben Tagen; 1821 hielt sich dieselbe unter Chasse gegen die Franzosen
vier Wochen. Seitdem ist Antwerpen eine belgische Stadt. Die Neubauten,
durch welche es für seine neue Bestimmung geeignet gemacht werden so^>
müssen in detachirten Forts bestehen, welche die Stadt umgeben und nicht blos
am rechten Scheldeufer, sondern auch am linken sich ausdehnen, um der Be¬
satzung oder der in und um Antwerpen aufgestellten belgischen Armee die Ver¬
bindung mit dem linken Ufer zu sichern; so daß dieselbe ihre Kräfte, je nach
Bedarf, aus der einen oder der andern Seite des Stromes concentriren und >n
Folge der Möglichkeit, das Ufer zu wechseln, von allen Vortheilen Gebrauch
machen kann, welche zu ergreifen der Feind, der sich rings um die Stadt
ausbreitet, ihr Gelegenheit gibt. Es ist — in und außer Belgien — viel dar¬
über gestritten worden, ob Antwerpen für den Zweck, den man dabei im Auge
hatte, der rechte Punkt sei. Da die Erörterung dieser Frage uns Gelegenheit
bietet, Manches, was für unsere, gegenwärtige Aufgabe von großem Belang
ist, näher zu erläutern, so scheint es passend, auf sie des Weiteren einzutreten-
»Wenn eine schwache Armee, in Erwartung äußerer Hülfe sich mit Aufgebung
von Terrain vor dem übermächtigen Feinde zurückzieht, so muß sie sich —
fügt man — demjenigen Punkte zu nähern suchen, von welchem her die Hülf
erwartet wird." Von diesem Gesichtspunkte aus ist es klar, daß die Belgier
von Süden her. von Frankreich, ihren Feind erwarten, wenn sie Antwerpen
in ihrem centralen Nückzugspunkte wählen. Jedenfalls nähern sie sich dabei
Frankreich nicht. Aber wem nähern sie sich am meisten? England offenbar.
Der Deputirte Hymans sagte dies auch gradezu in der belgischen Kammer.
"Suche ich nach dein entscheidenden Punkte der Discussion — sagte er — so
finde ich. abgesehen von den strategischen Fragen, einen politischen Grund.
Antwerpen zum Nückzugsplatz zu wählen. Es ist dieser: England hat niemals
Belgien angegriffen, es ist für alle frei regierten Staaten gut gestimmt, es hat in
Lesern Sinne in Holland, der Schweiz, Sardinien gearbeitet, und wenn wir
Antwerpen wählen, nähern wir uns also soweit möglich unserem wahren Ver¬
bündeten. Belgien hat das Interesse, daß die Politik Frankreichs nicht Herr
über die Politik Englands wird." Dies ist sehr verständlich. Bekanntlich haben
u> neuerer Zeit die französischen offiziellen und offiziösen Blätter die Autwcr-
vnffrage eifrig studirt. Dieselben geben nicht undeutlich zu verstehen, daß
Belgien bei der Wahl eines Rückzugplatzes für seine Armee besser gethan
!>nlle. statt Antwerpen und die Annäherung an England, einen andern Platz
»ut die Annäherung an Preußen zu suchen. Angenommen, daß dies sich so
^hält. so hatten unseres Erachtens die Belgier nur die Wahl zwischen zwei
Nützen, Lüttich und Namur. Namur ist eine Stadt ova nur 22000 Einwohnern,
"Nßcrdem der französischen Grenze einen starken Tagemnrsch nahe. Man
^urbe also wohl Lüttich vorziehen müssen, welches 70000 Einwohner hat,
Namur an der nächsten Eisenbahnverbindung zwischen Belgien und Preu-
^n liegt, ja letzterem noch näher ist, und außerdem in Bezug auf die taktischen
Verhältnisse der Befestigung bei seiner Lage an der Mündung der Ourthe in
Maas nicht geringere Vortheile bietet als Namur an der Mündung der
^rendre in die Maas. Wir gestehen, wenn wir annehmen dürften, daß Preu-
^n niemals einen Angriff auf Belgien dulden würde ohne einzuschreiten, selbst
'v dem Falle, daß es Belgiens einziger Bundesgenosse wäre, und ans Hollands
stritt zum Bündnisse nicht gerechnet werden könnte, vielmehr dessen Neutral-
leiben gefürchtet werden müßte, wir würden unbedingt Lüttich den Vorzug vor
Ntwerpen geben. Indessen scheint jene Annahme uns unerlaubt, und wir
werden wol endlich dahin kommen, den gesunden praktischen Sinn der Belgier
^'erkennen zu müssen, wenn wir Alles zusammenstellen, was für Antwerpen
. „ ehe. Die Franzosen haben hie und da die Meinung geäußert, die Belgier
"dem besser gethan, Brüssel zum Centralplatz zu wählen; es sei die Haupt-
r des Landes, und habe außerdem eine viel centralere Lage als Antwer-
per. Wir denken, dies sei eben eine französische Ansicht: die Franzosen haben
Paris befestigt, folglich sollen die Belgier Brüssel befestigen. Aber Antwerpen
ist in der That ebenso gut als eine Hauptstadt Belgiens anzusehen, wie
Brüssel. Freilich liegt letzteres näher dem geometrischen Mittelpunkt des Lan¬
des, aber die geometrischen Verhältnisse geben im Kriege keine Entscheidung,
und überdies liegt Antwerpen, wenn auch zwei Tagemarsche nördlicher als
Brüssel, doch ebenso gut als dieses auf der Meridianen Mittellinie des Landes.
Antwerpen ist taktisch viel zweckmäßiger gelegen als Brüssel, welches letztere von
keinem großen Strome, sondern nur von dem Flüßchen Senne durchflossen wird. Ant-
werpen hat auch bereits Befestigungen, welche einen Kern für das zu errichtende
verschanzte Lager abgeben. Bei Brüssel fehlt so etwas ganz; hier müßte durch'
aus aus dem Rohen heraus gearbeitet werden. Außerdem ist nun wohl zu
beachten, daß, wenn Frankreich einen Krieg gegen Belgien beginnt, die Haupt'
Ursache desselben, möge sie genannt werden oder nicht, der Wunsch sein wird,
sich Antwerpens zu bemächtigen. Insofern füllt es in sich zusammen, wenn
die Franzosen meinen, das befestigte Antwerpen könnte leicht den Dienst eines
schlechten Blitzableiters versehen, den Blitz auf das Dach ziehen, welches es
beschützen soll. Wenn die Franzosen Belgien nicht angreifen wollen, so kann
es ihnen gleich sein, ob Antwerpen befestigt ist oder nicht; wollen sie es aber
angreifen und es kommt ihnen nur auf einen Vorwand an, so werden sie
ihn finden, mag Antwerpen befestigt und mit einem verschanzten Lager versehen
sein, oder nicht, — aber bei einem solchen Kampfe wird Antwerpen, nicht
Brüssel ihr Hauptobject sein und die starken Befestigungen und die starke Be'
Satzung grade dieses Hauptobjectes können dann den Franzosen allerdings seh^
unbequem werden. nine illav I^erima-s! Daher die eigenthümlichen Studien
der Franzosen über die Antwerpenfrage — im wohlverstandenen Interesse
Belgiens!
So Vieles den Franzosen unter der Leitung Napoleons des Dritten scho"
gelungen ist darf man doch wol kaum voraussetzen, daß England einem Angriffe
aus Belgien ruhig zusehen würde. England müßte dann, wenn es nicht völlig
blind wäre, seine Flotte zu Gunsten Belgiens aufbrechen lassen, es müßte auf
die nächstbetheiligten Mächte, Holland und Preußen, einwirken, um diese
zur Thätigkeit für Belgien zu bestimmen, es müßte endlich selbst Land'
truppen zur Unterstützung senden. In dieser letzteren Beziehung kann England
niemals viel thun, in unserer Zeit aber weniger als früher, da es bei dew
Aufschwünge, den die französische Flotte jetzt genommen hat. keineswegs meh^
unbedingte Beherrscherin der Meere ist und eine Landung in England. "N
unlösbares Problem sür Napoleon den Ersten, für Napoleon den Dritten eme
verhältnißmäßig leichte Sache ist, deren Schwierigkeiten, wie es uns scheiß
immer noch übertrieben werden, obgleich wir keineswegs leugnen wollen, tut?
"und heute noch Schwierigkeiten existiren. Nun könnte man sich denken, daß
l'es zu Antwerpen eine combinirte Armee von Belgiern. Holländern und Eng¬
ländern versammelt, deren Ansammlung die Lage Antwerpens am meisten be¬
günstigen würde, während dabei auch die englische Flotte in eine unmittelbar
nützliche Thätigkeit treten könnte, da natürlich eine etwa von den Franzosen
beabsichtigte Einschließung Antwerpens nur unter Mitwirkung der französischen
Flotte zu bewerkstelligen wäre. Die gesammte combinirte Landarmee, welche
wie Wahrscheinlichkeit von England. Belgien und Holland in Antwerpen zu
concentriren wäre, darf man unter den obwaltenden Umständen schwerlich auf
wehr als 120000 M. anschlagen. Die Hauptaufgabe zu Lande bliebe dem¬
nach Preußen aufbehalten. Für jede preußische Armee, welche in Belgien zur
Unterstützung dieses Landes einrückt, führt der Weg über Lüttich und Namur.
Sobald die preußische Armee Lüttich gewonnen Hütte, würden die Franzosen
Wit zwei verbündeten Heeren zu thun haben: dem alliirten bei Antwerpen, dem
preußischen bei Lüttich; eines ist von dem andern vierzehn Meilen, also nur
drei bis vier Stunden Eisenbahnfahrt entfernt; eine gegenseitige Verstärkung
'se daher vollkommen möglich und kaun in ziemlich kurzer Zeit bewerkstelligt
werden. Es kommt hierbei nur eins in Betracht. Sobald es den Franzosen
gelingt, vor der Ankunft der Preußen bei Lüttich die Eisenbahn zwischen die¬
sem und Mecheln zu gewinnen, können sie diese unterbrechen und damit die
Verbindung zwischen den beiden Armeen wenigstens sehr erschweren. Daraus
folgt für die preußische Armee, daß sie Lüttich und mit der Avantgarde Namur
s° rasch als möglich gewinnen muß und daß die belgische Feldarmee nicht
von Anbeginn sich bei Antwerpen, sondern an der Südgrenze etwa bei Mons
in concentriren hat, um sich von dort erst allmälig auf Antwerpen zurückzu¬
gehen und dabei den Franzosen soviel Aufenthalt als möglich zu bereiten,
während die Holländer und Engländer Antwerpen, die Preußen Lüttich gewinnen.
beiden verbündeten Heere, das combinirte und das preußische, würden
^ließUch in dasselbe Verhältniß zu einander treten, wie 1815 die Armee
Wellingtons und Blüchers. Daß sie einem gemeinsamen Oberbefehl unterge¬
ordnet würden, wäre im höchsten Maße wünschenswert!). Dieser Oberbefehl
5e!e von Rechtswegen Preußen zu, als dem Staate, der die meiste Truppen-
kraft herbeibrachte. Da man aber weiß, wie schwer dergleichen Verhältnisse
^ im Augenblick reguliren lassen, so sieht man auch ein. daß eine Vorberei¬
tn», auf die Sache durch Abschlüsse von Bündnissen mit Belgien und Hol-
land sehr nützlich wäre. England würde in diesem Falle gezwungen sein, sich
das Unvermeidliche zu fügen und könnte dies um so mehr, da ihm der
Oberbefehl zur See unbestritten bliebe. Unter den wahrscheinlichen Verhält¬
nissen und bei vernünftiger Benutzung derselben ist daher Antwerpen sicher kein
^l gewählter Puukt für den Rückzug der belgischen Armee. Sehr zu our-
sehen aber wäre nun eine Vervollständigung der directen Verbindung von
Antwerpen mit den holländischen Eisenbohnen über Breda auf Utrecht oder
Arnheim. damit die im ersten Acte des Feldzuges etwa mißlungene Vereini¬
gung der verbündeten Armee immer noch im zweiten Acte am rechten Ufer
des Rheines bewerkstelligt werden könnte. Was die Verhältnisse für das Ge¬
fecht auf dem belgischen Kriegstheater betrifft, so genügt die Bemerkung, daß
dieselben sich in Folge des Anbaues und der Wegsamkeit ganz ähnlich gestalten
wie in Italien. Wir können hier im Wesentlichen auf unsere Betrachtungen
über die preußische Infanterie (militärische Tagesfragen, Art. 3) verweisen,
werden übrigens noch Gelegenheit haben, auf verschiedene Einzelheiten des
Weiteren zurückzukommen.
Der westliche Theil von Preußen, welcher zu dem niederrheinischen Kriegs-
theater gehört, besteht aus den beiden Provinzen Nheinpreußen und West'
phalen. Nheinpreußen hat 487 Quadratmeilen mit 2,811,000 Einwohnern.
Es wohnen also hier auf der Quadratmeile gegen 5800 Menschen, während
in Westphalen mit 367 Quadratmeilen und 1,465,000 Einwohner nur etwa
4000 auf die Quadratmeile kommen. Obgleich daher diese Gebiete in Bezug
auf die Bevölkerung Belgien nicht gleichstehen, gehören sie doch, insbeson¬
dere Nheinpreußen, zu den bevölkertsten Theilen Europas. In den gebirgigen
Gegenden des Landes herrscht die Industrie in Eisen, Stahl, Seide, Tuch, Lein¬
wand vor, in den niedrigeren Strichen Ackerbau und Viehzucht, welche letztere
besonders in Westphalen blüht. Am Rhein und der Mosel nährt der Wein¬
bau viele Menschen. In den industriellen Bezirken wird die Durchschnittszahl
der Bevölkerung ost weit überschritten. In den drei Kreisen Elberfeld, Lennep
und Solingen wohnen auf 16 Quadratmeilen 234,000 Menschen, also fast
15,000 auf einer Quadratmeile. Die Haupteiseubahnverbindungen des west¬
lichen Preußen sind die Bahn am linken Rheinufer von Coblenz über Bonn
Cöln, — Verbindung mit Düsseldorf, — Crefeld Hornberg, — die Bahn a>n
rechten Rheinufer von Cöln über Düsseldorf. Oberhaus, Wesel. Emmerich'
dann nach Holland hinein über Arnheim nach Utrecht, welches endlich
Amsterdam, Haarlem, Leyden, dem Haag und Rotterdam in Verbindung ste^'
Die Bahnen von Cöln und Düsseldorf auf Aachen haben wir schon bei Bel¬
gien erwälmt. Gegen Osten haben wir die Bahnen von Oberhaus und Dussel
dorf auf Dortmund, von dort einerseits über Hanau und Bielefeld nach H^'"
mover, andrerseits über Soest und Paderborn nach Cassel. Harun steht durch
die Bahn über Münster mit Emden. also mit dem Norden in Verbindung
Nach Süden und Südosten ist die Verbindung noch mangelhaft. Zwiscl)^
Coblenz und Mainz besteht noch keine fertige Bahn, ebenso sind diejenige
von Coblenz und Cöln nach Wehlar und dann zur Frankfurt-Casseler in'
nicht vollendet.
Festungen hat Preußen am Laufe des Rheines selbst drei: Coblenz, Cöln
und Wesel. Coblenz mit 14,000 Einwohnern liegt am Einflüsse der Mosel
M den Rhein, und zwar mit der eigentlichen Stadt in der Ecke zwischen dem
linken Rhein- und dem rechten Moselufer. Detachirte Forts. Alexander, Con-
stantin. Carthause decken diese Seite, andere sichern die Verbindung mit dem
linken Moselufer — Franzensveste und Petersberg — und mit dem rechten
"iheinufer, — Ehrenbreitenstein und pfaffendvrfer Höhe. Ein bei Coblenz
concentrirtes Truppencorps kann demnach, wie es die Umstände verlangen,
"us beiden Seiten der Mosel und auf beiden Seiten des Rheins manövriren.
Cöln, eine Stadt von mehr als 100.000 Einwohnern, ist wie Coblenz nach
dem neudeutschen System mit detachirten Forts und zahlreichen Casemattirungen
befestigt. Es hat in neuerer Zeit eine erhöhte Wichtigkeit durch die Anlage
stehenden Eisenbahnbrücke über den Rhein anstatt der frühern Schiffbrücke
erlangt. Die Stadt liegt in der weiten Thalebne des linken Rheinufcvs,
Rührend die Verbindung mit dem rechten Ufer das befestigte Deut) deckt,
^esel mit nur 10,000 Einwohnern, liegt am rechten Ufer des Rheins und
der Lippe nächst der Mündung des letztern Flusses-, die Citadelle, ein bastio-
>Nrtes Fünfeck, bildet den südlichsten Theil der Befestigung an der Lippe. Die
Verbindung mit dem linken Rheinufer deckt das Fort Blücher, unterstützt von
ewem Werke auf einer Insel im Strom vor der Lippemündung. Wesel ist
^ einzige Rheinfestung Preußens, welche als solche eine Geschichte hat. Schon
ward es von den Spaniern unter Alexander von Parma vergeblich be¬
wert, ebenso 1593 von Mendoza. Spinola nahm es 1614 ein, ein Ereiq-
^> welches große Sensation in Europa machte. Doch gewannen schon 1629
^e Holländer den Platz zurück und übergaben ihn den Brandenburgern. Diesen
blieb Wesel bis 1672, in welchen? Jahre es von dem Commandanten den
^anzosen überliefert ward. 1679 kam es an Brandenburg zurück und blieb
e> diesem, bis es im siebenjährigen Kriege 1757 wieder den Franzosen in die
Hemde siel. Die Belagerung von 1760 durch den Erbprinzen von Braun-
lchweig blieb ohne Erfolg, und erst im hubertusburger Frieden erhielt Preußen
^ Festung wieder, welche es dann 1807 an das Großherzogthum Berg ab-
^im mußte. Im Spätherbst 1813 ward sie von den Preußen eingeschlossen,
"ber von dem französischen Commandanten ihnen erst am 6. Mai 1814 durch
"pitulatiou übergeben. Als Vorposten der preußischen Rheinlinie können die
e>den Plätze Saarlouis und Jülich betrachtet werden. Saarlouis mit seinen
^6 Einwohnern ist nicht blos wegen seiner Kleinheit, sondern auch wegen
^et ohne Bedeutung, namentlich, wenn es sich um das niederrheinische
^egstheater allein handelt, während es allerdings einen gewissen Grad
Wichtigkeit erlangen kann, wenn das oberrheinische Kriegstheater mit der
^'Jeder Pfalz hinzutritt und es wünschenswert!) sein kann, einige Verbin-
dungsposten zwischen diesen beiden Manövrirgebicten zu behaupten. Die
Hauptfestung, ein bastionirtes Sechseck, liegt am linken Ufer der Saar, ein
Brückenkopf am rechten. Die Befestigung, der in neuerer Zeit allerdings einige
Theile hinzugefügt sind, ward 1681 von Vauban bewerkstelligt. 1814 ward
die Festung von den Preußen eingeschlossen und ihnen übergeben und le»n
1815 in ehren definitiven Besitz. Viel wichtiger als Saarlouis ist in neuerer
Zeit Jülich, nicht durch seine Größe, denn es zählt kaum 4000 Einwohner,
sondern durch seine Lage. Jülich liegt am rechten Ufer der Noer mit einen'
Brückenkopfe am linken, an der großen Straße von Aachen und dem Ber-
zweigungspunkt derselben nach Düsseldorf und Cöln, gegenwärtig aber inmitten
zwischen den beiden Eisenbahnen, welche von Aachen nach Düsseldorf und nach
Cöln führen, von keiner derselben mehr als zwei kleine Meilen entfernt. ^
stark zu besetzen, wäre nicht rathsam. aber ihm eine qualitativ auserlesene
Besatzung und einen eher waghalsigen als bedächtigen Commandanten
geben, sehr nützlich. Jülichs Aufgabe ist. ein Verlorner Posten zu sein für den
Fall, daß die Franzosen glücklich bis an das linke Rheinufer vordringe»,
Dann muß sein Commandant seine ganze Kraft darauf wenden, die Verbin¬
dungen des glücklichen Feindes nach rückwärts, eben mittels jener erwähnten
Eisenbahnen zu unterbrechen oder wenigstens zu erschweren. In Westphale"
gibt es nur eine einzige Festung. Minden am linken Ufer der Weser mit eine'»
Brückenkopf am rechten Ufer, unterhalb der Porta Westphalica. Die Stadt,
welche nur 9000 Einwohner hat. ist historische bekannt durch die Schlacht von''
I. August 1759. Einige Bedeutung kann die Festung als Depotplatz vermöge
ihrer Lage in der Nähe der großen nördlichen Eisenbahn und ihrer Abzwei'
gnügen gegen das Meer hin nicht blos für die Vertheidigung der Nheinlinic,
sondern auch der Nordseeküste erlangen.
Die Betrachtung der rheinpreußischen Festungen führt uns dazu, hier sogleich
noch von Holland und von Hessen-Darmstadt zu reden, deren Festungssysteme mit
dem rheinpreußischen in engem Zusammenhang stehen. Das Königreich der Nieder
lande hat mit dem zum deutschen Bunde gehörigen Limburg und Luxemburg
640 Quadratmeilen mit 3,363,000 Einwohnern, so daß über 5000 Menschen c>ni
die Quadratmeile kommen. Diese Durchschnittsbevölkerung wird von einzelne"
Punkten weit übertroffen, während weite Moorflächen einen großen Theil des Ge¬
bietes einnehmen. Handel und Viehzucht sind die vorherrschenden Erwerbszweig^
der Bevölkerung. Mit Ausnahme von Luxemburg, welches dem Ardenncngebict
angehört und dessen Charakter trägt, fällt ganz Holland in die große nördliche
Tiefebene; die Natur und Cultur des Landes gleichen denen des nördliche"
Belgiens, nur daß die Eigenthümlichkeiten, welche natürliche und künftig
Gewässer in Bezug aus Transportverhaltnisse, als Wegvcrbindungen und als
Bewegungshindernisse einem Lande verleihen, in Holland noch schärfer hero^
^'eden. Holland ist äußerst reich an Festungen und befestigten Städten. Wirk¬
liche Festungen sind: Mastricht, Verlöv. Grave, Herzogenbusch, Breda, Bergen
°P Zoom. Vließingen; kleinere Platze und bloße Forts: Sluys, Briel, Hclvoct»
miys. sah van Gent, Eoevorden, Neue Schanz, Schoonhoven, Ter Neuve,
Vurtanger Schanz. Die Städte Groningen. Naarden, Enkhuyzen, Gorkum
"ut Workum, Haarlingen, Delfzyl, Arnheim, Zütphen, Nimwegen, Zwoll,
H"shell, Middelburg. Beere. Ysendik. Hülfe. Axel. Goes haben sämmtlich noch
alte Befestigungen nach der sogenannten holländischen Manier, in Erde mit
Wassergräben. Bei der tiefen Lage des Landes, welche gestattet, fast alle
Theile desselben unter Wasser zu setzen, bieten diese befestigten Städte, so
lange kein Frost eintritt, für kleinere Abtheilungen stets ausreichende Zufluchts-
^'te, von denen aus sie den Bewegungen des Feindes große Hindernisse be¬
sten können. Die meisten wirklichen Festungen des eigentlichen Holland liegen
ludlich des Rheins und bilden bei einem Kriege mit Belgien gegen Frankreich
^ne Hintere Linie der belgischen Plätze. Verlöv, Mastricht und Luxemburg
sind vermöge ihrer Lage als erste Linie für das System der rheinpreußischen
Testungen anzusehn. Obgleich diese Plätze alle drei auf deutschem Bundes¬
gebiet liegen, sind doch Mastricht und Verlöv ausdrücklich von der Eigenschaft
"is Bundesfestungen ausgeschlossen und nur Luxemburg ist zu einer solchen
^stimmt worden. Mastricht mit 30,000 Einwohnern liegt mit seinem Haupt-
theile am linken Ufer der Maas, mit einer befestigten Vorstadt, der Wyk, am
Achten Ufer; nördlich der Stadt liegt das Fort König Wilhelm, südlich S. Pieter.
^"Striche hat eine äußerst reiche Kriegsgeschichte; 1576 und 1579 ward es
°n den Spaniern genommen, 1673 nahmen es die Franzosen unter der eig-
'^u Führung Ludwig des Vierzehnten. Vauban gab darauf dem Platz im
wesentlichen seine heutige Gestalt. Die Niederländer belagerten ihn nun 1676
^rgeblich; erhielten ihn aber im Frieden von Nymwegen zurück. 1748 eroberten
>du die Franzosen von Neuem, mußten ihn aber schon im folgenden Jahre
aachener Frieden herausgeben. Als 1792 die Oestreicher die Niederlande rann-
^u. ließen sie in Mastricht eine Besatzung zurück; diese ward hier von den
^^uzosen blokirt. Das Wiedervorgehen der Oestreicher im März 1793 zwang
"ber die Franzosen die Blokade aufzuheben; am 17. September 1794 kam es
^ Mastricht zu einem Gefecht, durch welches Jourdan seinen Uebergang auf
^ rechte Maasufer maskirte; nach dem Rückzug der Oestreicher hinter den
^pein ward dann die Festung von den Franzosen belagert, und am 4. No-
^oder durch Capitulation genommen. Der Platz blieb darauf ungestört in
^ Händen der Franzosen, bis ihn dieselben nach dem ersten pariser Frieden
14 wieder an Holland ausliefern mußten. Verlöv. ein unbedeutender Ort
°u 6000 Einwohnern, liegt wie ein Vorposten von Wesel nördlich von Mast-
am rechten User der Maas; es theilte 1794 das Schicksal Mastrichts,
wurde wie dieses von den Franzosen eingeschlossen und capitulirte bereits am
26. October. Schon die obengegebenen historischen Daten zeigen, daß Mast¬
richt fast nicht verfehlen kann, bei einem Vordringen der Franzosen durch Bel¬
gien gegen die Rheingrenze eine Rolle zu spielen, jetzt ist es, an der großen
Eisenbahnstraße über Aachen auf Cöln und Düsseldorf gelegen, in dieser Be¬
ziehung fast noch bedeutender geworden. Die Felsenfcstung Luxemburg an der
Alzig oder Alzette mit 12,000 Einwohnern verbindet die erste Linie der bel¬
gischen Plätze mit dem preußischen Festungssystem und kaun unter Umständen
als ein Vorposten von Coblenz angesehen werden. Auch Luxemburg ward
1794 von den Franzosen eingeschlossen, ihnen aber erst am 7. Juli 1795 über¬
geben. Wenn seine Besatzung und Einwohnerschaft gut verproviantirt ist¬
kann man es dreist als uneinnehmbar bezeichnen. Da Preußen den Haupt-
theil der Bundesbesatzung von Luxemburg stellt, kann es sich dieses Platzes
vorkommenden Falles stets mit Leichtigkeit versichern.
Das Großherzogthum Hessen hat auf 153 Quadratmeilen 854,311 Ein¬
wohner, also auf der Quadratmeile über 5So0 Seelen. Es zerfüllt in zwe>
getrennte Haupttheile, von denen der südliche dem Gebiet des Rhein- und
Mainthals, der letzten Ausläufer der Vogesen und des Odenwaldes, der nord'
liebe (Oberhessen) dagegen dem Gebiet des Vogelsberges angehört. Der süd¬
liche Theil ist wohl angebaut und am stärksten bevölkert, die Industrie ist
mäßig. Auf hessischem Gebiet liegt nun die Bundesfestung Mainz in>t
37,000 Einwohnern. Der Haupttheil der Stadt mit der Citadelle, und
einer Anzahl dctachirter Forts liegt am linken Ufer des Rheins, während
das rechte von der befestigten Vorstadt Castel mit den Forts Montebello
und Mars festgehalten wird. Mainz, auf der Grenzscheide zwischen dcM
niederrheinischen und oberrheinischen Kriegstheater, würde wenig ins Gewicht
fallen, wenn der Kampf sich den Verhältnissen nach durchaus auf den nieder¬
rheinischen Schauplatz beschränken müßte. Indessen eben als Grenzpunkt kann
es von Einfluß aus die Entscheidung sem, inwiefern an einer solchen LocaU-
sirung des Krieges festgehalten werde. Es würde uns zu weit führen, wollten
wir dieses hier nach allen Einzelheiten erörtern, ohne daß uns bereits ein be¬
stimmt gegebenes politisches Lagenverhältniß vorliegt. Wir begnügen uns
mit den Bemerkungen, daß in der Bundcsbesatzung von Mainz der deutsche
Dualismus sehr stark repräsentirt ist, da das Gros der Kriegsbesatzung M
Hälfte aus Preußen, zur Hälfte aus Oestreichern besteht.
Das Königreich der Niederlande kann auf dem Kriegsfuß eine reguläre
Armee von 57,569 M. in Europa aufstellen. Durch das Aufgebot der Schul¬
tern (Schützencorps), einer Art mobiler Nationalgarde, die aber nur in de»
größern Gemeinden besteht, kann die Streitmacht auf 100.000 M. gebracht
werden. An Truppen wird Holland, sobald es als Verbündeter andrer
Mächte und einer großen Macht wie Frankreich gegenüber auftritt, schwerlich
wehr als 30.000 bis höchstens 40.000 M. für die Operationen im freien
Felde verfügbar machen können, da unter solchen Umständen die Besatzungen
det zahlreichen Festungen nothwendig sehr bedeutende Kräfte in Anspruch neh¬
men müßten. Die holländische Flotte zählt 92 Fahrzeuge, worunter 36 Schiffe
(Linienschiffe, Fregatten und Corvetten), der Rest kleinere Fahrzeuge sind.
Das Großherzogthum Hessen stellt auf dem Kriegsstande 9500 Combattanten
"uf. wovon 6195 das Bundescontingcnt bilden. Da die obenerwähnten
96yy M. wenig mehr als ein Procent der wirklichen gegenwärtigen Bevöl¬
kerung bilden, so ist Hessen im Nothfall ohne Zweifel größerer Anstrengungen
fähig.
Wir überschauen nur noch kurz die Kräfte der übrigen deutschen Länder,
welche dein niederrheinischen Kriegstheater angehören. Nassau, im Gebiet des
Taunus und des Westenvaldes, hat auf 84 Quadrntmeilcn 420,000 Einwohner
(50gg die Meile); in den Thälern ist das Land wohl angebaut, Getreide
wird zwar verhältnißmäßig wenig gebaut dagegen Obst und Wein, und die
Viehzucht wird hier schwungvoll betrieben. In den Berggegenden ist die haupt¬
sächlichste Industrie der Bergbau und das Hüttenwesen. Im Allgemeinen ist
^s Land nicht so wohlhabend als es sein könnte, eine Bemerkung, die sich
Eigens fast auf alle kleinen deutschen Staaten anwenden läßt. Die Truppen-
wncht Nassaus beträgtauf dem Kriegsfuße 5385 M., wovon 4039 das Bundes-
^ntingent bilden. Das Kurfürstenthum Hessen im Gebiet der Abfälle der
^hör. des Vvgelsberges und des thüringer Waldes mit 208 Quadratmeilen
w'd 754.000 Einwohnern (3600 auf die Meile) verarmt von Jahr zu Jahr,
^'otz des Fleißes seiner Bewohner, mehr, was bekanntlich nicht sowol der Un-
6»use seiner Bodenverhältnisse als der traurigen Mißregierung zuzuschreiben
^- Auf dem Kriegsfuße stellt Kurhessen 9466 M. auf, während es nur
M. zum Bundescontingent zu stellen hat. Die Lcmdgrafschast Hessen-
Homburg, obwol sie nur 5 Quadratmeilen mit 25,000 Einwohnern zählt,
b/steht doch aus zwei ziemlich weit voneinander getrennten Landtheilen, deren
ewer in der Wetterau, der andere — Meisenheim — an der Nahe liegt. Hessen-
Hamburg hat aus Kriegsfuß 350 M. und stellt zum Bundescontingent 200 M.
^aldeck. gleichfalls aus zwei getrennten Theilen bestehend, in deren nördlichem
Pyrmont liegt, hat auf 21 Quadratmeilen 60.000 Einwohner; es stellt 519 M.
^w einfachen Bundescontingent. Lippe-Detmold mit 107.00» Einwohnern
20 Quadratmeilen hat 1096 M. und stellt 731 zum Bundescontingent;
UPpe-Schaumburg mit 9V- Quadratmeilen und 30.300 Einwohnern hat
^ M. Truppen und stellt als einfaches Bundescontingent 245 M. Das
^öogthum Braunschweig im Gebiet des Harzes und der Wesergcbirge schließt
^ seinem mehrfach zerstückelten Gebiete 72 Quadratmeilen ein. auf denen
268,000 Menschen leben (3700 der Quadratmeile). Die Braunschweiger
sind ein sehr betriebsames Völkchen. Ackerbau, Viehzucht, so wie Bergbau und
Hüttenwesen stehen in gleicher Blüte. Die Truppen sind auf dem Kriegsfuße
5359 M. stark, das einfache Bundescontingent beträgt 2096 M. In allen
diesen zwischen die beiden Haupttheile der preußischen Monarchie eng ein¬
geklemmten Ländchen sind Festungen nicht zu finden; was man wol bisweilen
so nennt, sind schlecht ummauerte Städte oder alte Schlösser ohne irgend welchen
militärischen Werth. Die Festung Wilhelmsstein in dem Landsee, welcher den
stolzen Namen des steinhuder Meeres trägt, zu Lippe-Schaumburg gehörig, 'se
eine Spielerei im fortificatorischen Sinne, wenn sie auch in der Kriegsgeschichte
in andrer Weise keine unwichtige Rolle spielte. Der bekannte Graf Wilhelm
baute sich, wie er sich eine Duodezarmee von 1200 Mann schuf, auch diese
Duodezfestung 1763, in welcher er dann seine Kriegsschule begründete, wo
außer andern tüchtigen Offizieren auch Scharnhorst seine erste militärische Bil¬
dung erhielt. Auf solche Art ist nun Minden die einzige wirkliche Festung
an der Weserlinie, und die nächste, von welcher man allenfalls sagen könnte,
daß sie mit Minden auf einer Höhe stände und mit diesem eine Vertheidigungs¬
linie constituirte, wäre Erfurt, welches doch schon 16 Meilen hinter der Weser
liegt. Festungen sind es also wenigstens nicht, welche in dem Lande zwischen
Rhein und Elbe irgend einen ausreichenden Stützpunkt gewähren. — eine
der vielen Folgen nicht sehr angenehmer Art, welche die Zerstückelung Deutsch'
lands in viele kleine Herrschaften hat, denen alle Fähigkeit selbstständigen Auf¬
tretens abgeht und welche dennoch auf Selbstständigkeit Anspruch erheben.
Wenn eine Neutralität aller der Länder zwischen den beiden Hauptgc-
bieten der preußischen Monarchie in einem Kriege derselben mit Frankreich fast
undenkbar ist, will man nicht von vornherein annehmen, daß der Krieg aM
Rhein stehen bleiben müsse, so verhält es sich anders mit Hannover und
Oldenburg. Zwar ragt auch Hannover in das naturgemäß von Preußen zu
beherrschende Gebiet hinein, doch ist es groß genug, um nicht gradezu M't
fortgerissen zu werden, lind seine Negierung hat Neigung genug, nicht mit
Preußen zu gehen. Hannover könnte möglicherweise seine Neutralität aufrecht
erhalten wollen und Preußen könnte Gründe haben, dieselbe zu achten, bis
es durch die Noth selbst, bei einem Rückzüge vom Rhein gegen Weser und
Elbe, gezwungen würde davon abzugehen. Hannover, welches mit seinew
größten Theile dem Gebiete der nördlichen Tiefebne angehört und nur mit
dem südöstlichsten in den Strich des Harzes und der Wesergebirge fällt, l)^
auf 700 Quadratmeilen 1.800,000 Einwohner (2500 bis 2600 auf die Meile)-
Das niedere Land nächst den Flüssen ist wol angebaut, im Uebrigen ist ^
Hauptnahrungsquelle im Norden die Viehzucht. Im Südosten giebt es Berg'
bau und Hüttenwesen. Die Industrie ist gering. Einzelne Striche im niedern
Lande widerstreben dem Anbau gänzlich, sind Moore und Haiden, unter letz-
tem verdient die bekanntlich theilweise angebaute Lüneburger Haide besonders
erwähnt zu werden. Außer den Eisenbahnen, durch welche Hannover auf der
einen Seite mit dem westlichen Theile Preußens, auf der andern mit dem östlichen
w Verbindung steht, sendet es Zweige nach Norden an die Meeresküste, außer dem
bereits früher aufgeführten von Hamm nach Emden an der Ems, einen zwei¬
en von Hannover nach Bremen am rechten Weserufer, einen dritten von Han¬
nover über Celle nach Harvurg an die Elbe, Die hannoversche Streitmacht
Sahle auf dem Kriegsfuß in runder Summe 22000 M., zum Bundescontingent
stellt es 13054 M. Wenn es im Nothfall auch nur über zwei Procent
der Bevölkerung für das Heer verfügen wollte, könnte es schon 36000 M.
auf die Beine bringen. Als Festungen Hannovers werde» Stade mit 7000
Anwohnern an der Schwinge, zu dessen Befestigungen man das von Schwinge
abwärts gelegene Schwinger Fort zählt, und Harvurg mit 6000 Einwohnern,
welches eine Citadelle hat, betrachtet. Sie sind ohne alle militärische Bedeu¬
tung. Gäbe es einen wirklichen deutschen Bundesstaat, so müßte Hannover
ausschließlich die Sicherung der Einfahrten in die Ströme und Flüsse Ems,
Weser. Öhle und Eibe gegen feindliche Landungsvcrsuche übertragen werden,
falls nicht die Centralgewalt des Bundes dieselbe ihrerseits übernehmen wollte.
Das Großherzogthum Oldenburg besteht aus drei weit von einander getrenn-
ien Theilen. Der Haupttheil, ganz von Hannover eingeschlossen, gehört vollstän¬
dig der nördlichen Tiefebne an; das Fürstenthum Eutin (oder Lübeck) bildet zwei
unbedeutende Enclaven im Holsteinischen, und die Herrschaft Birkenfeld am Hunds-
rück ist eine Enclave der preußischen Rheinprovinz. Oldenburg hat auf 1l3 Quad-
^weilen 278.000 Einwohner (2400 auf die Meile), welche in dem Haupttheile
vorzüglich von Viehzucht leben. Oldenburg stellt zum Hauptbundcscontmgcnt
2^6 M. Auf seinem Gebiete, am westlichen Ufer des Jahdebusens. liegt das Dorf
Heppens. bei welchem Preußen einen Strich Landes käuflich erworben hat. um
einen Kriegshafen für die Nordsee anzulegen. Es wäre zu wünschen, daß die
Ausführung dieser möglicherweise sehr folgenreichen Idee mit größerer Energie
Archen würde, wozu dann freilich gehört, daß die klugen Leute xar exoellenc-o
"icht mehr beweisen. Preußen brauche keine Marine, sondern thue statt dessen
besser, dreitausend Officiere der Landarmee mehr als jetzt stehend anzustellen
Von den höchst ehrenwerthen Bestrebungen des Königs von Bayern,
deutsche Wissenschaft und Kunst zu Pflegen, werden wol diejenigen den nachhal¬
tigsten Erfolg haben, die sich auf die Forschungen in deutscher Geschichte be¬
ziehen. Die bedeutendsten Kräfte des Vaterlandes sind zu schönem Wetteifer
versammelt, die Leitung ist in den besten Händen, und. >was die Hauptsache
ist. das Unternehmen ist von der Art, daß es nur durch Concentration von
Kräften und durch Methode in der Arbeit gedeihen kann. Alles was sich
auf die Sammlung und Anordnung des Materials bezieht, verlangt das In¬
einandergreifen aller monographischen Beschäftigungen; verlangt jene Aufsicht,
die nur von den höchsten Kennern ausgehn kann. Sybel's „historischer
Zeitschrift" wird es, gerade weil sie sich in der Mitte zwischen strenger For¬
schung und Darstellung hält, gelingen, auch den größeren Kreis des „gebildeten
Publicums" für diese Unternehmungen zu gewinnen, und ihm Respect vor
einer Gelehrsamkeit einzuflößen, die ihm in so stattlicher und doch zugleich
anziehender Erscheinung entgegentritt.
Die Forschung verlangt schulmäßige Arbeit, anders ist es mit der Ge¬
schichtschreibung beschaffen, insofern man sie vom künstlerischen Standpunkt
betrachtet. Die Kunst gedeiht in allen Zweigen nur durch individuelle Thä¬
tigkeit, und nicht immer sind diejenigen Perioden, die sich durch den Ernst
und die Folgerichtigkeit der Arbeit auszeichnen, reich an eigentlichen Schöpfungen-
Auf dem Gebiet der deutschen Geschichte ist die Geschichte der preußi¬
schen Politik von I. G. Droysen (Zweiter Theil, die territoriale Zeit-
Zweite Abtheilung, Leipzig, Veit) die hervorragendste Leistung. Die Berufung
des Verfassers nach Berlin ist wieder eines von den erfreulichen Zeichen, daß
die neue Regierung ihren Beruf nicht bloß in politischer Beziehung, s""'
der» auch in Rücksicht auf das allgemeine geistige Leben richtig ins An^
saßt. Zwar ist eine Centralisation, wie sie in Frankreich stattfindet, bei uns
weder denkbar noch wünschenswerth. Der rühmliche Wetteifer zwischen den
verschiedenen Universitäten und Höfen, soviel als möglich von den geistigen
Kräften an sich zu ziehen, hat in unsrer Literatur sehr viel Gutes gewirkt und
namentlich dazu beigetragen, daß in allen Theilen des Vaterlandes sich e>"
unabhängiges geistiges Leben erhielt. Aber diese Selbstständigkeit der Pr"'
vinzen ist keineswegs unvereinbar mit dem Aufblühen einer Hauptstodt, i"
welcher sich gleichsam die Strahlen der verschiedenen Richtungen begegnen-
Etwas der Art faßte die preußische Regierung bereits ins Auge, als sie
nun beinahe 50 Jahren die Berliner Universität gründete, damals ein hoch"
gewagtes Unternehmen, weil sogar die Existenz Preußens in Frage zu sie^
schien; über schon hatten die Verhältnisse vorgearbeitet und gleich zu Anfang
dieses Jahrhunderts hatte sich, ohne Mitwirken der Regierung, das junge Le¬
ben der Literatur mehr und mehr nach Berlin gezogen. Seitdem haben sich
l"se aus allen Wissenschaften die Sommitäten hier zusammengefunden, und
^cum sie einige Jahrzehnte hindurch auf das geistige Leben Deutschlands nicht
Einfluß ausübten, der ihnen eigentlich zukam, so lag das hauptsächlich
der politischen Lethargie, in welche der Staat versunken war, und, was da¬
mit zusammenhängt, in dem Druck, den er auf die Literatur ausübte. Das
'se nun anders geworden, und wie in politischer Beziehung alle Theile unsers
gemeinsamen Vaterlandes ihre hauptsächliche Aufmerksamkeit nach Berlin rieb¬
en, so kann es auch in literarischer geschehn, wenn die Negierung ihr Augen¬
merk nicht blos auf das stille Reich der Gelehrsamkeit, sondern auch auf die
Mvductiven Talente richtet. München ist Berlin darin mit gutem Beispiel
vorangegangen, und trotz des undankbaren Bodens hat diese Bemühung be¬
reits gute Früchte getragen.
Die Universitäten haben nach dieser Seite hin um so freiern Spielraum,
d» die Gabe der Darstellung auch bei unsern strengern Gelehrten sich mehr
M>d nrehr einfindet. Während früher Beides scharf von einander gesondert
^r. wodurch die Entwickelung einer wirtlichen Nationalliteratur nicht wenig
^summt wurde, können wir jetzt schon mehrere Namen zählen, die nach bei¬
den Seiten hin in den ersten Rang gehören.
An Vielseitigkeit des Talents sind wenige unsrer Gelehrten mit Droysen
^ vergleichen. Die Art wie er in seinen historischen Werken durch das em-
^'ische Material die allgemeine Idee durchschimmern läßt, verräth einen reich
^gestatteten speculativen Geist, seine Nachbildungen des Aristophanes und
Miylus zeigen von einem nicht unbedeutenden poetischen Talent, wenigstens von
^'em ungewöhnlich reichen Sinn sür das Schöne in allen Gestalten. Dabei
^°pft er durchweg aus der Tiefe der historischen Forschung und seine Forschung
^streckt sich über alle Gebiete der Geschichte. Mit diesen Vorzügen ist freilich
^ Fehler verbunden, daß sein Geist in seiner lebhaften Thätigkeit mit der
°ustvuction des historischen Ganzen aus der Idee heraus zuweilen der For-
"ug voraneilt; aber diesen Fehler bat er mit großem Erfolg zu überwinden
^sucht.
. Droysen gehört um so mehr nach Berlin, da das Gefühl für den bene-
nnt europäischen Beruf des preußischen Staats vielleicht bei keinem
luftsteller mit so klarem Bewußtsein hervortritt, als bei ihm. Dies Be-
btsein sprach sich, nachdem er die Forschungen auf dein Gebiet des Alter-
krj^ beendigt, zuerst am Vernehmlichsten in seiner Geschichte der Freiheits-
uege
Punkt"us. einem Abriß der modernen Weltgeschichte nach idealen Gesichts-
^, welche die Bedeutung Preußens in sehr deutlichen Umrissen hervor-
hoben und daher nicht wenig aus die allgemeine Stimmung des Publicunis
einwirkten.
Dieselbe Idee bestimmte bald darauf sein Wirken in Frankfurt und sie
bildet gleichfalls den rothen Faden in seiner Lebensbeschreibung Yorks, einer
der besten Monographieen. welche die letzten Jahrzehnte hervorgebracht haben,
und die lebhaft bedauern läßt, daß der Verfasser nicht in ähnlicher Weise die
Papiere Schöns bearbeitet hat.
Aus dem Bedürfniß, diese vereinzelten Studien über die Bedeutung
Preußens zu einem organischen Ganzen zu verbinden, ist das gegenwärtige
Buch hervorgegangen. Im Allgemeinen richtet sich die Sympathie der Völker
mehr nach dem Eindruck, den große Persönlichkeiten auf die Phantasie aus¬
üben, als nach der Erwägung der Zustände, die mit innerer naturnothwendig,
keit wirken, unabhängig von dem Willen der Einzelnen. So steigt oder M
das Ansehen Preußens in Deutschland, je nachdem man von den regierende"
Persönlichkeiten des Staats befriedigt ist oder nicht; und viele ehrliche Vater¬
landsfreunde glauben etwas Erhebliches gesagt zu haben, wenn sie sich einen
neuen Friedrich den Großen wünschen, der mit der überlegnen Macht des
Genies die Thatsachen zurecht macht, die sich von selbst nicht fügen wollen-
Zu erklären ist diese Gesinnung wol. denn das Ansehen Preußens im Ausland
und die gute Meinung, die man davon hegt, rührt ausschließlich von zwei
bedeutenden Persönlichkeiten her: dem großen Churfürsten und dem große"
Könige. Aber es stünde sehr klüglich um Preußens Beruf, wenn auch sei"
innres Gewicht sich ausschließlich auf diese Erinnerungen gründete, den"
Preußen hat ebensowenig ein Privilegium auf große Regenten als irgend el"
»andrer Staat, und wenn nicht der innere Zusammenhang seiner Geschichte und
seiner Einrichtungen, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, die schöpferische
Thätigkeit ersetzte, so wäre kein Grund vorhanden, warum Deutschland grade
hier seinen Helfer suchen sollte.
In der innern Naturbestimmtheit Preußens seine Zukunft zu begreift"
ist die Idee, von welcher Droysen ausging. Die meisten Leser werden beim
ersten Ansehn des Buchs enttäuscht worden sein, denn wo man ein allgemei¬
nes geistvolles Resume erwartete, findet man eine strenge monographische Fol'
schung. In dem Bedürfniß, überall auf die letzten Quellen zurückzugehn und
jede Behauptung zu vermeiden, die nur auf oberflächlicher Anschauung be¬
ruhte, hat Droysen in der That etwas anders hervorgebracht, als er Ursprung'
lich beabsichtigte, und wenn er die folgende Periode in gleicher Ausführlich^'
beHändeln wollte, so könnte leicht das Buch zu einem riesenmüßigen Umfang
anschwellen. Der Titel gibt ebensowenig von diesem Buche eine klare Vor¬
stellung, als der Titel eines frühern, der Geschichte der Freiheitskriege.
Schon über die Wahl des Moments, mit dem er sein Werkbeginn'
konnte man mit dem Geschichtschreiber rechten. In die Weltgeschichte tritt
Preußen erst mit dem großen Kurfürsten; vor dieser Periode Hütte man ein
"ut übernatürlichen Kräften ausgestatteter Prophet sein müssen, um dem be¬
sinnenden Staat seine Zukunft voraussagen zu können. Bei der allgemeinen
Zerrüttung Deutschlands, der Brandenburg ebenso anheim gefallen war, wie
""e übrigen Territorien, und bei der schwachen und widerspruchsvollen Regie¬
rung der letzten Jahrzehnte hätte dieser Staat weltgeschichtlich ebensogut unter-
üehn können, als seine Rivalen. Erst der große Kurfürst hat den Organis-
'"us aufgebaut, welcher den großen König möglich machte. Darum gibt
Wenzel in seiner preußischen Geschichte die Periode, die dem großen Kur¬
fürsten vorangeht, nur ganz übersichtlich und wird immer ausführlicher, je näher
er der Gegenwart kommt, wobei er freilich die Grenzen des künstlerisch er¬
laubten mitunter um ein Erhebliches überschreitet.
Freilich Hütte auch der große Kurfürst, trotz seiner mächtigen Persönlich¬
st, aus dem Nichts einen Staat nicht schaffen können; es mußte er den histori¬
schen Voraussetzungen etwas vorhanden sein, was ihn zu seinem Unternehmen
berechtigte und befähigte, und dieses quellenmäßig festzustellen, war es gerade,
^>as Droysen reizte.
Es war kein Zufall, daß grade die beiden Ostmarken, die nördliche und
übliche, die hauptsächlichen Träger des modernen Staatslebens wurden, denn
ihren Nachbarn unaufhörlich bedroht und, bei der allgemeinen Anarchie,
dem Reichsoberhaupt wenig gefördert, mußten sie auf eine selbstständige
"Ad konsequente Politik nach Außen und Innen bedacht sein. Es war mehr
^ ein bloßer Zufall, wenn die äußerste deutsche Kolonie im Osten mit der
l"rk Brandenburg unter demselben Herrscherhause vereinigt wurde; denn
^»n man sie nicht in derselben Weise verloren geben wollte, wie Liefland,
^° Mußte sie durch Verbindung mit einer benachbarten und militärischen Regie¬
rung gekräftigt werden. In demselben Jahrzehnt, wo die Mark Brandenburg
"u Hohenzollern füllt, beginnt der Verzweiflungskampf des Ordenslandes
^3en Polen; ein Brandenburger secularisirt den Orden, und bald darauf,
U'Mut auch die Mark die Reformation an. Gemeinschaftlichkeit der Interessen,
es Bekenntnisses, geographischer Zusammenhang. Verwandtschaft des Herrscher¬
hauses, das Alles bereitet die vollständige Vereinigung vor. Wenn das neue
"uigthunr den Namen Preußen empfängt, so ist auch das kein bloßer Zufall;
°"n wenn die eigentliche Kraft des Staats aus der Mark hervorgeht, so ist
^ vornehmste Schauplatz seiner Thätigkeit das Ordensland. Hier, bald in
'u Kampf, bald in den diplomatischen Beziehungen zu den übermächtigen
^'schen Nachbarn, ist der Punkt, wo sich entscheidet, ob aus der Markgraf,
"n. aus dem Kurfürstenthum ein freies Königreich sich erheben sott,
begrifflich ist dieser Zusammenhang nicht schwer darzustellen; der kunst-
Krischen Ausführung der Aufgabe stellen sich aber unübersehbare Schwierig'
leiten entgegen. Die Geschichte der Hohenzollern ist nicht bloß mit der all¬
gemeinen Reichsgeschichte, sondern mit der Spccialgeschichte aller möglichen
Territorien so enge verflochten, daß sie kaum davon gelöst werden kann; der
Staat wird aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt, bei deren jedem
man eine neue Erzählung anfangen möchte. Freilich, wer nur auf eine Fa-
ȟlieuchronik des Hauses Hohenzollern ausgeht, hat es bequemer; aber so hat
Droysen seine Aufgabe nicht gefaßt, er geht vom kultur-historischen Stand¬
punkte aus, nicht eine Familie, sondern ein Volk will er individualisiren.
Künstlerisch ist ihm diese Aufgabe nicht ganz gelungen; sie konnte nicht
ganz gelingen. Selbst die Eigenthümlichkeit seines Talents erschwerte ihm
diese Aufgabe: aus der einen Seite bemüht er sich, die ideelle Bewegung so
tief und allgemein zu begründen als möglich, auf der andern Seite vertieft
er sich so sehr in's Detail, daß man mitunter den Faden verliert.
Seine unglaublich umfangreiche Quellenkenntniß benutzt er häusig
einer Wendung, die eher geistreich als torrent genannt werden könnte: er läßt
nämlich seine eignen Ideen über den Fortschritt der Handlung von den Zeit'
genossen vortragen, deren Worte er freilich treu anführt, doch so, daß die
Auswahl derselben mehr nach seinem eignen Begriff, als nach der innern
Wichtigkeit der Urkunde bestimmt wird. Auf der andern Seite charakterisirt
er die große Culturbewegung, z. B. der Reformation, nicht bloß nach der in¬
dividuellen Eigenthümlichkeit des Landes, das sein Gegenstand ist, oder se>'
ner Helden, sondern in ihren allgemeinsten Beziehungen und nach der ganzen
ethischen Tiefe, die unser modernes Bewußtsein durchforscht hat. Jede einzelne
seiner Deductionen ist voller Gehalt, aber trotz der Bewunderung des geiht'
vollen Schriftstellers kaun man sich der Bemerkung nicht erwehren, da»
er nicht selten aus seinem Rahmen heraustritt, und daß seine Reflexionen
das voraussetzen, was er doch erst geben sollte, nämlich die Erzählung d^'
Thatsachen. Denn man darf sich durch den Anschein der Chronik, durch d^
zahlreichen Details und durch die Lokalfarbe nicht täuschen lassen: sein Buch
ist nichts weniger als eine Chronik, und um es richtig zu verstehen, müßte
man eigentlich eine andere Geschichte, die denselben Gegenstand behandelt,
bei der Hand haben. Auch die Deutlichkeit der Portraits leidet nicht wenig
unter der Vielseitigkeit des Gesichtspunktes, und mitunter wechselt das Licht
schnell und blendend, daß man wenig oder nichts sieht.
Eine gewisse Verwandtschaft mit Ranke stellt sich augenscheinlich heraus,
obgleich die ganze Gemüthsnnlage der beiden Schriftsteller eher einen Comte^
bildet. Gemeinsam haben sie das Pointirte und springende der Darstellung-
die glänzende Virtuosität in den Farben und die Unruhe in der Zeichnung'
aber Droysen ist durchweg auf das Allgemeine und Bleibende, auf den ")
'scheu Gehalt, auf den spekulativen Zusammenhang der Thatsachen gerichtet,
wahrend Ranke viel mehr Sinn für das Eigenthümliche und Individuelle, man
wvchte sagen für das Anekdotische hat. und trotz des pathetischen Tons, den
^ zuweilen mit großem Erfolg anzuwenden weiß und der nicht etwa bloß
gemacht ist. sich im Grunde des Herzens gegen seine Gestalten ironisch
behält. Mit dieser Anschauung verträgt sich der Ton freilich viel besser, und
^ ist nicht zu leugnen, daß seine Kunstform einheitlicher aussieht.
Alle diese Bemerkungen sollen nur darauf aufmerksam machen, daß die
Lektüre des Buchs nicht bequem ist, man muß den Schriftsteller zuweilen cr-
auch wohl übersetzen; aber diese Anstrengung belohnt sich reichlich,
">ehe bloß durch die Vertiefung des Wissens, sondern auch durch die Läute¬
rung und Erhöhung des nationalen Gesühls. Was Droysen noch weiter zu
behandeln übrig bleibt, ist für die Darstelluung ungleich günstiger; denn nun
u'ne wirklich ein einheitlicher Staatsorganismus und damit eine auf sich selbst
^ruhende preußische Geschichte hervor.
Daß Droysen nicht blos als Schriftsteller, sondern auch als Universitäts¬
lehrer einen höchst segensreichen Einfluß ausübt, ist in Kiel und Jena allge¬
mein bekannt; die gelehrte Welt hat vor Kurzem ein sehr günstiges Zeugniß
dcivon erhalten in der musterhaft ausgeführten Monographie eines seiner
Schüler. Wilhelm Pückert: „Die churfürstliche Neutralität während des
baseler Consils; ein Beitrag zur deutschen Geschichte von 1438—1448" (Leip-
ö'S. Teubner).
Zwei vor kurzem vollendete Werke: Geschichte der Lande Braunschweig
"ud Lüneburg von Wilhelm Havemann, 3 Bde., Göttingen, Dieterich,
^53—1857; und Geschichte Ostfrieslands von Ouro Klopp, 3 Bde., Han-
^ver. Rümpler. 1354 — 1858, behalten wir uns für eine ausführliche Be¬
sprechung vor; es ist höchst lehrreich zu verfolgen, wie hier die naturwüchsige
Grundlage eines deutschen Staats, die sächsische Stammgenossenschaft, wie
Herrscherhaus der Welsen, das zuerst die Unabhängigkeit Norddeutschlands
dem römisch-deutschen Kaiserreich zu erringen gesucht, durch die Macht der
Zustände und eigne Schuld aus der ersten Reihe zurückgedrängt, seinen Be¬
ruf an Preußen überlassen mußte, dem es nun wieder auf eine bedenkliche
^ise im Wege steht.
Wilhelm Giesebrechls „Geschichte der deutschen Kaiserzeit" hat eine
^ne Auflage erlebt. (1. Bd., Gründung des Kaiserthums, mit einer Ueber-
^chtskarte von H. Kiepert. Vrauuschweig. Schwetschke und Sohn.) Daß
,'°b der Einwendungen, die man gegen die Form der Darstellung machen
dieses Werk zu den hervorragendsten Leistungen unserer historischen Li-
^'"tur gehört, hat das Publicum richtig gewürdigt. Ueber die Umarbeitung
^'ehe sich der Verfasser dahin aus ; „Vornehmlich ist er bedacht gewesen, der
Anordnung des Rehes größere Klarheit, dem Ausdruck mehr Gleichmäßigkeit
und Harmonie zu geben. Aber auch in dem Thatsächlichen schienen manche
Aenderungen geboten, zumal einige werthvolle Arbeiten der letzten Zeit un¬
mittelbar oder mittelbar die Kaisergeschichte berühren. Mancher Irrthum ist
beseitigt, schwankende Angaben sind näher bestimmt worden, die Anmerkungen
haben eine solche Umgestaltung erfahren, daß sie den augenblicklichen Stand
der Forschung darlegen". Der Versasser verspricht im Lauf eines Jahres das
Erscheinen eines dritten Barth, welcher die Geschichte des Investiturstreits
umfassen soll.
In der Form der Darstellung wie in der ganzen Anlage sehr verwandt
mit dem vorigen Werk ist F. W. Schirrmachers Monographie „Kaiser
Friedrich der Zweite" (Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht). Es ist bis
jetzt nur der erste Band erschienen; wir behalten eine eingehende Besprechung
nach dem Schluß des Werkes vor. Ebenso bei der „Geschichte der Völker-
Wanderung" von Eduard v. Wietersheim (Leipzig, T. O. Weigel)
deren erster Band eigentlich nur die Einleitung, einen Abriß der römischen
Kaisergeschichte bis auf die Antonine und die germanischen Zustände bis auf
Nur ungern und mit äußerstem Widerstreben berühre ich heute einen Gegen¬
stand, den ich ganz unbeachtet würde gelassen haben, wenn nicht die großdcutschcn
Blätter sich seiner bereits bemächtigt hätten, um in der herkömmlichen Weise gegen
Preußen zu deklamiren, und wenn uns — der Partei — nicht alles daran gelegen se>"
müßte, jede Solidarität mit den einzelnen Handlungen einer Regierung, in der wir
im Allgemeinen die Hoffnung Deutschlands sehen, entschieden abzulehnen.
Am 10. November feiert ganz Deutschland den hundertjährigen Geburtstag
Schillers. Ganz Deutschland: nicht etwa blos das Gebiet des deutschen Bundes,
sondern ebenso die Deutschen in Nußland, Amerika, Australien; es ist eine nationale
Feierstimmung, die ohne alle Uebertreibung sich über den gesammten Erdkreis ver¬
breitet. In vielen der wichtigsten Fragen uneins, hat hier cinnral das deutsche Volk
einen sympathischen Punkt gesunden, der alle Herzen gleichmäßig berührt.
Wenn ein solcher Punkt nicht in der Wirklichkeit vorhanden, nicht vom ZuM
dargeboten wäre, so hätte man ihn, scheint es uns, mit unablässiger Anstrengung
suchen müssen. „Was ist des Deutschen Vaterland?" hat man oft gefragt, ohne eine
erschöpfende Antwort zu finden. Das Schillerfest ist eine Antwort.
Es handelt sich hier gar nicht um ein ästhetisches Urtheil. Warum grade
Schiller zum Symbol der deutschen Einheit gewählt wird, darüber zu grübeln ist
für die Hauptsache durchaus müßig. Ob Goethe größer war als Schiller, ob noch
andere Dichter mit dem letztern wetteifern können — gleichviel! Schiller war ein
großer Dichter, er war derjenige Dichter, welcher das edle Streben unserer classischen
Periode zuerst der großen Menge zugänglich machte; er verklärte den widerstrebenden
Stoff im Feuer des Ideals; er zeigte die Sittlichkeit in schönen Formen und lehrte die
Vaterlandsliebe vom allgemein menschlichen Standpunkt; er war ein voller, ganzer
Mann, ein Sohn des Volks, der durch seine Poesie sich einen höhern Adel verschaffte,
als den Fürsten verleihen, der das Gepräge dieses Adels der ganzen Nation auf¬
drückte. Indem sie ihn ehrt, ehrt sie sich selber.
Wer sollte gegen eine solche Feier Einspruch thun? Im Heerlager der modernen
Orthodoxie — diesseits und jenseits der Berge — haben sich zwar Stimmen genug
erhoben, die an die „Götter Griechenlands" erinnern; die gegen den Cultus des
Heidenthums predigen, die unsere classische Dichtung als eine Julianische Empörung
gegen Christus verunglimpfen.
Aber die Partei ist klein, und selbst sie hat diesmal keine Ursache, ein Frcudcn-
gefühl zu verketzern, das nicht den Göttern Grichcnlands gilt, sondern den Liedern,
die im Munde des Volks leben — den Worten des Glaubens, der Glocke, Wallen¬
stein. Tell.
Die Regierungen haben im Allgemeinen den Drang der gesammten Nation, sich
einmal als Nation öffentlich zu bekennen, und dazu eine Veranlassung zu benutzen,
die in der That unser Stolz sein kann — unsere Poesie — richtig gewürdigt; fast
überall wird das Schillerfest ein Landesfest. Selbst in Oestreich, dem Lande des
Concordats. bringt man dem Dichter Teils, dem Dichter Wallensteins. dem Geschicht¬
schreiber des dreißigjährigen Kriegs und der Befreiung der Niederlande einen Fackel-
iug. man tauft Hauptplätzc der Residenz mit seinem Namen, die Schulen verkün¬
digen sein Lob. die Begeisterung der Menge hat die officielle Weihe. Und so ist es
sast durchweg.
Nur in Preußen — in dem Lande, das mehr als ein anderes Veranlassung
hätte, den Dichter zu ehren — in Preußen schließt man die Feier aus die Stuben
"N; die Polizei von Berlin findet eine lärmende Begeisterung auf den Straßen un¬
schicklich, die Polizei andrer Städte folgt dem guten Beispiel, und der Minister des
Innern. Gras Schwerin, bis dahin der Führer unsrer Partei, bestätigt dieses
Verbot.
Freilich sind Gründe vorhanden. Es ist während der Krankheit des Königs
Preußischen Gefühl peinlich, daß eine laute Lust aufkommen soll; obgleich bei
pudern Gelegenheiten diese Stimmung überwunden wurde. Es mag sein, daß die
^bsichtigten Demonstrationen nicht grade zu den zweckmäßigsten gehörten; obgleich
'"«n durch ganz Deutschland ungefähr das nämliche vorhat. Es kommt mehr da-
^Uf an, zu handeln, zu arbeiten, als zu declamiren und zu jubeln. Das ist rieb-
"g, aber —
Es ist doch ein Unglück, daß grade in Preußen diese Bedenken aufgetaucht sind.
Wäre es noch vor zwei Jahren geschehen! — Leider hat man in Preußen fast zu
allen Zeiten vergessen, daß der Schein auch zum Wesen gehört; daß man durch nichts
so viel Unmuth hervorbringen kan», als durch Belästigung der öffentlichen Stim¬
mung, die sich in harmlosen und im Ganzen edlen Demonstrationen kundgibt. Das
vorige Ministerium hat weniger durch seine allgemeine Politik, als durch seine Be¬
lästigung der individuellen Freiheit, durch seine Pcißschcrereicn u. s. w. in Deutschland
Anstoß gegeben.
Aber fast noch mehr als das Verbot selbst müssen wir die Art und Weise be¬
dauern, wie der Minister dieses Verbot bestätigt hat. Er hat die allgemeine Frage
aus einen Compctcnzconflict verschiedener Behörden zurückgeführt. Die berliner
Schillerfcier ist eine berliner Localsache, sie rcssortirt von der berliner Polizei. So
die königsberger, die brcslaucr u. s. w. u. f. w. Das Ministerium hat nur dann
einzugreifen, wenn in der ersten Instanz eine offne Gesetzwidrigkeit vorgekommen ist.
Wären wir wirklich so weit? Hieße wirklich „Autonomie der Gemeinden" so
viel als Autonomie der localen Polizei? — Wir haben zwar früher von Eompctenz-
conflicten zwischen H. v. Westphalen und Hrn. v. Hinkeldey gehört, aber wir glaub¬
ten, das sei eben ein Ausnahmezustand, dem abgeholfen werden solle. Wir glaub¬
ten, eine allgemeine Angelegenheit, d. h. eine Angelegenheit, die alle Preußen
angeht, könne nicht in eine Reihe localer Angelegenheiten zersplittert werden, da
freilich jeder Preuße irgendwo wohnen, also einer localen Polizei untergeben sein
muß. Ja wir halten die Einheit der Verwaltung gradezu für die Kernfrage, wo es
sich um Preußens Gedeihen und Fortschritt handelt; und sollte diese Einheit nicht
hergestellt werden; sollte es bei der „Autonomie" der verschiedenen Verwaltungs¬
behörden sein Bewenden haben, so würden wir, so tief wir die gegenwärtigen
Rathgeber des Regenten verehren, so viel im Einzelnen durch sie erreicht werden mag,
im Interesse des Staats an der neuen Wendung nur eine bedingte Freude haben.
Wol wissen wir, daß eine solche Reform unter allen die schwerste ist, daß die
Administration, die im alten Geleise geht, auch von energischen Ministern nur all-
mälig in eine neue Richtung gebracht werden kann; aber nun, dünkt uns, wäre
endlich Zeit, den Anfang zu machen; und daß man diese Gelegenheit versäumt,
darüber sprechen wir noch einmal unser lebhaftes Bedauern aus.
Aber die Gegner mögen darüber nicht frohlocken. Es ist ungeschickt, der all¬
gemeinen Stimmung nicht nachzukommen; wichtiger ist es, den allgemeinen Inter¬
essen und dem allgemeinen Recht zu huldigen. Die Entscheidung der kurhessischen
Frage steht vor der Thür, hier wird sich zeigen, wer wahrhaft Deutschlands
Freund ist.
Von Preußen werden die besten Absichten in dieser Beziehung berichtet; es wird
darauf ankommen, inwieweit es dieselben durchsetzt. Das führt uns auf die all¬
gemeinen Combinationen der europäischen Politik, in denen, wie wir bereits an¬
gedeutet, diese Periode vielleicht einen entscheidenden Wendepunkt hervorzubringen
berufen ist. Zwar wissen wir ebenso wenig, was in Breslau verhandelt ist. als
was in Villafranca. aber die Thatsache steht fest: zwischen Nußland und Preuße»
findet eine sehr bemerkliche Annäherung statt, eine Annäherung, die sich zunächst am
die wichtigste allgemeine Frage, die italienische bezieht. Ueber diese Thatsache ist ^
Zeit unsere Empfindung aufzuklären.
Wollten wir dem ersten, unmittelbaren Gefühl folgen, so würden wir in jener
Annäherung etwas Unheimliches finden. Den Druck, den Rußland auf Preußen
dreißig unheilvolle Jahre hindurch ausgeübt, war zuletzt so unerträglich geworden,
daß als die Krisis über Rußland einbrach, ein allgemeines Jubelgeschrei sich erhob,
und alle Welt sich an dem Kreuzzug gegen den übermächtigen Nachbarstaat bethei¬
ligen wollte. Das Gefühl war damals ganz auf dem richtigen Wege; und es
wird über kurz oder lang wieder dahin kommen. Vielleicht ist das Jahrhundert nicht
mehr fern, wo der Kampf zwischen Deutschland und Nußland an der Weichsel über
das Schicksal des Erdtheils entscheiden wird. Der aufrichtige Freund Preußens ist
Rußland nie gewesen, konnte es nie sein; ein mächtiges Preußen wäre sein gefähr¬
lichster Nebenbuhler, und wenn ein Bündniß stattfindet, so ist es stets ein Bund
des Mißtrauens, ein Bund auf Kündigung, in dem beide Theile erwarten müssen,
den Bundesgenossen plötzlich sich in einen entschiednen Gegner verwandeln zu sehen.
Aber es gibt vorübergehende Perioden, wo ein solches Bündniß für endliche
Zwecke möglich und wünschenswert!) ist. Die schlimmste Gefahr ist wohl beseitigte
der Absolutismus wird unter russischem Einfluß nicht wieder in Preußen hergestellt
werden, und augenblicklich ist die innere Lage Rußlands nicht von der Art, eine
societas leouing, befürchten zu lassen.
Preuße» aber darf in der isolirten Lage, in der es seit 1848 verharrt, nicht
bleiben. Wie Friedrich der Große nach den Anstrengungen des siebenjährigen
Krieges sich nach einem fremden Bündniß umsah, und von diesem Bündniß, man
darf es nicht leugnen, wirklichen Nutzen zog, so ist es heute wieder der Fall. Jeden
Augenblick ist ein neuer europäischer Corund zu erwarten, und dieser darf Preußen
kunst wieder überraschen.
Der erste natürliche Bundesgenosse Preußens ist Deutschland; und wir hoffen,
^ wird es in Zukunft wirklich sein. Im gegenwärtigen Augenblick wäre diese Hoff¬
nung eitel. Im gegenwärtigen Augenblick folgen die deutschen Staaten dem östrei¬
chischen Impuls, und Oestreich hat Preußen nicht nur eine schwere Beleidigung zu¬
gefügt, die trotz der spätern thatsächlichen Berichtigung noch nicht zurückgenommen
^. es verfolgt noch heute Zwecke, denen Preußen sich entgegensetzen muß, wenn
°6 sich nicht selbst aufgeben will.
Der zweite natürliche Bundesgenosse wäre England. Ganz Preußen hat die
^erschwügerung der beiden Häuser mit Freuden begrüßt. Die beiden Völker sind
stammverwandt, die Principien der Regierungsform nähern sich mehr und mehr, und
natürlichen Interessen der beiden Staaten stehen sich nirgend ernstlich gegenüber,
^der England ist keine sichere Stütze. Der ungeheure Horizont, den seine Inter¬
essen umfassen, fängt an, für die Mittel des Staats zu groß zu werden. Indien,
^sima, Japan, das Mittelmeer, Gibraltar — überall Conflicte, die sich der Berend-
^"ug entziehn; jetzt sogar Conflict mit Spanien, dessen Expedition gegen Marokko
der zweckmäßigste Ausgang aus einem fast dreißigjährigen Bürgerkriege zu sein
tadelnd-, überall so verwickelte Beziehungen, daß Persönliche Sympathien und Leiden-
Taften nicht selten den Ausschlag geben. Wir halten ti'e Carricaturen, die man in
putschen Blättern von Lord Palmerston gibt, für das, was sie sind. Lord Palmer-
°n ist xj^. wenigen europäischen Staatsmänner, die neben Napoleon dem Dritten
"°es eine eigne Politik verfolgen; aber es ist eine incommensurable Politik, wenigstens
für unsere Interessen. Außerdem ist die Lage jetzt so, daß die drei Staaten Rußland,
England und Preußen in Beziehung aus Italien das gleiche Interesse haben: sowol
den östreichischen als den französischen Einfluß, sowol das Papstthum als die Re¬
volution zu bekämpfen, und für die Ausrichtung eines unabhängigen italienischen
Königthums zu arbeiten.
Einigen sich die drei Staaten in diesem Princip, so kommt der Kongreß unter
haltbaren Bedingungen zu Stande, der Friede wird erhalten, dem Uebergewicht der
beiden kriegführenden Mächte ein Ziel gesetzt, und Deutschland wird erkennen, daß
sein Gewinn durch diese Combination der größte ist.
Aber was wir schon in der vorigen Woche hervorhoben: aus dieser wie aus
jeder andern Combination wird Preußen nur dann gekräftigt hervorgehen, wenn es
vorher eine einheitliche innere, eine einheitliche äußere Politik bei sich feststellt, und
darum haben wir die Betrachtungen über zwei so weit voneinanderlicgende Gegen¬
stände, Schiller und Rußland, aneinander gereiht. Preußen ist seiner geographischen
Lage und seiner Geschichte nach ein Staat des Lagers, der nur dann gedeiht, wenn
die Regierung wirklich regiert, d. h. von einem wirklichen Gedanken getragen wird.
Ein fürstliches Leben. Zur Erinnerung an die verewigte Großherzogin zu
Sachsen-Weimar-Eisenach, Maria Paulowny, Großfürstin von Nußland. Von
Hofrath L. Preller. — Weimar, Bostan. — Die würdige Feier einer edlen Frau,
der Tochter Pauls des Ersten, die, geb. 1786, 1804 als Schwiegertochter Karl
Augusts in den Kreis von Weimar eingeführt wurde, durch Schillers „Huldigung
der Künste" freudig begrüßt, und die bis an ihren kürzlich erfolgten Tod allem
Schönen und Edlen die wärmste liebevollste Theilnahme gewidmet, alles Gute gepflegt
und beschützthat. Mit ihrer Schwiegermutter Louise und ihrer Großmutter A mal! e
wird ihr Name unsterblich bleiben. — Und hier ist der Ort, einer Verwandten zu
gedenken, die dieses edlen Hauses würdig war: der verstorbenen Herzogin Helene
von Orleans, geb. Prinzessin von Mecklenburg-Schwerin. (Ihre Biographie ist
in deutscher Übersetzung in Leipzig, bei Lehmann, von Lanner, und in Berlin de>
Springer erschienen). Hätten sämmtliche Glieder des Hauses Orleans einen
energischen, pflichtgetrcuen Willen gezeigt als diese Frau, vielleicht hätte das Unheil
der Februarrevolution vermieden werden können. An ihre Söhne knüpfen sich
Hoffnungen derer, die Frankreich noch für fähig halten, ohne Einbuße an Kraft
freisinnige und volkstümliche Einrichtungen zu ertragen. —
Was Schiller war, wird heute so vielseitig erörtert werden, daß wir unsre
Aufmerksamkeit auf eine andre Frage richten: was bedeutet für uns das
heutige Fest? Die Feier eines großen Todten gilt immer den Lebendigen, sie
ehren sich selber, sie sprechen ihre eignen Bedürfnisse und ihren eignen Be¬
sitzstand aus. Schiller ist ein großer Dichter, dem nie Ehre genug angethan
werden kann, aber die Aufregung, die heute wie ein elektrischer Funken
über den gesammten Erdkreis zuckt, muß doch noch einen andern Sinn haben.
Zunächst feiern wir in Schiller den Vertreter unsres goldenen Zeitalters,
jenes Zeitalters, welches die griechische Einheit von Denken und Empfinden
durch Kunst und Philosophie wieder herzustellen trachtete. Bon diesem all¬
gemeinen Streben ist keiner unsrer Dichter so tief durchdrungen gewesen als
schillernder zwischen Kant und Goethe vermittelt, dessen philosophische Stu¬
dien der Kunst gedient haben und dessen Poesie die Welt der Ideen verkör¬
pert hat. Dieses goldne Zeitalter ist nur scheinbar ein vergangenes. Man
ist zuweilen daran irre geworden: in unserm Dichten und Trachten nimmt die
Politik einen breiten Raum ein, die materiellen Interessen haben einen ge¬
deihlichem Boden gefunden, in der Religion hat man andere Pfade gesucht.
Es ist aber ein ganz falsches Vorurtheil, als ob ein großes geistiges Interesse
das andre verdrängen müßte, im Gegentheil fordert jedes aufrichtige, hin¬
gebende Streben nach einer bestimmten Seite hin, das verwandte Streben
nach der andern, und wir, die wir all crdings mit Staatsrecht, Gemeindeord-
Uung, mit den positiven Wissenschaften und mit der materiellen Seite des
Lebens viel mehr zu thun haben als unsre Großväter, wir hegen zugleich
"ut einer viel wärmern Andacht die Schätze einer schönen Vergangenheit.
Nie unendlich seit den letzten sechzig Jahren die Theilnahme für Schiller und
Goethe gewachsen ist, darüber kann der Baron Cotta die beste Auskunft geben.
Vor sechzig Jahren bildeten die Freunde der schönen Literatur eine exklusive
Gesellschaft, heute gehört dazu das ganze Volk, Und man begnügt sich nicht,
die unsterblichen Dichtungen jener Tage zu studiren und sie dem Gedächtniß
einzuprägen, man verräth auch ein menschliches Interesse für die Poeten und
ihre Schicksale. Wer irgend im Stande ist, uns über ihr Leben, ihre Ver¬
hältnisse, ihre Ideen einen neuen Aufschluß zu geben, der wird mit dem leb¬
haftesten Danke begrüßt, und der Eifer geht so weit, daß wir in dem kleinen
Leben jener Tage beinahe mehr zu Hause sind, als in den unsrigen. Das ist
keine Romantik, sondern nur die gerechte Anerkennung, daß jene Periode für
unsre Bildung die wichtigste war.
Unsrer schönen Literatur verdanken wir zuerst die Anerkennung des Aus¬
landes. So gleichgiltig sich der patriotische Stolz über diese Anerkennung der
Fremden aussprechen mag, es ist doch von der höchsten Wichtigkeit, denn das
gesunde Selbstgefühl einer Nation, wie eines Individuums, ist nicht ganz un¬
abhängig von dem Umstand, daß sie nicht erst nöthig hat andern gegenüber
ihren Werth zu erweisen. Der Credit hat auch in der moralischen Welt seine
volle Geltung. Im letzten Heft der revue ä<z äeux monclLs gesteht ein geist¬
voller Kritiker zu, die Deutschen hätten in allen wahrhaft geistigen Dingen
die Initiative gehabt. Das ist sogar zu viel gesagt, aber es ist nicht etwa
eine vereinzelte Stimme, sondern eine Meinung, die mehr und mehr Boden
gewinnt. Es ist eben ein Adels- oder Creditbrief.
Die schöne Literatur des vorigen Jahrhunderts hat unter allen geistigen
Bewegungen, welche unser Selbstgefühl und unsre äußere Anerkennung gestei¬
gert haben, den ungeheuern Vorzug, daß sie vereinigt, anstatt zu trennen.
Das ist z. B. ein Vorzug vor der Reformation, die im übrigen den Segen
der spätesten Enkel verdient. Und gerade in ihrer Ferne liegt jetzt ihre ver¬
söhnende Kraft- Als Schiller und Goethe noch lebten, gab es im Lager der
Heiligen Hader und Zwiespalt genug; jetzt steht uns das ganze Zeitalter wie
ein wundervoll einheitliches Gemälde in glänzenden Farben gegenüber. I"
politischer wie in religiöser Hinsicht sind wir leider noch getrennt wie früher,
aber von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken, durch alle fünf Welt¬
theile, so weit der uralte germanische Wandertrieb unsre Landsleute zerstreut
hat, fühlt jeder Deutsche sich stolz gehoben, wenn man den Namen Goethes
und Schillers nennt. Verfeindet mit der Obrigkeit, unzufrieden mit der Menge,
aus der Heimat verbannt, ohne äußern Schutz gegen die Anmaßungen des
Ausländers: ich bin ein Landsmann Goat.des und Schillers, das ist mein
Adelsbrief! Man sieht, daß die Freudenfeuer diesseit und jenseit des Oceans
kein bloßes Kinderspiel sind.
Was war der wahre Inhalt des Zeitalters, als dessen Repräsentanten
wir Schiller verehren? — Es war der Begriff der Humanität, der Glaube an
die Wirklichkeit und an die Einheit des Guten und Schonen, die Ueberzeugung,
daß die Erde eine Wahrheit ist, daß die Ideale auf ihr wachsen, wie die
Blumen des Frühlings, daß der Himmel über ihr steht, aber nicht außer ihr;
daß die Menschen, nach Gottes Ebenbild geschaffen, das Recht und die
Fähigkeit haben, das Göttliche aus der eignen Brust zu schöpfen. Dies
war der Glaube, dem unsre Dichter und Denker ein reiches und schönes
Leben weihten, der ihnen Kraft gab, immer neu zu schaffen, der ihr Leben
beseeligte und ihre Werke verklärte. — Diesen Glauben hat man uns zu
verkümmern gesucht, man hat, um den Himmel zu bereichern, die Erde wieder
arm machen wollen, man hat das Göttliche dem Menschlichen entgegengesetzt,
den unbekannten Gott in ein finstres Dunkel verbannt, und die höchsten, ja
die heiligsten Erregungen des Herzens gebrandmarkt. Gegen diese Anmaßungen
einer lichtscheuen Zunft ist das Schillerfest ein lebendiger Protest des deut¬
schen Volks.
Warum ist Schiller von unsern Dichtern der populärste? Auch seine Feinde,
die Romantiker, haben es sehr gut gewußt und ihn deswegen grimmig gehaßt:
weil er den sittlichen Kern des deutsche Volkslebens zu treffen und mächtig
Zu erregen wußte. Er selbst verstand sich nicht immer, er bemühte sich zu¬
weilen, wetteifernd mit Jenen Kunststücke zu machen in der Weise der Grie¬
chen oder Spanier; aber was von ihm fortlebt in dem Herzen des Volks,
das hat er aus dem Herzen des Volks geschöpft. Andre Nationen, z. B. alle
romanischen, haben ihre Freude am Klang, am bloßen Spiel der Phantasie,
am Witz: der Deutsche wird wahrhaft nur dann erregt, wenn sein Gemüth
ins Spiel kommt, und zwar sein Gemüth in den allgemeinen Beziehungen
wirklichen Lebens. Niemand wird leugnen, daß die individuellen sub-
jectiven Regungen des Gemüths bei Göthe eine viel reichere Nahrung finden
^s bei Schiller, daß sein Lied der Liebe, selbst sein Lied der Freiheit in viel
reicheren Modulationen spielt: aber das Gemüth objectiv in die wirkliche
Welt des Lebens zu projiciren, hat er nur selten versucht. Daß er es steilich
vermochte, zeigt „Herrmann und^-Dorothea". Das deutsche Gemüth ist, wo
es nicht irre geleitet wird, ernst bis zum Argwohn, nur dem Gläubigen gibt
es sich hin, aber diesem unbedingt. Freilich war Schiller nicht blos ein
Gläubiger im vollsten Sinne des Worts, sondern auch ein großer Dichter,
der Glaube allein würde es nicht thun.
Der nationalste Dichter der Deutschen ist nicht derjenige, der die mittel¬
alterlichen Rüstungen am deutlichsten malt, sondern derjenige, der den ethischen
Kern des Volkslebens am kräftigsten berührt. Man hat den Deutschen die
Fähigkeit zur Politik abgesprochen und bis jetzt haben sie sich freilich unge¬
schickt genug aus diesem Felde bewegt; sie können nicht anders handeln, als
aus vollem Gemüth heraus, im Zwange des Glaubens. Sich schnell in die
Zustände zu finden und nach ihnen das Maaß des Handelns zu nehmen, ist
ihre Sache nicht. Aber stellt ihrem Gemüth das Verhältniß des Guten zum
Bösen sinnlich, handgreiflich vor, daß sie sehen und glauben; schlagt die Saite
an, die in dem ganzen Pulsschlag ihres Herzens widerklingt, so wird es an
Muth, an Aufopferung und an Entschlossenheit nicht fehlen und es wird, im
Gegensatz zu den romanischen Völkern, die heute ein Haus aufrichten, um es
morgen einzurcißeu, jene zähe Ausdauer der bürgerlichen Arbeit hinzukommen,
die bereits Welttheile für die Kultur erobert hat. Auch dieser Gedanke, der
kein flüchtiger Traum, sondern ein unerschütterlicher Glaube ist, möge das
Ulrichs von Hütten Schriften herausgegeben von Eduard Böcking. Zweiter
Band. Briefe von 1521 bis 1525. Leipzig. Druck und Verlag von
B. G. Teubner, 1859.
Kaum ist es ein halbes Jahr her, daß das Erscheinen des ersten Bandes
der Böcking'schen Ausgabe von Huttens Werken uns erfreute, so beruhigt uns
schon die rasche Nachfolge des zweiten über den Fortgang des verdienstlichen
Unternehmens. Von dem Herausgeber wußten wir wol, daß er durch lang¬
sam gereifte Vorarbeiten zu ununterbrochener Fortsetzung desselben gerüstet
war: um so löblicher ist es, daß auch der Verleger durch die für den Buchhandel
nicht am wenigsten bedrohlichen Kriegs-Aspecten des vergangenen Sommers
sich nicht hat entmuthigen oder aufhalten lassen.
Wir erhalten nun in diesem zweiten Bande den Rest der Briefe von, an
und über Hütten, vom Jahr 1521 bis zu seinem Tode und beziehungsweise
noch über denselben hinaus; worunter bei dem weiten Sinne, in weichem der
Herausgeber den Begriff des Briefes faßt, mehrere ziemlich umfangreiche Send¬
schreiben. Streit- und Schutzfristen, wie Huttens Entschuldigung (S. 130—149)
Und Dxposwlatio mit Erasmus (S. 180—248 mit der deutschen Uebersetzung).
Nebst des letzteren Sxougm (Z. 2i'.5—324) enthalten sind. Ueber Hnttens Tod
hinaus theilt uns Böcking noch mit, was von namhaften Zeitgenossen, einem
Luther. Melanchthon, Erasmus, Justus Menius, Otto Brunscls. Eppcndorf
U. A. in verschiedenem Sinne über den Verstorbenen geurtheilt und verhandelt
worden ist; wozu endlich allerlei, zum Theil spätere Grabschriften. Epigramme
Und sonstige Notizen, nebst etlichen neueren Erkundigungen nach Huttenschen
Reliquien, kommen.
Die Einrichtung des Werkes ist dieselbe geblieben wie wir sie zum vorigen
Bande beschrieben haben, und unsrer dort ausgesprochenen Voraussetzung gc-
wnß macht eine chronologische Tabelle sämmtlicher in beiden Bänden enthal¬
tenen Stücke, mit Angabe des Schreibers, des Adressaten, des Ortes und Da¬
tums (bei Briefen; bei Schriften des Titels) und der Anfangsworte, den Be¬
schluß. Ein .außerdem beigegebencs alphabetisches Register sämmtlicher im
Inäex I)1Mogr»Meu8 verzeichneten Schriften und Sammlungen gehört theils
SU diesem InÄsx, theils gibt es zum Voraus an. in weichem Theile der Böcking-
lchen Ausgabe eine jede der dort aufgeführten Schriften Z" finden-sein wird,
^le den ersten Band ein Bildniß Huttens, so ziert diesen zweiten ein Fac¬
simile seiner schönen und ausdrucksvollen Handschrift: ein längerer Brief an
Beatus Rhenmms. in der frischen Siegesfreude unmittelbar nach dem Würt-
tembergischen Feldzuge geschrieben.
Ist in allen diesen Stücken die^von Böcking getroffene Einrichtung geradezu
als Muster zu empfehlen, so wollen wir doch einer kleinen Unbequemlichkeit,
die uns zufällig bei diesem Bande fühlbarer als bei dem früheren geworden
ist, hier zu gedenken um so weniger unterlassen, als es dem Herausgeber ein
Leichtes sein wird, sie bei den folgenden Bänden aus dem Wege zu räumen.
Die verschiedenen von ihm benützten Ausgaben, beziehungsweise Handschriften
der hier gesammelten Werke werden unter dem Texte, wo ihre Varianten an¬
geführt sind, in herkömmlicher Weise durch Buchstaben und Zahlen bezeichnet,
und dabei auf den Imlex didliogr^Mens verwiesen, wo dieselben des Näheren
beschrieben und gleichfalls nach Buchstaben und Zahlen geordnet sind. Will
ich also ein Stück in der Böckingschen Ausgabe mit Bedacht lesen, so schlage
ich die betreffende Nummer des bibliographischen Inäöx nach, um mich über
die Quellen zu unterrichten, aus denen der Herausgeber seinen Text hergestellt
hat; und da wäre es nun eine große Erleichterung sür das Gedächtniß, wenn
Zahlen und Buchstaben auf beiden Seiten dieselben wären. Z. B. wenn im
Index eine Handschrift unter eine Abschrift unter v, die ältesten Drucke un¬
ter 1, 2, 3, mehrere späteren Ausgaben unter 4 —ö, die Abdrücke bei Wagen¬
seil und Münch endlich unter 7 und 8 angeführt sind, so müßten sie unter
dem Text durch dieselben Ziffern bezeichnet sein. Nun findet es aber der
Herausgeber mit Recht nicht von allen Ausgaben der Mühe werth, ihre Va¬
rianten in den Noten zu berücksichtigen, und wenn auf diese Weise z. B. die
Nummern 4—V ausfallen, so läßt er 7 und 8 vorrücken, so daß es kommen
kann, daß etwa Münch, der im Index unter 8 stand, unter dem Text durch
5 bezeichnet ist. Das, wie gesagt, ist ebenso störend, als es leicht zu besei¬
tigen sein wird.
Manches Neue, das bisher entweder ungedruckt, oder an Orten gedruckt
war, wo es nicht leicht Jemand suchte, hat Böcking auch in diesem Bande
wieder ans Licht gebracht. Leicht das Merkwürdigste darunter dürften die aus
einer Mecklenburgischen Urkundensammlung entlehnten Actenstücke über Franz
des I. Bewerbung um die deutsche Krone sein, eröffnet durch ein Schreiben,
das Hütten von dem Augsburger Reichstage des Jahres 1513 aus im Auf¬
trage seines Herrn, des Kurfürsten von Mainz, an den französischen Geschäfts¬
träger, einen märkischen Edelmann, richtete (S. 477 ff.). Hier sehen w>r
recht in das schmähliche Treiben deutscher Fürsten hinein, bei denen die Krone
und das Wohl des Vaterlandes zur käuflichen Waare geworden waren-
8000 Livres jährlich war die Taxe für einen Kurfürsten, wofür mehrere der¬
selben sich dem Könige des feindlichen Nachbarvolkes ordentlich vermiethet
hatten. Unsere Fürsten waren es wahrhaftig nicht, durch welche das deutsche
Reich noch beinahe drei Jahrhunderte lang zusammengehalten worden ist. ^
In dem Briefe Veit Werlers an Pirckheimer. den Böcking aus Heumanns
Sammlung einrückt (S. 150), muß man sich wundern, wie er den gemüth¬
lichen Nachruf an den todtgesagten Hütten um den schönen Schluß verkürzen
Mochte: Meuiuiue sit, umwis illius kennen ne sine xonäere terrain oxto,
LpirÄntösyue eroeos et reliciua <iuas seciunutur. Nämlich bei Juvenal, Lat. VII,
V. 207 f.:
öl MÄM-um umbris kennen et sine xouäere terra-ur
Lxiiautesciue croeos et in urna xerpetuum ver.
Wie in der Zweckmäßigkeit der äußern Einrichtung, so steht auch in Ab¬
sicht auf die innere Gediegenheit der Arbeit dieser Band seinem Vorgänger
vollkommen gleich; ja er zeigt, wie uns bedünken will, des Herausgebers
Kenntniß noch erweitert, seine Sorgfalt geschürft, so daß dem Recensenten
nur eine magere Nachlese übrig geblieben ist.
Auch diesmal, wie schon zum vorigen Bande, möchte sich dieser an ver¬
schiedenen Stellen der Lesart der ältesten Drucke gegen Aenderungen des
Herausgebers annehmen. So lesen in Huttens Invective gegen die Cardinäle
Und Bischöfe zu Worms die beiden ältesten Ausgaben-, le ^in et äoeere vos
seiatis etiam, xuäet, et xessime vivei'e von xucket. Eine Abschrift unter
den Spalatinschen Papieren (in der Note bei Böcking unbequem durch 3 be¬
zeichnet, während sie im Index bidliograxlrieus unter L stand) läßt das zweite
et hinweg, und der Herausgeber folgt ihr, oder schlägt vor, et in at zu ver¬
wandeln (S. 25, Z. 1. 2 und die Note). Allein ein Thun das ein Lassen,
und ein Lassen das ein Thun sein sollte, als gleich verkehrt durch ein
doppeltes et zusammenzurücken, ist grade ächt lateinischer Sprachgebrauch, und
so scheint auch Hütten in dem von ihm selbst durchcorrigirten Exemplar der
Jnvcctiven sich wol gehütet zu haben, sie zu streichen; denn wenn das zweite,
dann müßte auch das erste et getilgt werden, wodurch die Lesart der Spala¬
tinschen Abschrift sich schon zum Voraus als Fehler verräth. Etwas weiter un¬
ten in derselben Schrift, wo des Apostels Paulus Verhalten zu Thessalonich
den jetzigen Priestern als Muster vorgehalten wird, hat die älteste Ausgabe:
(der Apostel versichere, evaugelium xr-reclieiwteiii se) uilril stuäio, avaritia,
^el inani gierig, ackmisissö. Spätere Ausgaben, und mit ihnen Böcking. le-
^n: stuäio avuritiae vel iuauis gloriae. Allein vergleichen wir die Stelle 1
^lese Zahl fehlt bei B.) Thess. II. s, so finden wir hier wie dort eine Drei¬
teilung: 1) ovre e», l.o/c-1 xo^.texit«s (bei Hütten kurz: uilril stuäio
^ a-Äilüsisse; stuäio, wie in dem Taciteischen sine irs. et stuäio); 2) vorn
^ "?o-,,«söll 7rA,!o?k^«s (Hütten: ÄVÄi-illa); 3) o^re ^roLvns 6ez ^0?w7rcop S^«>>
(Hütten: vel inani gloria). Diese Lesart würden wir selbst gegen eine eigne
spätere Correctur Huttens festhalten,' dew dann offenbar die ursprüngliche Be¬
gehung auf die apostolische Stelle entfallen gewesen sein müßte. — In seinem
Sendschreiben an Karl V. tadelt Hütten den Kaiser, daß er sich, statt mit
Kriegsmänncrn, mit Pfaffen umgebe. Er konnte, sagt er ihm, nahe gelegene
Beispiele davon beibringen, in welches Unheil diese Menschen oft unsere früheren
Fürsten hineingeführt haben, vt ostcmcköi'L, dumm ckcvLÄk ovtimo Mrö susvöeta
esse vobis Irorum oolisuötuclo. Hier liest Böcking gegen die beiden ältesten
Ausgaben nobis; da doch vobis, se. vrineixibus, einen ganz schicklichen Sinn
gibt. — So sehe ich auch keinen Grund, in der Stelle des Huttenschen Briefs
an Prugner (255, 16): litoiÄS Kisch xörkerenclaL ers-ac, statt Irises une zu
vermuthen, da jenes die Ueberbringer zu bezeichnen scheint, denen die Briefe
gleich mit auf den Rückweg gegeben werden sollten. — In seinem send'
schreiben an Crvtus führt Justus Menius dem ehemaligen Freunde zu Ge¬
müthe, es scheine ihm nicht wohlgethan, amon ejusmocki libellis aos te validis, - -
in xlÄLl^tionLM aimu'ulcmlÄM, in «iminÄtorkL lüiu'ain^lis tui, irulicis ducum
Kcere stucloZ. In den Worten: in vraekÄtionem am. vermuthet der Heraus¬
geber einen Schreib- oder Druckfehler und schlüge versuchsweise zier vrersÄ-
tionem vor (S. 459). Allein die bittre Borrede hatte ja nicht Crotus ge¬
schrieben, sondern über die von Luther zu Croßners Predigten geschriebene hatte
er sich in seiner ^xologia beschwert: diese war ein livLllug canus in vrÄölÄ-
tionem ÄMÄi'uIsuwm lLutlrM), in erimiiilltore» O^rüimiIiL (^.Iderti). —Der
lange Brief des Erasmus an Botzheim vom 1. Februar 1523 ist freilich in
der Gvldastischen Ausgabe von Pirckheimcrs Werken, wo er sich meines Wissen^
zum erstenmale findet, höchst fehlerhaft abgedruckt. Gleichwol möchte ich
dem Satze, S. 432, Z. 2L bei B., die Lesart bei Goldast weniger unrichtig
als die Böckingsche nennen. Eppcndors, heißt es hier, aus seine Entschuldigung
bei Erasmus wegen des Drucks der Lxvoötullttio bedacht, habe von Hütten
ein Schreiben beigebracht, in welchem dieser erklärte, liböllum rmncirmm oxi-
turum tuiLSö, si ZZxxlr. virruisskt com-lui«. Das abgekürzte Wort ergänzt
Böcking zu lÜWlrouckmiiius: allein es muß vielmehr L^xlrencloiM heißen: die
Schrift würde nie herausgekommen sein, wenn er (Hütten) Evvendorfs Rath'
schlügen gefolgt wäre. Nur so war Huttens Brief ein Entlnstungszengniß
für Eppendorf; da das Andere: wenn Eppendorf seinen (Huttens) Rathschlägen
gefolgt wäre, jenen vielmehr belastet haben würde. Den Satz zu Anfang der¬
selben Seite bezeichnet Böcking als I^u3 von sains, und vermuthet insbejon-
dere statt tetiAt, animum, amicum. Allein die Stelle ist vollkommen heil bis
auf etliche ungeschickte Interpunktionen. Man lese: ?an1o most ^0. Lot/ewus- >
saovo ruwore tvrritus Kuo g-eeurrodat « LouLtimtis.; ilieo tetigit aviwuw
^LC. meum^I, Iroe Ägi i^um die Abkaufung der Huttenschen LxxoLwlirti^-
LimuIli-tCUL lie-uit Loorsum eMocjui (ils.in L^vllo^^oipiuz . . vusciu-rin
aäerat Lor^oasuiu aZevL) roZo, nun es av causa poussee ete.'
Umgekehrt würde ich aber auch an verschiedenen Stellen die Lesart an
dern, wo Böcking nicht geändert, oder anders ändern als er geändert ha-
In Huttens Brief an Joachim von Maltzan (S. 478, 9) würde ich statt illuä
a<tiuwi-is ut literae reääanwr unbedenklich aänitaris lesen; in seinem Brief
an Luther (58, 19) statt sie me resxenZisse, te wenigstens vermuthen; S. 431. 34
statt vimliewm exnortare äedei-ent, wo Böcking i-eporwre bessert, exxeet^i-e
in den Text setzen, während ich S. 153. 12 den falschen Accent aus
der Schuler-Schulthcßschen Ausgabe von Zwinglis Werken nicht herüberge¬
nommen haben würde. In dem Sendschreiben des Justus Menius an Cro-
tus war des Olearius Verbesserung (S. 458. 19 B.): quaritum uevarum
^einen invexerint Lutlrerani, statt innexerint, dankbar anzunehmen, da für
Einführung neuer Sitten u. tgi. invelro ebenso das solenne Wort Wie m-
ucedo, einflechten. seltsam und unpassend ist; und wie leicht war die Verwechs¬
lung! S. 30, 24 xertmaeia, neeessariÄe statt -g., S. 479, 12 ut .. pei'äueere
statt -res und Aehnliches sind ohne Zweifel Druckfehler.
Auch seiner Pflicht als Erklärer ist der Herausgeber in diesem Bande wo
möglich mit noch mehr Emsigkeit und Genauigkeit als in dem vorigen nach¬
gekommen. Kein geschichtlicher Punkt von Erheblichkeit ist ohne Erläuterung,
kaum eine Anführung oder Anspielung ohne Nachweisung geblieben. Indeß,
wenn in Eobans Brief an Draco über Huttens Streit mit Erasmus bei den
Worten: nam unclique della,, Korriäa, bella, et Oel-g-in multo sxumantem
^nZuine cerro (254, 5 f.), wenn hier Böcking unter dem Texte bemerkt, Letz¬
teres sei ein Hexameter, so hätte er immerhin auch hinzusetzen mögen, woher
derselbe und der halbe vorher genommen sind, nämlich aus Vir^it. ^.en. VI,
86 f., wo die Sibylle sagt:
.... dolla,, Korriäk delik,
De Hi^brim multo sxumimtem s^nguino cerro.
Ebenso war zu den Worten des Menius (458. 22): kmtelzmltm Koe I.U-
Herano xliz^ramate sie kermentaretui- (Germania, auf das Paulinische:
^"i^>« ZXov rc> <,^«^« ^o?, 1 Kor. V, 0. Galat. V, 9, und auf die
dem Schreiber widerfahrene Verwechslung der Brodmasse mit dem Sauerteig
aufmerksam zu machen.
Zu Gerbels Worten: Ressenus Leoto nostro ete. (S. 379) würde der Heraus¬
geber schwerlich fragweise: Mbanus Hessus? in die Note gesetzt haben, wenn ihm
gegenwärtig gewesen wäre, daß ja Hessenus eben jenes ist. durch wel¬
ches einst Reuchlin den Beinamen Ressus gräcisirt. und woraus dann Eobans
Freunde dessen poetisches Königthum, die Quelle so vieler Scherze, hergeleitet
hatten. — Unter dem Romanus I>g.8<zMu8, dessen Freimüthigkeit in Deutsch¬
land zur Verspottung der Geistlichkeit nachzuahmen. Crotus seinen Freund
Hütten veranlaßt haben soll (Sendschreiben des I. Menius. S. 461, 10),
Möchten wir nicht mit Böcking den Dialog?asczuillus, sondern die I^squino
^nannte Bildsäule in Rom, an welche Spottschriften angeheftet zu werden
pflegten, als Unterredner und wol auch Verfasser von Satiren gedacht, verstehen.
— An einer andern Stelle müssen wir den Herausgeber der Verwechslung des
Gartens Gethsemane mit dem Paradiesgarten beschuldigen. Le tu secutus
es nraeclieatorein evanFelieum, schreibt Hütten an Justus Jonas nach Worms,
ut in Iwrto sis eum illo (56, 8), und Böcking setzt in die Note: Irorto, i. e.
og-r-icliso et'. I^ne. XXIII, 43 (die Worte Christi zum Schacher: Heute wirst
du mit mir im Paradiese sein). Allein, wenn noch in demselben Briefe Hüt¬
ten bedauert, daß den Crotus sein unseliges Erfurter Rectorat abgehalten
habe, <zuo minus et ixse eonjieeret se in orMdile cliserimen, und wenn
Eoban in einer Elegie, die uns der Herausgeber gleich auf der folgenden
Seite zu lesen gibt, den Jonas um eben jener Begleitung willen anredet:
^.usf xg,rs,ta, seizui velut in sug. eg.ta, rührten,
so ist klar, daß jener Garten, in welchem Jonas dem Herolde des Evange¬
liums zur Seite sein wollte, kein Paradies, sondern ein recht ausgesetzter, le¬
bensgefährlicher Posten war. So hat es auch der alte Uebersetzer in der
Walchischen Ausgabe von Luthers Werken. Th. XV, S. 195l. Johann Frick,
gefaßt, wenn er übersetzte: daß ihr mit ihm im Rosengarten euch befindet.
Allein solche Anspielung auf ein Glied der deutschen Heldensage wäre bei
Hütten ungewöhnlich, dessen Phantasie vielmehr in den Vorstellungen und
Bildern der classischen Welt, und soweit er mit der Reformation in Berüh¬
rung kam, der Bibel, sich bewegte. Als Luther gen Worms zog, um sich vor
Kaiser und Reich zu stellen, war die allgemeine Befürchtung seiner Anhänger,
dort werde der weltliche Arm sich seiner bemächtigen, gleichwie einst im Gar¬
ten Gethsemane des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet
ward: und dahin dem Nachfolger Christi gefolgt zu sein, hier ihn nicht, wie
dort die Jünger den Herrn, verlassen zu haben, das rechnet Hütten dem Jonas
als viewten/omni amore ciigmrm an.
Schon in unsrer Anzeige des ersten Bandes haben wir den Feuereifer
bemerklich gemacht, mit welchem Böcking für seinen Ritter an allen Wider¬
sachern desselben zum Ritter wird. Schon dort ahnten wir aus verschiedenen
Wettcrzeichen insbesondere für Erasmus den Ausbruch eines bösen Hagel¬
wetters in diesem zweiten Bande, der ja nun die Actenstücke des zwischen ihm
und Hütten geführten Streits enthält. Doch auch hierin, wie in manchen
andern Stücken, hat der Herausgeber unsre Erwartung übertroffen. Es ist
nichts Geringeres als ein moralischer Vernichtungskrieg, den er in diesem
Bande gegen Erasmus führt. Er stellt ihn als einen Menschen dar, dem
seine Gemächlichkeit und Eitelkeit über alles ging, der niemals Jemand ge'
liebt und verehrt hat als sich selbst, dem Lüge Gewohnheit. Falschheit andere
Natur war. Die mancherlei Schwächen und bedenklichen Fehler des Erasmus
verkenne ich schon deswegen nicht, weil sie unmöglich zu verkennen sind; aber
der Herausgeber möge sich einmal die Aufgabe stellen, aus -den moralischen
Factoren. die er an demselben übrig läßt (mag er an Talent so viel hinzu¬
thun als ihm beliebt), zu erklären, was Erasmus gewesen ist und geleistet
hat, ob die Rechnung herauskommen wird. Indeß, in eine Würdigung des
Charakters von Erasmus einzugehen und die Einseitigkeit der Böckingschen
Betrachtungsweise aufzuzeigen, ist hier unsres Amtes nicht; wol aber das,
zur überflüssigen Bestätigung des Satzes, daß Leidenschaft nie gut thut, nach¬
zuweisen, wie den Herausgeber sein Widerwille gegen Erasmus mehrfach in
seinem eigenen Berufe als Erklärer irre geführt, gegen den zu Tage liegenden
Sinn mancher Stellen verblendet hat. Erasmus schreibt einmal an Pirckheimer:
Dursrv uostio giawlor- ex animo: äignus sse artikex, <mi imm<ZMM mo-
riawr-. . . Aos eoäem in MW tuimus, mal» ex r-6 niliili irg,to: xerssn-
tiedam -mimo voluxts-tem <Mg,liai>.in, yuoä ox Iioe turdulsiitissimo sseulo
vUMg,turn8 essöm Llrristum (S. 251 f.). Diese Stelle findet Böcking wo
nicht verdorben, doch dunkel, und mag dem Erasmischcn Hohn oder Selvst-
whm, der darin stecke, gar nicht weiter nachgehen. Und nun, was ist es?
Erasmus wünscht dem großen Maler, einem Künstler, der billig gar nicht
sterblich sein sollte. Glück zur Wiederherstellung seiner Gesundheit; er selbst
habe einst an dem gleichen Uebel gelitte», das aus einem geringfügigen An¬
laß entstanden gewesen und lebensmüde, wie er längst sei, habe er sich
Ichor seiner bevorstehenden Auflösung gefreut. In der That, hier ist nirgends
^n Dunkel, außer im Auge des Herausgebers, und nirgends ein Uebelwollen
in seiner Gesinnung gegen Erasmus.
Besonders in der Lxovgig. unterbricht der Herausgeber den Schriftsteller
alle Augenblicke mit feindseligen Zwischenreden. „Wahrhaft Erasmisch, aber
">ehe wahr! Boshafte Verdrehung von Huttens Worten! Schon wieder
Selbstlob! So einfältig bist du nicht, Erasmus, daß das dein Ernst sein
könnte!" so geht es sort bis zu dem Nachruf am Schlüsse: Leus vais, niAM
^rg,8lui>. Leider geschieht diesem hiermit nicht selten nur sein Recht. Bis¬
weilen aber doch auch das Gegentheil. Einmal erinnert er Hütten an seinen
^Uef für den Kurfürsten von Mainz, den er ihm einst als Einschluß geschickt,
"«d den Hütten, statt denselben, wie ihm freigestellt war, entweder zu über¬
leben oder zu cassiren, indiscreterweise hatte drucken lassen (S. meine Biogr.
huttens II, S. 280 s.). Dabei bedient er sich des Ausdrucks: er habe den
uef an Jemanden geschickt, <Mi imUi notivr est yug.in Kuttsno. Und in
Wendung, die in ironischer Rede so natürlich als alltäglich ist, findet
>ng eine eigenthümlich Eraomische Malice (LiÄ8mich rivn äiois: s,ä ipsum
Nulleran S. 311). Wo der bekanntlich früh gealterte Erasmus von der
grauen Haaren schuldigen Ehrfurcht spricht, wirft Böcking ein. er seikein
^ damals erst 56 Jahr alt gewesen (S. 273); ein andermal berechnet er,
er selbst, der Herausgeber, sei jetzt grade so alt wie Erasmus als er seine
Lxongi-i schrieb, ohne sich darum, wie dieser, einzubilden, daß das bloße Al¬
ter auch jammernde alte Weiber ehrwürdig mache (S. 316 f.). Kaum hat
Erasmus in dem famosen Brief an Laurinus ausgerufen: 0 Ms lzmarn
?Iig.Ig.MLS g.e Nöööirtios! (158. 27) als schon der Herausgeber in der Note
murrt, in ähnlicher Art winsele Erasmus wegen seiner Steiuschmerzen auch in
einem Brief an den Papst Adrian. Hier hatte er nämlich den ealeulus einen
1^rg,inn,3 lonAL Nöüsritio et ?Ka,Is.riÄs cruäelioi- genannt. Allein in der
Stelle des Briefs an Lnurin ist vom Stein gar nicht die Rede, noch wird
überhaupt über Krankheit geklagt. Im Gegentheil. Erasmus sagt, in einer
Zeit, da er so gesund wie lange nicht gewesen, haben seine Feinde ihn bald
an unheilbarem Fieber darni edcrliegen, bald vom Pferde stürzen und am
Schlagflusse sterben lassen, kurz ihm mehr und grausamere Todesarten ange¬
than als ein Phalaris und Mez meins ihm hätten anthun können. Und auf
diese Worte hin, die an eine ihm widerwärtige Stelle eines andern Briefs
anklingen, meint Böcking auch jetzt den Erasmus wieder über jene Krank¬
heit lamentiren zu hören.
Doch nicht allein von Seiten des Charakters tritt er diesem zu nahe,
auch als Gelehrten und Schriftsteller sucht er ihn möglichst herabzusetzen. Sein
Stil möge anmuthig sein, aber lateinisch sei er nicht (286); die Mangelhaf-
tigkeit seines geographischen Wissens eine bekannte Sache. Letzteres aus An¬
laß der allerdings irrigen Notiz, die Erasmus beibringt, Konstanz habe ehe¬
dem ZZrLMnwm geheißen; wo indessen, wenn ihm dies zur Last geschrieben
wurde, die Billigkeit crforder te. die anmuthige Schilderung der Bodenseeland-
schäst, die sich an derselben Stelle findet*), ihm gut zu schreiben: mit seinem
Verhalten gegen Hütten hängt ja Eines so wenig wie das Andere zusammen-
Was übrigens die Geographie der Vorzeit betrifft, so hatte wenige Seiten
vorher Böcking selbst den Beweis geliefert, wie in diesem Felde auch der
Gelehrteste leicht irre gehen kann. Er nennt dort Wiesensteig. woher cui Brief
Veit Werlers datirt ist. ein Städtchen im Ulmischen Territorium (S. 151).
Allein Wiesensteig gehörte niemals zum Ulmischem Gebiete, sondern um jene
Zelt den Grafen von Helfenstein, mit deren einem wahrscheinlich ebendamals
Werter jene Jagdritte in den Waldgebirgen umher machte, die er in dem
Brief an Pirckheimer so launig schildert.
Zum Schlüsse kann ich dem Leser die angenehme Mittheilung machen,
daß bereits am vierten Bande von Huttens Werken gedruckt wird, und daß
in diesem für die deutscheu Bestandtheile die allzu kleine Frakiurschrift mit
einer größern vertauscht sein wird. Der vierte Theil wurde nämlich vor dem
dritten in Angriff genommen, um nach den Briefen, als nach der biographi¬
schen Einleitung, die Leser gleich zu den Dialogen, und damit in den Mittel¬
punkt und Kern von Huttens schriftstellerischer Thätigkeit einzuführen. Bon
den Huttenschcn Dialogen wird gleichzeitig mit dem Original eine neue Ueber-
setzung erscheinen, mit deren Ausarbeitung ich so eben beschäftigt bin. Der
Deutsche soll seinen Hütten lesen tonnen, wie er seinen Luther und seinen
Wenn man das ziemlich umfangreiche Material unbefangen prüft, wel¬
kes die commissarisch-deputatischen und andern Behandlungen (erstere zwischen
Verordneten der Ritterschaft, der Binnenstädte ster Landschaft) und der Stadt
^vstock angestellt) zu Tage gefördert haben, so gelangt man zu der Ueber¬
zeugung, daß eine Einigung hauptsächlich deshalb gescheitert ist, weil die Par-
^'vierten durchaus das Problem lösen wollten, eine Besteuerung aufzufinden.
^ für die Betheiligten eine möglichst geringe Last sei und die zugleich mög¬
est auf dem von den Contrahenten vertretenen Principe hier der directen.
dort der indirecten Besteuerung allein beruhe. Der erste Wunsch ist allerdings
ein sehr berechtigter, der zweite beruht aus den innersten Verhältnissen des
Landes. Man erkennt aber doch, daß bei jenen Verhandlungen weit mehr
das Interesse der Verpflichteten, als das staatliche berücksichtigt wurde, wenig¬
stens daß eine Unterordnung des ersteren unter das letztere nicht stattfand,
ferner daß bei der Wahrung des principiellen Standpunktes ohne wesentliche
Zugeständnisse ein Conflict mit den Grundbedingungen einer vernünftigen,
zeitgemäßen Besteuerung stattfinden mußte. AIs diese Grundbedingungen
wurden schon erwähnt einmal das Verschmelzen der verschiedenen persönlichen
Interessen zum Gesammtinteresse des Landes, sodann die Vereinigung directer
und indirecter Erhebungen zum geordneten Systeme.
Die Ritterschaft Mecklenburgs nun ist unbedingt für rein directe Be¬
steuerung, hat sich der indirecten von jeher lebhaft widersetzt und ist deshalb
zwar der Aufhebung oder Umänderung aller jetzt bestehenden indirecten Abga¬
ben nicht entgegen, will dieselben aber nicht durch neue indirecte Abgaben,
am wenigsten wenn sie von größerer Ausdehnung als bisher sein sollen,
ersetzt haben. Es streitet hiergegen theils ihr eigenes Interesse, da, wie wir
gezeigt haben, dasselbe bei dem bestehenden Abgabensysteme eine, nach ihrer
Ansicht natürlich berechtigte Berücksichtigung erfährt. Ferner glaubt sie auch
im Interesse ihrer Untergebenen zu handeln, welche nach unserer Darlegung
ebenfalls beziehungsweise gering belastet sind, und es ist nicht zu leugnen,
daß die Rücksicht auf letztere einen gewissen Zwang auf die Ritterschaft aus¬
üben muß. Endlich ist auch nicht selten eine wahre und aufrichtige Ueber¬
zeugung von dem Vortheile rein directer Abgaben mit im Spiele. Dagegen
ist sie durchaus im Irrthum, wenn sie behauptet, daß eine rein directe
Besteuerung den Staatsbedürfnissen genüge, ja daß sie überhaupt consequent
durchzuführen sei; denn es wird hierbei übersehen, daß jede directe Besteue¬
rung derjenigen Personen, welche irgend einen Handel treiben oder irgend ein
Handwerk üben, factisch immer und ewig eine indirecte sein wird und muß.
Das Princip directer Besteuerung aller Staatsbürger ist thatsächlich unmög¬
lich, oder man erkenne von Anfang an allerlei Exemtionen als nothwendig an.
Wie soll z. B. die reine Einkommensteuer, dem Principe nach eine treffliche
Abgabe, den Reichen richtig treffen, dessen Einkommen nicht zu controliren
ist? Wie soll die gleichfalls principiell richtige Abgabe vom Grundbesitze, von
Gärten, Aeckern. Vieh u. s. w. in der Weise auferlegt werden, daß sie den
steuernden genügend trifft, da sie sich unmöglich dem wirklichen Ertrage,
vielmehr immer nur einer äußeren Schätzung anpassen kann? Annähernde
Steuern sind hier aber nicht genügend und indirecte Abgaben werden zu einer
möglichst gleichmäßigen Belastung immer nothwendig sein.
Die directe Besteuerung wahrt allerdings ganz besonders den Vortheil
des wohlhabenderen Theiles der ländlichen Bevölkerung, zumal der Land¬
wirthe. Der Gutsbesitzer, der Pächter fühlt sich nur leicht belastet, besonders
wenn ihm. wie gegenwärtig, eine von Abgaben freie Einfuhr seiner Con-
sumtionsartikel gestattet ist. Erstreckt sich diese auch ans solche Gegenstände,
welche ihm zum guten Betriebe der Landwirthschaft förderlich oder nothwen¬
dig sind (Eisen, Salz, Guano u. s. w.), so muß diese Erleichterung noth¬
wendig auf die Untergebenen zurückwirken, sei es direct durch höhere Lohnzahl¬
ung, sei es indirect durch vermehrte Arbeit und Verbesserung des Grund¬
besitzes. Dagegen wird schon eine leichte Belastung sich fühlbar machen, ja,
eine hohe Belastung kann, bei dem gewöhnlich großen Umfange der hiesigen
Tüter. in Zeiten des Geldmangels sehr drückend, sogar gefährlich werden.
Die letztere Betrachtung ist geeignet, den Gedanken eines Anschlusses an den
Zollverein entschieden von der Hand weisen zu lassen, da in diesem die er¬
wähnten Artikel für Mecklenburg durchaus zu hoch belastet sind. Das so ent¬
stehende Mißverhältniß läßt sich zwar wahrscheinlich auflösen, aber es wirkt
doch für den Augenblick feindlich durch die Bevölkerung des Landes, welche in
der Landwirthschaft ihren allgemeinen Mittelpunkt hat. Und so wird denn
"und von Seiten der an die Landwirthschaft zunächst gebundenen Ritterschaft
Widerstand gegen indirecte Abgaben von irgend erheblicher Bedeutung er-
^ärljch; denn darüber darf man sich keinen illusorischen Ansichten hingeben.
^ ist gewiß, daß die Folge derselben und ihrer gleichmäßigen Bertheilung
^>'se eine beiweitem größere Belastung aller dem ritterschaftlichen Theile des
lindes zugehörigen Personen sein wird. Wir wollen uidcssen hiermit nicht
/hauptet haben, daß diese materielle Seite aus der Einführung bedeutenderer
Wdirccter Abgaben die Ritterschaft (Gutsbesitzer) zum Widerstande gegen solche
^uptsnchljch oder gar allein führe. Die Bereitwilligkeit zu größeren person-
'chen Leistungen herrscht gerade zumeist in diesen Kreisen, ebenso der Wunsch-
^d die Bereitwilligkeit, die Härten und Unbilligkeiten der bestehenden Ver¬
hältnisse zu mildern und zu beseitigen.
Der Widerstand gegen indirecte Steuern und demnächst gegen den An-
) uß Mecklenburgs an den deutschen Zollverein geht von Seiten der Ritter-
^le hauptsächlich aus ganz anderen Gründen hervor, und diese Gründe
'versprechen auch Allem, was einen späteren Anschluß allmälig anzubahnen
^Ural sein könnte. Das Zollvereinssystem würde unserer Ansicht nach dem Wohle
Landes dann erst angemessen sein, wenn der hiesigen Landwirthschaft zu
ih^ sicheren Betriebe diejenigen Erleichterungen zu Theil würden, welche
^ Nothwendig sind. Dahin gehören u. A. erleichterte Einfuhr von Eisen.
Malt der Salzsteuer u. A.. worauf wir später zurückkommen werden. Wir
lich"^" die ganze finanzielle Frage, welche obschwebt, aber von einem gänz-
parteilosen Standpunkte aus, wie es sich gebührt, wenn sie endlich ein-
mal zu voller Klarheit gebracht werden soll. Nicht so die Ritterschaft; sie
siebt — wie wir zugestehen können. von ihrem Standpunkte aus mit Recht
— durch solchen Anschluß ihre Stellung, ihre staatliche Bedeutung in hohem
Grade afficirt. Theils würden, indem sich ohne Zweifel Fabriken bildeten,
die ländlichen, wie alle Arbeiter des Landes in einigem Maße selbstständiger
werden, das „patriarchalische Verhältniß zwischen Herrn und Leuten", worauf
man so großes Gewicht legt, sich lockern, theils würden die Gutsbesitzer selbst,
indem sie zur Anlage von Fabriken verschiedener Art schritten, einer Staats-
controle unterliegen, kurz, das alte „heilige", „von Alters her" bestehende
Patrimonialwesen würde einen bedeutenden Bruch erleiden und — Kio lilwckis,
Ille salta! Die Ritterschaft in ihrem adeligen Theile, (auch einige bürger¬
liche Individuen) in ihr wird dem Anschlusse Mecklenburgs an den Zollvereine
niemals freiwillig zustimmen, weil sie dadurch den ersten Schritt zu ihrer
factischen Auflösung thun würde. Das ist unvermeidlich, das muß sich jeder
Freund des Zollvereins und Jeder, welcher die Einführung eines parlamen¬
tarischen Systems wünscht, klar machen, wie es die Ritterschaft thut, und
das zeigt dem liberalen Theile der Gutsbesitzer, beiläufig gesagt, den Weg
zur Erreichung ihres Zieles. „Die mecklenburgische Verfassung ist mit dem
principialiter geltenden sogenannten directen Abgabensysteme auf das Innigste
verwachsen", so daß sie durch die Einführung eines indirecten Systems ge-
schwächt resp, aufgelöst würde. Denn ihre Kraft beruht „auf der immer neu zu
gewährenden Bewilligung genau zu berechnender Steuern", d. h. mit anderen
Worten darauf, daß die Ritter- und Landschaft dem Staate die jedesmal nöthigen
Summen immer erst bewilligen muß und ihn so von sich in Abhängigkeit erhält.
Handelt es sich um eine Reform der mecklenburgischen Abgaben, so liegt
dem Blicke der Anschluß an den Zollverein selbstverständlich am nächsten-
Deshalb mußten wir hier zeigen, wie die Ritterschaft während sie die Pflicht
gegen das Land zu jener treibt, durch die Rücksicht der Selbsterhaltung von diesen'
abgemahnt wird. Dadurch entsteht natürlich ein Conflict und die Frage: Huicl
inne? Diese aber hat man nun aus der Mitte der Ritterschaft durch den Entwurf
eines Erhebungssystems zu lösen versucht, welchen man ohne unsere Vorgänge
Darlegung jedenfalls mißversteh» würde, wie sofort gezeigt werden soll. Man
hat nämlich vorgeschlagen, „die bisherigen directen Abgaben (Personal-. Grund-,
Einkommen-, Häusersteuer) beizubehalten, die bisherigen indirecten aber weg'
fallen zu lassen und dafür einen Grenzzoll einzurichten, dessen Höhe so genus
sei, daß sie nicht zur Defraude locke, aber doch die erforderliche Auskunft decke -
Dies Project liegt nun seit fast.einem Decennium als offene Frage da. Ueber se'^
nen ersten Theil, die Beibehaltung der directen Abgaben, einigten sich die C^'
missarien leicht, ebenso über die Nothwendigkeit des Wegfalles der indirecten
Abgaben. Der Grenzzoll aber, dessen Höhe anfänglich zu V.- Thlr. von 1^
dem Centner der Einfuhr vorgeschlagen war, machte Schwierigkeiten, da sich
die Auskunft aus ihm als viel zu gering erwies. Die Ritterschaft gab dem¬
zufolge zu einem Zolle von V° Thlr. pro Centner, neben welchem die Kauf-
Mannschaft des ganzen Landes eine Klassensteuer von 100—120,000 Thlr.
aufbringen solle, ihre Zustimmung; aber auch dieser schien den Deputirten
der Städte zu gering, die Last für die Kaufmannschaft daneben zu bedeutend,
und so beantragten sie V» Thlr. pro Centner bei freier Einfuhr solcher Waaren,
welche diese Summe nicht würden tragen können, dazu Wegfall jener Klassen¬
steuer der Kaufleute. Hierüber ist nun bis heute eine Einigung nicht erzielt,
da die ritterschaftlichen Commissarien ihre weitere Betheiligung ablehnten.
Sie erblickten, wie das Diarium der betreffenden Verhandlungen sagt, in dem
Vorschlage von V» Thlr. pro Centner das Bestreben, diesen Eingangszoll
nicht sowol zu einem Mittel zur Aushülfe, als vielmehr zu einem Mittel zur
Ablösung aller bisherigen Zölle und Steuern, auch der directen, zu machen."
Betrachtet man nun dies Project genauer, bedenkt man die Controle,
welche durch solchen Eingaugszoll, sollte er nicht völlig illusorisch bleiben, noth¬
wendig wäre; berücksichtigt man die dadurch dauernd geschaffene Absperrung
eines kleinen Staates, wie Mecklenburg, und die ungeheure Gefahr, im
Falle irgend welche eintretende Verhältnisse eine Störung des Handels zur
Folge haben würden, so muß man gestehen, daß das Scheitern des vor¬
gelegten Projectes nicht zu bedauern ist. Wir sagen, es sei nicht zu be¬
dauern, weil die Befürchtung nahe liegt, daß eine so kostspielige, in sich un¬
haltbare Absperrung des Landes dies dem Zollvereine zwingend in die Arme
führen muß. Trotz aller Wünsche sür den Anschluß aber kann man nicht
loca solchen das Wort reden, der bedingungslos und ohne die für Mecklen¬
burg wünschenswerthen Rücksichten geschehen würde. Einer der tüchtigsten
Staatsmänner sagt von diesem Projecte: „Die Absperrung Mecklenburgs durch
^ne eigene Zollgrenze würde so viele und so große Uebelstände in ihrem Ge-
h°lge haben, ohne wesentlichen Nutzen zu leisten, daß sie auf irgend eine
Weise bald wieder wurde beseitigt werden müssen."
Bei dem Vorschlage zur Einführung des Grenzzolles handelte es sich, wie
^n' oben gezeigt, um eine Aufbringung von ca 193,000 Thlr.*) Ein Zoll von
12 öd/»-) pro Centner würde, wenn die Gesammteinsuhr, mit Ausschluß einiger
nothwendig freien Gegenstände (Eisen, Bauholz, Salz u. s. w.) und mit Ein¬
schluß der jetzt defraudirten Einfuhr, so wie der von Zoll befreiten Einfuhr
der Nichtkaufleute ze., in ungefährer Schätzung zu höchstens 1,200.000 Celten.
veranschlagt würde, den Betrag ergeben von 300.000 Thlr.
Hierzu würde die Classensteuer der Kaufleute zu rechnen sein, welche aber
mit 10» bis 120.000 Thlr. zu hochgegriffen ist. In beiden Fällen würde die
Auskunft, wenn sie sich in der berechneten Weise gestalten würde, (s. u.) frei¬
lich genügen, und dieser Umstand erweckt dem betreffenden Projecte mehr Freunde
als wünschenswert!) ist. Hinsichtlich der Ansätze ist zu bemerken, daß die Ein¬
fuhrsumme sehr hoch ist, daß dagegen die Erhebungskosten bisher, so weit
nicht die Magistrate die Auskunft leiten, 27°/o betragen, und infolge der Bei¬
behaltung oder Pensionirung jetziger, so wie der Anstellung neuer Beamten
einen höhern Betrag für die erste Zeit gewiß machen. Uebrigens ist es auch
euie allgemeine Ansicht, daß die Bewachung der verhältnißmäßig sehr langen
Grenze von fast 50, mit Einschluß von M. Strelitz von 60 Meilen, sehr
theuer sein werde.
Der Handelsstand wünscht in seinem Interesse einen möglichst freien in¬
nern Verkehr, ein möglichst indirectes Abgabcnsystcm und Zollerhebung an der
Grenze. Daß er diesen Weg einschlagen muß, um sich mit Erfolg zu kräftigen
und einem fernern Sinken vorzubeugen, hat sich aus dem ersten Theil dieser
Abhandlung ergeben. Seine nächste Aufgabe ist dahin zu streben, daß die
Zollerhebung an der Grenze und in solcher Höhe stattfinde, daß einer weitem
Einführung directer Steuern vorgebeugt werde. Er muß auf Befreiung des
innern und Transitoverkehrs dringen, dahingegen die ihm von den ritterschaft-
lichen Commissarien zugewiesene Classensteuer von 100—120.000 Thlr. gänZ'
lieh ablehnen. Es würde, wie sich aus dem Diarium der commissarischen
Verhandlungen ergibt, eine solche die bedeutendsten Handlungshäuser Rostocks
mit einer Summe von 1600 Thlr. jährlich belasten. Daß diese ihnen aber
nicht angesonnen werden kann, liegt auf der Hand, und geschähe es, so würde
die Folge sein, daß einzelne Firmen ihre Handlungen niederlegten, andere sich
vereinigten u. s. w. Dadurch würde die Auskunft der Steuer gleich wieder
in Frage gestellt; es entstände ein Ausfall, der entweder zur Wiedereinführung
eben beseitigter Steuern oder zur Erhöhung der Grenzzölle führte, also das
nach sich zöge, was man grade vermeiden wollte. ' Man erkennt,- daß
Aenderung der bestehenden Verhältnisse, welche nicht zur radicalen Abhilfe der
Beschwerungen führt, mindestens für die Dauer ohne Bortheil ist. Wir glauben
auch, daß sich aus dem bisher Gesagten von selbst ergibt, wie das Project
eines Grenzzolles von höchstens Vs Thlr. pro Celten. sür Mecklenburg in sich
unhaltbar sein müsse.
Legte man dagegen, unter Beibehaltung der obrngcnannten directen
-Steuern, dem Lande einen Grcnzzoll von V» Thlr. pro Celten. auf, so würde
der innere Verkehr wahrscheinlich den hiesigen Seehäfen fast gänzlich zufallen
und eme Befreiung.desselben möglich sein. Hierdurch würde Hamburg einen
sehr bedeutenden Markt verlieren, den an andrer Stelle wieder zu gewinnen,
es mit Sicherheit dem Zollverein sich anschließen würde. Geschähe aber dies,
so würde Mecklenburg auf jeglichen Durchfuhrhandel von nennenswerther Er¬
heblichkeit verzichten müssen, und doch hofft man und strebt man nach einem
solchen mit aller Kraft. Aber das isolirte Mecklenburg würde bald in eine
Läge gerathen, deren Schilderung wir nicht zu geben brauchen. da es nur zu
ersichtlich ist. daß die Konsumtion des kleinen Landes für den Handel mit im¬
mer noch bedeutenden disponiblen Capitalien für die Nhederei, sür die In¬
dustriellen aller Art u. s. w. nicht genügt. -Db man das Land von einer
Seite dahin führen möchte, bleibe dahingestellt; wenn aber der Verfasser bei
häufiger persönlicher Rücksprache mit roslvcker Kaufleuten die Behauptung
ausspvechen hörte, daß bei der Einrichtung eines Grenzzolles von V» Thlr.
pro Celten. ein Anschluß an den Zollverein „nicht nöthig sei, weil Mecklen¬
burg sin- sich bestehen könne." so läßt sich das nur dadurch erklären, daß man
die wahrscheinlichen Folgen hiervon nicht genügend erwogen hat oder, ver¬
zweifelnd unter dem Druck des Bestehenden, nach der ersten besten Abhilfe
S^ist. DÄzu kommt dann, daß das Grenzzollproject auf dem Pap'.er doch
immer die erforderliche Summe nachweist, und vielleicht hegt man auch die
Hoffnung, daß es nur ein Uebergang sein werde. Und ein solcher könnte es
Kanz entschieden nur sein; denn Mecklenburg kann eben nicht für sich bestehn.
Schon der Connex mit Hamburg weist dies nach, wenn man erwägt, daß legeres
seinen Anschluß an den Zollverein bisher deshalb ablehnte, weil es Rück¬
sicht auf Mecklenburg nehmen mußte. — Lübeck ist jetzt in Allem so ziem¬
lich mit Wismar und Rostock in gleicher Lage, seine Kaufleute sind hinsichtlich
Steuer im Lande den mecklenburgischen gleichgestellt, während auswärtige
Kaufleute sonst eine höhere Steuer entrichten; durch die Einführung eines
^'euzzvlles kommt es in die Lage Hamburgs.
Wir haben bei der Besprechung dieses Grenzzollprojectes länger verweilt,
^dens weil dasselbe mit allerlei Modificationen immer von Neuem wieder auf¬
sucht und dadurch die bestehenden Zustände in die Länge zieht (welche wir —
^tausig erwähnt — jenem durchaus vorziehen, weil sie endlich und in nicht
""ger Zeit doch Besserem weichen müssen), theils weil wir fürchten, daß auf
seiner Basis demnächst eine Vereinbarung zu Stande kommt. Hat doch kürz¬
lich sogar ein hoher Steuerbeamtcr dasselbe vertheidigt, womit er freilich nur be¬
wies, daß er nicht über die Einnnhmcsummen auf dem Papier hinaus zu
sehen vermag, aber dennoch ein verführendes Beispiel gab. Wenn nun
weiter ein förmlicher Grenzzolltarif für Mecklenburg ausgearbeitet ist (aus
welchem wir einzelne Ansähe nach dem Ares. s. Landest. 18S9 S. 469 hier
geben: pro Zollcentn. von 100 Pfd. entrichten: Kaffee ZK öd.. Raffinade
24 öd., Rohzucker 8 öd., Syrup 4 öd., fabric. Rauchtabak 2 Thlr.. Blätter¬
tabak 1 Thlr., Cigarren und Schnupftabak 4 Thlr., Reis 4 öd., Stangcn-
eisen 2 öd., Talg 12 öd.. Salz 2 öd.. Bier 12 öd., Glaswaaren 2 Thlr..
Seiden- und Wollenwaaren 4 Thlr. u. s. w.), so ist in dieser Abgabe
in rein siscalischer Hinsicht — abgesehen also von den Verfassungsver¬
hältnissen — doch nichts anderes zu erkennen, als eine Modifikation des
Zollvereinstarifs, der, wenn man das Präcipuum und die jetzt wahrscheinlich
zu erreichenden Erleichterungen in der Einfuhr bestimmter Artikel mit veran¬
schlagt, annähernd das gleiche Resultat geben würde. Aber dies annähernd
gleiche Resultat würde Mecklenburg in diesem Fall nur durch eine theure Grcnz-
bewachnng, durch seine Jsolirung und deren Folgen erreichen, wofür man
dann freilich die Genugthuung hätte, die Verfassung für den Augenblick ge¬
rettet zu haben. — Es ist uns gradezu unbegreiflich, wie der auf einer treff¬
lichen Basis, Capital und Nhcderei. ruhende Handel den Gedanken eines Grcnz-
abschlusses zu fassen vermag in einer Zeit, wo überall der Handel seine Netze
über die ganze Welt zu spinnen strebt. Er dürfte solches bald bitter bereuen. —
Die Reform der mecklenburgischen Abgabenverhältnisse dreht sich um die
Punkte, welche wir hier hervorgehoben haben. Gegenwärtig steht demnach
Dreierlei zur Frage, nämlich
1) Die Beibehaltung des Bestehenden, welches drückend und unzweck¬
mäßig ist,
2. die Modification desselben vermittelst eines fiscalischen Grenzzolles,
dessen Höhe noch unentschieden ist. und
3. Der Anschluß an den deutschen Zollverein.
Ein Viertes ist nicht wohl denkbar. Wir haben die ersten beiden Punkte
der Betrachtung unterzogen und werden jetzt auch die Eventualitäten des letz¬
tem berücksichtigen müssen. Dies soll im Nachstehenden geschehen, wobei wir
vorläufig das noch hervorheben, daß bei unsrer Untersuchung einzig die finan¬
ziellen Verhältnisse berücksichtigt werden sollen, um welche es sich hier allein
handeln kann.
Als am 20. April 1792 Ludwig der Sechzehnte an Oestreich hatte den
Krieg erklären müssen, machten die Franzosen mit der Armee Rochambeau's
einen Einfall in das heutige Belgien (welches bekanntlich damals Oestreich
gehörte), um dem Angriffe der Koalition zuvorzukommen. Dieser Einfall ward
von den Oestreichern unter dem Herzog von Sachsen-Tesche» ohne Müh? ab¬
gewiesen. Bei Valenciennes wurden die Trümmer der französischen Armee
gesammelt und nun ernstere Anstalten getroffen, um sich dem Angriffe der
Koalition, welcher sich schou vorbereitete, zu widersetzen. Die Alliirten hatten,
um die Entscheidung gegen das revolutionäre Frankreich zu suchen, das nieder¬
rheinische Kriegstheater gewählt. Die Hauptarmee unter dem Herzog von
Braunschweig, K4000 Manu stark, sollte vou Coblenz über Thionville, Verdun.
Chalons direct auf Paris losgehen; ihre rechte Flanke sollten 15000 Oestreicher
unter Clerfayt, gleichzeitig von Luxemburg vorrückend decken; auf dem äußersten
rechten Flügel sollte der Herzog von Sachsen-Teschen von Mons ans mit
25000 Manu die französische Nordgrenze überschreiten, um hier französische
Streitkräfte festzuhalten und zu beschäftige,,, ebenso sollte auf dem linken Flügel
der Fürst Hohenlohe über Germersheim mit 18000 Maun aus Landau gehen.
Dieses letztere Corps was das einzige, welches auf dem oberrheinischen Kriegs¬
theater wenigstens seine Operationen beginnen sollte. Nachdem es aber Lan-
dau eingeschlossen hätte, sollte es mit seinem Gros gleichfalls aus das nieder¬
rheinische Kriegstheater zur Hauptarmee rechts abmarschiren. Von französischer
Seite konnten diesem Angriffe begegnen: erstens die Armee des Centrums
unter Luckner. welche das Elsas; aus dem rechten Flügel besetzt hielt und auf
dem linken im Lager von Fontoy bei Thionville etwa 20,000 Mann zu¬
sammen hatte, also grade auf der Operationsliuie des Herzogs vou Braun¬
schweig; dann die Nordarmee, von welcher 25,000 Mann unter Lafciyette bei
Sedan. 8000 unter Dubouquet bei Maubeuge und 10.000 nnter Veurnonville
Lilie standen. Vorausgesetzt, daß der Herzog von Braunschweig schnell
vordrang, brauchte er nur Luckner bei Fontoy entschieden zu schlagen und
sub dann sofort rechts zu wenden, um auch die einzelnen bei sedem.
Maubeuge. Lille aufgestellten Corps eines nach dem andern zu schlagen und
d"um auf Paris zu marscknen. Aber ein rasches Vordringen war allerdings
dem alten Verpstegungsweseu und bei den überdies noch schleckt getroffenen
Anstalten schwierig. Die für die Hauptarmee gewählte Operationslinie, welche
blos geometrisch betrachtet höchst vortheilhaft erscheint, hatte übrigens bei
jeder Art der Verpflegung den großen und sehr zu beachtenden Nachtheil, daß
sie durch wenig fruchtbares und reiches Land führte. Der Herzog von Braun¬
schweig brach am 15. Juli 1792 von Coblenz auf, erreichte am 25 Juli die
französische Grenze, erließ hier sein berüchtigtes Manifest und, vertrieb am
19. August Luckner. der sich auf Metz zurückzog, aus dem Lager von Fontoy.
Von Coblenz bis Fontoy find in grader Linie zwanzig Meilen, vom 15. Juli
bis 19. August Z5 Tage — die Franzosen hatten alle Aussicht Zeit zu gewinnen.
In der That machte der Herzog von Braunschweig nun erst Halt, um die
Festung Longwy auf seiner rechten Flanke wegzunehmen, welche am 24. August
cavit»tiree, darauf marschirte er auf Lerdun, das er am 2. September nahm.
Der Fürst Hohenlohe hatte am 8. August Landau eingeschlossen und ward
nun mit seinem Corps nach Thionville herangezogen, um diesen Platz zu be¬
lagern. Clerfayt, der mit dem Borrücken Braunschweigs gleichzeitig aus dem
Luxemburgischen vorgegangen war, schloß mit einem Theil seines Corps Mont-
mcdy ein, ging mit dem Nest nach Stenay vor und schob seine Avantgarde
ans linke Maasufer. Am 2. September waren also nicht blos Clerfayt,
sondern auch der Herzog von Braunschweig mit der Hauptarmee solide an
der Maas postirt. Doch vom 15. Juli bis zum 2. September sind schon
49 Tage. In der französischen Armee hatten die ersten Schritte der Alliirten
eine ziemliche Desorganisation hervorgebracht; doch der Zeitgewinn hatte Ge¬
legenheit gegeben, diese in ihren schädlichsten Wirkungen zu überwinden. Das
Manifest des Herzogs von Braunschweig hatte zu Paris am 10. August den
Sturm der Tuilerien und den Beschluß der Suspension des Königs zur Folge.
Der unbedeutende Lafayette, der immer nur daran dachte, eine Rolle zu spielen,
und den seine Eitelkeit trotz tausend Enttäuschungen immer wieder verführte,
zu glauben, daß er es auf jede ihm beliebige Weise könne, verließ darauf
seine Armee, um in Paris für Ludwig den Sechzehnten zu wirken, und floh,
da ihm dies nicht gelang, zu den Verbündeten. Vom 10. August ab waren
daher die Truppen bei Sedan und mit ihnen die andern Corps der Nord¬
armee ohne Oberbefehl. Als Clerfayt bei Stenay erschien verließ das Corps
von Sedan nach dem Rufe: wir sind umgangen! der allen jungen Truppen
geläufig und gefährlich ist, seine Stellung und war am 20. August nicht
blos in vollem Rückzug, sondern in wahrer Flucht auf den Straßen nach
Rheims und Chalons. als Dumouriez. an Lafayettes Stelle zum Oberbefehls¬
haber der Nordarmee und sämmtlicher Streitkräfte an der Nordostgrenze er¬
nannt, von Paris aus ihm begegnete, es sammelte und nach Sedan zurück¬
führte, wo er am 25. August eintraf. Hier kam bald die Nachricht von dem
Vorgehen des Herzogs von Braunschweig auf Verdun an und bestimmte Du-
mouriez, durch einen Rechtsabmarsch die Stellung in den Argonnen, an der
Aire. zwischen Clermont und Croix aux Bois zu gewinnen, um sich in diesem
schwierigen Terrain dem Herzog von Braunschweig direct gegenüberzustellen.
Am 31. August ließ er deßhalb die Vortruppen Clersayts bei Stenay hinter
die Maas zurückwerfen und stand am 4. September in seiner neuen Stellung.
Um sich in dieser möglichst zu verstärken hatte er an seine detachirten
Unterbefehlshaber verschiedene Befehle erlassen. Dubouquet und Beurnonville
sollten dem Herzog von Sachsen-Teschen das Feld an der Nordgrenze bis auf
die Fcstungsbesatzungcn frei geben. Dubouquet mußte mit seiner verfügbaren
Mannschaft nach le Chine populeux marschiren, um hier den äußersten linken
Flügel der Argonncnstellung einzunehmen. Beurnonville ward nach Chalons
an der Marne berufen, um hier den Kern einer Reserve für die Argonnen¬
stellung zu bilden. Kellermann, der 25.000 Mann der Armee des Centrums bei
Toul gesammelt hatte, mußte, um diese Reserve zu verstärken, nach Vitry an
der Marne zurückgehen. Da der Herzog von Braunschweig nach der Ein¬
nahme von Verdun noch mehrere Tage mit Recognoscirungen hinbrachte,
durch welche er absolut nichts Neues erfuhr, so konnten die Franzosen ihre
Neuen Stellungen ganz ungehindert einnehmen. Endlich entschloß sich der
Herzog von Braunschweig die linke Flanke der Argonncnstellung Dumouriezs.
welche schwach besetzt war, zu umgehen. Clerfayt mußte demgemäß von Ste¬
nay vorrücken und bemächtigte sich am 13. September des Postens Croix
aux bois. Nun ließ der Herzog von Braunschweig der Front von Dumou¬
riezs Argonnenstellung nur 6000 Hessen bei Verdun gegenüber und marschirte
Mit seiner Hauptmacht über Grand P>6 auf Vouziers an der Aisne. Er
vereinigte sich auf diese Weise mit Clerfayt und stand nun mit bedeutenden
Kräften in der linken Flanke der Macht Dumouriezs. Dubouquet, der sich
bei le CH6ne populeux durch den Verlust des Postens von Croix aux bois
vollständig von Dumouriez isolirt sah. ging sofort gegen Chalons zurück.
Am 18. und 19. September marschirte der Herzog von Braunschweig von
Vouziers auf Somme Tourbe und Somme Bionne. Nach seinen Erfahrungen
bis jetzt mochte er annehmen, daß dieser Marsch Dumouriez zum sofortigen
Aufgeben der Argonnenstellung. die ja durch ihn umgangen war, bestimmen
Werde. Indessen beschloß Dumouriez in der Argonncnstellung zu bleiben und
^ auf eine Schlacht ankommen zu lassen. Er concentrirte vom 14. bis t6.
September nicht blos die Truppen, über welche er unmittelbar verfügte, bei
Se. Menehould. er rief auch Beurnonville von Chalons und Kellermann von
Vitry eben dahin. Braunschweig gewann mit seinem äußersten rechten Flügel
cun 20. September Morgens von Somme Bionne und Somme Tourbe aus
d'e Straße von Se. Menehould noch Chnlons und nahm den Anlauf zu ei-
U°M Angriffe, bei welchem er zwischen der französischen Armee und Paris
stand. Wäre dieser Angriff entschieden durchgeführt worden und wäre er ge¬
glückt, so würde die französische Armee, von ihren natürlichen Nückzugspunkten
abgedrängt, gegen den Rhein hin getrieben und völliger Vernichtung Preis ge¬
geben worden sein. Indessen blieb es bei dein Anlauf. Die strategische Umgehung
hatte das Resultat, welches man von ihr erwartete, Rückzug Dumouriezs auf
Chalons und Paris nicht gehabt; die Schlacht, welche nun das gründlichere
Resultat: Zurückdrängen der Franzosen gegen den Rhein, haben konnte, ward
nicht geliefert, sie blieb in dem Stadium einer unfruchtbaren Kanonade, welche
in der Kriegsgeschichte unter dem Namen der Kanonade von Valmy bekannt
ist. Nach derselben blieb alles vorerst beim Alten. Doch gab der Nichterfolg
dem französischen Oberbefehlshaber das Recht, Unterhandlungen anzuknüpfen,
welche die Wiederherstellung der königlichen Macht im ^Hintergründe sehen
ließen, mit denen es ihm aber jetzt sicherlich nicht Ernst war, welche in¬
dessen der Zwiespalt zwischen den östreichischen und preußischen Führern, Repräsen¬
tanten des politischen Dualismus, zu eurem vortrefflichen Resultate führte. Als
Custine, der am Oberrhein 15,000 Mann gesammelt hatte, mit diesen Landau
entsetzte, am 30. September Speyer nahm und nun den Rhein abwärts auf
Mainz vordrang, da schloß der Herzog von Braunschweig alsbald mit dem
Revolutivnsgeneral eine Convention ab. welche ihm gestattete, wenigstens un-
belästigt von feindlichen Truppen, wenn auch nicht von Hunger und Krank¬
heiten, von letzteren namentlich in Folge der miserabeln Bekleidung der Sol¬
daten, an den Rhein auf Coblenz zurückzugehen.
Dieser Feldzug von 1792 spiegelt alle spätern wieder ab, welche die Deut¬
schen gegen Frankreich führten, sofern sie dabei nicht entschieden glücklich waren.
Er sollte einmal der heute lebenden Generation genauer und mit besonderer
Berücksichtigung des damaligen Verhältnisses zwischen Preußen und Oestreich vor¬
geführt werden. Am 20. September 1792 war der Nationalconvent zu Pa¬
ris zusammengetreten. Er traf seine Maßregeln sogleich mit jener Kraft und
mit jenem instinktiven Scharfblick, den nur Thoren ihm absprechen können-
Nur Kellermann mit der sogenannten Moselarmee sollte den Preußen folgen,
um sie, die vorerst ungefährlichen, zu beobachten; dagegen wurden drei Armeen
gegen die östreichischen Niederlande in Bewegung gesetzt. Labourdonnaye,
der im Verein mit dem von Dumouriez entsendeten Beurnonville am 8. October
Lille, welches der Herzog von SachscmTcschen seit dem 29. September belagerte,
entsetzt, sollte mit 18000 Mann der Nordarmee, an der Scheide abwärts
operiren; Dumouriez mit der Armee von Belgien. 45,000 Mann, an der
Sambre, Valence mit der Ardennenarmee, 15,000 Mann, an der Maas vor¬
gehen. Die eigenthümliche Stellung der beiden deutschen Großmächte hatte
es schon jetzt den Franzosen möglich gemacht, den Kampf der Hauptsache nach
zu ihren Gunsten zu localisiren. Das,Zcrsplitterungssystem der östreichischen Gen^
rale, welche, wie gewöhnlich, alles festhalten wollten, um dann alles zu verlieren,
bewirkte, daß die Oestreichs bei Jemappes vor Mons am 6. November der
Armee von Dumouriez nicht mehr als 14000 M. entgegenstellen konnten.
Nach Verlust der Schlacht von Jemappes wichen die Oestreicher hinter die Noer
und Erst, gegen Cöln zurück, mit ihrem äußersten linken Flügel unter dem Fürsten
Hohenlohe von Thionville hinter die Saar. Dumouriez folgte der östreichischen
Hauptarmee bis an die Noer, auf dem rechten Flügel der Franzosen ging Beurnon-
ville, nunmehr Chef der Moselarmee, Hohenlohe folgend gegen die Saar vor.
Custine drang über Speier weiter nordwärts und besehe die Bischofsstadt
Mainz, welche ihm ohne Widerstand überliefert ward, am 22. Oktober; von
dort warf er ein Detachement nach Frankfurt. Dumouriez getraute sich, ins¬
besondere im Winter, nicht, seinen Sieg über die Noer hinaus gegen den
Rhein hin und vielleicht im Glücksfälle über diesen Fluß zu verfolgen, da
der Feind zumal noch immer die Linie des unteren Rheins — Holland —
besaß, von wo er in die linke Flanke und den Rücken der französischen Armee
auf deren Verbindungen vordrechen konnte. Dagegen schien es nützlich, daß
sich die Franzosen selbst Hollands bemächtigten, um jene mögliche Operativns-
linie dem Gegner zu nehmen und ihre eigne Basis gegen Deutschland zu erwei¬
tern, — und der Winter mit seinem Froste, welcher die Wasserhindernisse des
Landes aushob, schien gerade die rechte Zeit zu einem solchen Unternehmen.
Dumouriez ließ daher unter Valence an der Noer und unter Miranda
vor Mastricht zusammen 60000 M. stehn und brach mit 20000 M. in Hol¬
land ein, — am 17. Februar 1739. Da sich die Holländer den Franzosen
uicht abgeneigt zeigten, drang er glücklich vor.
Nun aber hatte die am 21. Jnnunr 1793 stattgefundene Hinrichtung
Ludwig des Sechzehnten der bereits gelockerten Koalition neue Kraft gege¬
ben und die Regierungen des ganzen übrigen Europa gegen Frankreich zu
den Waffen gerufen. Die alliirte Armee an der Erst, jetzt unter Coburg,
Ward aus 70000 M. gebracht; die preußische Armee unter dein Herzog von
Vraunschmeig, welche bei Coblenz ans rechte Rheinufer zurückgegangen war und
schon am 2. Dez. 1792 die Franzosen wieder aus Frankfurt vertrieben hatte,
concentrirte sich bei Bacharach; eine dritte Armee unter Wurmser, 30000 M.
stark, ward auf dem oberrheinischen Kriegstheater bei Heidelberg znsammen-
LezogM. Holländer und Engländer schickten sich an, etwaige glückliche Ope¬
rationen der Armee Coburgs zu unterstützen und um der Seeküste entlang in
Frankreich einzufallen. Anfangs Mürz eröffnete Coburg seine Operationen
von der Erst her. Die Franzosen unter Vnlence räumten ihre Stellungen an
der Noer, ohne auch nur Widerstand zu versuchen, und flohen in einem Striche
bis nach Löwen; da mußte Dumouriez sein glücklich begonnenes Unternehmen
^»in Holland aufgeben. Er eilte zur Armee, sammelte von dieser wieder
47000 M. und führte sie von Neuem vorwärts dem langsam nachgerückten
Coburg entgegen. Am 18. März kam es zur Schlacht von Neerwinden an
der Gerte. Dieselbe blieb unentschieden, doch war bei den Franzosen eine
solche Jndisciplin eingerissen, daß dies Dumouriez zum Rückzüge bestimmte,
den er zuerst aus Brüssel, dann aber, von den sich bei Antwerpen concentri-
renden Niederländern in der linken Flanke bedroht, auf Als und Conds an-
trat. Der Herzog von Braunschweig war unterdessen am 16. März aufs
linke Rheinufer bei Bacharach übergegangen und zog den Strom aufwärts,
während er zugleich durch ein rechtes Seitencorps unter Hohenlohe, die jetzt
unter Ligneville stehende französische Moselarmee an der Saar im Schach hal¬
ten ließ. Brnunschweig vertrieb Custine von der Nahe, hinderte ihn die Be¬
satzung von Mainz an sich zu ziehen und schloß diese Festung, welche auf dem
rechten Rheinufer schon blockirt war, nun auch auf dem linken ein. Während
seines Rückzuges nach der Schlacht von Neerwinden hatte Dumouriez mit
dem Herzog von Coburg Unterhandlungen angeknüpft, welche wol zuerst nur
darauf berechnet waren, diesen aufzuhalten, aber den französischen General
immer weiter führten, so daß er schließlich daran dachte, die Armee für die
Wiederherstellung des französischen Königthums zu bestimmen. Das mißlang
und Dumouriez konnte sich persönlich nur durch die Flucht in Coburgs Lager
retten. An seiner Stelle erhielt Dampierre das Commando über die gänzlich
desorganisirte. Armee an der Nordgrenze, welche im freien Felde kaum 40000
M. zählte, die überdies an der Grenze entlang in vier Lager zersplittert waren.
Die Langsamkeit der Verbündeten gab Dampierre Zeit, die Armee einiger¬
maßen zu organisiren. Die Armee unter Coburg an der französischen Nord¬
grenze zählte nach dem Einrücken der Holländer und Engländer in die Linie
über 140000 M. Trotz ihrer Ueberlegenheit beschlossen die Verbündeten nur
mit der höchsten Vorsicht zu Werke zu gehen. Das Centrum unter Coburg
sollte zuerst die Festungen Conds, Valenciennes, le Quesnoy, Landrecies und
Maubeuge erobern, während der rechte Flügel unter dem Herzog von Kork
und dem Prinzen von Oranien seine rechte Flanke an der Scheide gegen
Lille und 20000 M. unter Beaulieu an der Maas seine linke Flanke deckten.
Coburg belagerte zuerst Cord6 und deckte die Belagerung durch eine Stellung
südwärts Conds gegen Valenciennes. Dampierre machte am 30. April einen
Entsatzversuch; dieser ward abgeschlagen und Coburg ging nun selbst gegen das
Lager von Famars vor, wo es am 7. und 8. Mai zu Gefechten kam, die
siegreich für die Verbündeten ausfielen und in denen Dampierre blieb. Die
Franzosen flohen in das Cäsarslager zwischen Bouchain und Cambray, wo
sich 20000 M. versammelten, deren Commando, sowie das der übrigen Trup¬
pen an der Nordgrenze Custine übernahm. Coburg ließ nun auch Valencien¬
nes einschließen. Am 10. Juni siel Cord6, am 28 Valenciennes; Custine der
nichts gethan hatte, dies zu hindern, es freilich auch nicht gekonnt hatte, ward
abberufen, guillotinirt und' durch Kilmaine ersetzt. Coburg wollte nunmehr
le Quesnoy und Cambray belagern; dazu mußte er erst Kilmaine aus dem
Cäsarslager vertreiben. Dies sollte am 8. August geschehen. Aber Kilmaine
wich aus und marschirte nach dem Lager von Gavcrelle bei Arras ab. Co¬
burg folgte ihm nicht und begnügte sich le Quesnoy einzuschließen. Da Co-
burgs Fortschritte, wie man sieht, nicht sehr reißend waren und der ganze
rechte Flügel unter Uork während jener Zeit der Belagerungen eigentlich gar
nichts zu thun hatte, so beschloß die englische Regierung, sich bei dieser Ge¬
legenheit Dünkirchen von ihm erobern zu lassen. Dahin rückte Uork nun in
der letzten Hülste des August ab. Oranien erhielt dessen Verbindung mit Co¬
burg. Die Operationen des Herzogs von Braunschweig und Wurmsers, welche
wesentlich nicht mehr dem niederrheinischen Kriegstheater angehören, stehn
auch so wenig mit denen Coburgs in Verbindung, daß es hier genügt, zu
bemerken, wie am 22. Juli Mainz capitulirte und darauf Wurmser zur Ein¬
schließung Landaus schritt, während der Herzog von Braunschweig mit der
durch den Abzug von Truppen nach Polen erheblich geschwächten preußischen
Armee rechts von Wurmser zwischen der Glan und den Vogesen Stellung nahm.
LeQuesnoy siel am lo. September und Coburg ließ nun Maubeuge ein¬
schließen.
Unterdessen hatte sich im August der französische Nationalconvent zu dem
Beschlusse des Aufgebots in Masse aufgeschwungen und Carnot war an die
Spitze der Kriegsverwaltung getreten. Der Umschwung begann. Zuerst er¬
hielt Houchard das Commando über die Nordarmee und den Befehl mit con-
centrirter Macht die Abtheilungen der längs der ganzen Grenze zersplitterten
Verbündeten eine nach der andern anzugreifen. Houchard warf sich zuerst auf
Wallmvden, der bei Wormhoot die Belagerung von Dünkirchen deckte, zwang
ihn am 6. September zum Rückzug, schlug ihn dann am 7. bei Hondscoote,
veranlaßte dadurch York die Belagerung Dünkirchens aufzuheben, konnte ihn
aber nicht verhindern, dies in aller Ordnung zu thun. Nun wendete sich
Houchard gegen Oranien und schlug diesen am 13. bei Menin, ward aber
a»r 15. darauf von Beaulieu, der neuerdings von Coburg zur Verbindung
Zwischen ihm und Oranien aufgestellt war, unvermuthet bei Courtray ange-
fallen und in wilde Flucht geschlagen, die erst bei Lille eine Grenze fand.
Houchard wurde abberufen und durch Jourdan ersetzt. Letzterer erhielt Be¬
fehl zum Entsatz von Maubeuge. Nachdem Jourdan bei Gaverelle die ent-
wuthjgten Truppen gesammelt hatte, marschirte er auf Avesnes, wo er 40000
sammelte, und von wo er am 15. und 16. October die Stellung von Wat-
^'grief angriff, welche Coburg zur Deckung der Belagerung südwärts Mau-
^uge genommen hatte. Carnot erscheint persönlich bei der Armee Jourdans
und entscheidet durch seine Anordnungen die Schlacht von Wattignies für
die Franzosen. Maubeuge war entsetzt; aber freilH war weiter nichts erreicht,
da Jourdan bei seiner Schwache sich außer Stande sah, seinen Sieg zu ver¬
folgen und schlechtes Wetter außerdem bald jede Operation unmöglich machte.
Im Jahre 1 794 machte sich Coburg nun zunächst daran, die Belagerung der
Festungen fortzusetzen. Zuerst kam diesmal die Reihe an Lcmdrecies, welches
am 17. April der Prinz von Oranien mit 35000 M. einschloß, wahrend Aork
mit 35000 M. an der Selle und Coburg mit 33000 M. an der Sambre und
Helpe die Belagerung deckten. Clerfayt bei Tournay sicherte mit 30000 die
rechte, Kemnitz mit 25000 M. bei Grandreuz an der Sambre. zur Beobachtung
von Maubeuge die linke Flanke. Französischer Seits commandirte Pichegru
alle Truppen an der Nordgrenze, 180000 M. Sein rechter Flügel unter
Charbonnier, einschließlich der Besatzung von Maubeuge 50000 M. stark, die
sogenannte Ardennenarmce. stand Kaunitz und Coburg beobachtend gegenüber,
das Centrum 65000 M. zwischen Bouchain und Guise, der linke Flügel unter
Souham und Moreau zwischen Lille und Dünkirchen. Die Franzosen hatten
Befehl zum Angriff; die Versuche der Ardennenarmce und des Centrums aus
die Observationsstellung Coburgs vor Landrecies Ende April waren nicht
glücklich, Landrecies capitulirte am 30. April.
Aber unterdessen war Pichegrus linker Flügel unter Moreau und Souham
mit Erfolg gegen Clerfayt aufgetreten und dieser verlangte Verstärkungen.
Coburg 'sendete nach und nach solche ab, da er Landrecies genommen hatte,
und folgte ihnen selbst an die Scheide und Scarpe. Am 17. Mai sollte hier
eine Entscheidungsschlacht gegen den linken französischen Flügel geliefert wer¬
den. Allein anch Pichegru hatte Zeit gewonnen, seinen linken Flügel zu ver¬
stärken, der Plan der Verbündeten war ein sehr wcitausholendes Umfassen,
und die französischen Generale wußten seiner Ausführung zuvorzukommen.
So verlief sich die Schlacht von Tourcoing in eine Anzahl kleiner Gefechte, in
denen allen die Franzosen die Oberhand behielten, wodurch Coburg bestimmt
ward, sich in die verschanzte Stellung von Tournay zurückzuziehen. Der hier¬
durch kühn gewordene Pichegru versuchte nun einen Sturm auf das Lager
von Tournay. Dieser, am 22 Mai unternommen, ward allerdings von den
Verbündeten erfolgreich abgeschlagen; indessen da Coburg einmal ans jenem
gefährlichen Wege war, auf welchem man sich die Gesetze vom Feinde geben
läßt/ sie ihm nicht selber giebt, so wurde der Sieg nicht ausgenützt, und Co¬
burg folgte vielmehr dem Rufe um Hülfe, der ihm jetzt wieder von seinem
linken Flügel zuging. Hier hatte, nach mehrfachen vergeblichen Versuchen
Charbonnicrs, sich am linken Ufer der Sambre festzusetzen und das in den
Händen der Verbündeten befindliche Charleroi einzuschließen, Jourdan, mit
einem Theile der Moselarmee von der Mosel herbeigerufen, wo seine Gegen-
wart in Folge der Unthätigkeit der Preußen nicht nöthig schien, den Oberbe¬
fehl erhalten. Am 18.> Juni erst gelang es Jourdan das linke Sambreufer
zu gewinnen und Charleroi einzuschließen; zur Deckung der Belagerung nahm
er eine weitläufige Stellung mit fast 70000 M, am linken Sambreufer ein, Co¬
burg ließ Clerfayt und York bei Tcmrnay stehen. Er führt auf Kaunitzens
Hülferuf selbst ein Corps zu dessen Verstärkung, er vereinigt bei Nivelles
46000 M. und schreitet damit zum Angriffe auf Jourdan in einer Zersplitte¬
rung, die derjenigen Jourdans vor Charleroi völlig gleichkommt. Am 26 Juni
kommt es nun zur Schlacht von Fleurus (oder Charleroi); die überlegne Zahl ent¬
scheidet unter den erwähnten Umstünden natürlich für die Franzosen. Während
des Gefechtes erfährt Coburg überdies, daß schon um 25. Charleroi zu den
Franzosen übergegangen ist. Er ordnet nun den Rückzug seiner ganzen Armee
auf Brüssel und Löwen an. Hier theilt sich dieselbe in ihre Elemente. Co¬
burg mit 70000 M. geht auss rechte Maasufer zwischen Noermonde und Spri-
Mont zurück, legt den Oberbefehl nieder und übergilit ihn Clerfayt, der
Prinz von Oranien mit den Niederländern geht nach Gorkum, der Herzog von
Bork mit den englischen Truppen nach Herzogenbusch. Jourdan folgt Coburg
muss rechte Maasufcr. Pichegru rückt uach Turnhout, um Oranien und York zu
beobachten, Scheerer belagert die von den Verbündeten besetzten und einge¬
nommenen Festungen an der französischen Nordgrenze. Erst als diese zurück¬
erobert sind, führt er Jourdan seine Truppen zu. Nun beginnt dieser die Fort¬
setzung seines Angriffs; am 18. September zwingt er Clerfayt aus seiner
Cordonstellung an der Maas und Ourthe hinter die Roer zurückzugehen, in¬
dem er sich mit seiner Hauptmacht auf dessen äußerste linke Flanke wirft. Am
2> October greift er dann Clersayts neue Cordonstellung hinter der Noer an.
Ohne eigentliche Noth räumt Clerfayt in Folge der einzelnen hier gelieferten
Gefechte, die sehr mit Unrecht unter den Namen Schlacht von Aldenhoven zu¬
sammengefaßt werden, auch die Noerstellung und geht aufs rechte Rheinufer bei
Cöln und Bonn zurück. Gleichzeitig mit Jourdan hat auch Pichegru die
Operationen wieder aufgenommen. Der Herzog von York wird gezwungen
auf Grave zurückzuweichen und zieht sich uach Nymwegen zurück, als Cler¬
fayt seine Noerstellung aufgibt. Moreau. in Vertretung Pichegrus ließ am
November Nymwegen stürmen; der Herzog von York verlor dadurch die
Armee und übergab das Commando an Wallmoden. Der harte Winter
begünstigte die Fortschritte der Franzosen, Wallmvdcn ging nach Hannover
Muck. der Prinz von Oranien nach dem Haag und am 17. Januar 1795
^gte der Erbstatthalter seine Würde nieder und schiffte sich nach England ein.
Der Erfolg der Franzosen auf dem niederrheinischen Kriegstheater entschied
^gleich über das oberrheinische. Ende 1795 waren die Franzosen vollstem-.
d'g. im Besitz des linken Rheinufers.
Im Anfange des Jahres 1794 schied Preußen durch den Baseler Frieden
aus der Coalition wider Frankreich aus. Die Eintracht Deutschlands,
oder vielmehr die der souveränen Regierungen seiner Länder; denn an den
Völkerschaften hat es nie gelegen. — strahlte in unvergleichlichen Lichte-
Durch eine Demarcationslinie von Ostfriesland nach Duisburg, dann an dem
obern Main um Ansbach und Baireuth herum, das Erzgebirge entlang bis zM
Südostspitze Schlesiens ward Norddeutschland von Süddeutschland getrennt.
Mit jenem sollte Frieden sein; die Franzosen hatten es also erreicht, den
Krieg gegen Deutschland zu localisiren. Oestreich und Süddeutschland hatten
eine Armee von 97000 M. unter Clerfayt am Niederrhein von der Ruhr bis
zum Neckar. 87000 M. am Oberrhein. Gegenüber Clerfayt stand Jourdan
mit der Sambre- und Masarmce. 97000 M.. von Crefeld bis auf die Höhe
von Neuwied. gegenüber der Oberrheinarmee unter Pichegru die Mosel- und
Rheinarmee. 87000 M. Erst im Herbst wurden die Feindseligkeiten wieder
eröffnet. Jourdan ließ am 6, und 7. September seinen linken Flügel bei Un¬
dingen aufs rechte Rheinufer übergehen, den rechten Flügel Clerfayts den Nhci"
abwärts hinter die Sieg zurückdrängen, nun auch seine Hauptmacht bei Co>n
übergehen und mit seinem linken Flügel vereint die Oestreicher weiter hinter die
Lahn werfen. Als nun auch Jourdans rechter Flügel über den Rhein gegangen war,
wichen Clerfayts Untergenerale selbst hinter den Main zurück. Da kam Clel'
fayt selbst mit seinem rechten Flügel vom Neckar herbei und bestimmte, indem
er Jvurdnns linke Flanke und seinen Rücken bedrohte, diesen seine Hauptmacht
aufs linke Rheinufer zurückzuziehen. Jetzt ließ Clerfayt das Gros seiner Armee
an der Sieg stehen, marschirte selbst nach Mainz, ging hier in der Nacht vom
28. auf den 29. October aufs linke Rheinufer über, griff das französische Belage'
rungscorps vor Mainz an (von Pichegrus Armee) und schlug es glänzend-
Pichegrus Armee war durch diesen Erfolg auseinandergerissen. Clerfayt
wollte nun zuerst mit Wurmser vereint Pichegru gänzlich vernichten.
dessen war er durch Jourdan. welcher Clerfayts an der Nahe aufgestelltes
Observationscorps angriff, festgehalten und mußte an die Nahe noch Verstärkung
entsenden. Wurmser kam überdies erst am 22. November so weit, um den
Rhein überschreiten zu können. Unterdessen aber hatte Jourdan beträchtliche
Kruste an der Mosel entwickelt und Clerfayt warf sich zuerst auf diese. Jndew
er Jourdans rechten Flügel angriff, drohte er diesen gegen den Rhein hinz»'
drängen. Indessen gelang es den Franzosen, die Verbündeten aufzuhalten
und am 21 December endete vorerst ein Waffenstillstand die Feindseligkeiten-
Im Jahre 1796 äußert sich der Einfluß der Localisirung des Krieges
schon sehr entschieden zum Vortheile der Franzosen. Die französische Sambre-
und Maaßarmee unter Jourdan. 87,000 Mann, steht im Beginn des Jahres
am linken Ufer des Rheins und an der Nahe, von diesem Flusse abwärts
bis Düsseldorf; die Rhein- und Moselarme unter Moreau. 77.000 Mann
von Speier bis Straßburg. Zwischen beiden steht, nunmehr unter dem Erz¬
herzog Carl, die östreichische Niederrheinarmee, einschließlich der Besatzungen
v°n Mainz und Ehrenbreitenstein 90.000 Mann stark mit ihrem Haupttheil
"in linken Rheinufer zwischen der Nahe und dem Speyerbach. auf Mainz
^stützt. Am Oberrhein commandirt Wurmser zwischen Mannheim und Basel
80.000 Mann. Ehe am Rhein die Feindseligkeiten beginnen, muß Wurmser
wie 30.000 Mann nach Italien abmarschiren. UNI dort Bonapartes Fortschritten
Einhalt zu thun, und läßt nur 50.000 Mann unter Latour zurück. Nun erst
beginnen Jourdan und Moreau die Operationen. Jourdan geht wieder aufs
^este Rheinufer, gerade wie früher, indem er mit dem linken Flügel b«
Düsseldorf den Anfang macht und den rechten Flügel des Erzherzogs Carl
hinter die Lahn treibt. Der Erzherzog geht darauf sogleich aufs rechte Rheinufer
Zurück und wie Clerfayt im vorigen Jahre zwingt er Jourdan zum Rückzug.
Unterdessen aber hat Moreau bei Strnßburg den Rhein überschritten und
leitet sich zwischen diesem und dem Schwarzwald aus. Der Erzherzog läßt
40.000 Mann unter Wartensleben an der Sieg und Lahn gegen Jourdan
stehen und eilt mit einem Corps Latour zu Hülse. Am 10. Juli liefert er
Moreau die Schlacht vor Ettlingen oder Malsch. Er verliert sie und weicht jetzt
die obere Donau. Während dieser Zeit hat Jourdan wieder die Offensive
Segen Wartensleben ergriffen unb drängt denselben über Würzburg gegen
bie Raab zurück. Der Erzherzog liefert Moreau, der ihm gefolgt ist. die
Schlacht von Ncvesheim am 11. August. Diese entscheidet nichts, macht
"ber Moreau stutzig. Der Erzherzog läßt ihm nur 18,000 Mann unter La-
t°ur gegenüber und zieht mit dem Rest nordwärts Wartensleben zu Hülfe.
Diese Operation bestimmt Jourdan zu sofortigen Rückzug. Indessen macht
°r doch bei Würzburg Halt und weicht erst weiter an die Lahn, nachdem er
bei Würzburg am 3. September vom Erzherzog geschlagen ist. Auch von
Lahn vertrieben, muß Jourdan am 20. September hinter den Rhein bei
Düsseldorf zurückgehen. Auf die Nachricht von der Schlacht von Würzburg tritt
"Ach Moreau. obgleich er Latour geschlagen und hinter die Jsar getrieben
^. den Rückzug gegen den Schwarzwald an. Latour folgt ihm trotz seiner
schwache; bei Biberach macht Moreau Halt, bringt am 2. October seinem
schwachen Verfolger eine totale Niederlage bei. setzt dann aber den Rückzug
^t. Der Erzherzog eilt nach Jourdans Rückzug den Rhein aufwärts, ver-
^g aber nichts weiter zu bewirken, als daß er nach dein unentschiedenen
Hessen von Emmendingen und Schlingen Moreau zum Rückzug aufs linke
^heinufer bestimmt.
Spielt schon 1796 das niederrheinische Kriegstheater eine sehr nntcrge-
°^rede Rolle, so verwaiset es nun während der folgenden 14 Jahre fast
ganz. Immer entschiedener concentrirt sich der Kampf südwärts, dann unter
Napoleons Herrschaft über Frankreich, soweit er noch in Deutschland gefühlt
wird, mitten in dessen Herzen. Erst nach den Schlachten von Leipzig und
Hanau gelangte das niederrheinische Kriegstheater zu einer Bedeutung. I"
der Verfolgung Napoleons, welcher mit geringer Streitmacht auf das linke
Rheinufer zurückgelangte und sich darauf angewiesen sah, sein Heer ganz neu
zu organisiren, hatten die Verbündeten schon im November 1813 das rechte
User des Stromes erreicht, es trat aber in der weiteren Fortsetzung der Ope'
rationem ein Verzug ein und erst mit Beginn des Jahres 1814 wurden die¬
selben auf allen Punkten wieder kräftig aufgenommen. Nur im Norden sah
das Jahr 1813 noch ein Vorspiel. Bülow, dessen Armeecorps von der Nord'
armee Bernadottes in Hannover abgetrennt war, brach aus Hannover an
den Rhein auf. nahm am 22. November Duisburg, ließ Wesel einschließen
und rückte nun den Rhein am rechten Ufer abwärts in Holland ein. ^
stürmte Zütphen und Arnheim, drang bis Utrecht vor und bemächtigte sich
am 3. und 4. December des Bommeler Waard und der Waallinie, worauf ^
Gorkum und Herzogenbusch einschließen ließ. Die schwachen französischen Be¬
satzungen hatten ihn um so weniger aufhalten können, als die Bevölkerung-
der französischen Herrschaft müde, die Preußen mit offenen Armen aufnahm«
Auch Breda, Willemstadt und Gertruidenburg, welche die Franzosen heim Er¬
scheinen eines Streifcorps räumten, konnte Bülow schon in der ersten Hälfte
Decembers besetzen, Am 1. Januar 1314 standen 30,000 Mann unter Bülow
in Holland; 30,000 Russen waren unter Wintzingerode eben dahin im Marsä)
und zwei neuorganisirte Bundescorps sollten nachfolgen. Die schlesische Armee
unter Blücher, welche durch nachrückende Truppen auf 137,000 Mann gebracht
werden sollte, war in der Nacht zum 1. Januar bei Lahnstein, Caub und
Mannheim über den Rhein gegangen, er marschirte mit Zurücklassung
Corps vor Mainz, gegen Luxemburg, Thionvillc, Metz an die Saar und am
Nancy, von dort an die Aube nach Brienne, wo er am 26. Januar,
nur mit 28,000 Mann ankam. Die große böhmische Armee unter Schmal
zenberg. welche bis Ende Januar ans 202,000 Mann gebracht werden so^'
ging schon vom 20. December 1813 ab zwischen Selz und Schaffhaus^
über den Rhein und schwenkte um ihre rechte Flanke nach Frankreich
Um die Mitte des Januars hatte der verfügbare Hnupttheil der böhmisch"'
Armee das Plateau von Langres erreicht. Die Rücksicht auf ein beabsichtig
vereintes Handeln der schlesischen und böhmischen Armee entfernte auch d^
erstere vorläufig von dem niederrheinischen Kriegstheater, noch ehe der ^
zug eigentlich begonnen hatte. Denn Napoleons schwache Armeecorps ko>M
ten an den Grenzen den weitüberlegnen Verbündeten keinen Widerstand leisem
und Napoleon mußte sich beeilen seine ganze Kraft im Herzen des Landes
e°ncentriren. um hier vielleicht durch Ausschlagen nach verschiedenen Seiten
den Sieg noch an sich zu reißen.
Der Dualismus Oestreichs und Preußens trennte aber während des kur¬
zen Feldzugs wiederholt die beiden Armeen und näherte die schlesische dem
niederrheinischen Kriegstheater. So zuerst nach der Schlacht von Brienne.
"is Blücher seine Operation an der Marne abwärts eröffnete. In seinen ein¬
zelnen Corps von dem gegen ihn ausfallenden Napoleon geschlagen, mußte
diesmal Blücher auf Chalons zurückweichen. Als sich nun Napoleon gegen
Schwarzenberg wendete und dieser sich trotz seiner großen Armee nicht stark
genug fühlte, an der Seine allein den Franzosen zu stehen, folglich Blücher
herbeirief, vereinigte sich derselbe wirklich am 21. Februar wieder mit Schwar-
zenberg bei Mery. doch mir um ihn sogleich wieder zu verlassen, da trotz sei¬
ner Ankunft nichts gethan werden sollte. An der untern Marne, wohin Blü¬
cher wieder vorgedrungen war, konnte er sich acht halten, zumal Napoleon
seine Hauptmacht wiederum gegen ihn heranführte. Er wich hinter die Aisne
zurück und vereinigte sich hier mit den aus Holland herangekommen^ Corps
von Bülow und Wintzingerode. Bülow sammelte in den ersten Tagen des
Januar sein Corps bei Breda. Er hatte zu dieser Zeit zwei schwache fran¬
zösische Corps gegen sich, dasjenige von Maison bei Mecheln und das von
Macdonald. Letzterer, der beim Rückzüge NapoKons hinter den Rhein den
Befehl erhalten hatte, aus Besatzungen, Versprengten. Recruten ein Corps zu
bilden, dessen Formation indessen keine raschen Fortschritte machte, ward bei
^ülows glücklichem Vorgehen in Holland gleichfalls berufen, sich diesem gegen¬
überzustellen. Ehe sich aber Macdonald mit Maison vereinigen konnte, wurde
dieser von Bülow am 11. Januar bei Hoogstraten geschlagen und zum Rück¬
züge gezwungen. Bülow rückte darauf gegen das von Carnot vertheidigte
Antwerpen vor. welches er anfangs Februar vergeblich bombardirte. Von
hier aus marschirte er. durch nachrückende Bundestruppen abgelöst, auf Brüssel.
^° er am ,3. Februar einzog, und setzte sich dann zur Vereinigung mit
Blücher in Bewegung nach Frankreich, wo er am 3. März durch die Einnahme
Soissons dem Napoleon ausweichenden Blücher den Weg über die Aisne
"öfnete. Als nach den Schlachten von Craonne und Laon Napoleon sich noch
einmal gegen Schwarzenberg wendete, zog Blücher wiederum an die Marne,
^ dann der Entschluß des Marsches der vereinigten Armeen auf Paris veine
^ücksicht auf die Diversion in ihrem Rücken, welche Napoleon versuchte zur Reife
gedieh und von Erfolg gekrönt ward.
Während im Jahre 1814 das niederrheinische Kriegstheater solcher Ge-
^le nur eine untergeordnete Rolle spielt und vorherrschend nur einleitende
Bewegungen auf dasselbe fallen, wird im Jahre 1815 auf ihm die Entschei¬
ds gegeben. Denn alle Truppen, die am Oberrhein oder von diesem aus
operiren sollen, kommen erst an, als das Beste gethan ist. Nächst den Jahren
der ersten Ncvolutionsfeldzüge gehört daher das Jahr 1815 zu den wichtigsten
für die Geschichte dieses Kriegsschauplatzes: Auf die Kunde von Napoleons
Rückkehr nach Frankreich trafen die verbündeten Machte sofort Anstalten,
ihn anzugreifen. Eine Armee von 100,000 Engländern und Niederländern
unter Wellington sollte sich in Belgien sammeln, eine solche von 110,00"
Preußen und deutschen Bundestruppen unter Blücher am Niederrhein zwischen
Mosel und Maas; 380,000 Nüssen. Oestreich« und Deutsche waren für den Mittcl-
und Oberrhein, 60,000 Oestreicher und Piemontesen für Italien bestimmt-
Bis Ende Juni dachte man die Aufstellungen eingenommen zu haben, voM
1. Juni ab sollte sich dann alles concentrisch auf Paris in Bewegung setzen-
Jedoch war man nicht ohne Besorgnis?, das; Napoleon dem Angriff zuvor¬
kommen werde. Im April sammelte Wellington seine Armee in den Nieder¬
landen, Blücher am Niedcnhein. Anfangs Mai war die Armee Wellingtons
noch so schwach, daß sie unmöglich einem Stoße Napoleons allein widerstehen
konnte, und es ward daher^auf Ansuchen der niederländischen Regierung der
Einmarsch Blüchers in das östliche Belgien beschlossen, während Wellington
sich in dem westlichen Theil von Ostende bis Mons concentrirte. Links von
Wellington stand im Juni Blücher auf der Front von Charleroi bis Einen-
Für den Fall, daß Napoleon früher zum Angriff schritte als die Verbündeten,
war die Abrede getroffen, daß Blücher sich bei Sombreffe. Wellington be>
Als, Mons oder Braine le Comte concentrire, von welchen Concentrirungs'
punkten aus sie sich dann gegenseitig, der nicht Angegriffene dem Angegriffenen,
der schwächer Angegriffene dem stärker Angegriffenen beispringen wollten-
Napoleon hatte es wirklich auf Blücher und Wellington zuerst abgesehen und
dachte anch ihnen im Angriff zuvorzukommen. Er sammelte deshalb seu^
Hauptarmee anfangs Juni zwischen Maubeuge und Philippeville, etwa
110,000 M. Zunächst warf er sich nun am 15. Juni Morgens auf die Vor¬
posten Blüchers an der Sambre. Blücher concentrirte so viel von seiner Ar¬
mee als er konnte bei Sombreffe und Ligny, Napoleon folgte dahin mit seiner
Hauptmacht und am lo. kam es zur Schlacht von Ligny. Die Preußen
wurden geschlagen und Napoleon ordnete zu ihrer Verfolgung erst am
Grouchy mit 30,000 M. ab. Indessen in einer falschen Richtung. Die wahr¬
scheinliche Nückzugslinie für die Preußen, wenn man sie sich allein denkt, nM
allerdings über die Maas an den Rhein über Lüttich und Mastricht. Allein
Blücher hatte keinen andern Gedanken als die Vereinigung mit Wellington-
um mit diesem zusammen eine Schlacht zu gewinnen, welche doch endlich ent'
scheiden mußte und deren Verlust immer noch im schlimmsten Fall den Ruck"
zug an die untere Maas und den untern Rhein offen ließ. Deshalb zog. ^
sich nicht auf Mastricht und Lüttich. sondern aus Wawre an der Dyle zurück-
Grouchy, über Gcmbloux dirigirt, bemerkte erst am 18., daß er auf der fal¬
len Führte sei. er kehrte nun sogleich gegen Wawre um. kam aber zu spät
für die Entscheidung. Wellington hatte am 15. aus die ersten Nachrichten
von Napoleons Vorgehen zuerst die Concentrirung der Armee bei Brenne le
Comte angeordnet, auf weitere Nachrichten befahl er dann den Linksabmarschder Armee nach Nivcllcs. und der Herzog von Sachsen-Weimar ging aus eig¬
nem Antriebe nach Quatrebras und von da nach Frasne vor. um erstem
Straßenknoten zu decken, über welchen die nächste Verbindung zwischen ni°
velles und Sombreffe geht. Am 15. Abends von der Avantgarde des linken
französischen Flügels, der im Lauf des Tags unter Ney gestellt war. bei Frasne
""gegriffen, mußte der Herzog von Sachsen-Weimar aufQuatrebras zurückweichen.
Am 16. aber hielten hier die Verbündeten unter dem Prinzen von Oranien
Wit ihrer Avantgarde den linken französischen Flügel den ganzen Tag auf;
s" daß Wellington seine Armee bei Genappe concentriren konnte. Als der¬
selbe aber die Nachricht vom Verlust der Schlacht von Ligny erhielt, trat er
u°es in der Nacht vom 16. auf den 17. den Rückzug an und nahm erst bei
Mont Se. Jean von neuem Stellung. Napoleon, nachdem er Grouchy detachirt
hatte, marschirte am 17. Mittags zur Unterstützung Neys von Ligny nach
Quatrebras-ab und folgte hieraus Wellington aus Mont Se. Jean. Am 18.
Soff er dann die Stellung Wellingtons an. konnte ihrer aber bis zum Abend
Nicht Herr werden. Blücher hatte unterdessen am 18. Morgens 3 Armeecorps
zwei Colonnen von Wawre auf Planchenoit und Me. Se. Jean zur Unter-
Nutzung Wellingtons aufbrechen lassen, während nur ein Corps bei Wawre
Mückblieb. um Grouchy. salls dieser umkehrte, aufzuhalten. Die linke preu¬
ßische Colonne unter Bülow erschien zuerst in Napoleons rechter Flanke und
Sriff von 4 Uhr Nachmittags ab in den Kampf ein; von 6 Uhr ab konnte
zum entscheidenden Angriff schreiten. Um ? Uhr erschien auch die Spitze
der rechten preußischen Colonne unter Ziethen auf dem Schlachtfelds und setzte
^ auf Wellingtons linken Flügel. Napoleon, in der Front von überlegnen
Massen bedroht, von Bülow in der rechten Flanke und im Rücken kräftig au¬
fpackt, konnte nicht länger widerstehen. Die energische Verfolgung der Preu-
W verwandelte den Rückzug vom Schlachtfeld von Belleallicmce vollends in
°we wilde Flucht. Grouchy hatte zwar am 18. und 19. das preußische Cor^ps
b" Wawre zum Rückzug gezwungen, aber die Kunde von der Niederl
age Na-
V°le°us zwang ihn seinerseits zu weichen. Er ging über Namur nach Smssons
7 die Linie der Aisne zurück, um hier mit 50.000 M-. die nur etwa zu
s°wmeln dachte, neuen Widerstand zu versuchen. Blücher, von Wellington
^s°lgt. zog über Se. Quentin am rechten Ufer der Oise abwärts, umguig
?'n 27. J^i die Aisnelinie über Compiegne. ehe der Widerstand organr-
^ wen, und folgte nun dem weichenden Grouchy aus Paris, welches am
"°*
3. Juli capitulirte. Vor den Festungen an der Nordgrenze hatten sich die
Verbündeten nicht aufhalten lassen; sie ließen nur einzelne Abtheilungen zu
deren Beobachtung und schließlicher Belagerung zurück, während sie zu gleich"
Zeit die Entscheidung auf dem Punkte suchten, wo sie lag. Hiermit schließt
die neuere Geschichte des niederrheinischen Kricgstheciters wenigstens sür die
Verhältnisse ab. welche wir im Auge haben. Der Befreiungskampf der Belgier
und der mit ihnen verbündeten Franzosen gegen Holland kommt für uns nicht
in Betracht. Wir werden im Folgenden mehrfache Gelegenheit haben, uns
auf die vorstehende historische Zusammenstellung zu beziehen.
Nachdem die Frage der deutschen Einheit einmal wieder vor das Forum der
öffentlichen Meinung getreten ist, versteht es sich von selbst, daß es an wohlmeinenden
Rathgebern nicht fehlt, die nach ihrem besten Wissen ein allgemeines Heilmittel se>-
die Schäden Deutschlands ersinnen und zu der schleunigen Anwendung desselben
rathen. So viel wir bemerkt, gehen in der letzten Zeit diese Rathgeber Hauptfach"
lich aus der großdeutschcn Partei hervor. Einer derselben („Reformen der deutsche
Bundesacte" von, Notar Schübler, Stuttgart bei Reff), der weiter nichts ist al
ein Echo der süddeutschen Antipathie gegen Preußen, spricht sich kurz und resolut
aus- Einführung der absoluten Majorität ^im Bundestage, Vertretung'der einzel¬
nen Landstände bei demselben, da Oestreich doch wol die Gefälligkeit haben wird,
zum Behuf derselben Landstände einzuführen, und Ausdehnung der Befugnisse des
Rundes über alle möglichen Dinge. Ein anonymer Schriftsteller („Ausführbare Vor¬
schläge zu einer Reform der deutschen Bundesverfassung", Leipzig, I. I. Weber), der, wen«
man nach seiner Vorliebe für die bayrische Großmacht urtheilen darf, ein Bayer ist, S")
gründlicher zu Werke. Er vermeidet außerdem jede gehässige Polemik und macht den,Ein¬
druck eines Mannes, dem es ernsthaft um die Sache zu thun ist. Er beginnt mit cimr
wissenschaftlichen Untersuchung über die Natur der deutschen Bundesacte, und korn»
zu dem Resultat, daß der deutsche Bund nicht ein Staatcnlmnd, sondern ein Bundes
Staat ist. So interessant diese Untersuchung in wissenschaftlicher Beziehung ^
mag, für die practische Anwendung wäre sie allenfalls zu umgehen, um so und^
da der Verfasser, der die Form des Bundesstaats beizubehalten gedenkt, dessen u«-
geachtet sehr weitgreifende Veränderungen sowohl in Bezug auf den Territorw ^
stand als auf die Bundesverfassung in Aussicht stellt. Was den ersten Punkt betrifft, l"
v-rlangt er vor allen Dingen die Aufnahme sämmtlicher Besitzungen Oestreichs
und Preußens in den deutschen Bund, ebenso die Einverleibung Schleswigs-, da¬
gegen will er Limburg und Vaduz als zweideutige oder unnütze Bundesglieder aus
d°in Bunde entfernen. Ueber alle übrigen Punkte ließe sich streiten. die Hauptsache
'se die Aufnahme der östreichischen Länder. ..Der Einwand, daß Deutschland
dann in alle östreichischen Händel und Verwickelungen mit hineingezogen werden wurde.
wiederlegt sich dadurch, daß es factisch schon der Fall ist. Wir haben nicht mehr
-n fürchten, in die östreichischen Händel verwickelt zu werden, sondern wir und
°s. wie dies schon die bloße Kriegserklärung Oestreichs an Sardinien Ende April
dieses Jcchrcs bewiesen hat. wo die Erklärung mit einem Schlag Tausende ihres
Vermögens beraubte. ein Bankrott dem andern folgte. Industrie und Handel ston
standen. Ja nickt blos Deutschland, sondern ganz Europa wurde dadurch in die
größte Unruhe und Aufregung versetzt; so sehr sind jetzt die Interessen aller Lander
durch Industrie, Handel, Staatspapiere. Credit. Eisenbahnen und Telegraphen ver¬
schlungen und namentlich mit Oestreich verflochten."
Das heißt freilich den Knoten nicht lösen, sondern zerhauen, obgleich der Punkt
auf den es ankommt, richtig berührt ist. Wenn Deutschland eine selbstständige Politik
verfolgen will, so muß es sich zunächst darüber klar machen, wie es sich zu den
orientalischen und italienischen Conflicten zu verhalten hat, die sich aus dem öst¬
reichischen Länderverband ergeben. Könnte der Kaiser von Oestreich sich dazu ver¬
stehen, die Leitung seiner auswärtigen Politik vollständig aufzugeben und sie nicht
blos nominell sondern wirklick der Bnndcsccntralgcwalt auzuvcrtraun. so daß sie
V°n dieser lediglich im deutschen Interesse geführt würde, so wäre das ein Aequ.valent,
Welches man sich wenigstens näher überlegen könnte. Der Gedanke ist aber geradezu
absurd, so absurd wie keine andere von den politischen Ideen, die feit elf wahren
aufgetaucht sind. Wenn aber der Kaiser von Oestreich in der Leitung scu.er aus¬
wärtigen Angel-genheiten svuvcrü». und der deutsche Bund dennoch verpflichtet sein
soll, jeder Wendung derselben zu folgen, so wird Deutschland damit eine ostrcichijchc
Provinz. Und hier möge man wohl überlegen, was man thut. Die Parteigänger
Oestreichs find gerade jetzt. wo ihre Sache nicht zum besten steht , in einer Aufregung,
an« der leicht unüberlegte Schritte hervorgehen könnten. Es handelt sich um nichts
Weniger. als Preußen aus dem deutscheu Bunde herauszudrängen. Sollte Preußen
die Lage versetzt werden, darauf eingehen zu müssen, so wäre vielleicht nicht Preu-
l"" der verlierende Theil. Man wirft den Anhängern Preußens immer vor. sie
U'ölklar Oestreich ans dem Bunde drängen. Wenn wir aber gern zugeben. daß
'"»"ehe von diesen Anhänger» zu weit gehen und den. Unmöglichen nachstreben, so
der eigentliche Sinn dieser Richtung dock nur gesetzlich zu fixiren. was
frisch bereits besteht. Der Zusammenhang Deutsch-Oestreichs in.t dem Na.es
^,.s° lose, daß er durch die projectirte Bundesreform, wenn sie sich innerhalb ver-
"""se'gar Grenzen hält, nicht im mindesten alterirt werden darf.
, Auf die weitern Vorschläge des Verfassers einzugehen. ist insofern nicht nöthig,
? se- mit diese.n Princip flehen oder fallen. Sie kommen alle darauf hinaus d.e
^gniß der Bundesgewalt aufs äußerste zu vergrößern. die Einstimnugkc.t durch
^'orität zu ersetzen und diese Majorität so zu construiren. daß sie unter allen Um-
'^^°n Oestreich zufallen muß. Der Vorschlag, das Präsidium des Bundes zwischen
Oestreich und Preußen wechseln zu lassen, ist unter diesen Umständen blos ein Köder,
aus den der Verfasser selbst kein Gewicht legt.
Ein andrer Bayer („Das Heil kommt nicht von Oestreich; eine Stimme aus
Bayern von Dr. PH. S. von der Aurach; Berlin, Riegel) sucht im Gegentheil nach¬
zuweisen, daß Bayern von Oestreich nur Schaden erlitten habe, und daß jeder echte
Bayer ein Gegner des Kaiserstaats sein müsse. Ein Urtheil über diesen Punkt fleht
uns nicht zu.
Mit großem Beifall zeichnen wir eine russische Stimme auf: Uns voix et'^Ie-
in-lgns Mr Is oomts omni^-rolsto? (Leipzig, Muquardt). Gleichviel ob
der Verfasser im russischen Interesse oder welchem andern schreibt, seine Analyse der
Zustände ist scharfsinnig und vollkommen richtig, und wir weichen nur in einem
Punkt von ihm ab. Er bezeichnet die preußische Mobilisirung als einen Fehler und
leitet sie lediglich von dem Eindruck her, den die süddeutsche Agitation in Berlin
hervorgebracht. Wenigstens das letztere ist ein Irrthum; die Mobilisirung entsprang
lediglich aus der deutschen Regierung des Prinzregenten, der es für eine Ehrenpflicht
hielt, dem alten Waffenbruder in seiner Gefahr beizubringen, so weit es ohne die
Verletzung höherer Pflichten möglich war. Dagegen treten wir dem Verfasser in
seinem Urtheil über die gegenwärtige nationale Bewegung vollkommen bei. Ein
unmittelbares Resultat wird dieselbe nicht haben. Die politische Constituirung
Deutschlands setzt einen Bürgerkrieg voraus; es ist möglich, daß es einmal dazu
kommt, aber ihn absichtlich herbeiführen zu wollen, wäre ruchlos, und auf den Aus¬
gang desselben würde die jetzige mehr theoretische Bewegung gar keinen Einfluß
haben. Jndircct dagegen kann die Bewegung sehr wichtig und sehr segensreich
sein. Wenn die deutschen Patrioten der verschiedenen Staaten sich untereinander
verständigen, so werden sie zunächst jeder in seiner H c i mat dahin zu wirken haben,
daß hier auf gesetzlichem Wege ihre Principien zur Geltung kommen, d. h., daß ih"
Partei allmülig die Majorität des Landtags bildet. Geschieht das allenthalben,
werden sich auch die Regierungen auf die Länge diesem Einfluß nicht entziehen, »ut
wenn man in allen einzelnen Staaten dasselbe will, so wird ohne äußere künst¬
liche Constituirung die Einheit sich von selbst ergeben. So urtheilt ein beson¬
nener Ausländer, und in demselben Sinn wiederholen wir: die deutsche Reforw
muß nicht von der Spitze, sondern von der Basis ausgehen; nicht voM
Bundestag, sondern von den einzelnen Staaten; doch so, daß die Freunde der Re¬
form sich untereinander zu gemeinsamen oder wenigstens ähnlichem Wirken ver¬
ständigen.»W
Glücklicherweise hat die preußische Regierung den Weg betreten, der allein Z
Ziel führt. Ihre Denkschrift vom 10. Oct. in Bezug auf die kurhcssische Angele¬
genheit ist, abgesehen von der Entlassung des Herrn von Westphalen. das folget
reichste und erfreulichste Ereigniß seit den letzten zehn Jahren. Nicht blos in Bezug
auf ihren Inhalt, indem sie auf den unerschütterlichen Boden des Rechts und der
Vernunft zurückgeht; sie ist auch in der Form ein Meisterstück. Zugleich entschiede»
und mit weiser Besonnenheit, wie es einer Großmacht ziemt, gesteht sie ohne Osten-
tation und ohne unnöthige Klage freimüthig die Fehler ein, an denen 1852 leider
auch Preußen Theil genommen hat; sie predigt nicht eine unfruchtbare Buße,
dern sie ermahnt, aus Gründen der Klugheit, die jedem Unbefangenen einleuchte"
Aussen, den natürlichen Weg wieder einzuschlagen, der wie gewöhnlich auch der
^eg des Rechts ist. Ein allgemeiner Jubel wird dieser Denkschrift folgen; aber
«Mit ist „och nicht genug, es muß womöglich auch dahin gewirkt werden, daß
/ehe Ansicht Fgsge hat, und dies kann nur dadurch geschehen, daß endlich einmal
!" einer Frage, die an sich vollkommen klar ist, sich eine öffentliche Meinung bildet,
^er das großdcutsche noch das kleindcutsche Programm kann das von sich rühmen;
Und daß eine bestimmte Frage so angethan sein mußte, daß das allgemeine Urtheil
">ehe irren konnte und daß es noch dazu durch den Beistand einer mächtigen Ne¬
igung getragen wurde, war ein kaum zu Hossender Glücksfall.
Mit einer viel geringern Befriedigung haben wir den offenen Brief des Kaisers
'apolcon an den König von Sardinien vom 20, Oct, gelesen. Da in demselben
^les rüthselhaft ist, wollen wir auf die fruchtlose Mühe verzichten, einen Zusam¬
menhang aufzufinden, und es bei der Hervorhebung einiger wichtigen Punkte de-
""roer lassen.
Von dem Princip der Legitimität ist nicht die Rede; denn der Herzog von
vdcna soll vertrieben und Parma mit Piemont vereinigt werden, aus rein sera-
°Ü>schen Gründen. Wenn also Gründe vorliegen, den Wünschen der Einwohner
°" Toscana und Modena keine Folge zu geben, so sind es wenigstens keine prin-
"p'ellen Gründe.
Bei der Constituirung des italienischen Bundes nach der Analogie des deutschen
>'d vorausgesetzt: einmal, daß der Papst liberale Reformen einführt, vielleicht auch die
kgcetivncn an den Großherzog von Toskana abtritt. In das erste wird er schwer-
>, in das zweite gewiß nicht willigen. Es wird zweitens vorausgesetzt, daß die
^undeStagsgcsandtcn nicht lediglich von den des östreichische» Interesses verdächtigen-
vuveränen, sondern nach den Vorschlägen der Kammern ernannt werden, d. h.
' andern Worten die gesetzlich fixirte Anarchie. Es wird endlich vorausgesetzt,
^ Oestreich im venetianischen Gebiet nicht blos ein italienisches Heer und eine
keltische Verwaltung constituire, sondern auch die Festungen Mantua und Pes-
Gegensatz zu Verona) als Bundcsfcstungcn anerkenne, d. h. die frcje
Position darüber aus den Händen gebe. Wie Oestreich auf diese Forderungen
"gehen kann ist uns unverständlich.
Mit dem in diesem Brief vorgelegten Entwurf ist also die Sache noch keines-
3 erledigt , denn er ist voll innerer Widersprüche, unhaltbar in seinen Voraus-
^»ngcn und, da zugleich jede Intervention ausgeschlossen wird, auch unausführ-
ßc,' , ^ 'se also auf dem Kongreß den drei Mächten England, Nußland und Prcu-
dc>s bedeutender Spielraum gegeben, wenn sie an dem Gedanken festhalten,
^ das positive Recht doch einmal verletzt ist, ein Zustand, der Europa für
Ztz/.^u^ Garantien gibt, nur dadurch herbeigeführt werden kann, daß man den
Sa« " ^ Bevölkerung Gehör gibt, die nicht blos von den Sympathien der
de>/"' gebildeten Welt getragen werden, sondern die auch den realen Verhältnissen,
des Interessen Italiens, den Interessen des monarchischen Princips und den Interessen
europäisch
Chalef Elahmars Qasside. Berichtigter arabischer Text, Uebersetzung und
Commentar mit Benutzung vieler handschriftlichen Quellen. Nebst einer Würdigung
Josefs v. Hammer als Arabisten. Von W. Ahlwardt, Privatdocenten in Greifswald.
Greifswald, (5. A. Koch. 1859. — Diese Schrift gehört in das Bereich unsrer Be¬
sprechung nur insofern, als der Verfasser dabei zugleich sich die Ausgabe gestellt hat,
die Art und Weise, in welcher der vielgcfciertc Josef v. Hammer arbeitete, an cinco
eclatanten Beispiel darzustellen. Herr Ahlwardt kommt nach sorgfältiger Vergleich«»«
der v. Hammerschen Uebersetzung mit dem Original, so wie uach verschiedenen andern
Erörterungen sehr gründlicher Art zu dem Schluß, daß v. Hammer zwar eine»
außerordentlichen Arbeitstrieb besessen habe, daß derselbe aber nur in die Breite,
nicht in die Tiefe gegangen sei, daß sein Mangel an philologischer Gründlichkeit n»r
von seinem Mangel an Geschmack übertroffen werde. Unter solchen Umständen
seine Geschichte der arabischen Literatur ein durchaus unbrauchbares Werk geworden,
und Aehnliches gelte von fast allen seinen übrigen Arbeiten aus dem Gebiet des
Arabischen. Sie seien nicht einmal als schätzbares Material einzusehn, sondern Alles
müsse von vorn angefangen werden. Wenn man dieses Urtheil über die Kenntnisse
des betreffenden Orientalisten und über seine Bedeutung für den arabischen Zweig
der morgenländischen Literatur mit dem vergleicht, was andere urteilsfähige Gelehrte
über seine Leistungen auf dem Gebiet des Persischen und Türkischen in den letzten
Jahren gesagt haben, so bleibt von dem Ruhm, den er mit seiner nie rastenden,
Band auf Band häufenden Emsigkeit sich erworben, wenig mehr als der SetM
übrig, und wenn der Redner, der ihm in der k. k. Akademie der Wissenschaften die
Gedächtnißrede hielt, in derselben sagte, Hammer habe „nicht wenig beigetragen, der
deutschen Literatur den Charakter einer Weltliteratur zu geben," und seine Ueber-
setzungen und Nachahmungen der Werke islamitischer Gcistescult'ur trügen, „so >^
das Gepräge ihrer Originale und Quellen, daß sie selbst mehr Producte des Ofen^
als des Westens zu sein scheinen" — so muß derselbe entweder wenig von der
Sache verstanden oder absichtlich die Wahrheit verkannt haben. Hammer ist berülM
geworden, weil er der erste in Deutschland war, der dies Gebiet anbaute. Er ist ^
geblieben, weil bei der schweren Zugänglichkeit der Quellen, die er benutzte, ein- Co"'
trole seiner Leistungen schwierig war. Wir fügen hinzu, daß Chalef Elahmar ceo«
in den Jahren 110 bis 19» der Hcdschra (730 bis 810 v. Chr.) in Elkufc un°
Elbassra als Dichter und Necitircr älterer Poesien lebte. Sein Gedicht, anfand
eine Elegie auf die Trennung von der Geliebten, geht dann zu Erinnerungen
ein frisches fröhliches Jagd- und Ncitcrlcbcn über und enthält mehre sehr ause^
Aus unsern vier Wänden. Bilder aus dem Kinderleben r'vn R u dolo h N el es en a u
Leipzig, F, L, Herbig. —
Nicht ohne Grund weisen wir der Besprechung dieses kleinen Büchleins
U'e bevorzugte Stelle ein; es gehört nach unserer Ueberzeugung zu den, Schön¬
en, was seit längerer Zeit in der belletristischen Literatur erschiene» ist; ja es ,se
^u>e Perle, die viele anscheinend glänzende Leistungen der Gegenwart über¬
quern wird.
Der Stoff ist kein »euer; das deutsche Gemüth hat> sich stets mit Innig-
den Bildern des Kinderlebens zugewandt, die unsere Nachbarn, die Frar-
i">en. die Zöglinge der Akademie, auch noch neuerdings wehr mit Spott als
'"^ herzlicher Theilnahme betrachtet haben. Gavarui's I.(>8 cMms wiiidlös
ein glänzendes Werk, fein gedacht und mit künstlerischer Virtuosität aus¬
führt; aber dem Deutschen wird nicht wohl dabei, denn sie enthalten doch
''"r die Kehrseite der Kindheit. Für uns hat diese Unfähigkeit, den Gefühlen.
^ >>n Keime, gleichsam unbewußt, und doch mit lebendiger Kraft in den
>^n des kleinen Herzens schlummern, einen verständlichen Ausdruck zu geben.
Noah unendlich Rührendes. Die meisten unserer großen Dichter waren er-
"rde Kinderfreunde; Goethe hat im Werther diesen echt menschlichen Zug
wierrlicht; wie sehr der Held des Dichters eignes Bild war, lesen wir aus
^ Briefen an Kestners. Schiller hat in seiner Abhandlung über das Naive
ueks gemischte Gefühl. „in welchem fröhlicher Spott, Ehrfurcht und Weh-
^ues zusammenfließen." mit philosophischem Tiefsinn zerlegt. Man hat ihm
^dem oftmals, mit mehr ader minder Glück, nachgesprochen; wenn wir
«der die Natur jenes Gefühls vollständig ergründet haben, so ist es uns sel-
gelungen, ihm einen künstlerischen Ausdruck zu geben; eher noch den
alern, die viel sinniges in diesem Felde geschaffen haben, so Ludwig
^"edler.
Die meisten Poeten gingen mehr darauf aus, ihr eigenes Gefühl über
^ Kindheit ^ehe warm auszusprechen, als durch Bild und Darstellung dies
^Mhl bei Andern hervorzurufen. Dazu gehört Bogumil Got iz. Sein „Buch
^ Kindheit" enhält einige sehr glücklich aufgefundene Züge und feine Be-
merknngen. das Ganze ist aber in einem so überschwenglichen unkindlichen
Ton geschrieben, das; es den Eindruck macht, als käme die Begeisterung aus
der zweiten Hand. Die Schuld liegt nicht im Menschen, der gewiß seinen
Gegenstand sehr warm empfindet, sondern im Dichter, der die Anschauung
nicht gibt, sondern voraussetzt.
In Reichenaus Büchlein ist kein Pathos, keine Deklamation: er gibt eine
Neide kleiner Bilder, in denen jeder Leser die Portraits — freilich auch das
Typische — sofort erkennen wird. Die Bilder hat jeder schon gesehen, jeder
hat seine Freude daran gehabt: aber sie in so reinen bestimmten Umrissen wie¬
derzugeben, als hier geschehen, dazu gehört ein ungewöhnlicher poetischer Sinn-
Aber der Berfasser hat mehr gethan: er schlägt zugleich die Stimmung an,
die er bei andern hervorrufen will, und in dem leichten, humoristischen To»
des Ganzen fühlt man zugleich die herzliche Frende des Darstellers heraus.
Er gibt nicht den Leib, sondern die Seele des Kinderlebens; jene Seele, die
keines Schmucks bedarf, um in ihrer ursprünglichen Reinheit jedes Gemüth
zu bewegen.
Das Buch ist nicht für Kinder, es ist von der Stimmung des Kontrastes
gefärbt; aber jede Mutter wird ihre Lust daran haben, denn ihr eigenes Bild
— das Bild jeder wahren Mutter — tritt noch deutlicher darin hervor als
das ihrer kleinen Lieblinge. Es ist ein rechtes Buch fürs Haus: vorzulesen,
und immer von neuem wieder vorzulesen; dein? das echt menschliche Wahre
hat den Vorzug, daß man seiner nie müde wird. Es ist eine schöne Weih'
nachtSgabe.
Weil wir es als solche gern betrachten möchten, heben wir das Bild der
„Weihnachtsfrühfeicr" hier heraus, setzen aber hinzu, daß an poetischem Werth
sämmtliche 2<i Bilder diesem einen ebenbürtig sind.
Wie lange diese Nacht währet! „Noch nicht Morgen?" „Nein." sagt
das malte Licht der Nachtlampe und weist, indem die Ul)r Elf schlägt, um'l)
dein leeren, frisch aufgemacht stehenden großen Himmelbett der Eltern hin.
Die Eisblumen am Fenster, die sich immer dichter mit wunderbar verschlungn
nen Ranken und Blättern überziehen, gestatten dem Sterne, der mit so eige¬
nem Funkeln vom Himmel sieht, kaum noch den Einblick ins Zimmer. Drau¬
ßen aber knistert der Schnee unter dem Tritte des Wächters, oder knirscht laut
vor Entsetzen über die frevelhafte Entweihung, wenn ein verspäteter Fracht
schütten die Gleise befährt, die der Frost nicht für irdische Fuhren so Spiegel'
blank geputzt.
Horch! Schon wieder dies geheimnißvolle Regen! Und immer lebendi¬
ger wird es. Bald ist es wie behutsame Gewichtigkeit einer MünncrsolM'
die sich Mühe gibt, leise zu treten, bald w>e Rauschen von Frauengewändcrn;
bald knacken verrätherische Treppenstufen, bald klingt es wie klappende Schrank¬
türen oder wie Schiebladen, die auf- und zugehen, bald wie ein Flüstern
und Räuspern im Flurgang; jetzt stößt es an, wie wenn große schwere Kisten
getragen werden, oder es fällt gar zu Boden, und rollt die Diele entlang,
ganz so wie ein Schachteldeckel. Dabei steht das Himmelbett noch unberührt,
Vater und Mutter sind also auch jetzt noch nicht schlafen gegangen.
„Wenn die Auguste Nademachcr doch Recht hätte! Wenn es doch die Eltern
selbst wären, und nicht der Engel die Bescherung brächte!"
Furchtbarer junger Zweifel im Ausschiebebettstellchen, vermessener kleiner
Fibelfanst, verzehre dich nicht in vergeblichem Grübeln über das Unfaßbare,
von dem wir einmal nichts wissen sollen und nichts wissen können. Wenn
dir der Friede deiner Seele lieb ist, lege dich ruhig wieder hin und schlummere
den Schlummer gläubiger Unschuld wie dein Schwesterchen, dem das große
Geheimniß der Nacht keine andere Unruhe verursacht, als daß es wie ein
Fragezeichen sein Beinchen zwanglos über das Deckbett streckt.
Mitternacht ist vorüber, vom Thurme haben Choralklänge die alte Him¬
mels botscha se verkündet: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!
Der Nachtlampe Docht sängt an zu verkosten, das Oel wird knapp, und das
Wasser ans dem dieses schwimmt, ist ein schlechter Feuerwerker; prasselnd,
^sehend, spritzend fährt das Flämmchen noch einmal auf, grade hell genng, er¬
nennen zu lassen, daß nun aus den Stühlen an dem Himmelbett Kleider liegen;
dann ist Alles finster und still.
„Noch immer nicht Morgen?" „Noch lange nicht. Soll ich dir meine
Hand geben? Willst du ein Schlückchen Wasser? — So, nun lege dich auf
d>e andere Seite und schlafe weiter." „Auch jetzt noch nicht?" „Nein. Schlafe
^>r ganz ruhig, du wirst schon geweckt werden."
Die Sonne wußte recht gut, weshalb sie gestern Abend so frühzeitig in
d>e entlegenste Südwestecke hinabsank, sie hat einen weiten Weg unten um die
ganze Erde herum, ehe sie wieder aufsteigt im Osten. Der Zeit aber ist es
ganz »echt, sie null wieder einbringen, was in den übergeschlagen letzten
^ager an rennender Hast zu viel geschah, oder will sie gar, im demüthigen
Gefühl ihrer Endlichkeit, ganz und gar vom Posten gehen und der Ewigkeit
^bst die Ehrenwache bei den hochheiligen Mysterien überlassen?"
Dennoch schwingt der Pendel, die Zeiger rücken, der Glockenhammer hebt
wenn die schleichenden Stunden endlich vollbracht sind. Der Hohn wird
drüsig auf seiner Latte, obwol er weder selbst Bescheerung erwartet, noch für
^me Familie heimlich aufgebaut hat. Er krähte schon mehrmals und läßt
nicht länger irre dadurch führen, daß noch Mond und Sterne scheinen,
^ hat die Uhr im Kopfe. Die Hofthüre wird geöffnet, der Widerhall des
Hauses erwacht vom Scharren des Kehrbesens, benutzt aber, verschlafen wie
es Alle sind, nach den vielen Störungen in der Nacht jede kleine Pause. aber¬
mals einzunicken zur köstlichen Nachruhe.
Es poltert im Ösen. Kleider werden geklopft, der wache Morgen schreitet
immer dreister einher, dringt immer weiter vor in das Gebiet der Träume
und ruft endlich, das blendende Licht in der Hand- „Kinder steht auf!"
Endlich, endlich ist es Morgen. Morgen, der aber doch immer noch Nacht
ist, der einzige Morgen des ganzen Jahres, an dem auch die kleinsten der
kleinen Leute bei Lichte aufstehen — dies allein schon ein Ereigniß. eine That,
ein Wunder und Glück — das reine Märchen! Nicht selten müssen sehr kräf¬
tige Erwcckungsmittcl angewandt werden, um die fesselnde Kraft der „himm¬
lisch" warme» Bettchen zu überwinden. Heute fährt das gesammte Aufgebot
der Kinderbeine beim ersten Anruf zugleich heraus — wie ein Bein, und die
Schnelligkeit des Ankleidens wird nur von der fröhlichen Verwirrung, die sie
erzeugt, übertroffen.
Endlich trotz aller Confusion fertig gekleidet, fügen sich die Kleinen, die
doch sonst nicht genöthigt zu werden brauchen, nur der kategorisch festgehalte¬
nen Weisung, erst noch ruhig zu frühstücken.
Welch ein Zauber für die Kinderseele, eben wieder erstanden aus dem
Schlummer, rein und klar wie der sternhelle Morgen, in der ganzen, unbe¬
rührten Frische eines neuen Tageölebens. an dem noch keine prosaische Er¬
innerung der Gewöhnlichkeit haftet, das noch kein, wenn auch mir in un¬
bewußter Trübung des Behagens nachwirkender, sebnellvergessener Streit, keine
paradiesaustreibende Unart entstellte — der höchsten Freude des Jahres ent¬
gegen zu gehen! Welch ein Zauber in dieser Verschmelzung der Reize aller
Tageszeiten, und der entgegengesetztesten Stimmungen, in dieser Nachtdunkeh
strahlendes Kerzenlicht und Morgenweihc. Entzücken und Andacht in Eins ver¬
webenden zeitlos ideellen Wunderwelt! Welch ein Zauber, wenn beim wohl¬
bekannten Klänge des Silbe.glöckchens die Thürflügel aufgehen von unsicht¬
barer Hand bewegt, als wären es wirklich geflügelte Thüren, und die stürmt
Herbeigeeilten, geblendet von all dem Glänze, nun doch im ersten Augenblick
wie erstarrt auf der Schwelle stehen bleiben, bis der Eltern ermunternder ZU'
ruf zum Nähertreten auffordert — welch ein Zauber, wenn nach der M"
Betäubung erster allgemeiner Frende die jubelnde Besitzergreifung der köstliche"
Gaben folgt, wenn ein jeder gerade das findet, was er „sich am meisten ge'
wünscht". — Die Mädchen ihre Puppen, die sie gar nicht mehr aus den'
Arme lassen, die Knaben Trommeln und Trompetchen, deren lustiger sah^
dem Feste so wesentlich ist wie der Glockenklang des Frühgottesdienstcs
welch ein Zauber, wenn den Zweigen des Christbaumes jener eigenthüm>"b
würzige Duft entströmt, der, mit keinem andern Wolilgeruch vergleichbarnoch
in der Erinnerung so magisch wirkt, daß die Kinder schon wochenlang vor
dem nächsten Feste jeden verlöschenden Wachsstock, von Wonneschauern der
Vorahnung durchrieselt, begrüßen: „es riecht nach Weihnachten!" Welch ein
Zauber, wenn endlich die lebten herabgebranntcn Lichtchen im Tannengrün
Zwischen den zurückgeschlagenen Fenstcrvorhängen noch die Rosen des Ost¬
himmels aufglühen sehen, den goldigen Alpenschnce der Morgenwolken über
den Häusern, die wallenden Rauchsäulen, purpürdurchleuchtet. nicht als stiegen
sie aus Schornstcinröhrcn empor, von Feuerstätten, auf denen klafterweise ge¬
kaufte Birken- und Kiefcrnkloben gebrannt werden, sondern wie Opferdampf
flammender Ccderscheite. der auf seinen Schwingen die Andacht heiliger Beter
emporträgt. — Und dann von der Höhe dieses Morgens die Aussicht, nicht
Wie bei der Abendfcicr auf das immer zu frühe Zubcttgcstecktwerden, sondern
aus einen ganzen langen Tag. dessen frommes Gebet festlicher Muße die Spiel-
Es gibt kaum einen Gegenstand, der für die Großherzogthümer Mecklen¬
burg von solcher Wichtigkeit wäre, wie eine erschöpfende Besprechung des hier
beregten Themas. Deshalb ist es sehr zu bedauern, daß die vom großh.
statistischen Bureau, zuletzt für 1856. veröffentlichten Ein- und Ausfubrtabellen
'Acht vollständig sind, insoweit sie wegen mangelnder Registnrung den Pnvat-
Und den Verkehr mit eignen Führen und Freipässen nicht mit umfassen konn¬
ten. F^ner beziehen sich jene Tabellen leider nur auf Schwerin und fehlen
für Streich gänzlich, weshalb auch die Zahlennachweise, welche wir beibringen
werden, nur für das erstere Land Willigkeit haben. Da indessen die Verhält¬
nisse beider Staaten fast die gleichen sein werden, so wird man die Schlüsse,
^lebe sich aus jenen Zahlen ergeben, auch auf Strelitz mit übertragen
dürfen. —
Wenn die Stellung Mecklenburgs dem Zollverein gegenüber geprüft werden
soll, so verlangt man durchaus auf Zahlen begründete Berechnungen.
Auch wir werden solche beibringen, mit Rücksicht auf den Raum dieser Zeit¬
schrift jedoch nur in den mittleren Hauptsummen, und bemerken deshalb vor¬
weg, daß diese aus den Jahrgängen von 1852—1859 incl. berechnet
sind, und zwar überall unter genauester Berücksichtigung aller in den Listen
aufgeführten Positionen. Indem wir somit willkürliche Zahlenangaben ver¬
meiden, und für die unsrigen die Voraussetzung der Wahrheit beanspruchen
müssen, wird es dennoch nicht überflüssig sein, zu bemerken, daß diese Zahlen
nur von zweiter Wichtigkeit sein können. Abgesehen von der unvollständigen
Erhebung, ergibt es sich aus der Sache selbst, daß die jetzige Ein- oder Aus¬
fuhr Mecklenburgs keinen Maßstab für diejenige abgeben kann, welche nach
dem Beitritt« des Landes zum deutschen Zollverein stattfinden wird. Da es
Hauptaufgabe des letztern ist, die Seibstproduction und Fabrikation in den
von ihm umschlossenen Staaten möglichst und nach möglichst vielen Richtungen
hin zu erregen und zu fördern; da aber in Mecklenburg die Production be¬
schränkt ist, eine Fabrikation eigentlich gar nicht stattfindet: so ergibt sich sclM
hieraus, daß nach dem Anschlusse desselben Veränderungen eintreten müssen, welche
durch alle Verhältnisse greisen und vieles neu gestalten sollen. Wie demnach
im ersten und zweiten Theil dieser Abhandlung die jetzt bestehenden Verhält¬
nisse dargestellt wurden, so wird es hier von besonderer Wichtigkeit sein, die
wahrscheinlich eintretenden Veränderungen u. s. w. hervorzuheben, und in diesen,
nicht in den aus der Gegenwart geschöpften Zahlen, liegt der Maßstab, nach wel¬
chem die Frage eines etwaigen Anschlusses an den Zollverein bemessen werden muß-
Die Zahlen aus den Ein- und Ausfuhrlistcn dienen dazu, daß aus ihnen,
verglichen mit den frühe-rü und spätern, vor und nach dem Anschlusse erhobenen,
gleichen Ergebnissen solcher Staaten, die in den meisten Beziehungen Aehn-
lichkeit mit Mecklenburg haben, Schlüsse abstrahirt werden, von denen um»
wol sagen kann, daß sie eine der Wahrheit nahestehende Wahrscheinlichkeit in
Anspruch nehmen dürfen. Was wir hier gesagt haben, liegt klar ans der
Hand und wird doch fast immer unberücksichtigt gelassen; man hält sich
die gegenwärtigen Verhältnisse und leitet aus ihnen Zahlen her, die in ihrer
ungerechtfertigten Höhe allerdings bedenklich machen müssen. Es ist dies ein
Uebelstand, welcher uns nöthigt, diese Zahlen in unsre Darstellung mit aufzu¬
nehmen und sie näher zu betrachten. Das soll, so weit eine Trennung mög'
lich ist, in Beihalt der frühern Abtheilungen, zunächst rücksichtlich der einzelnen
Hauptbetriebe der Staatsangehörigen (Landwirthschnft. Handel. Industrie u. s- W-)
geschehen; darauf werden wir die Berechnungen und Betrachtungen zusammen^
fassen und vom allgemeinen Standpunkte aus kurz beleuchten. Hieraus wu
sich die Beantwortung der Frage: „Ob der Anschluß an den Zollverein se"
Mecklenburg finanziell vortheilhaft oder nachtheilig sein wird?" leicht er¬
geben.
Die mecklenburgische Landwirthschaft, welche während langer Jahre ihre
Producte zum bei weitem größten Theile den Häfen Rostock und Wismar zu¬
führte, hat seit den letzten Decennien infolge des durch Eisenbahnen und Ka-
ucilisirungeu erleichterten Verkehrs, zum großen Theil ganz entgegengesetzte
Wege eingeschlagen. Sehr beträchtliche Mengen gehen theils nach Hamburg,
theils in den Zollverein, nach Berlin und Magdeburg. Da dies geschehen
lst, während und obgleich die frühern Wege offen standen, so müssen wir ohne
Bedenken zugestehen, daß diese Veränderung der Ausfuhr im pecuniären Inter¬
esse der Producenten gelegen habe; wir werden später zeigen, ob eine größere
Zurückleitung der Ausfuhr in die Seehäfen wahrscheinlich ist, falls die Abgaben
für den Kornexport hier wegfallen. Zunächst wird es zweckmäßig sein, eine
Uebersicht in der Vertheilung der hauptsächlichsten landwirtschaftlichen Ausfuhr¬
artikel zu geben. Die Schlachtviehausfuhr ist seit den letzten Jahren in fort¬
währendem Steigen begriffen und vertheilt sich ausschließlich auf die Richtungen
Aaas Hamburg und Berlin. Wenn auch auf beiden Märkten die Preise jetzt
peinlich gleich sind, finden doch einzelne Schwankungen statt, und es ergibt sich
leicht, daß es sür Mecklenburg von großer Bedeutung ist, beide sich offen zu
ehalten, damit die Preise sich infolge der Concurrenz gegenseitig auszugleichen
vermögen. Mit den Producten der Viehzucht ist es der gleiche Fall. Gesvinnst-
Wnnzen und eigentliche sogenannte Handelsgcwächse werden augenblicklich nur
in sehr geringem Umfange angebaut. — Die vorzüglichsten lnndwirthschaftlichen
Ausfuhrartikel sind
Davon:
Die Ausfuhr an vorstehenden Artikeln nach Lübeck hin ist unter der¬
jenigen nach Hamburg mit begriffen. Der Vergleich dieser Ausfuhr mit der
in den Zollverein stattfindenden wird die Wichtigkeit des letztern als Ab¬
satzortes beweisen tonnen. — Die Ausfuhr nach Hamburg und Lübeck hin
ist nämlich ganz abgabenfrei; insofern aber die Producte beim Ueberschreiten
der Zollvereinsgrenze den tarifirtcn Zoll zu erlegen haben, liegt gewiß die
Betrachtung nahe, daß der Verkehr ein viel bedeutenderer werden muß, sobald
durch den Anschluß Mecklenburgs die Zollgrenze fortfällt. Und wir können,
ohne zu irren, schließen, daß. wenn bei der freien Wahl des Exportwcges
zwischen den einheimischen Seehäfen und Hamburg und dem Zollvereine eine so
große Menge von Producten trotz des Grenzzolles in den letzteren geht,
dann der Verkehr mit diesem für einen nicht unbedeutenden Theil der Produ¬
centen der wünschenswerteste und zweckmäßigste ist. Ist dies der Fall, so
müssen diese Producenten den Wegfall des Grenzzolles, welchen sie jetzt zu bezahlen
haben, wünschen. Man glaube indessen nicht, daß hierzu blos die der preu¬
ßischen Grenze zunächst wohnenden Landleute contribuiren; selbst die Kornhänd-
lcr aus Rostock und anderen mecklenburgischen Städten expediren Lieferungen
in den Zollverein, und dies eben macht die Aufhebung des Grenzzolles um so
Wünschenswerther. weil er offenbar die Handelsspeculation dieser Kornhändler,
die gewinnreiche Wahrnehmung günstiger Chancen erschwert. Dadurch auch
fällt die Abgabe, welche von landwirtschaftlichen Producten an den Zollverein
jährlich entrichtet wird, nicht sowol auf einen Theil der Producenten, sondern
auf das ganze Land zurück, und selbst die Aufhebung des rostocker Kornausfuhr¬
zolles allein würde nicht bedeutend genug sein, um die Versendung zur See
gewinnreicher zu mache», so lange für den Export in den Zollverein der Preis
des Korns, der Fracht und der Zolle besieht. Andrerseits aber muß offenbar
eine größere Absperrung, wie sie infolge des projectirten Grenzzolles für Meck¬
lenburg unvermeidlich sein würde, zumal wenn sich auch Hamburg dem Zoll¬
verein anschlösse, der Landwirthschaft einen noch weit größeren Baarverlust
verursachen und die Preise der Pr.oducte sinken machen. Es wäre nach unsrer
Ansicht ein sehr gefährlicher Versuch, wem, man die Thore nach Hamburg und
in den Zollverein dergestalt schlösse, daß alsdann die rostocker Kaufleute die
Bestimmung der Preise behielten. Denn bei einem Grenzzvlle solcher Art darf
man nicht weiter aus den Hamburger Markt rechnen, wenigstens nicht auf die
Dauer, da Hamburg natürlich — wie wir schon erwähnt haben — den si"'
seine Einfuhr in Mecklenburg durch solchen Grenzzoll hervorgehenden Verlust
anderwärts zu ersetzen genöthigt sein wird, d. h. durch den Anschluß an den
Zollverein, der ihm dann allein bleibt.ee¬
Nichten wir den Blick auf alle die Ausfuhrgcgenstände, welche die S
häfen nordwärts nicht vermitteln, für welche also nur zwei Märkte, HainbU'S
Und der Zollverein, bleiben, so wird es doch aus der Stelle klar, daß durch
den Beitritt Mecklenburgs zu letzterem eine große Abgabcnsumme erspart wird-
Das würde in natürlicher Folge die Preise, selbst auch in Hamburg, heben. Vor¬
nehmlich die Erzeugnisse der Viehzucht sind es. um welche es sich hierbei handelt,
und man kann an Schleswig-Holstein, wo die Nordsechäfcn Husum, Glück-
stndt und Tönuingen durch ihren directen Verkehr mit England die Concurrenz
Segen Hamburg unterhalten, sehr genan wahrnehmen, wie durch solche Con¬
currenz immer höhere Preise erzielt werden. Das wirkt natürlich wohlthätig
auf die Production zurück, und für Mecklenburg zumal, welches in dieser Hin-
s'ehe erst am Anfange steht, welches erst den Grund zu einer nachhaltigen
Verbesserung des Viehes und zur Erhöhung der Viehproduction gelegt hat
und noch legt, ist es gradezu eine Lebensbedingung. daß seine Producte den
günstigsten, einen der Concurrenz und Speculation offenstehenden Markt finden
Und nicht an die nothdürsngst gebotenen Preise gebunden werden.
Ein Vergleich Mecklenburgs mit Schleswig-Holstein kann nur dazu trei¬
ben, daß die Producenten einen großem Absatzrayon zu erzielen streben.
Man kann ferner an Hannover wahrnehmen, daß durch den Anschluß an den
Zollverein ein solcher dargeboten wird; denn nicht nur ist das Fettvieh der
hannoverschen Marschen in der letzteren Zeit ansehnlich im Preise gestiegen,
sondern «s hat dies auch auf die Viehzucht, dadurch mittelbar auf die ganze
Landwirthschaft höchst wohlthätig zurückgewirkt. Mecklenburg würde in dieser
Beziehung gleichen Vortheil erringen können, weil es den bedeutenden Markt
Berlin's mehr hat. Dieser Markt rst nun zwar für den Augenblick noch nicht
w reichlich versorgt, daß die Preise nicht etwas über dem Mittel ständen; aber
berücksichtigt man die wachsende Cultur in Ostpreußen und Polen, die erleich¬
terte Heranziehung dieser Gegenden durch die Ostbah», die Anstrengungen,
""t welchen die großen Brüche der Spree, Oder. Netze. Warihe :c. für die
Viehzucht cultivirt worden, so muß man befürchten, daß sich für die Zukunft
Preise herausstellen, welche für ein isolirtes Mecklenburg nicht günstig sind.
Denn ein Fortschritt der Viehzucht und mit ihr der Landwirthschaft ist nur
bei steigenden Preisen denkbar und Säuernd. Man muß es nun aber
wenigstens nicht vorsvrgcnd nennen, wenn für die Erweiterung. der Märkte
"'ches gethan wird zu einer Zeit, wo eins der bedeutendsten Absatzländcr
(England) mit allen Kräften die Production seiner Kolonien zu heben und die
Zufuhr aus ihnen zu erleichtern strebt, wo es große Massen schon ans Amc-
bezieht und die Klage, daß es mit dem Absätze dahin von den mecklen¬
burgischen Ostseehäfen aus nicht mehr so gut gehe, wie früher, häufig genug
^monum wird. Dies letztere mögen denn auch Diejenigen beherzigen,
welche Alles abgethan glauben, sobald jenen Ostseehäfen eine erleichterte Ein¬
end Ausfuhr ermöglicht ist.
Außer der Getreide- und Viehausfuhr wird eine beträchtliche Menge an
Sämereien, worunter nach den Handelstabellen hauptsächlich Oelsämcreien O
verstehen sind, an Wolle, Fellen und Butter in den Zollverein geliefert. Es
sind dies Alles Producte, auf welche ein größerer Markt nur vortheilhaft wir¬
ken kann, wie es z. B. Schleswig-Holstein hinsichtlich der Butter wieder klar
beweist. Dem gegenüber muß aber auch entschieden die Ansicht festgehalten
werden, daß Alles, was einen größeren Abschluß des Landes nach Außen hin
verursacht, das Sinken der landwirtschaftlichen Productionen zur Folge ha¬
ben wird.
Ist nun in Betreff dieser ein sehr wahrscheinlicher Gewinn aus einem
Anschlusse Mecklenburgs an den Zollverein dargelegt, so darf auch andererseits
nicht in Abrede gestellt werden, daß die Eingangszölle des Vereins,- in un¬
veränderter Gestalt an die mecklenburgische Ostseegrenzc verlegt. Waaren in
hohem Grade treffen würden, die der Landwirthschaft nothwendig find, und
daß der letzteren hierdurch eine allen erwarteten Gewinn illusorisch machende
Abgabe auferlegt würde. Diese durch die Zölle vornehmlich getroffenen Gegen¬
stände sind Eisen und Salz. Der jährliche Bedarf des Landes an Eisen ist
bedeutend, die Landwirtschaft allein verbraucht eine große Menge. Die Ein¬
fuhr ist durchschnittlich zu veranschlagen
Hiernach würde die Abgabe für Eisen jährlich sich auf 150—160.000 Thlr.
belaufen. Diese Abgabe ließe sich bei dem Anschluß Mecklenburgs an den
Zollverein nicht wol umgehen, da die Eisenhütten des Vereins zu fern liegen,
als daß von ihnen ein Ersatz sich beziehen ließe. Auch ist die Eisencinfuhr
zur See für den Verkehr mit England, Schweden und Norwegen nothwendig-
Einzelne Modificationen würden sich nur darin ergeben, daß der Bezug a»
Roheisen sich vermehrte, an Stangeneisen dagegen verminderte und die Ab¬
gabe durch den größeren Bezug des ersteren zu 10 Sgr. nach dem Tarif gegen
das letztere zu IV- und 2'/-, Thlr. tarisirte Eisen die Abgabensumme etwas
ermäßigte. Indessen wäre die letztere verhältnißmäßig immer noch zu hoch,
und es ist vorgeschlagen, auch wol in Aussicht gestellt worden, daß für den
eigenen Bedarf des Landes an Eisen bei der Einfuhr zur See eine Rück¬
vergütung geleistet werden oder für eine bestimmte Anzahl von Centnern, die
dem jährlichen nothwendigen Bedarfe entspräche, zollfreie Einfuhr gestattet
sein solle. Als diesen jährlichen Bedarf hat man die Summe von 40,000
Centner genannt, welche wir jedoch mit Rücksicht auf die vielen Eisenwaaren,
die besonders zum Schiffbau fertig eingeführt werden und an der Zoll¬
ermäßigung Theil nehmen müßten, für zu niedrig halten. Wir glauben
60—70,000 Centner unbedenklich veranschlagen zu dürfen. Ob für diese
Menge eine Zollcrmäßigung zu erreichen sein dürfte, bezweifeln Viele.
Wir möchten anderer Meinung sein, zumal wenn das Land seinen Anschluß
rechtzeitig betriebe; denn theils ist es zulässig, daß Mecklenburg bei der star¬
rn Consumtion seiner Bevölkerung Rücksichten zu Theil werden, theils aber
"und gewinnt der Zollverein indirect durch den Wegfall einer 60 Meilen lan¬
gen schwer zu bewachenden Grenze nicht unerheblich, während die Bewachung
See- und der westlichen Grenzen leicht geübt werden kann. Wie dem
"ber auch sei, in dem Eisenzolle ist jedenfalls kein Grund gegeben, der auch
die Verhandlungen über den Anschluß Mecklenburgs mit den Zollvereinsstaaten
unzulässig machte. Will man sich diesem widersetzen, so müssen die Eisenzölle
nur als ein vorgeschobener Grund betrachtet werden.
Die Salzcinfuhr ist nicht weniger umfassend und durchschnittlich auf
80,000 Centner zu berechnen, von denen jedoch nur 47 °/° aus England,
1 °/c> aus Hamburg, die übrigen aus Hannover kommen. Die 34—38,000
Zentner, um welche es sich hier handelt, würden gänzlich wegfallen und die
Schiffe, welche jetzt das Salz oft — besonders aus Liverpool — als Rück¬
fracht mitbrachten, unbedingt einen anderen Artikel hierfür suchen müssen.
Sie werden einen solchen in der alsdann voraussichtlich sehr steigenden Ein¬
fuhr von Steinkohlen finden können. Es dürfte überhaupt aus dem Salz-
Zolle kein großer Verlust für das Land entstehen; der Verbrauch wird sich
durch sorgsamere Sparsamkeit etwas vermindern, die Zufuhr aus Lüneburg
etwas steigen und die Preise werden sich um ein Geringes heben. Letzteres
N'ird jedoch in nicht hohem Grade stattfinden, da die einheimische Sa-
i>ne zu Sulz ihren Betrieb noch ziemlich erweitern kann, wodurch denn auch
ein Theil des jetzt außer Landes gehenden Geldes diesem erhalten bleibt.
Die Salzsteuer würde, wie es auch Hannover lehrt, weder auf das Land im
Allgemeinen, noch uns die Landwirthschaft im Besonderen einen Druck üben,
der den Anschluß an den Zollverein widerricthe. Betreffs der Saline zu Sulz
^t es höchst wahrscheinlich, daß sie, gerade an der Landesgrenze liegend, noch
^'nen nicht unbedeutenden Theil von Pommern mit in ihren Rayon zieht und
daß dadurch eine Ausgleichung stattfindet. —
Wenn wir nun oben behaupteten, daß es für die landwirthschaftliche
Production von Nutzen sei, falls ihr Markt erweitert und der Verkehr über
die Grenzen erleichtert werde; wenn wir aus diesem Grunde dem Zollver-
^nde das Wort redeten, so strebten wir ja dahin, den mecklenburgischen Ost¬
seehäfen einen Theil der Lcindesproduction zu entziehen und ihnen, dadurch
e>ne beträchtliche Einbuße zuzufügen? Wir halten das allerdings für eins der
wichtigsten Resultate des Zollvcrbandcs, daß durch ihn die zahlreichen
^'enzm der Kleinstaaten im Binnenverkehr fallen und den Handels- und
^übrikorten nicht ein nach der Landesgrenze, sondern nach ihrer natürlichen
Bedeutung bemessener Rayon gegeben werde. Es ist eine eins der Vorzeit
überkommene ungerechtfertigte und unhaltbare Ansicht, welche die natürlichen
Handelsgrcnzen mit den Landesgrenzen zusammenfallen läßt, und es ist wider
alle Vernunft, wenn man z. B. dahin strebt, den Ostseehäfen Mecklenburgs
das ganze Land bis zur äußersten Ecke tributär zu erhalten. Von diesem
Vorwurfe ist das Project eines fiscalischen Grcnzzolleö nicht frei; jene Ansicht
findet sich in Mecklenburg noch viel häusiger, als gut ist, zumal bei den Be¬
wohnern Rostocks, und kann diesen noch einst unermeßlichen Schaden thun. Ver¬
nünftiger Weise können die Ostseehäfen nur auf die Zufuhr von denjenigen Orten,
welche bis zu ihnen hin den billigsten Transport haben, rechnen; was darüber
hinaus liegt, was sie nicht haben können, sollten sie in Ruhe fahren lassen und
dafür erstreben, was ihnen die Lage des Verkehrs im Allgemeinen bietet.
Wenn es auch jetzt gelänge, zum Nachtheile der Production die Grenzen zu
schließen und den größten Theil des Verkehrs innerhalb der Lcmdesprodnction
dadurch an sich heranzuziehen, so ist hieraus doch ein dauernder Gewinn nickt
möglich, der auswärtige Verkehr dadurch gehemmt, fast alle Durchfuhr auf¬
gehoben. Der Anschluß an den Zollverein aber erhält, indem er die Pro¬
duktion fördert, den Seehäfen den fruchtbarsten nördlichen Theil des Lan¬
des, Rostock speciell auch den ganzen östlichen Theil, fügt diesem, da die Zoll¬
schranken fallen, einen großen Theil Vorpommerns hinzu, macht den Verkehr
im Innern des Landes und auf der Berlin-Hamburger Eisenbahn frei von
allen Fesseln und öffnet dadurch eben dem Durchfuhrhandel die skandinavisch'
mitteldeutsche Route. Seit Jahren klagt der Handelsstand, daß ihm die Ge-
legenheit zu günstigem Transitohandel entzogen sei; wie kann er da den
Gedanken fassen, den Verkehr durch neue Grcnzfesseln zu binden, wo durch
den .Anschluß an den Zollverein die Möglichkeit seiner Befreiung in Aus¬
sicht gestellt ist? Auch in letzterem Falle werden die Seestädte, da als¬
dann die Getreidcsteucr für die Ausfuhr aufhört, für die zur Verschiffung aus
ihnen geeigneten Producte Höhere Preise bezahlen und eine größere Zufuhr
an sich ziehen können, als sie jetzt vermögen. Die höheren Zollsätze des Ver¬
eins für einzelne Eingangswaaren schaden ihnen gar nicht, wenn zugleich ih^
Markt sich weitet und sie ihren Blick von dem eigenen Lande dahin richten,
wo der Schwerpunkt für ihren zukünftigen Handel liegt.
Bisher hat England, zumal in früheren Zeiten, diesen Punkt gebildet;
derselbe wendet sich aber mehr nach Skandinavien und dem östlichen Rußland
hin. Denn der Handel Englands mit Deutschland durch die Ostsee w>rd
jährlich geringer, zieht sich jährlich mehr — und besonders für alle werthvolleren
Waaren — in die deutschen Nordseehäfen, von hieraus das fast vollendete
norddeutsche Schienensystem einschlagend statt des langwierigen und gesat)^
vollen, deshalb auch durch höhere Assccuranzprämien vcrtheuerten Weges durck
den Sund und die Ostsee. Diese neue Richtung des englischen Handels,
welche übrigens schon sehr bestimmt hervortritt, wird sich mehr und mehr be¬
festigen, weil sie die natürliche ist ; schon jetzt ist der Handel zwischen England
und den mecklenburgischen Ostseehäfen gegen früher sehr vermindert und letz¬
tere werden eine starke Einbuße erleiden müssen, wenn sie nicht ihr Augen-
Merk scharf auf die skandinavischen Länder richten. In diesem Falle werden
sie. wenn die Zollschranken fallen und die projectirte Eisenbahn") von Güstrow
nach Stettin zu Stande kommt, gewinnen, anstatt zu verlieren. Durch die
Oeffnung der Zollvereinsgrenzen wird Mecklenburg einen großen Durchgangs-
Verkehr mit Rußland und Schweden einerseits, mit Mitteldeutschland und
bis nach Frankreich hinein andererseits anbahnen können, wie er beispielsweise
von Stettin aus betrieben wird. Welch' große Ausfuhr allein nach Rußland
bin wird Rostock zufallen, zu welchen Unternehmungen wird Gelegen¬
heit geboten! Und dazu wird ihm sein natürlicher Handeisrayon im
eigenen Lande sich niemals entfremden, wenn der Handel in ihm steigt. Es
werden im Lande Fabriken entstehen, nach England wird ferner Korn aller
Art gehen, die Schiffe bringen dafür Steinkohlen als Rückfracht mit. deren
Bedarf sich jährlich steigern wird. So bahnen sich neue Wege, während die
alten nicht verlassen, wenn auch auf das Natürliche, und deshalb allein Nütz¬
liche und Wünschenswerthe, beschränkt werden. Kommen dann noch Verkchrs-
erleichterungen im eigenen Lande hinzu, die gar nicht ausbleiben können, so¬
bald die Bahn erst gebrochen ist; wird der südöstliche Theil Mecklenburgs
durch Kanalisirung der Flüsse (Warnow, Nebel. Havel), durch die Ostbahn
und Chausseen dem Norden möglichst nahe gebracht, so wird auch die Pro-
duction in ihm ihren natürlichen Absatz mehr und mehr in Rostock finden.
Wismar ist in seinem Productionsrayon beschränkter, aber im überseeischen
Handels- und dem Transitoverkehr wird es sich Rostock verhältnißmäßig gleich¬
stellen können.
Man hört nun vielfach die Behauptung aussprechen, daß der Beitritt
Mecklenburgs zum Zollvereine den Schiffsbau vertheuern und dadurch indirect
den Handel mit belasten würde. Hinsichtlich des zum Schiffsbaue nöthigen Eisens
^weisen wir auf das schon oben Gesagte; es ist ein ersichtlicher Vortheil,
wenn Modificationen des Eisenzolles gelingen, obwol es uns sehr wahrschein-
^es ist. daß auch ohne dieselben der Bau im Allgemeinen nicht eben sehr ver¬
teuert wird. Wir müssen diese Frage sachverständiger Beurtheilung anheim¬
geben, können aber auch ohne solche der gegentheiligen Ansicht kein weiteres
Vertrauen schenken. Soviel ist aber wol Allen unzweifelhaft, daß, abgesehen
vom Eisenzolle, der Schiffsbau nach dem Anschlusse an den Zollverein nicht
um einen Heller vertheucrt wird.
Für die Rhederei wäre es ein unabsehbarer und dem Handel durch bil¬
ligere Frachtsätze nebst verminderter Secgefahr wieder zu Gute kommender
Lortheil, wenn sie mehr und mehr um Welthandel Theil nähme, wenn Schiffe
von größerer Tragfähigkeit erbaut würden, wenn diese unter der Flagge eines
mehr als^ZO Mill. Menschen repräsentirenden Vereins führen, wenn sie alle
Häfen des Zollvereins befahren dürften, ohne irgend eine Belästigung be¬
fürchten zu müssen. Alles dies wird die Schiffahrt durch den Anschluß an
den Zollverein gewinnen, und eine solche Hebung derselben wiegt gewiß man¬
chen kleinen etwaigen Nachtheil, vielleicht selbst denjenigen der Eisenzolle auf.
— Wenn die Fahrten nach und von England in noch größerem Maße auf¬
hörten, als bisher, fänden sich der neuen Wege genug, welche die jetzigen,
für Fahrten über das Weltmeer zu kleinen Schiffe im günstigsten Falle immer
nur vereinzelt aufsuchen könnten. Und daß Letzteres überhaupt noch der Fall
ist, beruht auf der Tüchtigkeit der mecklenburgischen Seeleute, welche sich sy»'
ter noch ganz anders erweisen könnte, zumal nun auch aus den Navigations-
schulen wissenschaftlich gebildete Steuerleute und Capitäne hervorgehen, die
sich wahrlich nur ungern mit Fahrten in der Ostsee begnügen. Der Unter¬
schied, welcher sich daraus ergeben wird, daß die hiesigen Schiffe und durch
sie der hiesige Handel an dem ganzen maritimen und Binnenverkehre des Zoll¬
vereins Theil nehmen können, einem Verkehre, welcher jährlich steigt und
schon jetzt eine nie geahnte Höhe erreicht hat, dieser Unterschied muß deM
Kurzsichtigsten in die Augen springen. Und welche Veränderungen auch der
Zollverein bald oder in späterer Zukunft erleiden mag, das schon bestehende
und gefesselte gemeinsame Interesse an ihm als einem Ganzen ist doch ein
Kitt, der dauernd binden wird. Hat man sich diese Ueberzeugung nur erst
errungen und sieht im Zollvereine eine nationale Schöpfung, welche etwas
mehr bezweckt, als die Ordnung der Finanzwirthschaft in den deutschen Staa¬
ten allein; so wird mau auch nicht mel,r auf die für 1860 bevorstehende Zoll-
conferenz hinweisen, von ihr eine Vernichtung des ganzen Vereines nicht mehr
erwarten und von ihre» etwaigen Resultaten nicht mehr, wie jetzt häufig
schieht, den Veitritt eines in Rücksicht auf das ganze Deutschland so unbe¬
deutenden Gebietes, wie es die beide» Großherzogthümer Mecklenburg mit
600,000 Consumenten besitzen, abhängig machen wollen.e
Wir gehen jetzt zu der Betrachtung der Veränderungen über, welche d>
hiesige Industrie durch den Anschluß an den Zollverein etwa erleiden wird-
Ihr gegenwärtiger Zustand .wurde schon geschildert und darauf hingewiesen,
daß sie auch durch die Einrichtung eines mecklenburgischen Grenzzolles nicht
könne gehoben werden. Es ist nun zunächst natürlich, daß wenn ein Land
dem Zollvereine mit weit höher ausgebildeter Industrie beitritt, die Industrie
des ersteren auf eine Zeitlang etwas mehr herabgedrückt werden muß. Die
nicht naturwüchsige Industrie wird mehr oder minder eingehen. Dies beruht
auf der natürlichen Ausgleichung, welcher zumal in größeren Ländercomplexen
die bürgerlichen Beschäftigungen unterliegen müssen. Wir leugnen deshalb
nicht, daß man mit Recht sagen könne, einzelne Industriezweige werden durch
jenen Schritt benachteiligt werden. Darin aber kann man keinen Grund
gegen den Anschluß an den Zollverein sehen, wenn man erwägt, daß Meck¬
lenburg der Einfuhr aus diesem schon jetzt so gut wie offen ist. wenn man
die vom statistischen Bureau veröffentlichten Tabellen durchsieht und die sehr
große Einfuhr von auswärts überhaupt berechnet. Man behauptet und
sucht diese Behauptung absichtlich zu verbreiten, daß mit dem Zollvereine
sofort eine wahre Ueberfluthung des Laydes mit Fabriken kommen würde.
Das ist eine gänzlich falsche Vorstellung, und thöricht ist es, daneben auf die
reinen Fabrikdistrikte Sachsens und Schlesiens, auf die Armuth ihrer Be¬
wohner zu verweisen und sie dem Mecklenburger als Schreckbild vor die Augen
ZU halten. Fabriken werden allerdings und hoffentlich entstehen; der specula-
iive Landwirth z. B. wird Rübenzucker bereiten, es werden Glashütten, Tuch¬
webereien, Mehl-, Papier-, Farbe- Fabriken, größere Destillationen, Braue¬
ten, Maschinenbauereien u. s. w. entstehen, kurz, die Betriebsamkeit wird
sich aus die zu lange vernachlässigte Verarbeitung der Rohproducte des Landes
^gen und auch einzelne Artikel zum Zwecke der Fabrikation von auswärts
^ziehen. Die Grundbesitzer werden zu sofortiger Verarbeitung geeignete
Pflanzen bauen und dadurch ihre Grundstücke im Ertrage und Werthe erhöhen,
vielleicht werden sich auch einzelne auswärtige Industrielle finden, die Eta-
^issements in Mecklenburg anlegen, indem sie theils von der günstigen Lage
der Häfen, theils von den billigen Arbetts- und Confumtionsp, eisen ihren
Vortheil suchen. Letzteres wird sich aber bald genug ausgleichen. Die Folge
von diesem Allem jedoch wird sein, daß Arbeit und Geld ins Land kommt,
^ß die naturwüchsigen Gewerbe zu Anstrengungen geleitet werden und sich
^WPvrheben, die übrigen freilich, um welche es jedenfalls nicht Schade ist,
biegen. Werden dadurch Menschen brodlos, so ist ihnen ja eben Gelegen-
^it gegeben, statt des kümmerlich betriebenen eigenen Gewerbes alsdann
'n den Fabriken thätig zu werden. Wer die hiesigen Gewerbetreibenden der
gieren Art kennt, der kann nur aus falscher Humanität oder bewußter Ab¬
sicht den Verlust ihrer Selbstständigkeit bedauern; sie sind als Fabrikarbeiter
einer viel besseren Lage. Für Mecklenburg mit seinen großen Gütern und
Umfangreichen Domainen wird aber trotz aller Fabriken die Landwirthschaft
^d zwar der Kornbau, selbst bei einem sehr bedeutenden Anbaue von Hnn-
delsgewächsen. immer die Hauptsache bleiben. Es ist gar nicht anders mög¬
lich, theils weil der Umfang dieser Güter für jeden anderen als den Kornbau
auf großer Fläche viel zu bedeutend ist. theils weil das Land so schöne und
zahlreiche Wiesenflächen besitzt, daß sie absolut zum Betriebe der Viehzucht (wo
diese ist. muß auch Kornbau getrieben werden) zwingen. Und selbst wenn der
gänzlich undenkbare Fall eintreten sollte, daß die Güter in zu großem Maaße
der Kultur von Handelsgewächsen anheimfielen, so blieben immer noch die
Pachtdomainen. welche eine einfache regiminclle Verordnung dem Kornbaue
erhalten könnte. Preußen kann es aufs Klarste beweisen, daß alle Befürch¬
tungen in dieser Hinsicht unbegründet sind.
Wir müssen die eben erwähnten Umstände deshalb so scharf betonen, weil
man nicht selten die Befürchtung vernimmt, daß der für den Kornbau erzo¬
gene Arbeiter durch den Anschluß Mecklenburgs an den Zollverein nach allen
Richtungen hin leiden würde. Was die Löhnung betrifft, so ist dies mit
Sicherheit nicht zu erwarten; denn gerade da pflegt dieselbe gering und stabil
zu sein, wo sich nur eine Art der Beschäftigung findet, wo der Arbeiter keine
Wahl hat und sich seiner Stellung nicht entziehen kann. Dies zeigt Mecklen¬
burg gegenwärtig sehr klar. Dabei wird ferner eine sehr große Abhängigkeit
des Arbeiters vom Arbeitgeber unvermeidlich, wie es Mecklenburg ebenfalls
beweist. Giebt es im Lande dagegen Fabriken neben der Landwirthschaft, so
regeln jene hinsichtlich der Lohnsähe diese, und umgekehrt; es wird eine Ver¬
besserung der materiellen Lage der Arbeiter sehr wahrscheinlich sein. — Man
behauptet nun, die Landwirthschaft könne die vorräthigen Arbeitshände nicht
entbehren. Dies ist geradezu nicht wahr; in den Städten gibt es zahlreiche
Arbeiter, welche nicht immer Beschäftigung finden, vom Lande aus hat man
Tausende nach Amerika wandern lassen. Ferner wird gesagt, durch die Fa¬
brikbeschäftigung werde der Arbeiter demoralisirt. Es ist darauf zu entgegnen,
daß nach Ausweise der Kirchenbücher u. s. w. auch der Ackerbau-Arbeiter nicht
sonderlich sittlich ist, es sei denn, daß man unter moralischem Verhalten vor¬
nehmlich die Unterthänigkeit gegen den Arbeitgeber versteht, welche allerdings
in Zukunft nicht so bleiben würde, wie sie jetzt ist. Daß die Fabrikarbeit
das Heirathen erleichtert, «ist für Mecklenburg sehr gut. Alle üblen Folge"
des engen Zusammenlebens finden sich auch aus den Gütern, sind übrigens
nur bedingungsweise mit der Fabrik-Industrie verbunden. — Die Nachtheil
deren Entstehen man so leicht behauptet, ohne sich die Verhältnisse allemal klar ge¬
macht zu haben, sind zum größten Theile imaginair; die Folgen des Anschlusses
Mecklenburgs an den Zollverein werden sich anfänglich etwas scharf und
und da drückend herausstellen, sich aber sehr bald ausgleichen. Die Güter
haben und behalten es sehr wol in ihrer Macht, durch feste Accorde Arbeiter
an sich zu fesseln; selbstständiger werden diese zwar sehr wahrscheinlich,
aber solche Selbstständigkeit nicht wünscht, der suche den Grund dafür in sich
und seinem Egoismus. Ein durchschnittlich etwas höherer Lohnsatz als der
gegenwärtige ist wünschenswert!) und nothwendig, und es ist nur in der
Ordnung, daß auch der Arbeiter besser gestellt werde, wenn die Einnahme des
Arbeitgebers auf dem oben nachgewiesenen Wege steigt. Dann würde es auch
gar nicht schaden, wenn durch den Anschluß an den Zollverein einzelne Lebensbe¬
dürfnisse etwas im Preise steigen sollten, worauf wir jetzt zu sprechen kommen.
Bis Hieher war der Beweis zu führen, daß die Folgen aus ihm sich in wohl¬
thätiger Weise über alle Classen der Staatsbürger erstrecken und sie eventuell
Zu etwas höheren Leistungen an den Staat befähigen würden. Ob und inwiefern
letzter^ stattfinden, ob sie jene aus dem Anschlusse wahrscheinlich hervorgehen¬
den Vortheile ausheben würden, werden wir zunächst darzulegen haben.
Es ist in Mecklenburg eine allgemeine Annahme, daß. da der Zollverein
einzelne nothwendig^, zum täglichen Leben nöthige Artikel mit hohen Ab¬
gaben belastet, nur die fabricirenden und in einigem Grade die produci-
renden Classen von ihm Gewinn haben, die consumirenden Classen hin¬
gegen leiden. Obwohl der Unterschied zwischen den hier genannten Classen
kein so scharfer ist. daß man sie wirklich ohne Weiteres trennen darf, möge er
bestehen bleiben, da er die Meinung der Gegner des Zollvereins ziemlich klar
andeutet. Die letztere Classe ist hier, wie in Hannover und Pommern, sehr
zahlreich; aber schon der Umstand, daß diese beiden Länder den befürchteten
Nachtheil bisher nicht erfahren haben, sollte zur Vorsicht gegen solche Behaup¬
tungen mahnen. Was durch den Zollvereinstarif mit höheren Abgaben belegt
und, weil es nicht aus den Vereinsstaaten selbst bezogen werden kann, für
die Consumtion verteuert wird, muß hier im großen Ganzen und in abgerun-
deren Summen zur Berücksichtigung gelangen. Es lassen sich die Zahlen, welche
auf solche Weise gefunden werden, auf den Kopf der Bevölkerung repartiren
und gestatten alsdann eine Vergleichung mit den Staaten des Zollvereins, in
denen diese Reparationen schon seit längerer Zeit vorgenommen sind und einen
sicheren Nachweis für die durchschnittliche jährliche Consumtion pro Kopf der
Bevölkerung geben.
Mecklenburg-Schwerin führt durchschnittlich jährlich 25600 Centner Kaffee
und 200 Celten. Kaffee-Surrogate ein. letztere hauptsächlich aus dem Zollver¬
ein. Rechnet man dazu, was dem Schmuggel und der zollfreien Einfuhr zur
Last fällt/ so ist die jährliche Einfuhr auf 32000 Celten. Kaffee zu veranschla¬
gen, und dieser Anschlag würde, bei der Bevölkerung Mecklenburgs von
^40000 Seelen, mit der genau berechneten Consumtion Hannovers von 6 Pfd.
^° Kopf jährlich übereinstimmen. Hierfür würden an die Zollvcreinscasse
iahrlich ^ Celten. 5 Thlr. Eingangszoll, circa iev.000 Thlr. zu zahlen sein.
An Zucker werden durchschnittlich 50000. an Syrup 2S600 Celten. einge-
führt, was zusammen auf den Kapf 14,6 Pfd. betragen würde. Diese Ein¬
fuhr aber übersteigt unbedingt den wirklichen Verbrauch, welcher auf Veran¬
lassung der Negierung im Jahre 1845 auf 10.5 Pfd. berechnet wurde, in
Hannover aber nur 8.29 Pfd. betrügt. Nimmt man demnach für Mecklenburg
9 Pfd. an. eine Summe, die sich im Zollverein noch verringern würde!, so b»
trägt die Gesammtconsumtion 48,600 Celten. oder, nach den Verhältnißzahlen der
Einfuhr berechnet, 30,700 Celten. Zucker und 17,900 Celten. Syrup. Nach dem
Zollsätze von 10 Thlr. sür den Zucker und 2 Thlr. für den Syrup würde sich die
beträchtliche Zahlung von 342.800 Thlr. jährlich ergeben und eine solche Summe
wird auch oft in Rechnung gestellt. Das ist aber sehr unrichtig; denn dieser
Zoll wird theils durch Anbau und Verarbeitung von Zuckerrüben im eigene»
Lande, theils durch vermehrte» Verbrauch von Syrup. welchen sich im Zoll¬
vereine sehr viele Haushaltungen selbst bereiten, vorzüglich aber durch zollfreie
Einfuhr aus den preußischen Zuckerfabriken fast ganz wegfallen. Auch ist an¬
zunehmen, daß das Land den ganzen Zoll, welchen es jetzt für seinen eignen
Zuckerverbrauch bezahlt, allmälig ersparen würde. Indessen solche Rechnungen
sind unzweckmäßig und unzuverläßig. Am sichersten würde es sein, hier auf
Hannover zurückzublicken, und da scheint sich herausgestellt zu haben, daß durch
den Anschluß an den Zollverein für die ersten Jahre eine Verteuerung des
Zuckers und des Syrups, mit Rücksicht auf Qualität, von 1, resp. sgr. pro Pfd-
eingetreten sei. Nach dieser Annahme werden wir für Mecklenburg, mindestens
sür die erste Zeit nach dem Anschlusse, eine vermehrte Zahlung im Ganzen
150 bis 160.000 Thlr. nicht von der Hand weisen können.
Die Einfuhr von Gewürzen ist nicht unbedeutend und wegen ihres hoben
Preises wird die bestehende ^1 valoi^in Abgabe von I V» Schilling vom Tha¬
ler grade vielfach umgangen, sowie auch das zollfreie Einfuhrrecht der Pri¬
vaten hier am meisten ausgeübt werden dürste. Laut den Zollregistern würde
die demnächstige Erhebung nach dem Zollvereins-Tarife circa 9000 Thlr. be¬
tragen; man darf sie ans den angeführten Gründen aber wol unbedenklich
auf 10000 Thlr. jährlich veranschlagen.
Von Heringen werden durchschnittlich 13300 Tonnen eingeführt, der Zoll
beträgt pro Tonne 1 Thlr.
Die Einfuhr von Reis beträgt 21500 Ceutu., der Zoll 1 Thlr. pr"
Centner.
Die Zollerhebung von Thee. Chocolade und Cacao würde sich nach den
Registern auf zusammen 3800 Thlr. belaufen, mit Rücksicht auf Defraude und
zollfreie Einfuhr veranschlagen wir 4500 Thlr.
Der Bedarf, von Südfrüchten u. f. w. würde, nach den Tarifsätzen 2,4
und 11 Thlr. speciell berechnet, im Ganzen jährlich circa isovo Thlr. an Z '
, erfordern.oll
Die Einfuhr von Rum, Cognac n. s, w, beträgt jährlich durchschnittlich
^300 Celten.. was nach den Zollsätzen von 8 Thlr. pro Celten. 74400 Thlr.
e>Me. Ein Theil hievon wird später, wie schon jetzt, aus Kartoffeln inner¬
halb des Zollvereins selbst bereitet werden.
Der Verbrauch an Wein ist in Mecklenburg sehr bedeutend, und die Zoll¬
ten weisen eine jährliche Einfuhr von 35000 Ankern nach, davon etwa
2000 Anker aus dein Zollvereine. Dies ist jedoch beiweitem nicht der ganze
Verbrauch, da eine sehr große Anzahl von Privatleuten (bis nach Rostock öst¬
lich und Wärme südöstlich hin) ihren Wein von den im ganzen Lande reisenden,
besonders Lübecker Weinhändlern direct und steuerfrei bezieht. Diese Umstände
wachen alle Weinhändler des Landes dem Anschlusse an den Zollverein ge¬
zeigt, denn da sie selbst den Wein nur gegen Abgaben beziehen können, so sind sie
durch dies offene Mißverhältniß auf das äußerste gekränkt. Andererseits ist auch
eine allgemeine Besteuerung des Weines (mit Rum u. f. w. ist es derselbe
Fall) nur nothwendig. Mag sich die Weinconsumtion dadurch etwas verrin¬
gern, so wird gewiß der Bierconsum steigen und — zumal wenn statt der jetzi¬
gen die preußische Maischsteuer eingeführt wird — der Brauereibetrieb im
Lande sich vervollkommnen und erweitern. Diese höchst wichtigen und auf eine
große Anzahl Menschen zurückwirkenden Verhältnisse lassen sich freilich nur an¬
nähernd darstellen; aber es ist sehr wahrscheinlich, daß der Wein- und Rum ze-
^erbrauch sich allmälig bis auf die Hälfte des jetzigen verringern würde.
Das würde für die Zukunft einen Zoll von circa 150,000 Thlr. geben, wir
"etiam jedoch hier, um den Gegnern des Anschlusses gerecht zu werden, eine
Jahreszahlung von 250,000 Thlr. an.
Ein sehr ähnliches Verhältniß besteht hinsichtlich des Tabaks, man kann
"ur wünschen, daß dessen Einfuhr sich mindere und der Betrieb im Lande
selbst, auch hinsichtlich des Anbaues geringerer Sorten sich erhöhe. Dies
Wäre für kleinere Grundbesitzer sehr vortheilhaft, wie schon jetzt einige Orte
Mecklenburg-Strelitz beweisen. Die Tabak-Einfuhr beträgt jährlich 20000
Eener. und 30000 Kisten Cigarren im Gewichte zu 5000 Celten. und ist die
Abgabe, nach den Tarifsätzen von 2, 4, 11 und 20 Thlr. einzeln berechnet,
"uf circa 160,00y Thlr. zu veranschlagen.
Ueber die Salz- und Eiscn-Einfuhr ist schon gesprochen; der Gcsammtzoll
sur die letztere würde höchstens 180.000 Thlr. betragen. Hiebet sind die
sehr vielen fertigen Eisenwaaren, welche jetzt eingeführt werden, nicht berück-
t'chtigl. theils weil die feineren schon jetzt größtentheils ans dem Zollverein
kommen, theils weil die gröber» später mit Vortheil von der einheimischen
Bevölkerung, die eine sehr gute Anlage zu Eisenarbeiter besitzt, verfertigt war-
°en können. Die Summe von 130.000 Thlr. würde sich eventuell, wie schon
ausgeführt wurde, auf 75 bis 85000 Thlr. ermäßigen.
Was sonst noch an s. g. Kurzwaaren eingeführt wird, möchte später einen
Zoll von 10—15000 Thlr. abwerfen, es ist ebensowenig genau zu berechnen,
wie die Einfuhr von Manufacturwaaren. Die letzteren werden indessen schon
jetzt in sehr großer Menge aus dem Zollvereine ausgeführt, später auch im
Lande selbst bereitet werden. Was noch an Luxus- und Modcwaaren erforder¬
lich wäre, ließe sich zu einer Abgabe von 80 bis 100,000 Thlr. veranschlagen.
Nach einer sehr genauen Berechnung aus fünf Jahrgängen der Einfuhrliflen
fanden wir für diese Waaren, soweit sie nicht im Zollverein bereitet und Spa'
der zollfrei eingeführt werden, den Gesammtzvll von 55,000 Thlr.
Die vorstehenden Positionen ergeben eine jährliche Gesammtabgabe an
die Zollvereinscasse von in runder Summe 1,200,000 Thlr als Maximum-
In dem ersten Jahre nach dem Anschlusse würde diese Summe aber wahrschein¬
lich nicht genügen, theils weil die bisherigen Handelsbeziehungen sich nicht
sofort abbrechen lassen, theils weil die zu erwartende Hebung der Industrie im
eigenen Lande auch zu dem geringen hier berücksichtigten Betriebe doch immer
einiger Zeit bedarf. Deshalb ist es vorsichtig, die jährliche Gesammtzahlung auf
die Summe von 1,500.000 Thlr. zu erhöhen, doch darf bei dieser Erhöhung nicht
außer Acht gelassen werden, daß der Unterschied von 300,000 Thlr. nicht nur, son¬
dern auch noch einzelne bei den obigen Positionen erwähnte Unterschiede, im
Gesammtbetrage von mindestens 500,000 Thlr später durch die einheimische
Betriebsamkeit selbst verdient, also erspart werden können. Wer sich die
Mühe geben will, aus den betreffenden Einfuhrtabellen nachzurechnen, der
wird'leicht erkennen, daß unsre Schätzung zu Gunsten Mecklenburgs müßig
und deshalb um so wahrscheinlicher ist. Alle, welche vom Anschlusse an den
Zollverein Verarmung, Hunger und Elend befürchten, verweisen wir darauf-
— Ausgangszolle sind im vorstehenden nicht berechnet, weil die Waaren,
welche solche zahlen würden, z. B, Schaafwolle. später im Lande verarbeitet
oder frei im Zollvereine versandt werden könnten.
Die vorstehende Summe, welche aus 1.500,000 Thlr. veranschlagt wurde,
gibt nun diejenige ganze Zahlung, welche das Land an den Zollverein wird
zu leisten haben, falls die jetzige Einfuhr für die Zukunft die gleiche bliebe,
und für solche Waaren, welche nicht zollfrei aus dem Vereine zu beziehen
sind. Man mag sie immerhin die Einbuße Mecklenburgs uus dem Anschluss
an den Zollverein nennen; wir wollen sehen, ob das Land in. seinen Handels¬
beziehungen jetzt besser gestellt ist. Zuvor ist jedoch das Präcipuum für eine
Einwohnerzahl von 540,000 Menschen mit 20 Sgr. auf den Kopf zum Be¬
trage von 360,000 Thlr. abzurechnen, wonach sich die Gesammtzahlung re-
ducirt auf................ 1,140,000 Thlr-
gegenwärtig hat Mecklenburg zu zahlen*):
Es beweist diese Zusammenstellung, daß Mecklenburg schon jetzt ungefähr
dieselbe Summe zu zahlen hat, welche ihm der Anschluß an den Zollverein nb-
nöthigen würde. Der Unterschied ist nur, daß die jetzigen Zahlungen nach mehre¬
ren Seiten hin zersplittert sind und uicht in der gleichen Weise zum Bewußtsein
kommen, wie dieZahlung an die ZMvereinscassc. Sie zeigt weiter, daß beim
Anschlusse an den Zollverein eine Ersparung allmälig zu erwarten ist, welche
Wan durch die Conservirung der bestehenden Verhältnisse so wenig hoffen
durs, wie durch die projectirte Einführung eines Greuzzolles. Den Anspruch
"Uf ein Präcipuum darf es nicht benachtheiligen, wenn durch den Anschluß
°me finanzielle Verbesserung eintritt; dies braucht nicht weiter dargestellt zu
werden.
Für die Landesverwaltung würde der Anschluß an den Zollverein fol¬
gende Resultate ergeben:
Diejenigen jetzt bestehenden indirecten Abgaben Mecklenburgs, um deren
^ngestaltung es sich zunächst handelte, und welche im Ganzen auf circa
^0.000 Thlr. zu berechnen waren, werden durch diese Auskunft demnach reich-
^ ersetzt, und es wird vielleicht möglich werden, noch andere Abgaben, z. B.
die ländliche Nebensteuer, auf eine gleichmäßige Weise zu ordnen oder ganz
zu beseitigen. Nach dem Dargestellten aber, was man immerhin auf einige
Weife modificiren mag (bedeutend darf das mit Recht nimmer geschehen)-
kann nicht behauptet werden, daß die jährliche Aufkunftssumme, im Vergleiche
zu den jetzigen Verhältnissen zu hoch sei. Man betrachte die Fortschritte,
welche Landwirthschaft. Handel. Industrie, ja. auch die Klasse der Tagelöhner
machen können und werden, man erwäge die freie Entwickelung aller natür¬
lichen Güter des Landes und aller Kräfte seiner Bewohner, welche der An¬
schluß an den Zollverein erregt und fördert. —
Abgesehen von den bevorstehenden Verhältnissen und in Verbindung
mit den directen Abgaben, welche erhalten werden sollen, ist die Aufbringung
einer Summe von 000,000 resp. 800,000 Thlr. für ein Lar,d. wie Mecklen¬
burg, bedeutend und geht aus seiner verhältnißmäßig starken Konsumtion
hervor. Daß eine solche Summe, die auf ganz neuen Wegen herangeholt
werden soll, durchgreifende Veränderungen verursachen muß, ist klar und von
uns sofort zugestanden. Es werden auch einzelne derjenigen Einfuhrartikel,
welche, wie Kaffee. Tabak u. f. w., zu den nothwendigen Bedürfnissen ge¬
rechnet werden müssen, unzweifelhaft etwas vertheuert. Aber diese Vertheue-
rung wird die ärmeren Klassen nicht in höheren Grade treffen, als die jetzigen,
auf den Detailverkchr so schwer drückenden indirecten Abgaben, sondern sie
wird diejenigen reicheren Klassen nur in höherem Grade heranziehen, welche
gegenwärtig verhältnißmäßig zu gering besteuert erscheinen, weil sie theils von
einzelnen Abgaben frei, theils mit anderen relativ zu leicht belastet sind. Wir
behaupten nicht-, daß die ärmeren Klassen nach dem Anschlusse Mecklenburgs
an den Zollverein billiger, wir leugnen aber, daß sie theurer leben werden- Es
läßt sich diese Sache nicht sowol aus Zahlen beweisen, als sie sich aus dem Zu¬
sammenhalte der Verhältnisse und dem Vergleiche mit anderen Staaten ergibt.¬
Prinzipiell sind wir keine Freunde des Schutzzolles, aber der freie Bin
nenverkehr im Gebiete des Zollvereins ist und "bleibt doch eine große Er¬
rungenschaft, die derjenige um so leichter würdigen wird, welcher das hiesig
System, das sich ein Freihandelsystem zu sein schmeichelt, näher betrachtet hat.
Und blicken wir über das Band des Zolltarifs hinaus auf die Vereinigung
deutscher Staaten, welche durch jenes umfaßt werden zu einem gleiche I"'
wessen verfolgenden Ganzen, so müssen wir noch aus diesem Grunde den
Beitritt Mecklenburgs so lebhaft wünschen
Stellung bedauerten. .
Es scheint uns, als ab die Worte Kriegsplan und Operationsplan allzuoft
Ziemlich gleichbedeutend gebraucht und daß sie dann, wie die Begriffe, die sie
darstellen, auch mit einander verwechselt werden, daß auch in dieser Beziehung
^ alte gute Regel der Logik, vor allen Dingen wol zu unterscheiden, nicht
genügend beachtet werde, — und nie ohne Strase; insofern man von einem
Kncgsplan verlangt, was er nicht leisten kann, und einen Operationsplan
entschuldigt, weil man nur die Forderungen, wie an einen Krieqsplan, an
ihn stellt.
Der Kriegsplan ist das Allgemeinere, Umfassende, der Operationsplan das
Speciellere, enger Begrenzte. Der Plan der Aufstellung der verbündeten Heere gegen
Napoleon 1815 mit der ausgesprochenen Absicht, concentrisch auf das allgemeine
Centrum Paris vorzugehn, umfaßte mehrere Kriegstheater und war der eigentliche
^uegsplan. Die Verabredungen Blüchers und Wellingtons über gegenseitige
Unterstützung, welche sich lediglich auf das niederrheinische Kriegstheater be¬
rgen, constituirten für dieses den Operativnsplan. Wir haben gerade dieses
^ujpiel nicht ohne Grund zur Erläuterung der Sache beigezogen. Wenn
^«n eine Angriffsrichtung feststellt, so stellt man damit im Großen immer
"und eine Nückzugslinie hin. Ist nicht etwas Besonderes bestimmt, so fallen
^ngnsfslinie und Nückzugslinie zusammen/ nur hat die Nückzugslinie gerade
entgegengesetzte Richtung der Angriffslinie. Der Kriegsplan wies
Blücher die Aufstellung zwischen Maas und Mosel und damit etwa die An-
griffsrichtung über Sedan auf Paris, also die Nückzugsrichtung auf Cod-
°Nz und Aachen an; jedenfalls gegen den Rhein hin, während Wellington
°ann etwa die Angriffsrichtung über Mons oder Als auf Paris, die Rück-
öugsrichtung über Brüssel auf Antwerpen hatte. Als Blücher im Mai nach
^gien einmarschirtc, änderte sich im Wesentlichen in dieser Beziehung nichts,
^ber wol änderte sich etwas darin durch die Verabredung Blüchers und Wel-
Ngtons über gegenseitige Unterstützung in der Schlacht; also durch die Auf-
ellung des Operatiousplans. Demnach verstand es sich nämlich gewissermaßen
°n selbst, daß jeder der beiden Feldherrn, der zum Rückzüge gezwungen ward,
diefen in einer Richtung antrat, in welcher er sich dem andern näherte, nicht
von ihm entfernte. Man braucht durchaus nicht Blüchers und seines Sta¬
lles Verdienst zu verkleinern, daß sie statt auf Lüttich und Mastricht ihre Trup¬
pen auf Wawre zurückzogen, und kann dennoch einsehen und zugeben, daß
durch den speciellen Operationsplan für das niederrheinische Kriegstheater die
Geister in der preußischen Armee schon wesentlich aus den Rückzug nach Wawre
vorbereitet waren. Angenommen aber, Wellington ward bei Bellealliance ge¬
schlagen, ehe Blücher ihm b'eispringen konnte, und setzte nun seinen Rückzug
aus Brüssel und Antwerpen fort, würde auch in diesem Falle Blücher unter
allen Umständen derselben Richtung gefolgt sein? oder muß man nicht viel¬
mehr voraussetzen, daß er nun daran gedacht haben würde, den Rhein, wenn
auch nur bei Düsseldorf und Cöln, zu erreichen, um hier zugleich sicherer
Verstärkungen zu gewinnen, als dies auf dem westlichen Theile des Kriegs'
ebenders zu hoffen war, und um sich seiner ursprünglichen, ihm durch den
Kriegsplan angewiesenen Angriffs-, wie Nückzugslinie wieder zu nähern?
Daraus ergibt sich nun. daß schon im Kriegsplan eine Grundbestimmung
für die möglichen Operationsplüne liegt, daß er aber diese niemals so schroff
bestimmen darf, um nur noch einen einzigen in jedem Falle übrig zu lassen-
Mit andern Worten: es ist ein Unsinn, einen Operationsplan Monate
lang im Voraus festsetzen zu wollen, und sich unabänderlich an ihn zu bin¬
den oder sich einzubilden, daß dies'ohne Gefahr möglich sei. Vielmehr kann
innerhalb des Kriegsplanes an einem bestimmten Punkte der von ihm vorge-
zeichneten Linien in einer Stunde der Entschluß zu einer Operation, ein Ope¬
rationsplan also, reifen, welcher scheinbar ' und wenn man nur die kleinen
Verhältnisse ins Auge faßt, auf drei Tage, auf acht Tage, auf noch länger-
em Heer von jenen Linien entfernt. Und so muß es sein. Sagt man nicht'
die Kriege werden durch die Bewegung gewonnen? Sollte man darunter etwa
blos die physische, nicht auch die geistige Bewegung verstehen, welche ja jene
erst erzeugt? Und doch haben wir erst noch in neuester Zeit vernehmen müssen-
daß in Wien Operationspläne discutirt wurden, die am Tessin ausge¬
führt werden sollten und die wo möglich jede Etappe des Heeres vorschreiben-
Warum? weil man den Operationsplan mit dem Kriegsplan verwechselt
was dann aber nicht blos den Operationen, die in dem Schraubstock völlig
unbeweglich festgeklemmt werden, sondern auch der Kriegführung, diese von
einem höheren Standpunkte betrachtet, Schaden bringt. 'da der Kriegspla»
eingeengt wird, da man bei ihm nur auf gewisse Operationen denkt, die sich
einfach geometrisch darstellen lassen und darüber vielleicht das Verhältniß der
Kräfte, die diplomatischen Mittel, durch welche man fremde Kräfte seinew
Dienst unterwerfen, dem feindlichen entziehen kann, vergißt, mit den diplo¬
matischen also auch die militärischen Mittel, welche jene unterstützen können-
>e
Es gibt ein Gesetz des freien Vorbehaltes in der Kriegführung,>"
für jede Aeußerung geistigen Lebens. Aber eben weil dies ein Gesetz ist.
'se der freie Vorbehalt auch in gewisse Grenzen eingeschlossen. Der freie Vor-
behalt für die Ordnung der Operationen bleibt trotz allen Scheins des Gegen¬
theils in dem Kriegsplan beschlossen, der freie Vorbehalt für die Schlacht in
dem Operationsplan, der freie Vorbehalt für die Ordnung des Gefechts in
dem Schlachtplan. Weil diese einfachen und fruchtbaren Wahrheiten oft nicht
begriffen werden, müssen wir so viele Faseleien in sogenannten Lehrbüchern
der Kriegskunst, die besonders practisch sein wollen, über den Aufschwung des
Genies, über die Regellosigkeit und Gesetzlosigkeit der Kriegskunst lesen, so viele
Faseleien in der Ausführung — wahrscheinlich in Folge dieser eingebildeten
Regellosigkeit — sehen. Als ob die Regel aufhörte, wo die Regula ne tri
aufhört!! Mancher wird vielleicht unser Gesetz des freien Vorbehaltes für
eine unpractische „philosophische" Quengelei erklären. Indessen, wir wollen
an einem Beispiel, welches sich auf engern Raum concentrirt. welches außer¬
dem unter unser Aller Augen ausgeführt wurde, einmal zeigen, daß die Sache
nicht blos, wie ein höflicher Mann sagen würde, ihre sehr practischen Seiten
hat, sondern daß sie durch und durch und nur practisch ist.
In Folge der Note Preußens vom 14. Juni, welche die Garantieüber-
Nahme für die Erhaltung der Lombardei bei Oestreich ablehnte, ward im
Kriegsrath im kaiserlichen Hauptquartier beschlossen, wieder über den Mincio
vorzugehen und am Chiese die Franzosen und Sardinier aufzusuchen*). Heß
N'ar dagegen, er wollte verschanzt hinter dem Mincio stehen bleiben und
"bwarten. Doch, überstimmt, machte er seine Meinung nicht weiter geltend;
°r ist eben auch angefressen von dem Krebs allerunterthänigster Ergebenheit.
^ Ueß die Dinge gehen, wie sie wollten, und kümmerte sich um gar nichts
"'ehr. Namming übernahm die ganze Anordnung der Operationen. Der Plan
inen Marsch über den Mincio und an den Chiese ward entworfen, das Ge¬
setz des freien Vorbehaltes aber gar nicht beachtet. Es ward keine Rücksicht
darauf genommen, daß man unterwegs mit dem Feinde zusammenstoßen könnte,
und Namming war noch am hellen Vormittag des 24. Juni, mitten in der
Schlacht von Solferino — unseres Wissens mindestens uoch nach 10 Uhr.
Möglicher Weise noch eine Stunde später — völlig überzeugt, daß es blos
°'N Vorpostcngcfecht gebe und an eine Schlacht nicht zu denken sei. — Man
^'d vielleicht einsehen, daß nur hieraus das späte Vorwärtskommen der Ne¬
rven des Centrums vom ersten und vom siebenten Armeecorps zu erklären
^ und das Uebrige kann sich dann jeder selbst nach Belieben ausmalen und
entwickeln.
^Das Gesetz des freien Vorbehaltes in der Kriegskunst ist von wenigen
mit Klarheit aufgefaßt worden, wie es täglich die Erfahrung zeigt. In
der Wissenschaft hat ihm unseres Wissens zuerst Iomini Rechnung getragen
durch die Unterscheidung von definitiven und beiläufigen (accidentiellen) Ope¬
rationslinien und strategischen Manövrirlinien. Man kaun unmöglich
den Plan zu einer Handlung entwerfen, ohne sich eine Vorstellung von den
Kräften zu machen, mit welchen man es dabei zu'thun hat. Wir wollen
daher damit anfangen, uns für das niederrheinische Kriegstheater einen Kräfte'
Überschlag zu machen. Gemäß unseren früheren Annahmen haben wir es hier
mit den beiden Hauptmächten Frankreich und Preußen zu thun, und stellen daher
Preußen in das Centrum der Untersuchung. Nach früher in diesen Blättern
von uns beigebrachten Erörterungen ist die preußische Armee aus höchstens
550,000 Maun auf dem Kriegsstande zu berechnen, wovon höchstens 350,000
für den Dienst im freien Felde verfügbar gemacht werden können. Es wäre
denkbar, daß Preußen diese ganze Macht auf sein niederrheinisches Kriegs-
theater werfen könnte. Dies setzt aber voraus, daß Frankreich sein einziger
Feind wäre, und daß dieses ihm gegenübergedachte Frankreich nur in einer
Art, nur zu Lande, gegen Preußen austreten könnte, nicht zugleich zur See.
Wie sieht es nun mit den Grcnzmächten Preußens aus? Nußland hat
während des Feldzugs in Italien Preußen und den deutschen Bund wie
dem Heraustreten aus seiner Neutralität bedroht, salls diese für Oestreich
Partei ergriffen. Wenn Preußen von Frankreich angegriffen wird, hat Rub'
land schwerlich ein Interesse dabei, an einem solchen Angriffe theilzuneh-
men, es kann vielmehr seine Zeit unter solchen Umständen besser, nämlich
gegen Oestreich und an der untern Donau verwenden. Oestreich würde schwer-
lich Neigung haben, Preußen zu unterstützen; angenommen aber, es wollte
dieses thun, so wären sicherlich Rußland und die Italiener da, um es an einer
Unterstützung zu verhindern. Daß Oestreich an einem Kampfe gegen Preußen
im Bunde mit Frankreich theilnehmen, wenigstens Neigung dazu zeigen könnte,
lüge durchaus nicht außer den Grenzen der Möglichkeit. Indessen ein Bund
mit Oestreich könnte in diesem Sinne Frankreich und Nußland nicht entsprechet
Es kann diesen Staaten nicht daran liegen, daß sich Oestreich in Deutsch'
land auf Kosten Preußens vergrößere. Und doch, wenn in Preußen Erobe-
rungen von der östreichischen Seite her gemacht würden, wäre Oestreich d>e
einzige Macht, welcher man diese übergeben könnte. Wie gering nun w>es
der Schritt wäre, der damit im Sinne einer Einigung Deutschlands gethan
wäre, wie schwer er walirscheinlich von den Deutschen selbst getragen werde»
würde, es wäre dennoch möglicher Weise el» Schritt, und davon wollen eben
Frankreich und Rußland durchaus nichts wissen. Ihnen muß es daher daran'
ankommen, Oestreich vom preußischen Kriege ganz fern zu halten in der vo
sten Neutralität nach dieser Seite hin, und sie haben die Mittel, es in jede
Halle in dieser Stellung zu erhalten, auch ohne daß Frankreich aus seiner
neuen freundlichen Stellung zu Oestreich herauszutreten gezwungen wäre-
da es ja im Stande ist. im letzten Nothfall den Oestreichern durch Nußland
und Italien zu thun zu geben. Frankreich würde selbst dieser Mittel wahr¬
scheinlich nicht bedürfen, indem es z. B. die vollständige Neutralität Oestreichs
n> einem Preußenkricge schon dadurch erreichte, daß es dafür die Neutralität
der ganzen deutschen Obcrrheingrenze verspräche und Oestreich mit dem
neuen verstärkten Einfluß in Süddeutschland köderte, welchen dasselbe ge¬
winnen müßte, indem es eben sür Baden, Württemberg, Baiern :c. die Neu¬
tralität durch seine Unterhandlungen und seine Stellung zu Frankreich er.
wirkte. Wir vermuthen also, daß weder Oestreich noch Nußland von Seiten
Preußens in einem beginnenden Kriege gegen Frankreich besondere militärische
Aufmerksamkeit verdienen würden. Dennoch würde es fast nicht zu vermei¬
den sein, für den östlichen Landestheil eine Observationsarmee gegen diese
beiden Staaten zu stellen. (Dies wurde vor der Zusammenkunft in Breslau
geschrieben. Anm. der Red.) Nun hat aber Frankreich eine Flotte. Es kann
vermöge derselben Truppen an die deutsche Ostsee- und Nordseeküste werfen
und mindestens durch Landungen das nichtvertheidigte Land aussaugen und
beunruhigen. Die deutschen Nord- und Ostseeküsten gehören außer Preußen
noch Hannover, Oldenburg, Dänemark (Holstein) und Mecklenburg. Däne-
wark ist für Preußen ein gefährlicher Punkt. Denkt man es sich im Bunde
und Frankreich, so könnte hier möglicher Weise eine dänisch-französische starke
Armee formirt werden, welche auf dem kürzesten Wege, von der Eider auf
Berlin losgehend (40 Meilen), dort die Entscheidung suchte. Dergleichen
Dinge sind keineswegs unmöglich, und man muß sich nothwendig auf sie vor¬
bereiten. Welcher Art aber die Vorbereitung sein müsse, ist nicht schwer zu
sagen. Frankreich kann den Gedanken, eine starke, für den Zweck, in Berlin
den Frieden zu dictiren. ausreichende Armee nach Dänemark zu werfen und
von dort aus ins Herz Preußens operiren zu lassen, nur dann fassen und
ausführen, wenn es Belgien und Holland für sich hat, wenn es also, durch
deren Armeen verstärkt, nur eine verhältnißmäßig geringe französische Streit-
wacht gegen den Rhein stehn zu lassen braucht, welche mindestens genügt, ein
etwa beabsichtigtes Vordringen der Preußen so lange aufzuhalten, bis auf
dem andern Punkte die Entscheidung in einem Frankreich günstigen Sinne er-
!"le ist.
Was sich für Preußen hieraus ergibt, ist. daß es den Bund mit Holland und
Wir Belgien suche. und zwar nicht in der Weise gemüthlicher Unterhaltungen, welche
w't ihren Wenn und Aber alles in der Schwebe lassen. Ebenso nothwendig
"der wünschenswert!) ist es dann, daß Preußen und England sich auf eine
vernünftige Weise zusammenschließen, dergestalt, daß England sich wirklich aus
Preußen verlassen kann. England allein kann für Preußen die Flotte stellen,
welche nicht blos einem so großartigen französischen Plane, wie es der wäre, von
der Eider aus die Nheingrenzc zu erobern, ein Paroli zu biegen vermag,
sondern auch im Stande ist. beunruhigende Landungsvcrsuchc an den nord¬
deutschen Küsten in der Ausführung zu beeinträchtigen und zu schwächen. Da¬
durch würde Preußen immer noch nicht davon dispensirt sein, Truppen zur
Vertheidigung an der Ostseeküste aufzustellen. Wenn sonst für Preußen gar keine
Hoffnung wäre, sich Rußlands in einer zweckmäßigen und günstigen Weise zu
bedienen, so könnte doch vielleicht eine Versicherung Preußens um Rußland,
daß es während des Krieges mit Frankreich nicht angriffs weise gegen
Dänemark auftreten werde, selbst dann nicht, wenn dieses den Franzosen
Flottcnstationen an seinen Küsten einräumte — was fast nicht ausbleiben
kann —. insofern nützlich wirken, als der Einfluß des verbündeten Rußlands
Frankreich bestimmte, von allen Seeoperationen zu abstrahiren, welche über
das gewöhnliche Blokadeverhältniß und die Beunruhigung der Küsten durch
einzelne schwache Laudungsvcrsuche hinausgehen.
Wenn man sehr mäßig rechnet, indem man auf das Eisenbahnnetz des
östlichey Preußen und eine vernünftige Benutzung desselben Rücksicht nimmt,
so würde in diesem Landestheil über die Festungsbcsatzungen hinaus, also
von den 350.000 Mann verfügbaren Feldtruppen aufzustellen sein: 1) n»
Observationscorps gegen Rußland 30.000 bis 40.000 Mann; 2) ein Obser-
vationscorps gegen Oestreich 30,000 bis 40,000 Mann; 3) zur Bewachung
der Ostseeküste und Beobachtung Dänemarks 50,000 bis 70,000 Mann; d. h.
zusammen mindestens 110.000. höchstens 150,000 Mann. Auf diese höchste
Zahl würde man wol für den Anfang Bedacht nehmen müssen, während
späterhin bei mehrerer Klärung der Verhältnisse vielleicht von ihr noch ein
Nachschub in die westlichen Provinzen angeordnet werden könnte.
Wir kommen also zu dem Resultat, daß vier preußische Armeecorps an¬
fangs in dem östlichen Landcstheil zurückzubehalten wären und 5 für den
westlichen oder das niederrheinische Kriegstheater verfügbar gemacht werden
könnten. Dazu träten dann noch die Landwehren des 2. Aufgebots aus Rhcin-
preußen und Westphalen als Festungsbcsatzungen. Es wird angemessen sein,
hier über die Zusammensetzung eines preußischen Armeecorps das nothwendigste
einzuschalten. Ein preußisches Armeecorps, so weit es im freien Felde activ
auftreten kann, zählt in der Regel 4 Regimenter Linieninfanterie zu 3 Bataillonen,
4 Regimenter Landwehrinfantcrie I. Aufgebots zu 3 Bat., 4 Regimenter
Linicncavallerie 5 4 Escadr., 4 Regimenter Landwehrcavallerie 1. Aufgebots
g. 4 Escadr.. 1 Jägcrbataillon. 12 Batterien zu 8 Geschützen, endlich 1 Pionnir-
abtheilung von zwei Compagnien. Also: 25 Bataillone Infanterie, 32 Es¬
cadrons Cavallerie. 06 Geschütze und 2 Compagnien Pionnire. oder etwa
M. Dazu kommen an Stäben, Stabswachen, Ordonnanzreitern, Sani-
tütsttuppcn. Administration und Train etwa 5000 M., so daß der ganze Stab
des mobilen Armeecorps sür den Feldkrieg sich auf 39,000 M. beläuft. Wir
haben also in fünf mobilen Feldarmcccorps wenig unter 200,000 M. Außer¬
dem aber würde Preußen für die Rheinprovinzen an Festungsbesatzungen
fügendes aufstellen können: Die sämmtlichen Provinzialreserveinfanterieregi-
Mentcr der acht Armeecorps nebst ihren Landwchrbatailloncn ersten Aufgebots,
also 24 Bat. a 1000 M.; 8 Provinziallandwchrregimenter zweiten Aufgebots,
also 24 Bat. a 800 M.; 2 Landwehrbataillone der Rcservcrcgunenter 2. Auf¬
gebots ü, 800 M.; 26 Landwchrescadrons 2. Aufgebots !r 120 Pferde;
8 Ersatzinfantericbataillone; 2 Ersatzjägcrcompagnien a 109 M.; 4 Ersatz-
escadvvns ü. 200 Pf.; Festungsartillcrie aus der Linie und Landwehr
ersten und zweiten Aufgebots mindstens 24 Compagnien ir 200 M.; Er¬
satz- (Ausfalls-) bataillone zu 8 Geschützen und 200 M. 0 Bat.; Pionnircom-
pagnicn der Linie (Reservecvmpagnien) der Landwehr 6 Comp. Diese 08.000
M- würden die Festungen Luxemburg, Mainz, Coblenz. Köln, Saarlouis,
Wesel. Jülich und Minden besetzen müssen, so daß im Durchschnitt auf jede
8l>»0 bis 9000 M. kämen, was nothdürftig ausreicht, da für die kleineren
Plätze eine vorläufige Besetzung mit 3000 bis 4000 M. genügend ist, näh¬
ert die größeren allerdings von vornherein mehr consumiren.
Sehen wir uns die deutschen Ländchen an, welche Preußen mit aller
Wahrscheinlichkeit, ja sast mit Sicherheit, in den Kriegswirbel mit hinein-
^'ißen müßte und deren Streitkräfte innerhalb der Feldarmee am Rhein ver¬
wendet werden könnten, so finden wir da Hessen-Darmstadt. H.-Kassel. H.-Hoa-
d»rg. Waldeck, die beiden Lippe. Braunschweig und Nassau. Die ganze Streit¬
est, welche diese Ländchen zusammen sür die Feldarmee am Rhein verfügbar
Zacher können, darf man mit Stäben. Train und allem Zubehör sür den Um¬
kang günz gewiß nicht auf mehr als 25.000 M. anschlagen. Man würde
wahrscheinlich sehr zufrieden sein müssen, wenn im Laufe des Krieges diese
TwPPcnzahl auf dem benannten Stande erhalten würde, und würde es wahr¬
est glorreich finden müssen, wenn sie bei den Kosten, die diesen kleinen Land-
°hen ihre großen Civillisten machen, allenfalls auf 30.000 M. gebracht würden.
Hannover. Oldenburg, Mecklenburg rechnen wir hier gar nicht; bleiben sie
">ehe neutral, so reichen ihre Truppen ungefähr aus, die Küsten der Nordsee
Und Ostsee zu bewachen. Sobald nicht mehr von Deutschland contra Frank-
^'es, sondern nur von Preußen contra Frankreich die Rede ist, mag die Neu-
^alität dieser Staaten vielleicht eher als ein Vortheil, denn als ein Schaden
Machtet werden können, nur vorausgesetzt, daß der Gegner diese Neutralität
^kam wollte, was allerdings nicht absolut sicher, aber doch keineswegs um-
^schewUch 'se- Darüber muß man, wenn die Stunde kommt, sich die rieb-
tige Ansicht zu bilden suchen. Im Voraus ist über das Fallen so leichter
Würfel wie diese, deren Schwerpunkt man gar nicht kennen kann, weil sie
keinen bestimmten haben, gar nicht zu urtheilen. Aber bei diesen Dinge"
ist auch ein etwas verspätetes Urtheil nicht von so unendlichem Gewicht, wen»
man sich eben nur. sobald man erkannt hat. auch zu entschließen weiß.
Die preußische Feldarmee am Rhein mit ihrem wahrscheinlichen Anhange
kann man nunmehr auf ungefähr 220.000 M. berechnen. Ein preußisches
Armeecorps wird nach dem Herkommen in zwei Infanteriedivisionen, eine
Cavallericdivision und eine Geschützreserve eingetheilt. Die Infanteriedivision
besteht aus zwei Brigaden Infanterie zu sechs (oder sieben) Bataillonen, aus
einem Regiment Cavallerie und zwei Batterien (is Geschützen); die Cavallerie-
division aus 6 Regimentern in 2 Brigaden und einer oder zwei Batterien,
die Geschützreserve aus 6 (oder sieben) Batterien. Wie unzweckmäßig die Ein-
theilung in zwei Divisionen ist, kann man schon daraus erkennen, daß sie von
Anfang an auseinandergerissen werden muß, um nur eine einigermaßen zweck¬
entsprechende Orclrs als d^taille zu bilden. 1848 und 1849 ging man auch
wirtlich von dieser unverständigen Eintheilung ab, 1859 ist dies, so viel uns
bekannt, nicht beabsichtigt worden.
Will man das preußische Corps in seiner Integrität belassen, so würde
sich die Eintheilung direct in 4 Jnfantericbrigaden und eine Cavalleriedivision
von selbst darbieten. Noch besser aber möchte es sein, aus den Bestandtheilen
eines Armeecorps fünf Jnfnntenel'rigaden, jede von fünf Bataillonen und da¬
von 4 mit je 2 Escadrons und 1 Batterie, die fünfte aber mit zwei Regi¬
mentern Kavallerie und zwei Batterien zu versehen. Diese fünften Brigaden
würden von den Corps zu einem Zweck, den wir sogleich kennen lernen werden,
abgetrennt. Das Corps behielte dann: 4 Brigaden Infanterie: 20 Bataillone,
2 Regimenter Cavallerie. 4 Batterien; Cavalleriereserve: 4 Regimenter Kavallerie.
2 Batterien; Neserveartillerie: 4 Batterien. Total 20 Bataillone. 24 Escadrons,
10 Batterien. Die fünf fünften Brigaden von den 5 Armeecorps gäben zu-'
sammen 25 Bataillone, 40 Escadrons und 10 Batterien. Daraus könnte
man nun entweder ein neues Armeecsrps oder noch besser zwei solche bilden,
deren jedes man aber durch einen Theil der Contingente der kleinen Staaten
verstärkte. Aus diese Weise erhielte man statt der ursprünglich verfügbaren
fünf preußischen Armeecorps. deren sieben und man wird nicht leugnen wollet
daß für ein so ausgedehntes Kriegstheater, wie das niederrheinische, und bei
einer Feldarmee von 220,000 M. die Zahl von fünf Armeecorps noch !^
gering und ungeschickt ist. Durch eine noch weitere Anwendung desselben Ver¬
fahrens konnte man leicht auch noch ein achtes Armeecorps gewinnen.s
Bei der normalen preußischen Eintheilung kommt die Neserveartillerie de
Corps auf eine sehr bedeutende Stärke, auf die Hülste oder selbst mehr ^
die Hälfte der verfügbaren Batterien. Wir wollen nun durchaus nicht leugnen,
daß eine starke Neservcartilleric ihre sehr namhaften Vortheile habe. Indessen
damit diese wirklich zum Vorschein kommen, muß die Nescrveartilleric im höch¬
sten Maße geschickt benutzt werden. Trauen sich die preußischen Generale diese
geschickte Benutzung zu? Wir sind dessen nicht ganz sicher. Wir machen spe¬
ciell darauf aufmerksam, daß ein sehr durchschnittenes Kriegstheater — und
ein solches ist, wenn auch in etwas andrer Art, das niederrheinische ebensowol
als das italienische — eine geschickte kräftige Verwendung der Neservcartillcrie
sehr erschwert. So kam es denn z. B. bei Solserino vor, daß die Oestreicher.
welche auch eine sehr starke Neservcartillcrie haben, von den hundert und zwei
Batterien, über welche sie verfügten, nur 45. — schreibe vierzig und fünf —
ernstlich ins Feuer brachten, also im Wesentlichen nur ihre Brigadebatterien.
Während die Ncserveartillcrie fast auf allen Punkten zu spät kam und höch¬
stens ein Paar Schüsse thun konnte, um dann wieder zurückzugehen, da sie. stets
schon von allen Seiten überflügelt, in Gefahr gerieth, gänzlich abgeschnitten zu
werden. Die Franzosen, welche eine verhältnißmäßig schwächere NescrveartiUcrie
und dafür mehr Batterien bei den Truppen in erster Linie haben, kamen in
Italien schon hierdurch allein in Vortheil.
Die Feldarmee, welche England, Belgien und Holland vereint ausstellen
^unen. haben wir früher auf 120,000 M. veranschlagt. Davon kommen
°uf Belgien 00,000, auf Holland 30 bis 40,000, auf England 20 bis 30.000.
Manchem wird es vielleicht nicht recht einleuchten, wenn wir die englische
Landstreitmacht so gering anschlagen. Indessen erwäge man, daß England
immer, wenn es beträchtliche Streitkräfte für den Kontinent aufbringen wollte,
SU Werbungen auf diesem seine Zuflucht nehmen mußte, daß diese Werbungen
^er durch die neueren Verhältnisse im Allgemeinen sehr erschwert sind, und
unter den Umständen, die wir hier voraussetzen, noch mehr erschwert sein
würden. Die gestimmte Landstreitmacht der Alliirten, wenn wir die Alliance
Preußens mit Holland, Belgien und England voraussetzen, beliefe sich dann
sür das niederrheinische Kriegstheater auf 340,000 M. in freien Felde. Jene
Alliance müßte zu Stande gebracht werden können; aber wird von Preußen
auch nur ernstlich an ihr gearbeitet? Wir möchten daran zweifeln, wenn wir
"°n den Annäherungen zwischen Preußen und Rußland in neuester Zeit hören,
welche von Seiten Rußlands (und Frankreichs) sicher auf nichts anderes be-
^ehret siud und sein können, als Preußen bis zum richtigen Zeitpunkt zu tü-
p"'en (? d. Red.) und eine Wiederannäherung an Oestreich, die im Ausland
^Mer noch gefürchtet wird, obgleich sie, wie die Dinge einmal gekommen sind,
"us unmöglich scheint, zu hintertreiben. Man sieht, daß nur uns von der ge¬
wöhnlichen Art. Hecresstärken herauszurechnen. bei welcher es ohne Millionen
einmal nicht abgeht, gehütet haben. Wir halten die Ausstellung von Truppen,
zu welcher wir gelangt sind, für eine mögliche, welche man aber auch suchen
müßte, herauszubringen.
England als Verbündeter Preußens gibt nun aber noch eine Streitkraft,
welche für letzteres in einem Kampfe gegen Frankreich unschätzbar ist, seine
Seemacht. Die englische Flotte würde die Aufgabe haben, die französische
aufzusuchen und anzugreifen, wenn sie eben die Häfen verließe, oder, wenn es
dazu zu spät wäre, ihre Operationen an den Nord- und Ostseeküsten. Trans¬
porte dorthin ze. unmöglich zu machen, eine Blokade des obersten Waffen¬
platzes Belgiens und überhaupt der Seefestungen dieses Landes sowie Hollands
zu verhindern. Dies wären ihre Hauptaufgaben; sie enthalten alle Neben¬
aufgaben, zu denen wir auch die Mitwirkung bei einer etwa nöthig werden¬
den Vertheidigung von Englands Küsten oder ein Auftreten gegen die russische
und dänische Flotte rechnen, in sich. Wie weit die englische Flotte ausreichend
sein würde, diesen Forderungen zu genügen, mit welchem Erfolge sie gegen
die französische Flotte aufzutreten Aussicht hätte, darüber sind einige Andeu¬
tungen bereits in diesen Blättern (f. No. 38) gefallen. Die Frage scheint
uns dort nur angeregt, keineswegs entschieden. Was das Schießen zur See
betrifft, so theilen wir auch für heute noch Nelsons Meinung, daß man zur
See auch mit der großen Pistole, welche Kanone heißt, auf die Schußweite
einer kleinen Pistole herausgehen müsse und daß man dann das Geschütz so
tief richten müsse und könne, um dem Feind Grundschüsse zu geben. Dies
wird namentlich in der rangirten Seeschlacht, wo nicht mehr ein Schiff, so»'
dern eine größere Anzahl von Schiffen im Zusammenhang agiren soll, M
alle Zeiten wahr bleiben, trotz aller Armstrongkanonen und wie die MM'd-
instrumente sonst heißen mögen, die man erfindet und ausposaunt. So,
scheint es, kommt es im Seekrieg vornehmlich immer noch mehr auf das M-
növrircn, welches aus der Ferne sicher in die wirkungsreiche Nähe bringt, als
auf das feine Schießen an. Die amerikanische Idee, kleinere Fahrzeuge
zu bauen, jedes mit nur wenigen, dafür aber sehr weittragenden und
schweren Kanonen auszurüsten, die aus der Ferne die stark armirten Fah^
zeuge und Schiffe des Feindes in den Grund bohren sollen, hat in Europa
noch keinen Boden finden wollen und, wir glauben, mit Recht. Unter vielen
Schüssen sind mehr Treffer als unter wenigen, und die Feinheit des wirkenden
Instrumentes kann nur unvollkommen die Menge der wirkenden Instrumente
ersetzen. Was nun die richtige Einsicht in die Natur des Seekrieges betrifft,
so sind vielleicht die Franzosen weiter als die Engländer. Wir können nicht
ohne Mißtrauen mit ansehen, wie die Engländer so übertriebenen Werth auf
die Erfindung neuer Kriegsmaschinen legen, welche doch immer Maschinen
bleiben müssen. Es scheint uns dort in Dingen des Krieges eine Greisen¬
haftigkeit zu liegen, welche nichts Gutes verspricht. Man kann uns allerdings
entgegnen, daß eine ähnliche Greisenhaftigkeit sich auch in Frankreich finde.
Körperlich ist diese sicher vorhanden; mancher Zahlenmensch würde sogar aus
der Abnahme der Körperlänge und Körperkraft ausrechnen können, dah in so
und so viel Jahrhunderten die Franzosen völlig ausgestorben sein müßten.
Indessen, wenn ihr jugendliches Auftreten in der Politik und im Kriege auch
wirklich nur ein letztes Aufflackern des Greisengeistes ist. solches Aufflackern
dauert, wo es sich um die Geschichte der Menschheit handelt, bisweilen ziem¬
lich lange, und wer steht Ms dafür, daß der keltische Greis in den letzten
Augenblicken, in den gierigen Anstrengungen, sein Leben noch zu erhalten, es
nicht mit germanischem Blute verjüngt und auf Kosten des germanischen Le¬
bens wieder aufersteht! Es wäre dies nicht einmal eine neue Erscheinung.
In den Augen der Franzosen, welche überhaupt von diesen Leuten etwas
wissen (eine nicht sehr zahlreiche Classe), sind Clodwig und Carl der Große
eben auch Franzosen.
Frankreich kann an Landmacht ohne Beschwerde in wenigen Wochen auf¬
stellen 300000 M. Infanterie. 40000 M. Cavallerie. 30000 M. Artillerie, also
un Ganzen 370000 M. und, wenn man den Train, die Stäbe und Stabs
kuppen hinzurechnet in runder Summe 400000 M. Dazu kommen dann im
Le.use von höchstens drei Monaten als feldtüchtige Truppen etwa 100000 M.
vierte Bataillone der Jnfanterieregimentcr und ähnliche Organisationen. End¬
lich kann durch die Einziehung der nächst fälligen Recrutencontingente und
Reorganisation der Nationalgarten im Sinne des neuen Kaiserreichs und auf
den Punkten, wo dieses sie braucht, ein weiteres Materini von mindestens
2V0000 M. binnen einem halben Jahre gewonnen werden.
Bon den 400000 M., welche in erster Linie ausgestellt werden können,
würden 70000 von vornherein für Algier und die übrigen Colonien abzu¬
lehnen sein; für die Festungen, wenn wir fünfzig Plätze in dem heutigen
Frankreich als solche rechnen und auf jeden als Durchschnittsbesatzung nur
^00 M., müßte doch wenigstens das Drittel dieser Mannschaft sogleich von
der Linie abgegeben werden, also 50000 M. Es blieben daher für die erste
Aufstellung im freien Felde 280000 M. übrig. Wenn nun England nicht
Whig bleibt, sondern sich für Preußen betheiligt, so ist eine Küstenbewachung
unerläßlich, und wir rechnen auf diese mindestens 60000 M.. wobei wir dar¬
auf Rücksicht nehmen, daß die Besatzung der Seefestungen und der dem Meere
»unüchst gelegnen Plätze Aushilfe gewähren müsse. Dergestalt blieben sür die
Operationen im freien Felde 220000 M. übrig. Dem verbündeten Preußen
wie seinen deutschen Hilfsländern, England. Holland und Belgien wäre diese
^"ehe nicht ebenbürtig, wie der erste Blick zeigt. Indessen ist anzunehmen,
daß im Lauf der Dinge Frankreich seine Feldarmee beträchtlich, in größerem
^wfange und schneller verstärken könne als die Verbündeten. Nehmen wir
aber diese Verstärkung, den Abgang, der zugleich ersetzt werden muß, nicht
berechnet, auf »20000 bis 140000 M. an. so scheint dies wol viel gesagt-
Es ist dann etwa das Gleichgewicht hergestellt.
Dürfen Belgien. Holland und England für Frankreich nicht in Rechnung
gestellt werden, so bleibt als einzige Macht, welche Frankreich eine directe Unter¬
stützung liefern könnte, Spanien. Denn Italien wird schwer im Stande sein,
irgend etwas von seinen Kräften abzugeben. Spanien scheint allerdings keine
naheliegende Veranlassung zu haben, dem Kaiser der Franzosen ein Hülfscorps
zu stellen. Indessen wenn man sich die innere Lage der pyrenüischen Halb¬
insel vergegenwärtigt, welche es der Königin wol wünschenswerth machen
kann, einen Theil ihrer Heeresmacht in der Ferne zu beschäftigen, wenn man
an Piemont während des Krimkrieges, an das romanische Bündniß gegen die
Germanen denkt und etwa noch eine Erinnerung an die ehemahligen „spani¬
schen Niederlande", wie vage immer, hinzunimmt, so rückt eine Unterstützung
der Franzosen durch ein spanisches Hülfscorps ganz und gar in das Gebiet
der Möglichkeiten; von den Verwicklungen Spaniens mit Afrika und dem
Wunsch, dort mit Frankreich einig zu gehen, ganz abgesehen. Die Stärke
eines spanischen Hülfscorps für Frankreich und den Kampf auf dem nieder-
rheinischen Kriegstheater kann man allerhöchstens auf 20000 M. anschlagen.
Dagegen konnte nun möglicher Weise die Aufstellung eines französischen Ob'
servationscorps gegen die deutsche Oberrheingrcnze für nothwendig gehalten
werden. Obwohl dergleichen Obscrvationscorps häufig ein entschiedener Luxus
sind, so wird doch dieser Luxus getrieben, und es möchte bei einigem Geschick
der preußischen Regierung nicht so ganz schwierig sein, die Dinge in Süddeutsch'
land, also am Oberrhein so unsicher und zweifelhaft erscheinen zu lassen, daß
Frankreich ohne den Willen, hier anzugreifen, doch zu größeren Ausgaben an
Kraft sich bestimmen lassen würde, als bei Lichte und in aller Ruhe besehen
nöthig wären.
Ziehen wir nnn alle Factoren mit gehöriger Rücksicht zusammen, so si"'
det sich, daß Preußen es ohne Scheu mit Frankreich am Rhein aufnehmen
kaun, wenn es England, Belgien und Holland zu Verbündeten hat. Viel
schlechter stehen die Chancen schon, wenn nur Belgien für Preußen wäre
und England und Holland zusehen wollten. Tritt nun noch Belgien zu Frank¬
reich über, so kommt Preußen entschieden in Nachtheil. Wir brauchen die
Steigerung nicht weiter zu verfolgen.
Man glaube ja nicht, daß wir einen Sieg der materiellen Mindermacht,
über die materielle Uebermacht für unmöglich halten. Wir haben ja im Ge¬
gentheil die Möglichkeit eines solchen Sieges immer und überall vertheidigt-
Aber allerdings existirt sie nur unter der Voraussetzung geistiger Ueberlegen-
heit auf derjenigen Seite, auf welcher die materielle Mindermacht ist. Und
wir sind der Meinung, daß die geistige Überlegenheit sich schon vor dem
Kriege in der Gewinnung sicherer Bundesgenossen documentirt haben müsse,
wenn'man während des Krieges auf sie soll rechnen können. Der diplomatische
Sieg bereitet so sicher den Sieg auf dem Kriegsschauplatz vor. als ein Gene¬
ral k
Man würde die Jrrgänge der „öffentlichen Meinung" viel leichter cntfädcln,
Wenn man von vornherein eine größere Aufmerksamkeit auf die geheimen Mcmoeuvcr
Parteien richtete, welche diese Meinung zu ihren Zwecken ausbeuten. Im Laufe
dieses Jahres tauchten eine Menge von Gerüchten und Vermuthungen auf, welche
der „öffentlichen Meinung" zu feststehenden Thatsachen gestempelt wurden; auf
>dren Ursprung halte Niemand geachtet, sie waren aber von so verschiedenen Seiten
fortwährend wiederholt worden, daß es zuletzt damit ging, wie mit der Mißgeburt
Gellerts Fabel: alle Welt war bereit, die Wahrhaftigkeit derselben mit einem kör¬
perlichen Eid zu erhärten. Das leitende Dogma des Jahres war die Absicht des
Kaiser Napoleon, durch seinen Bund mit Sardinien den Rhein zu erobern; wer an
dieses Dogma nicht glaubte, galt als ein von den Franzosen erkaufter Verrnthcr.
Jetzt ist ein neues Dogma im Werk: Napoleon will vorläufig nicht den Rhein
Zobern, sondern England; zu diesem Zweck hat sein Bundesgenosse, der Kaiser von
Rußland den Prinzen von Preußen in Breslau bestimmt, in dem bevorstehenden,
Kriege neutral zu bleibe». Die Sinnlosigkeit dieses Gerüchts, springt in die Augen,
^hon wegen der Beziehungen des preußischen zum englischen Hos; was die beiden
Ersten mit einander zu verhandeln haben, da der italienische Kongreß vor der Thür
kann jedes Kind an den Fingern abzählen, und wenn das bisherige Organ der
preußischen Regierung, nicht in diplomatischen Formeln, sondern in schlichtem Deutsch
dies Gerücht für eine nichtswürdige Lüge und die Urheber desselben für nichtswürdige
Eigner erklärt hätte, so würde der ganze Spuk bald verschwunden sein.
So aber treten zuerst die Partciblätter aus. mit Andeutungen, Winken^ auch
Wol mit Versicherungen. Wie weit das Recht eines Parteiblattcs gehen'soll, haben
^ in dem Prozeß des Professor Vogt gegen die Allgemeine Zeitung von einer
Redaction erfahren, von der wir es doch nicht erwarteten; von der Kreuzzeitung
^are es uns begreiflicher gewesen. Nach den Pnrtciblättcrn kommt eine andere
^csssc von Zeitungen, die von der Wahrheit sehr wohl unterrichtet sein könnten, ja
Unterrichtet fein müßten. Diese Klasse führt die Aussage der Partciblätter blos an,
^ nicht, ohne hinzuzusetzen, daß jene Blätter in der Regel gut unterrichtet seien.
^"Nu folgt eine dritte Klasse: diejenigen liberalen Zeitschriften, die durchaus wohl-
'Ncinend sind, aber den Wald vor Bäumen nicht sehen; diese raisonniren folgender¬
em: es wäre von der zweiten Klasse, die in der Lage ist, sich von der Wahrheit
'"'er Thatsachen vollständig zu unterrichten, eine grenzenlose Frechheit, wider beßres
Wissen ein solches Gerücht zu sanctionircn; es ist vielmehr anzunehmen, daß s«
sogar mehr weiß, als sie aussagt. Hat nun gar die Geschichte ihren Weg in die
kleinen Localblätter gefunden, die es aufnehmen, weil sie doch ihrem Publittim ir¬
gend etwas neues erzählen müssen, so ist dem Uebel nicht mehr zu helfen; und
wenn dann endlich die thatsächliche Widerlegung eintritt, so hat die Sage ihre Wir¬
kung gethan und wird mit voller Anerkennung ihrer Verdienste in den Ruhestand
verseht. Glücklicher Weise steht in diesem Augenblick nicht viel auf dem Spiel-
Rußland und Preußen werden bald Gelegenheit haben, ihre Ansichten öffent¬
lich auszusprechen, und wir hoffen, daß das nicht im Gegensatz, sondern im
engsten Verein mit England geschehn wird. Wenn ein leidenschaftlicher Tory Z"
Gewehren für Garibaldi unterschreibt, so ist das ein nicht zu verachtendes Symp¬
tom, daß auch in conscrvntiven Kreisen die Ueberzeugung mehr und mehr Raum
gewinnt: das europäische Gleichgewicht und das monarchische Princip fordern gleich¬
mäßig eine kräftige Unterstützung der sardinischen Politik.
Ein noch glücklicherer Umstand für die Aufhellung des deutschen Parteiwesens
ist die jetzige Wendung der kurhcssischen Angelegenheit. Während" des italienischen
Krieges konnten wahrhaft liberale Männer erklären, sie seien sür Oestreich gegen
Italien, nicht obgleich, sondern weil sie liberal seien; dasselbe konnte bei der Eis--
nacher Bewegung geschehen. Es konnte geschehen, weil weder die Voraussetzungen,
noch der letzte Zweck, noch die Mittel klar hingestellt waren. Die kurhcssischc Frage
dagegen ist recht dazu angethan, die Spreu vom Weizen zu sondern, und wenn
auch diesmal der Ultramontanismus sich in ein liberales Gewand einhüllt, so kann
auch diese Maske wenigstens Niemand mehr täuschen, der nicht vorsätzlich seine Au¬
gen verschließt.
Zwar fehlt es an Vorwänden auch diesmal nicht. Schon haben wir vo»
östreichischen Blättern vernommen, es handle sich nicht um Recht oder Unrecht >"
Kurhessen, sondern um östreichische oder preußische Hegemonie. Insofern kann mein
ihnen beipflichten, als die Tragweite der jetzigen Entscheidung weit über das HcsscN-
lemd hinausgeht; auch der Einfluß Oestreichs und Preußens ist enge damit verfloch¬
ten i aber es gilt viel mehr, es gilt die Frage, ob der Bundestag, d. h. die Gesammt¬
heit der deutschen Regierungen, auf dem Wege, den sie 1852 eingeschlagen hat, fort¬
gehen oder einen andern aufsuchen will.e
In dem Protest gegen die Motivirung des Antrags der Mittclstaatcn über di
Bundcskricgsvcrfassung hat Preußen erklärt, das Ansehen des Bundestags werde
um so fester stehen, je weniger er seine Befugnisse übcrschrc'ne. Dieses Prin¬
cip hat es auch bei seiner Denkschrift in der kurhcssischen Sache im Auge behalten-
Der Bundestag hat bei seiner Einwirkung auf die Verfassungen der einzelnen Staaten
nur zweierlei im Auge zu halten: erstens die Uebereinstimmung derselben mit dein
Bundesrecht; zweitens die formelle Legalität derselben. Der Bundestag hat
Recht, diejenigen Bestimmungen einer Einzel-Verfassung zu bezeichnen, welche dem
Staate die Erfüllung feiner Bundespflichten unmöglich machen, auf die Abstellung
derselben zu dringen und wenn diese auf legalem Wege nicht möglich ist, Z">""6
eintreten zu lassen; das ist die Grenze seines Rechts.
Der Bundestag ist 1852 weiter gegangen, er hat, ohne den Rechtsweg zu
suchen, die kurhessische Verfassung, welche 21 Jahre bestand, einzelner Bestimmung-n
U'egen außer Wirksamkeit gesetzt und einen provisorischen Verfassungsentwurf scmctio-
gegen den sich nicht nur das gesammte „Volk", sondern sämmtliche Behörden,
Militärischen mit einbegriffen erklärten. Die knrhcssische Regierung hat die alte
^'fassung gestürzt und zuerst mit direkter, dann mit indirekter Unterstützung des
Andes mit der neuen zu regieren versucht. Es war nicht eine einzelne rettende
^)at, sondern eine unendliche Reihe rettender Thaten, deren jede durch die vorhcr-
Skhcndc nothwendig gemacht wurde. Das letzte Resultat dieser ganzen Reihe ist,
"ß die nach dem gegenwärtigen System zu Stande gekommene und zehnfach gcmasz-
^^gelte Kammer mit einer an Einstimmigkeit gränzenden Majorität die Wiederher¬
stellung der Verfassung von 1831 fordert, d. h. sich selbst für inkvmpctcnt erklärt,
Mit der Regierung einen neuen Rechtszustand zu vereinbaren.
Dieses letzte entscheidende Resultat >var freilich der östreichischen und hessischen
^^gicrung unbekannt, als sie ihre Denkschriften gegen Preußen veröffentlichten, und
Mit ihm fallen ihre hauptsächlichen Argumente zu Boden. Dennoch ist der prin¬
cipielle Gegensatz wichtig genug, um hier im deutschen Interesse mit Beseitigung
ttller Nebensachen hervorgehoben zu werden.
Die östreichische Denkschrift, deren höfliche, ja in gewissem Sinne geistreiche
Toren wir gern anerkennen, gesteht der preußischen Vieles zu: sie erklärt sich zu
größern Concessionen an die Wünsche des hessischen Volks bereit, fir läßt sich, ebenso
die preußische, auf die Frage nach der Äechtmäßigkcit des Verfahrens von I8!>2
U'eilig oder gar nicht ein, aber sie argumentire folgendermaßen: der Bnndcsbeschluß
1852 ist einmal erfolgt; die Zurücknahme desselben (und daß es sieh um eine
Zurücknahme handelt, geben wir der östreichischen Denkschrift zu) würde erstens
. de>s Ansehen des deutschen Bundestags vor dem deutschen Volk kompromittiren, zwei-
^us die hessische Regierung in Verlegenheit setzen, die im Vertrauen auf die Hilfe
Bundes gehandelt hat.
Den ersten Punkt bestreiten wir unbedingt und behaupten das Gegentheil. Man
^ille daran, daß hier nicht von einem äußern Druck die Rede ist. Wenn der Bun¬
destag aus eignen freien Entschluß einen Schritt, der nicht aus Rcchtsgründcn,
sondern aus Gründen der Zweckmäßigkeit geschah, in Folge einer siebenjährigen Er-
l^yrung, daß dadurch nichts erreicht werden kann, zurücknimmt, so wird sein An-
'^)an im Volk sich nicht vermindern, sondern aus eine unglaubliche Weise vermehren.
Und das deutsche Volk, stets zum Vertrauen geneigt, wird alle seine Hoffnungen
^'der auf dieses Institut setzen. Zudem hat die preußische Denkschrift ganz richtig
Auseinander gesetzt, daß die Form des Bundcsbcschlusscs von 1852 in ihrer Dahn-
"rkcit eine formelle Zurücknahme desselben unnöthig macht.
Die kurhcssische Denkschrift weist nach, daß die Verfassung von 1831 mit dem
^?">Pflugschen System unvereinbar ist; dagegen hat sie den Nachweis von der
Nothwendigkeit des hassenpflugschcn Systems nicht geführt. Da dies System im
^nde selbst alle Klassen gegen sich und in Deutschland keinen Credit hat, so wäre
i°Me Beseitigung schon im deutschen Interesse wünschenswerth, und wenn die Wie-
^urführung der Verfassung von 1831 dazu beitragen könnte, so wäre das viel
'^hr ein Grund, dafür als dagegen zu sein.
'
. , Wie kam der Bundesbcschluß von 1352 zu Stande? Weder bei Oestreich noch
' Baiern noch bei einem andern der verbündeten Staaten ist ein positives In-
tercssc für Hassmpflug vorauszusetzen: sie schätzten in ihm nur einen der thätigsten
Vorkämpfer gegen die Union. Herr von Manteuffel, der in Olmütz gezwungen
wurde die Union aufzugeben, suchte sich dadurch zu entschädigen, daß er sich gemein¬
schaftlich mit seinen bisherigen Widersachern an seinen bisherigen Freunden rieb!
er opferte die deutsche-Sache in Schleswig-Holstein, in Hessen, überall, machte die
berühmte Bemerkung über die „Revolution im Schlafrock und Pantoffeln," und
ließ sich die innere Politik des Herrn von Westphalen gefallen, die freilich dem hast
fcnpflugschen System nichts vorzuwerfen hatte.
Mit dem System Olmütz hat Preußen nun definitiv gebrochen; es hängt nur
von Oestreich und den Mittelstaaten ab, ihm darin treulich beizustehen, so kommt
dadurch eine Einigkeit Deutschlands zu Stande, die einer straffem Einheit'Sform nicht
bedarf. Wenn das deutsche Volk im Bundestag, wie er jetzt besteht, den Pfleg-r
seiner Rechte sieht, so wird die Idee einer Bundesreform keinen Anklang finden;
sucht man dagegen die alten Parteizwiftigkeitcn wieder hervor und lenkt, wie es
jetzt bereits geschehen, die allgemeine Aufmerksamkeit darauf hin, so wird damit Preu¬
ßen mit Gewalt in jene Unions- Politik getrieben, für welche die Chancen jetzt günstiger
sind als 1849.
Das Rundschreiben des Grafen Walcwski vom 9. Nov. enthält gegen
den Brief des Kaiser Napoleon an Victor Emanuel nichts Neues_abgesehen von
den 60 Mill. Fr., die sich Frankreich von Sardinien als Entschädigung auszahlen
läßt. Es constatirt, daß über die Angelegenheiten Mittelitaliens in Zürich nichts
weiter ausgemacht ist, als die Feststellung der gegenseitigen Wünsche, Ansichten und
Ansprüche. Von den Anforderungen Frankreichs sind drei diesmal nicht erwähnt-
die Einsetzung der Herzogin von Parma in Modena, die Einverleibung von Parma
in Sardinien, die Verwandlung von Mantua und Peschiera in italienische Bundcs-
fcstungcn. Ueber die Mittel, die Herzogthümer in Ordnung zu bringen, ist nichts
vereinbart worden. Dem Kongreß ist also ein sehr breiter Raum gelassen, und
Preußen und Nußland — die einzigen Mächte, deren Ansichten noch nicht bekannt
sind — werden auf die Entscheidung, da die drei übrigen Großmächte divergiren,
einen sehr bedeutenden Druck ausüben können; sie werden es namentlich, wenn ste
sich unbedingt mit England vereinigen. — Was im entgegengesetzten Fall, was
überhaupt bis dahin geschehen soll, ist schwer zu sagen. Kaiser Napoleon hat seinem
bisherigen Alliirten. wie es scheint, in sehr bedrohlicher Weise, abgerathen, die Re¬
gentschaft des Prinzen von Carignan zuzulassen. Die englische Presse wetteifert
in guten Rathschlägen an Victor Emanuel. auf diese Warnung nicht zu ach¬
ten; ein Volk müsse sich die Freiheit selbst erkämpfen u. f. w.: Rathschläge-
die äußerst wohlfeil sind, da immer sofort hinzugefügt wird, England dürft
sich nicht einmischen. Jene Redensarten werden so lange lächerlich sein, "is
man nicht den Beweis führt, daß 80.000 M. halb disciplinirter Truppen mit
Erfolg einem Heer von 800.000 M. disciplinirter Truppen widersteh» können-
Bleibt Napoleon bei seinem Vorsatz, und wird er von Nußland und Preußen dar'N
bestärkt, so versteht es sich von selbst, daß Victor Emanuel sich fügen und bessere
Zeiten erwarten muß: gewonnen hat er — und mit ihm die Sache Italiens ^
durch den Frieden genug, wenn er die neuen Provinzen mit den alten wirklich mili¬
tärisch, administrativ und parlamentarisch zusammenschmilzt. Freilich bleibt dem»
^ Wunde Italiens in einer für Frankreich vielleicht bequemen, für Europa aber
^ gefährlichen Weise offen, und darum können wir noch immer nicht der Hoffnung
^s"g">, ^fz die drei bisher unbetheiligten Mächte sich über eine Entscheidung eini¬
gn w
Friedrich der Große und Katharina die Zweite. Von Kurt von
, chlözer. — Berlin, Hertz, — Ein sehr bedeutender Beitrag für das Verständniß
^"er Zeit (1740 — 72), namentlich für die Umstände, welche die erste Theilung Polens
Wbeigeführt haben. — Ueber das Verhältniß Rußlands zu Preußen zeichnen wir
Zunächst ej„ bemerkenswerthes Wort des großen Königs auf, das noch jetzt Anwen-
Ug findet: I,a RuLLi<z us «Zoll xoiut se eainptsr xarmi nos vöiitirdies ennomis:
^ 6 n'g, risn ^ clömeler aveo I>rü88ö; e'est un enneini aoeläsutel. Die
Interessen Rußlands sind den Preußischen nicht unbedingt entgegengesetzt. Dazu
der zweite Umstand: ü, ä'^uti-hö snnemis on xsut. rsnärs Is mal xour
es eini äsvieut imxossidls ouvers la Nussis, ü> moins ä'^voir uns tlotts
^vsicZg^^^ pour xrotsger et nourrir 1's.rmLv cM äiriZLrait ses oxürations sui- Le.
^bourZ moins. — Die beiden Wahrheiten sind zu bedenken. Freilich muß
"n die dritte hinzufügen: wenn Preußen sich mit Rußland in ein Bündniß ein-
so muß es mit all den Vorsichtsmaßregeln und der Wachsamkeit geschehn, als
^ .der Freund sich über Nacht in den tödlichsten Feind verwandeln könnte. — Auch
Alands Politik ist dadurch merkwürdig, daß sie im Großen und Ganzen betrachtet,
unbezwinglichen Naturkraft geleitet, einen zusammenhängenden, ein-
leben Gang verfolgt; daß sie aber im Einzelnen, eben der despotischen Ncgic-
ösform wegen, mehr als in irgend einem andern Reich von Laune und Willkür be-
>ut wird. Das eine darf man nicht aus den Augen lassen, wenn man das
^ndere in.Rechnung zieht. Auf welche Weise die Willkür von Zeit zu Zeit aufgehoben,
h,, "b!olute Regierungsform „temperirt" wird, ist bekannt: will man eine augen-
'etliche Stimmung Rußlands ausbeuten, so muß es mit der Schnelligkeit des
>des geschehn; denn nur zu bald tritt jenes Walten der Raturtrast wieder ein.
^„^ber die Hofgeschichtcn und ihren Einfluß auf die Politik haben die vor kurzem
Nj ^uentlichten Denkwürdigkeiten von Siepers und Suworow ein dankenswerthes
verbreitet; durch das vorliegende Büchlein wird die Helle um ein Bedeutendes
ist '^^> auch lernt man daraus richtiger erkennen, was Diplomatie heißt. Diplomatie
i^>ehe vergessen. Die Diplomatie unter Friedrich dem Zweiten hat viel, gewirkt;
e>,,x Mann hinter sich. Die Diplomaten der folgenden Zeit haben
^ nicht beneidenswerthe Rolle gespielt. — Was nun die Theilung Polens de-^/^«s Wichtiges, als geschicktes Werkzeug eines eisernen Willens; Diplomatie ist ein
zu
^ hatter^v . / " ' — ^.»»^»».g .— .....-------> —— >
zu , dieser leitende Wille fehlt. Das mag trivial klingen, aber es wird
trifft, so-stellt sich als unwiderleglich heraus, daß der gute Ruf, den sich Oestreich
zu erwerben wußte, als habe es nur mit blutendem Herzen in jenes „politische
Verbrechen" gewilligt, ein unverdienter ist. Daß Preußen sich vergrößerte, war f>-'^
lieh sehr gegen die Absicht des Kaiserstaats, aber es waren ausschließlich die östrcich''
schen Gewaltthaten, die Preußen in diese bedenkliche Politik trieben. Zwischen beiden
Mächten hat Katharina sehr geschickt lavirt, von moralischen Rücksichten wußte
nichts, und ihr gegenüber konnte man nur Gesichtspunkte der Klugheit walten lasset
Der Hauptpunkt bleibt immer: zum Eingriff in das polnische Gebiet war Preußen
durch seine zerstückelte Lage genöthigt; früher oder spater mußte es dahin kommen,
daß entweder das ganze Ordcnsland >— das Stammland der Monarchie — an P^'"
oder Nußland verloren ging, oder daß Preußen die dazwischen liegenden Gebiete an
sich riß. Wo die Lebensfrage so bestimmt gestellt ist, handelt es sich nur um ^
Wahl des richtigen Moments. — Dankenswcrth ist noch in diesem Buch, daß StiM
zer den engen Zusammenhang zwischen der türkischen und polnischen Frage in e>n
klares Licht gesetzt hat.^
Christian Markgraf zu Bran denburg - Cul in b ach, 1603—1655.
Auf Grund der vorhandenen und neuen Quellen bearbeitet und seinen Zeitgenossen
erzählt von Hartwig Paatz, Mitglied des historischen Vereins von Oberfranken,
Baireuth, Gießet. —- Gegen den historischen Roman, wie er von W. Scott erfunden
und ausgebildet wurde, sind in neuester Zeit, sowol vom künstlerischen wie vom
wissenschaftlichen Standpunkt sehr erhebliche Einwendungen gemacht worden: dr>r)
die Mischung von Wahrheit und Dichtung soll das eine wie das andere bceintracl
ligt, durch dieModernisiruug der Sprache die Localfarbe verwischt werden. ^
haben schon mehrmals ausgesprochen, daß wir diesen Vorwürfen, so weit ste "
aus W. Scott beziehen, nicht beipflichten können, daß er nach unserm Gefühl sNi
durchweg das richtige Maß gehalten hat. — Diese Ansicht schließt aber den Versus
keineswegs aus, in der historischen Farbe gewissenhafter zu sein. Thackeraus ^
Dsmonü bleibt immer ein sehr bedeutendes Werk, wenn uns auch zuweilen die
s. » s'hr -ermüdet, und dasselbe .aße sich non Kingslcys ^w»ra Ab¬
sagen, welcher Roman uns freilich die Zeit der Königin Elisabeth viel sinnlich"
vorführt als W. Sav.es Leniwortd. Der Verfasser der gegenwärtig Schrift
äußerst gründliche Historische Studien gemacht, und in Bezug aus die SittengescM'
des drnp.g.adrigen Kriegs läßt sich sehr viel aus ihm lernen-, wir Hütten aber
wunjcht. daß er seinen Forschungen die Form gegeben hätte, die sich dafür eign-t,
,d.c streng Historie; seine künstlerischen Zuthaten sind ohne Werth und in der Nach¬
ahmung des Jargons aus dem siebzehnten Jahrhundert sieht man eben stets
Nachahmung heraus, so daß man keine Freude daran hat. Will man jene Sprach-
versinnlichen, so muß man treu ausschreiben: in jener Weise erfinden kann mir
Unmittelbar nach dem Präliminarfricden von Villafranca ist Rußland mit
>°mer Reihe überaus bedeutsamer Finanzmaßregeln hervorgetreten. Die Durch-
führung derselben läßt sich nur unter unmittelbarer oder mittelbarer Mithülfe
der außerrussischen Finanzkräfte Europas denken. Grade jene beiden, welche
die größten Geldmassen in der kürzesten Zeit in Anspruch nehmen, sind sogar
sast ausschließlich darauf berechnet, daß die großen außerrusfischen Geldmärkte das
Material, d. h. die Geldmittel dafür stellen. Denn die Wiederaufnahme des An-
ichns von 12,000,000 Pfd (d. i. in runder Summe 140. Mill. si.) bei Thomson,
Vonar und Comp. konnte natürlich nur unternommen werden, nachdem die
Gründe nicht mehr vorhanden waren, mit denen man (im Anfang des April)
die vorläufige Rückgängigmachung des Geschäftes motivirt hatte. In der offi.
iiellen Erläuterung zu dem betreffenden Ukase hatte es nämlich ausdrücklich
geheißen: „der Termin für die Subscription auf diese Anleihe in London und
Berlin war auf den 28. April (10. Mai) bestimmt; unterdessen verursachte
in Italien zwischen Oestreich und Sardinien ausgebrochene Krieg und
^e ganz unbegründeten Gerüchte von einer Theilnahme Rußlands an dem-
selben den europäischen Börsen einen panischen Schrecken, und die Staatspa-
Piere sind überall im Werthe gesunken, woher die Anleihe njcht mehr zu den
sanberen vortheilhaften Bedingungen möglich wird." Ebenso gründet die
"Petersburger Bank- und Handelsgesellschaft." zu welcher die Herrn Hanse-
wann. M. v. Haber und v. Mülhens concessionirt wurden, die Möglichkeit der
Beschaffung eines Kapitals von 200 Mill. Fr., wobei die Gründer sich ver-
Achten, „im Laufe eines Jahrs wenigstens ein Viertheil des Kapitals her¬
beizuschaffen." offenbar vorzugsweise auf die Spekulationslust ausländischer
Kapitalisten. Denn abgesehen davon, daß das russische Kapital von den Actien
^' Vr-wÄo L0l!i6t«z dos eliLmws ac Kr russes (Stammkapital 270 Mill. Thaler)
wesentlich in Anspruch genommen wird, darf man nicht vergessen, daß das-
^be auch durch tausendfache Jndustrieprojccte gleichzeitig absorbirt ist. so daß
'"bst die innere vier und einhalb prozentige Anleihe von 40 Mill. Silberrubel.
welche bereits im Sommer vorigen Jahres zu den günstigsten Bedingungen enut-
tirt wurde, nicht effectuirt werden konnte. Nunmehr ist jedoch auch diese innere
Anleihe soeben wieder aufgenommen worden. Dazu trat gleichzeitig die Con-
cessionirung der Moskau-Saratow-Eisenbahn, welche ein Baukapital von
45 Mill., SR. fordert, wofür der Staat allerdings vier und einhalb Prozent
Zinsen auf 80 Jahre garantirt, im Uebrigen aber nicht so günstige Bedingungen
gewährt, als sie die große Eisenbahngesellschaft besitzt, welcher z. B. eine sünfpro-
zentige Verzinsung auf 85 Jahr gewährleistet wurde. Die Actionäre der Staats¬
bahnen werden sich also schwerlich in größerer Zahl an der Moskau-Sara-
towbahn betheiligen; die Actionäre anderer Privatunternehmen sind gleichfalls
bezüglich der Zinsen meistens besser gestellt, und diejenigen, welche bei un¬
sichern Projecten bereits Verluste erlitten, werden sicherlich ebenfalls nicht ge-
neigt sein, ihre Gelder in einem Schienenweg anzulegen, welcher allerdings
unzweifelhaft eine außerordentlich große Zukunft besitzt, jedoch unmöglich eher
zu diesem Ziele gelangt, als bis die Hauptlinien des großen Staatsbahnnctzes
nicht blos vollendet sind, sondern auch längs ihrer Schienenstränge bereits
eine wirkliche Jndustrieentwicklung ins Leben gerufen haben. Dies aber
ist kaum denkbar, so lang die Emanzipation der Leibeignen nicht blos selber
hergestellt ist, sondern ihrerseits auch die Umgestaltung der materiellen Ver-
hültnisse vollzogen hat, welche von der sozialen Reform erhofft wird. Auch
die Moskau-Saratowbahn wird also ihre Actien vorzugsweise außerhalb Ruß'
lands an den Mann bringen müssen, um an den Börsen zwar nicht als SpccU'
lationseffect, wohl aber als Anlage von Privatkapitalien eine Rolle z»
spielen. Ja, es scheint beinahe, als ob die russische Finanzpolitik etwas der¬
artiges gradezu in Aussicht genommen habe. Denn in demselben Momente,
in welchem die Petersburger Handels- und Bankgesellschaft, sowie die Mos-
kau-Saratow-Bahn concessionirt, die ausländische und die innere Anleihe aber
zur Verbesserung der Valutaverhältnissen wieder aufgenommen wurde in
diesem selben Momente bestimmte ein Ukas, daß „alle Kapitalien, welche sich
thatsächlich in den verschiedenen Creditnnstalten befinden und dort von
öffentlichen Verwaltungsbehörden, Wohlthätigkcitsinstitutcn, Kirchen und
Stiftungen jeder Art deponirt, desgleichen alle Kapitalien, welche prozessireN'
den Parteien angehören und entweder freiwillig oder auf richterlichen Befehl
dort niedergelegt worden sind oder in Zukunft eingezahlt werden, von
jetzt ab zur Verfügung des Finanzministers gestellt sind." Daß aus soM
Weise diese großen Kapitalien der Theilnahme an der industriellen Speculation
vollkommen entzogen sind, ist selbstverständlich. Ihre volle Beleuchtung erhalt
aber diese Maßregel erst dann, wenn man sich zugleich erinnert, daß auch
freiwilligen Einlagen der Privatkapitalisten bei den Creditbanken bereits seit dew
März laufenden Jahres in vierprozentige Renten verwandelt wurden, also fer-
"erhin nur mit vieler Schwierigkeit von den Besitzern der dafür ausgegebenen
Nnchsbillets" (in Appoints von 250 bis 100,000 SN.) als roulirendes Geld zu
Jndustriezwecken verwendet werden können. Daß die Negierung damit direct
Ziel verfolgte, den ferneren Abfluß der Einlagen bei den Neichscreditan-
stalten zu gewerblichen Zwecken zu stopfen, war überdies in dem betreffenden
Ukas vom' 13/25 März ganz unverhohlen ausgesprochen. Wir werden weiter
ausführlicher darauf zurückkommen.
Faßt man das Gesammtziel der Finanzmaßrcgeln vom Juli zusammen,
so erhellt deutlich, daß das außerrussische Europa' eine Summe von 240
bis 300 Mill. Gulden für die Beförderung der russischen Industrie-, Handcls-
und Eisenbahnzwecke einzahlen, ferner mit Nußland etwa 80 Mill. zur Verbesse¬
rung der Valuta beschaffen soll, während die in den Neichscreditanstaltcn
niedergelegten Gelder, deren statutarische Bestimmung die Unterstützung der
privaten landwirthschaftlichen. industriellen und merkantilen Thätigkeit ist, für
Staatsbedürfnisse und Rcgierungszwecke zur Disposition gestellt werden. Unter
solchen Verhältnissen erscheint die Frage nach dem Stande der russischen Staats-
finanzen und der seit dem Regierungsantritt des Kaisers Alexander des Zwei¬
en befolgten finanziellen Politik jedenfalls keine müßige. Dies um so mehr,
^s trotz der vielen Reformen in den verschiedensten Sphären des Staatsle-,
dens das Finanzwesen und die Finanzzustände noch immer ein siebenfach ver¬
siegeltes Buch sind. Es kann uns nicht sowohl darauf ankommen, eine Kritik
^eher Verhältnisse zu versuchen, als vielmehr einfach daraus, eine Ueber¬
sicht der hierher gehörigen, obschon jedenfalls blos lückenhaft bekannt gewor¬
denen Thatsachen zusammenzustellen. Wir müssen zu dem Zwecke einige all-
Semeine Notizen über die Finanzlage im letzten Jahrzehnt der Regierung des
Kaisers Nikolaus voranschicken.
Daß keine authentische Veröffentlichung des Budgets in Nußland existirt.
darf als bekannt vorausgesetzt werden. Auch die etwa hier und da. unregel¬
mäßig, stets bloß fragmentarisch an die Öffentlichkeit getretenen Jahresabrech¬
nungen sind kaum offiziösen Ursprungs gewesen und jedenfalls niemals ohne ganz
bestimmte Tendenzen dem Publikum zum Besten gegeben worden. Daß ferner¬
en eine authentische Veröffentlichung der Voranschläge oder Staatsabrechnun-
K°n erfolgen werde, steht eben so wenig zu hoffen, da der diesfallstge Vor¬
tag des jekigen Finanzministers Kniajewitsch (seit dem 4/10 Ayrt 1858
^ Amt) am Widerspruch des Reichsraths, und Ministerconseils gescheitert es.
?" den letzten Fnedensjahren der Negierung des Kaisers Nikolaus wurden nun
^i^. —ti
bislahrlichcn Staatsausgaben Rußlands von den besten Statistikern auf 275
. 280,000.000 berechnet. Bei weitem schwankender waren bie Angaben
^ die Staatseinnahmen und nur darin übereinstimmend, daß sie die Aus-
niemals erreichten, ja selbst unter ganz gewöhnlichen Verhältnissen ein
Jahresdefizit von 4 bis 8 Mill. SR. übrig ließen. Unter solchen Umständen
stieg die Gesammtschuld — innere wie äußere unaufkündbare und Termin-
schuld — in dem Jahrzehnt 1844 — 54 um mehr als 300 Mill. SN., wäh¬
rend sich die äußere Terminschuld bloß um etwa 18 Mill SR. verminderte.
Von jenem Zuwachs kommen jedoch allerdings etwa 150 Mill. SN. auf das
Finanzjahr 1853 — 54, also aus die Vorbereitungen und Einleitungen zum
orientalischen Krieg. Rühmend ist dabei hervorzuheben, daß auch die Finanj-
minister Wro-ntschcnko und Brock den praktischen Grundsatz ihres Vorgängers
Kankrin consequent festhielten, nämlich die peinlichst gewissenhafte Erfüllung
aller äußeren Verpflichtungen. Dadurch erhielt sich Rußlands Credit an den
europäischen Börsen unter den wechselndsten politischen Verhältnissen fortwährend
unverändert, und selbst bei ungünstigen Lagen des Geldmarktes vermochte das
Kaiserreich seine Anleihe unter keineswegs ungünstigen Bedingungen zu effectuiren.
Dies hätte nun freilich nicht ermöglicht werden können, ohne das Kankrinsche
System auch nach seiner verderblichen Seite fortzusetzen, indem die Gelder der
Reichscrcditanstalten vollkommen wie Staatsgelder gehandhabt wurden. Land-
Wirthschaft und Gewerbthätigkeit entbehrten dadurch der Unterstützung durch
die von ihnen selber eingelegten Kapitalien. Während zugleich durch eine
vollkommen unzulängliche Creditgesetzgebung der Privatcredit zu Gunsten des
Staatscredits herabgedrückt wurde, operirte der Staat auch als Bankier mal
seinen Neichscreditkassen beinahe monopolistisch. So war es eine natür¬
liche Folge des ganzen Systems, daß die aus der productiven Volkswirthschaft
entspringenden Quellen der Wohlhabenheit des Staats allmälig immer spar¬
samer flössen. So geschickt dies auch durch allerlei täuschende Operationen
und finanzielle Kunststücke verhüllt, so tief verschleiert auch das ganze Finanz¬
wesen erhalten wurde, so verlockend auch die kolossalen Baarmassen des Neichs-
schcitzes in den Gewölben der Peterpaulscitadelle bei der jährlichen Nevisions-
ceremonie erklangen, so transigirte dennoch eine Ahnung der wahren Verhält¬
nisse allmälig in der Finanzwelt. Es wäre sonst nicht wol zu erklären, warum
die Anleihen des genannten Jahrzehnts zu immer niedrigerem Cours emittirt
werden mußten, obwol der Zinsfuß unverändert blieb.
Am 1. Jan. 1854 wurde nun die Gesammtschuld Rußlands in folgender
Weise specisicirt:
Mit dem Beginn des Kriegs entzog sich das Verhältniß zwischen Aus¬
gabe und Einnahme selbst jeder annähernden Berechnung. Jetzt mißlangen
""es verschiedene Versuche zu ausländischen Anleihen, und erst 1357 ward in
Uzender Weise der Stand der Gesammtschuld vom 1. Jan. 1855 veröffent¬
licht:
Bis zu diesem Momente hatte die Geschäftswelt die umlaufende Masse
d" nufnotirten Werthzeichcn wenigstens ungefähr überblicken rönnen; mit
dem Beginn des Jahres 1855 aber hörte diese Möglichkeit auf. Denn
um Mas vom Januar ermächtigte den Finanzminister „alle außerordentlichen
Kriegskosten" durch temporäre Emission von Reichskreditbillets zu decken, wah¬
rend auch die Creirung neuer Schatzscheinserien 5 vier Millionen SN. fort¬
dauerte. Die Papierausgabe fand also prinzipiell von diesem Moment an
""e einzige Begrenzung in der Befriedigung der momentanen Bedürfnisse des
Staates; die einzige Verpflichtung, welche dieser übernahm, bestand in dem
versprechen, das jetzt ausgegebene Papier ..drei Jahre nach Abschluß des
Friedens und wo möglich früher" allmälig wieder einziehen zu wollen. Die
Nnanzwirthschast befand sich demzufolge wieder genau auf demselben abjchussi-
S°n Wege, welcher unter Alexander dem Elster mit der großen Assignatenkala-
""tut geendet hatte. Damals hatte die Ausgabe von etwa fünfhundert
Millionen Rubel hingereicht, sie zum Ausbruche zu bringen. Jetzt war dies
allerdings zunächst nicht zu fürchten; aber man darf nicht vergessen, daß das
System der unbeschränkten Ausgabe vou Neichscreditbillets seitdem conse-
^neue fortbesteht, während die materiellen Garantien, auf denen der Credit
^ Papiergeldes beruht, sich nach verschiedenen Richtungen hin vermindert
haben.
Die Erbschaft, welche Alexander der 'Zweite auch in dieser Beziehung bei
lewer Thronbesteigung im März 1855 übernahm, und zwar nothwendig ohne
d"s Benefiz des Inventars übernehmen mußte. war allerdings d.e schwierigste,
^lebe sich denken läßt. Fast schon auf dem Sterbebett hatte Kaiser
^kolaus in politischer Hinsicht das Kaiserreich vollends isolirt und jenes Iwlts-
^waffnungsmanisest erlassen, welches auch die letzten Kreise der produce.ven
Medensarbeit im Innern auflöste, um den gesammten Staat un Knegszwecr
^fgehen zu lassen. Das Kriegsjahr 1855- 185K rief mehr als zwei Pro-
^'t der Gesammtbevölkerung des Reichs und mehr als zehn Prozent der
männlichen in dem lebenskräftigsten Alter stehenden Bevölkerung unter die
Waffen, wahrend Industrie, Ackerbau und Handel vollständig brach lagen-
Die Neichscreditbanken garantirten nun ihre Billets durch die bei ihnen ver¬
pfändeten Güter, hauptsächlich durch den Privatgrundbesitz. Dieser besteht
nur zum geringsten Theil in städtischen Liegenschaften, zum größten Theil in adeli-
gen Grundeigenthum (Landgüter nebst den Leibeigenen). Der Gesammtwerth
des letzteren wurde unmittelbar vor dem Kriege nach ungefährer Schätzung auf
etwa eintausenddreihundcrt Millionen SR. gewürdigt, wovon etwa die Hälfte,
sechshundertfunfzig Millionen SN., bei den Neichscreditbanken verpfändet war.
Rechnet man dazu die übrigen Pfandobjecte (obschon jedenfalls zu hoch, nur
um der runden Summe willen) zum Werth von fünfzig Millionen SN"
so ergab dies zu Anfang des orientalischen Krieges einen materiellen Fund.-
rungswcrth für die Reichscreditbillets von siebenhundert Millionen SR,*)
Aber nachdem der Krieg ein Jahr lang fortgeführt worden war und mit seinen
Necrutirungen die Leibeignen decimirt, die productiven Thätigkeiten suspendirt,
den Grundbesitz entwerthet hatte, konnte schon beim Regierungsantritte des
Kaisers Alexander des Zweiten von diesem positiven Werthe der materiellen
Garantien für die ausgegebenen Neichscrediibillets keine Rede mehr sein-
Im weiteren Verlaufe des Krieges entwertheten sich natürlich die materiellen
Fonds dieses Papiergeldes noch mehr, während seine umlaufende Gesainwt-
summe am i. Jan. 1856 auf 509,181,397 SR. gestiegen war.
Die Wiederkehr des Friedens Hütte nun allerdings unter gewöhnlichen
Verhältnissen den Werth des Substrates der Neichscreditbillets wohl wie¬
der heben können, wenn es auch einiger Jahre bedurft hätte, um die von
Krieg und Seuchen positiv verminderte Anzahl der Bevölkerung, beziehentlich
der Leibeigenen, wieder zu completiren. Allein jetzt trat une ideelle Werth/
Verminderung an die Stelle der positiven, indem die bevorstehende Bauern¬
emancipation und die dem Grundadel damit drohenden materiellen Opfer den
Grundbesitz im Geschäftsverkehr um die Hälfte herabsetzte. Mit andern Worten
ausgedrückt: ein Grundbesitz, dessen Boden- und Bauernwerth bis dahin to
Geschäftsverkehr zwanzigtausend Rubel gegolten hatte, ließ sich jetzt nur
mit zehntausend verwerthen. Blieb also auch die bei den Neichscreditban¬
ken verpfändete Gesammtmasse mit siebenhundert Million SR. in den Bü¬
chern eingetragen, so galt sie doch der Geschäftswelt jetzt höchstens dreihundert-
undfunfzig Millionen an positivem Werth. Natürlich verfuhren nun auch d^
Kreditbanken bei Ausleihungen unter dem Eindrucke dieser veränderten und
unsicheren Verhältnisse; sie wurden mit Darlehen außerordentlich zurückhaltend
und forderten große Hypothekobjccte für relativ geringe Summen. Baargeld
Me aber bereits, die Creditanstalten zahlten also mit Billets, und das Pu¬
blikum begann Agio für Silber zu geben, im Handelsverkehr das Agio aus
die Waaren zu schlagen. Im Ganzen bestehen diese Verhältnisse auch noch
heute und zwar selbst gesteigerten Maßes. Im Reiche selber gesteht man dem
Silber ein Agio von 20—25°/<. zu, d. h. der Rubel des Reichscreditbillcts gilt
anstatt 100 bloß 80 — 75, oder umgekehrt der harte Silberrubel 120—125
Kopeken. Das grobe Silbergeld ist dabei beinahe vollkommen aus dem Ver¬
kehr verschwunden und neuestens selbst der Mangel an paaren Theilgeld so
Swß geworden, daß die Regierung in einzelnen Handelsemporien (z. B. Riga)
den Kaufleuten die Erlaubniß ertheilte, kleine Appoints u,u xorteur auf den
Namen und Credit ihrer Firmen in Form von Papiergeld circuliren zu lassen.
Am 1. Januar 1857 repräsentirten nun die umlaufenden Reichscredit°
billets die Summe von 689.267.844 SR., also 322.930.823 SR. mehr als
Zwei Jahre vorher. Neuere authentische Nachweise fehlen noch; aNein die
Annahme hat alle Wahrscheinlichkeit für sich, daß diese Summe bis zum B»
some des laufenden Jahres noch um mindestens hundert Millionen zuge¬
kommen habe. Es wird demnach schwerlich zu hoch gegriffen sein, wenn
'Nan die Gesammtmasse der gegenwärtig in Rußland circulirenden Reichs-
"editbillets auf einen Nominalwerth von 800.000,000 Silberrubel schätzt.
Obgleich nun diese Papiergeldmasse den Verkehr mit Appoints aller mög-
t'chen Größen alleinherrschend durchströmt, so hat sich doch auch die Menge
aus den Reichsschatz fundirten Werthzeichen keineswegs vermindert. Nach¬
dem die Convertirung des kleinen Nestes von Assignaten in Schatzscheine
Ehrenbdes begonnenen Krieges vollendet worden war. betrug die Gescunmt-
summe der letzteren 93,000,000 SR. Die Einlösung der (gewöhnlich acht
Jahre laufenden) Serien aus früherer Zeit ist nicht erfolgt, vielmehr wurden
d'e verfallenden Serien einfach durch die Ausgabe neuer ersetzt. Jmmewc.t
^er diese Schatzscheine durch die Baarfonds des Kriegsschatzes gedeckt werden.
^ unbekannt, da in den letzten Jahren selbst die früher gewö nUche Ver-
"ffentlichuna der Ergebnisse der Revisionsceremonie in den Gewölben der pe-
>ulscitadelle nicht stattgefunden hat. Alles in Allem ist man. w.e vor-
?'heut genügend nachgewiesen wurde, sicherlich berechtigt, d.e Gesammt,nenne
°r unfundirten Schuld Rußlands gegenwärtig in runder Summe an.s en -
^Ahmt Millionen SN. anzunehmen. Diese schwebende Schuld rst zugleich e e
^schließlich innere, da der Import von russischem Papiergeld aufs strengst.
>vnd ist und controllirt wett. wodurch sich der Export ganz natürlich von
'^se verbietet. Dem Ausland gegenüber befindet sich dadurch der ruf»!che
Geschäftsmann in sehr großer Verlegenheit. Denn natürlich wächst im inde»
nationalen Verkehr das Disagio an russischen Zahlungsmitteln ins UngcmesscM,
und bereits ist es im laufenden Jahre dahin gekommen, daß vollkommen sol'
vente russische Häuser, so z. B. auch die große Mehrzahl der russischen Buch¬
händler, ihren Zahlungsverpflichtungen nicht vollständig, nicht rechtzeitig oder
auch gar nicht genügten.
Während Rußlands schwebende Schuld seit 1854 bis jetzt um etwa 700
Silberrubel gewachsen ist, zeigt auch die fundirte Schuld eine Vergrößerung,
wie kein andrer europäischer Staat sie im gleichen Zeitraum auszuweisen hat-
So weit die authentischen Veröffentlichungen reichen, 1854—1857. spccificire"
sich ihre Bestandtheile in folgender Weife i
Die Vermehrung der innern Terminschuld betrug demnach in 1854—57
18.496.297 SN, und die der innern unkündbaren Schuld 91.127 149 SN'!
dagegen die Verminderung der auswärtigen Terminschuld 5.862.000 holl.
Gulden und die der unkündbaren (Eisenbahn-) Schuld 330.000 Pfd. St-
Die Gesammtsumme der fundirten Schuld ergibt nun, auf Silberrubel red"-
cire für die vorbczeichnctcn Jahre:
Sie wuchs demnach in 1854—57 um 104.241.565 SR. (Für den
1. Jan. 1858 finden wir ihren Bestand, doch ohne weitere Specification. "of
518.334.007 SR. angegeben, wonach ihre Verminderung in diesem Finanz¬
jahr, dessen schwebende Schuld noch unbekannt ist, 3,653,803 SN. betrage"
würde.)
Nach diesen Zusammenstellungen muß es beinahe scheinen, als ob die
russische Finanzverwaltung einerseits danach strebe, die Tcrminschuloen mög'
lichst in unkündbare zu verwandeln, andrerseits, ihre auswärtigen Vcrpfl'es'
tungen möglichst abzustoßen. Würde sich dieses Verfahren als Princip nach¬
weisen lassen, so läge darin sicherlich der Beweis für ein außerordentlich so'^
Vertrauen der Negierung auf ihre innern Hilfsquellen, so wie auf den feste"
Credit, welchen sie bei ihren Unterthanen genießt. Das Bestreben Rußland
sich ausschließlich auf sich selber zu stellen. Hütte damit zugleich einen höchst
bedeutsamen Fortschritt nach seinem Ziele gemacht. Inwieweit dies jed"es
wirklich oder nur scheinbar gelang, wird sich schwer entscheiden lassen. E>"
wähnt ist bereits, daß schon bei Lebzeiten des Kaisers Nikolaus mehrere Be>-
suche zu ausländischen Anleihen gescheitert waren. Indessen werden die Grü"d^
dafür schwerlich, wie es doch oftmals geschieht, vorzugsweise in einem
öwßen Mißtrauen der ausländischen Finanzwelt gegen Rußlands materielle
Garantien, sondern mehr in den damaligen politischen Verhältnissen und
Stimmungen zu suchen sein. Erst im Spätjahr 1855. als der Frieden nur
"och eine Frage der Zeit war. gelang der Abschluß dieses Urlebens von
50 Mill. SR. a 5°/o durch Vermittelung des Hauses Stieglitz und Comp. in
Petersburg. Es war das sechste fünfprocentige und wurde in Inscriptionen
auf 500 SR. emittirt; seine Amortisation begann im Jahr 1858 ans einem
Specialfond." „welcher mit dem der andern Anleihen nicht verschmolzen und
jährlich vom Nominalcapital der Anleihe zwei von Hundert löschen wird."
Da diese Anleihe zu einem sehr niedrigen Cours ausgegeben wurde, so be¬
theiligten sich daran vornehmlich die englischen Bankhäuser, obschon dieselbe
nicht in den londoner Courszettel aufgenommen wurde.
In den beiden folgenden Jahren scheinen die Staatsanleihen, deren Con-
trcchirung die Bestände der fundirten Schuld nachweisen, den Fonds der Neichs-
creditanstalten fast ausschließlich entnommen worden zu sein. Gleichzeitig fand
aber auch die außerordentlich vermehrte Ausgabe von Reichscreditbillets in
den früher bezeichneten Progressionen statt. Das Jahr 1856 hatte nun bei
Gelegenheit der Krönung eine Schenkung von Steuer- und Strafgelderresten
gebracht, deren Gesammtbetrag offiziell mit 25 MM. SR. beziffert wurde; dazu
war im Frühjahr 1856 die Revision des Zolltarifs, die Aufhebung der Pa߬
steuer, so wie der Abschluß des Handels- und Schiffahrtsvcrtrages mit Frank¬
reich getreten — lauter Maßregeln, welche, mindestens vorläufig, die Staats¬
einkünfte verminderten. Wenn auch gleichzeitig die Pächter mehrerer Monopole,
S- B. des Branntweins und Tabaks höhere Pachtsumcn als früher zahlten;
so können doch diese Steigerungen die erwähnten Verminderungen nicht aus¬
reichen. Um so auffälliger mußte es erscheinen, daß in demselben Moment
(20. IM 1857) auch eine Herabsetzung des Zinsfußes der Neichscreditaustalten
decretirt und den Bankgläubigern, welche darauf nicht eingehen mochten, die
Zurückziehung ihrer Einlagen innerhalb gewisser Fristen freigestellt wurde.
Freilich ist dabei nicht gesagt, ob deren Auszahlung in Baarcm oder aber¬
mals in Neichscreditbillets zu geschehen habe. Als Grund der Maßregeln
rvurde indessen angegeben, daß die Capitale von den Kreditanstalten nicht
Verwendet werden könnten, und zugleich wurde auch die Errichtung von Com-
Wunalbanken für örtliche Handels- und Industriezwecke concessionirt, so daß
°s in der That den Anschein gewann, als beabsichtige der Staat das bis-
herige Monopol der Neichscreditanstalten principiell zu beseitigen und die dort
Agenten Capitalien der Gewerbsthätigkeit zukommen zu lassen. Momentan
hatte die Maßregel den moralischen Erfolg, in die schon begonnene Ent-
^Mhung der Neichscreditbillets einen Stillstand zu bringen, beziehcntUch die
Aalutaverhültnisse zu verbessern. Allein diese Wirkung blieb eben blos mo.nen-
tan, während die noch immer fortdauernde Unzulänglichkeit der Creditgesehe
auch den Kapitalisten die Zurückziehung ihrer Einlagen aus den Reichscredit-
nnstalten nicht vortheilhaft erscheinen lassen mochte. Die Errichtung von
Communalbanken machte gleichfalls nur äußerst zaghafte und langsame Fort'
schritte und am Schlüsse des Jahres erschien der große Mangel an Baargeld,
so wie die fortschreitende Verschlechterung der Valutaverhältnisse abermals als
die der Abhilfe am dringendsten bedürftige Verlegenheit.
Im April 1858 trat der Senator Kniajewitsch als Finanzminister an die
Stelle des Hrn. v. Brock. Man versicherte, er werde sofort die gewaltigste"
Reformen des ganzen Finanzsystems ins Leben treten lassen. Sein Amts¬
antritt wurde auch wirklich durch einen kaiserlichen Mas inaugurirt, welche
die sofortige Zurückziehung von 60 Mill. SR. in Reichscreditbillets aus dem
Verkehr anordnete. Es hieß darin: „In der Absicht, so schnell als möglich
zur Verminderung der Zahl der Reichscreditbillcts zu schreiten, befehlen Wu',
ohne den dreijährigen Termin abzuwarten, von den verschiedenen uns nach¬
gewiesenen, der Staatskasse gehörenden Capitalien 00 Mill. Silberrubel ^
entnehmen und zur Tilgung der Reichscreditbillete der Expedition der Reichs
creditbillete zu übermachen." Schon wenige Wochen später (Juni) wurde eine
innere Subscriptionsanleihc, auf 30—40 Mill. SN. berechnet, d. 4V-°/» 3>us"
und mit einer Einzahlung von 82°/«, des Nominalwertes, g,1 pari rückzahlbar
emittirt, als deren Bestimmung abermals jene Verminderung der Reichscredit'
billets angegeben wurde. Entweder waren also jene nachgewiesenen Fonds
der Staatskasse unzureichend oder sie bestanden gleichfalls aus Reichscrcdit-
billets oder aber sie waren von laufenden Bedürfnissen unter der Hand aus'
gezehrt worden. Vielleicht machte diese Erwägung, vielleicht auch der A^g'
wohn, daß es dieser Anleihe ebenso ergehen könne, die Capitalisten Zw'U^
haltend, vielleicht war der Mangel an disponiblen Geld auch wirklich so
— kurz, trotz aller Gunst der gebotenen Bedingungen ergaben die Subscnp'
livrer ein so geringfügiges Resultat, daß nach kurzer Zeit die auswärtigen
Blätter der russischen Inspiration für gut fanden, die ganze Existenz dM"
mißglückter inneren Anleihe in Abrede zu stellen. .
"
Im März 1859 schloß aber der dreijährige Termin, nach dessen Abka>
der Ukas vom Jan. 1855 die allmälige Zurückziehung der für die außer^
deutlichen Kriegsbedürfnisse ausgegebenen Reichscreditbillets verheißen .
Schon seit dem Winter pflog nun die Regierung verschiedene Verhandlung
wegen einer großen fundirten Anleihe. Allein die gewohnten Vermittler
selben mochten sich entweder überhaupt oder unter dem Eindrucke des ^ose"
den europäischen Krieges schwierig gezeigt, oder zu ungünstige Bedingung^
geboten haben — genug, zu allgemeiner Uebenaschung erschien endlich
bei derartigen Geschäften noch wenig genanntes Consortium (Thomson, ^
U"d Comp. in Petersburg und London nebst F. Magnus in Berlin) als
Unternehmer. Die Anleihe wurde mit 12 Mill. Pfd. Se. zu 3"/^ Verzinsung
und 57"/„ Einzahlung abgeschlossen, zahlbar in sechs Raten. Sie sollte in
^nscriptionen von 100 bis 1000 Pfd. Se. emittirt, auf das große Buch der
öffentlichen Schuld eingeschrieben und — wie das letzte siinfprocentige An-
")en bei Stieglitz— durch einen speciellen Amortisationsfond eingelöst werden,
^leder, mit IV2V0 sogleich aus dem Anleihekapital selbst gebildet, später
"du durch die den amortisirten Billets zufallenden Zinsen verstärkt würde.
Die Subscriptionen sollten am 10. Mai (28. April) beginnen. Die außer-
"''deutlich günstigen Verhältnisse, welche somit den Subscribenten geboten
waren, erregten wol auch bei vielen Gläubigern der Reichscreditbankcn, wei-
^n, wie erwähnt, die Zurückziehung ihrer Einlage bei der Herabsetzung des
Zinsfußes freigestellt worden war, den Gedanken, ihre Kapitale bei dieser Ge¬
legenheit nutzbringender und eben so sicher als dort anzulegen. Andere, bei
denen der Termin für ihre diesfällsige Erklärung bereits verstrichen war' er¬
hoben laute Klage, daß ihre dem Staate in bedrängter Zeit dargeliehenen
Kapitale jetzt gebunden seien, während den neuen Staatsgläubigern bessere
Bedingungen geboten würden. Die Regierung hatte also zu befürchten, daß ihr
e>nestheils liquide Gelder entzogen, anderntheils, daß ihr überhaupt die Neichs-
creditbauken fortan nicht sowohl als feste Anlageplätze für Kapitale, sondern
nichr als Contocurrentbanken benutzt werden möchten. Sie mochte außerdem
überhaupt nicht wünschen, daß die neue Anleihe aus russischen Säckeln flösse,
ändern dem Ausland deren Beschaffung zuschieben wollen. So erschien noch
dem Subscriptionstermin ein Mas (13/25 März), welcher voranstellte,
aß der vom Mas vom 20. Juli 1857 beabsichtigte Zweck, den in den Reichscre-
Ubanken „müssig" liegenden Kapitalen „eine dem Rcichsinteresse entsprechende
"btung zu geben," durch deren Abfluß zu industriellen Unternehmungen
Zeicht sxj ^ann fuhr er fort: „Indessen sind viele Besitzer von Bankein-
i^ussen, welche dieselben nicht zurückziehen wollten und demnach ihre Zinsen um
^N volles Viertel vermindert sehen, in eine gedrückte Lage gerathen. Indem wir
^Besitzern von Bankeinschüssen demnach die Möglichkeit einer vortheilhafte-
und eben so sicheren Kapitalanlage zu gewähren wünschen, haben wir die
Erstellung unseres Finanzministers über die Ausgabe vierprocentiger, unun-
ttbrochen verzinslicher Reichsbillete bestätigt. Auf Grundlage dieses kann
eninach Jeder, der vier Procent jährlicher Zinsen auf sein Kapital sicher zu
^'pfangen wünscht, diese Billete sowohl für baares Geld, als für Reichscre-
,'ibillete erwerben." In gewisser Art war diese Creirung von Reichsbillets
"'e jener beabsichtigten äußeren Anleihe concurirende innere Anleihe. Denn
'^t blos wurde zur Erwerbung der neuen Neichsbillets eine Subscriptions-
^'se Von sechs Monaten festgesetzt, es wurden also nicht etwa alle Barteln-
Schüsse co ipso vicrprozentig. sondern es wurde auch keine Gesammtsumme der
solchermaßen zu ereilenden Appoints ü. :;50. 500, 1000, 5000. 10,00»
100,000 SN. normirt. dagegen aber festgesetzt, daß erst in zwanzig Jahren ein
Einlösungsstatut erscheinen, und die Zinsenzahlung haldjährig, doch bloß in
Nußland selbst stattfinden solle.
Welchen Erfolg diese Operation für die Creditkassen gehabt hat, ist nicht
bekannt. Dagegen konnte die ausländische Anleihe, da unterdessen der italie¬
nische Krieg ausbrach. nicht effectuirt werden. Dies erscheint allerdings nicht
besonders schmeichelhaft für Rußlands auswärtigen Credit, wenn man damit
zusammenhält, daß in demselben Momente sast alle europäischen Staaten Auf¬
nahmen für Kriegszwecke zu Stande brachten, ohne wie Nußland den Gläubi¬
gern so vortheilhafte Bedingungen gewähren zu müssen. Freilich behaup¬
tet man auch, daß die Vermittler der Anleihe kontraktlich ausbedungen hätten,
zur Einzahlung der Raten nur so lang verpflichtet zu sein, als kein Krieg auf¬
breche, welcher Rußlands Betheiligung in Aussicht stelle. Eine gewisse Bestäti¬
gung erhielt die Existenz dieser Clausel allerdings durch die Art. wie die offi¬
zielle russische Presse die vorläufige Rückgängigmachung dieses Geschäfts motivirte.
Der ausgebrochene Krieg — sagte sie — „und die ganz unbegründeten Ge¬
rüchte von einer Theilnahme Rußlands an demselben" haben den europäischen
Börsen einen panischen Schrecken eingejagt, weshalb „die Anleihe gegenwärtig
nicht mehr zu den früheren vortheilhaften Bedingungen möglich wird." W
den Neichsschalz, liege „keine besondere Nothwendigkeit vor, um die Anleihe
aufrecht zu erhalten, nur die Absicht, die Metallfonds der Expedition der Reichs'
creditbillete zu verstärken." Deshalb habe der Finanzminister „die Anleihe
auf eine gelegenere Zeit vertagt" und alle Subscribenten von ihren über¬
nommenen Verpflichtungen befreit, denen aber, welche bereits Einzahlungen
geleistet, bekannt geben lassen, „daß sie dieselben auf ihren Wunsch zurücker¬
halten können.
Ob wirklich Subscribenten oder Einzahler vorhanden waren, welche vo»
diesen Vergünstigungen profitiren konnten, ist nicht in die Oeffentlichkeit ge¬
drungen. Die „gelegenere Zeit", um die vertagte Anleihe wieder aufzunehmen,
fand der Minister bereits im Juli, als die Tinte der Unterschriften des P»"'
liminarfriedcns von Villafranca noch feucht und die allgemeine Befürchtn"»
eines gesammteuropüischen Krieges fast lebhafter und allgemeiner war, "is
beim Ausbruche des italienischen Kampfes. Dies gestattet einige bescheidene
Zweifel an der stolzen Behauptung, daß für den Neichsschcch „keine besondere
Nothwendigkeit" zur Aufrechthaltung der Anleihe vorgelegen habe, wen"
dieselbe auch wirklich blos dazu dienen sollte „die Metallfonds der Expedition
der Neichscrcditbillcts zu verstärken." Jedenfalls bildet die gleichzeitige t""
Eingange dieser Darstellung ausführlicher angeführte) Anordnung, welche eine
ganze Reihe der wichtigsten in den Neichscrcditkassen dcponirten Kapitalien ohne
vorgängige Einwilligung ihrer Besitzer „von jetzt ab zur Verfügung des Fi-
nanzministers stellt", einen der eigenthümlichsten Commentare zu dieser Absicht.
War die Creimng der „Reichsbillete" im Momente des ersten Abschlusses der
Thomson-Bonarschen Anleihe noch eine freiwillige innere Anleihe gewesen, so
hat die jetzige Maßregel bei ihrer Wiederaufnahme eine täuschende Familien¬
ähnlichkeit mit einem Zwcmgsanlehcn. Wollte aber vielleicht die Regierung
ihre Unterthanen indirekt von der Betheiligung am Bonarschen Anlehen ab¬
halten, so scheint sie allerdings diese Absicht ziemlich vollständig erreicht zu
haben. Denn nach den meisten Berichten sind in der Nevahauvtstaot blos
575.000 Pfd. Se. gezeichnet worden, von denen 500.000 Pfd. Se. auf das
Haus Stieglitz kommen. Die Beschaffung des Restes bleibt also dem Aus¬
land überlassen.
Die Maßregel, durch welche alle nicht in direktem Privatbesitze befindlichen
Kapitaldeposite bei den Reichscrcditbcmken, „zur Verfügung des Finanzministers
gestellt sind", also als Zwcmgsanlcihe in Anspruch genommen wurden, ließ
bereits keinen Zweifel darüber, daß die mit so viel Emphase angekündigte
Neue Finanzpolitik sich von dem berufenen Kankrinschcn System in Bezug auf
die Operationen mit den Geldern der Creditinstrtnte durchaus nicht emanzi-
pirt hat. Im Gegentheil; unter Kankrin. Wrontschenko und Brock hatte man
sah stets bemüht, die Verwendung der zur Unterstützung der Industrie, des
Ackerbaues und der Handelsthätigkeit bestimmten Kapitalien für die eigentlichen
Budgetbedürfnisse zu bemänteln, wo dies unmöglich war, dieselbe nur als
Momentanen Nothbehelf einzugestehen. Jetzt dagegen trat dieselbe offenbar
als gesetzliches Prinzip in Kxaft. Hatte bei dem früheren Wechselverhältniß
Zwischen der Negierung und den Kreditbanken im Interesse beider gelegen,
namentlich zur Erhaltung der Vollgeltung ihrer Werthzeichen, ihren innern
Verpflichtungen zu jeder Stunde nachkommen zu können, so haben dagegen die
Gläubiger der Banken jetzt, nach solchen Maßregeln, mindestens blos eine sehr
geringe Garantie. Wenn aber Landwirthschaft. Industrie und Handel bisher an
^'n Neichscreditbcmken Unterstützungsinstitutc besessen hatten, aus denen sie gegen
starke Pfänder doch stets Kapitale zu mäßigem Zins erhalten konnten, so aus-
^n sie jetzt in der Hauptsache darauf verzichten. Der Staat hat sich mit
^Um dadurch abgefunden, daß er die Anlegung von Communalbanken (doch
Unter örtlicher Beschränkung ihrer Geschäftstätigkeit) gestattete, daß er
vermöge der Zinsreduction (aber ohne gleichzeitige Verbesserung der Credit-
^setzgebung) den Abfluß einiger Privatkapitale aus den Reichscreditbanken
^güustigte. und daß er endlich neuestens die Petersburger Bank- und Han¬
delsgesellschaft entstehen ließ. Jene Communalbanken existiren noch höchst
^arabisch, die Petersburger Gesellschaft ist soeben erst im Entstehen begriffen.
der größte Theil der aus den Neichscreditbanken abgestossenen Kapitale rM
seine Anlage nachweislich in Eisenbahnactien gefunden, deren Zinsen der Staat
garantirt hat.
Man könnte nun glauben, die öffentlichen Verwaltungsbehörden. Wohl-
«hätigkcitsinstitute, Kirchen, Stiftungen :c,, deren „thatsächlich in den ver¬
schiedenen Kreditanstalten" jetzt oder zukünftig deponirte Kapitale „zur Ver¬
fügung des Finanzministers gestellt" sind, würden fernerhin ihre Gelder so
anlegen-, daß ihnen die ungenirte /Gebahrung damit möglich bleibe. Dem
steht aber die gesetzliche Bestimmung der meisten derselben entgegen, wonach
ihnen eben blos die zinstragende Deponirung in die Reichscreditanstalten
gestattet ist. Dein Handel und der Gewcrbthntigkeit kommen sie fortan nicht
mehr zu gut. Aber wenn früher der Finanzminister mehreren Crcditanstalten
gegenüber noch kein wirkliches Verfügungsrecht besaß, so ist auch dieses durch
den neuesten Ukas vom 16. September hergestellt. Denn dieser vereinigt
sämmtliche Creditanstalten unter denselben. Zugleich wurde die Verzinsung
der in der Ncichscreditbcmk deponirten Gelder und Kapitalien auf zwei Prozent
herabgesetzt. Der zur Verfügung des Finnnzministers gestellte Theil derselben,
also sämmtliche Kapitalien der todten Hand, kann jedoch natürlich nicht zurück¬
gezogen werden. Der größte Theil der Privatkapitalien ist aber durch die oben
erwähnte Verwandlung derselben in Renten (Ncichsbillets) ebenfalls an die
Kreditanstalten gefesselt. Zur Beschwichtigung ihrer Mißstimmung wurde ihr
Zinsfuß auf 5"/<> erhöht. So bleibt nur die Rückkehr jener wenigen Privat¬
anlagen, welche noch seit der ersten Zinsreduction weder zurückgezogen, noch
in unkündbare Reichsbillets verwandelt sind, in den allgemeinen Verkehr ZU
erwarten. Aber auf diesem Wege steht bereits.die innere Anleihe zur Ver¬
minderung der Papiergeldmassen mit ihren vortheilhaften Anerbietungen, »in
sie in Anspruch zu nehmen. So gelangt man denn im Ueberblicke aller dieser
Operationen immer von Neuem zu dem Ergebniß, daß Europa nicht blos
die neue ausländische Anleihe von 140 Mill. Fi., sondern auch das Stamm¬
kapital der Petersburger Bank- und Handelsgesellschaft von 200 Mill. F^"
sowie das Baukapital der Moskau-Saratow-Bahn von 45 Mill. Silberrubel
in der Hauptsache beschaffen soll. Welche Garantien ihm dafür gewährt sind,
erhellt aus der vorstehenden Uebersicht wol ziemlich deutlich.
Nachdem man sich über die Stärke der Parteien in Bezug auf das be¬
stimmte Kriegstheater unterrichtet und sie abgewogen hat, kommt es daraus an,
die ersten Sammelpunkte für die Armeen aufzusuchen und damit zugleich über
die Opcrationslinien zu entscheiden. Wir halten für jetzt die Voraussetzung
fest, daß Preußen mit Belgien, Holland und England im Bunde gegen Frank¬
reich stehe. Für eine preußische Armee ist unter solchen Umstanden die Linie,
aus welcher sie sich zu sammeln hat, durch den Rhein gegeben; der Rhein
n?ird durch mehrere Straßen geschnitten, welche Deutschland mit Frankreich
verbinden. An einem dieser Schnittpunkte würde der Hauptsammclplatz oder
das Centrum des Concentrirungsgebietes zu suchen sein, und diese Straße
selbst würde als die Hauptoperationslinie betrachtet werden müssen. Die drei
Punkte Berlin. Cöln und Paris liegen nahezu aus derselben geraden Linie.
Da Frankreich darauf gefaßt sein müßten, den Frieden in Berlin, und die
Verbündeten, ihren Frieden in Paris zu suchen, so bietet sich diese Linie
se>r beide Theile als die natürlichste Operationslinie dar. In der That
>äßt sich auch geschichtlich nachweisen, daß sie von deutschen Heeren, die
^f dem niederrheinischen Kriegstheater operirten, vorherrschend als solche
benutzt worden ist. 1792 brach der Herzog von Braunschweig allerdings
Von Coblenz über Thionville in Frankreich ein; der Erfolg war kein gün¬
stiger, und wenn auch andere Gründe allerdings stark mitspielen, war doch
die Unfruchtbarkeit des durchzogenen Landes eine der Ursachen, welche das
Unternehmen scheitern machten. Als die Franzosen unter Dumouriez
'hre Hauptarmee in demselben Jahre auf Belgien warfen, thaten sie dies
^f der oben bezeichneten Hauptlinie Paris, Mons, Cöln; auf derselben
^mie brach im Frühjahr 1793 Coburg wieder gegen die Franzosen vor,
""d die Schmach vom Mißerfolg der Alliirten in diesem und dem sol-
Senden Jahre lag keineswegs in der falschen Wahl der Operationslinie, son--
dten in der sogenannten methodischen Kriegsführung, der zufolge man glaubte,
^erst ein Loch in den Festungsgürtel der französischen Nordgrenze durch succes-
^>e Eroberung einer Anzahl von Plätzen bohren zu müssen, ehe man einen
^net weiter vorwärts thäte, während der Stillstand, der hierdurch eintrat,
^ gleicher Zeit die Veranlassung zu einer weitgedehnten Cordonstellung der
Alliirten an der Grenze gab, durch welche die Franzosen, die auch nicht im¬
mer am ausgezeichnetsten geführt wurden, Gelegenheit erhielten, einen
Theil der Verbündeten nach dem Andern zu schlagen. Als 1794 die Alliir¬
ten den Rückzug antraten und Jourdan ihnen an die Maas folgte, bewegten
sich die Hauptoperationcn wieder an derselben Linie; wieder an ihr überschütt
sowohl 1795 als 1796 Jourdan zuerst den Rhein. Im Jahre, 1814 ward
die Bewegung der schlesischen Armee aus der Linie Coblenz-Nancy lediglich
durch die Rücksicht auf die zu suchende Verbindung mit der böhmischen Ar¬
mee bedingt; aber es ist doch eine Erscheinung, welche gewiß die größte Auf¬
merksamkeit verdient, daß. so oft die böhmische und schlesische Armee sich
trennen, die letztere immer unwillkürlich auf die Linie Paris-Cöln gezagen
wird, wie dies am deutlichsten in der Periode der Schlachten von Craonne
und Laon hervortritt. Im Jahre 1815 endlich, in welchem die preußische
Armee sich ursprünglich zwischen Maas und Mosel sammeln sollte, zeigte sich
die Gewalt der allgemeinen Verhältnisse wieder so deutlich, daß Blücher als¬
bald an die Linie Cöln-Paris oder die mit ihr zusammenfaltende Maas¬
strecke zwischen Lüttich und Namur gezogen ward. Diese centrale Linie er¬
scheint somit sehr deutlich als die Operationslinie für beide Theile, wenn
das niederrheinische Kriegstheater allein in Betracht kommt, und für d>e
auf diesem Kriegstheater kämpfenden Truppen selbst dann noch, wenn zugleich
das oberrheinische Kriegstheater in Mitleidenschaft gezogen wird. Zeigte sich
aber jene Linie schon früher als die bedeutendste auf dem ganzen nicdenhein^
sehen Kriegstheater, so erhält sie eine noch höhere Wichtigkeit in unseren Ta¬
gen, als diejenige, welche zugleich die Hauptciscnbahnverbindung zwisch^
Frankreich und Norddeutschland enthält, die ihrerseits in dem nunmehr Sta^
befestigten Cöln einen Stützpunkt für die Preußen bekommen hat.ol
Die Gegend zwischen Aachen, Cöln und Düsseldorf wird daher wh
als das Gebiet zu betrachten sein, auf welchem eine preußische Armee sich ^
den Feldzug zu concentriren hätte. Man kann diese Armee hier mit der
größten Leichtigkeit eng zusammenhalten, da durch den Eisenbahnverkehr alle
Verpflegungsschwierigkeiten leicht zu überwinden wären.''
Was die belgische Armee betrifft, so haben wir schon früher darauf h»
gewiesen, daß diese anfänglich sicher eine Stellung an der Grenze nehme
müßte, um die Franzosen zu beobachten und ihnen bei etwaigem Vordringe"
auf Antwerpen und bei der Absicht gegen Lüttich vorzudringen, Schwierig
' leiten zu bereiten. Der Rückzugspunkt für die belgische Armee ist im wesen'
lichen, so lange nicht die Rücksicht auf ein directes und zeitweises Zusam"^
wirken mit der preußischen Armee alles andere überwiegt, Antwerpen. ^
Hauptvcrbindungen zwischen Antwerpen und Paris (große Eisenbahnllw
gehen über Courtrat) und Lille einerseits und über Mons-Maubeuge andrers"
Die Hauptaufstellung der belgischen Armee ist bei Mons. wegen der größern
Nähe seiner Verbindung mit Preußen, eine Nebenaufstellung in der rechten
starke bei Courtray, um ein etwaiges Manöver der französischen Armee über
Lille auf Brüssel zur Abdrängung der belgischen Armee von Antwerpen recht¬
zeitig entdecken und ihm sofort die erforderlichen Schwierigkeiten entgegensetzen
ZU können. Antwerpen ist der natürliche Sammclort für die Holländer, welche
eine erste Reserve der Belgier abgeben, und für die englischen Landtruppen.
Wenn schon auf dem italienischen Kriegstheater in diesem Jahre die
Eisenbahnen über Novara nach Mailand eine solche Anziehungskraft ausübten,
daß sie die franco-sardische Armee entschieden auf eine falsche Operationslinie
^gen, so wird der Einfluß der Lage der Eisenbahnen aus dem niederrheinischen
Kriegstheater, wo es keinen einzigen Fluß gibt, der in ähnlicher Weise wie
der Po bestimmend aus die Richtung der Operationen einwirken kann, ein noch
viel entschiedenerer sein.
Werfen wir jetzt die Frage auf, sollen die Verbündeten auf dem nieder-
rheinischen Kriegstheater angreifen oder verthcidigungsweise verfahren? sollen
sie in Frankreich einbrechen und auf Paris losgehen, oder sollen sie abwarten?
Wir müssen im Voraus bemerken, daß wir unter Abwarten nicht das Ab¬
warten des Einbruches der Franzosen in Belgien verstehen. Sobald das fran-
zösische Heer seine Bewegungen zum Angriff beginnt und wenn auch noch aus
französischem Boden, kann das Abwarten von Seiten der Verbündeten schon
sein Ende finden. Nur in diesem Sinne entscheiden wir uns für das Ab¬
warten. Den Verbündeten muß es nothwendig darauf ankommen, einen ersten
glänzenden Erfolg zu erringen. Ihre Kraft ist nach unsrer Berechnung keines¬
wegs der französischen so überlegen, daß dieser Erfolg ohne Klugheit zu er¬
gangen wäre. Es ist selten, daß ein großer Erfolg demjenigen, der ihn ge¬
winnt, nicht Bundesgenossen zuführe, oder, was dieselbe Wirkung hat, dem
Feinde nicht Bundesgenossen nehme. Da die Kraft der Verbündeten keine
sehr überlegene ist, kann ihnen die Gewinnung von Bundesgenossen für sich
wir denken hier z. B. an Süddeutschland — keineswegs gleichgiltig sein, wie auch
^>ehe, dem Feinde Bundesgenossen abwendig zu machen. Was wären nun die
Chancen des Erfolges bei einem Angriff, d. h. bei einem Einbruch in Frankreich?
bestehen wir es, sie wären äußerst gering. Wenn Frankreich nur eine ziem¬
lich genau zu bemessende Macht über seine Grenzen hinauswerfen kann, so
gestaltet sich das ganz anders, da es den Feind dann in seiner Mitte hat. Da
wachsn seine Streitmittel in steigender Progression, namentlich wenn den
^'cmzosen der Einbruch, wie das so leicht ist. nicht als militärischer Angriff
^es politischen Dcfcnsors, sondern als politischer Angriff, als Barbareninvasion
^gestellt wird. Paris liegt nur 30 Meilen von der belgischen Grenze. Zieht
sich die französische Feldarmee vor den Verbündeten zurück, so können diese es
in vierzehn Tagen erreichen. Aber, sind sie vor der französischen Hauptstadt
angekommen, so beginnt erst ihre Aufgabe. Es ist schwer zu sagen, was eine
Armee vor diesem großen Platze, seit er befestigt ist, beginnen sollte, wenn
sie zugleich ein ziemlich ihr gewachsenes französisches Heer im freien Felde sich
gegenüber hat. Einen Platz einzuschließen, dessen Werke einen Umfang von
3 geographischen Meilen haben, und der in seiner Mitte, abgesehen von der
Besatzung an regulären Truppen 200,000 waffenfähige Männer hat, ihn aus¬
zuhungern, ist selbst für eine Armee von 300,000 M. eine unlösbare Aufgabe.
Sollen aber auf einem Punkte die Durchbruchsoperationen begonnen werden,
so gehören dazu mindestens 50,000 M.. und außerdem 100.000 M., um
diese gegen unausgesetzte Störungen durch Ausfälle der Besatzung auch
nur einigermaßen zu sichern. Selbst von einer 300,000 M. starken Armee
bleiben somit nicht mehr als 150.000 M. übrig, um den Angriffen der fran¬
zösischen Feldarmee die Spitze zu bieten, die hier, mitten im Lande mit ver¬
hältnißmäßiger Leichtigkeit auf das Doppelte gebracht werden kann. Aber es
ist fast unmöglich, daß die Verbündeten bei den voll uns herausgefundenen
Stärkeverhältnissen 300,000 M. bis vor Paris brächten. Wenn man auch
annehmen will, daß die Festungen an der Nordgrenze so wenig als möglich
beachtet würden, muß man doch mindestens 50,000 M. zu ihrer Beobachtung
rechnen. Als Paris noch offen war und man noch daraus zählen konnte, hier
eine schnelle Entscheidung zu erzielen, durste man sich mit viel größerem Rechte
als jetzt um die Plätze der Nordgrenze wenig oder gar nicht bekümmern.
Wenn sie aber durch einen langen Ausenthalt des Feindes vor Paris Zeit
gewinnen, sich zu gemeinsamem Wirken zusammenzuschaaren, so geht das gänz¬
liche Linksliegenlassen kaum noch an. Sie aber theilweis erst nehmen ZU
wollen, ehe man auf Paris vordringt, wäre durchaus nicht zu rathen; es
würden sich da gleiche Verhältnisse ergeben, wie bei dem Feldzuge Coburgs
17 93 und 1794. nur noch gefährlicher und bedenklicher, da man es heut nicht
mit einer erst zu organisirenden Revolutionsarmee zu thun Hütte.
Es ist vieles über die Befestigung von Paris geschrieben worden und
in mehrfachem Sinne. Das Unternehmen ward ebenso oft gebilligt als g^
tadelt, und Willisen unter Andern hat die Befestigung nicht blos für über¬
flüssig, er hat sie sogar für einen Fehler erklärt und nachzuweisen gesucht, daß
der Zweck der Befestigung von Paris auf andere Weise besser zu erreiche"
gewesen wäre. Alle Raisonnements dieser Art schlägt ein einziges Wort nieder!
Wenn die Franzosen selbst Frankreich in Paris suchen und finden, wo sollen
es dann die Fremden suchen und finden? Wo können die Gegner Frank¬
reichs bis auf eine vollständige Aenderung aller Verhältnisse hin die Erdhase^
dung im Kampfe wider Frankreich suchen, wenn nicht in Paris? Wir glauben,
daß die Feinde Frankreichs, seitdem Paris befestigt ist, an eine Invasion in
Frankreich gar nicht denken können, wenn sie nicht mindestens 800,000 M.
dafür verfügbar machen können, und wenn diese Invasion nicht entweder
außerhalb Frankreichs oder doch, wenn innerhalb Frankreichs, an dessen äußer¬
sten Rändern durch glänzende Erfolge vorbereitet ist. Hat man nun die
^00,000 M. nicht, so hat man doppelte Ursache die glänzenden Erfolge der
letztern Art zu suchen, um dadurch die lebende französische Streitmacht der¬
gestalt zu schwächen, daß auf sie die Bevölkerung kein Vertrauen mehr setzen
kann. Und deshalb entscheiden wir uns sür ein abwartendes Verhalten der
Verbündeten. Das angreifende Verfahren würde aller Wahrscheinlichkeit nach
ZU demselben Resultate führen wie der Champagnefeldzug des Herzogs von
Braunschweig 1792.
Wir haben früher schon darauf aufmerksam gemacht, daß es für die preu¬
ßisch-deutsche Armee rathsam wäre, so schnell als möglich Lüttich und Namur
ZU besetzen. Lüttich ist von Aachen nicht weiter als fünf Meilen, Namur von
Lüttich'sieben Meilen entfernt. Bei Aachen concentrirte Truppen lassen sich
also nach Namur in vier Märschen, und wenn es sein muß in drei Märschen
versetzen, die entfernteren Truppen von Cöln und Düsseldorf können mit Zu¬
hilfenahme der Eisenbahn vorwärts geschafft werden. Cöln und Düsseldorf
liegen von Namur nicht weiter als 20 Meilen; man kann also darauf rechnen,
von jenen Punkten nach diesem täglich 20,000 M. vorwärts zu bringen. Wir
Machen auf die Entfernungen aufmerksam, weil es möglicher Weise die poli¬
tische Lage erfordern kann, daß die preußisch-deutsche Armee so spät als mög¬
lich belgisches Gebiet betrete, obwol man allerdings darauf hinarbeiten sollte,
die politische Lage so zu gestalten, daß preußische Truppen, ohne etwas zu
verderben, recht frühzeitig einrücken können. Ein französisches Corps, welches
bei Charlemont und Glock concentrirt wäre, hat von dort nicht weiter als
fünf Meilen; indessen eignet sich diese Gegend, welche überdies etwas entlegen
von dem großen Eisenbahnzüge ist. nicht besonders zur Ansammlung größerer
Tnippmmassen und ein vereinzeltes Vorrücken eines französischen Corps von
dort auf Namur könnte daher vielleicht selbst den Verbündeten die Gelegen¬
heit zu einem ersten partiellen Erfolge geben.
Wenn die Stellungen, welche wir jetzt besprochen haben, von den Ver¬
bündeten vor dem Ausbruche der Feindseligkeiten eingenommen würden, so wür¬
den wir uns die Kräfte nun etwa so gruppirt vorzustellen haben: Auf der Front
Mons-Dinant die Hauptarmee, ein rechtes Flankencorps (Belgien) bei Cour-
^ay, ein linkes Flankencorps (Preußen) vor Luxemburg. Eine ziemlich ge¬
naue Bezeichnung der Frontlinic haben wir in der Gürtelbahn von Ostende
über Gent, Brüssel. Namur nach Arion. welche der Annahme nach unmittel¬
bar hinter und theilweise in der Front der Verbündeten liegt. Es ist nicht
Überflüssig zu bemerken, daß diese Gürtelbahn ungefähr parallel mit der Rhein-
linie liegt, in welcher die Ausnahmsstellung für die Verbündeten zu suchen ist>
Um einzelne Richtungen aus Frankreich nach Holland und Deutschland hinein
zu bezeichnen, können wir also je nach der Bequemlichkeit die zweiten Punkte
entweder in dieser Gürtelbahn oder in der Nheinlinie wählen. Die Stellung,
in welcher die Verbündeten abwarten wollen, kann von den Franzosen wesent¬
lich in drei Richtungen angegriffen werden: 1. der französische Angriff geht
von Metz aus oder statt dessen auch von Mezieres und Sedan gegen die linke
Flanke der Verbündeten; 2. derselbe geht von Valenciennes und Maubeuge
aus aus Ncnnur oder Mons, also auf das Centrum der Verbündeten; 3- er
geht von Lille aus Courtray gegen die rechte Flanke der Verbündeten. Dies
sind die drei wesentlich möglichen einfachen Angriffsrichtungen; Complicationen
werden leichter verständlich sein, wenn wir uns über das Einfache als die
Grundlage des Complicirter verständigt haben.
Die Richtung gegen die linke Flanke wäre diejenige, welche am einfachstes
und sichersten zu dem Dinge führt, welches man einen strategischen Sieg
nennen sich angewöhnt hat. Nehmen wir beispielsweise an, die Richtung der
französischen Märsche ginge von Metz oder von Mezieres auf Lüttich und
Lüttich würde von den Franzosen erreicht, ohne daß die Verbündeten es hin'
dem könnten, so würden die Franzosen hier zwischen der verbündeten Armee
und dem Rheine, das heißt deren Hauptaufnahmsstcllung stehen. Diese Op^
ration kann nun nachstehende Folgen haben: 1) die Verbündeten trennen sieh,
die Preußen und Deutschen marschiren links ab auf Mastricht und Aachen-
um diese Punkte und die Verbindung mit dem Rheine so schnell als möglich
und vor den Franzosen wieder zu gewinnen, während die niederländisch-eng-
lische Armee ihren Rückzug auf Antwerpen antritt, um sich, allein gelassen
^und nicht fähig das freie Feld zu behaupten, dort in Sicherheit zu bringen«
Dies wäre ein ungemeiner Erfolg für die Franzosen. Nicht blos daß sie die
zuerst dastehende compacte Masse durch einen bloßen Marsch auseinander ge"
sprengt hätten, sie hätten nun auch wol die Aussicht, die mit Hast zurück¬
gehenden Preußen im Marsch anzufallen und zu schlagen. Man wird viel¬
leicht sagen, es wäre gar nicht denkbar, daß die verbündete Armee sich durch
einen bloßen Marsch der Franzosen zu einem so gewaltigen Fehler, wie die
frühzeitige Trennung wäre, bestimmen ließe. Indessen sind schon ärger
Dinge vorgekommen. Man muß daher darauf gefaßt sein, und dadurch, tap
man daran bei Zeiten erinnert, beugt man ihm möglicher Weise vor. 2)
Die Verbündeten concentriren sich auf Namur und gehen von da den von
Lüttich vorrückenden Franzosen entgegen *). Es kommt zur Schlacht zwischen
Lüttich und Namur. nehmen wir an zwischen Huy und Cluny; die Verbün¬
deten haben dabei die Front nach dem Rhein, den Rücken nach dem Meere
hin, die Franzosen haben die Front nach dem Meere und den Rücken gegen
^blenz nach dem Rhein. Jede der beiden Parteien dreht also ihren Rücken
einer Richtung zu, in weicher sie ihren Rückzug im Falle der Niederlage nicht
nehmen will. Das heißt, wir haben eine Schlacht mit verwandter Front.
Es kommt nun darauf an. welche der beiden Parteien den Sieg davon
trägt. Siegen die Franzosen, so können sie die Verbündeten gegen das Meer
hin treiben und nun durch wiederholte Niederlagen sie. nach dem gebräuchlichen
Ausdruck, vernichten. Siegen die Verbündeten, so würden die Franzosen ge¬
gen den Rhein und auf die von Preußen besetzten Festungen losgetrieben. fo¬
rmt nun ihrerseits der Vernichtung preisgegeben.
Wir müssen hier aber sofort noch einiges bemerken. Wir sagen aus¬
drücklich die Vernichtung kann die Folge einer Niederlage sein, die eine Ar¬
mee mit verwandter Front kämpfend erleidet. Aber dies setzt die Erfüllung
gewisser Bedingungen voraus; nämlich eine rasche Entscheidung in der Schlacht
selbst, so daß der Sieger noch am Schlachttage selbst Zeit gewinnt, den ge¬
schlagenen Feind zu verfolgen und zweitens eine kräftige, unbarmherzige Bel¬
egung in den nächsten Tagen nach der Schlacht und in der dem Feinde schäd¬
lichsten Richtung. Hat sich die Schlacht bis in die Nacht hineingezogen, so
gewinnt der Besiegte durch einen Nachtmarsch wohl immer die Zeit sich
vorläufig vom Sieger loszumachen und eine ändere Richtung zu gewin¬
nen als diejenige, in welcher der Sieger ihn behalten möchte, und gewinnt
der Besiegte gar zwei Tage, ehe der Sieger an die unbarmherzige Verfolgung
ter Gneisenau nach der Schlacht von Bellealliance geht, so ist von einem
Pflücken aller, auch der letzten Früchte des Sieges für den Sieger gar keine
^ete mehr. Nun sind die neuesten Schlachten ganz dazu angethan, daß die
^egegnungsrichtungen — wenn nicht ein Feldherr da ist, der Alles mit Rück¬
et aus sie anordnet und aufrecht erhält. — gleichgültiger werden. Die
schlachten des italienischen Feldzugs von diesem Jahre haben fast alles sehr
deutlich bestätigt, was wir von Anbeginn im Widerspruch mit der öffentli-
chen Meinung behaupteten. Als die sogenannte Vervollkommnung der Heer-
Waffen, kleiner wie großer, die Gehirne des meisten Militärs so einnahm.
sie glaubten die ganze Kriegskunst in die Resultate eines Schießplatzes
"uf grüner Weide einschließen zu können; da hieß es unter Anderm: die
flachem werden jetzt mörderischer und viel schneller als sonst entschieden
werdet. Wir sagten dagegen, sie werden gar nicht mörderischer; denn um
soviel als die Feuerwaffen weiter tragen, bleibt man sich weiter vom Leibe,
namentlich wenn sich die Idee festsetzt, daß mit dem guten Schießen des
einzelnen Mannes Alles gethan sei. Und wir denken, dies hat sich wie im
Krimkrieg so wieder im italienischen Feldzug so sonnenklar bestätigt, daß
man blind sein muß, um es nicht zu sehen. Hier beweisen Zahlen. Bcr-
lustzahlen. Auch die Menschen, welche erst altes sehen wollen, ehe sie
glauben, haben am Ende ihr Theil Belehrung empfangen. Wenn wir leug¬
neten, daß die Schlachten in Folge der Einführung weittragender Feuer¬
waffen mörderischer würden, so mußten wir es an und für sich auch bestrei-
ten. daß die Schnelligkeit der Entscheidung gesteigert sei. Wir konnten
aber noch hinzusetzen, daß das weitere Auscinanderbleiben der Massen
eher die Entscheidung verspäten muß, weil man. um diese sich zu holen,
im Ganzen wie im Einzelnen wirklich durch die Vorbereitung erlangte Resul¬
tate erkennen, sehen muß. weil wenigstens die meisten Menschen darauf z»'
geschnitten sind, und weil man nun einmal nach einer weisen Einrichtung in
der Schöpfung mit dem leiblichen Auge aus größerer Entfernung unvollkom¬
mener sieht. Diese Sache kommt für jedes einzelne Bataillon in Betracht-
Wir können uns einzelne bevorzugte Geister, wirkliche Feldherrn, denken, die
glauben, ohne zu sehen, die mit dem Geiste sehen, was geschehen sein muß
und danach ihre Entschlüsse fassen. Aber in der Classe der BataillonscoM-
mandanten werden diese Geister wohl nicht sehr häusig angetroffen werden-
Und nun sehe man die Schlachten von Solferino und von Magcnta an und
sage uns, ob da etwa die Entscheidung schneller erzielt worden sei, als bei
früheren Schlachten der neuen Zeit. Auch hier wieder sprechen einfache Zab/
im sehr deutlich. So kommt es uns denn vor. als gälte für die heutig
Zeit der Satz des Ritters Folard: man solle sich nur nicht für besiegt hal¬
ten und man sei es nicht, noch mehr als für eine frühere. Will man es
leugnen, daß die Oestreich«, wenn sie sich dazu entschließen konnten, getrost
am 5. wie am 25. Juni die Schlacht erneuern dursten? Hier reden die S?
ungebrauchten Batterien ein sehr verständliches Wort. Freilich wäre es
besser gewesen, sie hätten am 24. Juni sich in anderer Weise deutlich ver¬
nehmen lassen. Wir haben auch darauf hingewiesen, wie die übertriebene
Anwendung der Tirailleurs das Sammeln erschwere und wie dieses in vielen
Beziehungen der Erzielung großer Resultate in den Weg trete. Sagen
es nun noch einmal deutlich: es beeinträchtigt die Möglichkeit und die Kruft
der Verfolgung, und es ist uns wohl bekannt, wie grade hierin die mangel¬
hafte, ja man kann sagen, ganz fehlende Verfolgung der Franzosen nach ih""
Siegen in Italien begründet war. Die Oestreicher sind jetzt sehr geneigt'
ihre Niederlagen ihren dünnen Tirailleurketten zuzuschreiben, und wir werde"
^ Wohl erleben, daß da wieder eine Menge großartiger Reglements über
diesen Punkt zum Vorschein kommen werben, mit denen man nun allen Schäden
abzuhelfen glaubt, und die doch nur der Tod aller wahren Wirksam¬
keit sind, die den Verständigen nur an die berüchtigten Mantschen Studien
Und Vorschläge aus den ersten Jahren der Revolutionskriege erinnern können,
über welche die Franzosen sich mit Recht so lustig machten. Wir möchten
"un noch zu bedenken geben, daß es. je weiter die Massen der Heere im Ge¬
sucht von einander bleiben, dem Feldherrn, dem es darauf ankommt, desto
i°ichter werden muß, durch Manövriren der Reserven hinter der Front noch
während des Gefechtes die Front selbst zu verändern. Wenn er also ur¬
sprünglich mit verwandter Front steht, aber auf den Sieg nicht glaubt rech¬
nen zu können, wenn es ihm daher mehr auf Sicherung seines Rückzugs an¬
kommt; so mag dieses ganz füglich dadurch erzielt werden, daß die Reserven
une Ausnahmsstellung in der natürlichen Rückzugsrichtung hineinmanövrirt
werden und nun die kämpfenden Truppen sich auf diese Ausnahmsstellung zu¬
rückziehen. Aus dem Gesagten möchte zu folgern sein, daß heute — unter
gewöhnlichen Umständen — auf die Wahl einer besonders entscheidenden
strategischen Richtung kaum ein so großer Werth gelegt zu werden braucht als
^überhin. daß heute wenigstens außergewöhnliche Talente eines Feldherrn
"Uhr als sonst nothwendig sind, um d>e Vortheile der richtigen eignen Wahl
W dieser Beziehung wirtlich und vollkommen auszubeuten oder den Feind für
^iue falsche Wahl gebülirend zu strafen.
Somit würden sich auch in unserem Falle die Vortheile eines Angriffes
"uf die linke Flanke der Verbündeten erheblich reduciren. Entschiedene Nach¬
teile dieser Angriffsrichtung sind es aber, daß sie die Franzosen durch ein
^icht eben reiches Land führt, daß sie dieselben zwingt, einen langen Weg
in Machen, ehe sie zur eigentlichen Wirkung, zum entscheidenden Schlagen
ko>n
MDe,
zu!«
Artr>nen können, und daß sie dieselben ferner in den nahen Vereich einer An-
^ größerer Plätze der Verbündeten, wie Coblenz. Luxemburg, Mainz, bringt,
er lange Weg, welchen die Franzosen vor der eigentlichen Wirkung zurück-
^en haben, hat zur Folge, daß die Verbündeten Gegenmaßregeln activer
wohl vorbereiten und durchführen können. Als eine solche wurden w.r
^nehmlich betrachten: schnelle Concentrirung der verbündeten Armee aus^ca-
- oder allgemeiner gesprochen nach der linken Flanke der Aufstellung
dem rechten Maasnfer hin - mit darauf folgendem Anfall auf die im
Arsche begriffenen Franzosen, wobei gleichzeitig von den Verbündeten dar-
Rücksicht genommen werden könnte und müßte, daß die Commun.cawn
^ dem Rhein und den Rheinscstungen frei bliebe. .
, Unser zweiter Hauptfall ist der Angriff auf das Centrum der Verbun¬
dn. Es treten hier im Wesentlichen die Verhältnisse und Ueberlegungen
ein. welche 1815 den Gang der Dinge auf beiden Seiten bestimmten. Tue
Franzosen concentriren sich zwischen Valenciennes und Maubeuge; sie stehen
hier, obgleich noch auf französischem Gebiet, so nahe an der belgischen Grenze,
als dies auf irgend einem Punkte nur denkbar ist; sie haben die Hauptcisen-
bahnverbindung zwischen Frankreich und Norddeutschland, soweit sie dem
ersteren angehört, unmittelbar hinter sich, deren Fortsetzung gegen Deutschland
hin aber allerdings auch direct vor sich; das Vorrücken sührt die Franzosen
unmittelbar auf das Gros der Verbündeten los; es muß also binnen
wenigen Tagen zu einer entscheidenden Schlacht kommen und diese Schlacht
muß ihrer strategischen Anlage nach oder, wenn man mehr das Kriegs-
theater als den Schauplatz der Schlacht ins Auge faßt, den Charakter
einer Frontalschlacht tragen. Bekanntlich steht ein Gegenstand, wenn man
ihn unter dem Mikroskop hat, ganz anders aus, als wenn man ihn mit dem
bloßen Auge ansieht, und doch wieder sind die Dinge im Wesentlichen d>e
gleichen. Wir können keinen bessern Vergleich finden, um unsere Leser immer
wieder daran zu erinnern, daß man allerdings die Einzelheiten von den
großen Schachzügen im Kriege unterscheiden muß, daß die letzteren am Ende
das Wesen der Dinge feststellen, daß aber durch die Einzelheiten auf dem be¬
schränkteren Raume des Kampfplatzes oft dasselbe erreicht werden kann, w«6
der blöde Verstand nur erreichbar hält durch die Züge auf dem Kriegstheater¬
wenn nur der Action auf dem Schlachtfeld die Idee dieser Schachzüge aus
dem Kriegstheater, welche die Entscheidung vorbereitet, zu Grunde liegt und
sie beherrscht. Unter einer Idee verstehen wir also keineswegs gar nichts
wie jener berühmte Exercirmeister.'
Im wesentlichen können von den Franzosen auf dem weitern Schlag
selbe, welches wir ihnen hier anweisen, zwei Wege eingeschlagen werden^
Entweder nämlich gehen sie auf die Mitte der Aufstellung, zwischen Wo»
und Namur los. oder auf deren linken Flügel (Namur), nächst der Mündung
der Sambre in die Maas. Das erstere war das Verfahren Napoleons
Die Rechnung dabei ist diese: mit einer Hauptcolonne zuerst die gefährliche
Hälfte der Verbündeten — jetzt, wie damals die Preußen — zu schlag
während mit einer Nebencolonne die minder gefährliche Hälfte, der rechte 6
gel oder die niederländisch-englische Armee, nur festgehalten wird, durch e>
Niederlage den linken Flügel zum Rückzug über den Rhein oder mindest
an den Rhein zu bestimmen, damit die Trennung des feindlichen
Heeres zu entscheiden, nun über den rechten Flügel herzufallen, diesen ^
möglich ans Meer zu drücken, dadurch — für heutige Verhältnisse ^
Antwerpen, im Allgemeinen, von dem Rückzug hinter Maas, Waal und N)^
abzuschneiden, ihn zu vernichten, um nun den linken Flügel, die Preußen, ^
entschiedener Ueberlegenheit zu verfolgen und auch über sie jenen S>eg
wehr suchen, der keinen Ausweg als die Unterwerfung übrig läßt. Der zweite
Weg wäre der Angriff auf den linken Flügel (Namur). Wie sinnreich immer
der erste Calcul sein möge, es will uns fast scheinen, als habe der zweite
wehr Chancen des Erfolgs. Die Aufstellung eines verbündeten Heeres zwi¬
schen Mons und Namur, eines Heeres, welches etwa 300,000 Mann zählt,
'se eine sehr concentrirte; eine Vereinigung des Angegriffenen nach der Mitte
hin macht hier um so weniger Schwierigkeiten, als man heute bei vernünf¬
tiger Anordnung durch die Eisenbahnen derselben sehr leicht zu Hülfe kommen
kann. Eine Vereinigung nach einer Flanke hin ist schwieriger, weil doppelte
Wege zurückzulegen sind. Die Chance eines ersten Siegs in der Schlacht ist
daher größer bei einem Angriff gegen den linken Flügel der Verbündeten als
gegen das Centrum; indem die Franzosen möglicherweise zugleich die Aus¬
sicht hätten, mit einem geringen Aufwand an Kraft durch eine schwache
Nebencolonne die Vereinigung noch aufzuhalten, nämlich den rechten Flügel
der Verbündeten so lange zu beschäftigen und seine Aufmerksamkeit zu fesseln,
bis der linke geschlagen ist. Insoweit aus eine Ausnutzung des Sieges dnrch
°me Verfolgung in der entscheidenden Richtung gerechnet werden darf und
soll. ist gleichfalls die Richtung auf die linke Flanke der Verbündeten, gegen
das Meer hin. die bessere, und eine Gefährdung des eigenen Rückzugs im
Fall einer Niederlage ist nicht zu besorgen, da der Rückzug im Nothfall auf
Sedan und Meziers offen steht. Endlich darf nicht als ganz unmöglich an¬
genommen werden, daß bei dieser Wahl des Angriffes gegen die linke Flanke
auf dem Schlachtfelde, ganz so wie bei dem (strategischen) Angriffe gegen die
linke Flanke auf dem Kriegstheater, der linke Flügel der Verbündeten, Preußen,
durch Linksschiebcn bei den Manövern, welche die Schlacht einleiten, und noch
wahrend der Schlacht selbst, seine Rückzugslinie nach dem Rhein hin wieder¬
zugewinnen und zu sichern trachtete und hierdurch selbst an seiner Tren¬
nung vom rechten Flügel (niederländisch-englische Armee) mitarbeitete. Die Ver¬
bündeten können nun dem centralen Angriffe der Franzosen gegenüber entweder ein
gleiches Verfahren beobachten, wie Blücher und Wellington 1815. Die fünf
Junitage vom 15. bis zum 19. des genannten Jahres geben in der That
s°viel Muster und Lehre als mancher mehrjährige Krieg, und einigermaßen
genau angesehen, nicht blos für die damals herrschenden Umstände, sondern
""es für geänderte. Oder die Verbündeten können, falls sie schlagfertig sind.
der französische Angriff erfolgt, selbst zum Angriffe auf die zwischen Mau-
^"ge und Valenciennes vertheilten oder doch erst in der Concentrirung zum
^Marsche begriffenen Franzosen vorgehen, um deren Colonnen mit zusammen¬
gehaltener Kraft einzeln zu schlagen. Die vortheilhafteste Richtung für diesen
"griff, der sich in vielen Beziehungen empfiehlt, wäre, wenn man alle Fac-
"^u zusammenzieht, auf die französische rechte Flanke also in der Richtung
von Namur auf Maubeuge. Die Verbündeten behalten dabei den freien Rück¬
zug an den Rhein, und insoweit es nothwendig erscheint, bei diesem Rückzug
die Besatzungen von Antwerpen noch angemessen zu verstärken, kann auch dieses
unter Benutzung der Eisenbahn über Löwen ohne Schwierigkeiten bewerk¬
stelligt werden. Im Falle sie siegen, drängen die Verbündeten ihren Gegner
von der graben Straße von Paris ab und können ihn bei einer kräftige»
Verfolgung gegen den Pas de Calais hinzwüngen. Gute Nachrichten vom
Feinde zu haben, ist auf alle Fälle im Kriege gut, vielleicht am nothwendig¬
sten, wenn man einen erfolgreichen Angriff ausführen will. Gut sind nur
solche Nachrichten, die man schnell oder doch rechtzeitig erhält. Bei den deut¬
schen Armeen wird auf die Einziehung guter Nachrichten immer noch viel zu
wenig gegeben. Sie kosten natürlich auch gutes Geld, und die meisten Mächte
scheinen es hier vorzuziehen, dieses zu sparen, um es dann zehnfach und
zwanzigfach in der Gestalt von Kriegskosten d,em siegreichen Feinde zu bezahle».
Er.se wo die sichere Kunde aufhört, soll der Wahrscheinlichkeitscalcul eintreten.
Je mehr man auf ihn allein als Grundlage für die Handlung angewiejen
ist, desto mehr muß man die letztere vereinfachen, dies heißt in der Regel-
man muß sich so einrichten, daß man die höchste Wahrscheinlichkeit des Sieges
auf dem Schlachtfelde erhalte, ohne auf die Ausbeutung des gewonnenen Sieges
allzuviel Werth zu legen, man muß also in concentrirten Massen marschire»
und für eine tüchtige Reserve sorgen.
Wir gelangen nun zu der dritten möglichen Angriffsrichtung der Fra»'
zosen. derjenigen von Lille aus Courtray, oder gegen die rechte Fi ante der
Verbündeten. Sie empfiehlt sich wenig. Die Franzosen stellen sich bade>
zwischen die verbündete Armee und das Meer, durch jeden Fortschritt in der
Richtung nach Osten zwingen sie die Verbündeten, sich mehr zu concentrire»
und zwar gerade auf und an ihrer natürlichen Rückzugslinie an den Rhe»'.
Siegen beim Zusammenstoß in der Schlacht die Franzosen, so haben sie d»'
mit für die Ausbeutung des Sieges wenig oder nichts gewonnen; werden sie
aber geschlagen, so sind sie in Gefahr, von dem verfolgenden Sieger von ihren
Hilfsquellen ab und dem Meere zugetrieben zu werden. Selbst dazu wäre hier
wenig Aussicht, den rechten Flügel der Verbündeten von Antwerpen a
zudrängen, ihm den Rückzug zu verlegen. Dies könnte möglicher Weise »
der Absicht der Franzosen liegen, obwol ein großer Nutzen davon nicht abjU
sehen ist. wenn Antwerpen überhaupt eine ausreichende Besatzung hat. ^ .
daß selbst diese Absicht nur erreicht würde, ist sehr zweifelhaft, da zu lang
Zeit darüber vergehen muß, ehe sie als erreicht betrachtet werden kann, >
lich die Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, daß die Verbündeten sie zur ^
Stunde durchschauen und sie dann durchkreuzen. Das Resultat unserer Un^
suchungen weiset uns unter den vorausgesetzten Umständen durchweg aus
centrale Angrisfsrichtung an den großen Eisenbahnlinien hin. Es ist nun
freilich möglich, daß die Franzosen statt nur in einer dieser Angriffsrichtungen
'N zweien oder auch in allen dreien vorgehen. Natürlich begreifen wir dar¬
unter nicht, daß sie z. B. mit ihrer Hauptmacht, sagen wir mit oder V»
'hrcr Gesammtmacht in der centralen Richtung vorgehen, während der Nest
von einem Drittel oder einem Viertel auf die beiden andern Angriffsrichtungen
vertheilt wird. Dabei bliebe der Angriff immer noch ein einfacher; solche ver¬
hältnißmäßig schwachen Detackirungcn. welche den Zwnk haben, Kräfte des
Feindes ans falschen Punkten festzuhalten, sie zu beobachten, zu beschäftigen.
U)r etwaiges Vordringen aufzuhalten, den Hauptangnsf zu maskiren und zu
sccundiren — solche Detachinmgen sind fast nicht zu vermeiden und werden in
geschickten Händen eine furchtbare Waffe. Complicirt nennen wir den Angriff
nur, wenn die Franzosen ihre gesammte Streitmacht in zwei ganz, oder un¬
gefähr gleiche Theile für zwei Angriffsrichtungen oder in drei solche Theile für
"lie drei Angriffsrichtungen zerlegten. Diesem complicirten oder concentrischen
Angriffe begegnet man. wenn die Streitkrüfte beider Parteien nahezu gleich
sind, immer am besten durch Zusammenhalten der eignen Kraft, um eine der
feindlichen Colonnen nach der andern anzufallen und dann mit ziemlicher
Sicherheit zu schlagen. Der concentrische Angriff ist dem nicht ganz von Gott
verlassenen Gegner immer nützlich, nie schädlich, er wird daher auch absolut
verworfen, wenn derjenige, welcher diese Form wühlt, nicht mindestens doppelt
so stark ist, als der in ihr angegriffne Feind. Die Frage, welche dem con-
centrisch Angegriffenen zu entscheiden vorliegt, ist im Wesentlichen, auf welche
Colonne des Angreifers er sich zuerst werfen soll. Gewöhnlich wird die Ant¬
wort wol lauten: auf die nächste, welche man erreichen kann. Nur in weni¬
gen Fällen wird es gestattet sein, noch weitergehende Ueberlegungen anzuknüpfen,
wobei der Wunsch sich geltend machen kann, zuerst die feindliche Colonne auf¬
zusuchen, welche die eigne Rückzugslinie bedroht oder auch die stärkste, damit
Man gegen sie die verhältnißmäßig größte Ueberlegenheit bringe.
Die Berufung von Vertrauensmännern statt
einer wirklichen Volksvertretung kommt in Oestreich immer mehr in Schwung-
Zuerst war es der Erzherzog-Statthalter von Tirol, der, als die Sturm¬
wolken des Krieges Näher rückten, und Tirol, wie die Times sagte, in seinem
Leben zum ersten Mal unzufrieden wurde, das Bedürfniß fühlte, sich mit
Männern seines Vertrauens zu berathen; er berief einen verstärkten stän¬
dischen Ausschuß und wählte dazu außer der aus 4 Mitgliedern bestehenden
Activität je drei aus dem Clerus, Adel, den Städtern und Bauern. Ein Paar
der aus Wälschtirol Berufenen entsprachen diesem Vertrauen nicht unbedingt;
Baron Moll folgte erst der zweiten Aufforderung, und Romano Nongi, der
Bürger von Trient, erschien noch später, nicht um an den Verhandlungen
Theil zu, nehmen, sondern mit einer Bittschrift der dortigen Jtalianissimi
um Lostrennung vom deutschen Vaterlande*). Von den geheimen Verhand¬
lungen, die unter dem persönlichen Vorsitz das Erzherzogs gepflogen wurden,
vernahm man manche Anträge, die kaum als die Wünsche des ganzen Lan¬
des gelten dürften, vor allem den Protest gegen die Ansässigmachung der
Akatholiken. die Bitte um Aufbesserung der Ruhegehalte der Geistlichen, die Wie¬
deraufnahme des alten Landtags mit seiner feudalen Gliederung, ja sogar das
Selbstgouvernement der Gemeinden, das zumeist die Schwarzröcke ihrer selbst
willen wünschen. Man könnte die Probe eine gelungene nennen, wenn es
darauf ankäme, das intime Verhältniß zur Geistlichkeit noch enger zu knüpfen
und jede Anregung des Fortschrittes von einem Lande möglichst ferne zu halten,
in dem die Regierung verglichen mit jenen, die sich als Stimmführer des
Volkes ausgeben, einen fast liberalen Anstrich gewinnt. Es wurde uns in Aus¬
sicht gestellt, daß dieser verstärkte ständische Ausschuß auch über das künftige
Landesstatut berathen solle, ja so viel wir aus anderen Provinzen des Kaiser-
^class vernehmen, scheint sich das Mittel, durch solche Vertauensmänner die
Stimme des Volkes vertreten zu lassen, so bequem herauszustellen, daß man
auch für die Vorschläge des Gcmeiudegesetzes allenthalben die rechten Männer
herausgefunden hat. Uns in Tirol erinnern sie sehr an den alten Postulatenland¬
tag, und weil es scheint, daß man darauf zurückkommen will, dürfte es zeit'
gemäß sein, einige seiner glänzendsten Thaten vorzuführen. Sie zeigen genau
das Ziel, wohin man auf diesem Wege gelangt; bei dem Geheimniß, das über
seine Verhandlungen bewahrt wurde, ist manches weniger bekannt.
Wenn auch jene Abgeordneten nicht von der Negierung ernannt wurden,
"folgte die Wahl doch unter ihrem Einfluß und mußte vom Kaiser bestätigt
werden. Hiervon blieben nur die Bischöfe und Prälaten ausgenommen, deren
Sitz und Stimme auf der geistlichen Bank mit ihrer Würde verbunden war.
Die Anstellung erstreckte sich auf Lebensdauer, sie sicherte daher das dafür bestimmte
Honorar als jährliche Rente, und die Vorliebe für diesen bequemen Erwerb ging
so weit, daß sich ein vom Schlage gerührter und taub gewordener Vertreter
Noch von zwei seiner College« in die Sitzung schleppen ließ. Vermaß sich
je einer offen und frei zu sprechen, wie der selige Innsbrucker Bürgermeister
Dr. Maurer gegen die Vertreibung der zillerthaler Dissidenten, so wurde er gleich
von einem Jesuitenkvadjutor verketzert und war gezwungen seine Rechtgläubig¬
st öffentlich zu erhärten. Daraus ergab es sich dann auch von selbst, daß
diese Volksvertreter den Wünschen der Hofstellen stets entgegenkamen und
'h"er das Regieren wirklich erleichterten. So gerade in der zillerthaler An¬
gelegenheit. Der Kaiser hatte zwar durch Entschließung vom 21. Februar
!832 ausgesprochen, daß das Tolcranzpatcnt in den alten und neuen Provin¬
zen seines'Reiches gleiche Geltung habe, allein es kam ihm dabei wohl nicht
den Sinn, den zillerthaler Dissidenten ein Zugeständniß zu machen, im katho-
"sehen Tirol eine protestantische Gemeinde zu gründen. Als sie um die Er-
'"ubniß zur Errichtung einer solchen Filialgemeinde baten, erhoben sich Clerus
und Adel und suchten, sogar gegen den kaiserlichen Erlaß, zu beweisen,
das Toleranzgesetz sei in Tirol nie kundgemacht worden; denn selbst den
Dringen Besitz, den jene im armen Zillerthale inne hatten, mißgönnten sie
'buen. und dieser zum mindesten schien ihnen durch das Patent gewährleistet,
das den Protestanten die zum Gütererwcrbe nöthige Dispens der Landesstelle
»ohne Me Erschwerung" zu ertheilen vorschrieb. Der Bescheid vom 2. April
^»4 lautete abschlägig für die Dissidenten, sie wurden angewiesen „in eine
""dere Provinz des Reiches zu übersiedeln, wo schon von vorher akatholische Ge¬
meinden sind " Nun baten sie um Pässe ins Ausland, worauf ihnen am
März 1835 eröffnet wurde: „daß ihnen ohne alle Unkosten unmittelbar
^res die Behörden selbst die ausländische Aufnahme zum Behuf der form-
''6)en Auswanderung bewirkt werden kann." Einige Jahre später rühmte es
^ Gouverneur Graf Brandis bei seiner Jungfernrede an die Vertreter Tirols.
^ auf ihre Bitten der höchstwichtige Entschluß gefaßt wurde, wodurch
''ledern fremden Cultus die Aussicht benommen wurde, sich neben der katholi-
7'" Kirche in Tirol festzusetzen." Die Stunde bewilligten Geidvorschüsse an
Käufer der Güter der Dissidenten, um ihre Auswanderung zu befördern,
""d widmeten ein Kapital von 1500 Gulden zur Erbauung eines katholischen
Pfarrhauses am Dornnnberge. Betreffs des Tolcranzpatentes trat aber seit jener
Zeit eine eigenthümliche Praxis der Behörden ein. Man forderte nämlich
streng von Protestanten, die in Tirol Güter erwerben wollten, das diesfällige
Ansuchen an die vorgeschriebene Dispens, aber nicht um sie „ohne alle
Erschwerung" zu ertheilen, sondern um sie grundsätzlich zu verweigern. Da¬
mit war nun auch der Streit über die zweifelhafte Publikation jenes Gesetzes
vollkommen gehoben.
Auch die Einführung der Jesuiten dürfen sie als ihr Werk preisen. D>e
tiroler Landesstelle hatte zwar schon im Jahr 1836 den Antrag gestellt, die
Leitung der Erziehung, der tlicresianischcn Nttterat'ademie und allmälig auch
die Gymnasiallchranstalt einer geistlichen Gesellschaft anzuvertrauen, in deren
hciligeni Beruf es liegt, sich vorzugsweise mit der christlich, wissenschaftlich^
Bildung der Jugend zu beschäftigen. Man betrieb die von Jesuitenfreundcn
heißersehnte Wohlthat auch bei der Huloigungsfeier im Jahre Z838, allein
die allerhöchste Entschließung wollte noch immer nicht erscheinen. Da trat
der Abgeordnete Joseph v. Giovanelli aus Bolzen, derselbe, der sich seh""
durch die Verketzerung des Dr. Maurer in der zillertbalcr Sache unsterblich
gemacht hatte, vor die Stände mit dem Antrag eine allerunterthnnigste Vorstellung
unmittelbar'an So. Majestät zu richten, das Theresianum und Gymnasiuw
zu Innsbruck den Jesuiten zu übergeben. '.„Dem Lande Tirol," meinte er,
„fehle es mehr als anderen Provinzen des Kaiserreichs an Erziehungsanstalt
te», welche die zu einer höhern Bildung bestimmten Jünglinge ihrem Z>^
näher bringen." da könne nur die durch Gottesfurcht und Jugendzucht well-
historisch gewordene Gesellschaft Jesu, die eben in letzter Zeit wieder in
bürg und Lemberg Musteranstalten gegründet, genügende Abhilfe leisten. ^ ^
der'Prälat von Wüten, dessen Stift bisher die Leitung des Theresianuw
geführt, versicherte „mit Verleugnung jeder persönlichen Rücksicht die Uebe^
zeugung aussprechen zu müssen, es passe dafür keine andere Corporation a ^
die Jesuiten," und als el» paar Tage später der Vertreter der Stadt Hall die
der Franziskaner wegen ihrer Verdienste um das dortige Gymnasium retten s
müssen glaubte, fand sich der hohe Kongreß behufs der Hebung jedes >v
Verständnisses zur Erklärung bewogen: „daß er durch eine Bitte den Leistung
anderer Orden aus keine Weise zu nahe treten wolle." Im Januar 1
nahmen die Jesuiten feierlich von den ihnen in Innsbruck bereiteten P^^
Im Jahre 1843 kam die Frage über die Grundentlastung an die n ^
Stände. Die meisten unter ihnen waren nur darauf bedacht, sich der Zinsen
Zehnten noch besser zu versichern. Ein paar wälsche Herren von der
dank beriefe» sich auf das kanonische Recht, wodurch ihre Lehcnzehnten ^
trienter Gebiet jedenfalls vor einer solchen Maßregel geschützt blieben-
Fürstbischof von Treue (derselbe, der jüngst das in diesen Blättern abgedruckte
R-hupe über gemischte Ehen erließ) erhob sich nachdrücklichst gegen jede Geld¬
ablösung, „dn das Einkommen des Seelsorgers nach kirchlichen Gesetzen auf
der Scholle gegründet.sein müsse." und der oben erwähnte Joseph v. Gio-
vanelli belehrte die Geistlichen, daß der benannte Zehent, auch wenn er nicht
Wachse, vom Zehenlholden herbeigeschafft werden müsse. Man ging der Frage
vorerst dadurch aus dem Wege, daß man aus Antrag des Letzteren dem Fis-
cus Bericht über alle Gewohnheiten und Uebungen in Zehmtsachen vom gan¬
zen Lande Tirol abheischte. Zwei Jahre später erklärte der Generalreferent
dem ständischen Ausschuß, er könne deshalb in dieser Angelegenheit keinen
Vortrag erstatten, weil die Akten in Verstoß gerathen. Im Jahre 1846 end-
Uch beschloß man. daß rücksichtlich der Ablösung kein direkter Zwang ange¬
wandt werden dürfe. Am selben Grundsatz hielt damals die Regierung fest.
Es gab Leute unter den ständischen Vertretern, die eine Eisenbahn durch
Tirol für „Poesie" erklärten. Fremde, Touristen. Protestanten waren ja immer
schief angesehene Gäste, und der Gouverneucr Graf Brandis konnte es bei
der Eröffnung de,s Landtags vom Jahr 1847 nicht genugsam bedauern, „daß
Tirol nun so oft der Gegenstand öffentlicher Besprechung in Flugschriften und
Tngesblättern geworden, in denen die Regierung mancher Vernachlässigung
der Landesinteresscn schnöde beschuldigt, und die Beschlüsse der Stunde, viel¬
leicht ohne sie zu kennen, vielleicht absichtlich, verdreht, und die Gesinnung des
Landes verhöhnt werde." Die deutschen Publicisten, die den jungfräuli¬
chen Boden Tirols zu betreten wagten, schalt er „Dämonen des Neides und
der Zwietracht, von der Hölle ausgesandt, um alle Ordnung zu verrücken und
das Glück der Völker zu zerstören." Man berieth in dieser gottesfürchtigen
Versammlung alles Ernstes, ob dem Gelübde wegen der Befreiung des Landes
von der feindlichen „Invasion" im Jahre 1703 bloß mit einer Prozession
u> Innsbruck genügt, oder überdies auch noch ein Fasttag im ganzen
Lande gehalten werden solle. Nach langer Debatte und Nachschlagnng der
Elender von 1770, 1790 und 1800, in denen der 1. December nicht
"is gebotener Fasttag bezeichnet war, entschied man sich endlich auf An¬
fachen des brixcner Consistoriums beim nächsten Landtag für einen frei¬
willigen. Der „stillen Frage", die sich manches Congreßmitglied stellen mochte.
°b die Stände nur materielle Interessen zu fördern berufen seien, begegnete
^of Brandis durch die Verweisung auf die Leistungen der durch ihr Bemühen
eingesehen Jesuiten. „Die Zeit ist zwar noch zu kurz", tröstete er im Jahre
^44, um Früchte des kaum gesetzten Baumes erwarten zu können, allein was
^'r von diesen ehrwürdigen Vätern sehen, ihr frommer Wandel, ihr freundliches
Nehmen gegen die Jugend und ihr Eifer. Religiosität und wissenschaftliches
streben in derselben anzuregncn. läßt uns hoffen, daß sie ihre Bestimmung und-
lig auffassen und dem an sie ergangenen Rufe wohl entsprechen werden. Nicht
ohne Bedeutung, fuhr er fort, „ist auch die vor diesem erfolgte Ernennung
eines frommen und würdigen Priesters aus unserm Lande zu der hochwichtigen
Lehrkanzel der Philosophie an unserer Hochschule, sie ist zugleich ein sprechen¬
der Beweis, daß Se. Majestät die Philosophie auf eine religiöse Basis
zu gründen beabsichtigen." Es kennzeichnet den Geist einer Versammlung,
daß man ihr solches bieten durfte, und wie wenig man darauf verzichtete, in
dieser Weise zu wirken, zeigte erst letzthin die bekannte Rede des Rektors der
wiener Universität.
Die Förderung der materiellen Interessen war kaum der Rede werth.
Wenn man dazu nicht auch die Landesvertheidigung, die auf Commando mit
freudigem Zuruf angenommen wurde, oder die spätere Schutzanordnung rech¬
net, die nach Brandes ihre beste Stütze im gottergebenen Sinn und im Feuereifer
für den alten wahren Glauben hat. die aber zur Zeit der Noth in den Jahren
1848 und 1859 die Herren in Innsbruck so lange rathlos ließ, bis man
mit Geld die Schulzen warb, sind es hauptsächlich nur einige Straßenkorrec-
tionen. welche diesfalls zur Verhandlung kamen. Man benutzte dazu den aus
dem Getreideaufschlag gegründeten Approvisionirungsfond. der die Herbei¬
schaffung von Getreide in Fällen der Noth zum Zwecke hatte, und erleichterte
den Staateschatz. indem man Aerarialstraßen baute. Als nach langem Hader
zwischen den Vertretern voll Nord- und Südtirol die Regelung des nur die
Straßen und Gründe des letzteren jährlich zweimal verheerenden Etschflusses
als Landesangelegcnheit erklärt wurde, weil durch selben der Transit in gM
Tirol gehemmt wurde, markteten jene noch immer wegen jeden Beitrags, "b-
ook aus demselben Fond noch für die Etappenstraße auf dem Jnn gespendet
wurde.
Wir verweilten vielleicht zu lange bei einem Bilde, das ein Zeugniß
von Geistesarmuth für alle jene hinstellt, die an diesen vormürzlichen Ver¬
handlungen theilnahmen; rücksichtsvolle Kürze ist aber nicht am Platze, da
derselbe Landtag aus seiner Asche wieder erstehen soll. Die Vertrauensmänner
sind seine Vorläufer, man will nur Leute, die den Ansichten der Lenker von
Oben entspreche», die keine Opposition machen. Man überlegt dabei nicht'
daß die Zeit, wesentlich eine andere geworden. Die Entwicklungsversuche des
Jahres 1848 und die darauf erfolgte Reaction sind Ereignisse, die sich aus
dem Leben eines Volkes nicht verwischen lassen. Der italienische Krieg M
den Schleier von den Resultaten, die letztere in vollen zehn Jahren erzielt-
Di.e Mängel unserer Verwaltung traten durch Thatsachen zu Tage, die sich
weder verschweigen noch vertuschen noch beschönigen lassen; zunächst d>e
schlechte Leitung des Kriegswesens, also auf einem Felde, wo wir uns jedem
auch dem mächtigsten Feinde gewachsen dachten. Die untauglichen Generale
Mußten entfernt, die Handhabung des Verpflegungswesens, die unsere Armee
oft hungern ließ, einer Untersuchungscommission unterzogen werden. Im
Schuldenwesen treten nun, wie beim Nationalanlchen. Ziffern auf, wovon
wir keine Ahnung hatten, die Verwaltung verschlang Summen, denen alle
Steuerkräfte bei der größten Anstrengung nicht gewachsen waren, Unzufrieden¬
heit und Mißtrauen stiegen mit jedem Jahre. Selbst das Concordat mit
seinen schwarzen Schlagschatten trat vor diesen Enthüllungen in den Hinter¬
grund. Wir wagen es nicht anzudeuten, welches die Folgen eines zweiten
Krieges im jetzigen Augenblick wären. Alle Schichten der Bevölkerung durch¬
dringt die Ueberzeugung, Mi) diese Zustände keine Fortsetzung leiden, man
verschließt sich ihr selbst in den höchsten Kreisen nicht, aber immer und immer
wieder glaubt man mit halben Maßregeln wegzukommen. Controllirende Aus¬
schüsse für Budget und Schulden, also wieder Vertrauensmänner der Regierung,
sind es, woraus wir vertröstet werden, einer wirklichen Vertretung des Volks steht
eine unüberwindliche Scheu entgegen. Das heißt dem Volke geradezu Ein¬
sicht und guten Willen absprechen, es heißt zurückbeben vor dem Wort, das
allein neues Leben in die trägen Riesenglieder des großen Körpers brächte,
das neuen Credit und neue Kräfte schaffte, vor dem zauberischen Wort —
Vertrauen!
Friedrich Schiller. Drama in S Aufz. von Ludwig Eckardt. Wenigen-Jena,
Hochhausen. —
Wir kennen wenig Bücher, die auf uns einen so peinlichen Eindruck ge¬
wacht hätten, als dies sogenannte Drama; ja wir könnten uns bestimmter
ausdrücken, wir kennen nur eins, den vielgelesenen Roman von Louise Mühl¬
bach. Friedrich der Große. Es handelt sich nicht um die bloße Werthlosigkeit
des Buchs: schlechte Bücher gibt es vielleicht genug; es ist die Beziehung auf
einen großen Namen und auf die allgemeine Ehrfurcht, die das Volk vor
diesem Namen empfindet, der Versuch in dem Sinn dieses großen Mannes zu
denken, zu empfinden und zu sprechen, und die Verdrehung alles Menschlichen
Und Natürlichen in ein verschrobenes herzloses Pathos, angeblich um diesen
Moßen Namen zu ehren: dieser angebliche Cultus des Genius, der aber aus
dem Genius eine abscheuliche Fratze macht, ist es. was den an sich komischen
Eindruck in enim peinlichen verwandelt. Denn es handelt sich um eine ganze
Klasse von Büchern, die an Umfang immer mehr gewinnt, und gegen die
endlich ein ernstes Wort gesagt werden muß. Indem der Verfasser sein Drama
„dem deutschen Volk, namentlich der deutschen Jugend" gewidmet, hat er selbst
die Aufmerksamkeit herausgefordert, und möge sich nicht wundern, wenn er
als der passendste Vertreter dieser Klasse hervorgehoben wird.
Als man vor zehn Jahren Goethes hundertjährigen Geburtstag feierte,
schrieb Gutzkow ein Fcststück, welches wir aus denselben Gründen zergliedern
zu müssen glaubten; aber gegen dies neue Werk gehalten, ist,das Flittergold
der Gutzkowschen Muse vollwichtiges Metall.
Wie das Liternturdrama überhaupt hat aufkommen können, ist begreiflich
genug. Wir sind in der Periode unserer classischen Dichtkunst fast mehr zu
Hause als in unserer eigenen; die Gestalten, das Costüm sind uns gegen¬
wärtig, wir verstehen die Verse unserer Dichter herzusagen und, wissen aus
ihren Briefen auch, wie sie sich in Prosa ausdrückten. Wenn also die Gelegen¬
heit eintritt, das Andenken irgend eines jener Heroen feierlich zu begehen, so
ist es uus ganz recht, wenn die bekannten Gestalten und Costüme uns sinnlich
vors Auge geführt werden. Auch wird man in den Ansprüchen an ein sol¬
ches Stück sich gern bescheiden, da ein echtes Kunstwerk doch unmöglich da¬
raus hervorgehn kann. Am besten ist es noch, wenn der Dichter die Hand¬
lung möglichst einfach gibt, sich ans Factische 'hält und, anstatt den Helden
hervortreten zu lassen, mehr den Eindruck schildert, den derselbe auf die an¬
dern macht. Versucht der moderne Dichter den alten Dichter als solchen zu
zeichnen, d. h. ihn durch selbsterfundene geistreiche und tiefe Gedanken als den,
der er ist, zu legitimiren, so wagt er sich auf ein Gebiet, dem er nicht ge¬
wachsen ist: denn er müßte alsdann der sein, den er schildert.
Das Gelindeste indeß, was man von einem solchen Festspiel erwarten
kann, ist, daß es wenigstens äußerlich sich an die Umrisse der wirklichen Be¬
gebenheit hält. Wird uns das Leben des Dichters im Allgemeinen treu vor¬
geführt, so können wir es als eine Reihe lebender Bilder betrachten und
werden es mit der Feinheit des Dialogs nicht genau nehmen. Sehen wir
nun wie der Verfasser der Geschichte seines Helden gerecht geworden ist.
Im vierten Act promenirt Schiller in der Gegend von Rudolstadt. Eine
ihm unbekannte junge Dame, die in einem Buche liest, gesellt sich zu ihm. Nach
den ersten Worten bemerkt Schiller: „Ihre Unbefangenheit thut mir wohl."
Die junge Dame ist in der That unbefangen genug : als zweite Guru erzählt
sie dem fremden Herrn ohne Umstände von den Albernheiten ihrer lieben
Mutter. Doch entspricht ihre ästhetische Bildung dem Fortschritt unserer Zeit-
Das Buch in dem sie liest, ist die Thalia, und das giebt ihr Gelegenheit
Schiller zu kritisiren. „Er steht über seiner Zeit; ihm genügt weder der
Katholicismus, der Gott nur schauen will, noch der Protestantismus, die ein¬
seitige, verstandesmäßige Fassung des Gottesbegriffes!" Sie begreift vollständig,
daß Schillers Poesie in diesem Augenblick verstummt: er habe sich zu sehr
ausgegeben und müsse nun Philosophie und Geschichte studiren, um sich zu
Imnmeln; und als Schiller sich darüber beklagt, kein Mädchen gefunden zu
haben, welches sich dem Dichter weihte, bietet sie ihm — zehn Minuten, nach¬
dem sie ihn gesehen! — ohne Weiteres ihre Hand an. „Dich trösten, mit
Dir leiden, mit Dir darben dürfen, welch Perdienst um die Zukunft meines
Vaterlandes!" Sie freut sich, als sie hört, daß sie Frau Professorin werden
soll, daß sie alle Tage würde ins Theater gehen können — und setzt dann
hinzu: „Weißt Du warum ich plötzlich lachen muß? Du hast Dich mit mir ver¬
lobt und — nicht wahr, das nennt man verloben? und es ist hübsch! —
und kennst noch gar nicht meinen Namen." — Er kennt ihn in der That noch
nicht, sie präsentirt sich als Frl. v. Lengefeld, und Guru verwandelt sich in
die Negimentstochter: „Kopf grade, die Brust heraus!" so marschirt sie zur
Frau Mama.
Frau o. Lengefeld — bekanntlich Erzieherin am Hof von Meiningen —
tritt ungefähr mit der Bildung einer Nühmamsell auf, welche aus unbekannten
Gründen die Verpflichtung fühlt französisch zu lernen. Von dem Französischen
dieser Dame gibt der Verfasser folgende Probe: sie will sagen „Gegenstand
Meines Herzens" und übersetzt das: eoutreboutiCus daz mon eosur. —
O Kotzebue! Du von der neuen Aesthetik so viel geschmähter Dichter! Was
bist Du gegen Deine Nachfolger? Was sind Deine Guru's gegen diese von-
treboutieiuLS des Herzens von Friedrich Schiller!
Ein anderes Bild, einige Jahre früher. In Mannheim wird „Cabale
und Liebe" aufgeführt; Schiller sitzt mit Lvdy Milsord — hier Charlotte von
Kalb getauft — in der Loge; sie stürmt heftig auf ihn ein: „Soll ich dem
Gatten den Schwur gebrochen haben, soll ich schuldig geworden sein ohne
den süßen Lohn der Sünde?" Schiller, in dessen Herzen verschiedene Empfin¬
dungen kämpfen, wird hauptsächlich durch die Worte bestimmt, welche man
aus der Rolle der Luise Miller von der Bühne aus vernimmt; bald nach
rechts bald nach links. Fast wäre er gefallen, da stürzt, geleitet vom getreuen
Streicher, mit fliegenden Haaren Margarethe Schwan herein, die ans Liebe
Zu Schiller wahnsinnig geworden ist. Sie ist des Dichters guter Engel, und
als man nun gar von der Bühne die Worte hört: „Ich verwerfe dich, ein
deutscher Jüngling!" ist der Sieg des guten Princips entschieden; während
die beiden Frauen zusammensinken, tritt Schiller an die Brüstung der Loge
Und ruft herunter, das Publikum sei jetzt seine einzige Geliebte.
Es dürften der Proben genug sein; im ganzen Stück kommt keine
einzige Scene vor, die man bedauern dürste, in dieser Umgebung zu finden.
Nur noch eine Bemerkung.
Der Verfasser, bekanntlich Begründer einer neuen Aesthetik, die er als
„theistisch" bezeichnet im Gegensatz zu der bisherigen „pantheistischen", ist
zugleich Schillers Kommentator; er bemüht sich in diesen Commentaren jedes
Wort, das Schiller geschrieben, jedes Wort in den Räubern, im Fiesco u. s. w
als classisch darzustellen. Mit diesem Versuch steht er keineswegs allein; das
Schillerfest, das doch von Manchen mitgefeiert ward, die von Schiller nichts
anderes kennen als das Lied an die Freude und etwa das Räuberlied, hat
denen, die dem Publikum zu Gefallen schreiben, einen Maaßstab für Schillers
Größe an die Hand gegeben, der, wie wir fürchten, in kurzer Zeit eine sehr
bedenkliche Reaction hervorrufen wird. Unwillkührlich. wenn wir uns Schillers
großen Schatten denken, legen wir ihm den Gedanken unter: Herr bewahre
mich vor meinen Freunden, vor meinen Feinden werde ich mich schon selbst
bewahren. Diese Worte wären nicht das schlechteste Motto unter manche
Das Schillerfest mit seinen unmittelbaren Nachwirkungen ist nun vorüber. Es
hat eine nicht unbedeutende Literatur zurückgelassen; die Spalten fast sämmtlicher
Zeitungen sind seit einem Monat mit Berichten darüber ausgefüllt, und nun theilt
noch fast jede Stadt, was an jenem denkwürdigen Tage gesprochen und gethan ist,
den deutschen Brüdern mit. Soviel wir Gelegenheit hatten, diese Reden zu ver¬
gleichen und ihre politischen Beziehungen zu erwägen, die freilich nicht ausbleiben
konnten, so athmet in ihnen der Geist großer Mäßigung, und so warm sich überall
die deutsche Gesinnung ausspricht, wird sie fast nirgend durch excentrische Träu¬
mereien entstellt. Wir heben nur zwei Proben hervor: ein Gedicht von Georg
Herweg», der nun seit zehn Jahren geschwiegen, zur Festfeier in Zürich und eine
von Johann Jakobi im Königsberger Handwerkerverein gehaltene Rede; in bei¬
den ist die allgemeine Stimmung der Art. daß wir ihr nur beipflichten können.
Dem letztern ist freilich ein Mißverständnis? begegnet, das wohl noch öfters vorkommen
mag: er führt die bekannte Stelle, wo Schiller 1793 an Körner schreibt, die Liebe
zum Vaterlande sei sehr lebhaft in ihm geworden, als Beleg für den deutschen Pa¬
triotismus des Dichters an. Allein das Vaterland, von welchem Schiller hier redet,
ist nicht das große Deutschland, sondern das kleine Württemberg; Schiller sehnt sich
aus dem Auslande, d. h, aus Weimar, einmal nach seinem Vaterlande, d. h. nack
Stuttgart und Ludwigsburg zurück, was ihn denn auch wirklich zu einer länger»
Reise dahin veranlaßt. Und in demselben Sinn ist das heiligste der Bande zu ver¬
stehen, von welchem in der Glocke die Rede ist. Ein Nationalitätsdichtcr in unserm
Sinn war Schiller nicht, obgleich wir nicht daran zweifeln, daß er es geworden
Wäre, wenn er zwei oder drei Jahre länger gelebt hätte.
Das Schillerfest ist vorüber, und es hat den Eindruck hinterlassen, daß wir
eine große Nation sind. Die Fähigkeit, von einem gleichen Gedanken bewegt zu
werden, und diesen Gedanken in gleicher Wärme auszudrücken, hat sich augenschein¬
lich gezeigt; es kommt nun aus den Versuch an, ob dieser Gedanke auch organi¬
satorische Kraft sür das wirkliche Leben besitzt. Vielleicht werden wir diese» Ver¬
such bald machen müssen; denn die Zeit des Festes ist vorüber und die bittre Ar¬
beit des täglichen Lebens beginnt.
Die Aussichten Europas im gegenwärtigen Augenblick sind nicht erfreulich. Es
steht so aus, als ob ganz Europa, mit Ausnahme eines einzigen Mannes, sich
nicht entschließen kann, etwas Bestimmtes zu wollen; und auch von diesem Manne,
auf den alle Augen gerichtet sind, seht man nur voraus, er wolle etwas, die That¬
sachen scheinen keineswegs dafür zu sprechen. Wenn er aber wirklich etwas will,
so weiß wenigstens Niemand was er will, und das ist das Qualvolle der gegen¬
wärtigen Situation. Am drückendsten ist sie sür unser Deutschland, das. auf jeden
Fall bei der Entscheidung sehr stark betheiligt, sich noch nicht einmal zu einem kla¬
ren Wunsch zusammengerafft hat.
Unter den zahllosen Flugschriften, welche diesen Wunsch zu formuliren suchen,
ist eine, die wir Anfangs mit Mißtrauen betrachteten- „Der deutsche Bund, oder-
Ob Gotha, ob Bamberg? ein national-politischer Versuch vom Verfasser des
europäischen Gleichgewichts (Berlin, Springer). Das Mißtrauen bezog sich auf
den Stil. Eine sehr blumenreiche, halb phantastische, halb prophetische Sprache,
schien uns am wenigsten geeignet, eine Situation aufzuklären, bei der man alle
seine Gedanken aufs strengste zusammennehmen muß, um nicht in Thorheiten und
Illusionen zu verfallen. Allein bald stießen wir aus sehr scharfsinnige Bemerkungen
und im Mittelpunkt des Ganzen fanden wir eine Wendung der deutschen Verhält¬
nisse, die noch von keinem Schriftsteller hervorgehoben ist und die doch am nächsten
liegt, so charakteristisch ausgeführt, daß wir die Aufmerksamkeit unsrer Leser darauf
hinlenken müssen.
Was Preußen heute ist, sagt der Verfasser, das ist es geworden, nicht durch
den Bund und in dem Bunde, sondern ohne den Bund, außer ihm, vor ihm:
das ist es geworden durch sich selbst! — Hat nun Preußen, indem es dem Bunde
beitrat, diese seine selbstständige Bahn freiwillig aufgegeben, hat es mit seiner Ver¬
gangenheit gebrochen, seiner Zukunft, ihren Hoffnungen und Möglichkeiten entsagt,
hat es aus immer sich umgrünzt, umschränkt? — Gewiß war das nicht seine Ab¬
sicht. Es konnte und durfte hoffen, daß es in Ansehung seiner Große, einen die¬
ser Größe entsprechenden Einfluß bewahren werde im Bunde, daß den Pflichten, die
es übernahm, gewisse Rechte, den Opfern, die es brachte, gewisse Vergütungen ent¬
sprechen würden. Denn hat es nicht Opfer, nicht vor Allem ein Opfer gebracht,
das höchste und schwerste, das ein großer und freier Staat, ein Staat vor Allem,
^er aus sich selbst zur Größe emporgestiegen, bringen konnte, mehr vielleicht, als er
bringen durste? Das Opfer der vollen Selbstständigkeit und Selbstbestimmung.
nicht nur in seiner europäischen, sondern auch seiner deutschen Politik.— Was
abgesehn von Oestreich — bei den andern Staaten ein Gewinn, das war bei Preu¬
ßen ein Verlust; was bei Jenen eine Bürgschaft der Sicherheit, das war bei Preu¬
ßen ein Prinzip der politischen Unsicherheit, des ewigen Schwankens und Zweifeln«-
Jene gerechte Erwartung hat sich nun aber nicht erfüllt: Preußen, jeder entsprechen¬
den Geltung im Bunde beraubt, sieht sich vielmehr immer und überall gelähmt;
findet immer und überall, was es thun oder lassen möge. Widerspruch, Verdächti¬
gung, Mißtrauen, Eifersucht, Scheelsucht; wird immer und überall in seiner Ac¬
tion gehemmt und angefeindet durch die kleinlichsten Ränke und die unwürdigsten
Intriguen. Ja es hat sich überzeugen müssen, daß sogar in der Stunde der Ge¬
fahr und in dem Augenblicke, wo es durch die That beweist, daß es bereit ist
einzutreten mit seiner ganz<n Macht für die Sicherheit und Ehre Deutschlands,
selbst diejenigen Zugeständnisse ihm versagt werden, die der einfachste Verstand als
unerläßlich und unumgänglich erkennt.¬
Würde es nun, fragt der Verfasser, Preußen zu verargen sein, wenn es wieder
um sich auf sich selbst zurückzöge, wieder selbstständig, ungehemmt und uubceinträch-
tigt durch äußere Factoren, einträte in seine alte ruhmvolle Bahn und den Faden
seiner Geschichte nufuühmc da, wo er durch die kunstvolle Hand der deutschen Di¬
plomaten durchschnitten und zu einem labyrinthischen Knäuel zusammengeschürzt wurde?
— Es kann nicht wol vorausgesetzt werden, daß Preußen wesentlich geschwächt wird,
indem es die Verbindung mit dem heutigen Bunde aufgibt. Die Unterstützung
Deutschlands ist ohne Zweifel für Preußen von dem allerhöchsten Werth; aber sie wird
ihm nur widerstrebend zu Th^it, unter allen möglichen Verclausulirungen und Verwahr¬
ungen, in unliebsamster, eifersüchtigster. grollcndster Weise, soweit sie ihm überhaupt
nicht gänzlich vorenthalten wird, was am häufigsten der Fall ist. Bei jedem seiner
Schritte muß es fürchten, Anstoß zu geben, vermeintliche Rechte zu kränken, einge¬
bildete Ansprüche zu verletzen. Niemals aufrichtige Theilnahme, niemals freudige
Beistimmung, niemals herzliche Hingebung, niemals entsagendes Vertrauen. Um
das geringste Einverständnis; herzustellen, sieht Preußen sich bei jeder einzelnen
Veranlassung genöthigt, in die ausführlichsten Verhandlungen zu treten, mit Cow-
plimcnten und Ceremonien dem klcinstaatlichcn Selbstgefühl zu schmeicheln, zu bitten,
zu flehen — mit der besten Aussicht, daß es doch zu nichts kommt, daß alles Ver¬
lorne Mühe, vergeudete Zeit ist. Und noch dazu mit seiner eignen Würde, mit der
theuern Münze seiner eignen Würde bezahlt. —
Man würde dem Verfasser schreiendes Unrecht thun, wollte man annehmen, er
stellte die Aussicht auf eine Lossagung Preußens vom Bunde als etwas Hoffnungs¬
volles dar. Es ist eine Möglichkeit, vor der jeder Freund des Vaterlandes schaudert,
aber — es ist eine Möglichkeit. Sie wird nur dadurch abgewandt, wenn Preußen
Garantien erhält, daß seine Stellung zum Bunde es nicht zum Vasallen Oestreichs
macht. Die Ereignisse dieses Jahres machen es dringend nothwendig, solche Garan¬
tien zu fordern und zu bieten. Der Verfasser setzt hinzu — und nach unserer
Ueberzeugung mit Recht — daß Oestreich, wenn es seine eigne europäische Stellung
begreift, am meisten daran gelegen sein muß, Preußens Verhältnisse klar zu machen-
Ein freies Oestreich! ein freies Preußen! und beide nicht blos durch den Bund,
sondern durch die Natur ihrer Lagen in herzlichem Einverständnis)! Beide Staaten
sind historisch wie durch ihre Gegenwart zur selbstständigen Politik bestimmt, es
kommt daraus an, mit gelinder, schonender Hand ihre Beziehungen so zu ordnen,
daß die Thatsache legalisirt wird. Geschieht das nicht, so ist bei jeder ernsten Krisis
die Gefahr vorhanden, daß die Beziehungen zerrissen werden, — In diesem Sinn thei¬
ln wir den Spruch eines erlauchte» Dichters mit, des Königs Ludwig von Baiern,
den der Verfasser seiner Schrift als Motto vorsetzte:
Trauriges Bild des Reichs der Deutschen: zweiköpfiger Adler!
Wo zwei Köpfe bestehen, ach da gebricht es an Kops,
George Sand, die seit ihren unglücklichen Memoiren als Dichterin immer
schwächer wird, hatte in einer ihrer letzten Novellen, LIIs et lui, ein Verhältniß
geschildert, in welchem alle Welt ihr eignes Verhältniß zu Alfred de Musset zu
"kennen glaubte. Da der Verstorbene in dieser Schilderung — wie stets die Män¬
ner bei G.Sand — sehr übel wegkam, so hat sein Bruder sich zu einer Flugschrift
veranlaßt gesehn, I,ni et DIIs, in welcher der Dichterin sehr arge Dinge nachgesagt
werden, mit der Versicherung, daß man Beweise in der Hand habe. — Gegen
diese Flugschrift erhebt sich G, Sand in der Revue 6s äeux inonäes— 15, Oct, —
nous äisons, nous, pus le iriort illustre hö rslevers, malgre ouanä le wo-
went sera, venu. II rsvsnäiciuorg. sa, veritable psusee, ses xroxres sentimsns,
äroit ac ka,ire lui-mens Is. üvre oonkession ac öff souKranees et ac ^eder
eiioore uns lois vsrs le eist Iss gr^nah cris ac Hustiee et ac perils Mi re-
^umont la insilleure xsrtis as son o.me se ig, plus vivÄNts xdg,hö ac sa vie. <ne
^er^ un monument, ecrit ac ses xroxres minus et evils^ere ä sa memoire x-rr
^es og,ins ton^ours ainies. Also werden diese Liebesbriefe veröffentlicht werden, —
Gleichzeitig erhebt sich eine andere Amazone, Louise Colet, um ihre eignen Ansprüche
den „berühmten Todten" geltend zu machen.
In demselben Heft der Revue ist eine Kritik des neuesten Werkes von Victor
Hugo: I.g, IvSZenäs ach Lieeles; einer Sammlung von Romanzen, in welcher eine
N"he fabelhafter, zum Theil vorsüudfluthlichcr Tyrannen und Bösewichter in Farben, die
^u Lamartincs I.g, oduts ä'un ^.ngs erinnern, besungen werden. Der Kritiker ist Emile
Montegut, der Nachfolger G. Planche's, der vor einigen Monaten das traurige
Und verkümmerte Leben seines Vorgängers ebenso anschaulich als indiscret beschrie¬
ben Hot. — Montegut besitzt viel mehr Esprit, Farbe und Phantasie als Planche,
"der in einem Punkt kann er ihn nicht ersetzen: man weiß nicht, was man zu sei-
Urtheil sagen soll. Planche's Recensionen lasen sich — einzelne sehr brillante
^genommen, z. B. eben die über V. Hugo — ziemlich langweilig; seine Dar¬
stellung war trocken, monoton — man möchte fast sagen, ledern; 'seine Gesichts¬
punkte äußerst enge und selbst sein Räsonnement befriedigte nur selten.- Aber er
iagte sehr bestimmt, deutlich und energisch, ohne Gunst und Abgunst: dies taugt
^Was, und das taugt nichts; und wenn er auch in seinem Urtheil manchmal irrte
so traf er doch in der Hauptsache das Richtige. Darum war er im Leben der ver¬
haßteste und der gefürchtetste unter allen Kritikern, und wurde nach seinem Tode als
Märtyrer der Wahrheit gefeiert. Ein Cato ist in der That in Paris eine seltene
Erscheinung unter den Journalisten wie anderswo, — Montsgut sagt V. Hugo
viel Schmeicheleien, auch viel Bosheiten — das versteht er viel besser als Planche —
seine Wendungen sind zum Theil sehr geistvoll, die lange Kritik liest sich mit großem
Interesse; aber man versteht nicht, wie Lob und Tadel mit einander stimmen. Er
sührt u. a. diejenigen Stellen an, die jeder unbefangene Leser sür unerhört läppisch,
ja sür das Schlechteste erklären wird, was V. Hugo je geschrieben, obgleich es ganz
in seiner Manier ist, und bedeckt gerade diese Stellen mit überschwenglichen Lob.
Es sind nämlich Nomenclaturen in der Weise des homerischen Schiffscatalogs, in
denen V. Hugo seine Fertigkeit im Reimen zeigt. — Soll das etwa Ironie sein?
Es scheint nicht, denn Montegut wird ganz warm; jedenfalls ist es ein sprechendes
Zeugniß dafür, daß Oommon Sense und Dsxrit zwei sehr verschiedene Dinge sind-
Hallbcrgers Prachtausgabe der Classiker Beethoven. Element!, Haydn, Mo¬
zart in ihren Werken sür das Pianoforte allein, neu herausgegeben mit Bezeichnung
des Zeitmaßes und Fingersatzes von Moscheles (vollständig in 400 Notenbog-n
elegantester Ausstattung im Subscriptionspreis zu 1 Ngr. für den Bogen), schreitet
rüstig fort; es sind in der letzten Zeit eine Reihe neuer Lieferungen erschienen. Auch
von dem „Salon" desselben Verlags (Original-Compositionen für das Pianoforte)
sind zwei neue Hefte herausgegeben; sie enthalten Stücke von Bernard. Beedict
R-
^utdologis universale. Ouoix ass meilleures xoösis8 Ivrigues 6e
äiverses nations äans les langues originales, xar, ^. 6. Sö Leu 2a. I.eix^5>
LroeKnaus. — Deutschland eröffnet den Reigen: viel Goethe, viel Schiller; Frag'
mente aus Lessings Nathan; zwei Oden von Klopstock. Bürgers Lenore. Herder,
viel Heine und Uhland; auch einige von den neuern Dichtern. _ Aus England!
Byron, Moore. Burns. Colcridgc, Campbell, Wordsworth. Tennyson; auch Frag'
mente aus ältern Dichtern. — Unter den Franzosen sind die Classiker (Voltaire,
Lafontaine. Boileau, Racine u. s. w.) ebensostark vertreten als die Romantiker: son¬
derbarerweise fehlt Alfred de Musset ganz. Dann die Italiener, Dante, Ariost u. f- w-,
aber auch die Neuern: Manzoni, Foscolo, Leopardi. Monti u. s. w. Portugiese»
und Spanier machen sich geltend; es folgt ein Alphabet, das wir nicht lesen kön¬
nen, die Russen: bei einem Namen vermuthen wir, daß es Lermontoff ist. Polen,
Serben (wieder das russische Alphabet oder ein verwandtes), Czechen, Ungarn, Hol¬
länder, Dänen, Schweden, Neugriechen; und zum Schluß der alte Horaz mit seine"
Zeitgenossen und die altgriechischen Idyllen und Elegien. — Wer alle diese Sachen
versteht, besitzt eine ziemlich ausgedehnte Sprachkenntniß. — Die Ausstattung 'se
schön. —
Im Jahre 1816 wurde bei der Vereinbarung der vorläufigen Geschäfts¬
ordnung der deutschen Bundesversammlung festgesetzt: „Die Bundesversamm¬
lung bestimmt in jedem besonderen Falle, wie die Protokolle bekannt zu machen,
Und insbesondere, ob sie dem Druck für das Publikum zu übergeben seien." Bei
der Genehmigung dieser Geschäftsordnung aber beschloß die Versammlung,
die Bekanntmachung ihrer Verhandlungen durch den Druck solle, als Regel gel¬
ten und jede der Publicität nicht zu übergehende Verhandlung besonders aus¬
genommen werden. Demgemäß wurde bis zum 1. Juli 1824 verfahren, wo
das Präsidium „aus Anlaß eines zur Sprache gekommenen, die Erleichterung
der Bundesmilitärcontingcnte betreffenden, speziellen Falls" bemerkte, „es scheine,
daß Verhandlungen, welche das Vertheidigungswesen des deutschen Bundes
betreffen, ihrer Natur uach zur Aufnahme in die zur Publicität gelangenden
Protokolle nicht geeignet seien; überhaupt dürfte die Bundesversammlung sich
veranlaßt finden, mehrere Verhandlungen, welche seither in die förmlichen
Protokolle aufgenommen worden sind, blos loco äiewturiiiz in Druck legen
Zu lassen; die bisherige Uebung, die gesammten Verhandlungen des deutschen
Bundestags, wenige Ausnahmen abgerechnet, der Oeffentlichkeit zu übergeben,
habe zu Mißbräuchen Anlaß gegeben, welche jeder Gutdenkende gewiß mi߬
billige, denen aber eben darum ein Ziel gesetzt werden müsse. Die deutsche
Bundesversammlung sei ein permanenter Ministerialcongreß der Repräsentanten
sämmtlicher Bundesglieder, in dieser Versammlung würden vorzugsweise die An¬
sichten der verschiedenen Bundesregierungen über Gegenstände des gemeinsamen
Interesses freundschaftlich ausgetauscht und nach vorheriger gründlicher Ervrte-
^ung und reifer Erwägung die Beschlüsse gefaßt. Daß das Resultat dieser
Berathungen, je nachdem es für Alle oder für Einzelne von Interesse sei,
bekannt gemacht werde, sei unbedingte Nothwendigkeit — aber die Vorberei¬
tung der Gegenstände, die Arbeiten der Comites und die verschiedenen An¬
sichten der einzelnen Regierungen. seien Epochen der Geschäftsverhandlungen,
welche zur Oeffentlichkeit durchaus nicht geeignet seien. Bei Militärangelegen¬
heiten und bei Differenzen der Bundesfürsten unter sich oder mit ihren Ständen
sei dies vorzugsweise der Fall. Das Präsidium erlaube sich daher, die Ver¬
sammlung einzuladen, Gegenstände dieser Art in eigne loco clietg-turao zu
druckende Protokolle aufzunehmen, so wie sich dieselbe bei Annahme der pro¬
visorischen Geschäftsordnung ohnehin vorbehalten habe, die Gegenstände jedes¬
mal zu bezeichnen, welche ausnahmsweise der Publicität entzogen werden soll¬
ten." „Nachdem," heißt es im Protokoll jener Sitzung weiter, und hierin
scheint die damalige gründliche Erörterung und reife Erwägung bestanden zu
haben, „der tgi. preußische, tgi. hannöversche, großherzogl. badische und kurf.
hessische Herr Gesandte diese Ansichten des Präsidiums näher motivirt hatten,
vereinigten sich sämmtliche Stimmen mit der Präsidialproposition, und es ward
beschlossen: bei Abfassung der Protokolle im Geiste obigen Präsidialantrags
vorzugehen und der Bundestanzleidirection auszugeben, künftighin, nach Ma߬
gabe der verhandelten Gegenstände, zweierlei Protokolle jeder Sitzung auf¬
zunehmen, und zwar öffentliche und separat-, blos loco ckiewwraö zu druckende.
Protokolle."
Es ist bemerkenswerth, wie dieser reiflich erwogene Beschluß gegen gewisse
Gesetze der Logik verstößt, ohne deshalb der Oeffentlichkeit vorenthalten worden
zu sein. Denn zuvörderst scheint es eine Mitio pr-animi, wenn daraus, daß
die Gesandten „freundschaftlich" berathen, gefolgert wird, der Inhalt ihrer
Berathung gehöre nicht vor das Publikum. Wir wissen zwar wohl, daß es
in der B.-V. nicht wie in den Congressen des fernen Westens zugeht, daß
vielmehr in der That, wenigstens der äußeren Form nach, freundschaftlich be¬
rathschlagt wird; allein in diesem Sinne ist der Ausdruck des Präsidialantrags
offenbar nicht gemeint, denn weshalb hätte eine solche freundschaftliche Be¬
rathung die Oeffentlichkeit zu scheuen? Es wird vielmehr hier unter „freund¬
schaftlich" verstanden: vertraut, geheim, und das wars ja eben, cava erat
äemoirstiÄuäum, daß die Verhandlung wirklich eine geheime sei. Wenn es
ferner heißt, die Gegenstände der Berathung würden gründlich erörtert und
reiflich erwogen, so würden wir, wenn wir dieses Selbstlob unangefochten
lassen, nothwendig zu dem Schlüsse kommen, daß diese Erörterungen und Er¬
wägungen der Nation mitgetheilt zu werden verdienen, ja nicht entzogen werden
dürfen. Wenn sodann anerkannt wird, daß die Resultate der Verhand¬
lung bekannt gemacht werden müssen, so vermissen wir dabei ein gleiches An-
erkenntniß für die Gründe, welche zu diesen Resultaten geführt haben und
ihr nothwendiges Zubehör sind, wie die Gründe eines Nechtsspruches das Zu¬
behör der Entscheidung. Wenn ferner der Beschluß bei Annahme der provi¬
sorischen Geschäftsordnung, wonach die Bekanntmachung der Verhandlungen
als Regel gelten und die Nichtbekanntmachung einer Verhandlung jedesmal
besonders beschlossen werden soll, zur Begründung beigezogen wird,
scheint uns dieser Beschluß in unvereinbarem Widerspruch mit der Folg^
Ring zu stehen, daß allgemein gewisse Verhandlungen wegen ihres Gegen¬
standes und außerdem alle Abstimmungen der einzelnen Regierungen und alle
Cvmitsberichte geheim gehalten werden müssen; die eouelusi» soll aber aus der
pmemissg. folgen! >
Der Beschluß war jedoch nicht blos unschlüssig, sondern auch in sich un¬
klar. Denn es sollte danach „das Resultat der Berathungen, je nachdem
es für Alle oder für Einzelne von Interesse sei," bekannt gemacht werden.
Was bedeutet dieses „Je nachdem"? Sollten auch nicht einmal alle Resul¬
tate der Berathungen, sondern nur gewisse der Oeffentlichkeit übergeben, sollten
einige nur Einzelnen, andere gar nicht bekannt gemacht werden? Und ferner
bezeichnete der Präsidialvortrag, „im Geiste" dessen vorgegangen werden sollte,
allgemein „die Vorbereitung der Gegenstände, die Arbeiten der Comites und
die verschiedenen Ansichten der einzelnen Regierungen" als nicht zur Oeffent¬
lichkeit geeignete Epochen der Geschäftsverhandlungen; aber zugleich hob er
doch gewisse Gegenstände als solche hervor, bei denen dies vorzugsweise der
Fall sei, und gestattete damit wieder eine Einschränkung der allgemeinen Be¬
hauptung auf jene besonderen Fälle. Auch erklärte er nur die Mittheilung
der verschiedenen Ansichten der einzelnen Regierungen für unzulässig, er
erlaubte folglich die Bekanntmachung, wenn die Ansichten Aller übereinstimm¬
ten. Wir begegnen deshalb gleich im Protokoll einer der nächsten Sitzungen
der vollständigen Bekanntmachung einer Abstimmung nebst allen Motiven der
einzelnen Regierungen, nämlich der Abstimmung über „provisorische Maßregeln
zur nöthigen Aufrechthnltung der innern Sicherheit und öffentlichen Ordnung
im Bunde", wo sämmtliche Regierungen den Anträgen Oestreichs beitraten
Und das Gehässige der Maßregeln mit auf sich nahmen.
Der Mittheilungen an die Oeffentlichkeit wurden indessen immer weniger,
und seit 1828 hörten sie ganz aus. Im März 1847 beantragten Preußen
und Würtemberg, daß es mit der Veröffentlichtung der Protokolle wieder
wie vor dem 1. Juli 1824 gehalten werde. Der Ausschuß berichtete
erst im September, im Wesentlichen für den Antrag, Oestreich mit meh¬
reren anderen Stimmen war dagegen, indem es die Regel der Veröffent¬
lichung nickt wieder hergestellt sehen, sondern nur Auszüge publiciren lassen
wollte. Darüber kam das Jahr 1848 herein, am 29. März 1848 beschloß
die B.-V. aus einen neuen Antrag Badens, daß es mit der Veröffentlichung
der Verhandlungen wieder wie vor 1824 gehalten werden solle.
Der wieder auflebende Bundestag aber richtete sich nicht nach diesem
Beschlusse. Als wäre derselbe nicht vorhanden, warf der östreichische Pra-
t>dialgcsandte am 21. Juni 1851 die Frage auf, wie und in welchem Um¬
fange die Sitzungsprotokolle zu veröffentlichen wären. Ein Ausschuß wurde
niedergesetzt — er bestand aus Würtemberg (v. Reinhard), Baden (Frhr.
Marschall v. Biederstem) und der sechzehnten Stimme (v, Linde) — und be¬
richtete am 31. Oktober 1851 durch den Frhrn, v. Marschall. Er führte aus,
der Beschluß von 1848 sei zwar nicht wieder in Wirksamkeit gesetzt, es könne
aber der B.-V. wol nicht einfallen, den Grundsatz der Veröffentlichung der
Verhandlungen wieder in Frage zu stellen. Denn in einer Zeit, wo das Prin¬
cip der Oeffentlichkeit das gesammte Staats- und Volksleben durchdringen,
wo der Bundestag eine regere, auf das Gesammtwohl gerichtete Thätigkeit
als früher entfalten solle, würde es als eine Anomalie erscheinen,
wenn grade dessen Verhandlungen geheim gehalten werden sollten. Die Er¬
fahrung lehre auch, daß die Geheimhaltung nicht verhüten könne, dieselben
zum Gegenstand der Tagespolitik zu machen, nur die offizielle Kundgebung
vermöge irrthümlichen, entstellenden, oft gehässigen Mittheilungen vorzubeugen.
Dem Mißtrauen der Zeit gegen alle Autorität werde mit Erfolg nur durch
offene Darlegung dessen, was von oben geschehe, und der Gründe, die dazu
geführt, entgegengetreten, dadurch würde die Ueberzeugung von den guten
Bestrebungen der Regierungen wieder mehr Raum gewinnen, selbst die Ein¬
sicht von der Nothwendigkeit oder Zweckmäßigkeit mancher nicht genehmen Ma߬
regel hervorgerufen, und würden überhaupt richtigere Begriffe über öffentliche
Verhältnisse verbreitet werden. Nur die Art, wie die Veröffentlichung erfol¬
gen solle, meinte der Ausschuß, ins Auge fassen und nur darüber „praktische
Vorschläge" machen zu müssen, und hier kommt das höchst gewichtige Aber.
Der Grundsatz der Oeffentlichkeit dürfe nicht absolut festgehalten werden, „es
eignen sich manche Gegenstände überhaupt nicht oder doch nicht sofort zur
Publicität," z. B. gewisse Militärnngelegenhciten, Unterhandlungen mit dem
Auslande, Ergreifung von Maßregeln zur Wahrung des äußern oder
innern Friedens, deren Zweck durch ihre Bekanntmachung vereitelt würde;
ferner „könnten eine oder mehrere Regierungen besondere Gründe
haben, die sie betreffenden Angelegenheiten nicht alsbald vor
das Forum der Oeffentlichkeit gebracht zu sehen," endlich „könnte
durch voreilige Bekanntmachung einer bei der B.-V. vbschwebenden Verhand¬
lung unter Umständen Anlaß gegeben werden, daß von Außen auf ein¬
zelne Regierungen, oder sonst in einer den gemessenen Gang der
Berathungen störenden Weise eingewirkt werde." Es erscheine aber
gleichwol unthunlich, gewisse K.üegoricen von der Publication auszuschließen¬
der Verhandlungen aufzustellen, sondern es müsse der B.-V. selbst oder einem
von ihr dafür zu errichtenden Organe überlassen bleiben, in jedem einzelnen
Falle darüber zu bestimmen. Die Trennung der Protokolle in öffentliche und
separate führe ferner dahin, daß, wenn auch uur ein, vielleicht minder wesent¬
licher Theil der Verhandlung als nicht zur Oeffentlichkeit geeignet, oder wenn
auch nur die alsbaldige Veröffentlichung als bedenklich erschiene, die ganze
Verhandlung in ein Scparatprotokoll verwiesen würde, es müsse deshalb auch
eine auszugsweise Publication und eine Publication nach gewisser Frist er¬
möglicht werden. Die Bekanntmachung der Protokolle in einer Sammlung
erfülle überhaupt nicht den Zweck der Öffentlichkeit. Aufklärung und Berich¬
tigung der öffentlichen Meinung, es müsse vielmehr der wesentliche Inhalt
der Sitznngöprotokvlle durch die dazu ausersehenen Tageblätter in zweckmäßig
abgefaßten Resumvs, die ein treues Abbild des Verhandelten, der Beschlüsse,
wie der leitenden Motive zu geben hätten, publicirt werden; obschon nebenher
auch, unter Festsetzung gewisser Modalitäten, die Veröffentlichung der Proto¬
kolle selbst gehen könne, da die Nesum6s nur dem Bedürfnisse des größeren
Publicums genügen würden, der Publicistik hingegen die Protokolle selbst un¬
entbehrlich seien. Der Ausschuß beantragte deshalb folgenden Beschluß:
„Die B.-V., in der Absicht, die bundesgcsetzliche Bestimmung, wornach
die Bekanntmachung der Buudestagsverhandlungen die Regel bildet, in einer
dem Zwecke entsprechenden Weise zum Vollzug zu bringen, beschließt:
1, Die Verhandlungen einer jeden Sitzung der B.-V. werden, insoweit
deren alsbaldiger Bekanntmachung nichts entgegensteht, ihrem wesentlichen In¬
halte nach mit möglichster Beschleunigung durch die hierzu ausersehenen Tage¬
blätter veröffentlicht;
2, die Bekanntmachung der Sitzungsprotokollc ist. unter vorgängiger
Ausscheidung desjenigen, was schlechthin geheim zu halten ist, nach Ablauf
einer jeweils näher zu bestimmenden Periode und längstens nach Ablauf eines
Jahres, von dem Datum des betreffenden Protokolls an gerechnet, gestattet.
Hierbei behält sich die B.-V. diejenigen Maßnahmen vor, welche zur Sicherung
eines wortgetreuen Abdrucks der Protokolle als erforderlich erscheinen;
3, es wird ein aus fünf auf je ein Jahr gewählten Mitgliedern der B.-V.
bestehender Ausschuß niedergesetzt, welcher
a, den Vollzug des Beschlusses sub Nun. 1 unverzüglich einzuleiten und
der B.-V. Hierwegen, so weit nöthig, die geeigneten Vorschläge zu machen,
d, die treue, dem Zwecke entsprechende Abfassung der für die öffentlichen
Blätter bestimmten Nesum^s der Sitzungen, unter Ausscheidung des nicht zur
Kleichbaldigen Veröffentlichung Geeigneten, zu leiten und zu überwachen und
sur deren möglichst rasches Erscheinen Sorge zu tragen,
c, die successive Bekanntmachung der Sitznngsprotokolle durch Festsetzung
bes Termins, wenn solche gestattet und durch Ausscheidung desjenigen,, was
Unbedingt geheim zu halten ist, vorzubereiten hat.
Jedem Bundestagsgesandter steht frei, bezüglich ans die Veröffentlichung
^er seine Regierung speziell betreffenden Angelegenheiten, an den Ausschuß
Bemerkungen gelangen zu lassen oder desfalls Anträge an die B.-V. zu
stellen.
Bei vorkommenden Meinungsverschiedenheiten im Ausschüsse ist die strei¬
tige Frage auf verlangen des dissentirenden Theils der B.-V. zur Entschei¬
dung vorzulegen.
Endlich wird der Ausschuß beauftragt
et, zu geeigneter Zeit der B.-V. darüber Vortrag zu erstatten, wie sich
dieser Beschluß in der Erfahrung erprobt habe und welchen Modificationen
derselbe hiernach etwa zu unterwerfen sein dürfte."
In der Sitzung vom 7. November 1851 wurde darüber abgestimmt,
Preußen erklärte sich gegen regelmäßig fortlaufende Veröffentlichungen. Alle
übrigen Regierungen nahmen die Anträge des Ausschusses an. Oldenburg und
Schwarzburg, weil sie das Minimum seien, was wirksam den beabsichtigten
Zweck annähernd erreichen konnte, und, mit Hannover, eine Abkürzung der
Frist für die Publication der Protokolle wünschend, Dänemark und die Nieder¬
lande hingegen, ohne mit ihrer Zustimmung eine förmliche Verpflichtung zur
Veröffentlichung der Protokolle anzuerkennen. In den darnach zu bestellenden
Ausschuß wurden alsbald die Gesandten von Oestreich (Graf Thun-Hohenstein),
Sachsen spor Nostiz und Jänckendorf), Würtemberg (v. Reinhard), Baden
(Frhr. Marschall v. Viebcrstein) und den großhrzgl. und hrzgl. sächsischen Häu¬
sern (Frhr. v. Fritsch) gewählt.
Preußen hatte freilich damals volle Ursache, seinem eigenen früheren An¬
trage entgegen, die Bundcstagsverhandlungcn in Stillschweigen versenkt zu
wünschen. Die in der Union treu an Preußen gehalten hatten, waren im
Stich gelassen, beleidigt und ohne Vertrauen, Oestreich und die kleinen König¬
reiche hatten ihm die Union nicht vergessen und nutzten ihren Triumph aus;
es stand also vollkommen isolirt und mußte scheinbar freiwillig mit andern
gehen, »in nur unabhängig zu scheinen, und die Publication der Verhand¬
lungen konnte nur seine unselige und haltlose Stellung aller Welt offenbaren.
Die Art aber, wie sie jetzt publicirt wurden, war und wurde noch bedenklicher-
Um den schlimmeren Folgen der theilweisen Bekanntmachung zu entgehen,
sah Preußen sich genöthigt, schon am 21. Febr. 1852 zu beantragen, daß w
Gemäßheit des Bundesbeschlusses vom 14. Novbr. 181(! die Protokolle der
B.-V. künftig sofort nach dem Druck, und zwar durch eine besondere Samm¬
lung, veröffentlicht würden. Es hob zur Begründung hervor: das Princip
der Oeffentlichkeit sei auch in dem Beschlusse vom 7. Novbr. 1851 anerkannt;
durch die bisherigen Publicationen aber sei dem Zwecke der Aufklärung der
öffentlichen Meinung nicht vollständig entsprochen worden; jede Regierung hab°
den Anspruch, die Veröffentlichungen so eingerichtet zu sehen, daß die Art itM
Mitwirkung, besonders da, wo abweichende Auffassungen stattfinden, erkennbar
bleibe, und daß namentlich auch diejenigen Ansichten, welche bei den Absti"^
nungen in der Minderheit geblieben seien, in den Darstellungen berücksiclMt
winden. Die auszugsweisen Veröffentlichungen böten dafür nur dann eine
Garantie, wenn sie vorher den einzelnen Regierungen mitgetheilt würden, so
daß sie Zusätze beantragen könnten; so lange dies nicht geschehe, könne nur
die unverkürzte und sofortige Bekanntmachung der nicht geheim zu haltenden
Protokolle dem Zwecke entsprechen. Der Antrag Preußens wurde dem Aus-
Ichusse für die Veröffentlichung der Verhandlungen überwiesen und dieser Aus¬
schuß um die Gesandten von Preußen to. Bismark-Schönhausen) und Baiern
(Frhr. v. Schrenk) verstärkt, — und von da an — hörten die Veröffentlichungen
ganz auf.
Erst im Jahre 1854 kam die Sache bei der Revision der Geschäftsordnung
wieder zur Sprache, ohne daß aber eine Entscheidung darüber getroffen wurde.
Sachsen (Königreich) knüpfte an seine Abstimmung den Antrag, daß die Ver¬
öffentlichungen wieder nach Maßgabe des Beschlusses vom 7. Novbr. 1851
erfolgen möchten. Seitdem war es wieder still bis zum Januar 185V. Da¬
mals waren gewisse Verhandlungen ohne Genehmigung der B.-V. durch Un¬
bekannte publicirt worden. Dies veranlaßte auf den Vorschlag des Präsidiums
den Beschluß, daß ein Mitglied des Ausschusses kurze Nesümös fertigen soll¬
te, zu denen die anderen Bundestagsgesandter mittheilen könnten, was sie
Zur Veröffentlichung dienlich erachteten. Aber die Veröffentlichungen durch Dritte
dauerten fort, sodaß der Ausschuß in seiner Majorität beantragte, die Regie¬
rungen mochten sich dahin vereinigen, dergleichen Veröffentlichungen nicht zu
gestatten, sondern zu verhindern und als Verletzungen des Amtsgeheimnisses
Su verfolgen; ein Minoritätsvotum (Frhr. v. Fritsch) erachtete einen solchen
Beschluß für unnöthig, da die Preßgesetze genügen würden. In der Sitzung
vom 30. Oktober stimmten Oesterreich. Preußen. Sachsen, Hannover, Würtem-
berg, Baden, Kurhessen, Großherzogthum Hessen, Dänemark, die Niederlande
wegen Luxemburg, Sachsen-Altenburg, Nassau, Mecklenburg-Schwerin und
Strelitz, Lichtenstein, Reuß, Schaumburg-Lippe, Lippe. Waldeck und Hessen-
Hmnburg für den Majoritätsantrag, Preußen, Hannover, Großherzogthum
Hessen. Mecklenburg-Schwerin und Strelitz jedoch mit dem Zusatz, daß damit
den einzelnen Bundesregierungen das Recht zu Publicationen nicht geschmälert
werde, Sachsen mit dem Antrage, daß die Bundesprotocolle nach dem Be¬
schlusse von 1851 publicirt würden. Baden mit dem Antrage auf gleichzeitige
Veröffentlichungen in ausgedehnterem Maße als früher; Baiern stimmte für
den Majoritätsantrag in etwas geänderter Fassung; die Niederlande für Luxem¬
burg, Sachsen-Weimar, S. Coburg-Gotha, S. Meiningen, Braunschweig,
Oldenburg, Anhalt und Schwarzburg und die freien Städte traten 5em Mino-
^tätsvotum bei. Die Majorität spaltete sich also deshalb, weil einige Regie¬
rungen den Publicationen durch ein Ausschußmitglied nicht recht trauten und
deshalb selbst das Recht zu Publicationen wahren wollten, andere aber wol ve-
griffen, daß vollständigere Veröffentlichungen nothwendig seien, ohne jedoch
ganz vollständige Veröffentlichungen zu wünschen, und die Sache mußte wieder
an den Ausschuß verwiesen werden. Hier ruhte sie abermals. Im Jah«
1857 erinnerte Preußen und erneuerte den im Jahre 1852 gestellten Antrag-
Der Ausschuß soll hierauf 1858 dem Präsidium seinen Bericht übergeben urrd
dieser Bericht soll drei Meinungen entwickelt haben, ein Minoritätsvotum ge¬
gen alle Veröffentlichungen, ein Majoritätsvotum für Veröffentlichungen, aber
wieder in zwei Ansichten gespalten, von denen die eine dem Antrag Preußens
beitrat, die andere, hauptsächlich von den Mittelstaaten vertreten, sich den
halben Publicationen zuwandte, die im I. 1851 beschlossen worden waren.
Eine Verhandlung über diese Anträge hat aber in der B.-V. nicht stattgefun¬
den, und es scheint darnach, daß der damalige Präsidialgesandte, Freiherr von
Rechberg, den Gegenstand nicht auf die Tagesordnung gebracht hat.
So steht es um diese Frage, um eine überaus wichtige Frage! Wichtig
nicht blos für die Wissenschaft des deutschen Staats- und Bundesrechts, deren
Standpunkt Zachariä in der Vorrede zum zweiten Theile seines Handbuchs
mit unübertrefflichen Worten vertritt, sondern für alle höchsten Interessen der
Nation, die im Bundestag ihr gemeinsames Band und Organ besitzt. Wie
der Bundesausschuß selbst bemerkt, ist es die sonderbarste Anomalie, daß gerade
diese Behörde in einer Zeit, die überall aus Öffentlichkeit hinausdrängt, sich
in Heimlichkeit hüllt, als wäre die Nation für sie nicht vorhanden oder sie
uicht für die Nation! Und doch hat der Bundestag gerade nach seiner Neacti-
virung in die gewichtigsten Interessen der Nation hineingegriffen!
Aber freilich, der Bundestag, wie er bisher war und sich selbst auffaßte,
der Verein der Gesandten „souveräner Regierungen", d. h. von Regierungen,
die nur in gewissen Beziehungen, aber nicht in der Summe der Souveräne-
tät gebunden sein dürfen an Zustimmung der Völker, beschränkt durch
verfassungsmäßiges Recht, dieser Bundestag mußte ein heimlicher sein-
Dieser Bundestag kannte keine andere Abhängigkeit als die von den einzel¬
nen Kabinetten, keine andere Verantwortung als die gegenüber deren Befehlen,
vor ihm galt die Wissenschaft selbst so wenig, daß er (am 11. Decbr. 18231
erklären konnte, es sei bedenklich und unverantwortlich, den Lehren der Schrift¬
steller über Bundesrecht irgend eine auf die Bundesbeschlüsse einwirkende Au¬
torität zuzugestehen und dadurch in den Augen des Publikums das Spöte"'
jener Lehrbücher zu sanctioniren, er werde „in seiner Mitte den neuen Bundes¬
lehren und Theorien keine auf die Bundesbeschlüsse einwirkende Autorität ge¬
statten und keiner Berufung auf selbe Raum geben"; dieser Bundestag hatte
für die Rechte der Unterthanen keine Kompetenz, in seiner Mitte durfte es un-
gerügt ausgesprochen werden, daß zu Recht bestehende, beschworcne Verfassungen,
so lange er selbst sie nicht anerkennt, für ihn bloße Thatsachen seien; alles
öffentliche Leben der Nation, Vereine, Landtag und Presse, suchte er zu fesseln.
Hatte er nicht sogleich durch unverkürzte Veröffentlichung seiner Verhandlungen
dieses öffentliche Leben als ein berechtigtes anerkannt, erfrischt und hervor¬
gerufen? Er mußte, wiederholen wir, Heimlich sein, weil er sich von der
Nation losgerissen hatte, und wurde deshalb, wie eine bairische Note am
12. März 1348 ausgesprochen hat, „ein Gegenstand erst der Scheu, dann
kalter Anwiderung." Mit Anerkennung der Oeffentlichkeit bricht er mit seinem
ganzen bisherigen System, tritt er, sich verantwortend, nicht blos vor
seine „Souveräne", sondern vor die Nation; die Oeffentlichkeit ist, wie der
Bundestagsausschuß selbst gesagt hat, ein Forum, ein Gericht der Nation,
ein ernstes und strenges Gericht; es erfordert mehr als Muth, der Wahrheit
öffentlich ins Gesicht zu schlagen, mehr als Klugheit, offenbares Unrecht öffent¬
lich zu bemänteln, mehr als Kraft, den Widerstand des allgemeinen sittlichen
Bewußtseins zu ertragen; welche constitutionelle Regierung könnte dann die
Kühnheit haben, z. B. eine kurhessische Verfassung mit außer Wirksamkeit zu
sehen und vor ihrem Landtag zu bekennen, daß sie dabei mitgewirkt habe?
Mit der Oeffentlichkeit würde der Bundestag, möchte er sich sträuben, wie er
wollte, wenigstens zu einer Art von deutschem Parlament. Das sühlen
die Regierungen und ihre Gesandten sehr wohl. Sie bedürfen der Oeffentlich¬
keit, weil sie nicht im Stande sind, sie ganz zu unterdrücken, weil sie selbst
unter einander hadern; sie erkennen selbst, weil sie sich dem Leben der Zeit,
dem Drang der Nation, dein Gewicht der Oeffentlichkeit nicht entwinden kön¬
nen, jn dieser Oeffentlichkeit ihr Gericht und bringen ihren Streit vor die
Nation; sie begreifen, daß nur die Oeffentlichkeit ihr Beistand sein kann, nach¬
dem die Heimlichkeit ihre Macht verloren hat; sie rufen sie zu Hilfe, aber mit
dem System soll — sollte wenigstens bis vor Kurzem — noch nicht gebrochen
werden. Daher jene verzwickten Ausschußanträge und Bundcsbeschlüsse. jenes
Unsichere Zögern und Hinhalten, aus Furcht, die Maßregeln „des innern Frie¬
dens", jene kurhessischcn und Schleswig-holsteinischen und jene Preßgesetze wür¬
den sonst vereitelt werden, oder es könnte eine Regierung besondere, vielleicht
institutionelle, Gründe haben, ihre Angelegenheiten nicht alsbald vor die
Öffentlichkeit gebracht zu sehen, oder es könnte „von Außen", von der Nation,
durch Adressen, Petitionen, Landtagsbeschlnsse. auf die Berathungen eingewirkt
Werden. Daher jene halben Arten der Oeffentlichkeit. die statt Vertrauen zu
Zwecken, Mißtrauen säen und wie alle halben Maßregeln nur zum Nachtheil
"usschlagen. Einige Mittelstaaten sind so lüstern nach Reform des Bundes-
^gs. Gut! Geben sie diese eine, die Oeffentlichkeit, aber unbeschränkt, mit
^uziger Ausnahme der Kriegsmaßregeln, so weit sie den äußeren Feind be-
^sser, diese eine Reform wird mehr wiegen als alle andern, an denen
^ düfteln und drechseln. Wir fürchten, eben dieselben, die „Reformen" vcr-
langen, werden sich am eifrigsten gegen diese Oeffentlichkeit sträuben, es gefiele
ihnen wohl. Reformatoren zu scheinen, aber nicht, Reformatoren zu sein, es
waren ihnen nur Veröffentlichungen genehm, die das Jnteressanteste verschwei¬
gen und das Geheimniß unter dem Schein der Offenheit begraben und nicht
viel mehr bedeuten, als publicistische Bearbeitungen der Nation. Es ist gar
zu schon, durch den Schulz der Gemeinschaft und der Heimlichkeit zu erreichen,
was der Einzelne nicht offen verfolgen kann.
Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur, ent¬
worfen von August Koberstein. Vierte, durchgängig verbesserte und zum
größten Theil völlig umgearbeitete Ausgabe. Leipzig. Vogel. — Zweiter Ab¬
theilung andre Hälfte, Fortsetzung und Schluß- vorläufig ohne Tekel S-19«5
bis S. 2346. Die Seitenüberschrift dieser beiden Lieferungen ist gemein¬
schaftlich mit der des zweiten Bandes: Sechste Periode. Vom zweiten
Viertel des achtzehnten Jahrhunderts bis in das beginnende
vierte Zehnt des neunzehnten. Diese Ueberschrift geht von S. 839 bis
S. 1902 (enthält die Periode von 1740 bis 1794) und dann S. 1965 bis
S. 2340 (enthält die Periode von 1794 bis 1805, aber noch nicht vollstän¬
dig) unverändert fort; sie wird auch noch die folgenden Lieferungen (die Pe¬
riode von 1805 bis 1832) kenntlich machen. Diese Gleichförmigkeit derUebcr-
schriftcn ist einer von den zahlreichen Uebelständen des ausgezeichneten Werks,
auf die ich hier aufmerksam mache, um zugleich dem Besitzer des Grundrisses
die Möglichkeit der Abhülfe zu zeigen.
Alle jene Uebelstände gehn aus einem hervor: das Buch sollte ursprüng¬
lich ein gedrängter Grundriß sein und war nach diesem Zweck aus gründlichst"'
Einsicht in die Thatsachen heraus mit vollkommener historischer Logik geord¬
net. Als Koberstein bei der neuen Ausgabe die Erweiterung beschloß, hatte
er wohl den außerordentlichen Umfang, zu dem dieselbe anschwellen würde,
nicht im voraus berechnet. Er behielt also in der Hauptsache den ursprüng¬
lichen freilich sehr verbesserten Text bei und verlegte die Zusätze in die An¬
merkungen. Jedesmal, wenn im Text ein neuer Name auftrat, gab die An¬
merkung die vollständige Biographie bis zum Lebensende; da nun aber das
Buch sehr langsam vorschritt, so fand er im folgenden häusig Gelegenheit, auf
denselben Namen zurückzukommen und das biographische wie das biblio-
graphische Material zu erweitern. Es wurde ferner in den Anmerkungen die
Entstehung jedes einzelnen Buchs nach Anleitung der vorhandenen Korrespon¬
denzen, serner die Aufnahme desselben beim Publicum, nach Anleitung der ge¬
druckten Recensionen, näher ausgeführt; endlich kamen noch, namentlich wo es
sich um Kunstphilosophie handelte, zum Theil sehr ausführliche Excerpte aus
den Schriften selbst hinzu. Alle diese Zusätze sind um so dankenswerther, als
die Quellen zum Theil sehr wenig zugänglich sind; aber es war freilich der
Uebelstand damit verknüpft, daß die Anmerkungen den Text überwucherten,
daß zuweilen auf sechs Zeilen Text zwölf Zeilen Anmerkungen kamen und
daß man, trotz der sehr logischen Anordnung der Paragraphen, bei den An¬
merkungen nicht leicht errathen konnte, an welcher Stelle sie zu suchen seien.
Bei dem ersten und zweiten Bande jhat Koberstein diesem Mangel durch ein
ausführliches Register abzuhelfen gesucht; aber dieses, ohnehin nicht ganz aus¬
reichende Hilfsmittel, kommt den gegenwärtigen Heften nicht zu statten, und
die Zeit, wo das Register ergänzt wird, ist vielleicht noch ziemlich entfernt.
Der Leser muß sich daher selber zu helfen suchen.
Ueber jede Seite schreibe er Zahl und Inhalt des Paragraphen; an den
Rand, gleichfalls auf jeder Seite, den Inhalt der Anmerkung, und außerdem
unterstreiche er in den Anmerkungen die charakteristischen Punkte. Das Mittel
ist, wie man sieht, sehr einfach und es genügt, wenigstens in der Hauptsache,
eine leichte Uebersicht möglich zu machen; denn die scheinbare Verwirrung des
Materials liegt keineswegs in der Sache selbst, sondern nur in dem Ungeschick- ,
ten Druck. Vielleicht finden sich Verfasser und Verleger bewogen, bei den fol¬
genden Heften, oder jedenfalls bei der nächsten Auflage, dem Leser diese Mühe
zu ersparen.
Eine Mühe, die sich übrigens in hohem Grade belohnt. Daß Kober-
steins Werk nicht für eine leichte Unterhaltungslectüre bestimmt ist, lehrt der
Augenschein; desto erfreulicher ist es sür denjenigen, der aus der Literatur ein
ernstes Studium macht. Zunächst hat man das Gefühl, daß es aus einer
umfassenden Gelehrsamkeit heraufgeschrieben ist und daß jede einzelne Angabe
auf erschöpfenden Quellenstudium ruht. Durch genaues Citiren setzt Kober¬
stein den Leser in den Stand, ihn zu kontrolliren und sich über die weitern
Umstände zu belehren; wobei es freilich schlimm ist, daß die Herausgeber un¬
serer Klassiker durch fortwährenden Wechsel in der Anordnung das Citiren so
sehr erschweren, namentlich ist das bei Goethe der Fall. — Die Vollständig¬
keit der Forschungen wird noch durch die große Ordnung gefördert, in der die¬
selben angestellt sind. Seit dem Erscheinen der ersten Auflage sind zweiund¬
dreißig Jahre verflossen; während dieser Zeit hat Koberstein, auf rein wissen¬
schaftlicher Basis, in einem sehr geordneten, fertigen und doch elastischen Re¬
gister jeder neu erworbenen Kenntniß ihre Stelle gegeben; und das bezieht sich
nicht blos auf die einzelnen Notizen, sondern auch auf die allgemeinen Be¬
hauptungen, von denen jede einzelne eine Fülle von Studien in sich schließt.
Für ein wissenschaftliches Studium der Literatur ist das Werk unentbehrlich.
Die rein objektive Haltung des Buchs wird durch das milde und be¬
sonnene Urtheil des Verfassers möglich gemacht. Mit einer, man möchte
sagen, jugendlichen Wärme für die großen und schönen Leistungen unsrer klas¬
sischen Periode verbindet Koberstein eine streng rechtliche Gesinnung, die auch
bei den Gegnern seiner Helden die positiven Motive hervorsucht; er wägt sehr
genau nach allen Seiten ab, was ihn freilich mitunter zu weit führt, denn
bei dem unausgesetzten, fast ängstlichen Limitiren des Urtheils sieht zuweilen
das Facit geringer aus, als es ist. Aber eine Folge davon ist zugleich, daß
man jedes Urtheil von ihm, ja jede leise Andeutung desselben sehr wohl er¬
wägen muß, ehe man ihm widerspricht, da es nicht aus einer subjectiven
Grille, sondern durchweg aus umfassenden Wissen hervorgeht.
Es mag demnach gewagt erscheinen, wenn ich, in Bezug auf die vor¬
liegenden Hefte, einen prinzipiellen Widerspruch erheben muß; indeß das Ge¬
wagte mag sich selber rechtfertigen.
Der Widerspruch bezieht sich hauptsächlich auf die Leistungen und den
Einfluß der sogenannten romantischen Schule. Diese Schule, welche ein
Menschenalter hindurch die deutsche Literatur beherrscht hat, ist seitdem gleich¬
sam die bLW-noire unserer Kritik geworden; man hat ihr nicht blos die eig-
' neu Sünden vorgehalten, sondern ihr alle Sünden aufgebürdet, die in der
deutschen Literatur begangen sind. Daß dies eine Reaction hervorruft, nament¬
lich bei den ältern Pflegern und Freunden der Literatur, die in den roman¬
tischen Traditionen aufgewachsen sind, ist sehr begreiflich. Wer in den erste»
Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aufwuchs, und seine Ideale nach dieser
Seite hin suchte, wird schon durch die Pietät an eine Richtung gefesselt, deren
wohlthätige Wirkungen er, nach seinem Gefühl an sich selbst erprobt hat. Der
subjektiven Färbung des Urtheils (und auch das eifrigste Streben, objektiv zu
sein, wird diese Färbung nicht ganz beseitigen) gestehe ich eine sehr weite
Berechtigung zu; aber ich finde, daß auch objektiv betrachtet, Koberstein das,
was die Schule geleistet, zu hoch anschlägt, das, was sie geschadet, zu wenig
hervorhebt. Hie und da angedeutet ist freilich fast Alles, aber zur Wahrheit
des Urtheils gehört eine richtige Architektonik desselben.
Indem ich meine Abweichungen — in allem Uebrigen stimme ich urit
Koberstein überein — in die einzelnen Paragraphen vertheile, soll zugleich
durch die Inhaltsangabe derselben dem Leser ein Dienst geschehn.
§ J18. S. 1965: Goethe und Schiller 1 7 94. — Aus dem Brief
Schillers an Jakobi, worin er die Tendenz der Hören rechtfertigt, wird S-
1969 die Stelle: „Es sei das Vorrecht des Dichters, wie des Philosophen,
keinem Volk und zu keiner Zeit zu gehören," durch ein eingeklammertes Aus¬
rufungszeichen kritisirt. In der That drückt dieser Satz den Grundirrthum
des damaligen Klassicismus aus, in welchen die Romantik sich verstockte,
rien die Zeit lebendig zu bewegen, muß ma'n die Zeit und ihre Lebensmotwe
verstehen, d. h. man muß wirklich ein Bürger der Zeit sein. Die empirische
Probe dieser Wahrheit haben Goethe und Schiller an dem verschiedenen Er¬
folg ihrer Werke gemacht. Als die Romantiker die Dichter des siebzehnten
Jahrhunderts, die von ihrer Zeit mit Recht gefeiert waren, als Beispiel und
Muster der neuen Dichtung empfahlen, versündigten sie sich an dieser Wahr¬
heit; sie richteten ihr eignes und ihrer Schüler Talent zu Grunde und be¬
reiteten durch die Verwirrung des öffentlichen Gefühls die folgende Bar¬
barei vor. Indem ich also Kobersteins Ausrufungszeichen vollständig billige,
Mache ich ihn darauf aufmerksam, daß er es im weitern Verlauf öfters ver¬
gißt. — Die Entstehungsgeschichte des Wilhelm Meister gehörte eigentlich in
einen folgenden Paragraphen. Die spätere Auffassung Goethes über das
leitende Motiv dieses Buchs (S. 1WK) widerlegt sich durch die Thatsache.
Die Chronologie des Verhältnisses zwischen Goethe und Schiller ist S.
Ani- gegen Düntzer richtig festgestellt. ,
§ 319. S. 197». Die Hören. — Die Mißgriffe der Herausgeber siud
sehr richtig hervorgehoben; wenn aber, trotzdem, der geringe Erfolg dieser
Zeitschrift hauptsächlich der unvollkommnen Bildung des Publikums beigemessen
wird, so spricht sich darin ein zu großer Einfluß des Schillerschen Briefwech¬
sels aus. Schillers erste Beitrüge waren freilich sehr bedeutend, worin aber
ihre relative Unverständlichkeit lag. hat Fichte ganz richtig auseinander gesetzt,
der wahrhaftig kein Vertreter des Publikums war. Die' letzten Hefte dagegen
verdienten vollkommen die schlechte Aufnahme von Seiten des, Publikums,—
Ich hebe dies hier darum hervor, weil Koberstein. verleitet durch die Aus-
brüche des Unmuths bei Schiller, Fichte, Schlegel u. s. w.. das Publikum,
d- h. die allgemeine Bildung von 1794 u. s. w. zu hart anklagt. — Daß
Man (S. 1987) „das Reich der Schatten" nicht verstand, war sehr natürlich,
da der Dichter sich in seiner Mystik selber nicht verstanden hatte und da der
Grundgedanke, der ihm allenfalls vorschwebte, die Unabhängigkeit der Kunst
vom Leben, an das vorhin erwähnte Ausrufungszeichen erinnert. — Ueb-
rigens spricht es für den großen Gerechtigkeitssinn des Verfassers, daß er
iT. 1991) auch in Nicolais Entgegnungen manches Gute findet; ja er möchte
d"rin weiter gehen, als nöthig. — Von Fichte's Beiträgen zu den Hören
(S. 1983) hätte auch der von Schiller zurückgewiesene erwähnt werden kön¬
nen, als charakteristisch für beide Schriftsteller.
§ 320. S. 1993. Die Xenien. — Die üblen Wirkungen derselben
^ud richtig charakterisier; was trotzdem zu ihrer Rechtfertigung angeführt wird,
kann ich nicht haltbar finden. Dem Publikum konnten sie in seinem Urtheil
(s. 2013) nicht zu Hilfe kommen, da sie nicht sachliche Urtheile, sondern per¬
sönliche, freilich mitunter sehr gelungene Invektiven enthielten; sie gingen nicht
aus der Gerechtigkeit, sondern aus der Rache hervor, und einzelne, z. B. die
gegen Reichhardt. der unter Andern „ein giftiges Insekt" genannt wird, ma¬
chen die Amel-Xenien sehr begreiflich. Es wird immer wiederholt, daß sie.
wie ein Gewitter, den Dunstkreis aufgeklärt hätten, bis jetzt hat aber noch
Niemand gesagt, worin ihre gute Wirkung bestand. Daß Goethe und Schiller
selbst nach der Zeit ihre besten Werke schufen, war doch nicht etwa Folge
der Xenien. Und wen sie sonst gefördert oder belehrt haben sollen, wüßte
ich nicht zu sagen, während die üblen Wirkungen handgreiflich sind. Mit
Ausnahme der unmittelbarsten Anhänger Goethe's und Schiller's war damals
das verdammende Urtheil allgemein; Schiller selbst hat auch sehr viel Aerger
davon gehabt, und Goethe, der die Sache humoristischer auffaßte, faßte sie
eben humoristisch auf. Wir Neuern können uns an mancher gelungenen geist¬
reichen Wendung dieser Xenien freuen, ohne deshalb in dem Ausfluß einer
übermüthigen momentanen Laune eine neue Reformation zu sehen. Ich möchte
die Xenien von einer andern Seite betrachten: sie waren der letzte Ausfluß
jener alten klassischen Auflehnung gegen das Zeitalter bei Goethe und Schiller,
auf welchen nun die wahrhaft nationalen Dichtungen folgten, die den erwar¬
teten Erfolg hatten und deshalb auch den beiden Dichtern, namentlich Schiller,
eine bessere Meinung vom Publikum beibrachten. — Mit Recht bemerkt Ko¬
berstein (S. 2007), daß Schiller keine Veranlassung hatte, Fr. Schlegel wegen
seines unrichtigen Verständnisses des Griechischen zu selkiren; wenn er diese
Jahre aber Schlegels beste Zeit nennt, so kann sich das nicht auf die philo¬
logische Kenntniß desselben beziehen, da Fr. Schlegel wirklich erst bei Herr¬
mann Stunden im Griechischen nahm, nachdem er seine ersten Versuche über
die Griechen veröffentlicht. — S. 2004 wird von Stollberg in seiner Ent¬
gegnung auf die Götter Griechenlands bemerkt: „Er sprach es unumwunden
aus, der Poesie letzter Zweck sei nicht sie selbst." Dazu macht Koberstein ein
Ausrufungszeichen; aber ich dächte, die Sache wäre richtig und Koberstein
müßte es nach seinem ersten Ausrufungszeichen selber so finden. Die Poesie
ist für diejenigen, die sie genießen, und diese werden nur dann wahrhaft be¬
wegt werden, wenn sie menschliche Wahrheit hören, und dadurch werden sie
zugleich geläutert, oder wenn man den trivialen Ausdruck gebrauchen will,
gebessert; freilich nicht in der Weise gebessert, wie man in der Predigt oder
etwa im Arbeitshause gebessert wird. In diesem speciellen Fall war der rich-
tige Grundsatz allerdings sehr falsch angewandt, denn in Schillers angeblichen
Heidenthum lag viel mehr menschliche Wahrheit als in Stollbergs angeblichen
Christenthum. — Daß der Zauberlehrling auf die Amel-Xenien Bezug haben
soll (S. 2013), scheint mir auf einem Mißverständniß zu beruhen.
§ 321. S. 2014. Wilhelm Meister. Hermann und Dorothea. —
Wenn Koberstein S. 2016 Schillers Briefe über den Wilhelm Meister mit
das Ausgezeichnetste nennt, was unsre Literatur im Fach der kritischen Literatur
aufweist, so kann ich dieser Meinung nicht beipflichten. subjectiv sind sie
freilich vom höchsten Intresse, denn sie zeigen Schillers Charakter im schönsten
Licht; diese neidlose, seelenvolle, überquellende Hingebung an ein fremdes
Kunstwerk wird sich schwerlich bei einem andern Dichter finden. Aber die
Begeisterung ist doch zum Theil daraus zu erklären, daß Schillers angeborne
poetische Natur, die schon lange im Stillen gegen seine philosophischen Be¬
schäftigungen reagirt hatte, durch die Anschauung dieses schönen Werks zu
freudigem Leben erweckt wurde. Eine Kritik ist es ebenso wenig, als die Re¬
cension über Matthisson, und konnte es auch nicht sein, da Schiller immer nur
das Einzelne auf sich wirken lassen mußte. Jede Kritik ist ihrem Wesen nach
analytisch, und von Analyse ist in diesen Briefen keine Spur. Schiller hat
doch die ursprünglich ganz individuelle Anlage des Romans in einer Weise
idealisirt, die mir Riemers sonderbare Aeußerung. S. 2019, begreiflich macht.
Goethe fühlte sich natürlich durch die Begeisterung seines Freundes sehr ge¬
hoben, und die Anforderungen desselben blieben nicht ohne Einfluß auf sein
Schaffen; ob dieser Einfluß in den letzten Theilen des Romans durchweg ein
guter war, möchte ich bezweifeln; in Goethes letzten Briefen finde ich wirklich
eine gelinde Spur von Ungeduld, jener Ungeduld, die aus dem Widerspruch
der innersten Natur mit dem neu erworbenen Ideal hervorgeht. Herders Ur¬
theil ist wenigstens insofern von Interesse, als es zeigt, daß bei ihm.^wie
bei Goethe, zwischen dem Beginn und dem Schluß des Romans eine tiefe
Kluft lag. Bei beiden war die Bildungsatmosphäre eine andre geworden,
und wäre Meister im ersten Wurf vollendet, so wäre die künstlerische Einheit
eine größere geworden, so wie der erste Eindruck auf Herder ein günstigerer
K>ar. — Uebrigens hat Schiller, als er den Hermann gelesen, seine Ansicht
über den Meister wesentlich modificirt, wenn er sich auch seine Gründe nicht
sanz klar machte. Er fand den Hermann poetischer wegen des Metrums,
Elches doch im Meister keine Anwendung finden konnte; der eigentliche Grund
^>ar wol die einheitliche Haltung des Epos. — Ueber Hermann und Doro¬
thea ist unendlich viel geschrieben, aber die Beziehungen auf Luise, auf
^circle, Alexis und Dora sind noch zu erörtern; es würde sich dadurch auch
^ne gerechtere Würdigung der Voßischen Idyllen herausstellen, die man jetzt
^ber Gebühr hinteren setzt. — Humboldts Kritik hat wol nicht wenig dazu
^'getragen, Schiller, der in seinem Briefwechsel mit Goethe viel mehr gelernt
hatte, woraus es ankam, ganz der philosophischen Kritik zu entfremden, weil sie
ihn offenbar äußerst langweilte. — Wenn Schiller (S. 2042) von dem schlech¬
ten Absatz der Propyläen sagte: es habe ihm noch nichts einen so niederträch¬
tigen Begriff vom deutschen Publikum gegeben, so werden wir heute wol an¬
ders darüber urtheilen. — In demselben Paragraph sind Goethes lyrische Ge¬
dichte aus dieser Periode besprochen; über eins derselben, den deutschen Par¬
naß, hätte ich noch eine Auskunft gewünscht. Die ironische Beziehung des¬
selben ist urkundlich beglaubigt und auch nothwendig, wenn man Goethes
Stimmung von 1798 in Anschlag bringt;- dabei ist aber die Behandlung so
ausführlich und treuherzig, daß man irre wird. Entweder hat Goethe ein
früheres Gedicht, welches einer andern Stimmung angehörte, der neuen an¬
bequemt, oder es ist ihm gegangen wie öfters, daß seine epische, realistische,
positive Natur das ursprünglich ironisch Gemeinte ernsthaft ausführte.
§. 322—3. S. 2046. Wallenstein. — Der Briefwechsel jener Periode
wird sehr vollständig excerpirt: es ist merkwürdig, wie wenig uns das
über den innern Gang von Schillers poetischen Ueberzeugungen aufklärt. So
ausführlich wir die Geschichte des Stücks erfahren, so würden wir doch viel
mehr daraus lernen, wenn uns der Entwurf des Stücks, bevor Schiller an
die Ausführung der Liebesepisode ging, vorläge. Koberstein findet an einer
Stelle in Schillers dramatischer Entwickelung vom Wallenstein ein stetiges
Fortschreiten vom Idealismus zum Realismus; in gewissem Sinne könnte man
auch das Gegentheil behaupten; das Nichtige aber ist, daß er in einem beständi¬
gen Schwanken blieb.^ Jene Episode ist an sich so schön, daß man sie schwer¬
lich wegwünschen möchte, und doch ist sie mit allen ihren Verzweigungen dem
eigentlichen Inhalt des Stückes eben so fremd, als die ideale Auffassung
des Wilhelm Meister dem ursprünglich realistischen Plan. Die Heftigkeit,
mit "welcher der Dichter Körners letztes Urtheil aufnahm, verräth eine gewisse
Unsicherheit, und in der That kann man im Wallenstein drei verschiedene Mo¬
tive unterscheiden: erstens das eingeborne und jetzt durch künstlerische Ueber¬
zeugung befestigte Talent, sachgemäß, objectiv, realistisch zu schildern. Zwei¬
tens die angeborne Neigung seinen eignen Gefühlen einen lyrischen Aus¬
druck zu geben. Drittens die hauptsächlich aus dem Studium der Griechen
erworbene Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, den Stoff in eine höhere
Sphäre des Gedankens zu idealisiren. Diese drei Motive kreuzten sich häufig'
seine Ungeduld, als Körner eins derselben ausschließlich hervorhob, ist zu be¬
greifen; aber wenn er ihm eine vermeintliche geschlossene Ueberzeugung ent¬
gegensetzt, so ist das ein Irrthum. — Die Vorliebe Schillers für die Oper'
und seine Ansicht, daß der Liebesepisode die Herrschaft im Stück gebühre, be¬
zeichnet Koberstein S. 20V2 und S 2071 ganz richtig als etwas Verkehrtes,
aber jene Aeußerungen sind wichtig, auch für Schillers späteres Schaffen. So
schlecht die damalige und heutige Beschaffenheit der Oper ist, so bringt sie
doch die Idee einer Kunstform hervor, die an die Griechen erinnert und die
den Entwurf der Braut von Messina erklärt. Hätte nicht Schiller das unver¬
gleichliche Talent besessen, jeden Stoff zu vergegenständlichen, so würde die
Art und Weise seiner Production, die von außen nach innen ging, d, h. die
aus einem allgemeinen, unbestimmten, gleichsam musikalischen Eindruck der ge¬
wallten Kunstform den Stoff suchte (man vergleiche seine eigene sehr interes¬
sante Erklärung über sein Schaffen, bei Gelegenheit „der Künstler"), vielleicht zu
eben solchen Verirrungen geführt haben, als es bei der romantischen Schule
geschah. — Die Aeußerungen Goethes über die ausschließliche Berechtigung
der antiken Kunstform (S. 2077) sind nicht buchstäblich zu nehmen; so be-
sonnen Goethe in der Regel urtheilt, so hat er doch mitunter die Neigung zu
Superlativen; daß seine frühern antiken Werke, namentlich die Iphigenie,
eigentlich deutsch gedacht sind, hat Koberstein selbst vortrefflich erwiesen. Im
Grunde gilt dasselbe von den herrlichen großen Elegien, und namentlich Euphro-
syne würde keineswegs verlieren, wenn man das antike Kostüm etwas mäßi¬
gen wollte. Daß übrigens diese Richtung auss Antike ihn, wie auch Schiller,
mehrfach irre geführt hat, ist nicht zu leugnen.
§. 324. S. 2083. Schillers Dramen seit dem Wallenstein. —
Ueber Schillers Jdealisirung der historischen Stoffe urtheilt Koberstein S. 2087
und 2089 entschieden mißbilligend. Wenn er ihn aber auf das Beispiel
Shakespeares hinweist, der den historischen Stoff treu behandelt habe, so ist
damit für unsre Zeit nicht viel gethan. Die Shakespearesche Form des histo¬
rischen Schauspiels — die ich, beiläufig, im Verhältniß zu seinen übrigen
Werken nicht so hoch stellen möchte als Tieck — wird durch unsere Form des
Theaters, gradezu ausgeschlossen, und daß der echte Dramatiker für die Bühne
Ichreiben muß, bedarf doch in unsrer Zeit keines Beweises mehr. So treu
wan sich auch dein Stoffe anschließen mag, so wird doch die Nothwendigkeit
der freien Erfindung dadurch nicht ausgeschlossen; und da der Stoff, nament¬
lich bei der Gelehrsamkeit unseres heutigen Publikums, gegen die Kunstform
sehr spröde ist, so hat das historische Drama sehr erhebliche Uebelstände, und
derjenige Stoff wird der günstigste sein, der dem Dichter die größte Freiheit
laßt. Daß Schiller, als er an den Maltesern arbeitete, erklärte, bei seiner jetzi¬
gen Klarheit würde er den Wallenstein nicht gewählt haben, durfte Koberstein
nicht befremden (S. 2092), da dieser Stoff in der That die beabsichtigte Kunst¬
form nicht ertrug. — Ueber die Fehler der Braut von Messina stimme ich mit
Koberstein ganz überein, und möchte sogar den von Jakobi angestellten Ver¬
öleich mit dem Alarkos (S. 2100), wie auch die Bemerkungen der allgemeinen
Zutschen Bibliothek über die Tiraden der „Braut" in'Schutz nehmen, insofern
^e geistvollen Bemerkungen und die Gefühlsausbrüche des Chors nicht aus
dem Stoff hervorgehen, sondern ihn gewissermaßen hervorgebracht haben. Da-
gegen verdient die Kunstform, die Schiller bei der Braut von Messina vor¬
schwebte, eine eingehende Betrachtung. Es handelt sich darum, die Masse, die
doch auch Shakespeare vielfach benutzt, auf eine kunstgemäße Weise in Bewegung
und Handlung zu bringen, d. h. einen Chor aus ästhetisch gruppirten Jndivi'
dum zusammenzusetzen, die in Bewegung und Rhythmus.ein Ganzes darstellen.
Freilich wird diese Individualisirung des Chors nicht dadurch hervorgebracht,
daß man über lyrische Stellen Eigennamen setzt. Man möge mir hier ^
ausnahmsweise — erlauben, auf den Versuch der Fabler hinzuweisen.
Demnach möchte ich nicht mit Koberstein S. 2106 in der Braut ein bloßes
Herabsinken, im Tell wieder einen zweiten Gipfelpunkt finden: Wallenstein
und Tell werden freilich, wegen der tiefen Durchdringung des Stoffs, für die
Nation Schillers theuerstes Andenken bleiben; was aber die Kunstform be¬
trifft, so ist Tell gegen die drei frühern Stücke kein Fortschritt, wie das schon
Tieck ganz richtig ausgeführt hat.
§ 325. S. 2108. Goethes Arbeiten bis 1 80 5. — Wenn Goethe
bei der Bearbeitung der Helena an Schiller schreibt: „Das Schöne in der
Lage meiner Heldin zieht mich so an, daß es mich betrübt, wenn ich es zu¬
nächst in eine Fratze verwandeln soll," so protestirt Koberstein S. 2116-1?
gegen dies, wie gegen Schillers Antwort durch Ausrufungszeichen. Und doch
ist der Sinn vollkommen klar. Nach der Faustsage ist Helena ein Teufels-
spuk, eine Fratze, und so trat sie auch wohl in Goethes erster Behandlung
aus; nun aber hat er bei seiner griechischen Bildung diese Episode so poetisch
ausgeführt, daß sie nach seiner Ansicht ein Drama für sich bildet und daß es
ihm leid thut, sie zum Schluß, wie es doch die Sage verlangt, wieder in
einen Teufelsspuck, in eine Fratze aufzulösen, freventlich gewissermaßen, wie
er früher die Proserpina in die geflickte Braut eingeschoben. Diejenigen,
welche in der Helena ein bedeutendes Kunstwerk finden, werden dies Bedauern
theilen; ich muß gestehen, daß ich dramatische Poesie nur da finde, wo wirk¬
liche Gestaltung ist, und daß alles poetische Kostüm mich kalt läßt, wenn ick
weder weiß, wer auf der Bühne steht, noch was auf der Bühne vorgeht-
Wer das bei der Helene weiß, dem ist nur Glück zu wünschen. - Was
die Eugenie betrifft, so hat Goethe selbst den Grund, warum sie auf der
Bühne kein Glück machte, richtig angegeben (S. 2119): „Sie ist eine Kette
von lauter Motiven," das heißt sie hat keinen idealen Inhalt, sie erregt nicht
das Gefühl der Nothwendigkeit.
§ 326. S. 2124. — Fichte und die Berliner Romantiker.
Mit Recht leitet Koberstein die ersten Lebensäußerungen der neuen Schule
aus Berlin her aus der Reaction gegen den Geist der dortigen Zeitschriften'
die sich in den Kreisen der Rahel u. s. w. sammelte. Wie früh der Cultus
Goethes in diesen Kreisen ausgebildet war, zeigen Veith Briefe an Rahel 1793
und 1794. Dieser Cultus war das verbindende Glied zwischen Tieck und den
andern Berlinern einerseits, Schlegel und den andern Jenensern andererseits.
Den positiven Inhalt aber gaben die erstem, während die letztern noch im
Dienst der Hören nach einem unterscheidenden Standpunkt suchten. Was
hätte geschehen können, wenn Schiller 1797 nicht mit den Schlegeln gebrochen
und sie dadurch nicht zum Anschluß an eine ihnen bis dahin fremde Richtung
gleichsam genöthigt hätte, ist freilich eine müßige Frage. — S. 2138. Markus
Herz war der bevorzugte Freund, Schüler und Correspondent Kants.
§ 327. S. 2133, — Tieck, — Für die Lebensbeschreibung Tiecks hatKober-
stein natürlich das Buch von Köpke zu Grunde gelegt. Dieses Buch verdient
das ihm ertheilte Lob in hohem Grade, doch sind über den literarhistorischen Ge¬
brauch desselben noch einige Bemerkungen zu machen. Die im Nachtrag hinzuge¬
fügten Unterhaltungen mit Tieck sind im Ganzen werthlos; es kommt in denselben
fast kein einziger Gedanke vor, der nicht von Tieck in seinen Schriften bereits irgend¬
wo besser und ausführlicher ausgesprochen wäre. Wo es irgend ging, hat Köpke
die biographischen Notizen Tiecks aus den Vorreden seiner gesammelten Werke
benutzt, auch verschiedene Aeußerungen aus den spätern Novellen; was
ganz in der Ordnung war, nur hätte er jedesmal die Stelle citiren sollen, da
das Maß von Glaubwürdigkeit, welches diesen Berichten zukommt, zum Theil
von der Periode abhängt, in welcher diese Erinnerungen bei Tieck auftauchten.
Weit mehr als auf Goethes Memoiren kann man auf diese Erinnerungen Tiecks
die Bezeichnung Dichtung und Wahrheit anwenden. Der geistvolle und
hochbegabte Mann führte zu allen Zeiten ein sehr energisches Phantasieleben,
Und die Virtuosität, mit welcher in seinen Novellen Paul Pommer und ähnliche
Figuren chnrakterisirt werden, spricht doch für eine verwandte Richtung in seinem
Innern. Die psychologische Erklärung, die er für die seltsamen Jrrgänge
feiner dichterischen Laufbahn findet, klingt sehr zusammenhängend, aber sie ist
doch mit großer Vorsicht aufzunehmen; und da es leider aus seiner Sturm-
Und Drangperiode an unmittelbaren Lebensäußerungen fast gänzlich fehlt, so
ist es sicherer, seine zahlreichen Werke, die für sich selbst sprechen, zu Grunde
^ legen, als seine nachträglichen Reminiscenzen. Die Bemühung, in seinem
Bildungsgang eine regelmäßige Entwickelung zu .verfolgen, wird noch dadurch
erschwert, daß bei ihm die grellsten Contraste hart an einander stoßen. Ich
^c>che z.B. auf den poetischen Dialog „der Autor" aufmerksam, eine von sei-
nen zahlreichen vcrsisicirten Recensionen. Während in der Polemik gegen Nicolai
Und die übrigen Aufklärer ganz die Weise Fr. Schlegels, fast bis auf die ein¬
zelnen Worte, festgehalten wird, verspottet Tieck zugleich seine eignen Nach¬
folger und zwar mit glänzendem Witz; man kann seine eigene Lyrik nicht besser
travestiren, als er es hier selber gethan. Diesen Scherz paraphrasirr er in sei¬
nen spätern Erinnerungen als eine veränderte Stimmung gegen die Romantik,
und Köpke folgt ihm dann, indem er vergißt, daß grade in den nächst folgen¬
den Jahren Tiecks lyrische Ueberschwenglichkeit den Gipfel erreichte, daß er die
Sünden, die er hier verspottete in doppeltem Maß begeht. Wenn es augen¬
scheinlich ist, daß Tiecks poetische Richtung aus einer Auflehnung gegen das
Bcrlincrthum hervorging, so darf man nicht vergessen, daß er selbst ein echtes
Berliner Kind war. Was man, und zwar mit Recht, als die charakteristische
Eigenschaft der Romantik darstellt, die Fähigkeit, für die unbegreiflichsten Dinge
lichterloh zu entbrennen und in demselben Augenblick auf diesen Brand den
Sprühregen der Ironie fallen zu lassen, ist eine charakteristische Eigenschaft
des Berlinerthums. Noch ein anderer Punkt, der von großer Wichtigkeit ist,
wenn man sich von Tiecks Deklamationen über die Prosa des Zeitalters gar
zu sehr aufregen läßt. In einer- seiner kritischen Schriften aus dem Jahre
1828 charakterisirt er den Einfluß Schillers als einen dem deutschen Wesen
entgegengesetzten und schädlichen; Schiller habe eine nicht durchweg beifalls¬
würdige, aber doch naturwüchsige, realistische, deutsche Dichtung vorgefunden
und dieser eine ausländische. spanische, romantische entgegengesetzt. Wenn
Tieck bei dieser Gelegenheit seine eigenen und seiner Freunde Sünden dem Dichter
aufbürdet, den er wohl mit dem Verstände, aber nicht mit dem Herzen ehrte,
so ist bei diesem Bekenntniß noch ein zweiter Umstand zu merken: es enthält
Tiecks eigentliche innerste Meinung. Zu der naturwüchsigen deutschen Dichtung
wird in gewissem Sinn selbst — Kotzebue gerechnet. Tieck war seinem Talent
und seiner ganzen Natur nach Realist, ja Naturalist. Die Principien, die
Romantik, der Katholicismus, der Bund der Kirche mit den Künsten u. s. w-,
das alles war bei ihm ein fremdes Element, dessen Entstehung und Ausbil¬
dung sich trotz des beständigen Wechsels aus der Reihenfolge seiner Schriften
noch ziemlich genau verfolgen läßt. — S. 2142 erwähnt Koberstein, ohne
später darauf zurückzukommen, ein kleines Trauerspiel: Der Abschied. Auch
Tieck selbst spricht sich ziemlich geringschätzig darüber an5 und offenbar ist es
eine ganz leicht hingeworfene Arbeit. Aber grade darum finde ich in diesen'
kleinen Stück mehr von Tiecks angeborenem realistischen Talent als in den
langen und langweiligen Romanen jener Periode, die angeblich eine höhere
Tendenz verfolgen und doch ganz tief in dem morastigen Boden der damaligen
Romanliteratur wurzeln. Die finstere Stimmung dieses kleinen Nachtstücks ist
brillant ausgemalt, und außer den spätern Märchen, z. B. dem Runenberg,
ist etwa nur die Schlußscene im Abdallah und die große Scene im Blaubart
damit zu vergleichen. — S. 2143, Man hat später die Art und Weise, wie Wie-
land und Musäus die Volksmärchen behandelten, sehr scharf kritisirt, während man
die Bearbeitungen Tiecks zu rühmen pflegt. Es wäre wichtig, den Unterschied ein¬
mal genauer festzustellen. Ungläubig und reflektirt waren alle drei; ja viel¬
leicht, so seltsam es klingt, war Wieland von ihnen der naivste (man vn-
Weiche'seinen Brief an Merck, 16. April 1777); in ihrer Form war im Anfang
große Verwandtschaft: man muß nur bei Tieck nicht blos an den Eckardt, son¬
dern an Abraham Tonelli, die Weiber Blaubarts und ähnliches denken. Der
eigentliche Respect vor den Volksmärchen gehört einer spätern Schule an. —
Ein durch Köpke veranlaßter Irrthum über die erste Bekanntschaft Tiecks mit
Friedrich Schlegel S. 2143 ist später von Koberstein selbst berichtigt. — Daß
in den Schildbürgern (S. 2160) sich ein größerer Respect vor dem Volts-
uwßjgen zeigen soll als in den Abderiten, kann ich nicht finden, nur muß man
uicht die Theorie der Excurse, sondern die Praxis des Textes zu Rathe ziehen.
^' S. 2161 läßt sich Koberstein durch den gestiefelten Kater zu einer Decka-
"union gegen die Literatur der achtziger und neunziger Jahre verleiten, bei
welcher er den vergleichenden Maßstab verliert. Gewiß wurden in jeuer Zeit
diele schlechte Bücher geschrieben; aber wann war es denn in Deutschland ta-
on besser? Ist etwa Tobias Kraut, Sophiens Reise, Thümmel, Hippel u. s. w.
schlechter als so mancher berühmte und unberühmte Roman unserer Tage?
steht Iffland etwa unserer Birchpfcisser nach? oder ist es zu irgend einer Periode
Unserer Literatur mit den Leihbibliotheken besser gewesen? Und dann darf
Koberstein auch nicht vergessen, daß zu den schlechtesten Büchern jener Tage Ab-
dallah und Lovell gehörten, die er gegen die böswilligen Recensenten
Schutz zu nehmen sucht, blos weil der Stil etwas besser war als
bei Lafontaine u. s. w. — Wenn er auf der folgenden Seite hinzusetzt,
Tiecks Parodien hätten dem Uebelstand abgeholfen, so möchte ich ihn
doch fragen, in wie fern? Welche gute Richtung ist durch jene Parodien
befördert, welche schlechte unterdrückt worden? Das Beste von dem Mittelgut
teuer Tage waren immer noch Jean Pauls Romane, und diese sind durch die
Schnlkritik nicht begünstigt worden. — Ein komisches Werk bedarf allerdings
iU seiner Rechtfertigung einer solchen Wirkung nicht; aber—diese von Kober¬
stein gerühmte Wirkung hat nicht stattgefunden. — Die positive Wirkung be¬
gann erst mit Hoffmann; ob es eine Verbesserung war, ob eine gesündere Kost
"is Lafontaine und Jean Paul, mag dahin gestellt bleiben. — Oder war
etwa Z. Werner der gesuchte Fortschritt? — Wenn man von Schiller absieht,
der doch Tieck nicht viel zu verdanken hat. ist die Literatur von 1800 ein
^utschiedner Rückschritt gegen die vorige Periode, was die Leistungen ersten,
leiten und dritten Ranges betrifft. —S. 2166. Die „alten Klagen" über die
Moralität der Stell« (erste Ausgabe!) waren doch wohl nicht unbegründet? —
^> 2169 ff. Die günstige Einwirkung der 'Romantiker auf die germanistischen
Indien ist augenscheinlich; die auf die bildende Kunst kann ich, wenigstens
'U dem von Koberstein behaupteten Umfang, nicht zugeben. Daß damals das
^Unsträsonnement meist flach war, ist auch zuviel gesagt; Koberstein citirt den
'^lich schlechten Ramdohr; aber erinnert er sich nicht an Heinse, Merck, For-
ster? Die Berichte der erstem über die Düsseldorfer Gallerte sind zum Theil
brillant, auch im Ardinghetto steht viel Geistvolleres und Haltbareres, als im
Sternbald. den Herzensergießungen n. s. w. Man ist gewohnt, nach dem-
Borbild der W, K. F., die auch eine höchst einseitige Richtung verfolgten
fUebertrcigung der Gesetze der Bildhauerei auf die Malerei), nur die nazare-
nische Richtung jener Bücher ins Auge zu fassen, die allerdings einen höchst
schädlichen Einfluß geübt hat: die Hauptsache aber ist ihre unglaubliche
Leerheit und Schalden. Das wenige, was in ihnen brauchbar erscheint, war
von Heinse schon viel besser gesagt. — Die „allgemein gültige Ansicht von
der Barbarei des Mittelalters" ist auch nicht so streng zu nehmen; schon hatte
Joh. Müller glänzende Bilder vom M.-A. gegeben, die Kirche desselben (1782)
mit großer Veredtsamkeit vertheidigt; durch Schliessen waren die Nibelungen
herausgegeben; selbst Schiller sing in seiner Borrede zu Vertot — lange vor Tieck!
— für das M.-A. zu schwärmen an — Aber Tieck. Schlegel. Fichte u. f. w. hatten
von ihren Zeitgenossen nur Nicolai im Auge, für sie war alles Nicolai; darum muß
die Literaturgeschichte ihre Rhetorik mit großer Vorsicht brauchen. — Zudem ging
ihre erste Richtung gar nicht aufs Mittelalter, von dem sie (Dante ausgenom¬
men) herzlich wenig wußten, sondern auf die Renaissance und das 17. I.. auf
Cervantes, Shakespeare, Ariost, Tasso, Calderon u. s. w. - S. 2175 werden
die Recensenten des Abdallah und Lovell getadelt, obgleich ihnen Koberstein
im Grunde Recht gibt. Was war denn in jenen beiden Romanen Gutes?^
Ein Recensent nennt den Lovell den verächtlichsten ekelhaftesten Menschen, und
Koberstein bemerkt in einer Parenthese dazu: „etwa der Absicht des Dichters
zuwider?" Dieser Einwurf ist nicht stichhaltig. Das Thema jener beiden Ro¬
mane, welches im erstem freilich noch viel abstracter hervortritt, ist die Ver¬
führung guter oder wenigstens gut angelegter Naturen durch satanische List
zum Bösen. Ein solches Thema ist bei der psychologischen Neugierde und
Kleinkrümerei jener Tage ganz begreiflich, und es ist- auch gleichviel, ob man
die Berechtigung desselben im allgemeinen zugibt oder nicht, da in diesem
Fall die Ausführung in einer Weise verfehlt ist, daß sie jedes menschliche Ge¬
fühl empören muß. Um so verworfene Schurken zu werden, wie Abdallah
und Lovell zum Schlüsse sind; um es durch eine so armselige Verführung zu
werden, wie Tieck sie schildert, mußten sie schon von vornherein elende sieche
Geschöpfe sein. Und der ästhetische Fehler greift hier tiefer: denn um seine»
Plan durchzuführen, schildert Tieck den Menschen als eine Molluske ohne sit^
liebes Knochengerüst. Diese Art von Schöpfung verdiente damals schon har-'
den Tadel, und muß uns heute um so widerlicher sein, da jene Mollusken
eine unzählige Nachkommenschaft hinterlassen haben. Dieser Umstand verstimmt
uns auch gegen Tiecks bessere Dichtungen: Knochen d. h. eine feste Gestalt,
hat bei ihm keine einzige Figur, sie haben alle das Wesen des Traumes, daß
ein Bild, eine Empfindung in die andere übergeht. Es soll damit gar nicht
geleugnet werden, daß es solche Menschen giebt, noch viel weniger soll behaup¬
tet werden, daß Tieck in moralisch schlechter Absicht solche Bilder entworfen
habe; seine Unfähigkeit, wirkliche Gestalten zu schaffen, verbunden mit seinem
großen Talent, Stimmungen auszumalen, hat jene Bilder hervorgebracht, die
auf ihre Freunde und Verehrer eine sittlich entnervende Wirkung haben mu߬
ten. Wenn man gegen die Moralisten des vorigen Jahrhunderts declamirt,
so vergißt man dabei, daß das Gewissen, auch künstlerisch betrachtet, ein integ-
rirender Theil der Person ist, und daß man durch die Ausscheidung desselben
die Person in einen Schemen verwandelt. Mit Recht verachtet man Eulalia
Meinau, aber was ist denn Lovell anders? Der große Unterschied der Bil¬
dung und des Geschmacks ändert an der Hauptsache nichts. — Darum muß
ich auch, so gern ich den wunderbar berauschenden Duft in dem Märchen:
der blonde Eckbert anerkenne, der Ansicht des S. 2177 angeführten Recen¬
senten beipflichten: „es mangle ihm an der hinlänglichen Motivirung der Hand-
lungen und über dem Ganzen schwebe ein widriges Dunkel; selbst ein Macht¬
spruch aus dem Geisterreiche wäre erträglicher gewesen als dieser gänzliche
Mangel einer befriedigenden Aufklärung." Dieses Traumwesen liegt auch nicht
etwa im Charakter! des echten Märchens, welches vielmehr durchweg von sehr
erkennbaren handgreiflichen Motiven ausgeht.
§. 328. S. 2179. — Die beiden Schlegel. — Was bei sämmtlichen
Paragraphen anzuführen wäre, die gründliche Aufsuchung des Materials, ist
an diesem doppelt zu rühmen, weil namentlich Friedrich Schlegel seine Arbeiten
an alle möglichen Journale verzettelte, die heute kaum mehr auszutreiben sind, und
Keil es für die Einsicht in seinen Bildungsgang von der größten Wichtigkeit ist,
auch die erste Fassung seiner Ansicht kennen zu lernen. Daß Koberstein auch A. W.
Schlegels Kritiken ausführlich ^xcerpirt, würde manchem überflüssig erscheinen,
^ sie in der Böckingschen Ausgabe vorliegen; aber die gediegene Form der¬
selben ist ein heilsames Gegengewicht gegen die Paradoxien des jüngern Bru¬
ders. — Die Kritik Goethes von 1789 und 1790 gehört zum Besten, was
die deutsche Kritik überhaupt geleistet hat; freilich ist sie auch, wenn man
die durch den Einfluß der Schule hervorgerufenen Vorlesungen von 1802 und
1803 damit vergleicht, ein Beweis, daß für den wahren Kritiker noch etwas
anderes nöthig ist, als gründliche Einsicht. — Bei der vortrefflichen Recension
„Künstler" (S. 2182) Ware zu erwähnen gewesen, daß Schlegel sie später
^ehe in seine Kritiken aufnahm. — Die Recension der Hören ist nicht mehr
6anz unbefangen (S. 2186); was Schlegel von den „Episteln" und ramene-
^ den „Märchen" sagt, würde Schlegel als unabhängiger Kritiker kaum ge-
^ge haben. — Was die Kritik des Voßischen Homer betrifft (S. 2189), so
stimme ich Koberstein vollständig bei, sie ist mustergültig: aber er hätte hinzu-
setzen sollen, daß Schlegel sie später zurücknahm. — Wenn Schlegel S. 2182
„ein Meister im Technischen der Poesie" genannt wird, so gebe ich das für die
Uebersetzungen zu. nicht aber für seine eigne Lyrik, die fast durchweg auch in der
For-in verfehlt, mitunter gradezu barbarisch ist.—S. 2195. Die historische Recht¬
fertigung der Verbindung der Kirche mit den Künsten, sowie die transscendentale
Auslegung des Wortes Glaube ist geistreich; sie ist aber zweideutig: theils
weil sie Wackenrode nicht richtig auslegt, theils weil Schlegel selbst in seinen Ge¬
dichten lz, B. Bund der Kirche mit den Künsten; Widmung an die südliche"
Dichter) jenen Bund nicht etwa blos historisch schildert, sondern ihn als etwas,
was auch jetzt sein sollte, in heftiger Deklamation feststellt. — Hier mochte
doch Stollberg den Dichter der „Götter Griechenlands" „am Ohr zupfen." ^
Die Angaben der einzelnen „Freunde" über die Zeit ihrer Bekanntschaft sind
ungenau und widersprechend; mit Recht hat Koberstein das Tagebuch von Gries
zu Grunde gelegt. — S. 220K. daß Schleiermachers (gedruckte) Briefe das
beste Bild von Fr. Schlegels Persönlichkeit geben, glaube ich nicht; Schleier¬
macher war damals geneigt, sich jeder einigermaßen imponirenden Erscheinung
unterzuordnen; die ungedruckten Briefe (im Nachlaß des Predigers Jonas) sollen
das Verhältniß viel bedeutender darstellen. Vorläufig geben die Briefe an
Earoline Paulus und an Nahe! (auch von Dorothea, bei Dorow) Anhalts¬
punkte genug. — Auf Fichtes Aeußerung über Schlegels Erschlaffung 1?^
(S. 2208) möchte ich kein großes Gewicht legen Fichte wurde in seinem Ur¬
theil sehr durch die Persönlichkeit bestimmt, und das beständige Zusammenleben
mit einem geistreichen Manne, bei dem man aber nie wußte, was Ernst und
was Scherz war, mochte ihm auf die Länge sehr lästig werden. — S. 2209-
In einer Seite der Technik verdient Fr. Schlegeln Lyrik entschieden den Vor¬
zug vor der seines' Bruders, in der musikalische Klangfarbe. — S. 2214 ff-
Fr. Schlegels. Urtheil über Lessing. Kobersteii» verwahrt sich auf diesen Sei¬
ten durch Ausrufungszeichen gegen einige gar zu tolle Einfälle Schlegels; da¬
gegen sagt, er S. 2332, das Urtheil erhalte viel Tiefgcdachtes und Wahres-
— Der unbefangene Leser wird in diesen Excerpten vergebens nach dem Tief-
gedachten und Wahren suchen, und selbst wenn einige Sätze von Bedeutung
sein sollen, so muß das Ganze, namentlich der Ton, einen skandalösen Ein¬
druck machen. Auch daß Schlegel später das Aergste zurückgenommen habe,
ist nicht genau: die tollste Aeußerung, „daß dem Ganzen (der Emilie Galott')
aller Werth abgesprochen werden muß," gehört sogar (S. 2217) der spätern
Version an. Und hier fand Koberstein kein Ausrufungszeichen nöthig? ^
Die geistreichen Faseleien dieses Aussatzes (Faselei ist der gelindeste Nanu')
haben unendlichen Schaden angerichtet. Für mich ist er psychologisch "'"'k'
würdig. Die Begeisterung für Lessing scheint aufrichtig; dagegen findet Schlei
bei ihm fast Alles zu verwerfen. Aehnlich schrieb er die erste grobe Recension über
Schiller, als er ihn nach Körners Versicherung sehr verehrte; über Jean Paul
und Jakobi (nach dem Zeugniß des erstem), als er für beide schwärmte. Bei
einer so durch und durch unwahren Natur wie Fr. Schlegel (man lese das
vernichtende Zeugniß seines Bruders, Werke Bd. 8) ist es freilich mißlich, zu
untersuchen, was gemacht ist; aber eine solche Natur war am wenigsten
geeignet, einen Lessing zu würdigen, dessen innerster Kern ein leidenschaftlicher
Durst nach Wahrheit (bis zum krankhaften) war. — Auch hätte bei den Di¬
thyramben über Goethe S. 2221 angemerkt werden können, daß diese Art
starkriechenden Weihrauchs ebenso geeignet war, dem großen Dichter Feinde
als Verehrer zu schaffen. Man erinnere sich an Schillers Brief an die Gräfin
Schimmelmann und an Hubers Recensionen im Freimüthigen. Es herrscht
noch dazu in diesen Urtheilen eine grenzenlose Unsicherheit. Schlegel charak-
terisirt (S. 2225) Goethe im Gegensatz von Schiller: „er könne fast nicht um¬
hin, auch das Geringste in seiner Art rein zu vollenden, er bleibe mit be¬
wundernswürdiger Selbstbeherrschung, selbst auf die Gefahr hin uninteressant
und trivial zu sein, seinem einmal bestimmten Zwecke treu." Wie paßt das
auf Goethe? der fast überall die Neigung hatte, im Fragment stecken zu blei¬
ben. Ungefähr dasselbe sagt Novalis in seinen Paradoxien über W. Meister,
wo dem Dichter des Faust das Prädicat „reinlich, nett und praktisch" bei¬
gelegt wird. Wer von den beiden Freunden den andern angesteckt habe, ist
schwer zu untersuchen. — S. 2228.' Daß Fr. Schlegels Bekanntschaft mit dem
transscendentalen Idealismus sehr oberflächlich war, bezeugt Jean Paul in den
Briefen an Hacobi. Seine wahre Meinung über Fichte,— freilich in den
milden, zarten Formen der Periode von 1807—12 — hat Fr. Schlegel in
den Heidelberger Jahrbüchern ausgesprochen. — S. 2229. Die Auseinander¬
setzung des Fichteschen Systems und seines Verhältnisses zum Kantischen ist
Zwar nur als ein Parergon gegeben; aber gerade weil die von dem Begriff
eines stetigen Fortschritts in der deutschen Speculation seit Kant ausgehenden
Lehrbücher der Geschichte der Philosophie das Verhältniß auf dieselbe Weise
darstellen, mag hier eine Bemerkung am Ort sein. — Fichte handelte aller¬
dings in gutem Glauben, wenn er sein System imxlieite im Kantischen schon
vorzufinden glaubte; Kant hat (nicht blos in der öffentlichen Erklärung von
1799. sondern schon einige Jahre früher in den Briefen an seine Schüler) die
entgegengesetzte Ansicht so schneidend als möglich ausgesprochen. Und Kant
hatte Recht. Die Beziehung Fichtes auf Kant ist nur eine scholastische; die
Tendenz ist eine entgegengesetzte. Kant suchte die Grenzen des ap rior isti¬
schen Denkens festzustellen und engte dieselben aus das Aeußerste ein, um
exacten Wissenschaft Raum zu schaffen; Fichte wollte die ganze Wissen¬
schaft aphoristisch machen. — In der Metaphysik mochte das gehen; aber eine
Philosophie erkennt man an den Früchten. „Der geschlossene Handelsstaat"
ist die Probe, die sein System in der Sphäre bestand, die er hauptsächlich im
Auge hatte, der praktischen; damit möge man dann die positiven Vorschläge
in den „Reden an die deutsche Nation" (die Abschüttelung des französischen
Jochs durch Pestalozzi) vergleichen. In seinen Schilderungen des Zeitalters
ist er mitunter sehr geistvoll; aber er hatte den Fehler, im Zeitalter nur das
zu sehen, was sich auf sein System bezog, d. h. seine Recensenten. Nicolai
war ihm sein Nicht-Ich. das Bild des gottverlassenen Zeitalters; die Schil¬
derung desselben in den „Grundzügen" ist nur eine weitere Ausführung des
Themas im Pamphlet gegen Nicolai. — Und das war das Hauptmotiv seiner
Verbindung mit den Romantikern; daher die fast gleichlautenden Anklagen in
A. W. Schlegels Berliner Vorlesungen. — Merkwürdigerweise ging er im
Jnstinct ganz mit Nicolai und den andern Aufklärern, die er als aprioristi-
scher Philosoph ihrer Bornirtheit wegen so verachtete: Zweck der Menschheit
Ausrottung der Sümpfe, Anbau alles Landes, Wachsthum der Menschenzahl,
Freiheit u. s. w. Fr. Schlegel hat das in dem genannten Aufsatz in den
Heid. Jahrb. schlagend nachgewiesen. Daher der spätere Bruch zwischen den
alten Freunden.
§. 329. S. 2234. Athenäum und Europa. — S. 2234. Wenn
die Romantiker gegen die Bezeichnung „Schule" protestirten. so wollten sie
damit die gleiche Richtung und das gemeinsame Wirken nicht in Abrede stellen;
sie wußten recht gut, was man mit jenem Ausdruck meinte: Camaradcrie. Aber
auch gegen den Vorwurf der Camaradcrie konnten sie sich nicht vertheidigen.
Die gegenseitigen Lobhudeleien in Versen und Prosa waren nur dann zu ver¬
theidigen, wenn sie aus voller Ueberzeugung quollen. Wie es damit — we¬
nigstens zuweilen — beschaffen war, lehrt A. W. Schlegels Brief an Fouqu«
(Werke. Bd. 8). wo er ausdrücklich gesteht, er habe den Lacrimas gegen bessere
Einsicht gelobt, weil er für die Werke seiner Freunde parteiisch sei. Daß aber
der Lacrimas. abgesehen von der wunderlichen Sprache, an poetischem Wers
noch unter Kotzebue stand, konnte A. W. Schlegel nicht entgehen. Gegen die
Lucinde haben nachträglich fast alle protestirt, und nun lese man die feu¬
rigen Sonette über die Lucinde! Ich will das nicht gerade Unehrlichkeit nen¬
nen, aber es war ein Cliquenwesen in so ausgedehntem Sinn, daß selbst das
Urtheil getrübt wurde. — Uebrigens war das Athenäum, trotz seiner einseiti¬
gen Richtung, besser redigirt als die Hören, die es ablöste. — S. 2233. —
Da einmal so viel gedruckt ist. könnte man auch die Briefe von Caroline
Schlegel veröffentlichen, die ein ganz neues Licht auf diese Periode werfen
sollen. — S. 2241. Mit den großen Absichten des „poetischen Journals"
war es wol Tieck niemals rechter Ernst; viele von diesen Unternehmungen
waren reine Vuchhändlerspcculationen. — S. 2243. Der Plan zu einer ge¬
meinsamen Literaturzeitung wurde ganz ernsthaft betrieben; der Entwurf ist
in A. W. Schlegels Werken Bd. 8 abgedruckt. — S. 2256. Es wäre im
höchsten Grade wünschenswert!), daß Böcking seine Ausgabe A. W.Schlegels
vervollständigte; die bisherigen Bände geben von dem Mann kein ganz rich¬
tiges Bild. Wenn er in der Einleitung zu seinen kritischen Schriften sagt,
man werde sich über ihre geringe Paradoxie wundern, so scheint das nach dem
bisher Gedruckten richtig; aber der Abdruck der berliner Vorlesungen aus der
Europa würde eine andere Art von Verwunderung erregen. Diese Periode
seiner Entwickelung zeigt, wie nachtheilig auch auf den hellsten Kopf die Gewohn¬
heit einer Coteriesprache wirken muß. — S. 2260. Von Helminens „Ge¬
sprächen" hätte Koberstein einige Proben abdrucken können, um zu zeigen, was
für Dinge Fr. Schlegel damals zu vertreten sich getraute! In ihren neuerdings
herausgegebenen Memoiren sind einige Notizen über den pariser Aufenthalt.—
S. 2262. Die Notiz von Steffens über das Zerwürfniß zwischen Fr. Schlegel
ist, wie das ganze Buch, in chronologischer Beziehung unsicher; unwahr ist
das Verhältniß stets gewesen: man lese nur, wie sich Fr. Schlegel gegen Rabe!
über Bernhardi und über seinen eignen Bruder ausspricht. Die Spottreden
A. W. Schlegels über Schleiermacher („das Reden über die Religion) sind
bekannt; seine Geringschätzung gegen das speculative Wesen der Periode trat
später deutlich genug zur Schau. — S. 2279. Die Recension des Musen¬
almanachs von 1804 in der Jen. L.-Z. mit dem Schlußsonett (das Kreuz
wird aller Welt zum Kreuz aufgerichtet), welche damals Goethe zugeschrie¬
ben wurde, war von Jeiteles. — S. 2280. Fouqu6 vermählte sich, wie
ich aus einem Sonett A. W. Schlegels sehe, am 9. Jan. 1803. — S. 2282.
Viel charakteristischer für Z. Werner als der doch immer idealisirende Lebens¬
abriß von Hitzig sind die Tagebuchblätter in der Biographie von Schütz
(Grimmaische Ausgabe), womit noch einige Notizen von Varnhagen zu ver¬
gleichen sind. In welchem schmutzigen Morast man jenes Kreuz „aller Welt
Mu Kreuz" aufrichtete, lernt man nirgends besser würdigen, als aus jenen
Blättern, denen, was die Verbindung von Cynismus und süßlicher Mystik be¬
trifft, nichts an die Seite gesetzt werden kann. Und daß eine solche Richtung
auskommen konnte, hatte doch die romantische Schule vorbereitet. — S. 2284.
Das biographische Material für Heinrich von Kleist wird in diesen Tagen durch
62 Briefe des Dichters ergänzt werden, die Koberstein herausgibt.
§ 330—331. S. 2239.— Die ästhetische Kritik der neuen Schule.
^ S. 2290. Bei der Schilderung der damaligen Kritik folgt Koberstein zu
sehr den Aussagen der Romantiker, die Masse der Recensenten ist in der Re¬
gel nicht weit her. und sehr erhebliche Ausnahmen (z. B. Huber) hat Kober¬
stein selbst in dem frühern Bande charakterisirt. — Wie dem auch sei. A. W.
Schlegel ist jedenfalls der bedeutendste der damaligen Kritiker; er würde noch
bedeutender sein, wenn er nicht zuweilen seine Recensionen in Verse gebracht
und den Inhalt derselben nach der Nothwendigkeit des Reims bestimmt hätte,
(Beiläufig, von einer Seite ist A. W. Schlegel noch zu wenig charakterisut-
als Gelehrter; keiner könnte das besser als Böcking nach den noch in seinem
Besitz vorhandenen Vorstudien z. B. zur Ausgabe der Nibelungen.) In sei¬
nen Anforderungen an die Kritik war er schwankend; wenn er,(S. 2295)
eine aufrichtig subjective Form der Kritik verlangte, die nur den Eindruck
formuliren, nicht sich zur Anmaßung eines wirklichen Urtheils versteigen sollte;
wenn er ein Kunstwerk nur durch ein Kunstwerk kritisiren wollte, so sind das
theils Behauptungen, deren UnHaltbarkeit seine eignen Kritiken (z. B. die
über Bürger, die doch wol einen sehr positiven Richterspruch enthält) erweisen,
theils beziehen sie sich blos auf das Aeußere. Seine Behauptung (S. 2326),
man müsse in der Kunst, wie unbedingt verwerfen, so unbedingt anerkennen,
ist kaum ernst gemeint. Aber auf das Entschiedenste muß ich dagegen Protestiren,
wenn Koberstein S. 2329 den Ausspruch Fr. Schlegels, Poesie könne nur
durch Poesie kritisirt werden, mit der Bemerkung Schillers, daß es kein Gesäß
gebe, die Werke der Einbildungskrast zu fassen, als die Einbildungskraft selbst,
zusammenstellt, als ob beides ziemlich dasselbe sagte. Schillers Satz ist —
in dem Zusammenhang, in dem er steht — vollkommen richtig; Schlegels
Satz ist nicht blos falsch, sondern er hat auch sehr viel Schaden angerichtet.
Schiller sagt: die Metaphysik der Kunst ist zum ästhetischen Urtheil im bestimm¬
ten Fall ungenügend: erst muß eine gebildete receptive Einbildungskraft
vorhanden sein, die den Eindruck des Kunstwerks vollständig in sich aufnimmt,
und dann erst kommt der Verstand hinzu, und spricht, indem er diesen indi¬
viduellen Eindruck analysirt. von den zufälligen Momenten sondert und auf
allgemeine Gesetze zurückführt, das Urtheil; wobei freilich zu deu Bildungs¬
momenten der receptiven Einbildungskraft auch das theoretische Studium ge'
hört. Das ist vollkommen richtig und eine Kritik seiner eignen mißlungenen
Versuche über Bürger und Matthisson. Schlegels Ausspruch dagegen ist falsch-
die Poesie, die etwas ganz anderes ist als receptive Einbildungskraft, kann
nicht kritisiren, denn Kritik ist Analyse, Poesie ist Synthese. Die Romantiker
haben fortwährend poetisch kritisirt, d. h. sie haben in poetisirender Prosa
die Kunstwerke paraphrasirt, und daraus ist etwas hervorgegangen, was
weder Poesie noch Kritik, sondern ein bloßes Nadotiren ist. Wenn der Me-
taphysiker ein Kunstwerk metaphysisch paraphrasirt (wie die Hegelianer). ^
verfällt er in eine ganz ähnliche Verkehrtheit. Aber der Irrthum liegt noch
tiefer. Es war der Grundfehler der Romantiker, receptive Einbildungskraft,
d. h. poetische Empfänglichkeit mit Poesie zu verwechseln, und dadurch ist jener
Dilettantismus in seinem Treiben bestärkt worden, der alle echte Kunst unter¬
gräbt. — Ueber das Schwanken im Urtheil der Schule gibt Koberstein selbst S-
2302 ff. hinreichendes Material; nur hätte er noch mehr hervorheben können,
wie sehr die persönlichen Beziehungen darauf influirten. — Bei Fr. Schlegel
und namentlich bei Bernhardt war das freilich noch viel schlimmer als bei
A. W. Schlegel und Tieck. — Bernhardts Behauptung S, 23,0. daß Schau¬
spielkunst und dramatische Dichtkunst (1802!) im tiefsten Verfall lägen, hätte
allenfalls auch ein Ausrufungszeichen verdient. — S. 2313. Tiecks Abneigung
gegen Wtcland war wol zum Theil Reaction gegen seine eigne eben überwun¬
dene Richtung. — S. 2319. A. W. Schlegels Declamatwnen über den Ber¬
yll der schönen Künste. 1802 erscheinen in ihrer Naivetät, wenn man daran
denkt, was grade damals in der Musik geleistet wurde. Das „allgemeine Ver¬
kennen der Ideen, wo nicht gar Verschwinden derselben von der Erde" ist eine
Fichtesche Reminiscenz. Fichte hat den Gedanken freilich erst in den „Grund-
Zügen" weiter ausgeführt, aber er klingt durch alle seine frühern Schriften durch.
Die Anklagen gegen Newton und die Buchdruckerkunst S. 2320 ff., die
Vertheidigung der Astrologie, Magie, des Ultramontanismus u. s. w. hätten
wie gesperrter Schrift gedruckt werden sollen: man steht doch, daß die so hart
angefochtenen Gegner der Romantik allen Grund hatten, gegen ein System
anzukämpfen, das, wenn es nicht zugleich lächerlich gewesen wäre, der Cultur
dulde den größten Schaden thun müssen, was auch zum Theil geschehen ist.
Das ist die Folge, wenn die „Poesie" urtheilen will.
§ 332. S. 2334. — Literaturhistorische Bestrebungen der Schule
(ist noch nicht vollendet). — Die Verdienste der Romantiker um Shakespeare.
Namentlich durch die Übersetzung, sind augenscheinlich; ob unsere Dichtung
(Wohl zu unterscheiden vom urtheilenden Publicum) dadurch in unmittelbarere
und lebendigere Berührung mit Shakespeare gekommen sei, ist mir zweifelhaft.
^- Einiges war für die Spanier schon früher geschehn; so hatte Gcrstenberg
in dem Aufsatz über Shakespeare (1766) Calderon gar nicht uneben gelobt. Die
"poetische" Kritik der Romantiker über Calderon hat das Urtheil nicht aufgeklärt,
sondern verwirrt; Bouterweck urtheilte viel unbefangener. — Daß es mit un¬
srer Poesie weit besser stände, wenn Calderon niemals übersehe wäre, spreche
ich als bescheidene Privatmeinung aus; was übrigens kein Tadel gegen die
Übersetzer sein soll.---
Zwar habe ich von vornherein bemerkt, daß ich Kobersteins Arbeit im
allgemeinen bewundere und ihm durchweg beipflichte, wo ich nicht die Ab¬
weichung ausdrücklich anmerke; aber man könnte doch fragen, warum ich grade
das letztere Hervorteten lasse, statt mich ausführlich über die Vorzüge des Buches
ZU verbreiten. Aber diese Vorzüge sind dem wissenschaftlichen Publikum —
Und dieses allein hat das Werk im Auge — hinreichend bekannt, und der
süchtige Blick aus jede beliebige Seite gibt einen hinreichenden Beleg dafür,
dagegen scheint es mir von der größten Wichtigkeit, daß in der Literaturge-
schichte, für die jetzt sehr viel geschieht, in der aber die Ansichten noch so sehr
divergiren. sich endlich eine feste öffentliche Meinung bilde. Von den Unberufnen
ist es freilich sehr gleichgiltig. was sie für „Ansichten und Meinungen" zu
Markte bringen; hier aber ist ein in erster Reihe Berufener, dem alles M«-
ecriai zu Gebote steht, der in seinem Denken ebenso vielseitig als unbefangen,
in seinem Gefühl ebenso warm als gerecht ist, und doch läßt sich gegen einige
Resultate soviel einwenden. Eine gewisse Solidarität des Urtheils ist es,
was uns — nicht blos in ästhetischer Beziehung — zunächst noth thut. Den
verehrten Verfasser zu überzeugen, wäre mein liebster Zweck; wo nicht, zu con-
statiren, daß dieser Theil seiner Arbeit nicht gleich den übrigen Theilen als
Die große Familie der Narren ist so alt als das Menschengeschlecht und
gedeiht unter jedem Himmelsstriche. Es muß jedoch als Zeichen der Zeit,
als kulturhistorisches Merkmal gelten, wenn in irgend einer Periode die Narr-
heit zunftmäßig auftritt, wenn Possenreißer und Lustigmacher an den Tafeln
der Reichen, in der Umgebung der Fürsten nicht fehlen dürfen, um theils passiv
in wirklichem oder erheuchelten Blödsinn als Zielscheiben übermüthigen Spottes
zu dienen, theils aktiv vermöge angeborenen Witzes und Talents von dem
Privilegium der Straflosigkeit auf Kosten ihrer Herren und Gönner Gebrauch
zu machen. Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Erscheinung größtentheils
entweder von einer noch rohen, unentwickelten Kulturstufe oder von einer in
Folge von Ueberfeinerung. Blasirtheit und Entsittlichung einreißenden Barbarei
Zeugniß gibt, wenn auch zuweilen, wie z. B. bei den Römern, ein allge¬
meiner Hang zur Bouffonnerie der Sache Vorschub leistet. Bei den Griechen
soll der Lustspieldichter Alexis in der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr-
zuerst den Parasiten als Charakterfigur auf die Bühne gebracht haben, und
es beweist dies hinlänglich, daß Leute dieses Schlages damals im gewöhn¬
lichen Leben längst sich eingebürgert hatten. Auch entsprach sicherlich ihr Auf'
treten in der Wirklichkeit so ziemlich dem ihrer karrikirten Spiegelbilder in
der Komödie. In früherer Zeit hatte der Name „Parasit" keineswegs eine ehren¬
rührige Bedeutung. Man nannte so theils eine Priesterklasse, welche gemein-
schaftliche Mahlzeiten zu Ehren eines Gottes feierte, theils überhaupt Leute,
welche auf öffentliche Kosten gespeist wurden. Freilich lag es nun nahe, die¬
sen Namen dem ganzen Gewerbe der ungebetenen und doch überall sich ein¬
drängenden Tischgenossen zu ertheilen, die später handwerksmäßig für Befrie¬
digung ihrer Hungerleiderei und Lüsternheit die Lachnerven der reichen Leute
kitzelten. Xenophon hat in seinem „Gastmahle" das Gebühren eines solchen
Lustigmachers in folgenden Zügen geschildert. Als die Gäste im Hause des
wichen Kallias schon beim Mahle saßen, hörte man stark an die Hausthüre
klopfen, und bald meldete der Thürhüter, Philippus der Lustigmacher sei
draußen und sage, er komme ausgestattet mit Allem, was dazu gehöre, um
an einem fremden Mahle theilnehmen zu können, und sein Diener sei ganz
müde, weil er nichts zu tragen habe und noch ohne Frühstück sei. Kaum
hatte nun der Hausherr die Erlaubniß gegeben, so stand der Angemeldete
auch bereits an,f der Schwelle und führte sich mit den Worten ein: „Ich bin,
wie ihr wißt, der Spaßmacher Philippus und erscheine gerne, weil ich glaube,
daß es lustiger ist, uneingeladen zu Tische zu kommen, als eingeladen."
Nachdem er nun den ihm zukommenden untersten Platz eingenommen hatte,
versuchte er es, wiewol vergeblich, durch seine Witze die Gesellschaft zum Lachen
ZU bringen, hörte endlich auf zu essen und verhüllte sich seufzend und stöhnend
das Haupt. Ueber den Grund seiner Verzweiflung befragt, sagte er mit wei¬
nerlicher Stimme: durch das Schwinden des Gelächters aus dem Leben sei
seine Existenz im höchsten Grade gefährdet; denn Niemand werde ihn nun
Mehr zu sich einladen. Lachend trösteten ihn hierauf die Anwesenden und
schließlich ließ er sich bereden, seinem Appetit weiter Genüge zu leisten.' Hier
^'scheint also der Parasit in der Gesellschaft eines Sokrates und Antisthenes
wehr als geduldete, denn als nothwendige Beigabe des Mahles, und man
sieht es ihm an, daß ihm nicht recht behaglich zu Muthe ist. An andern
Orten fand er.freilich einen besseren Spielraum. In den „Gefangenen" des
Plautus sagt der Schmarotzer Ergasilus: „Wir ernähren uns beständig,
wie die. Mäuse, von fremder Kost. Wenn sich freilich die Leute Feiertage
Wachen und aufs Land begeben, so haben auch unsere Zähne Feiertage.
Alsdann gleichen wir den Windspielen; nach und nach aber, wenn die Leute
w die Stadt zurückkommen, werden wir wieder zu dicken und verdrießlichen
Bullenbeißern. Es wird auch hier allmälig ganz aus mit uns; wer nicht
Ohrfeigen leiden und sich Schüsseln auf dem Kopfe zerschlagen lassen kann,
der mag nur den Sack nehmen und vor's Thor betteln gehen!" Und der be¬
rühmte griechische Komiker Antiphanes läßt Einen dieses Schlages von
s^es rühmen: „Meinen Charakter kennst du; Stolz wohnt nicht in mir, son¬
dern ich bin sür meine Freunde ein Klotz beim Schlägebekommen, ein Donner¬
keil beim Zuschlagen, ein Sturmwind beim Hinauswerfen, ein Strick beim
Würgen, ein Erdbeben beim Thüraussprengen, eine Heuschrecke beim Hinein¬
springen, ich speise ungerufen mit, wie eine Fliege; ich gehe nie aus, wie
ein Brunnen; ich erdrossele, morde, zeuge, ohne mich zu bedenken. Und um
deswillen nennen mich die Jüngeren den Wetterstrahl." Beinamen dieser Art
zierten überhaupt die Koryphäen der Schmarotznkunst; gewöhnlich waren sie
aber der Fertigkeit ihrer Kauwerkzeuge entlehnt, wie z. B. Kinnbacken, Schars¬
zahn, Schinkensübler. Ihr gewöhnlicher Aufenthaltsort waren die Bäcker
und der Markt. Dort drängten sie sich an ihre Kunden; ihre feinen Nasen
spürten jedes Familienfest und größere Mahl aus, und dann konnte sie, wie
Plutarch sagt, weder Feuer noch Eisen, noch Erz abhalten, ins Haus zu tre¬
ten. Recht drollig gesteht der Parasit bei Diphilus: „Wenn ich zur Mahl¬
zeit eines reichen Mannes gehe, betrachte ich weder die schöne Säulenstellung,
noch die prächtige Decke, noch prüfeich die korinthischen Gefäße: unverwandten
Blicks schaue ich auf den Rauch der Küche; wenn derselbe diFqualmend sich
gerade emporwälzt, dann freue ich mich und frohlocke; wenn er aber schief
und dünn hinaufzieht, dann merke ich. daß zu dieser Mahlzeit nicht einmal
Blut vergossen ward." Ihre Unverschämtheit hielt in allen Verlegenheiten
Stich. Als sich einst ein gewisser Chärephon bei einem Hvchzeitsmale unein-
geladen eingefunden und den letzten Platz eingenommen hatte, wollten die
Polizeibeamten, welche über die gesetzmäßige Zahl der Hochzeitsgäste zu wachen
hatten, ihn entfernen. Er aber sprach ruhig: „Zählt nur noch einmal; aber
fangt bei mir an!" Als beim Könige Ptolemäus Philopator von Aegypten,
der sich seine Spaßvogel aus Athen verschrieb, ein leckeres Gericht herumge¬
geben wurde, das aber immer nicht bis zum Parasiten Korydus reichte, fragte
dieser: „Bin ich denn berauscht. Ptolemüus, oder scheint mir nur dies herum¬
gereicht zu werden?" Besonders zur Zeit Philipp's von Mazedonien hatte
Athen einen solchen Ueberfluß von Witzmachern, daß sich im Herkulestempel
des auch von Aristophanes der Windbeutelei berüchtigten Diomäischen Be¬
zirks ein förmliches Kollegium von sechzig Kladdaradatschgelehrten konstituirte-
„Ich komme von den Sechzigern; dies haben die Sechziger gesagt!" hieß ^
damals in Athen und den Namen der fünf vornehmsten hat der Polyhisw'
Athenäus die Unsterblichkeit gesichert. Ja, der lachlustige Vater Alexanders
des Großen schickte der Gesellschaft ein klingendes Talent, wofür sie ihm el»
Protokoll über ihre Schnurren aufnehmen sollte! — Bei der überhandnehmen'
den Verderbniß der griechischen Jugend scheint sich aber bald das Verhältniß
der Parasiten anders gestaltet zu haben. Sie hörten nach und nach auf, nur
die Luftigmacher zu spielen und griffen zu der viel gefährlicheren Rolle der
Schmeichler, Augendiener und Intriguanten. An vielen Stellen der Komiker
sind?n sich Klagen der Parasiten über die Abnahme der Gastfreundschaft-
So sagt z. B. Gelasimus bei Plautus: „Gewisse Redensarten gehen nach
Und nach ganz verloren und darunter nach meiner Ansicht die beste und
öligste, die die Leute sonst im Munde führten: „Komm doch zu mir zu
Mittag! Thue so! Versprich es aber! Mache keine Umstände! Ich will
°s und lasse Dich nicht los! Dafür hat man jetzt eine andere Phrase er¬
funden und zwar eine nichtswürdige, erbärmliche: Ich würde Dich gern zu
Gaste bitten, wenn ick nicht selbst außer dem Hause speiste!" Am deutlichsten
^zeichnet den Uebergang der Parasit im Eunuchen des Terenz mit den War-
^'n: „Ehedem bei unsern Vorfahren war wol damit etwas zu machen, daß
wan sich zum Narren halten ließ und Prügel einsteckte. Jetzt sängt man die
Vogel auf eine neue Art. Es gibt eine gewisse Art Leute, die in jeder Rück¬
sicht die ersten sein wollen und es doch nicht sind. An diese mache ich mich,
diesen gebe ich mich hin, nicht um mich auslachen zu lassen; ich lache zuerst über
sie und bewundere zugleich ihre Geistesgaben. Was sie mir sagen, das
lobe ich; behaupten sie wieder das Gegentheil, so lobe ich es ebenfalls.
Berneint Einer etwas, so sage ich auch nein, bejaht er, so thue ichs auch.
Kurz, ich gebe ihnen in allen Dingen Recht und dabei stehe ich mich ganz
vortrefflich." Der gute Ton verlangte aber später vom reichen Manne, daß
er Parasiten um sich hatte; wenigstens sagt der geistreiche Spötter von Samo-
sata noch von seiner Zeit: „Ein reicher Mann, wenn er auch ein Krösus ist,
bleibt arm, so lange er allein speist, und scheint ein Bettler zu sein, wenn er
ohne Parasiten ausgeht; denn wie ein Soldat ohne Waffenschmuck, ein Kleid
ohne Purpur, ein Roß ohne Geschirr im Werthe sinken, so kommt uns ein
Reicher ohne Parasiten wie ein niedriger, gemeiner Mann vor." Auch unter
den Königen und Tyrannen des Hellencnthums finden sich viele, die den Lustig-
jachern als Hofnarren einen günstigen Boden einräumten. Außer Hieron
Und Hieronymus werden vorzüglich Dionysius der Aeltere und der
jüngere von Syrakus als Patrone solchen Geschmeißes hervorgehoben. Jener
lachte einst mit einigen Vertrauten über eine Sache, die ein unfern stehender
Parasit unmöglich gehört haben konnte, dennoch lachte derselbe mit und ant¬
wortete, darüber befragt, er habe gar nicht gezweifelt, daß die Unterhaltung
lächerlich gewesen wäre und deshalb mitgelacht. Vom Hofe des jungem Dio-
nys aber, der seine Regierung mit einem neunzigtägigen Gnstgelage begann,
wird erzählt, daß sich ein Heer von Possenreißern eingefunden hatte, die ihre
Kriecherei so weit trieben, daß sie z. B., weil der Tyrann an Kurzsichtigkeit
litt. wie Blinde auf der Tafel herumtasteten, bis Dionys selbst ihre Hände
den Gerichten lenkte. Besondere Erwähnung verdient ferner Philipp von
Macedonien, der die größte Umsicht und Energie bei dem leichtfertigsten und
Adrigsten Umgange, in Völlerei und Rausch, zu bewahren verstand. Die
Aufzählung seiner Schmeichler und Narren, von denen einer. Namens Kliso-
bhus, als der König ein Auge verloren hatte, ebenfalls mit verbundenem
Auge erschien, als jener an Lähmung des Schenkels litt, auch nebenher hinkte
und endlich, wenn Philipp eine scharfe Speise genoß, ebenfalls das GesW
verzog, als äße er mit, füllen bei Athenäus mehre Kapitel. Deshalb konnte
auch Demosthenes von ihm sagen: „Seine Umgebung besteht nur aus Räu¬
bern, Schmeichlern und Menschen, welche in der Trunkenheit schändliche Tänze
aufführen. Menschen, von hier vertrieben, wie jenen Kallias, den Staats¬
sklaven, und derartiges Gelichter, possenhafte Mimen, Dichter schändlicher
Lieder, welche sie, um Lachen zu erregen, auf die Genossen machen, diese liebt
und hat er um sich." Auch der Hos Alexanders übte nicht blos auf
Schmeichler, sondern auch auf Lustigmacher, die.der König bei Tafel liebte,
eine große Anziehungskraft und es vererbte sich diese Liebhaberei fast aus alle
seine Nachfolger. Doch läßt sich beinahe mit Sicherheit behaupten, daß selbst
in dieser Zeit, wo die griechische Sitte rasch ihrem Grabe zueilte, die Unter¬
haltung nicht zu einem so hohen Grade von Passivität herabsank, wie in
Rom, wo Lhren und Augen der Tischgäste stets in Spannung erhalten wurden,
wo Vorlesungen und Concerte, Gladiatoren und Mimen alle Zwischenpausen
ausfüllen mußten und die Geschmacklosigkeit so weit gehen konnte, daß sogar
die Dialoge Platos dramatisch ausgeführt wurden! Dn fanden denn die Possen¬
reißer überall ihre Rechnung und zwar um so mehr, als, wie schon erwähnt,
die römische Vorliebe für burlesken Witz und Scherz ihnen entgegenkam.
Bald gehörten sie als unumgängliches Zwischengericht zu jedem Gastmahle.
Fratzen jeder Art. Körperverdrehungen, glatt geschorenes Haar begleiteten ihre
Späße, die sie entweder gegen einzelne Gäste oder gegeneinander richteten-
Einen solchen Wettkampf schildert uns Horaz in der launigen Beschreibung
seiner Reise von Rom nach Brundusium. Freilich wird es uns schwer, den
Inhalt desselben so witzig und unterhaltend zu finden, wie der Dichter selbst'
und es zu überwinden, daß der reiche Gastfreund Coccejus in seiner Villa
den Reisenden dieses Vergnügen bereitet hat, welches wir höchstens in einer
Dorfherberge drollig finden würden. Zuerst reizt Sarmentus seinen Gegner
Messius, genannt „Schreihals" dadurch, daß er ihn einem wilden Pferde ver¬
gleicht. Als Messius die Herausforderung drohend annimmt, sährt Sarmen¬
tus fort: „Was würdest du wol thun, wenn dir nicht ein Horn aus der Stirne
geschnitten worden wäre, da du noch als Verstümmelter so sehr drohst?"
gleich bittet er ihn. im pantomimischen Wege den riesigen Polyphem vorzu¬
stellen; denn häßliche Larve und tragische Stclzschuhe habe er ja nicht nöthig-
Darauf fragt nun Messius den gewesenen Sklaven spöttisch, ob er denn sH""
seine Kette seinem Gelübde gemäß den Hausgöttern geweiht habe und warum
er überhaupt seiner Herrin entlaufen sei, da er doch bei seiner kleinen schmal
jigen Gestalt an einem Pfund Mehl täglich genug gehabt hätte? — Solche
Gesellen wurden von den Reichen natürlich für ihre Leistungen bezahlt »n
waren nicht, wie die alten griechischen Parasiten mit dem bloßen Sattwerden
Zufrieden, besonders da sie und die armen Clienten (wie uns Juvenal in
seiner fünften Satire ausführlich schildert) schlecht abgefüttert wurden, wäh¬
rend der Hausherr aufs feinste dinirte. Es gab auch unter ihnen verschiedene
Abstufungen. Einige führten, wie die modernen Hofnarren, beständig Sitten¬
sprüche im Munde und philosophirten wol gar über paradoxe Behauptungen;
Andere legten sich mehr aus das Erzählen mirakulöser und schnurriger Dinge.
Noch mehr gesucht als diese geistreicheren Narren waren aber die eigentlichen
Dummköpfe, besonders verwachsene, blödsinnige Kretins. Zwerge mit unförm¬
lichen spitzen Köpfen und langen Elselsohren. Ihr Werth stieg mit der Ein¬
falt; und Martial schreibt in komischer Verzweiflung: „Man gab ihn mir für
einen Narren aus und ich kaufte ihn für 20.000 Sesterzien. Gieb mir mein
Geld wieder. Gorgilianus: er hat Verstand!" Diesem unwürdigen Geschmack
huldigten vorzüglich die vornehmen Römerinnen. Wir wissen es aus der Zeit
Augusts von Livia und Julia. Kanopas. der Zwerg der letzteren, war nur
gegen 2»/^Fuß hoch. Selbst Harpaste, Senecas Frau hielt sich eine Närrin,
die. wie der Philosoph schreibt, nach dem Tode ihrer Herrin als Inventar im
Hause blieb und endlich erblindete, ohne ihren Zustand zu kennen: sie ließ
sogleich ihren Aufseher kommen und bat ihn, ein anderes Logis zu miethen,
da das Haus zu finster sei! „Ich selbst," setzt Seneca trocken hinzu, „bin im-
Wer ein Feind von solchen Monstrositäten gewesen; wenn ich mich an einem
Narren ergötzen will, so brauche ich nicht weit zu suchen: ich lache mich aus!"
Es scheint, daß man später bei Tafel fast nirgends mehr dieser Art von Be¬
lustigungen habe entgehen können, und deshalb sucht auch der jüngere Pli-
nius einen darüber ungehaltenen Freund mit folgenden Worten zu beschwich¬
tigen: „Ich habe deinen Brief erhalten, in welchem du dich beschwerst, daß
dich ein sehr ausgesuchtes Gastgelag verdrießlich gemacht habe, weil Possen-
^ißer. schamlose Tänzer und Narren die Tische umkreisten. Willst du nickt
wieder deine Stirn glätten? Ich halte mir nicht dergleichen Leute, weil es
wir nicht den geringsten Spaß macht, wenn von einem Lustigmacher etwas
Muthwilligcs, von einem Narren etwas Dummes vorgebracht wird. Aber
^ füge mich in die Laune solcher Wirthe. Denn wie viele brechen auf.
wenn bei uns ein Vorleser oder Sänger oder Schauspieler auftritt, oder
bleiben mit ebenso großem Verdrusse sitzen! Wir wollen also mit den Ver¬
gnügungen Anderer Nachsicht haben, um dieselbe für die unsrigen zu finden."
Da nun aber hauptsächlich die Miniaturmcnschen schwer aufzutreiben waren,
^Mal wenn man sie so leicht haben wollte, wie ein von Sueton erwähnter
Lucius war. der blos siebzehn Pfund wog, oder der Dichter Philetas, ein Zeit-
»enosse Alexanders, dem man andichtete, daß er Blei in den Schuhen getragen
habe, um nicht vom Winde weggeweht zu werden; so gab es sogar bald Leute,
die eigne Kästen oder Futterale dazu benutzten, um bei Findelkindern, die sie
zu sich nahmen, das Wachsthum zu hemmen und so künstliche Zwerge zu
erzeugen!
Natürlich gibt auch bei den römischen Kaisern die größere oder geringere Nei¬
gung zu dieser Art ton Belustigung einen Maßstab zu ihrer Beurtheilung mit ab.
Unter den Machthabern, die als Vorgänger der Imperatoren gelten können,
fand der Dictator Sulla so großes Vergnügen an dieser Menschenklasse, daß
er ihnen sogar Staatsländereien zum Geschenk gemacht haben soll. Während
dann Augustus mehr Gefallen an wohlgebildeten. durch Naivetät und Witz
ausgezeichneten kleinen Knaben, als an Mißgeburten und niedrigen Possen¬
reißern fand und lustige Erzähler nur zuweilen zum Vertreiben der Schlaf¬
losigkeit benutzte, waren in seines Nachfolgers Umgebung Zotenreißer und
Narren der gewöhnlichsten Art. Am Hofe des halbverrückten Caligula
herrschte ebenfalls große Narrenfreiheit. Vorzüglich richten die Schranzen ihre
Angriffe auf den unbeholfenen, beschränkten Oheim des Tyrannen, den nach¬
maligen Kaiser Claudius. Wenn derselbe nach Tisch eingeschlummert war,
warfen sie ihn mit Oliven- und Dattelkernen; bisweilen weckten sie ihn auch
durch Ruthenschlage auf. nachdem sie vorher - seine Hände beschuht hatten,
damit er sich beim plötzlichen Erwachen mit ihnen ins Gesicht fahren sollte.
Vespasian, ein Freund von Wortspielen und derben Späßen, verschmähte
die Possenreißer nicht; und Domitian hatte selbst während der öffentlichen
Spiele zu seinen Füßen einen in Scharlach gekleideten Zwerg stehen, mit dem
er sich sogar über Regierungsgeschäfte unterhielt und ließ Weiber und Zwerge
mit einander kämpfen. Von Commodus sagt Herodian. daß unter ihm
jeder Vernünftige und wissenschaftlich Gebildete als geheimer Feind des Hofes
verfolgt worden'sei, und daß Possenreißer und Mimen den Kaiser ganz in
ihrer Gewalt hatten. Sein Nachfolger Pertinax schaffte sie ab und nahm
ihnen den größten Theil ihrer Reichthümer wieder. Außer Gallienus, der
stets an einem zweiten Tische eine Gesellschaft Lustigmacher neben sich speise
ließ, sei endlich nur noch Heliogabal erwähnt. Er fand seine größte Lust
daran, seine Parasiten zu foppen und zu quälen. Sehr oft ließ er ihnen die¬
selben leckeren Gerichte, welche er verspeiste, in Wachs, Thon oder Glas nach¬
gebildet vorsetzen, oder sperrte sie, wenn sie trunken waren, des Nachts mit
zahmen Löwen. Tigern oder Bären zusammen in ein Schlafgemach. Dann
setzte er sie aus Windpolster und freute sich, wenn durch schnelles Aufblasen
derselben die Schmarotzer unter den Tisch flogen. Zuweilen öffnete sich "uH
über dem Tische die bewegliche Decke und überschüttete die darunter Sitzenden
mit einer solchen Masse von Blumen aller Art, daß einige erstickt sein sollen.
Endlich lud er auch oft lauter Taube. Podagristeu, Kahlköpfige, Dicke u tgi
H.
Auch diesmal lege ich meinen Betrachtungen eine Flugschrift zu Grunde: „Preu¬
ßens Aufgaben in Deutschland; Rechtsstaat wider Revolution." Vom Ver¬
fasser der „Despoten als Revolutionäre." Berlin, Hände und Spener. — Mit
den Ansichten des Verfassers über die auswärtige Politik kann ich mich nicht einver¬
standen erklären. Ich glaube nicht, daß die preußische Regierung von seinem Rath,
sich mit dem „alten treuen Alliirten". der — Türkei, zu verbinden, viel Nutzen
Ziehen wird; auch die Allianz mit Schweden und der Schweiz scheint mir von frag¬
lichen Werthe. Desto mehr Beifall verdient, was er über die innern Angelegenheiten
sagt. Da die Kammern nächstens wieder zusammentreten, und der Kongreß die
europäische Krisis jedenfalls auf einige Zeit hinausschieben wird, ist es überhaupt
Nöthig, die Aufmerksamkeit wieder nach dieser Seite hinzulenken. Bei Gelegenheit
des Schillerfcstes — einer höchst unerwarteten und unbequemen Gelegenheit — hat
sich gezeigt, daß die neue Regierung des Bciraths ihrer guten Freunde noch immer
nicht entbehren kann.
Man pflegt die neue Regierung zu loben, und im Allgemeinen mit Recht, daß
sie nicht als Partei regiert, wie es ihre Vorgängerin that. Aber um die Grenze
scstzusteckcn, innerhalb welcher sich diese Bescheidenheit halten muß, wenn sie nicht zur
Nullität führen soll, muß man die Principien dieser Vorgängerin ins Auge fassen —
°der vielmehr, da das Ministerium Manteuffel selber keine Principien hatte, die Prin¬
cipien der dominirenden Partei, der Krcuzzcitungspartci. Wenn sie sich rühmte, der
Bureaukratie entgegen zu sein, so hatte das in gewissem Sinn seinen guten Grund,
^hre Zwecke waren nämlich folgende.
1) Befreiung der Rittergüter von den Einmischungen der Büreaukratie, Autono¬
me der erstern und Herstellung ihrer patriarchalischen Beziehungen zur Bauerschaft.
Befreiung des jungen Adels von der lästigen Controlle der Polizei (Rochow Hinkel-
dey). Herstellung der Jagdrcchtc, cximirte Gerichtsbarkeit Kreis- und Provincial
stände auf aristokratischer Grundlage.
2) Reform der Bureaukratie, die in ihrer stelbstständigcn Haltung dem König¬
thum gefährlich oder vielmehr unbequem, wird, die durch ihr Examinationssystem die
bürgerlichen Emporkömmlinge begünstigt. Freie Besetzung der höchsten und höheren
Wellen nach Geburt, Ansehen im Landadel (z. B. aus den ständisch gewählten «anb¬
othen heraus); der niedern Stellen nach dem Maaßstab der Treue, guten Ge-
sinnung und Dienstfertigkeit. Centralisation des Adels im Herrenhaus, und so weit
es geht, im ganzen Landtag, der auf einem Umweg (dem Drciklasse'nsystem) zum
ständischen Princip zurückkehrt. Es entsteht dann ein gleichmäßiger Parallelismus
um Staate: Gutsherr und Hintersassen; Landrath und Schulzen; Officiere und Sol¬
daten; Dcpartcmcntsches und Subalternen u. s. w.
3) Den Städten soll eine ähnliche Freiheit, wie den .Rittergütern zwar nicht
mißgönnt werden; da sie. aber über ihre Befugnisse hinauszugehen und die Privi¬
legien des Adels anzufechten geneigt sind, müssen sie durch die reformirte Büreau-
kratie und Polizei beaufsichtigt werden, deren Wirksamkeit nach dieser Seite hin also
vollständig wiederhergestellt wird.
Je nachdem die Mitglieder der Partei den einen oder den andern dieser drei
Punkte hervortreten lassen, könnte man sie in verschiedene Nuancen vertheilen. Nur
kommt es selten vor, daß diese Scheidung sich rein und consequent vollziehen läßt,
sonst könnte der Liberalismus mit der ersten Richtung gar wol unterhandeln. Su¬
chen wir nun unser System in gleicher Art zu formuliren. Auch wir wollen nicht
die Gleichheit, sondern die Freiheit; nicht die Beglückung Aller durch den Staat,
sondern den Raum für Jeden, sich selbst glücklich zu machen.
1) Freiheit des Individuums der Polizei gegenüber, wie sie in England besteht;
Unterordnung der Polizei unter richterliche Controlle; Aufhebung, definitive Auf¬
hebung der Scherereien, die Preußen in Deutschland, weil sie sinnlich hervortrete»,
viel mehr geschadet haben als alles andere, ohne auch nur das geringste zu helft"
(man denke an den kleinen Krieg zwischen Westphalen und Hinkeldey in dieser Be¬
ziehung); Garantie für jeden preußischen Staatsbürger, sich aufzuhalten, wo er
Unterhalt findet.
2) Autonomie der Communen; nicht nach einer allgemeinen Schablone, sondern
nach dem Maß der örtlichen Verhältnisse festgestellt, wobei diejenigen Rittergüter, die
ihrer Lage nach unabhängig sind, zu ihrem vollen Recht kommen werden. Berechti¬
gung der Gemeinden, nach Befinden einen neuen Kuhstall aufzurichten, ohne durch
so und fo viel Instanzen bis nach Berlin anzufragen.
3) Herstellung eines wirklichen Kreislcbens durch Reform der Kreistage, nament¬
lich der Wahlen zu denselben; Erweiterung ihrer Berechtigungen. Feste Abgrenzung
der Wahlbezirke zum Landtag, die so weit es irgend möglich, mit den Kreisen zu¬
sammenfallen.
4) Erweiterung der Autonomie in den Provinzen; Reform der Provinzialstände,
entsprechend den Kreistagen; alle Spccialangclcgenheiten der Provinz werden ihnen
überwiesen, namentlich auch die Controlle der Provinzialverwaltung. — Dieser Punkt
ist. wenn Preußen darauf ausgeht, in Deutschland moralische Eroberungen zu mache»,
der allerwichtigste. Wenn der Mitteldeutsche u. s. w. sich scheut, berlinisirt Z»
werden, so ist diese Scheu in den preußischen Provinzen selbst nicht kleiner. — Soll«
es esnmal möglich sein, auf gesetzlichem Wege eine Reform des Herrenhauses anzu¬
bahnen, so müßte das reformirte Herrenhaus aus den Provinzialständen hervor¬
gehen.ti
5) Die bestehenden Korporationen (z. B. Universitäten) in ihren Rechten sorgfälg
gepflegt; die bürgerlichen Korporationen, die in vieler Beziehung segensreich si^'
durch allgemeine Gewerbefreiheit und Freizügigkeit unschädlich gemacht. Die römisch'
katholische Kirche in keiner Weise molestirt; ihre schädlichen Wirkungen durch die vom
Staat garantirte Freiheit jedes Einzelnen, sich der Kirche zu entzieh«, paralysirt.
2n derselben Weise die Seelen, sofern sie nicht die Criminaljustiz gegen sich aufrufen.
Neue Associationen (industrielle, adlige, bürgerliche jeder Art) unter denselben Be¬
engungen geduldet.
6) Unabhängigkeit der Gerichte durch strenges Festhalten des Ancicnnctäts-Sy-
stems.
7) Ausmerzung der blos „Gutgesinnten" aus der Bureaukratie, deren Befug¬
nisse sich durch die obengedachten Punkte freilich sehr gemindert haben (einige Pen¬
sionen mehr wird der Staat ertragen); Herstellung des alten Systems der Beför¬
derung nach Einsicht und Geschicklichkeit; die technischen Zweige sind von der Partei-
Achtung der höheren Regionen ganz ausgeschlossen; dagegen strenge Einheit in den
allgemeinen Maßregeln der Verwaltung, und Aufhebung jeder Art von Autonomie von
Seiten der verschiedenen Polizeipräsidenten. (— Schillerfest!)
8) Entschiedenes Princip der Handelspolitik, damit der Einfluß Preußens im
Zollvereine (wie sehr sich auch dessen Umfang einschränken möge!) ein wirklicher sei.
Denn Einfluß hat nur, wer folgerichtig etwas will.
9) Strenge Controlle gegen den Bundestag, daß er seine Befugnisse nach keiner
Seite hin — aus Gründen des bien xublio — überschreite; Förderung desselben,
N>o es eine Pflichterfüllung gilt. Wenn Deutschland in Preußen den Hort des Rechts
sieht, wird das Mißfallen am berlinischen Dialect sich allmälig legen. Ein weiteres
H
Die Ostsee und ihre Küstenländer, geschildert von Anton von Esel.
Leipzig, Lorck. — Es ist von großem Interesse, von einem sachkundigen Mann
diesen nach verschiedenen Staatcngruppen auscinandcrfallenden Ländcrcoinplcr in seinem
innern Zusammenhang dargestellt zu sehen. — Der erste Theil enthält die Geschichte
Ostseehandels von den Phöniciern an bis auf unsere Zeit, in einer zweck¬
mäßigen Uebersicht. — Darauf folgt eine hydrographisch-naturhistorische Darstellung
d" Ostsee, eine Schilderung des thierischen Lebens in derselben, ihrer Productionen
Und des dazu gehörigen Flußnetzes. — Der zweite Theil behandelt die Einzelheiten,
inen Theil sehr eingehend und selbst anziehend geschildert; die dänischen, deutschen,
russischen und schwedischen Ufer. Wenn die geographische Eintheilung zum Grunde
liegt, so ist jedesmal auch das historische Material, so weit der Raum es gestattete,
berücksichtigt. —
Geschichte Karl des Zwölften von Andreas Fryxcll. Nach dem
Schwedischen bearbeitet von A. v. Etzel. Mit dem Portale Karls nach Chodoviecki.
Leipzig, Lorck. — Die Arbeit des gelehrten Verfassers hat in seinem Vaterlande all¬
gemeine Anerkennung gefunden, und es ist hohe Zeit, daß auch in Deutschland end¬
lich einmal der Voltaircschc Roman einer gründlichen historischen Darstellung Platz macht-
Die Begründer der französischen Staatseinheit: Der Abt Suger
Ludwig der Heilige — Ludwig der Elfte — Heinrich der Vierte — Richelieu —
Mazarin. Vom Grafen Louis de Carre — deutsch von I. Seybt. — Leipzig.
Lorck. — Den Lesern der Revue Zs äeux mcmäss sind Carnes historische Arbeiten
bekannt. Hervorgegangen aus den Reihen des jungen legitimistischen Adels besaß er
doch Bildung und Unbefangenheit genug, um den Anforderungen der neuern Zeit
bis zu einer gewissen Grenze hin Rechnung zu tragen, und wußte sich während der
Julidynastie durch seine gemäßigten Formen und durch seinen Verstand bei allen
Parteien Achtung zu verschaffen. Seine Portraits sind sehr instructiv, aber wir
können ihren Werth doch nicht so hoch stellen wie der Uebersetzer. Einmal
hebt er zu einseitig das monarchische und katholische Lcbcnsmotiv Frankreichs her¬
vor, welches allerdings mehr im Vordergrund steht, als die meisten Geschichtsphilo-
sophcn der Franzosen zugeben wollen, aber doch durch andere Interessen wesentlich
temperirt wird; sodann ist seine Darstellung im Ganzen sehr farblos, während sonst
die modernen Historiker — nicht blos Michelet, sondern zum Theil auch Thicrr».
eher an einem Ueberfluß von Farbe leiden. Am meisten erinnert er an Guizot.
auch durch den beständig würdigen Ton, der ihm aber an Weite des Blicks bedeu¬
Die Deutschen. Ethnographische Studien von Bogumil Goltz. 1. Bd. ^
Berlin, Janke. — Gemüthliche Plaudereien eines wackern deutschen Mannes über
die Gemüthlichkeit des deutschen Volks, mit Citaten aus allen möglichen Schriftstellern
versehen. Könnte der Verfasser sich abgewöhnen, speculative Philosophie zu treiben,
wozu er nicht den geringsten Beruf hat, so würden seine Schriften bedeutend ge¬
Geschichte der Ausgänge des Volks Israel und des nachapostolischen
Zeitalters von Ewald. 7. Bd. — Göttingen, Diederichs. — Wir erwähnen dies
Buch nicht um seines gelehrten Inhalts willen, der vor ein anderes Forum gchM
sondern für denjenigen, der sich über — Hrn. v. Schlcinitz, Victor Emanuel und
Cavour unterrichten und nebenbei das Grimm'sehe Lexicon durch einige Krasta»^
drücke in der Art des seligen Diezel bereichern will. —
Das Gutachten der theologischen Facultät zu Marburg über die hessische Bekennt-
nißsragc und seine Bestreiter. Entgegnung von or. I, Gildemeister. Frank¬
furt 1859. —
Es gibt kein schlagenderes Beispiel für die unhistorische Willkürlichkeit,
Mit welcher die reaktionäre Partei alles Bestehende, das ihr unbequem ist. be¬
handelt, als die neueste Geschichte Kurhesseus. Die politischen Zustände, die
das Hassenpflug-Vilmarsche Regime hier geschaffen hat. sind aller Welt be¬
kannt und es bedarf nach dieser Seite hin keines Beweises, wie man alles
Bestehende, alles beschworene Recht mit Füßen getreten hat. um Dinge zu
produciren, die sogar den Bundestag jammern. Man mag. aber hierüber
denken, wie man wolle, man mag sogar zugeben, daß zur Herbeiführung der
gegenwärtigen allgemeinen Landescalamität noch Factoren mitgewirkt haben,
gegen welche man nicht gut Strafbaiern verwenden konnte, und welche sich
Hassenpflug und Consorten nicht in ihrer ganzen Bedeutung vergegenwärtigt
hatten, als sie das Land von dem Greuel eines constitutionellen Verfassungs¬
lebens möglichst zu säubern unternahmen, man mag also zugeben — was
jedoch wiederum nur ein Beweis für die gänzliche staatsmännische Unfähigkeit
unserer Reaktion ist —, daß Hassenpflug in der praktischen Durchführung sei¬
nes Systems viel weiter getrieben wurde als er anfänglich zu gehen beab¬
sichtigte, so übersteigt doch das. was seit 1850 auf dem kirchlichen Gebiete
von derselben Partei unter der Führung des Literarhistorikers Vilmar geleistet
'se, alles bis daher dagewesene weitaus.
Wenn ein guter Katholik fest überzeugt ist. daß der h. Rock zu Trier der
wahrhaftige Leibrock Jesus von Nazareth ist, weil ihm das die Kirche durch
den Bischof Arnoldi so sagt, so wird man eine solche Meinung wol historisch
unbegründet, aber immerhin doch von einem bestimmten Standpunkte aus
^nsequent finden. Wenn ein Feind des historischen Christenthums den hundert¬
jährigen Geburtstag Dinters religiös feiern zu müssen glaubt, für den Apostel
Paulus aber keinen Gedenktag übrig hat, so wird man dieses nicht weniger
^nsequent. wenn auch nicht minder albern finden als jenes. Wenn aber nun
ein Mann auftritt, der sich durch seine historischen Schriften, durch Vertheidigung
des formulirten protestantischen Kirchenbekenntnisses gegen alle rationalistische»
Neuerungen und durch seine rhetorischen Ergüsse über die Aufgaben der Gymna¬
sien als der Pflegestütte einer acht conservativ-historischen Bildung und Erziehung
bei seinen Parteigenossen einen großen Namen erworben hat; wenn ein solcher
Mann in hoher kirchlicher Stellung, freilich sich gleichzeitig auch als Prophet
und Exorcist gcbährdend. auftritt und verkündet, daß die Kirche, deren Leiter
er ist, nicht, wie sich dieselbe bis auf ihn fälschlich „fest eingebildet" habe-
der einen der beiden großen Parteien des Protestantismus zuzuzählen sei. son¬
dern gerade der andern, von der sie seit Jahrhunderten als eine treulose
'Schwester behandelt worden ist: so wird man hiervon nicht sagen können,
daß dieses consequent gedacht sei, wenn man auch einem solchen Fündlein das
Prädicat eines zweckmäßig ersonnenen und pfiffig erdachten beilegen mag>
Das aber hat Vilmar, der sich auf seine historische Bildung und conservative
Gesinnung und Lebensrichtung so viel zugute weiß, gethan, als er die refor-
mirte niederhcssische Kirche für eine lutherische ausgab und dieser Unwahrheit
zu Liebe der niederhessischcn Kirche reformirte Vekenntnißschriften, die im Schul¬
gebrauche waren, wegnehmen ließ, und lutherische um ihre Stelle einschob.
Wenn das nicht für die ächt geschichtliche, conservative Richtung des Herr»
Vilmar ein gutes Zeugniß ist, so kann es kein besseres geben!
Man begreift eS nicht, wie ein Mann sich und seinen oft genug wieder¬
holten Phrasen von dem guten Recht der Kirche an ihren symbolischen Büchern
so ins Gesicht schlagen konnte, wenn man nicht den Grundgedanken seines
kirchlichen Systems fest ins Auge saßt, und dann sieht, wie zu dessen Durch¬
führung alle Mittel dienen müssen und alles, was Widerstand leisten konnte,
mit brutaler Gewalt bei Seite geworfen wird. Hierzu kommt, daß Vilmar
ein gutes Erbtheil um schwer zu bändigender, roher Naturkraft von Hanse a»S
mitbekommen hat, und sich von den zähmenden und sänftigcnden Fesseln eines
evangelischen Christenthums frei zuhalten weiß. Dasselbe wüste Pathos, das
thu früher zu dem enragirtesten Burschenschaftler machte, entladet sich i^'t
im Dienste des Herrn Zebaoth mit derselben Gewaltsamkeit und Rohheit
wie früher, nur daß jetzt nicht seine Schläge aus die Häupter Israels, sondern
auf Philistäas^ Schädel fallen. Von der christlichen Sanftmuth, von der
Friedfertigkeit, von der Milde, von der Liebe, die nicht das Ihre sucht, wird
man an einer solchen Stelle nicht viel bemerken. Ist doch auch das Ma߬
halten die vornehmste heidnische Tugend und jede Art der Vermittlung on'M
Uebel. Denn es gibt kein Abkommen zwischen Licht und Finsterniß, zwischen
Christus und Belial. und wer weder kalt noch warm ist. den wird der He"'
ausspeien aus seinem Munde. Zu Boden die falschen Goben des Zeitgeistes-
mögen mich einige arme Gerechte gelegentlich dabei erschlagen werden, ^ der
Herr kennt ja doch die Seinen —, und — schneiden in das faule Fleisch der
Gegenwart, mögen auch einige gesunde Glieder mit verloren gehen, das ist
die alte Kurmethode des modernen kirchlichen Doktors Eisenbart.
Und doch ist Vilmar ein, wenn auch ungerathenes, Kind seiner Zeit. Das
wacht ihn aber nur um so boshafter. Denn wer erst einmal gegen das Fleisch
par seinem Fleische zu wüthen begonnen hat, der kann des Streitens kein Maß
und Ziel mehr finden. Vilmar eröffnete seine schriftstellerische Laufbahn mit
einem Angriff auf den im Anfange der zwanziger Jahre nach Marburg beru¬
fenen, kürzlich verstorbenen Professor E. Sartorius. Dieser Koryphäe der
Kreuzzcitungspartei zeichnete sich in Marburg damals in einer zweifachen Weise
ans; er warf sich als Vertheidiger des symbolischen Protestantismus und gleich¬
zeitig als — in-Mi-o clös rMsii-s auf, so das, der alte Primarius Arnoldi seinen
Zuhörern wol die Frage vorlegte, wodurch sich die marburger Thcologenfacul-
tät vor allen übrigen Deutschlands auszeichne, und sie dahin beantwortete,
daß sie den besten Tänzer in ihrer Mitte habe. Gegen dieses nntheologische
Gebahren von Sartorius erhob sich nun Vilmar nicht. Er war ja selbst ein
lustiger Geselle, und noch vor zehn Jahren, wie seiner Zeit in der deutschen
Zeitung zu lesen war. spießte er seine Mrche auf einen Studentcncommers an
Und seine Thätigkeit auf dem Liebhabertheater zu Marburg aus der Zeit sei¬
ner Gymnasialdirectur soll dort noch, in gutem Andenken stehen. Nein, er cr-
lwb sich als Vertheidiger des r-rtionalisrnns vnlMris gegen den Ankömmling.
Doch nach einigen Jahren bekehrte er sich unter der Assistenz Hasscnpflugs
vom Nationalismus und lief dann die ganze Windrose theologischer Mei¬
nungen durch, welche die gläubige Theologie Deutschlands seit dreißig Jahren
"ut einer immer mehr sich beschleunigenden, wahrhaft Schwindel erregenden
Schnelligkeit durchmessen hat, bis daß er endlich als oberster Teufelsbanner
an, der Töte des ganzen gespenstigen Zugs figurirte. Als solcher hat er dann
"und die Pflicht und Schuldigkeit, aus den reichen Erfahrungen seines Lebens
die Welt, welcher das Unterscheidungsvermögen des Guten und Bösen durch
einen neuen, umgekehrten Sündenfall, gewöhnlich französische Revolution ge¬
nannt, verloren gegangen ist, wieder zu erwecken und die ersten Tropfen eines
wirksamen Gegengiftes in die durch Hader und Grimm vergiftete Welt aus-
zugießen. Dieses Gegengift aber kann nur empfangen werden aus den Hält-
^n einer reinen Hierarchie, die Gewalt hat im Himmel und auf Erden. Auf
Etablirung dieser im Lande Kurhessen. war Vilmars Thätigkeit gerichtet. Das
erklärt Alles. Darum der Haß gegen die „demokratische"^ reformirte Kirche,
^e durch ihre Abendmahlslehre alle priesterlichen Opfcrgcdanken ausschließt
und wegen ihres Zugs nach Union sich nicht zu einer „anstaltlichen" Kirche
^guet. '
Nachdem Vilmar im Anfange der Revolution von 1848 noch einmal die
5
Anfechtungen des bösen Geistes zu Ibekämpfen gehabt und in seinem Blatte
die Erklärung abgegeben hatte, er werde „aufrichtig, ehrlich und entschieden
mit der Richtung gehen, welche unsern hessischen Verhältnissen durch die landes¬
herrliche Erklärung. Verheißungen und Anordnungen vom 6. und it. März
d. I. gegeben ist", ermannte er sich gar bald wieder und trat an die Spitze
der reaktionären Partei in Kurhessen. Zunächst entwickelte er seine Thätigkeit
auf dem kirchlichen Gebiete. Es wurde gegen die Berufung Zelters agitirt.
dann aber durch Pastorenconfcrenzen dahin zu wirken gesucht, daß der Kurfürst
die oberste Kirchenleitung, die er bisher ausgeübt hatte, der Kirche selbst
zurückgebe. Denn das Haupt eines „religionslosen" Staates könne doch un¬
möglich Landesbischof sein. Die zu diesem Zwecke angeregte Bewegung
wurde aber gar bald wieder zur Ruhe gebracht, als durch den Eintritt
Hassenpflugs ins Ministerium der Kurfürst wieder ein Christ geworden war.
Allmülig und gemach wollte man die Kirche, ohne viel Aufsehen zu erregen,
unter den Gehorsam eines protestantischen Papstes bringen. Vorerst absor-
birte jedoch die politische Noth des Ministeriums alle hierzu erforderliche"
Kräfte. Man bemühte sich der Gewissenhaftigkeit der Staatsdiener, die ihren
Eid auf die Verfassung nicht brechen wollten, durch theologische Argumenta¬
tionen entgegenzuwirken, indem ihnen Vilmar in seinem Volksfreunde (es5v
No. 18) demonstrirte. daß man nur einer Person einen Eidschwur leisten könne,
„dagegen wenn es heiße, es solle eine Verfassung beschworen werden.
sei das einmal ein erbärmlicher Unsinn und zweitens Leichtfertigkeit im Eid¬
schwur, Unehrlichkeit. Spott und Hohn auf Gott und also erklärte und offne
Gottlosigkeit." Als diese Mittel aber nicht anschlagen wollten, lockte man den
Landesherrn von Cassel weg. führte die Strafbaiern ins Land und machte
tabula, rasa,. Jetzt konnte man auch daran denken, die bessernde Hand an die
reformirte Kirche zu legen. Hatte Vilmar früher erklärt, man bilde sich >n
Niederhessen nur fest ein, refornürt zu sein u, tgi. mehr, hatte einer seiner Ge¬
sellen es auf eurer kirchlichen Versammlung eine „Schmach" genannt, wenn
man sie so bezeichne, so ging man jetzt daran, den Worten die Thaten folge"
zu lassen. Der Heidelberger Katechismus wurde für die Schulen, die ihn seit
Alters zum Religionsunterricht brauchten, als Lehrbuch verboten, den Kandida¬
ten bei den Prüfungen bedeutet, daß der hessische Katechismus die lutherische
Abendmahlslehrs vortrage, die Schullehrerseminarien mit zuverlässigen Jnstruc-
torcn besetzt, die Pastoren dahin unterrichtet, daß es bei Ertheilung des Con-
firmandenunterrichtes „weniger auf die Erweckung s. g. guter Vorsätze ankomme,
als auf Mittheilung des h. Geistes," jede Gelegenheit bei Einführung von
Geistlichen benutzt, den Gemeinden die abenteuerlichsten Vorstellungen von
der Schlüsselgewalt der Kirche beizubringen, und die Pastoren von den übrige«
Staatsdienern möglichst abgesondert. Man hielt zwar nicht mehr, wo es der
augenblickliche Vortheil zu erheischen schien, daran fest, daß ein Geistlicher
nicht ohne seinen Willen von einer Stelle auf die andere versetzt werden könne,
aber Vilmar nahm es sich heraus, unter Beistimmung einer Anzahl Metro¬
politane einen Geistlichen einfach seines Amtes für verlustig zu erklären, und
nachdem dieses Synodaldecret die landesherrliche Bestätigung erhalten hatte,
denselben ohne irgend welche Pension zu entlassen. Als dieser seine Ent¬
lassung bei den ordentlichen Gerichten als eine widerrechtliche anfocht, wurde
er von dem Competenzhosc, einem Beglückungsinstitute, das Hessen auch Hasscn-
pflug verdankt, abgewiesen, „weil kein neueres Gesetz beabsichtigt habe, in
Fällen der Kirchendisciplin die höchste Entscheidung von dem Landesherrn auf
. ein Gericht zu übertragen."
Wenn Jemand über diese Entscheidung stutzen und meinen sollte, daß
doch durch sie dem Episcopat des Landesherrn Rechte zugesprochen würden,
die mit den Vilmarischen Bestrebungen, der hierarchisch geleiteten Kirche mög¬
lichst viel Selbstständigkeit dem Staate gegenüber zu erringen, schwer in Ein¬
klang zu bringen seien; so muß man sich erinnern, daß dieser Spruch gefällt
wurde, als Vilmar nicht mehr die kirchlichen Angelegenheiten in seiner Hand
hatte, sondern schon seit Jahren die Studirenden zu Marburg seine „Theologie
der Thatsachen erleben" ließ. Denn was Hassenpflug und Vilmar auf dem
politischen Gebiet erreicht hatten, die Vernichtung des Nechtsznstands. das
sollte ihnen auf dem kirchlichen wenigstens äußerlich nicht gelingen.
Eine Brochüre nach der andern sandte der unermüdliche Professor Heppe
gegen Vilmars Treiben in die Welt; und als Vilmar dennoch von den allzu¬
treuen Hütern des kirchlichen Bekenntnisses zum Superintendenten von Nieder¬
hessen gewählt worden war. so wurde derselbe an entscheidender Stelle nicht bestä¬
tigt. Hier hatte man noch die Traditionen der alten Landgrafen. ..sich die Pfaffen
nicht auf den Kopf steigen zu lassen." nicht vergessen. Mitgewirkt zu dieser
Entscheidung hatte das Gutachten der theologischen Facultnt zu Marburg, in
dem das gute Recht der reformirten Kirche eben so scharfsinnig und gelehrt,
als streng objectiv nachgewiesen war, und ein Votum des Kirchenrcchtslehrcrs
Richter in Berlin. Als Hassenpflug mit der Ernennung des Freundes nicht
durchdringen konnte, nahm er seine Entlassung und Vilmar wurde Professor
der Theologie in Marburg. Die Treubundspartei erging sich jetzt in Anklagen
über Fürstenundank, und die Allgemeine Zeitung glaubte sie damit trösten zu
'Nüssen, daß eine eoelesia xressa immer die besten Früchte gezeitigt habe.
Freilich war die hessische Kirche eine eoelssia, xrWsa. aber ihre Bedrücker ha¬
ben sich seit 1850 wahrlich nicht zu beschweren gehabt. Denn das Ministerium
Scheffer. das dem abgedankter folgte, war zwar weniger geneigt der Vilmar-
schin Partei bei ihren Reformplänen energischen Vorschub zu leisten, aber die
^Hänger des alten blieben doch in ihren einflußreichsten kirchlichen Aemtern.
Gegen das Facultätsgutachten erließ der Superintendcnturvicar Hoffmann
einen Hirtenbrief, in dem der Facultät die ehrenrührigsten Dinge nach¬
gesagt wurden. Auf eine Beschwerde hierüber bei dem Ministerium gab das¬
selbe der Facultät gar keine Antwort, während Professor Heppe, der das Mach¬
werk mit dem rechten Namen genannt hatte, kurzer Hand mit Umgehung der
Preßgesetze bestraft wurde. Als es einige Zeit später die lutherische Superin-
tendentur Oberhessen zu besetzen galt, bot Vilmar alle Mittel auf. um ein
ihm ergebenes Subject an diese Stelle zu bringen, und scheute sich nicht in
einem anonymen Flugblatte einen seiner College», welchen man von der Ge¬
genpartei als Candidaten für die Superintendentur aufstellen wollte, der
Schmähung der lutherischen Kirchenlehre zu zeihen. Als die Autorschaft des
Pasquills entdeckt worden war, verklagte die theologische Facultät Herrn Vilmar
und erwirkte von dem Kriminalgerichte seine Bestrafung. Die Winkelzüge und
Unwahrheiten, deren sich Vilmar bei dieser Gelegenheit schuldig machte, hiel¬
ten jedoch dreiundzwanzig seiner Anhänger nicht ab. seine Behauptungen dem
von ihm angegriffenen Professor Consistorialrath Ranke gegenüber in einem
Schriftchen aufrecht zu erhalten,, — als Vilmar doch wieder seinen Candidaten
in Cassel durchgesetzt hatte.
Auf die ununterbrochenen Anklagen, welche die lutherische Partei in Zeit¬
schriften und Brochüren gegen das Gutachten der theologischen Facultät erhob,
hatte diese bisher Stillschweigen bewahrt. Da publicirte Professor Gilde¬
meister die Proceßverhandlungcn gegen Vilmar und kurze Zeit darauf die
obengenannte Brochüre.
Wenn es nun auch keine gerade sehr angenehme Aufgabe ist, sich durch
theologische Streitschriften hindurchzuarbeiten, so ist doch die hiergenannte
von der Art. daß sie fast wie die Lessingschen gegen Götze wegen der in ihr
meisterhaft gehandhabten Polemik auch den Laien interessiren muß. Gilde-
meisters Art zu streiten ist ja mock, aus seinem Kampfe gegen die Vertheidiger
der Aechtheit des heiligen Rocks zu Trier in so gutem Andenken, daß man
sich von ihm schon etwas Besonderes versprechen darf. Und so hat er denn
anch wie früher die Argumente seiner Gegner so zerpflückt und dieselben
an den Pranger gestellt, daß ihnen der Stempel der Lächerlichkeit für immer
aufgeprägt ist. Beispielshalber möge eine Stelle hier Platz finden. Nachdem
Gildemeister die Einwürfe Hoffmanns. Vilmars u. A. zurückgewiesen und
gelegentlich schöne Beiträge zur Chnrakterisirung der sittlichen Beschaffenheit
seiner Gegner beigebracht hat. fährt er fort: Zuletzt kommt noch ein eigen¬
thümliches, fast heiteres Nachspiel- nachdem Knappen und Ritter, verkappt
und unverkappt, ihre Lanzen einzeln gebrochen, wird das Facultäts-Gutachten
auch noch heerdenweis angegriffen. In einer Schrift unter dem Titel:
wiedrung u. s. w. entwickeln 23 Geistliche, während sie zunächst nur die Ab-
ficht haben, ihren Consistorialis anzugrunzen (nach der Sitte des parlamenta¬
rischen Englands), ihre Gründe, weshalb sie den Ausführungen des Gutachtens
gegenüber die Kirchenordnung von 1566 für lutherisch halten. Es sind meist
die schon vorgebrachten, doch auch mit einigen neuen vermehrt, und der aus¬
fallenden Erscheinung zu Ehren, daß alle 23. gewiß ohne fremde Hilfe, in
ihren Studien zu einem so übereinstimmenden Resultat gelangt sind, da doch
die Gelehrsamkeit sonst nicht unter die Eigenschaften geHort, durch die sie im
Lande bekannt sind, wollen wir darauf im Einzelnen eingehen. Sie sind zu¬
nächst auf den großartigen Einfall gerathen, dem Hyperius die Verfasserschaft
der Kirchenordnung von 1566 zu bestreiten .... ja unsere Gelehrten zu Specks¬
winkel u. s. w. versteigen sich noch höher: sie machen sogar einen bestimmten
Verfasser der Agende ausfindig; sie geben zu verstehen, es sei Pistorius, denn
„der Styl der Agende erinnert an Pistorius." Es bildet eine der schwierigsten
Aufgaben der Kritik, für ein namenloses Werk blos aus dem Styl den Ver¬
sasser zu ermitteln, vor allen Dingen für liturgische Formulare, deren Styl
sich überall ähnlich ist; um eine solche Ausgabe zu lösen, ist außer der kriti¬
schen Befähigung eine vollständige Vertrautheit mit den Eigenthümlichkeiten
des Styls des fraglichen Buchs und des zu errathenden Verfassers. wie sie
uns das sorgfältigste Studium gibt, erforderlich; eine solche Kritik läßt sich
Nicht in Compagniecolonnen ausüben. Die 23 Aristarche aber werden sämmt¬
lich durch die ihnen gewiß sehr genau bekannte alte Agende an den Styl des
Pistorius erinnert. Gesetzt nun wir fragten sie auf ihr Gewissen, ob sie die
Werke des Pistorius, an die sie die Agende erinnert, nicht blos gelesen, ob
sie sie auch gründlich genug studirt. um eine solche Behauptung wagen zu
können, und es schallte uns aus den 23 Kehlen unisono ein glaubcnsfreudiges
Ja entgegen, so würden wir ihnen sagen müssen, daß außer einigen hin und
wieder gedruckten Briefen Pistorius — gar keine Werke hinterlassen hat."
S. 59 und 61.
Allein was hilft das Alles? Mag die historische Wahrheit durch Gilde-
Geister noch so unwiderleglich dargethan sein, ist die Lauge, mit der er ihre
Gegner Übergossen hat. noch so ätzend, mögen die Gemeinden in Kassel mit ihren
Geistlichen noch so überworfen sein und eine Bittschrift um die andere für Ent¬
fernung derselben einreichen, — es bleibt alles beim Alten. Denn noch im-
'ner sind die Leute, die Vilmar um die Spitze des Eonsistorimns gestellt hat,
Amt und Würde und das Ministerium Ab6e vou Vilmar in kirchlichen
Gingen noch abhängiger als, man möchte fast sagen, Hassenpflug selbst. So
^'ird denn die hessische Kirche von Leuten fortregiert, welche deren mit vielem
^inde erkaufte rechtliche Grundlage fortwährend in Frage zu stellen geneigt
f'ut und auf ihre Pfründen ein Recht zu haben glauben, nicht weil sie sie
ihren historischen Grundlagen schützen, sondern sie verleugnen.
Doch es wird das Recht Recht bleiben und siegen! Mag Vilmar und
mit ihm Pastorenkonferenzcn erklären, daß die niederhessische Kirche, trotzdem
daß sie die Synode zu Dortrecht beschickt und die heldenmüthige Landgräfin
Amalie Elisabeth die Gleichberechtigung der reformirten Kirche mit der luthe¬
rischen im westphälischen Friedensschluß allein durchgesetzt hat, eine lutherische
sei. es wird doch die Wahrheit bestehen bleiben. Denn wie sollte die Kirche,
welche die aus Sachsen und Schlesien, der Pfalz und Frankreich vertriebenen
Reformirten brüderlich aufgenommen hat. uns, die Nachkommen dieser Blut¬
zeugen, zwingen können, dem Glauben ihrer Väter mit lutheranischen Dog¬
men zu vertauschen? Noch gibt es keinen kirchlichen Bundestag, der „außer
Kraft setzen" kann, was von Gott und Rechtswegen besteht.
Wie man sieht, haben wir uns in den vorigen Artikeln gemäß demjenigen'
was wir einleitungsweise sagten, darauf beschränkt, den leitenden Gedanken
für die Knegshandlung der Verbündeten zu suchen, daraus die Aufstellung
entwickeln und nun die Wahrscheinlichkeiten, welche sich für den ersten großen
Zusammenstoß, die erste Hauptschlacht, ergeben. Alles dieses sind Dinge, die
an dem Faden eines leitenden Gedankens und einer gesunden Einsicht i>n
Voraus entwickelt werden können und die nun, einmal hingestellt, unwillkürlich
Wegweiser für das Nachfolgende abgeben.
Wollte man über diese Grenze hinausgehen, so verlöre man sich gänzlich
in das Gebiet vager Voraussetzungen. Um sich dies recht deutlich zu machen,
erinnere man sich nur, daß wir gegen die erste Aufstellung der Verbündeten
schon drei mögliche strategische Angriffsrichtungen fanden. Gegen jeden oder
in Folge jedes dieser drei Angriffe sind zwei bis drei verschiedene Verfahrungs"
arten der Verbündeten möglich. Auf diese Weise kommt man schon etwa zu
neun möglichen ersten Schlachten, von denen aber nur eine einzige in die
Wirklichkeit treten wird. Bei jeder dieser möglichen neun Schlachten sind zwei
Hauptfälle anzunehmen, nämlich, daß entweder die Verbündeten oder die Franzosen
Zurückgehen und entweder jene oder diese verfolgen. Die Verfolgung führt zu
neuen Schlachten oder neuen Gefechtsreihen. Da aber für den Zurückgehenden
weistentheils verschiedene Rückzugslinien denkbar bleiben werden, so ergiebt sich,
daß aus jeder der neun ersten hypothetischen Schlachten mindestens vier neue,
also im Ganzen mindestens 36 hypothetische zweite Schlachten folgen müssen.
N. s. w. u. s. w. Die etwaigen Vortheile, welche aus einer solchen Aus-
spinnung der Verhältnisse sich ergeben könnten, sind in der That im Wesent¬
lichen auch auf andere Weise zu erzielen; und auf diese besser, nämlich
daß man sich andere Fälle vorstellt für den Beginn der Dinge und diese in
ähnlicher Weise behandelt, wie wir eben den unsrigen behandelt haben.
Die Auswahl dieser Fälle darf aber keine willkürliche sein; jeder derselben
Muß vielmehr aus gegebene zulässige Umstände gegründet sein, sonst wird seine
Betrachtung ein hohles Spiel der Phantasie.
Wir wollen einen Fall noch einer nähern Besprechung unterwerfen, um
dann schließlich andeutungsweise und ohne schon Gesagtes zu widerholen, auch
die andern möglichen Fälle zu berühren. Das Bundesvcrhältniß soll das
gleiche sein, welches wir bisher festhielten; aber Frankreich hat die Vorhand.
Es greift an, ehe die Concentrirung der Armeen, wie wir sie früher vorausge¬
setzt haben, zu Stande gekommen ist. Im wesentlichen sind also die Verhältnisse
auf Seiten der Verbündeten diese: Belgien hat eine Feldarmee, oder was
es von derselben augenblicklich verfügbar machen konnte, an die Südgrenze
geworfen, ungefähr in die gleichen Stellungen, welche wir im frühern Falle
dem ganzen verbündeten Heere anwiesen. Diese belgische Streitmacht hat die
Aufgabe, dem vorrückenden Feinde soviel Hindernisse der Bewegung entgegen¬
zustellen als dies möglich ist. ohne daß sie sich auf eine Hauptschlacht ein¬
lasse. Ihr Rückzugspunkt ist Antwerpen. In Antwerpen sammelt sich Alles,
was Holland verfügbar machen kann. England hat wenigstens die Avant¬
garde einer Flotte so schnell als möglich auslaufen lassen, um die französischen
Küsten zu beobachten, um die Bewegungen einzelner Geschwader und Flottillen
gegen die belgischen und holländischen Küsten zu beeinträchtigen und zu hin-
^'n. Es sammelt außerdem eine Landarmee, um sie mit einem stark escor-
tMen Convoi nach Antwerpen zu werfen. Die preußisch-deutsche > Armee ist
An Begriff sich an der Rhcinlinie bei Düsseldorf und Cöln zu sammeln. Es
'se klar, daß der französische Angriff sich unter diesen Verhältnissen zuerst gegen
^e Belgier an der Südgrenze ihres Landes richten wird. Obgleich eine an-
^'e Combination allerdings denkbar wäre, hat sie doch wenig Wahrscheinlich¬
st für sich. Diese andere Combination bestünde nämlich darin, daß die
Franzosen sich mit gesammter Macht in die Richtung über Namur auf Lüttich
würfen, um zuerst die Preußen am Rhein aufzusuchen und anzugreifen.
Sie müßten doch in diesem Falle unter allen Umständen der belgischen Feld¬
armee und den belgischen Festungen einen nicht unbeträchtlichen Theil ihrer
Kraft gegenüberlassen und kämen so von vornherein geschwächt an die Preu¬
ßen. Das wahrscheinlichere ist der Anfang mit dem Angriffe auf die Belgier,
um diese wo möglich aufzureiben, ehe ihnen Unterstützung vom Rheine her
zugehen kann. Würde dieser Zweck erreicht, so stände Belgien bis auf Ant¬
werpen mit den Kräften, welche sich dort sammeln und organisiren, den Fran¬
zosen offen. Es ist aber sicher, daß er nicht anders erreicht werden kann als
durch einen Angriff auf die linke Flanke der belgischen Stellung, also in der
Richtung auf Charleroi. Nur diese Angriffsrichtung gibt die Möglichkeit, die
Belgier gegen das Meer hin abzudrängen. Es versteht sich von selbst, daß
die Verbündeten Alles, was in ihren Kräften steht, thun müssen, einem solchen
Mißgeschick vorzubeugen. Für die Belgier folgt daraus, daß sie ihre Kräfte
concentrn't halten, soweit nicht die Beobachtung, welche übrigens wohl im
Allgemeinen auf allen Punkten, wo die Feldarmee sich nicht besinnet, von den
Fcstungsbesatzungcn besorgt werden kann, kleinere Detachirungen verlangt, daß
sie lieber darauf verzichten, den Franzosen einen längeren Aufenthalt zu be¬
reiten, als daß sie sich der Gefahr aussetzten, den freien Rückzug, sei es nach
Norden, sei es nach Osten, zu verlieren, und daß sie für diesen Rückzug einen
zweckmäßigen Gebrauch von ihren Eisenbahnen machen, alles für deren um¬
fassendste militärische Benutzung vorbereiten. Gelingt das Abdrängen der
belgischen Feldarmee gegen das Meer hin oder allenfalls in einen jener kleineren
festen Plätze, welche nicht im Stande sind, eine große Truppenmacht, die plötz¬
lich in ihnen erscheint, auf einige Zeit zu unterhalten; so wäre es nicht un¬
möglich, daß in Folge der Bestürzung, welche ein solcher Schlag im Lande
verbreiten müßte, auch Antwerpen ohne ernstlichen Widerstand in die Hände
der Franzosen fiele, wenn diese, ihren Sieg verfolgend, wenig Tage nach demselben
vor dem großen Platze erschienen, wenn es zugleich ihrer Flotte gelänge, ehe
die Engländer sich noch ins Meer gewagt haben. Antwerpen wirksam zu blo-
kiren. seine Verbindung mit England zu unterbrechen, wenn schwimmende
Batterien und Kanonenboote die Scheide bis Antwerpen hinaufgebracht wer¬
den könnten, um auch von der Wasserseite die Stadt zu bombardiren.-
Nach einem solchen Erfolge könnten die Franzosen nun ein Obscrvations
corps gestützt auf Antwerpen gegen die untere Maas und die Waal stehen
lassen, ein Corps, welches, wie man sieht, nach den vorhergegangenen Ereig¬
nissen ziemlich schwach ausfallen könnte, während sie mit ihrer Hauptmacht
über Lüttich auf Cöln losgingen, um hier die Preußen aufzusuchen.
Wir wollen nun aber von diesem raschen Gange der Dinge absehen,
Wir wollen annehmen, daß es den Belgiern gelinge, den die Natur ihres Lan¬
des ausbeutenden Franzosen soviele Bewegungshindcrnisse als möglich zu be¬
sten und, indem sie großen Gefechten geschickt aus dem Wege gehen, in einer
oder der andern Richtung auszuweichen. Es können hier zwei Richtungen
eingeschlagen werden: die erste an den Rhein auf Cöln und Düsseldorf, die
andere auf Antwerpen. Im erstem Falle verstärken die 60,000 Belgier
°le am Rhein befindlichen oder von dorther bereits vorgerückten Preußen, im
letztem die Holländer und Engländer, welche sich bereits in Antwerpen ge¬
sammelt haben, welche, sobald sie vollzählig sind, unsern frühern Annahmen
zufolge auch 60,000 Mann betragen sollen, welche aber möglicher Weise noch
viel schwächer sind, da die Engländer leicht noch gänzlich fehlen können, wenn
ihnen die Dinge zu schnell über den Hals gekommen sind. Wir wollen vor¬
läufig gar nicht entscheiden, welches die vortheilhafteste von den beiden Rück-
zugsrichtungen sei. Die allgemeine Regel wäre sür den Rückzug an den Rhein,
»M dort die Hauptarmee, welche die Preußen stellen, auf die möglichste Stärke
Zu bringen. Aber diese Regel kann ja ihre Ausnahmen haben. Wir wollen
nur bemerken, daß es den Belgiern erleichtert würde, den Rückzug an den Rhein
in richten, falls die Franzosen etwa ihre rechte Flanke angriffen, daß es
ihnen unmöglich gemacht werden kann, bei einem Angriff der Franzosen aus
ihre linke Flanke oder auch bei einem concentrischen Angriff derselben — auf
beide Flanken — der bei der vorausgesetzten großen Überlegenheit kein Fehler
wäre. In den letzten beiden Fällen würde schwerlich etwas andres übrig bleiben
°is der Rückzug ins verschanzte Lager von Antwerpen. Tritt dies ein. so
sind nun von Seiten der Verbündeten bei Antwerpen und in dessen Werken
Mischen 80000 und 120.000 Mann vereinigt, je nachdem die Zuzüge aus Holland
Und England schon eingetroffen sind oder noch nicht oder erst theilweise.
Eine solche Macht ruhig in der Flanke stehen lassen, um eine neue Ope-
rationsrichtung einzuschlagen, und sie blos beobachten lassen, ist ein ber¬
giges Wagestück, daß es nur in den seltensten Fällen erlaubt sein kann.
Angenommen die Franzosen ließen — unsere Stärkezahlen angenommen, die
wir aber hier ja nur als Verhältnißzahlen zu adoptiren haben, - »0.000 M.
Segen Antwerpen stehen, die zugleich auch die noch in den Händen der Belgier
handlichen Grenzfestungen beobachten müßten, so würden sie allerdings mit
einer Ueberlegenheit an den Rhein kommen. Indessen wäre diese Ueberlegen-
heit jedenfalls keine sehr.bedeutende und sie gäbe keineswegs die Berech¬
nung zu der Annahme, daß die Franzosen in kurzer Frist den Preußen, die
^'f ihre festen Plätze gestützt an der Nheinlinie nur mit einigem Geschick ope-
"Um. Heer werden würden, um sich nun wieder gegen die englisch-nieder-
'nubische Armee zu wenden. Diese Annahme wäre und bliebe gewagt, welches
^'trauen man immer in die Sieghaftigkeit der französischen Waffen setzen
wollte. Es würden sich demnach die Verhältnisse wohl ähnlich gestalten, wie
1792 und im Winter auf 1793 unter Dumouriez und 1794 unter Jourdan,
nur mit dem Unterschiede, daß diesmal Antwerpen diejenige Rolle spielen
würde, welche in jener Zeit Holland spielte. Mit andern Worten die Fran¬
zosen würden eine Avantgarde gegen die Maas zur Beobachtung der Preußen
vorschieben, etwa auf der Linie von Stavelot an der Ambleve, bis nach Venlo
an der Maas abwärts; sie würden eine andere starke Avantgarde gegen Ant¬
werpen vorschieben und nun um Brüssel, Löwen, Hasselt. d. h. zwischen den
beiden Avantgarden, das Gros oder den Rest ihrer Armee vereinigen. Die
dabei verfolgten Zwecke wären, 1) die Einnahme Antwerpens oder wenigstens
seines verschanzten Lagers, was dann wohl mit einer nicht unbedeutenden
Niederlage der englisch-niederländischen Armee verknüpft sein und die Ein¬
nahme von Antwerpen selbst zur mehr oder minder nahen Folge haben würde!
2) die Einnahme irgend eines Platzes an der Maas, um über diesen Fluß
einen befestigten Uebergang zu erhalten; 3) die Beobachtung der preußische"
Rheinarmee; 4) Concentrirung aller verfügbaren Kräfte, uur unter Zurücklassung
eines Beobachtungscorps vor Antwerpen, um sich den Preußen zu wider¬
setzen, falls diese in den Angriff übergehen sollten. Diesen Zwecken müßten
die Franzosen nachleben, bis Antwerpen gefallen wäre. Gegen die Preußen
müßten sie sich rein abwehrend verhalten; sobald diese vom Rheine vorrücken,
muß ihnen an der Maas eine Vertheidigungsschlacht (das Wort im allgemein¬
sten Sinn genommen) geliefert werden. Sind die Preuße» zum Rückzug ge¬
zwungen, so verfolgt man sie noch einige Tage und kehrt dann von Neuem
in die Stellung an der Maas zurück, bis ein neuer Angriff erfolgt, um diesen
in derselben Weise abzutreiben. Die Franzosen würden also hier durch Ant¬
werpen in eiuer ganz ähnlichen Weise festgehalten, wie seinerzeit 1796 Bonn-
parte in Italien durch Mnntua, und es böten sich ihnen, falls die Preußen
ähnlich verführen, wie damals die Oestreich«. Gelegenheiten zu eben so schönen
Zwischenoperationen. Das eben angezogene Beispiel würde für diesen F"it
auch die Lehre enthalten, daß die Franzosen nicht zu ihrem Vortheil weit über
die Maaslinie hinausgreifen dürsten, bevor Antwerpen in ihren Händen wäre-
Die Zwischenoperativnen könnten aber allerdings das preußische Heer allmälig
so schwächen, daß es nun nach dem Falle Antwerpens auch keines kräftige"
Widerstandes mehr fähig wäre, vielmehr jetzt ein Vordringen der Franzose"-
gleich dem Bonapartes anfangs 1797, keine Schwierigkeiten mehr fände.
Was sollen nun die Preußen unter den gegebenen Umstanden thun, ">"
Erfolge zu erzielen? Ihre Aufgabe ist ihnen im Allgemeinen mit großer Sicher
heit gestellt: sie müssen Antwerpen entsetzen. Dies kann aber auf zweierw
Weise versucht werden: 1) direct; 2) indirect. Der directe Weg wäre, d"ß
die preußische Armee mit Zurücklassung hinreichender Besatzungen in den go"
ßer Nheinplützen unter Benutzung der holländischen Eisenbahn sich nach Um-
bau oder Utrecht versetzte, in dieser Gegend die Rheinarme überschritte, um
nun grade auf Antwerpen loszumarschiren und alles, was ihr die Franzosen
nach und nach aus ihren Aufstellungen entgegcnwürfen, zu schlagen. Der
indirecte Weg wäre ein Angriff auf die Stellungen der Franzosen an der
Maas und zwar auf deren rechten Flügel, in der Richtung über Aachen auf
Lüttich. Aus den ersten Blick hat der directe Weg ungemein viel Verlockendes :
die Möglichkeit einer unbehelligten und schnellen Concentrirung am Unterrhein,
dann die Aussicht auf die unmittelbare Vereinigung und der in Antwerpen
eingeschlossenen englisch-niederrheinischen Armee, sillis Alles glücklich von Skal¬
en ginge. Und dennoch wird man alsbald bemerken, daß der indirecte Weg bei
weitem vorzuziehen ist. Denn bei seiner Wahl hat man in der That viel¬
mehr Aussicht die Franzosen vereinzelt zu schlagen, als bei der Wahl des
directen Weges. Dieser directe Weg ist nämlich ein äußerst langer, viel län¬
ger als der indirecte. Es müßte dabei wunderbar zugehen, wenn die Fran¬
zosen nicht lange, bevor die Concentrirung am Unterrhein und namentlich be¬
vor der Uebergang über die Arme des Unterrheins erfolgt ist. auf die richtige
Spur kämen, und nun könnten sie, da sie für ihre Rückzugslinic nichts zu
fürchten hätten, jedenfalls relativ überlegne Streitkräfte rechtzeitig an die
Uebergangspunkte der Preußen bringen, diesen vielleicht den Uebergang gänz¬
lich verwehren, oder, wenn das nicht, ihnen doch bei demselben große Verluste
beibringen und, sich allmälig in die Gegend von Antwerpen zurückziehend, sich
mit dem Beobachtungscorps vor dieser Festung auf einige Tage — nur um
eine Schlacht zu gewinnen — so verstärken, daß vor dieser nur der kleinste
Theil zurückblicke. Diese Schlacht würde etwa in der Gegend von Turn-
hout geliefert werden. Wird sie von den Franzosen verloren, so haben
diese dann immer noch Zeit, die Beobachtung. Blokade oder Belagerung
Antwerpens gänzlich aufzuheben und sich gegen Brüssel hin zu concen-
iriren. Aber die Wahrscheinlichkeit eines Verlustes der Schlacht seitens
der Franzosen ist nicht groß, weil eben vorausgesetzt werden muß, daß
su ohne Zweifel bedeutende Kräfte concentriren können. Bei dem indirecten
Wege zum Entsatz auf der Linie Cöln -Aachen- Lüttich haben nun die Preu¬
ßen offenbar viel geringere Räume zu durchlaufen. Da sie ihre Basis gar
nicht aufgeben, können sie sich auch zeitweise durch die Garnisonen der großen
Festungen am Rhein verstärken und Theile derselben insbesondere zu irre füh¬
renden Demonstrationen gegen den linken Flügel der französischen Stellung
"uf Verlöv und Umgegend verwenden. Der Hauptangriff an der Ambleve und
Maas kann so rasch ins Werk gesetzt werden, daß die vor Antwerpen
verbissenen Franzosen kaum Zeit gewinnen, ihre Belagrungsanstalten ein¬
zustellen, und folglich beträchtliche Kräfte aus Lüttich und Mastricht hin zu ver-
einigen. Außerdem ist bei dieser Angriffsrichtung die Nückzugslinie der Fran¬
zosen aufs unmittelbarste bedroht, und falls selbst die Preußen, wenn wider
Erwarten die Concentrirung der Franzosen rasch genug erfolgen sollte, eine
Niederlage erleiden und wenn sie dabei selbst von ihrer Hauptrückzugslinie
auf Cöln abgedrängt werden, so bleibt ihnen jetzt immer noch das Loch für
den Nothfall, Koblenz. Alle diese Umstände müssen nun die Wage zu Gun¬
sten des indirecten Entsatzwcgcs sinken lassen. Wir wissen recht wohl, daß
man dem mit der banalen Phrase, dies sei ja ein concentrischer Angriff
und schon deshalb verwerflich, entgegentreten könnte, indem man nämlich die
preußische Armee als den einen, die englisch-niederländische als den andern
Theil eines combinirt operirenden Heeres betrachten wollte. Indessen, dies
letztere ist aller Vernunft zuwider; eine Festungsbcsatzung. und sei sie noch so
stark, darf nicht unter diesem Gesichtspunkte betrachtet werden, so lange sie
noch an ihrem Platze gebunden ist. Erst nach vollendetem Entsatz ist diese An¬
schauungsweise erlaubt; und wenn der Entsatz Antwerpens durch ein Vordringen
der Preußen über Lüttich auf die Linie Brüssel-Mons vollbracht wäre, würde
sich auch die englisch-niederländische Armee ohne die geringste Schwierigkeit
mit ihnen vereinigen können. Die Linie Cöln-Aachen-Lüttich ist daher
unbestreitbar die wahre für eine preußische Angriffsoperation unter den
vorausgesetzten Umständen. Als besondre Vcrhaltungsregel muß man die
aufstellen, daß dieser Angriff nicht so voreilig, sondern erst nach vollkommener
Ansammlung der Kräfte unternommen werde. Denn das allmälige Heran¬
bringen der Kräfte, etwa nach dem Muster, welches die Oestreicher 1796 in
Italien gaben, würde die allmälige Aufreibung derselben zur unzweifelhaften
Folge haben. Andererseits kann man mit einer an Gewißheit streifenden
Wahrscheinlichkeit auf einen hartnäckigen Widerstand Antwerpens rechnen, wenn
diese Festung nebst ihrem verschanzten Lager auch nur annähernd die Besatz¬
ung hat, welche wir hier voraussetzten. Es ist also darin kein Grund zu
einem voreiligen Auftreten gegeben. Und drittens, wenn die Franzosen, in¬
dem sie zugleich ein Beobachtungscorps von bedeutender Stärke vor Ant¬
werpen stehen ließen, mit dem Gros der Armee gegen den Rhein vorgingen,
würde auch hierin keine unüberwindliche Gefahr für die Preußen liegen, die
selbst in der Minderzahl, auf die durch den Strom und seine Festungen und
festen Uebergänge starke Rheinlinie gestützt, bei nur einigermaßen geschickter
Führung dem Feinde mindestens das Gleichgewicht halten müssen. Und daß
sie in der Minderzahl wären, wenn beträchtliche Kräfte gegen Antwerpen zurück¬
blieben, ist überdies noch eine ziemlich gewagte Annahme. Eine zweite
Verhaltungsregel für die Preußen wäre das Concentrirthalten ihrer Macht
beim Vormärsche auf Lüttich. um die Wahrscheinlichkeit des Sieges auf dem
Schlachtfelde überall, wo sie mit dem Feinde zusammenstoßen, aus das möglich
höchste Maaß zu steigern. Die in Antwerpen concentrirte Streitmacht darf sich
in keinem Falle blos passiv verhalten. Sie muß in nicht allzulanger Zeitabstän¬
den wiederholt große Ausfälle machen. Dies ist das einzige Mittel, den
Feind vor dem Platze mit beträchtlichen Kräften festzuhalten, dadurch
aber auch abzuhalten, daß er nicht mit seiner Hauptmacht die Maaslinie
überschreite, und darauf hinzuwirken, daß er an dieser Linie schwächer sei.
als die (preußische) vom Rheine vorrückende Entsatzarmee, daß diese also an
der Maas einen ersten Sieg und dann zwischen der Maas und der Scheide
einen zweiten gewinne, sollte derselbe überhaupt nöthig sein, um den Entsatz
Zu vollenden. Oft genug ist der Fall vorgekommen, daß der Führer des Ent¬
satzheeres den Commandanten der zu entsetzenden Festung unterrichtete (oder
ZU unterrichten trachtete), 'zu welchem Zeitpunkt das Entsatzheer das feind¬
liche Observationsheer erreicht haben und es angreifen würde, und daß er nun
den Commandanten aufforderte, zu demselben Zeitpunkt, an demselben Tage
einen großen Ausfall zu machen oder auch einen Tag vor der erwarteten
Schlacht zwischen dem Entsatzheer und dem feindlichen Observationshcer. Dies
ist eine sehr mißliche Sache. Unter solchen Umständen nimmt die Operation
allerdings die Natur eines concentrischen Angriffes an, dessen Characterzeichen
es eben ist, daß ein genau abgezirkeltes Zusammenwirken getrennter
Heerestheile verlangt wird, welches sich eben nicht leicht erreichen läßt, theils
weil unvermuthete Hindernisse den Marsch der einen Abtheilung verzögern,
°der auch besondre Umstände ihn beschleunigen können, theils weil Alles ver¬
hältnißmüßig weit im Voraus genau disponirt sein und auch darauf gerech¬
net werden muß, daß alle Nachrichten, Befehle, Berichte von einem Theil
der Gesammtarmee zum andern zu den bestimmten Zeitmomenten anlangen.
Allenfalls, aber auch nur allenfalls, kann die Sache noch gehen, wenn der
Platz, die Belagerungsarmee, die Observationsarmee und die Entsatzarmce
sich auf dem Raume weniger Tagemarsche und zwar schon von längerer Hand
her dicht zusammengedrängt finden. In unserem Falle ist dies nickt voraus¬
zusetzen, und andererseits ist die Streitmacht, welche wir bei Antwerpen ver¬
einigt annehmen, so groß, daß sie ohne Gefahr sich über Gebühr zu Schwä¬
ren, mit ihrem permanenten Nückzugspunkt, der Festung und dem Lager dicht
Rücken, wiederholt imposante Ausfälle machen kann. Diesen Vortheil
großen Platzes eben gilt es auszubeuten. Man wird ihn sich recht klar
Zacher, wenn man an die Stelle des Platzes Antwerpen sich blos das eng¬
lisch-niederländische Heer im freien Felde denkt, welches nach einer Verlornen
flacht augenblicklich zurückgehen müßte, nicht so bald wieder einen Halte¬
punkt fände und deshalb auch nicht in allerkürzester Frist wieder von Neuem
öftreren könnte. Unmittelbar nachdem der Entsatz vollbracht wäre, d. h.
sobald der Feind Anstalten träfe, die Blokade oder Belagerung aufzuheben,
müßte die verfügbare Streitmacht aus Antwerpen vorbrechen. Sie hätte da¬
bei zweierlei im Auge zu behalten: den Feind nicht zur Ruhe kommen zu lassen,
sein Zurückweichen durch wiederholte Ausfälle zu verzögern, und selbst die Ver¬
bindung mit der preußischen Entsatzarmcc so schnell als möglich herzustellen.
Beides läßt sich sehr gut durch dieselbe Operation erreichen. Die englisch-
niederländische Armee würde nämlich dem Feinde nun ein starkes Detachenient
direcr im Rücken folgen lassen; mit der Hauptmacht aber so manövriren, daß
sie östlich von dem zurückgehenden Feinde zu stehen käme, mit der Intention,
je nach der Haltung, welche der Feind zeigt, sich entweder der preußischen
Armee zu nähern oder, vor dem weichenden Feinde vorbeigehend (Verfolgung
der Russen 1812), sich seiner Spitze seitwärts in den Weg zu legen. Wenn der
zweite von uns erwähnte Fall einträte, daß nämlich die Belgier, statt »us
Antwerpen beim ersten Angriff der Franzose» von der Südgrenze her sich
auf Lüttich zurückzögen, um sofort die Vereinigung mit der preußischen
Armee zu suchen; so könnten die Franzosen ganz gleich operiren, wie es oben
entwickelt worden ist. Doch wäre dies nicht absolut nöthig. Antwerpen hat
nämlich nunmehr eine um Vieles geringere Besatzung als im vorigen Fall;
diese ließe sich von einem viel geringeren französischen Beobachtungscorps im
Schach halten als die frühere, und die Franzosen könnten nun theils darauf,
theils auf den Umstand speculiren. daß die preußische Armee noch nicht völlig
gesammelt und schlagfertig sei, um den Belgiern über die Maas hinaus z»
folgen und so den Krieg unmittelbar an die Rheinlinie zu tragen. Angenom¬
men, die preußische Armee wäre zu dieser Zeit noch nicht in der vollen Stärke
am Rhein versammelt, in welcher sie hier erscheinen soll und kann, so wäre
doch ein offensives Vorgehen derselben zur Aufnahme der Belgier rathsam. Ab¬
gesehen von dem Eindrucke, welchen immer ein unerwartet erscheinender Geg¬
ner hervorzubringen pflegt, wäre es auch gar nicht wahrscheinlich, daß die preu¬
ßische Armee wenigstens einen großen Einzelschlag gegen die Franzosen trotz
ihrer UnVollständigkeit gewänne, weil anzunehmen ist. daß die Franzosen theils
um den Belgiern schnell zu folgen und sie leichter aus dem Lande werfen zu kön¬
nen, theils zur Vorsicht gegen die Nahegegend hin in mehreren ziemlich weit
getrennten Colonnen vorgingen. Außerdem aber könnte selbst eine Schlappe
so wenig sie zum Anfang der Operationen wünschenswert!) ist. den auf In>'es
und Cöln nahe gestützten Preußen mindestens keinen erheblichen materiellen
Schaden bringen. Es ergibt sich aber hier recht deutlich aus den berührte»
Umständen für die Preußen die Nothwendigkeit ihre Armee von vornherein
auf einen Punkt zu concentriren. Denn die Fälle kann sich jeder leicht denken,
in denen es zwar thunlich ist, heute mit 100.000 M.. wenn man sie wirklich
unter der Hand hat. einen Schlag mit Aussicht auf Erfolg zu thun, aber
nicht mehr thunlich in acht Tagen diesen Schlag selbst mit 150,000 M- ^
Wagen. Der Concentrirungspunkt ist und bleibt Cöln. Wir brauchen wol nicht erst
5U sagen, daß wir nicht darunter verstehen, als ob die ganze preußische Armee in
dieser Stadt untergebracht werden sollte; wir haben ja früher schon das Dreieck
Aachen. Düsseldorf, Cöln als Concentrirungsgebiet bezeichnet, und daß man
""f einen Tagemarsch über seine Grenzen, die Eisenbahnen nord- und süd¬
wärts hinaus, so wie rückwärts aufs rechte Rheinufer bis Elberfeld und Sieg¬
burg mit den Cantonnirungen zurückgehen könne, versteht sich von selbst. Wir
sprechen uns nur dagegen aus, daß — nach beliebter Manier — Preußen
B. die ersten hunderttausend Mann Feldtruppen, die es an den Rhein
^lügt, die ganze Linie dieses Stromes entlang von Mainz bis Schenkcn-
schanz vertheile, statt sie auf einem verhältnißmäßig kleinen Gebiete zusammen¬
zuhalten. Falls nun die Preußen und ihre Verbündeten — sofern sie diese
haben — den Feldzug nicht von vornherein mit Glück eröffnen, wird endlich
der Kampf an die Nheinlinie gespielt werden. Die Umstände, unter denen dies
Antreten kann, sind folgende: i.bei dem von uns angenommenen Bundesvcr-
bältniß, nachdem die Franzosen, die alle Angriffe der Preußen an der Maaslinie
abgeschlagen, Antwerpen erobert haben; 2, bei demselben Bundcsver-
hältniß, bevor die Franzosen Antwerpen, welches sie vielmehr nur beobachten,
Robert haben; 3, wenn Preußen gar keine westlichen Bundesgenossen hat.
von vornherein. In allen diesen Fällen wird der Kampf um die Nheinlinie
von Seiten der Preußen eine Vertheidigung dieser Stromlinie sein; in allen
Fällen muß er offensive Elemente in sich aufnehmen, kann dies aber am besten
u>'d unter den günstigsten Verhältnissen in dem zweiten Falle. — Wir wollen
Uns jetzt unter der Voraussetzung des Kampfes um die Nheinlinie die Preußen
diesem Strome aufgestellt denken.
Die Vertheidigung, welche an einen Strom anknüpft, sich auf ihn stützt,
sucht ihre Starke darin, daß sie mit Sicherheit auf jedem der beiden Strom¬
ufer auftreten kann und auf jedem nach Belieben mit ganzer Macht, während
d°r Feind immer zeitweise zu Trennungen seiner Kraft. Theilung derselben
auf beide Ufer gezwungen ist. Inwieweit Festungen dieses Spiel begünstigen,
haben wir schon einmal die Gelegenheit gehabt, in diesen Blättern zu erlau¬
bn. (S. No. 27. Ausblicke auf den Kriegsschauplatz, d.) Was wir eine
^'uppe nennen, das bietet sich allerdings an dem preußischen Rheinstrome
U'ehe dar. Eigentlich preußische Festungen sind längs der Nheinlinie Koblenz,
6bin. Wesel. Von Cöln als Centrum liegt jeder der beiden andern Plätze
Üleichwcit, ungefähr 12 Meilen oder 4 Tagemarsche entfernt. Mainz würde
wahrscheinlich als preußischer Platz behandelt werden können; es ist in gerader
^''"e 18'/. Meilen von Coblenz entfernt. Jülich. Luxemburg (falls dieses.
anzunehmen, in preußischen Händen bliebe). Saarlouis können nur auf
s°hr indirecte Weise für die Rheinverthcidigung mitwirken, indem sie den Feind
zwingen. Abtheilungen zu ihrer Beobachtung und theilweise ihrer Blokade zu¬
rückzulassen, während er an den Rhein vorgeht. Abstrahiren wir von der An¬
griffsrichtung auf Mainz, als zu nahe an der südlichen Demarcationslinie des
niederrheinischen Kriegstheaters gelegen, so können wir noch drei übrigbleibende
französische Angriffslinien nach den drei Festungen Coblenz. Cöln und Wesel
bezeichnen. Die Wahrscheinlichkeit ist dafür, wie dies aus früheren Erörte¬
rungen hervorgeht, daß die Franzosen die Angriffsrichtung auf Cöln nehmen-
Deshalb wird es auch zweckmäßig sein. Cöln zum Hauptconcentrirungspunkt
für die preußische Armee zu wählen. Die meisten würden allerdings, wie wir
glauben. Koblenz vorziehen und zwar aus dem Grunde, weil auf dieses oder
auf seine Nähe die südlichste Angriffsrichtung der Franzosen fällt und weil
bei jeder nördlicheren, welche sie einschlagen, die preußische Armee sich mit der
verhältnißmäßig größte» Leichtigkeit auf ihre Verbindung stützen könnte. I"'
dessen ist dies in unserm Falle von wenig entscheidender Kraft, da das Ge¬
winnen der feindlichen Verbindung hier erst würde in Betrachtung gezogen
werden können, wenn die preußische Armee einige Erfolge auf dem Schlacht¬
felde gewonnen und damit das Stärkeverhältniß zu ihren Gunsten umgewandelt
Hütte. Weit entscheidender ist für uns die vielfache Eisenbahnverbindung, welche
Cöln im Rücken hat. und die Hilfsmittel, welche es dadurch, so wie als große
Stadt für die ausgiebige Verpflegung einer großen Armee, folglich für die
Möglichkeit bietet, diese längere Zeit unbeirrt concentrirt zu halten. Aus diese»
Gründen haben wir auch nie den Vorschlag Willisens begreifen können, welche
für eine rheinpreußische Fcstungsgruppe die Gegend von Trier will. Geleitet
haben ihn dabei die Rücksichten auf die Flankenstellung gegen jede nördlichere
Operationslinie der Franzosen und auf die Confluenz von Saar und Mosel-
welche für die taktische Anordnung allerdings Vortheile bietet. Aber eine
der Hauptbedingungen für das wirksame Spiel einer Festungsgruppe — niam
könnte sie geradezu Vorbedingung nennen, ohne welche nichts erreicht werden
kann. — ist eben die Möglichkeit des Zusammenhaltens großer Massen «uf
geringem Raum, und diese Vorbedingung wird nur durch Reichthum des Ortes
und der Gegend und zahlreiche Communicationen derselben mit den Punkten,
wo die Hilfsquellen der Ernährung liegen, erfüllt. Freilich lag zur Zeit als
Willisen seinen Vorschlag machte, das ganze Eisenbahnsystem noch in den
Windeln und die Rücksichtnahme auf die Eisenbahnen existirte somit kaum M
ihn. Cöln empfiehlt sich uns außer Allem, was wir sonst erwähnten, nun
auch noch dadurch, daß es der mittlere Platz an der preußischen Nheinlinie ist.
Unter diesen Umständen liegt die Frage nicht entfernt, ob man sich "'^
in der Gegend von Köln wenigstens einigermaßen die Vortheile eines Grup-
pensystems verschaffen könne? Diese Frage scheint uns nicht absolut ver¬
neint werden zu müssen. Durch eine Befestigung von Bonn und Siegburg
""t provisorischen Werken z. B. gewinnt man noch zwei Punkte, darunter
einen gesicherten Rheinübergang mehr und die Gruppe, in sich ziemlich gut
^schlössen, rückt nun um einen starken Tagemarsch näher gegen Coblenz heran.
l° daß die Strecke zwischen Cöln und Coblenz. aus welcher der Feind Ueber¬
gänge suchen könnte, zu seinen Ungunsten, wie man sich ausdrücken kann, ver¬
arzt wird. Zur Verstärkung der Gruppe würde es dann nicht wenig beitra¬
gen, wenn man in den Gegenden von Rodenkirchen, Wcßeling und Hersel.
°n den Punkten nämlich, wo der Feind durch Rheinübcrgänge in die Gruppe
einzudringen vorzugsweise suchen würde, provisorische Forts anlegen wollte.
Zunächst am rechten Ufer; dort aber, wo das Terrain und das nothwendige Ueber-
gangsmaterial eine Verbindung mit dem linken Ufer nicht allzuunbequcm ma-
^n, an denselben Punkten auch am linken Ufer. Die Manöver aus und in
^eher Festungsgruppe für die preußische Armee ergeben sich nach dem früher Gesag¬
ten leicht. Die preußische Armee, welche bei Cöln einen unter allen Umständen
sichern Uebergang hat. während den Franzosen ein Uebergang durch die ge¬
nannten provisorischen Werke in der Nähe des Platzes im höchsten Grade er¬
schwert ist. kann zuerst den Beginn eines Ueberganges stören und verzögern
und dann, während die Franzosen in demselben begriffen sind, mit ihrer Haupt¬
macht auf einem oder dem andern Ufer gegen einen Theil der französischen
Hauptmacht bis auf einen Tagemarsch südlich Bonn oder zwei Tagemarsche
südlich Cöln hinauf auftreten. Daß wir auf die Seite südlich Cölns den
Hauptnachdruck legen, ergibt sich für denjenigen, der dem Gange unserer Erör¬
terung mit einiger Aufmerksamkeit gefolgt ist, mit Nothwendigkeit. Möge sich
übrigens der Leser das ganze System der Möglichkeiten bei dem Kampfe um
diese Festungsgruppe in einzelnen Fällen vorstellen, er wird immer finden,
es des höchsten Ungeschickes von Seiten der Preußen bedürfte, wenn sie
sich von den Franzosen schlagen ließen und nicht verständen, hier oder dort
gegen den Feind die Uebermacht zu entfalten. Aber, wenn nun die Franzosen
irgend einem Punkte unterhalb oder oberhalb Cölns und in einigermaßen
Weiter Entfernung von diesem Platze über den Rhein gegangen, sich um Cöln
und die dortstehende preußische Armee gar nicht kümmerten und ruhig an die
Weser marschirten? Nun. dann braucht ihnen der preußische Heerführer nur
einige Tagemürsche zu folgen und ihre einzelnen Colonnen. die Nachhut an¬
zugreifen, er wird jedenfalls hierdurch diesen Vormarsch alsbald zum Stehen
Gingen; und wenn er die nothwendige Energie besitzt, um mit voller Einsicht
Apner nur Cöln oder die Gruppe von Cöln. falls er geschlagen werden sollte,
"is seinen Nückzugspunkt anzusehen, nicht etwa darauf denkt, sich den Rückzug
"Uf Berlin zu salviren. nicht sagt: ich bin umgangen, folglich muß ich zurück.
l°uf die.Weser- und Elblinie nämlich): so unterliegt es nicht dem mindesten
Zweifel, daß die Franzosen von ihrem Marsche an die Weser zurück an den
Rhein müssen und sich dort so lange aufzuhalten gezwungen sind, bis sie das
preußische Heer entschieden, womöglich ein paar Mal, am Rheine geschlagen
haben, welchem Mißgeschick aber, wie gesagt, dieses Heer hier mit einiger
Gewandtheit immer aus dem Wege gehen kann. Wir lieben es nicht, immer
eine Menge neuer Arbeiten zu empfehlen und für nothwendig zu erklären, ">n
diesen oder jenen Terrainabschnitt zu sichern. Aber wir glauben, daß unsere
Leser wol wissen werden, einen Unterschied zu machen zwischen einem Befesti-
gungsvorschlag, der sich auf ein engbegrenztes Terrain, wie die Festungsgruppe
von Cöln, beschränkt, auf ein Terrain überdies, in welchem ein großes Heer
concentrirt werden soll, welches möglicherweise viel Zeit zu warten und dann
auch viel Leute zum Arbeiten hat. und andern Vorschlägen, welche etwa
die Befestigung der ganzen Nheinlinie von Wesel bis zur Schenkenschcwz
oder des Schwarzwaldes und ähnlicher Gegenden umfassen. Diese letztern
Vorschläge stehn dem unseren diametral entgegen: sie führen zu einem Cordon¬
system, der unsere zu einem System, welches der Concentrirung der Streittnistc
die Befestigungen lediglich dienstbar und behilflich macht; jene wollen mit
den todten Streitkräften rechnen; wir lediglich mit den gehörig ausgerüste¬
ten — auch im Ganzen gehörig ausgerüsteten, — lebendigen Streitttäfte»-
Einmal vom Rheine siegreich vertrieben, würde eine preußische Armee, wie
aus unserer Darstellung der Zubereitung des östlichen Theiles vom nieder¬
rheinischen Kriegstheater hervorgeht, wol schwerlich auch nur an der Weser¬
linie Halt machen können. Höchstens fände sie hier einen kleinen Mhehalt
und die Möglichkeit sich zu sammeln, um jetzt den Kampf an die Clblinie
zurückzutragen und dort von Neuem aufzunehmen. Wir sind also um Schluß
unserer Studien gediehen; wir sind überzeugt, daß dieselben, beachtet, nützlich
werden können. Wir haben unsere Ansichten nirgends verklausulirt, obgleich
wir überzeugt sind, daß in nicht zu langer Zeit ihre Nichtigkeit der practische"
Probe unterworfen werden wird trotz der maroccanischen, chinesischen und an¬
dern — übrigens sehr systematischen Diversionen. Wir wissen, daß Ansicht
und Ausführung zweierlei sind, wissen aber auch, daß die gute Ausführung
zur Grundlage die rechte Ansicht hat, ohne welche Alles verkehrt und erfolg¬
Grundriß zurGeschichte der deutschen Dichtung. Aus den Quellen
von Carl Goedeke. 1. Bd. Hannover. Ehlermann. — Wenn wir bei der
Besprechung dieses Wert's nicht so ausführlich sind, als bei Koberstein. so liegt
der Grund nicht darin, daß wir ihm einen geringeren Werth beilegen; im Gegen¬
theil kann man eine häusig gemißbrauchte Redensart mit vollstem Recht dar¬
auf anwenden: es befriedigt ein tief gefühltes Bedürfniß. — Es hat nämlich
unserer Literaturgeschichte bisher an einer soliden bibliographischen Basis gefehlt,
jeder Schriftsteller mußte darin von vorn anfangen, namentlich seit Gervinus
und seine Nachfolger ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Darstellung und
die ästhetische Kritik gewandt und die herkömmliche Form der Begründung
durch Citate beseitigt haben. — Dieser vernachlässigten Seite der Literatur¬
geschichte hat Goedeke ausschließlich seinen Fleiß zugewandt. (Wir sprechen
hier von dem zweiten Abschnitt, seit Gottsched; der erste ist in diesen Blättern
schon angezeigt worden.) — Sein erstes Bestreben war Vollständigkeit der
Bibliographie und Sicherheit jeder Angabe; in letzterer Beziehung ist das Ver-
Zeichniß musterhaft, da er. so weit es irgend möglich, nur nach eigner An¬
schauung der Quellen urtheilt. Was die Vollständigkeit betrifft, so kann mit
einem Wurf natürlich nicht alles geschehen; er sagt selbst nach Seneca: union
tMuc reswt «zM-is, multumqu« rest-i-M; une ulu MÄveluävwr occAsw
'^uiä aälme ac^ieieiM; eine spätere Auslage wird noch manches hinzuzufügen
haben. — Hier sei noch ein Wunsch ausgesprochen. Die erste Aufgabe ist
Natürlich die genaue Angabe sämmtlicher Drucke (bei Gesammtausgaben wo-
'Uögljch auch ein Jnhaltsverzeichniß; bei Dichtern vom ersten Range auch die
einzelnen Gedichte). Dann folgen die Briefsammlungen. Was nun das bio¬
graphische Material betrifft, so kann die Lebensbeschreibung der Einzelnen
'"'ehe vollständig erzählt werden, ohne dem Buch eine andere Tendenz zugeben;
°s genügt eine summarische Uebersicht mit genauer Angabe der Quellen. aus
^nen man sich über das weitere unterrichten kann. Hier wären nun zwei
Wege einzuschlagen: entweder es werden nur diejenigen Schriften angeführt,
welche neues Material enthalten, also die Wissenschaft bereichern; oder, wenn
Verzeichnis) der biographischen Versuche vollständig sein soll, so müssen
fingen, aus welchen nichts zu lernen ist (d. h. in biographischer Beziehung),
^n den andern gesondert werden. - In Bezug auf die ästhetische Kritik
die Angabe der ersten und wichtigsten Recensionen wünschenswert!); ab¬
flute Vollständigkeit würde hier nicht nützen, sondern schaden. - Man er-
^<N'te nach diesen Angaben nicht etwa blos ein zweckmäßig registrirtes Bücher-
Verzeichnis; zu finden: der eigentlich referirende und urtheilende Theil des
Handbuches ist zwar sehr kurz, aber aus dem Vollen geschöpft, er enthält
durchweg die zur Orientirung nothwendigen Gesichtspunkte. — Wir haben
einen Theil des Buchs bisher gar nickt betrachtet, der in der That aus dem¬
selben heraustritt: die Lebensbeschreibungen von Goethe und Schiller. Der
Verfasser hat selber gefühlt, daß sie nicht hineingehören; er hat einen Scparal-
abdruck davon veranstaltet (Goethe und Schiller von K. Goedeke. 2. durch¬
gesehene Auflage. Hannover. Ehlermaun); u.ut bei einer neuen Ausgabe des
Handbuchs wären sie dort in Wegfall zu bringen. An sich betrachtet, gehören
die beiden Lebensbeschreibungen zu dem besten, was in diesem Fach bei uns
geleistet ist: kurz, gedrungen, fast jedes Wort aus den Quellen geschöpft, voll¬
ständig in den Daten, und wo ein Urtheil hervortritt, eindringend und geist¬
voll. Goedekes Werk wird auf den Fortgang unserer Literaturgeschichte sehr
segensreich einwirken; für Jeden, der sich ernsthaft damit beschäftigen will, ist
es ein unentbehrliches Handbuch.
Goethe's Leben von Heinrich Viehoff. Dritte verbesserte und
vielfach bereicherte Auflage in 4 Bd. Mit Goethe's Portrait nach May. —
Stuttgart Becher. — Wenn sich das Werk v.on Lewcs seiner drastischen Dar¬
stellung wegen eine größere Popularität verschafft hat. als seine deutsche"
Concurrenten. so müssen doch alle, die sich eine gründliche Kenntniß verschaffen
wollen, auf Viehoff zurückgehen, da Dünher, dessen sorgfältige Arbeiten in
diesen, Fach gern anerkannt werden sollen, sich bisher auf Vorarbeiten beschränkt
hat. — Eine beiläufige Bemerkung für die Besser des vortrefflichen Werkes
von Düntzcr: Goethes Freunde. Es ist zweckmäßig, an den Seiten die
Jahreszahlen nachzutragen, da Dünlzcr zwar von Monat zu Monat foutgehl,
aber in den meisten Füllen die Jahreszahl vergißt. — In den letzten Bänden
hätte Viehoff noch manches nachtragen können: in eine so ausführliche Bio¬
graphie wie die seinige gehörte doch z. B. eine genauere Auseinander-
sejznng der Beziehungen zu Bettina Brentano und Minna Herzlich, über
welche gegenwärtig schon Material vollauf zu finden ist. In dem Urtheil
über die Werke kann man ihm nicht immer beipflichten; aber das Ganze ist
doch ein sehr gutes, mit Liebe und Gewissenhaftigkeit gearbeitetes Werk, und
darf in keiner Bibliothek fehlen. — ,
Eutiner Skizzen. Zur Cultur- und Literaturgeschichte des achtzehnte»
Jahrhunderts. Von Wilhelm von Bippen. — Weimar, Bostan. — Den
Lebenskreis von Voß und Stolberg, seinen gemüthlichen Inhalt und die all-
mälig sich ergebenden Zerwürfnisse zu sckildern. ist eine sehr dankbare Aufgabe;
der Verfasser hat sorgfältige Studien gemacht und den angemessenen Ton ge-
funden. Leider fehlt seinem Bilde die Ordnung und feste Gruppirung. seu"
Erzählung läuft bunt durch einander, und selbst bei seinen historischen Not>-
M würde man eine größere Genauigkeit wünschen. Dennoch verdient das
Buch von den Freunden unserer guten Literatur gelesen zu werden, weil es den
Eindruck im Ganzen treu und würdig wiedergibt. Namentlich sind die localen
Zustände sehr gut geschildert.
Schillers Leben und Dichtungen. Von August Spieß. — Mit
dem (angeblich von Hetsch nicht von Guibal gemalten) Bildniß Schillers im
2i. Jahre. — Wiesbaden, Kreidcl und niedrer. — Für das größere Lese-
puvlicmn berechnet, mit anziehender Wärme geschrieben, wie das Leben
Goethes von demselben Verfasser. Eine eigentlich literarhistorische Vedeutung
nimmt der Verfasser nicht in Anspruch. Tue Ausstattung ist vortrefflich. —
Schillers Briefwechsel mit Körner, Leipzig. Veit. — Durch die
wohlfeile Ausgabe (4 Bände für 2 Thlr.) wird nun dieses wichtigste Document
für die Würdigung unsers großen Dichters auch dem größern Publicum zu¬
gänglich gemacht. Als Einleitung ist beigegeben „Schillers und Körners
Freundschaftsbund" von H. Marggraf. — Ein nicht unwichtiger Beitrag für
das Studium der Schillerliteratur ist serner das Verzeichniß der zur hundert¬
jährigen Geburtstagsfeier Schillers im Saale der ton. Akademie zu Berlin
aufgestellten Bildnisse, Handschriften, Drucke, Musikalien und Er¬
innerungen (Berlin, Lange). — Einige Schriftstücke von Schillers Hand
Ad aus dem Universitätsarchiv von Jena mitgetheilt als Anhang zu Kuno
Fischer's akademischer Festrede, gehalten in der Collegicnkirche zu Jena.
(Leipzig. Brockhaus.)
Alexander von Humboldt. Ein biographisches Denkmal um
H- Kie ille. Dritte gänzlich umgearbeitete Ausgabe, mit Portrait. — Leipzig
Spamer. — Die neue Ausgabe ist „in einer volksthümlichen Form" umgear¬
beitet und bis auf die Gegenwart fortgeführt. —
Deutsche Dichter und Prosaisten von der Mitte des fünfzehnte»
Jahrhunderts bis auf unsere Zeit, nach ihrem Leben rend Wirken geschildert
von Fr. Paldamus. Zweite Abtheilung. 1. Bd. Mit 16 Portraits und
Facsimiles in Holzschnitt. — Leipzig, Teubner. — Ein vortreffliches Buch,
das als populäre Ergänzung aller gelehrten Literaturgeschichten empfohlen wer¬
den kann. Es enthält, anspruchslos, aber nach den besten Quellen bearbeitet,
die Biographien der bedeutendsten Männer, die ans die Entwicklung unserer
Literatur eingewirkt haben; das Urtheil über ihre Werke drängt sich nicht her-
vor, ist aber durchweg- gesund und verständig. — Der vorliegende Band ent-
hält: Klopstock, Denis, Kretschmann, Gerstenberg, Schubert. Geßner, Wie¬
land. Alxinger. Blumauer. Bürger, Voß, Hölty, Miller, Boje, Stolberg,
Claudius. Götter. Göckingk, Lessing, Moser, Winckelmann, Heyne. -
Christian Oesers Geschichte der deutschen Poesie in Umrissen und
Schilderungen für gebildete Leser. In zweiter Auflage größtentheils neu be-
arbeitet von I. M. Schäfer. — Leipzig, Brandstetter. - Der Herausgeber
— der sich durch seine Biographie Goethes und seine eigne Literaturgeschichte
als tüchtigen Kenner der Literatur bewährt hat — ist nach seiner eignen Aus¬
sage an die Umarbeitung eines Wert's, dessen Grundlage er wissenschaftlich
für verfehlt hielt, während ihm doch gerade seine Form einen zahlreichen Leser¬
kreis verschafft, mit einigem Bedenken gegangen; er hat sich geschickt genug
aus der Sache gezogen, und für diejenigen, denen es auf ein tieferes Eingch»
nicht ankommt, ein recht lesbares Buch zu Stande gebracht. —
Goethes lyrische Gedichte. Für gebildete Leser erläutert von H. Dün-
her. Elberfeld, Friderichs. — Für diejenigen, denen der allgemeine Eindruck
der poetischen Stimmung nicht genügt, bedürfen Goethes Gedichte allerdings
eines Commentars. Sie sind fast durchweg aus besondern Gelegenheiten
entsprungen, und diese Beziehung, die doch zum völligen Verständniß gehört,
ist vom Dichter sorgfältig verwischt. Bei jedem Gedicht die Zeit der Ent¬
stehung und die Veranlassung auszumitteln ist ein dankenswerthes Geschäft-
Düntzer ist gerade durch seine minutiösen Studien dazu im hohen Grade ge¬
eignet, und wir nehmen auch die breite Darstellung von Dingen, die Jeder
selbst finden kann, ohne welche es einmal bei ihm nicht abgeht, gern mit in
Kauf: nur eins haben wir an ihm auszusetzen, daß er seine Behauptungen
so oft ohne Beweis hinstellt. Dahin gehört z. B. gleich Alles, was er über
die „Zueignung" sagt. Wir zweifeln nicht daran, daß er für seine Ansicht
vollwichtige Gründe hat, aber diese müssen angegeben werden, sonst wird im¬
mer der einen Behauptung die andere entgegengestellt. — Dahin gehören auch du-'
Erläuterungen zu den deutschen Classikern (Wenigen^Jena, HochhaU'
sen): erste Abtheilung, Goethe, von Düntzer, dritte Abtheilung, Schiller
von Eckardt. Der letztere geht in seinem Enthusiasmus für Alles, was
Schiller geschrieben hat, auch das Mittelmäßigste, noch weiter als Palleskc»
seine Nachweise sind zuweilen sehr dankenswert!). Ueber die Art der Düntzer-
schen Commentare ist schon früher gesprochen. —
Die dramatische Frage der Gegenwart. Mit Bezugnahme aus
die Lewes'sehe Kritik der Dramen Goethes. Von Karl Blitz. Potsdam,
Riegel. — Eine geistvolle kleine Schrift, äußerst lebendig und tiefer in den
Gegenstand eindringend, als manches Buch, das sich mit philosophischen Fi^'
kein ausputzt. Schade, daß der Gedankengang noch zu chaotisch ist. —
Mag man von dem Höhepunkt, welchen die bildende Kunst in unserm Jahr¬
hundert erstiegen hat, denken wie man will, gewiß ist, daß die Erzeugnisse
^'s vorigen Jahrhunderts mit denen des unsrigen sich in keiner Hinsicht mes¬
se" können. Selbst das Aeußerlichste, die Technik, welche jeder sinkenden
Kunst noch am längsten treu bleibt, ja, nicht selten ihre höchste Ausbildung
erst dann erreicht, wenn es bereits bergab geht, hat wenigstens bei den klei-
"erer Meistern unsrer Tage eine Vollkommenheit gewonnen, wie sie die vor¬
hergehende Periode nicht kannte.
Wer kann, um von den allgemein zugestandenen Vorzügen der Zeichnung
und Komposition der bildenden Künstler unsrer Tage im Verhältniß zu denen
des vorigen Jahrhunderts zu schweigen, die Maler der Düsseldorfer Schule
der Vernachlässigung des Kolorits zeihen? Wer nicht in die gleißnerische Glätte
belgisch-französischer Pinselführung vernarrt ist, gewiß nicht! Den Düsscl-
dvrfern stehen hierin, so weit sie in andern Dingen dieselben noch übertreffen,
die heutigen Landschaftsmaler Münchens kaum nach.
Was thut es nun, daß die Färbung unsres Altmeisters Cornelius uns ab¬
stößt und die seines großen Schülers Kaulbach uns wenigstens nicht anzieht?
wissen wir doch Alle' daß dafür bei dem ersteren der Born der Erfindungs¬
gabe unerschöpflich fließt und daß der Witz und Geist des letztern uns für
d>e Vernachlässigung des Pinsels hinlänglich entschädigen. War doch selbst
^nplmcl eben nichts weniger als ein glücklicher Kolorist und hat Michel-Angelos
Geißel bekanntlich so manchen Marmorblock verdorben, der, unter zahmeren
"ud geübteren Händen vollendet, uns doch um kein Haar mehr erfreut haben
^urbe, als seine unvollendete Madonna und seine Pieta.
So sehr wir überdies; Ursache haben den Mangel in technischer Hinsicht
^i manchen Künstlern unsrer Tage zuzugestehen, so vergesse man doch nicht,
daß wir auch Meister besitzen, die selbst darin Unübertreffliches leisteten. Ein
^"k wie Nosenseiders Uebergabe der Marienburg gehört nicht nur in Kom¬
position und Zeichnung, sondern auch in der Ausführung zu dem Bedeutend¬
en, was je geschaffen worden ist; ja, letztere dürste für ein historisches Bild
vielleicht schon zu vollendet, d. h. zu glatt für die Würde des Gegenstandes
>°in. Was Piloty in München in der Farbe vermag, darf ich als bekannt
^'aussetzen.
Wer kann ferner gegen Rauchs und seiner bedeutenderen Schüler Meißel-
führung irgend begründete Einwendungen erheben, wenn er auch nut Recht
^ älteren Werke der Münchner noch einer gewissen Schwerfälligkeit zeihen darf?
Fassen wir in wenigen Worten zusammen, was wir so eben im Einzelnen
erörtert haben, so müssen wir hageln Die Maler- und Bildnerkunst unsrer
Tage hat in dem höchsten ihrer Aufgabe, in Komposition, Zeichnung und
Naturwahrheit des Ausdrucks einen ungeahnt raschen Aufschwung genommen,
in dem Beiwerk hat sie noch vieles zu erreichen. Mag sie es thun, ohne den
höheren Vorwurf der Kunst deshalb aus dem Auge zu verlieren. Was man
ihr von Realismus und Idealismus der Auffassung vorredet, werfe sie, wie
unsre Zeit die philosophische Phrase überhaupt, bei Seite und für das bloße
Wort, suche sie nach den, Begriff und dem Wesen.
Weniger günstig dürste unser Urtheil über die Baukunst und die Bau¬
künstler ausfallen. Der Architektur klebt ihrem Wesen nach etwas Bodcnschwcre
an. Mit der Masse und durch die Masse selbst muß sie wirken. Hat sich die
Materie für den Maler zum bloßen Schein verflüchtigt und ist für den Bild¬
ner einzig und allein die Oberfläche derselben noch von Bedeutung; so kann
der Baumeister dagegen das Material mit allen seinen Forderungen nie los¬
werden. Die Linie, die Oberfläche macht ihm nicht weniger Sorge, als das
Gewicht der Massen; selbst die Farbe darf er nicht gänzlich aus dem Auge ver¬
lieren. Allem zusammen muß er genügen. Trägt er nur Einem oder dein
Andern Rechnung, so ist sein Werk trotz einzelner Schönheiten unvollendet
und unvollkommen.
Der Maler und der Bildhauer schaffen sich einen subjektiven Stil, wenn ihre
Zeit, wie die unsrige. Ursache hat über objektiven Stilmangel zu klagen; acht
so der Architekt. Er muß den Gedanken seiner Zeit veranschaulichen, sonst
versteht ihn Niemand. Die Baukunst bedarf daher Jahrhunderte langer Vor¬
arbeit, ehe sie fähig ist, sich irgend einer Stilvollkommenheit zu rühmen.
Aus dem willkürlichen Machwerk der Zopfzeit konnte der neuere Künstler
nicht fortbauen. Daher griff der eine Theil der Architekten, wie Schinkel und
Klenze, vorzugsweise nach den Formen des Altherthums, der eine mit. der
andre ohne Glück und Geist. Schinkels Bauten werden jedem nachkommen¬
den Geschlecht, es mag einschlagen welche Bahn es will, Achtung abgewinnen.
An Klenzes Bauten wird die Zukunft nur den guten Willen anzuerkennen
haben.
, Andere Künstler wiederum glaubten in der älteren christlichen Kunst den
Ausgangspunkt gefunden zu haben. Sie bauten daher im Rundbogenstile-
Wie Ziebland griffen sie nach der ältesten christlichen Bauweise oder ginge"
wie Gärtner von den späteren italienischen Formen dieses Stils aus, oder
vertieften sich wie Haase in die deutschmittelalterlichen Gestaltungen desselben-
¬
Die Uebrigen wandten sich lieber unmittelbar dem Höhepunkt der christ
lichen Baukunst, dein gothischen Stil, zu. Schon Schinkel that, voran wie
immer, den ersten Schritt, wenn auch dießmal mit entschiedenem Unglück-
Das Vollendetste der Art leistete Ohlmüller im Bau der Aukirche in München.
Andere wie Zwirner wandten all ihren Fleiß, all ihre Kraft auf die Restau¬
ration unsrer gothischen Dome. Der Bau der Nicolaikirche in Hamburg,
der Votivkirche in Wien und andere der Art werden kommenden Geschlechtern
verkünden, daß unsrer Baukunst die nothwendigen Voraussetzungen, nicht die
Kraft und der gute Wille mangelten, um Neues und Originelles zu schaffen.
Jedenfalls wird man zugestehen müssen, daß von allen bedeutenderen
Architekten eine liebevolle Vertiefung in die Werke der Altvorderen angestrebt
wurde, und daß man in allen Stilen der Vergangenheit mit mehr oder we¬
niger Glück in unsren Tagen gebaut hat. Man wird ferner einräumen, daß
w Folge davon wenigstens die leidige Stilmengcrei nach und nach beseitigt
worden ist, und daß man. da man den gegebenen Voraussetzungen nach nicht
über den Eklekticismus hinauskommen konnte, bei den meisten Bauten
den Stil wenigstens mit Verstand und Geschmack nach der Bestimmung des
Gebäudes und seiner Umgebung gewählt hat.
Das Verdienst der vervielfältigenden Künste, die ich passender vielleicht
Kleins hinter der Malerei hätte erwähnen können, beruht in unsern Tagen dar-
daß sie auf das Wesentliche ihrer Bestimmung, auf die Zeichnung, den
Hauptnachdruck legten und daher freiwillig auf die malerische Wirkung, die
Wit Ausnahme der schwarzen Kunst und des Steindruckes ihnen versagt bleibt,
verzichteten.
So weit, denke ich kann unser Urtheil in der Anerkennung der Leistungen
unsrer Tage gehen, ohne sich einer Lobhudelei und thörichten Selbstverblendung
schuldig zu machen und ohne befürchten zu müssen, die Nachwelt werde Ur¬
sache haben, auf den vermeintlichen Höhepunkt der Kunstbestrebuugen unsrer
Tage stolz herabzublicken.
Geben wir uns Rechenschaft darüber, wie wir zu diesen immerhin glän¬
zenden Resultaten gelangt sind, so könnte bei dem ersten flüchtigen Ueberblick
uns leicht der Gedanke aufkommen: die bildende Kunst unsrer Tage sei kein Pro¬
dukt nationaler Begeisterung und Theilnahme, sei nicht aus dem Volke selbst
hervorgegangen, sondern nur in der Fürsten Gunst groß gewachsen, sei eine
künstliche Treibhauspflanze, eine Modesache, die man bei der Neugestaltung der
Dinge füglich werde bei Seite legen können. Dem ist nicht so! Für die künftige
Entwicklung der Kunst in unsern Gauen kann dieser Umstand nicht ganz gleichgültig
s^n. da die Kunst nicht wie die Wissenschaft im stillen Kämmerlein des Gelehrten
Leiden kann, sondern auf die öffentliche Gunst, die Unterstützung des Staates
'u ihren Hauptzweigen. den monumentalen Denkmälern, angewiesen ist.
Lange ehe der deutschen Kunst Fürstengunst lächelte, hatten Carstens,
6°es. Wächter. Schick und Andere das Banner der Neuzeit erhoben und die
Fahne der Revolution gegenüber dem Zopf der Akademien des vorigen Jahr-
Hunderts aufgepflanzt. Größtentheils fern von ihrem Vaterlande haben dick
Männer ohne nationale Unterstützung für individuelle lebensvolle Auffassung.
Naturwahrheit in der Zeichnung, für wahre Begeisterung und den innern
Gehalt ihrer Kunstschöpfungen gerungen, gelitten und gelebt. Wie immer
folgte die Masse mit ihrem Enthusiasmus den Edelsten der Nation erst später.
Nach dem Fall jener Vorkämpfer traten neue Kräfte in die Schranken und liefen den
Meistern daheim aus der Schule, um im Kampf des Lebens ihre Kraft zu stählen.
Vor dem Ausbruch der Freiheitskriege wirkten bereits Cornelius und
Overbeck in Rom, uoch während derselben oder unmittelbar nach ihrer Been¬
digung schlössen sich Veit, die beiden Schadow. Schmorr. Eberhard! u. ">
an. Was den Vorgängern versagt blieb, errangen sich diese jugend¬
frischem Geister. Anerkennung, und zwar im Auslande, grade in dem
Lande, das Deutschland, des deutschen Einflusses im Mittelalter gänzlich unein-
gedenk, in Kunstangelcgenheitcu stets über die Achseln anzusehen gewohnt
war. Man übersehe doch ja nicht, daß die Fresken in der Casa Bartholdi.
im Jahre 1816 begonnen, den Ruf deutscher Kunst schon weithin trugen, ehe
der damalige Kronprinz von Neuern. Ludwig, nach Rom kam. und daß die
Schöpfer derselben im Jahr 1819 bereits im Stande waren, dem deutsche»
Fürstcnsohn in der Villa Schultheis ein immerhin denkwürdiges und glän¬
zendes Abschiedsfcst zu veranstalten. König Ludwig gebührt nun das Verdienst-
der deutschen Kunst im Vaterlands eine bleibende Stätte bereitet zu haben.
Ganz unabhängig von ihm entwickelte sich in Preußen Schinkel. der
größte Architekt der Neuzeit, bekanntlich mehr durch Friedrich Wilhelm des
Dritten Sparsamkeit in seinen Plänen gehemmt, als durch seine Zuneigung
gefördert. Auch Rauch kann gewiß Niemand als Künstler eine Abhängigkeit
vom preußischen Hofe nachsagen. Freie Wahl trieb ihn in seiner mehr de¬
müthigenden als erhebenden Stellung daselbst, das Bild der unvergeßliche"
und allgeliebten Königin Luise durch seinen Meißel zu verherrlichen. Später
hat ihn vorzugsweise die Darstellung der Männer, auf welche jeder Deutsche
mit Stolz und gehobenem Herzen zurücksieht, beschäftigt. Die Statuen von
Blücher. Scharnhorst. Gneisenau. York. Friedrich dem Großen sind aus seiner
Werkstatt hervorgegangen. Seine Thätigkeit war somit eine echt nationale
und seine Kunst nichts weniger als eine höfische.
Wozu soll ich ferner erst auf die nllmälige Entfaltung der Düsseldorfer
Malerschule hinweisen? Der eine Theil ihrer Schüler hat sich ganz unabhängig
vom Staat und Hof in den Dienst der katholischen Kirche begeben, der
andre Theil derselben wandte sich vertrauensvoll an den begüterten Theil der
Nation. Die Nachwelt wird ihre Erzeugnisse daher nicht in den Galle¬
rten der Höfe zu suchen haben. Weit umher siud sie in kleineren Kirche"'
in den Sälen und den Zimmern vorzüglich reicher Kaufleute verstreut-
Nicht einmal der Adel seit Ursache sich der Förderung dieser Künstler zu rühmen.
Den Hauptabsatz der düsseldorfer Erzeugnisse haben die Kunstausstellungen
^ Wege gebracht, die als Mittel, die Schätze der Kunst auch den weniger
begüterten zugänglich zu mache« und den, Künstler Kunden und Ruf zu er¬
zielen, vor der Hand bleiben müssey wie sie sind. Daß der kleinere Künstler
dadurch am meisten gefordert wird, ist gut; deun ohne sie wird es keine großen
geben. Ich konnte endlich, um zu beweisen, daß die neuere deutsche Kunst nichts
weniger als eine Hofkunst ist, wie die Menge noch immer glaubt, die Namen
einzelner bedeutender durch alle Gaue unsres Vaterlandes verstreuter Künstler
«»führen; ich unterlasse es, indem ich nur uoch bitte, jener bescheidenen Na¬
turen wie Richter*) hierbei nicht ganz zu vergessen, die so recht eigenlich für
die Schichten des Volkes durch ihre reizenden, Groß und Klein erfreuenden
Illustrationen gewirkt haben. Wer einmal so recht herzlich über die Zeich¬
nungen der fliegenden Blätter oder der düsseldorfer Monatshefte gelackt hat,
der denke in Zukunft daran, daß sie größtentheils von Leuten um des Lebens
Nahrung und Nothdurft entworfen sind, die am Beginn ihrer künstlerischen
Laufbahn stehen, meist ohne Aussicht, in Zukunft je mehr zu verdienen als
sie gerade brauchen, ohne Aussicht auf Ruf und Erfolg.
Unsere Leser könnten leicht auf den Gedanken kommen, es sei unsre Ab¬
sicht, den beiden Fürsten, denen vorzüglich der Ruhm gebührt, bisher deutsche
Kunst gefördert zu haben, König Ludwig von Baiern und Friedrich Wilhelm
dem Vierten, den wohlverdienten Ruf zu schmälern. Das sei fern von uns!
Was sie aus eignen Mitteln für die Kunst gethan haben, gebührt thuen auch
"klein; was sie aber aus Staatsmitteln bewilligt haben, davon müssen sie
billig ein Theil dem deutschen Volke abtreten, in dessen Geist und Sinn sie
handelten. Bleibt ihnen doch unverkümmert der Nuhm. nicht nur zwei
Kunstgönner, sondern auch zwei Kunstkenner gewesen zu sein; auch waren
sie die echten Kinder der Zeit, welcher sie entsprossen waren, die beiden letzten
sachlichen Romantiker des achtzehnten Jahrhunderts, wenn diese Bezeichnung
^stattet ist. Es war in ihnen ganz derselbe Geist thätig, der sich in Schrift¬
stellern wie Tieck, Schlegel, Novalis, Wackenroder wirksam zeigte, der in Malern
^le Cornelius. Overbeck. Veit und Schadow sich geltend machte, ein Geist,
bei bedeutenden Naturen die angeborne Kraft nicht unterdrücken konnte,
dn kleinlich angelegten, bei dem Durchschnittsschlag der Menschen, in Ver¬
götterung der Vergangenheit. Verkennung der Gegenwart und ihres Berufes.
starrsinnige Gcdankensrömmclci und äußerliche Prüderie ausartete, Fehler, die
in den bis jetzt geschaffenen Werken der Kunst sich leicht nachweisen lassen.
Wer mag es leugnen, dieser Geist ist vorübergegangen, diese Zeit ab¬
gelaufen! Durch das Fege- und Läuterungsfcuer der vierziger Jahre sind wir.
ist unser Leben und unsre Kraft hindurchgegangen. Viele Schlacken haben sich
seitdem abgesondert, ein neuer Geist beseelt die Nation und theilweise auch
ihre Lenker. Will die Kunst nicht zurückbleiben, wird sie streben müssen, diesen
Geist in sich walten und gestalten zu lassen.
Versuchen wir diesem Geist, so weit es vor der Hand überhaupt möglich
ist, Worte zu leihen und ihm nachspürend in leichten Umrissen die Nahn
vorzuzeichnen. welche die Kunst in nächster Zeit etwa einzuschlagen haben
wird. Offenbar wird diese Umwandlung sich zunächst wieder in einer größern
Vorliebe für die deutsche Nationalität documentiren. Man wird vom Künstle
dringender als je die Behandlung vaterländischer Stoffe in der monumentalen
Kunst verlangen. Soll ihm die größere Aufgabe werden, muß er in der klei¬
neren selbstgewählten vorher darthun, was sich von ihm im Dienste der
Öffentlichkeit erwarten läßt.
Mag der Historienmaler daher häusiger, als es bisher leider der Fall
war, in das Gesammtgebiet deutscher Vorzeit hineingreifen oder seinen Bor-
wurs dem Geschichtsgebicte der neueren Staaten entlehnen, wozu sein
und die Verhältnisse ihn drängen mögen. Der Genremaler soll dem Leben
und Treiben in der Heimat nachgehen, statt dem Volk unverständliche Scenen
ferner Länder vorzuführen, die er selbst in sich nur nach den Werken Anders
reproducirt. Die klobigen Naturen niederländischer Kleinmalerei oder die bun¬
ten Flicken italienischer Lazaronis sind, beim rechten Lichte besehen, um kew
Haar malerischer als die Scenen des heimischen Heerdes. an denen unse>e
Künstler mit wenigen Ausnahmen stolz vorübergegangen sind.
Der Bildhauer wird vor allem der Portraitstatue seine Aufmerksamkeit ZU
widmen haben, weil sie am meisten geeignet sein wird, die Sympathie de
Mitwelt auf sich zu lenken und den Künstler in das Leben und die Eigen'
heilen seiner Umgebung einzuführen. Schwieriger wird in diesem Kunstzwe'g
die Aufgabe des Idealisten sein; jedenfalls wird er in seinem Gebiet wehr
erstreben müssen als eine bloße Wiedergeburt der Antike mit Haut und Haar-
Ich meine, des früh verstorbenen Schadows Werke dürften ihm den richtige"
Weg weisen.
Dem Maler und Bildhauer wird auch der Baumeister sich anzuschließe
haben. Die deutsche Baukunst wird man auch von ihm verlangen.
er nun den germanischen Rundbogenstil in Anwendung bringen oder dem i^'
thischen Spitzbogenstil, seiner unmittelbaren Fortsetzung, als dem vollendeten'
den Vorzug geben. Am meisten wird er sich vor dem willkürlichen Flictwer
der Renaissance und den kecken Bauten der Zopfzeit zu hüten haben, die jeder
nationalen Grundlage entbehren. Verlangt die Zeit keine Kirchenbauten von
ihm. so wende er alle Sorgfalt auf die Profanbauten, die jeder Zeit, wo
i°ne zu sinken begannen, die Oberhand gewonnen haben. Hoffentlich ist unser
Leben von einem wahrhaft kirchlichen Geist noch tief genug durchdrungen, um
diese Voraussetzung und Befürchtung zu Nichte zu machen! Ein Volk ohne
Gottesdienst geräth in Herrendienst.
Mit dem Stoff und dem Stil wird auch ein Wechsel in der Technik
Hand in Hand gehen. — Wenn der Künstler, was wir wünschen, aufhört
blos für den Gebildeten, den speziellen Kunstfreund, zu arbeiten, wird er dar¬
nach ringen müssen, auch den kleineren Anforderungen des Volkes, das keine
Voraussetzungen kennt, und dein ungebildeten Auge Genüge zu leisten. Wo¬
nach sicht dieses Auge zunächst? Nach der Technik! Die größtmögliche
Annäherung an die Natur dünkt ihm. so falsch es ist, das Höchste in der
Kunst. Der Künstler hat kein Recht, ihm das. was es in Wahrheit ist.
das niedrigste derselben, zu versagen, wenn er das Höchste zu leisten sich
berufen fühlt. Am meisten wird dieser Anforderung der kleinere Künstler, der
s'es dem Genre, dem Fruchtstück, dem Stillleben, dem Portrait zuwendet, nach¬
zukommen haben. Wer in dem Kleinsten groß zu sein sich bemüht, wird am
weisem zu einem möglichst engen Anschluß an die Natur gedrängt werden,
wenn er auf Beifall. Erfolg und Abnahme Anwartschaft haben will.
Auch zu einer verhältnißmäßig billigeren Herstellung seiner Schöpfungen
wird sich der Künstler verstehen müssen. Das Ucbermalen und wieder Ueber¬
walen. d«K ohne dies selten zu mehr als akademischer Schulgerechtigkeit und
abstoßender Kälte führt, wird selbstverständlich möglichst zu vermeiden sein.
Schon von früh an wird der Künstler nach einer seiner Individualität ent¬
sprechenden Malweise zu streben haben, die sür das Aeußere nicht mehr Zeit
'n Anspruch nimmt, als sür den Gehalt, den Gedanken seiner Schöpfung er¬
forderlich ist. Die Derbheit und Kühnheit der Ausführung, in welche die
Niederländer um deßwillen geriethen. wird der deutsche Künstler in dieser
Hinsicht weniger zu fürchten haben, als die Verblasenheit und Weichlichkeit,
in welche die italienischen Schncllmaler verfielen.
Man sieht. Gefahr droht von allen Seiten bei den materiellen Anforde¬
rungen der Neuzeit, und der Künstler wird um so sorgsamer darauf zu achten
haben, ihr zu entgehen. Am sichersten wird es ihm gelingen, wenn er ihnen
'^der starrsinnig zu trotzen versucht, noch auch weichlich und ohne Besonnen¬
st sich ihnen hingibt. Bei dem Bildner wird die richtige Verwendung der
Schüler und bei dem Baumeister die reifliche Ueberlegung bei der Wahl des
Materials und der Localität zur Verringerung des Kostenpreiscs beitragen.
Am gefährlichsten dürste die herannahende Zeit den armseligen Naturen
werden, die sich der bloßen Heiligenmalerei und der Kirche in die Arme ge-
worfen haben, weil sie den Anforderungen derselben noch am ehesten genügen
zu können vermeinten. Tausende von Madonnen sind gemalt worden, sie
haben daher um so mehr Hoffnung, mit Hilfe jeuer noch eine oder die andere
zu Stande zu bringen. Geistreicher Motive bedarf es hier ja am wenigsten;
denn selig sind die geistig arm sind, sagt die Kirche, und was der Maler nicht
auszudrücken vermag durch seine Kunst, das interpretiren dem Gläubigen die
Symbole, die er täglich sieht und deshalb zur Noth uoch versteht; wir Un¬
gläubigen mögen zu dem Behuf dem Künstler zu Liebe Ikonographie treiben.
Schlimm genug, daß bedeutende Männer wie Overbeck. Heß, Schraudolvb
den Neigen dieser armseligen fanatischen Seelen anzuführen sich nicht ent¬
blödet haben. Bilder und Künstler der Art kann das Zeitalter des Verstandes
nicht weiter brauchen, so sehr es die Werke der Borzeit, welche diese Type"
schuf, nicht nachäffte, wie unsre Nazarener thu», zu schützen wissen wird.
Man befürchte deshalb nicht, daß die religiöse Malerei untergehen muß-
Was die heutige Kirche braucht, kann auch der heutige Künstler noch liefern;
nur soll er im Geiste der Neuzeit schaffen. Nur wo er restaurirt, soll und
muß er sich bemühen, in den Geist der Vorzeit sich zu vertiefen.
Der religiöse Geist der Neuzeit legt das Hauptgewicht auf das Wort und
die Erbauung durch das Wort; das unbestimmte religiöse Gefühl des Mittel-
alters ist ihm fremd geworden. Die religiöse Malerei der Neuzeit wird daher
etwa auf die Principien der altchristlichen zurückzugehen haben, die das Bild
zum Zweck der Belehrung, nicht zum Behuf der Anbetung in die Kirche auf¬
nahm, d. h. sie wird wieder Handlung und Verständniß in die Kirchenmalerei
zu bringen, die hergebrachten Stellungen, die Symbolik, die architektonische
Anordnung, zu entfernen haben. Die Archäologie und die Geschichte der Ma¬
lerei, nicht die Malerei selbst, hat die Pflicht den historischen Werth dieser
Dinge zu erforschen und zu erhalten. Die ganze biblische Geschichte, die Legcnden-
geschichte mit ihren sinnreichen Erfindungen, die Reformationsgeschichte der
einzelnen christlichen Bekenntnisse bieten dem Maler unserer Tage reichen und
dankbaren Stoff, durch dessen Bearbeitung er auch das Auge der s. g- Un¬
gläubigen noch fesseln und das Herz dieser verlorenen Seelen noch erbauen kann.
Ein Gebiet, das wir bis jetzt gänzlich übergangen haben, und dem eine
große Zukunft noch bevorsteht, ist die Dekorationsmalerei und DekorationZ-
stulptur. Beide befinden sich bis jetzt in einer wahrhaft unglaublichen Ro¬
heit und Vernachlässigung. Leer und kahl gähnen uns theilweise wenigstens
deshalb die Znmnerwände selbst der reicheren Leute entgegen. Das war in
Zeiten einer wahren Kunstblüthe anders. Man durchwandre die Zimmer und
BerathungMIe unsrer Vorfahren im Mittelalter oder versetze sich im Aelst
in die Ruinen Pompejis. Welche künstlerische Pracht hier in den Wohnstätten
einer kleinen Provinzialstadt! Wie muß es in Rom in dieser Hinsicht ausge¬
ben haben! Welcher Handwerker ist im Stande heutigen Tages das zu lei¬
sten, was hier Sklavenhände geschaffen haben; welcher Künstler würde sich'
d"zu verstehen, so Etwas auszuführen und um welchen Preis! Hier ist eine
Kluft auszufüllen. Ich sollte meinen, es wäre ehrenvoller sür.den. welchen
wahre Liebe zur Sache beseelt, in der Arbeitsjacke sein Brod redlich und reich-
uch zu verdienen und dadurch den Kunstgeschmack verbessern zu helfen, als
un abgeschabten Sammtrock im thörichten Künstlerwahn vor der Staffelei zu
verhungern. Man fange nur erst an und wage es; die öffentliche Meinung
wird, wenn man Besseres leistet, bald sich ändern und die Nachfrage folgen,
^alt wird der geschmacklose Rokokoplunder verschwinden, der unsre Stu¬
benwände verstellt und entstellt, sobald nur Hände da sind, die Zierlicheres
Und Sinnreicheres zu leisten im Stande sind.
Noch schlechter als mit der Zimmermalerei ist es mit der Skulptur bestellt;
wie sie zur Zeit in den Händen der Stukaturarbeiter ist. ist sie vollkommen
unbrauchbar. Nur wenn uns die zeichnende Kunst wieder von allen Seiten
umgiebt, kann sich das moderne Auge wieder daran gewöhnen, kahle Flächen
überhaupt zu hassen und außer der Farbe auch die Form wieder zu lieben, zu
achten. Der sinnreiche Grieche und Römer verzierte Alles, was er im Besitze
hatte, figürlich und verzierte es passend und geschmackvoll. Die Darstellung
stand mit dem Zweck des Gegenstandes selbst in einer geistigen Verbindung,
^icht anders verfuhr man in der Blüthezeit des Mittelalters. Wie armselig
und dürftig nehmen sich dagegen unsre Hausgerüthe im Verhältniß zu denen
jener Zeiten aus!
So lange dieser Mangel moderner Anschauungsweise nicht beseitigt ist,
kann von einer wahren und volksthümlichen Kunst auch keine Rede sein,
^cum unsre Kunst auch gerade keine Hofkunst ist, wie wir uns überzeugt ha-"
ben. so ist sie bis zur Zeit wenigstens doch nur eine Kunst der höher Gebildeten,
^ne aristokratische Kunst gewesen. Der Beruf aber jeder wahren Kunst ist,
Volkskunst im weitesten Sinne des Wortes zu sein.
Soll die Kunst unsrer Zeit diesen Beruf erfüllen, so muß ein Entgegen¬
kommen von zwei Seiten stattfinden. Der Künstler muß sich dem Handwerker,
"us dem er hervorgegangen ist, der Handwerker dem Künstler wieder annähern,
^'e Hauptausgabe der folgenden Periode wird es sein, diesen Uebergang vor¬
zubereiten, eine Verbindung herbeizuführen, ohne eine Vermischung, die beiden
heilen gleich verderblich sein würde, zu Wege zu bringen.
Mag Jeder in seinem Kreise darnach streben. Die Regierungen mögen
Kunst von Staatswegen im Namen, auf Kosten und mit Bewilligung der
Kationen und ihrer Vertreter fördern; sie mögen sich aber hüten, die Kunst hof-
^sig und dadurch hoffärtig zu machen. Der moderne Künstler lege den mo-
dernen Künstlerwahn ab, der sich nur in Äußerlichkeiten gefällt und doku-
mentirt. Er erkenne, daß er den Gegenstand und das Material, in dem er
Arbeitet, adelt, daß hingegen kein Material der Welt, sei es so gering es
wolle, im Stande ist, den ihm innewohnenden Adel zu rauben. Er lerne früh
prüfen, ob er zu höheren Schöpfungen berufen, ist, ob er Künstler im höheren
und wahren Sinn sein kann. Hat er sich vom Gegentheil überzeugt, trete
er zeitig genug in die Reihen des Kunsthandwerks über, wo er Meister sein
kann, während er dort nur Pfuscher sein und bleiben wird.
Der Handwerker dagegen ringe nach oben und suche Künstler zu werden,
wenn er die Kraft dazu in sich spürt; nicht selten hat die Kunst aus dem
Handwerk rüstige Vertreter gewonnen. Das Genie braucht keine Negel; es
findet seinen Weg in allen Schichten der Bevölkerung. Es ringt sich hindurch!
und mögen die Zeiten wechseln, wie sie wollen, es wird Herr seiner Zeit.
Der so lange angezweifelte europäische Kongreß tritt nun endlich doch in»
Leben. Was man freilich auf demselben vornehmen, welche Form der Einigung
man suchen wird, ob eine Abstimmung nach der Mehrheit der einzelnen dabei
betheiligten Staaten, oder was sonst, das alles liegt noch sehr im Dunkeln-
Indessen scheint die neuste Wendung der Dinge doch im Ganzen zu Gunsten der
Italiener zu fein. Seit dem definitiven Abschluß des Friedens von Zürich hat D
offenbar der Kaiser Napoleon den Engländern wieder genähert; und da diese die
unabhängige Constituirung Italiens nach den Wünschen der Bevölkerung immer
aufs lebhafteste befürwortet haben, so scheint es, daß auch der Kaiser von Frank¬
reich wenigstens keinen principiellen Widerstand leisten wird. Auch mit Picniont
scheint ein besseres Verhältniß eingetreten zu sein, und wenn König Victor Emanuel
durch die vorläufige Entfernung Garibaldis ein Opfer gebracht hat, so muß auch
diese Thatsache von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden. Vor einem halben
Jahr war alle Welt einig, der Politik des Königs Unrecht zu geben, wenigstens M
Deutschland; und als die Stimmung nach Abschluß des Waffenstillstands sich
mälig wandte, suchte, man dadurch an die alten Ideen anzuknüpfen, daß »in»
von der allgemeinen Verurtheilung der Italiener einen Einzelnen ausnahm, der
ohne alle egoistische Scitengcdanken es mit dem Vaterlande wohl meine, Garibaldl-
Auch wir halten große Stücke auf diesen Mann, wie auf jeden, der an c>in
hochherzige Idee sein ganzes Leben setzt; aber zweierlei müssen wir bemerken.
Einmal haben Victor Emanuel und Cavvur für die gemeinsame Sache nicht
nur viel mehr aufs Spiel gesetzt, sondern auch viel mehr geleistet als Garibaldi, dessen
Thaten noch in Aussicht stehen; sodann hat der tapfere General in seinen neuesten
Proklamationen und Sendschreiben immer eine Tendenz durchblicken lassen, die wei¬
ter geht als der König gehen will, als er vernünftigerweise gehen darf. So lange
"och die Möglichkeit vorhanden ist, auf geordnetem Wege auch nur annäherungs¬
weise das Ziel zu erreichen, von dem allein sür jetzt die Rede sein kann, die Con-
stituirung eines italienischen Staats, der auf eigenen Füßen steht; so lange handelt
der König recht, alle Elemente fern zu halten, die diesen Zweck verwirren könnten.
Selbst den höchst unwahrscheinlichen Fall vorausgesetzt, daß es eiuer revolutionären
Erhebung Italiens gelingen sollte, sich gegen die großen Militärmächte zu behaup¬
ten, so würde das Resultat zunächst doch ein völlig zerrüttetes Staatswesen sein,
»ut das Königreich Sardinien wird ohnehin lange Zeit gebrauchen, bevor es sich
von den schweren Wunden wieder erholt, die der Krieg ihm geschlagen. Wir wollen
das nicht so darstellen, als ob Victor Emanuel seine Handlungsweise nach einer
klugen Berechnung einrichtete: er gehört zu den Männern, die ans der innern Noth¬
wendigkeit ihrer Natur, die in einer überwältigenden Leidenschaft handeln, und denen
daher ein Platz in der Geschichte gebührt. Aber sehr mit Unrecht würde man das
charakteristische Kennzeichen solcher Männer darin suchen, daß sie blind zu Werke
gehen und Unermeßliches wollen- im Gegentheil haben in der Regel wirklich starke
Naturen in ihrer Leidenschaft selbst ein Maaß, das sie sich nach schweren inneren
Kämpfen errungen haben.
Wenn die Rolle Oestreichs, Sardiniens und Frankreichs — des letzter» Wenigstens
bis zu einer gewissen Grenze — insofern deutlich vorgezeichnet ist. als sie sich auf
frühere kriegerische Thätigkeit bezieht, so wird die Stellung Englands auf dem Kon¬
gresse desto seltsamer sein. Die überwiegende Mehrheit des britischen Volks hat sich
entschieden für die Italiener ausgesprochen, sie hat sich aber eben so entschieden dahin
"klärt, daß England dieser Willensmeinung unter kuren Umständen thätlichen Nach¬
druck zu geben habe. Diese Ansicht, die im Grunde aus reinem Egoismus hervor¬
geht, hat man anch durch weltbürgerliche Betrachtungen zu rechtfertigen gesucht:
das allein richtige Princip des Weltverkehrs sei die Nichteinmischung in die Ange¬
legenheiten anderer Völker. Abgesehen davon, daß England nur zu sehr seine Hand
überall im Spiele hat. würde dies Princip nur dann Anerkennung verdienen, wenn
allgemein angenommen wäre. Wenn England aus dem Kongreß durchsetzt,
daß in Bezug aus Mittelitalien dies Princip Geltung findet, so hätte es allerdings
das höchste erreicht, was man erwarten könnte; aber wie will es dieser Meinung
Gewicht geben, so lange es sie als eine unschuldige Privatmeinung ausstellt, sur d,e
^ nichts zu thun gedenke! Ob es sich dabei auf diplomatische Beziehungen stutzt,
'se den Vertretern dieser Meinung in England ebensowenig bekannt als uns. Auch
über das Verhältniß Preußens zu dieser'Frage ist noch Alles im Dunkeln. Der
Gegensatz gegen Oestreich ist nicht schwächer geworden, im Gegentheil bringt jeder
neue Zeugnisse, daß seine Bitterkeit sich steigert; auf der andern Seite scheint
^eder mit Frankreich noch mit England irgend eine Verständigung erfolgt zu sein.
"Ub die russische» Beziehungen bleiben so lange ohne Gewicht, als sie nicht auch
England umfassen. Die Politik der „freien Hand" scheint immer noch mehr als
wünschenswert!) in Preußen gepflegt zu werden. Für eine solche Politik ist der
Staat zu klein; denn Friedrich der Große, der sie allerdings mit Glück durchgeführt,
ist eine Erscheinung, auf die ein Staat in einem Jahrtausend nur einmal rechne»
kann. Ein Staat wie Preußen muß, wenn er etwas durchsetzen will, sich ent¬
schließen Partei zu nehmen, und hier handelt es sich doch lediglich um Partei¬
nahme auf einem Friedenscongreß, in welchem eine starke und zugleich einsichts¬
volle Partei den erwünschten Ausgang verbürgt.
Die Uneinigkeit der beiden deutschen Großmächte hat auch diesmal eine wirk¬
liche Vertretung Deutschlands auf dem Kongreß unmöglich gemacht. Daß die Fol¬
gen dieser Uneinigkeit von den Regierungen der übrigen deutschen Staaten ebenso
schmerzlich empfunden werden als von dem gestimmten Volk, ist sehr natürlich, und
jeder Versuch von ihrer Seite, zwischen Heiden eine Verständigung anzubahnen, ver¬
dient unsern Dank, auch wenn er nicht von einem günstigen Erfolg begleitet sein
sollte. Als einen solchen Versuch glauben wir die neuliche Würzburger Conferenj
auffassen zu müssen, obgleich ein angeblich inspirirter Berichterstatter ganz andere
Dinge davon zu erzählen weiß. Nach diesem Berichterstatter handelte es sich »in
nichts Geringeres als eine wirkliche Durchführung des äußerst wunderlichen Fröbel-
schen Projects: um die Constituirung einer dritten deutschen Großmacht. Ein solcher
Gedanke kann einem wirklichen Staatsmanne nicht kommen, und wir erwarten vo»
den Würzburger Verbündeten, sie werden der von ihnen gcmißbilligtcn ciscnachcr Agi¬
tation dadurch die Spitze abbrechen, daß sie mit Preußen um die Initiative zur Ein¬
richtung nützlicher Reformen in einen rühmlichen Wetteifer treten. Ein solcher Wett¬
eifer kann die gute Sache nur fördern, vorausgesetzt, daß die Vorschlüge nicht auf
etwas Aehnliches herauskommen, wie das von Baden beantragte Bundesgericht.
Jede Einrichtung, die den Schein der Einheit fördert, ohne das Wesen der Einheit
zu fördern, die theoretisch die Macht des Bundes verstärkt und Praktisch sein Anseht
im Volke schwächt, seine Conflicte mit den einzelnen Staaten vermehrt, kann >n>r
zum Schaden Deutschlands gereichen. Daß Baden in demselben Augenblick, wo es
diesen Antrag stellte, das Concordat einführte, wird vielleicht manchen süddeutsche»
Liberalen, die im Anfang dieses Jahres für Oestreich schwärmten. nicht weil. sonder»
obgleich es ein Concordat hatte, die Ueberzeugung beibringen, daß man solche Ver¬
träge mit dem heiligen Stuhl eher schließt als los wird.
Als bemerkenswert!) ist noch anzuführen, daß die Würzburger Konferenz von
der östreichischen Presse, die sich früher über die Triasgcjüstc sehr spöttisch aussprach,
aufs wärmste befürwortet wird. Vielleicht ist die östreichische Presse gleich uns der
Meinung, daß es sich dieses Mal lediglich um Erweiterung der Volksfreiheit handelt,
daß von Würzburg aus Antrüge, z. B. auf Veröffentlichung der Bundcsprotokollc.
auf Wiederherstellung der hessischen Verfassung von 1831 u. f. w. erfolgen werde".
Vielleicht hält sie die Stellung Preußens für so gefahrdrohend, daß sie die Geg»"
derselben um jeden Preis begünstigen müsse. Vielleicht erwartet sie sogar von daher
Hilft in ihren eignen Nöthen und Bedrängnissen.'»
Und diese Bedrängnisse sind groß. Die neulichen Verordnungen Oestreichs
Prcßangelegcnhcitcn sind so beschaffen, daß man leicht aus den Gedanken koniinc»
möchte, einer solchen Unsicherheit sei selber der Belagerungszustand vorzuziehen, und
die unmittelbar darauf erfolgten Verwarnungen zeigen wenigstens so viel, daß man
keineswegs die Absicht hat, diese Verordnungen ein blos beschriebenes Papier bleiben
Zu lassen. Leider gibt es noch in Deutschland manche wohlmeinende Liberale, die ihr
eigenes Leid leichter tragen, wenn sie in einem anderen deutschen Vaterlande ein
stärkeres Leid wahrnehmen. Wir sind im Gegentheil fist davon überzeugt, daß die
Sache des Liberalismus in ganz Deutschland, ja in ganz Europa, solidarisch mit
einander verbunden ist. daß jeder Verlust, den sie an irgend einem Punkt erleidet,
sich überall fühlbar macht. Wir wünschen von Herzen, daß sich auch bei der
östreichischen Presse diese Ueberzeugung mehr und mehr befestigen möge.
Wir in Preußen haben keine Ursache, auf diese Zustände vornehm herab¬
zusehen. Denn noch vor zwei Jahren war es bei uns nicht anders, und daß es
seitdem anders geworden, ist nicht unser Verdienst. Aber ein wichtiger Unterschied
bestand doch zwischen dem Prcßrcgiment des Herrn von Westphalen und dem gegen¬
wärtigen östreichischen. In Preußen war jene Bedrückung etwas ganz Unnvthiges,
sie geschah lediglich im Interesse einer kleinen Partei; und seitdem die öffentlichen
Angelegenheiten frei besprochen werden können, ist die Stimmung der Presse und
des Publicums nicht gespannter, sondern viel behaglicher, weil im Ganzen die Grund-
lcigen des wirthschaftlichen und sittlichen Lebens noch vollständig gesund sind. Daß
Oestreich größere Ursachen hat, eine Beleuchtung seiner innern Zustände bedenklich
zu finden, wenn es sich nicht zu sehr wesentlichen Reformen verstehen will, zeigen
die neuesten finanziellen Versuche, zeigen die ungarischen Zerwürfnisse. Durch ein
bloßes Decret das Deficit abzuschaffen, will nicht gelingen, und die Notabeln um
Nath zu fragen, nützt um fo weniger, wenn man denjenigen Nath nicht hören will,
der allein Hülfe verspricht. Bisher hat nur ein geistvoller ungarischer Schriftsteller
auf die echten Garantien für Oestreich hingewiesen- Oestreich wird gedeihen, sobald es
sich daran erinnert, daß es aus verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzt ist, und
sobald es sich bemüht, durch und vermittelst dieser Nationalitäten, d. h. durch eine
Föderativ-Verfassung zu regieren; solange es gegen den Willen derselben zu re¬
gieren fortfährt und solange es sich an den europäischen Welthändeln nach allen
S
Neueste Sammlung ausgewählter griechischer und römischer Clas-
°r, verdeutscht von den berufensten Ucbersctzern. — Stuttgart, Krais Und Hoffmann.
Wir geben hier eine Uebersicht dessen, was in dieser vortrefflichen Sammlung bereits ge-
^'t'se. — 1) Griechische Dichter. Homers Odyssee und Ilias; Aeschylus: beides
vollständig, "ein Donner. Hesiod von Eyes, Theokrit. Bion und Moschus von M örikc
und Roller. Die Anthologie von I. G. Regis. Euripides (bis jetzt 6 Stücke)
u. Aristophanes (bis jetzt 2 Stücke) von Min k w i ez, — 2) G ri c chi sah c P r o sai ke r.
Ms Einleitungen l Die Geschichtschreiber, von Wahrmund. Bibliothekar in Wien!
die Philosophen von Prantl, Professor in München. — Herodicin von Adolf
Stahr. Polybius von Harls,, Prof. in Stuttgart (bis jetzt I, Bd.); Herodot
von Bähr, Prof, in Heidelberg (bis jetzt 1 Bd.); Thucydides von Wahrmund
(bis jetzt l Bd.). Plutarch von Eyes. Prof. in Schönthnl (bis jetzt <i Bde.),
Strabo von Forbigcr, Conrector in Leipzig (bis jetzt L Bde.). Xeuoplwns Memo-
rcibilicn von Zeising; Hellenika vonNieckhcr. Prof. in Heilbronn. Pausanias von
Schubart. Bibliothekarin Cassel. Demosthenes von Westermann, Prof. in Leipzig
(bis jetzt 2 Bd.). Jsokratcs von Flathe, Oberlehrer in Planen. Plato von Prantl
(bis jetzt 5 Bd.). Aristoteles von Karsch, Prof. in Münster (bis jetzt 1 Bd.).
— .'!) Römische Dichter. Terenz von Herbst, Prof. in Duisburg. Ovid's Me¬
tamorphosen von Reinhart Suchicr, Fasten von Klußmann, Prof, in Rudol-
stadt. Horaz und Virgil von Binder. — Phädrus von I. Sicbclis. —
Römische Prosaiker. — Tacitus von Gymn.-Rector Roth. — Cornelius Nepos von
Sicbclis. — Sueton von Ad. Stahr. — Sallust von Claß, Prof. in Stutt¬
gart. — Livi us von F. D. Gerlach, Prof. zu Basel (bis jetzt die 10 ersten
Bücher). — Cäsars gallischer Krieg von Köchly und W. Nüstow. — Ciceros
Briefe von Mezgcr, Prof. zu Schönthal; philosophische Schriften von Raphae>
Kühner. — Schon ans den Namen sieht man, daß einige dieser Werke von Ge¬
lehrten und Schriftstellern ersten Ranges bearbeitet sind^ tüchtig ist fast alles.
Ein Winterfrühling in Nizza von A. C. Wiesncr. Leipzig, Verlag von
C. B. Lorck, l8!->!>. Dieses kleine Buch ist eines der besten in der Sammlung. die
seit einigen Jahren unter dem Titel von Lorcks Eisen bah nbüch ern erscheint-
Es schildert zunächst Nizza selbst und seine unmittelbare Umgebung, dann einige der
benachbarten französischen Orte, Cannes. Antibes und das Fort Se. Marguerite,
und kehrt dann nach Nizza zurück, um das dortige Volk nach seinen Sitten n»d
Gebräuchen zu charakterisiren. Ein weiteres Kapitel erzählt verschiedene Ausflüge,
nach Castclnuovo, Turctta, Mentone und andern Orten. Ein anderes beschäftigt
sich vorzüglich mit den Kunstschätzen Genuas. Zum Schluß sind praktische Notizen
über Hotels. Mietwohnungen, Klima. Restaurants, Theater und Miethwagen >"
Nizza hinzugefügt.¬
Alltagsleben in London. Ein Skizzenbuch von Julius Rodenberg. Ber
lin, Verlag von Julius Springer, 186N. Einige recht hübsche Bilder aus der
Weltstadt an der Themse, freilich viel Bekanntes darunter. Auch würde der Ver¬
fasser uns lieber sein, wenn er uns noch mehr seine Beobachtungen, als seine Em¬
pfindungen vorführte. Besonders interessant sind das Kapitel über die Annonce u"d
die Beschreibungen des Guy-Fawkes-Tags und der londoner Weihnachtsfeier.
Die Vereinigten Staaten von Nordamerika in wissenschaftlicher, hev"^
rechtlicher und ökonomischer Beziehung dargestellt von K. A. Scholtz. Baltimore,
1859. Verlag von W. N. Schmidt. Eine gedrängte Darstellung der kirchlich"'
staatlichen und sozialen Einrichtungen in der Union, vorzüglich bestimmt, die deutschen
Einwanderer in die Verhältnisse und namentlich in die administrativen Angelegen¬
heiten der neuen Heimat einzuführen. So sind besonders Rechtspflege. Postwesen,
Zolltarif, Abgaben und Finanzen, Banken, Kanäle, Dampfschiffe und Eisenbahnen, die
deutsche Einwanderung, Städteordnungen und der Staat Ohio ins Auge gefaßt. Die
Kirche ist nur kurz behandelt, indem nur einige der Haupthelden erwähnt werden. Auch
">uß bemerkt werden, daß die Reformirten nichts mit den Campmeetings und Revivals
SU schaffen haben, diese vielmehr Privilegium der Methodisten und Baptisten sind.
Interessant ist, was über das riesenhafte Wachsthum der katholischen Kirche in den
Ver. Staaten mitgetheilt wird. „Im Jahre 1701 hielt der Bischof Caroll seine
"ste Diöcesansynode, und die Zahl aller Priester, welche derselben beiwohnten, belief
steh auf 22. Die Zahl der Katholiken Marylands betrug damals 1600, in Penn-
sylvanien wohnten gegen 7000, in allen dreizehn Staaten nur 24500. Man hatte
nur ein einziges Kloster in der ganzen Union, kein Kollegium, kein Seminar, keine
katholische Schule. Die wenigen katholischen Kirchen waren Hütten oder Privat-
häuser, die man zum Gottesdienst gemiethet. Dagegen finden wir heutzutage statt
"uns Bischofs 30 Bischöfe und Erzbischöfe, die Zahl der Priester hat sich aus 1100
vermehrt, die der Kirchen (unter denen mehre stattliche Kathedralen) auf 1300. Man
hat ferner 26 Seminare zur Erziehung von Geistlichen, 9 religiöse Orden (darunter
d>c Jesuiten), 23 Pricstcrhüuser, 33 von Geistlichen geleitete Gelehrtenschulen, 58
Nonnenkloster, 86 Pensionate und Mädchenschulen, und die Zahl der Katholiken in
der Union beträgt jetzt nahe an zwei Millionen. Das ist, trotzdem daß von 1701
"n bis jetzt die Zahl der Einwohner in den Bar. Staaten sich um das Zwanzig-
fache gesteigert hat, ein ungeheures Wachsthum, welches sich allerdings durch das
seitdem begonnene Einströmen der Irländer erklärt, aber dennoch bedenklich aussieht,
wenn man damit vergleicht, daß die Methodisten (nach den Katholiken die stärkste
'.asnominarion") nur etwa 1.200,000, die Presbyterianer nur etwa 350,000, die
Baptisten ungefähr 820,000, die Congregativnalistcn 200.000. die Lutheraner 170.000,
d>c Episkopale» gegen 7 0.000 und alle übrigen Sekten höchstens noch 150,000
KvPfc zählen. Das Ergebniß wäre dann, daß die Katholiken sich in den Ver. Se.
in der Masse der übrigen Christen, welche am kirchlichen Leben theilnehmen, etwa
^le 2 zu 3 verhielten.
Von Nüstvws Schrift: „Der italienische Krieg ,8 59 " ist soeben die dritte
Abtheilung erschienen, .welche den Schluß der Arbeit bildet. Beigcgcben ist eine
^rec zum Verständniß der Schlacht bei Solfcrino. — Von der Uebersetzung der
^rlhlcschcn Geschichte Friedrichs des Zweiten von Preußen, die von I. Neuberg
Berlin bei N. Decker (Geheime Oberhofbuchdruckerei) erscheint, ist uns der
^"de Band zugekommen, der bis zur Thronbesteigung Friedrichs geht. Die
Verdeutschung ist so gut, als sie bei einem Schriftsteller wie Carlule irgend
s"n kann. — Von den Ergänzungsblättcrn zu den Convcrsationslcrica, welche
""ter dem Titel, „Unsre Tage" zu Braunschweig im Verlag von G. West-
"'"um zu erscheinen begonnen haben, liegen uns Heft 2 und 3 vor. Dieselben
Ehalten unter Andern lesenswerthe Aufsätze über die Finanzlage Oestreichs.
^ die Taktik im letzten italienischen Kriege, über die deutschen Vorschuß-
""Ad Krcditvcrcine,, über die Ncubefestigung von Antwerpen, über Buenos-
Ayres. über die Heere des letzten Kriegs und über das Wchrsystem in Preu¬
ßen und seine Reorganisation. — Von Lorcks „Zeitschriften" liegen uns das
8., 9. und 10. Heft vor, welche gut zusammengestellte, lcsensmerthe Abhandlungen
über den Kirchenstaat, die Stellung und die Bestrebungen der Westslaven und das
Königreich Neapel enthalten. — Lorcks „Männer der Zeit" sind zum 9. und
10. Heft gelangt, welche unter Andern, Biographien von Lamartine, Macaulay.
den Söhnen Ludwig Philipps, Hansemann. Droysen, Proudhon, Elters, Sir John
Lawrence, v. Geibel, v. Swind bringen. Wir empfehlen das Unternehmen als im
Allgemeinen vom Standpunkt d. Bl. geleitet, obwol sich hin und wieder gegen di-
Wcchl der Personen, die uns als Männer, auf welche die Zeit blickt, vorgeführt werden
(wir nennen aus den vorliegenden Heften nur Emil Brachvogel, Gubitz und Jo
Deutsche Kunst in Bild und Lied. Originalbeiträgc deutscher Maler und
Dichter. Herausgegeben von Carl Rohrbach. Zweiter Jahrgang. Leipzig, I- ^
Bach. Ein glänzend ausgestattetes Werk, mit Beiträgen von sehr namhaften Künst¬
lern. Von dem artistischen Theil erwähnen wir: Eine Statue Huttcns von H"'
manu Knaur in Leipzig; eine Magdalena von Berus. Plockhorst; ein Kloster-
garten von Th. Kothes in Carlsruhe! eine Fernsicht im Walde von K. Hummel
in Weimar; eine Schachpartie von Eduard Ender in Wien; eine Mutter »'^
Engeln, von Jacobs in Gotha, ein Dorfpastor von Charles Webb in Düsftl'
dorf; ein altes Paar von Und. Jordan in Düsseldorf; ein Platz in Venedig vo"
Lauterbach; ein verirrter Handwerksbursch von K. v. Enhubcr in München!
Hände von C. Ockert in München; ein Gang zum Advocaten von L. Saupe
in Meiningen; ein Abend im Walde von Conrad Grese in Wien. Die Wil¬
der in Farbendruck haben wir absichtlich nicht erwähnt, weil uns diese Jndustrn'
als eine große Beeinträchtigung der Kunst erscheint. — Unter den Dichtern se'^
z. B. Lenz, Schefer, Alfr. Meißner. Brachvogel, Mosenthal, Ludw. Seeger u. s-»-
Die Kinderstube in 36 Bildern von Oskar Pietsch. Die Handzeichnu
gar im Besitz des Prinzen Friedrich Wilhelm. In Holz geschnitten von August
Gab er. — Berlin. Hertz. — Reizende Kindcrbilder, geistvoll erdacht, mit war»'"'
Liebe empfunden und mit seltner Kunst ausgeführt. Einzelne darunter möchten w>r
Letzte Gaben. Nachgelassene Blätter von Annette Freiin von Droste-Hüls-
hoff. Hannover, Nümplcr.
Der Werth der vorliegenden Gabe ist bedeutend genug, eine ausführliche
Besprechung zu veranlassen, und da die Grenzboten einer Dichterin gegenüber,
die in der modernen Lyrik einen sehr bedeutenden Rang einnimmt, ihre
Schuldigkeit noch nicht gethan haben, so benutzen wir diese Gelegenheit, das
versäumte nachzuholen. Die Dichterin war 1798 geboren, 1848 gestorben;
katholisch, unverheirathet, wie es scheint, meist kränklich. Ihre „Gedichte"
^schienen 1340 (Stuttgart, Cotta): wir bezeichnen im Folgenden diese Samm¬
lung mit I. die „letzten Gaben" mit II; eine dritte Sammlung „das geist¬
liche Jahr nebst einem Anhang religiöser Gedichte" 1852 liegt uns nicht vor.
Wann die einzelnen Gedichte entstanden sind, ist nicht angegeben; wir
können daher auch nicht sagen, ob Lenau's Vorbild aus sie eingewirkt hat,
°der ob beide Erscheinungen unabhängig von einander aus der allgemeinen
Zeitrichtung hervorgegangen sind. Die Verwandtschaft ist augenscheinlich: bei
beiden erkennt man den echten Dichter, bei Annette sogar in noch viel höhe¬
rem Grade, ja man möchte sagen, sie macht einen männlicheren Eindruck;
bei beiden findet man aber eine seltsame Art von Jncorrcctheit, die auf einer
^wissen Unfertigst der Gedanken beruht. Die wenigsten dieser Gedichte
hinterlassen eine durchweg wohlthuende Stimmung. Die Bilder drängen und
i"gen einander, die scharf zugespitzten Gedanken führen nur selten zu einem
faßbaren Resultat; ja mitunter scheint es, als ob der Dichterin, die doch eine
g^ße Gewalt über die Sprache besitzt, die Zunge stockte, als ob sie etwas
anderes sagte, als sie sagen wollte. Es ist in den Empfindungen wie in den
Gedanken ein' gewisser Unfriede, eine Hast, deren Grund man nicht durch¬
kaut, und gegen die man sich auflehnen möchte; aber überall schimmert
°tre bedeutende Physiognomie durch, ein starkes, wenn auch krankes, Herz, ein
der gewaltigsten Bewegung zitterndes poetisches Gemüth. Wenn in der
^tern Elegie Bilder und Gedanken sich so sanft an einander legten, daß man
halbem Traum verfolgen konnte, ohne Furcht, etwas Wesentliches e.nzu-
büßen, so verlangen Annettens Gedichte die schärfste Aufmerksamkeit auf jedes
einzelne Wort, und auch dann ist man noch nicht sicher, sie ganz zu ver¬
stehen. Die einzelnen Anschauungen treten ihr so schnell und in so scharfem
Licht, so blitzartig vor die Seele, daß sie nicht Muße hat, sie gehörig zu
formen. Aber es sind wirkliche Gesichte, nicht etwa Reminiscenzen aus
früherer Lectüre; es sind starke individuelle Empfindungen, und nicht etwa
allgemeine Gefühls-Abstractionen. ,
Der Stifter dieser Schule des Liedes ist Victor Hugo: man nennt sie
bei den Franzosen die romantische, unter welchem Ausdruck jenseits des Rheins
aber ganz etwas anders, ja mitunter das Gegentheil verstanden wird als bei
uns. Das Motiv der Schule war Auflehnung gegen die akademische Form
und gegen die stofflose, uns einer Convenienz des Gefühls beruhende Em¬
pfindung: Sehnsucht nach handgreiflicher, eckiger Realität. Daher an Stelle
der zierlichen Umschreibung das derbste, wo möglich anstößigste Wort; an Stelle
des glatten musikalischen Verses ein zerhackter Strophenbau; an Stelle des all¬
gemeinen, nützlichen und dem Gemeinwohl zusagenden Gedankens die origi¬
nelle, oft ganz unvermittelte und ziellose Anschauung; an Stelle der Melodie das
Bild. In der frühern Lyrik war das Bild, die Plastik nur Mittel, nicht
Zweck, es sollte die Stimmung begründen oder den Gedanken erläutern; bei
V. Hugo und seiner Schule ist Farbe und Umriß das erste und letzte. Fi"
einen, der an die alte Weise gewöhnt ist, hat diese Bilderpracht zuweilen et¬
was Verblüffendes, wenn sie in dem Augenblick abbricht, wo man die
Nutzanwendung erwartet.
In Deutschland sind außer Annette Anastasius Grün, Lenau und Fm-
ligrath die Vertreter dieser Richtung; Heine nicht, weil bei ihm stets die
Melodie das Bild, der Gedanke den Einfall beherrschte. Bei der scheinbaren
Willkür in seinen Gedankensprüngen weiß er doch überall, was er will; er
ist Herr über seine Geister. Daß sie das nicht sind, ist eben die Eigenthüm¬
lichkeit jener Dichter.,
Man verwechsle diese moderne Plastik der Poesie nicht etwa mit dem
alten beschreibenden Gedicht. Hier sah man sich wohlgefällig nach Farbe und
Gestalt in der Natur um, wählte sorgfältig das Passende und fügte so sei"
eigenes Ideal zusammen: dort sind es die Geister der Farben und Gestalten,
die mit magischer Macht ans die Seele des Dichters eindringen, wie Frei-
ligraths Blumengeister auf das schlafende Mädchen, beängstigend, peinlich-
und ihn zwingen, dem Eindruck Worte zu geben. Wenn man in bedeuten¬
der Höhe in einem Alpenkcssel eingeschlossen ist. kommt es einer nervös em¬
pfindlichen Natur zuweilen so vor, als ob die düstern Bergriesen immer nä¬
her rücken und auf den beängstigten Menschen losgehen: diese Macht übt
auf diese Dichter die gesammte Natur aus: givv me- a soul! oft sie ihnen
in, wie das Ungeheuer dem geängsteten Bildhauer, der es geformt, ohne
ihm eine Seele geben zu können, und den es bis zum Wahnsinn durch ganz
Europa verfolgt. — Diese Macht besitzen aber nicht blos die äußern Umrisse
der Natur; die aufgeregte Einbildung blickt in ihre Untiefen, und sieht, was
w der Nacht der Gräber, was auf dem Boden des Meeres vorgeht. Dem un¬
mittelbaren Eindruck kommt die Analyse zu Hülfe, die zersetzende, tödtende;
daher die Vorliebe für die Verwesung. Was hier Krankhaftigkeit der Seele,
was Eigenthümlichkeit der poetischen Manier ist, möchte nicht leicht zu unter¬
scheiden sein. — Ein Beispiel.
Im „Sommernachtstraum" (I S. 171) liegt an einem siedendheißen
Tage die kranke Dichterin auf dem Sopha. „das Haupt von wüstem Schmerz
zerrissen, die Stirne fieberhaft gefleckt," vor ihr Geburtstagsgeschenke: ein
Autograph, ein Dennr. eine Erzstufe, eine Muschel; sie achtet nicht daraus;
»zum Tode matt und schlasberaubt studirt' ich der Gardine Bauschen, und
horchte auf des Blutes Rauschen und Klingeln im betäubten Haupt.... Be¬
täubend zog Nescdaduft durch des Balkones offne Thüren, in jeder Nerve war
Zu spüren die schwefelnde Gewitterluft." Sie schließt die Augen; da hört
sie das Papier des Autographs knistern und näher rücken auf dem Teppich,
»Wie wenn im zitternden Papier der Fliege zarte Füßchen irren;" sie sieht
die Erzstufe schmerzhaft zucken, die Münze regt ein glänzendes Auge; die Mu¬
schel dehnt sich; und eins nach dem andern treten die Geister dieser Gegen¬
stande auf sie ein und geben sich ihr kund.
Wer einmal in jenem Halbsieber gelegen hat. wer in einer Art von Hal¬
lucination die Gegenstände in hellerem phantastischen Licht näher rücken sah,
doch sei. daß er mit einiger Anstrengung Phantasie und Wirklichkeit noch
genau unterscheiden kann, wird wissen, wie genau und correct diese Schilde¬
rung ist. Damit vergleiche man die Schilderung einer durchwachte» Nacht
II S. 7.
Etwas Analoges zu dieser Hallucination muß die Eingebung des Dies-
er's haben, wenn er wirklich schaffen und gestalten soll: die Geister müssen
'hin wirklich erscheinen. Aber freilich darf der echte Dichter sich vor ihnen
"icht ängstigen, er muß ihnen gebieten; seine Seele muß stärker sein als seine
Phantasie, sonst geht das Poetische entweder ins Pathologische über. d. h.
^' nähert sich dem Wahnsinn, wie Lenau in vielen seiner Dichtungen, oder
^ wird manierirt. d. h. was mir Mittel sein sollte, wird ihm Zweck. -
^"nz ist Annette von dieser Manicrirtheit nicht freizusprechen, obgleich Vieles
^i ihr ganz pathologisch erklärt werden muß. — Sehr bezeichnend ist die
^schichte des Noßtänschcrs, der sich einen SMWs tamüw'is verschafft (I S.
^7) und nach der Sage mit ihm zur Hölle fahren müßte, wenn er ihn nicht
d"res ein schweres Opfer loskaufte. Dieser LMtus ist ein spinnenartiges
'
Wesen in einer Phiole. Nun vergleiche man die sehr ausführliche Schilde¬
rung, wie der Roßkamm diesen gewinnt, nachdem man schon vorher durch eine
Reihe graulicher Bilder gehetzt ist. Er kommt an einen Sumpf: „ein wüster
Kübel, wie getränkt mit schweflichen Asphaltes Jauche, langbeinig füßelnd
Larvenvolk regt sich in Fadcnschlamm und Lauche, und faule Spiegel, blau
und grün wie Regenbogen drüber ziehn. In Mitten starrt ein dunkler Fleck-
vom Niesenauge die Pupille, dort steigt die Wasserlilie empor____wen sie
verlockt mit ihrem Schein, der hat sein letztes Lied gesungen, drei Tage suchte
man das Kind umsonst in Kraut und Wasserlaugen, wo Egel sich und Kan-
ker jetzt an seinen bleichen Gliedern letzt" u. s. w. — Dort wird der Spiri¬
tus geschöpft, von dem man später folgende Schilderung erhält: „Phosphm-
licht, wie's kranken Gliedern sich entwickelt; ein grünlich Leuchten, das wie
Flaum mit hundert Fäden wirrt und prickelt, gestaltlos, nur ein glühender
Punkt in Mitten, wo die Fasern quellen, mit klingelnden Gesäuscl sich an der
Phiole Wände schnellen, und drüber, wo der Schein zerfleußt, ein dunkler Au¬
genspiegel gleißt. Und immer krimmelts. wimmelts fort, die grüne Wand
des Glases streifend, ein glüher gieriger Polyp, vergebens nach der Beute
greifend, und immer starrt das Auge her, als ob kein Augenlied es schatte"
u. s. w. Endlich in der tiefsten Verzweiflung, vor dem Muttcrgottesbilde-
schlägt der Roßkamm einen echten Nagel vom Kreuz des Erlösers in die
Phiole: „Hui! knallt der Propfen, hui fährt das Glas in Millionen Splitter!
Gewinsel hier, Gewinsel dort und spinncfüßelndes Gcflitter; es hackt und
prickelt nach dem Mann, der unterm Gnadenbilde wimmert, bis Faser sich ""
Faser tischt, des Centrums letzter Hauch verschimmert, und an der Gottes¬
lampe steigt das Haupt des Täuschers, schneegebleicht." U. s. w. — Der
Umstand, daß vor Entsetzen in einer Nacht das Haar weiß wird, kommt in
mehreren Balladen Annettcns vor.
Aus diesem Beispiel mird man sehen, was unter Hallucination gemeint
ist. Wie deutlich tritt jedes Detail des Schreckens, riesengroß wie unter de»>
Mikroskop, vor die Seele! Die Geister sind mächtig, die Dichterin ist ihm"
nicht gewachsen. Wenn man nun dagegen einwenden wollte, daß hier das
Grauen beabsichtigt wird, so führen wir ein anderes Beispiel,' wo das nicht
der Fall ist, (S. 359) Wenn die gnädige Frau ein Kind gebiert, zeigt lM
im Teich der Schloßclf: ein Bauer beschreibt diesen, wir geben von den fünf
Strophen nur die letzte: „Ihm ist als schimmre, wie durch Glas, ein Kindes¬
leib, phosphorisch, feucht, und dämmernd wie verlöschend Gas; ein Arm zer'
rinnt, ein Aug' verglimmt — lag denn ein Glühwurm in den Binsen? el"
langes Federhaar verschwimmt" u. s. w.; kurz wieder der sM-iwL wuilw^
mit der ganzen Mikroskopie und dem traumhaft ängstlichen Materialismus
seiner Erscheinung. - Diese Gesichte färben auch die wirkliche Anschauung-
wo keine Gespenster im Spiel sind, z. B. die Neujahrsnacht I S. 201; die
Verbannten S. 11. u. s. w.
Daß die Dichterin ein diesem Grauen ein krankhaftes Behagen findet,
gesteht sie selbst Is. 50 bei der Schilderung eines Hünengrabes: „und fester
drückt' ich meine Stirn hinab, w oliüstig saugend an des Grauens Süße,
bis es mit eis'gen Krallen mich gepackt, bis wie ein Glctscherborn des Blutes
Takt aufquoll und hämmert'" u. s. w.: eben weil sie der Geister nicht Herr
ist. Sie sucht sich dann wohl, wie auch hier, durch eine komische Wendung
ZU retten. Am freiesten athmen wir auf (I S. 254), als der alte Seemann
bei dem Anblick des fliegenden Holländers ausruft: „Mag die ehrliche deutsche
See vom Schleim der Molluske sich rothen . . . Drunten ists klar und licht,
wie droben die Wellen gelmhren. Mögen wir nur vor dein fremden Gezücht,
vor dem Geisterjanhagel uns wahren!" — Ja wohl! dem fremden und
einheimischen.
Wir haben öfters Gelegenheit gehabt, gegen die durch Freiligrath u. A.
verbreitete Ansicht zu polemisiren, die Dichtung sei ein Fluch, ein Kainsstempcl;
wir nehmen diese Polemik auch nicht zurück, aber in dieser Umgebung ver¬
stehen wir wenigstens, was es heißen soll, wenn (II S. 43) versichert wird,
der Dichter müsse mit schrecklichen Qualen seine Schätze bezahlen: „eine Lamp'
hat er entfacht, die nur das Mark ihm sieden macht; ja Perlen fischt er und
Juwele. die kosten nichts als — seine Seele." Die Hallucination hat sich
nicht zur freien poetischen Schöpfung geläutert, die deu Geist befreit. Damit
hängt ein andrer Irrthum Anuetteus zusammen (II S. 23), wo sie die Dilettanten
glücklich preist, die „Hall'gesegneten. wo scheu ins Herz der Genius gcflohu
und öde ließ die Phantasei; ihr die ihr möchtet flügellos euch schwingen mit
des Sehnens Hauch, und wieder in der Erde Schooß sinkt, wie ein kranker
Nebelrauch;" sie glücklich preist, weil „nur der Träume Land reich ist." Das
Dichter-Unglück gilt vielmehr nur von denen, die nicht ganz geben können,
was sie wollen. In andern Stellen spricht sich eine höhere Ansicht von der
Poesie aus (I S. Ki7): „Poesie gleicht dem Pokale aus venedischem Krystall;
Gift hinein — und er klirrt in tausend Trümmern, und hin ist die Poesie!"
Sollten jene spinncnsüßigen Gespenster nicht auch zu dem Gift gehören, das
vcnedisches Glas sprengt?
Nur ist in Anschlag zu bringen, daß dem Leiden, jenem Zustand der
Hallucination, eine active Virtuosität entspricht. Jede Empfindung knMllchrt
A) Anuctten zu einem ausgeführten Bilde, und in diesem Sinn könnte man
die Mehrzahl ihrer Lieder Balladen nennen. Man betrachte „das öde Hans"
a S. .)4), ein düstres unheimliches Bild ohne Pointe; aber wie wahr und
andringend in allen Theilen ist die Schilderung! Ein malerisches Auge hat
es gesehen. — Eines der reinsten Bilder. „Mondesaufgang". wo durch die
Innigkeit der Stimmung selbst eine gewisse Melodie hervorgebracht wird,
theilen wir aus den „legten Gaben" mit: ob die Parallele mit einem Krimi'
nalproceß die Lebendigfeit der Stimmung mehr fördert oder stört, wage»
wir nicht zu sagen.
An des Balkoncs Gitter lehnte ich
Und wartete, du mildes Licht, auf dich;
Hoch über mir gleich trübem Eiskrystalle
Zerschmvlzen schwamm des Firmamentes Halle;
Grauschimmernd lag der See mit leisem Stöhnen > . .
Es rieselte, es dämmerte um mich;
Du mildes Licht, ich wartete auf dich.Hoch stand ich, neben mir der Linden Kamm.
Tief unter mir Gezweige, Ast und Stamm,
Im Laube summte der Phciläncn Neigen,
Die Feuerfliege sah ich ziehn und steigen,
Und Blüthen taumelten wie halb entschlafen;
Mir war als treibe hier ein Herz zum Hafen,
Ein Herz, das übervoll von Glück und Leid
Und Bildern seliger Vergangenheit.Die Schatten stiegen, drängten finster ein:
Wo weilst du, weilst du denn mein milder Schein?
Sie drangen ein wie sündige Gedanken;
Das Firmamentes Woge schien zu schwanken,
Bcrzitternd loses der Feuerfliege Funken,
Längst die Phaläne war zum Grund gesunken;
Nur Bcrgcshäuptcr stiegen hart empor.
Ein düstrer Nichtcrkrcis im Düster vor.Es wisperten die Wipfel mir am Fuß
Wie Warnungsflüstcrn oder Todcsgrnß;
Ein Summen aus des Sees weitem Theile,
Wie Volksgemurmel vor dem Tribunale;
Mir war, als müsse etwas Rechnung geben
Von todten Pfunden, von verträumten Leben,
Als stehe ein verkümmert Herz allein,
Einsam mit seiner Schuld und seiner Pein.Da auf die Wasser sank ein Silbcrflor,
Und langsam stieg die Mvndesschcib' empor,
Der Alpen finstre Stirnen strich sie leise,
Und aus den Richtern wurden sanfte Greise;
Der Wellen Zucken ward ein lächelnd Winken,
An jedem Blatte sah ich Tropfen blinken,
Und jeder Tropfen schien ein Kämmerlein,
Drin flimmerte der Heimatlampc Schein.
O Mond, du bist mir wie ein später Freund,
Der seine Jugend dem Verarmten eint,
Um seine sterbenden Erinnerungen
Mit zartem Lebcnswiedcrschcin geschlungen;
Bist keine Sonne, die ernährt und blendet,
In Feucrflcnnmcn lebt, im Blute endet,
Bist, was dem kranken Sänger sein Gedicht,
Ein fremdes, aber o wie mildes Licht.
In diesen Strophen folgen sich die Stimmungen in schöner Melodie, das
^lib wird zum Liede. Freilich findet sich das bei Annette ziemlich selten; in
^r Regel ist das Bild sein eigner Zweck. So in den Haide bittern, in
welchen alle-'Schrecknisse der Oede aufgespeichert, und nur hin und wieder
durch Burlesken der modernen Cultur unterbrochen werden. Am bezeichnctsten
'se die „Mergelgrube." Die Dichterin gräbt sich immer tiefer ein und phan-
^su't über die Erdrevolutionen, endlich steigt sie in die Grube hinein, ver-
n»und von allen Seiten unheimliche Tone, die Erde erscheint ihr ausgebrannt,
ste scheut sich, den Kopf herauszustecken, um nicht den Weltuntergang mit
^umsehn, sie kommt sich wie ein Petrefact vor und sinkt nieder an den Rand
Gruft; der Staub füllt ihr auf die Haare, jetzt kommt sie sich wie eine
Aiumie vor, ihr Angesicht ist fahlgrau, über sich glaubt sie Leichen zu empfin¬
den; da schüttelt sie den Traum von sich ab, ein Hirt, der in Bertuchs
Naturgeschichte liest, unterhält sich mit ihr über die Sündfluth; sie zeigt ihm
eine Schieferplatte mit dem Abdruck von Medusen; er lächelt schlau: „daß ich
verrückt sei, hätt' er nicht gedacht!" So endigt diese Geschichte, und so lau¬
fen die meisten dieser Haidebilder aus. Am spaßhaftesten ist die Unterhaltung
tausendjähriger Raben und Krähen, über die Geschichten der Vorzeit (S. 64);
K»i besten in Bezug auf die Stimmung ausgeführt das Bild vom „Haidemann"
74), dem allmäligen Aufsteigen der Nebelschicht, die sich im Herbst un¬
heimlich über den Haidegrund lagert.
Unter den Balladen enthalten die meisten grauenvolle Gespenstergcschich-
Für die Berechtigung dieser Gattung legen „Lenore" und „die Braut
^on Korinth" ein schlagendes Zeugniß ab, doch liegt das Poetische derselben
^uptsächlich in der Melodie — nicht blos in dem schönen Klang der einzel¬
nen Strophen, sondern auch indem melodischen Fluß der aufeinander folgenden
Wilder. Die Ballade projicirt einen Eindruck der Natur aus der Seele in
^ Natur hinein: Goethe's F>scher und Erlkönig sind die reinsten und zar¬
ten Bilder dieser Art. Auch zu humoristischen Arabesken lassen sich die
^utastjschcn Schatten der Nacht sehr wohl verwerthen, wie in Goethes
^dtentanz oder in verschiedenen Gemälden von Kopisch. Die Braut von^Korinth
°"thäte den entsetzlichsten Stoff, den mau sich denken kann, aber die BeHand-
lung ist so zart unt> duftig, daß der Eindruck wenigstens nicht peinigt; der
Dichter gibt nur was zur Sache gehört, und über dem wilden Gemälde
- schwebt ein tiefsinniger Gedanke. Selbst in der Lenore sind es doch nur
vorüberflatternde Schattenbilder, die man als solche empfindet. — Annette
geht weiter: sie vertieft sich in die Zuckungen der Nerven unter dem Einfluß
des Schreckens, die sie mikroskopisch Zerlegt, und schildert nicht die Gegen¬
stände des Grauens, sondern das Grauen selbst mit allem Aufwand einer Bivi-
scctation. — Im Leeomt SiM (I. S. 294) wird der bekannte Aberglaube ge¬
schildert, wie man sein eigenes Leichenbegängniß voraussieht; aber damit ist
es nicht genug: der Schlafende wird ausgemalt, wie der „giftige Hauch des
Mondes" ihn berührt, ihn krallt. >du ansaugt, wie der Gequälte sich angst¬
voll hin und her wendet, um diesem Einfluß zu entgehen, endlich aber doch
von ihm ans Fenster gerissen wird, und dort die Gespenster sieht. UebrigcnZ
ist das ganze Gemälde brillant ausgemalt und macht einen einheitlichen Ein¬
druck. Desto widerlicher ist die Gespenstergeschichte vom blonden Walter
(S. 299), dessen Haar in einer Nacht grau wird, weil eine Leiche ihm in
den Arm fällt: ein Spuck gcmeiuster Art ohne alle Pointe. Im „Fegefeuer des
westphälischen Adels" (S. 280) liegt wenigstens eine Sage zu Grunde. Mei¬
stens ist es ein unheimliches Etwas, das gespenstig die Sinne verwirrt, und
das durch Vergleichung mit allen möglichen Tönen und Bewegungen ^
deutlich vor die Phantasie tritt, daß man wirklich schaudert, wie'in Kleist
„Bettelweib von Locarno;" so S. 292, 314, 343. Auch in den „kalten Ga¬
ben" fehlt es an diesem Gcisterjanhagel nicht', so der Loup Garou^S. SZ!
die Hohlcnfei S. 97; ein Nachtwandler S. 72. Man hat doch im Ganze"
ein übel verwertetes Talent zu bedauern, um so mehr, da man nicht be¬
greift, wie solche Bilder eine tränke Seele befreien sollen.
Wo es nicht zu Gespenstern kommt, treten Rad und Galgen an ihre
Stelle; Leichen jeder Art, und in welcher Weise durchgeführt, möge der Schluß
von der Geschichte des schönen Barmckiden Dschafar zeigen, die ganz harm¬
los anfängt: „Ueber Bagdads Thor ein Geier, kreisend über Dschafers Schädel
rauscht hinab und rauscht vorüber, hat zur Nahrung nichts gefunden als in sei'
ner Augen Höhlen nur zwei kleine Spinnlein noch." (S. 354). Und so durchweg-
Dabei ist in all diesen Balladen eine große Kraft der Erzählung, wen"
man auch zu sehr, aus einem Bild ins andre gehetzt wird, um einen episch"'
Eindruck zu empfangen. In einem größern erzählenden Gedicht, die Schlag
bei Lom (aus dem dreißigjährigen Kriege) sind einzelne Scenen wunderbar
ergreifend; das Bild des tollen Christian von Braunschweig tritt einem se'
lebhaft vor die Seele (ohne Aufwand von Beschreibung), daß man ihn nach'
zeichnen möchte; das Ganze ist aber zu verwirrt, und zwar so, daß die B"'
wirrung absichtlich erscheint.
Bei diesen und andern Erzählungen könnte man fragen, ob der Vers
den Eindruck fördert oder schwächt. Und in der That verräth eine prosaische
Erzählung des Nachlasses, die Judenbuche, was die einzelnen Scenen be¬
trifft, ein Talent, das die Dichterin unsern besten Erzählern an die Seite
stellt. Die schwere Aufgabe, das Entsetzliche und Humoristische, Grauen und
Ironie, so ineinander zu verweben, daß das eine vom andern nicht aufgehoben
wird, ist ihr vollkommen gelungen. Die Naturwahrheit zeugt von einer Mei¬
sterhand; sämmtliche Figuren reden, denken und handeln, wie sie in der
Wirklichkeit reden, denken und handeln, und es ist um so merkwürdiger, da
die Geschichte sich durchweg in den niedrigen Volkskreisen bewegt: wo die
vornehme, kränkliche Dame das beobachtet haben mag. ist räthselhaft; gerade¬
zu erfinden läßt sich so etwas nicht. (Die gleiche Schärfe der Beobachtung
Zeigen auch die „Bilder aus Westphalen" 1340.) Noch wunderbarer zeigt sich
ihr Talent, die beabsichtigte Stimmung wirklich hervorzubringen, blos durch
das grelle Licht, das sie auf die nackten Thatsachen zu werfen weiß. Die
Scene, wo der todte Mergel nach Hause gebracht wird, erinnert an die besten
Stellen Heinrichs von Kleist. Etwas von diesem Talent, aber nicht in dem
Zeichen Grade, besitzt Edmund Höfer. — Der gute Eindruck der Novelle
schwindet freilich sehr, wenn man das Ganze ins Auge saßt. Von Zusam¬
menhang ist fast garnicht die Rede. Etwas mag es zur Romantik beitragen,
wenn mancher Umstand im Dunkeln bleibt; aber wenn man bei vier Mord¬
taten, die hier vorfallen (abgesehn von einigen Nebengeschichten) nur bei
einer (und auch da nicht sicher) erfährt, wer sie ausgeübt hat. so ist das doch
"was zu viel. Was aber die Hauptsache ist: wir ahnen keine leitende Idee,
keine Nothwendigkeit des Schicksals, die uns mit den zahlreichen Greueln
versöhnte. Und das ist doch eine gerechte Forderung an den Dichter: wir
Wollen das Aergste, was er uns bietet, ertragen, wir wollen das Grauen
und den Schmerz nicht scheuen, aber wir wollen wissen, warum er uns denne
überhäuft. — Zum Schluß hängt ein der Judenbuche wieder eine Leiche (wer
ste hingehängt, erführe man nicht), an der bereits die Würmer nagen. —
Die Vorstellung, wie die Todten in den Gräbern sich recken und dehnen, ver¬
folgt die Dichterin beständig, und da man in ihren Mährchen nicht immer
unterscheidet, wer todt und wer lebendig ist. so haben ihre Gestalten nicht
selten etwas vom Vampnr. Man möchte sagen, diesem starken Leben, das
°och fortwährend ins Traumhafte spielt, sei das Brandmal des Todes auf-
^Prägt.
Nicht blos die Bilder, auch die Empfindungen und Gedanken münden
in das. was das Grab verschließt. Woran sie auch denken mag. stets
gleichen sich Staub und Würmer in ihre Gedanken ein. So liegt sie un
Moose und erinnert sich an ihre Kindheit (1. S. 98): ..die Bilder meiner Lieben
sah ich klar in einer Tracht, die jetzt veraltet war. mich sorgsam lösen aus
verblichnen Hüllen; Löckchen, vermorscht, zu Staub verfallen" u. s. w. ^
Sie schaut in den Bodensee (S. 100). und lobt die Treue der alten frommen
Wasserfey, die nicht losläßt, was sie einmal umschlungen hat: „O schau mich
an! ich zergeh wie Schaum; wenn aus dem Grabe die Distel quillt, dann
zuckt mein längst zerfallenes Bild wol einmal durch deinen Traum!" (Auch
in diesem tollen Gedicht ist beiläufig eine wunderbare Melodie.) Ja einmal
spricht sie gradezu zu den Todten (I. S. 219): „Kalt ist der Druck von eurer
Hand, erloschen eures Blickes Brand, und euer Laut der Oede Odem. Doch
keine andre Rechte drückt so traut, so hat kein Aug geblickt, so spricht kein
Wort wie Grabesbrodem!" Da vergehen einem doch gradezu alle Sinne! ^
In einem wilden fast unverständlichen Gedicht (II. S. 18), „der Doppelgänger"
hat sie die' Vision eines Kindes, das sie „so ernst ansah, als quelle ihm die
Seele aus den Blicken" und dann zerfließt; sie setzt hinzu: „o warens Geister¬
stimmen . . . wär' Grabesbrodem nur der leise Duft, der mich umscufztc aus
verschollnen Zeiten. Doch nur mein Herz ist eure stille Gruft, und meine
Heil'gen. meine einst geweihten, sie leben alle, wandeln allzumal — vielleicht
zum Segen sich, doch mir zur Quai." Etwas Aufklärung scheinen die „Goten"
zu geben (II. S. 22): ihre einst Geliebten sind lederne Philister geworden,
leblose Goten, sie haben die Bilder ihrer frühern Liebe zu Lügen gemacht!
der Goten haucht die alte Liebe „mit der Verwesung Schrecken an"; „weh
ihm. der lebt in des Vergangnen Schau! nicht was gebrochen macht das
Haar ihm grau, was Tod gekränkt in seiner Schöne: doch sie. die Monumente
ohne Todten, die wandernden Gebilde ohne Blut . . . Was nicht des Lebens,
nicht des Todes Art. nicht hier und nicht im Himmel ist zu finden." — Sind
das nun Spuren wirklicher Erlebnisse? oder ist es auch hier Hallucination,
die an den Todten hängt, nicht weil sie treu geblieben, sondern weil sie todt
sind? — Selbst wenn sie ihre Sehnsucht nach der Heimat messen will, sah^
dert sie dieselbe (II. S. 10) als so stark, daß sie die Todten in ihren Särge»
recken könnte! Auch der Spiegel (I. S. 199) zeigt ihr nur das Phantom eines
Todtengesichts. — Noch ein Lied aus den „letzten Gaben": „Im Grase"; die
Vorstellung ist unklar, aber der Klang äußerst lieblich.
''
..>
Süße Ruh, süßer Taumel im Gras,
Von des Krautes Arom umhaucht;
Tiefe Fluth, tief, ticftrunkne Fluth,
Wenn die Woll' am Azur verraucht,
Wenn aufs müde schwimmende Haupt
Süßes Lachen gauckett herab,
Liebe Stimme säuselt, und traust
Wie die Lindcnblüth auf ein Grab.
Wenn im Busen die Todten dann,
Jede Leiche sich streckt und regt,
Leise, leise den Odem zieht,
Die geschlossn- Wimper bewegt,
Todte Lieb', todte Lust, todte Zeit,
All die Schätze in Schutt verwüste,
Sich berühren mit schüchternem Klang
Gleich den Glöckchen, vom Winde umspielt.Stunden, flüchtiger ihr als der Kuß
Eines Strahls auf der trauernden See,
Als des ziehenden Vogels Lied,
Das mir niedcrpcrlt aus der Höh',
Als des schillernden Käfers Blitz,
Wenn den Sonncnpfad er durcheilt.
Wie der flüchtge Druck einer Hand,
Die zum letzten Male verweilt.Dennoch, Himmel, immer mir nur
Dieses eine nur: für das Lied
Jedes freien Vogels im Blau
Eine Seele, die mit ihm zieht,
Nur für jeden kärglichen Strahl
Meinen farbig schillernden Saum,
Jeder warmen Hand meinen Druck,
Und für jedes Glück einen Traum.
Mit diesem Behagen am Todten, Vermodernden hängt die Vorliebe für das
'^re zusammen, durch welche sich Annette von ihren Geistesverwandten Lenau,
Grün. Freiligrath u. s. w. wesentlich unterscheidet. Es ist nicht Reaction des
Geistes gegen den Geist der neuen Zeit; sondern Schauder der Phantasie vor
Nner ihr fremden Welt, oder, wenn man will, der kalte Schauder einer Kranken.
d>l an den Lazarctdunst gewöhnt ist, vor der scharfen und klaren Luft des
Tages. In einem „Notturno", „Meister Gerhard von Cölln" (I. S. 334)
""setzt sie sich im Geist in die „graue Kathedrale", den „riesenhaften Zeiten¬
traum": „tief zieht die Nacht den feuchten Odem, und ein zerhauchter Grabes-
bwdem liegt über der entschlafnen Stadt." In der Kirche, „im weiten ver¬
einten öden Palmenwald, wo die Gedanken niedergleiten wie Anakonden
schwer und kalt" ist es schauerlich genug; blutige Schatten scheinen aus den
blutrothen Fensterscheiben aufzusteigen; noch ein unheimliches Etwas regt sich
»und immer schwerer will es rinnen von Quader, Säulenknauf und Schaft,
"ut in dem Strahle wills gewinnen ein dunstig Leben, geisterhaft;" nun dröhnt
d>e Glocke: „da leise säuselt der Dunst, er malet, wimmelt, kräuselt — nun
^de es da!" Das Gespenst des Baumeisters, das mit dem Richtmaß an den
innern umherschleicht: „leise zuckt das Spiel der Glieder, wie Rauch im
Tann." „War das der Nacht gewaltger Odem? Ein weit zerflvßnerSeufzer¬
hall, ein Zitterlaut, ein Grabesbrodem durchquillt die öden Räume." Das
Gespenst jammert darüber, daß noch immer die Stunde nicht schlägt, wo er
„lang Begrabenes schauen" soll; endlich zuckt der Morgen: „mit Räderknarren
und Gepfeif, ein rauchend Ungeheuer, schäumt das Dampfboot durch den
Rhein," und die Dichterin fragt sich, ob sie geträumt habe. Es war ein Alp>
drücken; .denn auch als man nun wirklich den Neubau des Doms unternimmt
(I. S. e) sieht sie nur die „Carricatur des Heiligsten": an der Spitze des
Unternehmens steht „wer den Himmel angebellt, vor keiner Hölle je gebebt!"
Gott kennt „eurer Seele ödes Haus; baut Magazin und Monument, doch sei'
nen Namen laßt daraus!" „Weh euch, die ihr den zorn'gen Gott gehöhnt an
seiner Schwelle Rand, Meineidgen gleich in frevlem Spott hebt am Altare
eure Hand!" Der geistlose Bau wird doch nur ein Trümmerhaufen wie die
Ruinen in Rom. — Es ist in dem, was sie gegen die neue Zeit sagt, viel
Richtiges; so ihre Ermahnungen an die Schriftstellerinnen (I. S. 19). an die
voreiligen Weltverbesserer (S. 27). an die modernen Pädagogen, welche die
alte gute Zucht durch Spielereien ersetzen (S. 2g). Es hat einen guten Klang,
wenn sie (S. 24) die Zeit „vor vierzig Jahren" schildert: „Da gab es dock
ein Sehnen, ein Hoffen und ein Glühn, als noch der Mond „durch Thränen
in Fliederlauben" schien, als man dem „milden Sterne" gesellte was da lieb,
und „Lieder in die Ferne" auf sieben Meilen schrieb!" — Man merke ven
Spott der modernen Bildung, die sich selbst unbequem wird! „Ob dürftig
das Erkennen, der Dichtung Flamme schwach, nur tief und tiefer brennen ver¬
deckte Gluten nach. Da lachte nicht der leere, der überfalle Spott, man baute
die Altäre dem unbekannten Gott." Dem unbekannten! „Nun aber sind die
Zeiten, die überwerthen da, wo offen alle Weiten und jede Ferne nah . - -
Was wir daheim gelassen, das wird uns arm und klein, was Fremdes wir
erfassen, wird in der Hand zu Nein. Es wogt von End zu Ende, es grüßt
im Fluge her. wir reichen unsre Hände, sie bleiben kalt und leer. NielM
liebend, achtend Wen'ge wird Herz und Wange bleich, und bettelhafte Kön'ge
stehn wir im Steppenreich." — Es ist etwas zu viel gesagt, der Dampf hat nicht
alle Regungen des Herzens erstickt, und wenn man auf den Eisenbahnen etwas
zu viel vagabundirt. so kehrt man doch zuletzt nach Hause zurück. Aber der
Ausdruck ist schön und-prägnant. er prägt sich dem Gedächtniß ein. — Die
Hauptsache ist. daß die Dichterin das Walten des ihr widerlichen Zeitgeistes
in der eignen Brust fühlt; ihre Anklage ist um so bitterer, da sie sich als
Mitschuldige weiß; da in ihrem kranken Nervensystem die Fragen, die das
Zeitalter bewegen, zur tödtlichen Qual werden. So grübelt sie einmal (S. 146),
ob der Jnstinct des Hundes u. s. w. nicht etwas Analoges mit der mersch'
lichen Seele sei. Ob diese Gedanken „krank oder gesund, das mag sie selber
nicht bestimmen"; „aber es sind Gedanken, die uns könnten todten, den Geist
betäuben, rauben jedes Glück, mit tausendfachem Mord die Hände röthen,
und leise schaudernd wend' ich meinen Blick." Seltsam! tauchten solche Ge¬
danken vor vierzig Jahren denn weniger auf? und liegt ihre Pein nicht le¬
diglich in der individuellen Seele? Das gibt sie aber nicht zu: „o schlimme
Zeit!" fährt sie fort, „die solche Gäste rief in meines Busens harmlos lichte
Bläue! o schlechte Welt! die mich so lang und tief ließ grübeln über eines
Pudels Treue."
Die komische Wendung des Schlußverses steht nicht isolirt; ihre Seele ist
den Gespenstern nicht willenlos hingegeben, sie weiß ihnen zuweilen die feinste
Ironie entgegenzusetzen; sie ist nicht die einsame Nonne, sondern die Dame
von Welt, welcher der Spott im Grunde ebenso natürlich steht, als das Grauen
vor ihren eignen Gestalten. Der Hohn gegen den empfindsamen Poeten, der
sür echte Natur keinen Sinn hat (I. S. 213), die Schilderung des ästhetischen
Thees (S. 21?) sind vortrefflich; und das Gedicht „Gastrecht" (II. S. 6g)
rührt von keiner Nonne her: „Ich war in einem schönen Haus und schien
darin ein lieber Gast; die Damen sahn wie Musen fast, sogar die Hunde
geistreich aus. Die Lust, von Ambraduft bewegt, schien aufgelöste Phantasie,
und wenn ein Vorhang sich geregt, dann war sein Flüstern Poesie. Zwar
trat mir oft ein Schwindel nah — ich bin an Aether nicht gewöhnt — doch
hat der Zauber mich versöhnt, und reiche Stunden lebt' ich da. All was man
sagte war so klar und so vortrefflich durchgeführt, daß ich mich habe ganz und
gar als wie ein Erzkameel gespürt." In dieser Gesellschaft erscheint ein Frem¬
der, den man sehr höflich behandelt; kaum aber ist er fort, so fällt man mit
Stachelreden über ihn her. Annette schlägt eine alte Geschichte auf. von dem
Kalifen Mutasser. der einen Mörder begnadigt, weil er zufällig von seinem
Scherbet geschlürft und dadurch sein Gast geworden. „Ich schloß das Buch
und dachte nach an Türken. Christen, mancherlei ..." Es spricht auch
hier der Haß der Lüge; der Abscheu gegen die „Goten", gleichviel ob es
Christen oder moderne Ungläubige sind.
Zu den „Goten", den Geistern der Lüge, die ihrer innern Hohlheit
>vegen weder der Erde noch dem Himmel angehören, rechnet Annette vor allen
Gingen die Worte von allgemeiner Bedeutung ohne concrete Anschaulichkeit.
Sehr interessant ist. wie sie II. S. 15 die Sehnsucht nach dem Vaterlande in-
dividualisirt: „Dann ist es mir. als hör' ich reiten und klirren und ent-
Segenziehn das Vaterland von allen Seiten, und seine Küsse fühl' ich
Stuhr; dann wird des Windes leises Munkeln mir zu verworrenen Stimmen
bald, und jede schwache Form im Dunkeln zur vielvertrautesten Gestalt." Im
Man Augenblick erscheinen diese Prädicate. auf das „Vaterland" angewandt,
s^nich sonderbar; aber bei näherem Zusehn erkennt man alsbald, daß das
Nebelbild dieses Ausdrucks sich ihrer Phantasie sofort in die Gestalten der
bekannten Freunde zerlegt, die aus dem Dunkel auftauchen. Diese Macht der
Individualisirung führt zu einer Art von Gedichten, in denen Annette fast ganz
allein steht, und die wir zu den schönsten Leistungen unserer Poesie rechnen
möchten. — Dazu gehört in erster Reihe der Cyclus: „Des alten Pfarrers
Woche" (I. S. 234). Das Tagewerk dieses würdigen Mannes — es ist na¬
türlich von einem katholischen Pfarrer die Rede — ist in einer Mischung von
Humor und Gefühl dargestellt, die halb an Boß. halb an Goldsmith erinnert,
und doch unabhängig von beiden dasteht: ein wunderschönes Bild, in den
kräftigsten Farben und einer rührenden Stimmung. Ebenbürtig ist „der ster¬
bende General" II. 78: man weiß nicht, wo die Frau diesen ernsten, tief
männlichen Ton gefunden hat. „Junge Liebe" I, 128 hat wenigstens einen
überraschend schönen Einfall: das junge Mädchen, das sich kasuistisch die Frage
vorlegt, was sie thun würde, wenn Mama und der Liebste zugleich in Feuers¬
not!) wären, und zu dem Resultat kommt: „retten würd' ich Mama, und zu
Karl in die Flamme springen!" Als vortreffliche Dichtungen derselben Art
sind noch anzuzeichnen- „Das vierzehnjährige Herz" I. S. 130; „Der Brief ans
der Heimath" S. 134; „Ein braver Mann" S. 136; „Die junge Mutter"
S. 182; „8it Mi dei'iÄ leviL!« S. 195; „Die beschränkte Frau." die immer
die Redensart „in Gottes Namen" gebraucht S. 228, von innigstem
Ton; „Die Stnbcnburschen" S. 228 (in der Weise des alten Pfarrers), und
„die Linde" II. S. 40. Es ist in allen diesen Liedern eine Tiefe des Ge-
müths und eine Wahrheit der Seelenbeweguug. die uns um so freudiger
überrascht, wenn wir aus der schwülen Gespcnsterluft heraustreten und unter
Gottes freiem Himmel frisch aufathme». Dies ist der echte Realismus, den
die Sonne bescheint; unten bei den Larven ist doch nur die Lüge des Da¬
seins
Resultat: Annette steht, was das Talent der Farbe und Stimmung be¬
trifft, unter den neuesten Dichtern in erster Reihe. Ihre Bildung ist freier-
ihr Gefühl stärker als das der meisten. Sie hat in einigen Gedichten das
schönste Ziel erreicht, das ein Poet sich sehen kann, und kleine Unvollkommen-
heiten der Form, zu hastige Farbe, zu starke Sprünge u. s. w. nehmen sich
gern in den Kauf; sie ist interessant fast durchweg; aber sie hat in den mei¬
sten Gedichten ihre schöne Gabe auf eine Weise gemißbraucht, die Schrecken
erregt. Wenn man das psychologisch aus ihrer Krankheit erklärt, so läßt sich
dagegen nichts einwenden, es ist nur die Rede von dem objectiven Werth
der Dichtungen.
Ueber das Räthsel ihres innern Lebens findet man nur einige dunkle
Andeutungen. Auf einzelnes ist bereits hingewiesen; anderes läßt sich aus
dem Wenigen errathen, was von ihrem äußern Leben bekannt ist. Nur noch
auf ein Paar Stellen möchten wir hinweisen, I. S. 92. wo sie die wilden
Leidenschaften schildert, die in ihrem Innern wüthen und sich äußerlich nicht
Luft machen können: „wär ich ein Jäger auf freier Flur, ein Stück nur von
einem Soldaten, wär ich ein Mann doch mindestens nur. so würde der Him¬
mel mir rathen; nun muß ich sitzen so fein und klar, gleich einem artigen
Kinde, und darf nur heimlich lösen mein Haar, und lassen es flattern im
Winde!" Ferner ein wildes, höchst verworrenes Lied. S. 115, in dem sie sich
über ihren Dichterberuf ausspricht: sie habe aus der Tiefe schmerzlichster und
bängster Erinnerungen und Stimmungen die Kraft der Liebe heraufholen sol¬
le": „Schaut in das Auge, das trübe, wo dämmernd sich Erinnrung facht, und
dann wach auf o heil'ge Liebe!" Im Wüstenland der Sahara „steht eine
Blume, farblos und duftcslcer. nichts weih sie als den frommen Thau zu
hüten. und dem Verschmachtenden ihn leis in ihrem Kelche anzubieten." Viel¬
leicht werden einmal die Freunde der Verstorbenen sich veranlaßt sehen, uns
über ihr eigentliches Leben etwas mitzutheilen: bedeutender würde es jeden-
falls s
Die nachfolgenden Mittheilungen haben nicht so sehr den Zweck, die
Mncrn Verhältnisse und Zustände Marokkos zu schildern, als vielmehr das in
betracht zu ziehen, was bei dem jetzt eröffneten Feldzug der Spanier gegen
den Sultan vorzüglich in Frage kommt, also die marokkanische Kriegführung
Und die Küstenstädte. Zu einem Zuge des Generals O'Donnell in das Innere,
^es Fez oder gar nach der ältern Hauptstadt Marat'sah. werden es schon die
sauren schwerlich kommen lassen, und ebensowenig ist anzunehmen, daß Spanien
^Um solchen den Schwierigkeiten gegenüber, welche die natürlichen Verhält-
des Landes, der sicher nicht allzu gefüllte Schatz in Madrid und vor
Ottern die englische Politik bieten, überhaupt zu unternehmen wagte. In Be-
^ff der Hafenplätze und der marokkanischen Armee wird bei der allen wehend-
"chen Fortschritt ausschließenden Altersschwäche, welche die afrikanischen Staaten
^ Islam ebenso, ja noch mehr, ergriffen hat wie die asiatischen und euro-
päischen. in allen Hauptpunkten wohl noch das zu gelten haben, was man
vor fünfzehn Jahren bei Gelegenheit des französisch-marokkani>chen Kriegs über
diese Fragen in Erfahrung brachte.
Das Sultanat Marokko, arabisch Moghrib El Alfa, d. i. West'
reich, ist mit seinem Flächeninhalt von 10,500 Quadratmeilen ungefähr so
groß wie Frankreich, doch kann nur etwa ein Drittel dieses Gebiets als volle»
Sinns dem Sultan Unterthan betrachtet werden, indem ein sehr beträchtlich"'
Theil der nomadisirenden Bevölkerung im Süden und Osten so gut wie un¬
abhängig von den Herrschern Marokkos ist und entweder gar nichts oder nur
gelegentlich und gezwungen zu den Steuern beiträgt. Die Grenzen sind im
Norden das Mittelmeer, im Westen der Atlantische Ocean, im Süden der Staat
des Sidi Hedscham, im Südosten das Steppenland Beleb El Dscherid. im
Nordosten endlich Algerien. Der Atlas, welcher sich hier im Miltsin mehr
als zehntausend Fuß über den Meeresspiegel erhebt, streicht als lauge Kette
in der Richtung von Nordosten nach Südwesten durch das Land, theilt es so
in eine nordwestliche und eine südöstliche Hälfte und entsendet namentlich nach
dem Mittelmeer verschiedene Seitenzweige, welche mit schroffen Vorgebirge»
endigen. So bietet der Boden und das Klima allen Stufenwechsel vom
schneeigen Hochgebirge bis zur dürren gluthauchendcn Wüsteuebene. Frucht'
bare Strecken sind häufig anzutreffen, und vorzüglich der Nordwesten ist gut
bebaut und reich an Getreide und Vieh. Die Flüsse, welche den Abdachungen
des Atlas entströmen, sind nur zum Theil schiffbar. Die bedeutendsten sind
die zwischen Tlemsen und der spanischen Festung Melitta in das Mitteln-er
mündende Maluwijch. der aus der Gegend von Feß kommende, einige Meile»
nördlich von Rabat in das Atlantische Meer sich ergießende sehn. und die
weiter südlich, nicht fern vom Cap Blanco ebenfalls in den Atlantischen Ocean
strömende Om Er Beg, sowie der Tensift, der an der Hauptstadt, Marokko
oder Maraksch vorüberfließt. Die Zahl der Einwohner läßt sich in >»0'
hanunedanischen Ländern des Haremsgeheimnisses wegen nie genau bestimme»'
hier kommt noch hinzu, daß ein Theil der Araber nomadisirt, andere Stämme
als stets im Aufstand unnahbar für die Berechnung sind. Indeß nimmt
man etwa 8V2 Millionen Einwohner für das Sultanat an. Von diesem
sind gegen 350,000 Juden, die übrigen bestehen aus Mauren. Berbern und
Arabern. Die Mauren sollen ungefähr 3'/- Million Köpfe zählen, sie bilde"
die Bewohner der Städte und treiben Handel und Handwerke; auch geh"'
aus ihrer Mitte die Beamten hervor. Ihr Charakter wird nicht gelobt, in-
dem man sie als treulos, lügenhaft, feig, geizig und überaus fanatisch tM
dert. Die Berbern sind Ureinwohner des Landes, dieselben, welche man in
Algerien Kabylen nennt. Sie zerfallen in zwei Hauptstümme: die Amazirg.
2,300,000, und die Schillak, etwa I'/, Millionen Köpfe stark, haben durch'
gehends feste Wohnsitze und nähren sich gröstentheils Von Ackerbau. Die
Schillak, welche die Südprovinzen inne haben, sind ein schlanker Menschen¬
schlag von sehr dunkler Hautfarbe, der den Charakter der Berbern reiner
bewahrt hat, als die Amazirg. die. wie man von den unter ihnen häufig vor¬
kommenden blauen Augen und blonden Haaren geschlossen hat. sich wahr¬
scheinlich mit den Resten von Genserichs und Gelimers Wandalen vermischt
haben. Letztere wohnen in den nördlichen Theilen des Reiches, vorzüglich in
den Gebirgsgegenden des Atlas und seinen Seitcnketten, zu ihnen gehören die
oft genannten Nifpiraten, deren Unfug den Anlaß zu dem jetzt entbrannten
Kriege gab. Araber reinen Blutes finden sich in Marokko nur etwa 600.000,
U"d zwar ziehen sie meist als Nomaden umher. Die Juden sind meist Nach¬
kommen der unter Ferdinand dem Katholischen aus Spanien vertriebenen Kinder
Israel. Eigentliche Neger wohnen ungefähr 200,000 im Lande, und liefern
s'e hauptsächlich die Rekruten zur regelmäßigen Armee des Sultans.
Unter dieser Bevölkerung herrscht die größte Spaltung nach Abstammung
und Glauben. Die Intoleranz gegen einander ist die charakteristische Eigen¬
schaft der Stämme, der Bürgerkrieg infolge dessen der Normalzustand des
Reiches. In dieser wilden Gesellschaft kennt man nur zwei Formen des po¬
litischen Lebens: Anarchie und den rohesten Despotismus. So weit der Arm
des Sultans reicht, wird das Volk ausgesaugt und ist keiner seines Kopfes
°>nen Tag lang sicher. Die Amazirg und zum Theil auch die Schillak er¬
kennen, in kleinen Dorfrepubliten oder unter Stammhäuptlingen lebend, die
Autorität des Sultans nur ganz oberflächlich an. Jedermann verbirgt seinen
besitz so weit er kann, um nicht von den Beamten geplündert zu werden.
Nur in einem Punkt ist Alles einig, in dem wüthenden Haß gegen die Christen
Und der Verachtung aller Nichtmoslcmin überhaupt.
Das Land ist an den Küsten, welche sandige Flächen bieten, nur wenig
^gebaut, desto mehr aber im Innern, wo Getreide. Oel. Mandeln. Datteln
und Gummi die Hauptprodukte sind. Zahlreiche Schafheerden liefern eine sehr
KUte Wolle. Rinderheerden sind häufig. und die Pferde Marokkos gelten für
^e besten in den Barbarcskenländern. Von Mineralien findet man Kupfer
Menge, etwas Gold. Silber und Eisen. Von den Erzeugnissen des Ge-
^rbfleißes sind nur die seinen Ledcrsortcn und die Seidenstoffe zu erwähnen,
welche hauptsächlich im Südwesten gefertigt werden. Die Einkünfte des Reiches
^'stehen aus dem Ertrag der Zölle, der Kopfsteuer der Juden, dem Zehnten
Vermögen der übrigen Einwohner, dem-Tribut einiger Vasallenfursten.
"ud sollen sich auf etwa sechs Millionen Thaler belaufen. Die Ausgaben be¬
rgen unter dem letzten Sultan kaum die Hälfte dieser Summe. Der Ueber¬
schuß wanderte, soweit er sich nicht unterwegs in unberechtigte Taschen verlor
das Schatzhaus (Mejt El Mei) des Sultans in Mcquinez. Der Handel
hat seit zwanzig Jahren einen nicht unerheblichen Aufschwung genommen,
und zwar betheiligen sich an ihm vorzüglich englische, genueser. marseiller und
amerikanische Häuser. Die Ausfuhr, welche 1832 nicht wehr als ungefähr
6000 Tonnen betrug, beläuft sich jetzt auf mindstcns 40.000 Tonnen und
besteht hauptsächlich in Wolle, Wachs und Gummi, wozu in Zeiten der
Theurung in Spanien und Südfrankreich noch Getreide kommt. Der Atlas
und die Gebirge des N>f haben prächtige Wälder. In den Ebnen hat die
unverständige Wirthschaft der heutigen Einwohner die Waldbäume meist aus¬
gerottet, und so bietet das Land hier nur in der Regenzeit — vom October
bis zum März — eine» lachenden Anblick, wogegen es in der trocknen Jahres¬
zeit wie abgesengt daliegt und selbst der fruchtbarste Boden sich in das ein¬
tönige Gelbgrau der Wüste kleidet.
Unter den Ausgaben stehen die für die Unterhaltung der Haustruppe»
des Sultans (Almagasen), welche is.ovo Mann stark sein sollen, obenan.
Der übrige Theil des Heeres, die Truppen der einzelnen Paschas, müssen von
den Städten unterhalten werden, in denen sie garnisoniren, oder bekommen
als Sold Landstücke zum Bedauem. Im allgemeinen wird der marokkanische
Soldat von seinen Anführern gut behandelt; er ist (und das gilt im Kriege
mit christlichen Mächten selbst von den Mauren) im Gefecht unerschrocken, ent¬
schlossen und voll guten Willens, auf dem Marsch ausdauernd und genügst"».
Er ist ein guter Schütze und ein vortrefflicher Reiter, was namentlich den
Schillak nachgerühmt wird. „Wenn eine Schlacht geliefert wird." sagt das
1844 erschienene Werk des Spaniers Serafian Calderon, „so bildet das Heer
einen Halbmond, die Neitergeschwader auf beiden Flügeln, das Fußvolk im
Centrum. Sobald das Zeichen zum Angriff gegeben ist. sagt der Soldat
dächtig einige Strophen des Koran her, dann stößt die ganze Masse das
Kriegsgeschrei „Allah! Allah!" aus. ein ungeheurer Lärm, und stürzt sich "'^
Ungestüm auf den Feind. Hält dieser den ersten Anfall aus und bringt er durch
unvermutete kräftige Bewegung die anstürmenden Massen in Unordnung, ^
fliehen sie und verstehen schlecht, sich wieder zu formiren; denn von militärisch"
Taktik haben sie nicht den geringsten Begriff. Dagegen sind sie von außer¬
ordentlicher Schlauheit, wo es auf Ueberfalle ankommt, und nicht weniger g/'
schickt sind sie, Hinterhalte zu entdecken und zu vermeiden."¬
Ausführlicher ist ein uns vorliegender französischer Bericht über die Kriegs
verfassung und KriegsführunH der Marokkaner im Jahre 1844; doch wird
demselben vorauszuschicken sein, daß in der letzten Zeit die regelmäßige Armee
des Sultans manche Verbesserung erfahren hat, indem sie von England in>t
guten Gewehren und, wie es scheint, auch mit Jnstructvren versehen worden
ist, und daß die Artillerie sich, wo sie Festungen zu vertheidigen hatte, nicht
so ungeschickt bewies, als man annahm. Nach jener Darstellung 'se d>e
Truppensammlung und Kampfart in Marokko ziemlich dieselbe, wie früher in
Algerien, nur daß in Marokko mehr Einheit und Zusammhaltung herrscht,
weil das Land schon seit Jahrhunderten sein politisches und militärisches Sy¬
stem hat, wahrend die algierischen Stämme unter der langen türkischen Herr¬
schaft vereinzelt und ohne ein gemeinschaftliches Band des Interesses geblieben
find. Zwar fehlt es. fährt unsre Quelle fort, auch in Marokko nicht an
Aufständen und Spaltungen, aber in einem Streit mit der Christenheit kann
die Regierung des einträchtigen Zusammenwirkens aller Kräfte des Reiches
sicher sein. Jeder Statthalter befehligt die Mannschaft seines Bezirkes und
laßt sie lagern, marschiren oder kämpfen nach den Anweisungen des Ober-
feldherrn. der eine Art Generalstab aus Talebs und Udajas oder ausgewähl¬
ten Reitern, die als Adjutanten und Ueberbringcr seiner Befehle dienen, um
sich hat. Unter den 15.000 Mann des stehenden Heeres befinden sich «000.
die stets marschfertig sind, und die man als die Leibgarde des Sultans an¬
sehen kann. Bricht irgendwo ein Aufruhr aus. so ruft der Sultan den Gnu
oder Heerbann der andern ruhigen Provinzen auf. und dasselbe ist bei einem
Kriege mit dem Ausland,der Fall. Weigert sich ein Bezirk oder Stamm der
Heerfolge. so wird er mit einer starken Abtheilung des Gnu. dem einige
tausend Almagasen beigegeben werden, überfallen und mit Feuer und Schwert
heimgesucht. In den empörten Strichen sieht man dann nichts als Razzias:
tauchende Dörfer, verbrannte Ernten, Neiterschaaren, denen auf Lanzen ge¬
spießte Köpfe vorangetragen werden.
Die Negerreiterci (Abid El Bocharie) und Udajas waren früher die Prä-
tonancr und Janitscharen Marokkos. Sie zwangen, stets zu Meutereien auf¬
gelegt, dem Sultan ihren Willen auf. setzten ihn nach Belieben ab und ge¬
erdeten sich überhaupt als die eigentlichen Herren im Lande. Jetzt sind sie
weniger gefährlich, indem die letzten Herrscher ihre.Macht gebrochen haben.
Als die tapfersten Krieger Marokkos gelten die Bergbewohner des Rif. zwi¬
schen der Mündung des Maluwijch und der Stadt Tetucm. Die Truppen sind
Fähnlein zu je hundert Manu eingetheilt, die von einem Hauptmann
<Kalb El Mijeh) und 4 Lieutenants, richtiger Unteroffizieren geführt werden.
Der Sold beträgt für den Gemeinen etwa 15 Piaster jährlich und wird sehr
unregelmäßig ausgezahlt. Selbst ein Pascka erhält nicht mehr als 300 Pia¬
ster das Jahr. Aber jeder Soldat treibt, wenn er nicht Dienst hat. sein Hand-
Werk und genießt, wie der größere Theil der Kaids (ein Titel, der verschiedene
Gode und eine Civil- und Militärbcdcutung hat) deu Ertrag eines Grund¬
stücks, das man in der Regel durch die Fellachin oder Bauern bearbeiten
^de. Was noch fehlt, pflegen die Soldaten durch Räuberei, die Offiziere
^res Erpressungen zu ersetzen. Gegen neun Zehntheile alles Grundes und
^»dens gehören dem Sultan, der als Haupt der musclmanischen Gemeinde
die Nutznießung davon nach Gutdünken bewilligen kann. Nur was über¬
baut oder mit Mauern eingeschossen ist, darf der Besitzer wirklich als sein
volles Eigenthum ansehen.
Die Heere begleitet ein ungeheurer Troß von Maulthier- und Kameel-
treibern. Greisen und Kindern mit Pferdefutter. Mnndvorräthen und Hand'
Mühlen, ferner von Thieren mit den Zelten und dem Gepäck des Gnu, von
Sklaven und Negerköchinnen, welche das marokkanische Nationalgericht, den
Kuskussu. bereiten. Man pflegt sich nur mit Lebensmitteln auf zehn Tage
zu versehen. Ist der mitgenommene Vorrath erschöpft, so werden die Silos
(Lebensmittelmagazine der Fellachin) in der Umgegend ausgeleert und man
läßt die Pferde das Getreide auf dem Halm abweiden. Bald bietet in
Folge dessen die Gegend, wo ein solches Heer haust, keine Hülfsquelle mehr,
und nach vier bis sechs Wochen ist dasselbe genöthigt, entweder auseinander
zu gehen oder sich nach einem andern Strich des Landes zurückzuziehen. Eine
europäische Armee hat sich deshalb hier wohl mit allerlei Borräthen zu ver-
sehen, da die Verfolgung der Gegner, wenn sie nicht im ersten Anlauf ge>
worfen werden, durch vollkommen ausgesogene Geg-enden führen würde.
Da jeder Muselman Soldat ist. so kann der Sultan von Marokko,
namentlich wo es einen Kampf gilt, der sich als Glaubenskrieg darstellen läßt,
ohne große Schwierigkeit ein Heer non 6» bis 80.000 Mann auf die Beine
bringen; wenn man aber aufrechnet, daß das ganze Reich zu seiner Ber-
theidigung an 300,000 Krieger stellen könnte, so mag das begründet sein!
allein man läßt dann außer Betracht, daß diese Streitmacht über sehr weit¬
gehende, von Wüsten und wilden Gebirgen durchzogene Landstrecken vertheilt
ist, und daß, gesetzt auch den Fall, dieselbe wäre auf einen Punkt zusammen¬
zuziehen, von einer Erhaltung dieser Massen mit ihrem ungeheuren Troß
auch nur auf acht Tage nicht die Rede sein könnte. Wenn das Heer lagert,
so ist es stets mehr ein bequemer, als ein militärischer Platz, den es wählt!
denn die Rücksicht auf Wasser und Weide entscheidet. Jeder Stamm bildet
ein Viereck für sich, des Nachts kommen Pferde, Maulthiere und Kameele
in die Mitte. Das Zelt des Sultans oder des Oberfeldherrn wird im Cen¬
trum des ganzen Lagers aufgeschlagen und es ist von den Zelten seiner
Dienerschaft und seiner Garden umgeben. Der Stand dieses Zeltes, welches
stets von grüner Farbe ist. da die Sultane ihre Abstammung von Mohammed
ableiten, bestimmt den Stand der andern, die in hierarchischer Abstufung.
nach dem Adel der Stämme oder der Bedeutung der Gnu, ihm näher oder
entfernter sich niederlassen. Ein solches Lager hat keine eigentliche Lager¬
front und keine abgesteckte Schlachtlinie. Es nimmt einen kreisförmigen un¬
gewöhnlich weiten Raum ein, so daß 30.000 Mann den Raum einer Stadt
besetzen können, welche doppelt so viele Einwohner hat. Im Anblick einer
so großen Menge von Zelten, Menschen und Pferden sind Feldherr und Sol¬
dat des Sieges gewiß; man kennt, da man seit Jahren nur unter sich Krieg
geführt hat (die Schlacht am Jsly dürfte bereits wieder vergessen sein)
eben nur die Ueberlegenheit der Zahl und hat keinen Begriff davon, wie man
einen Angriff wagen könne, ohne dieser Ueberlegenheit gewiß zu sein, oder
wie man Stand zu halten vermöge, wenn man nicht gleich stark ist oder
wenigstens eine dem Gegner ungünstige Gestaltung des Bodens für sich hat.
Die Reiterei ist die Hauptstärke des marokkanischen Heeres, das Fußvolk
gilt für nichts, außer im Gebirge. Daß es auf der Ebne einen Reiterangriff
aushalten könne, hätte vor dem Kriege von 1844 kein Marokkaner geglaubt.
In der Artillerie sind die Marokkaner sehr zurück. Sie besitzen eine ziemliche
Anzahl von Feldgeschützen, Sechs- und Achtpfünder, auch einige Haubitzen,
aber die Bedienung derselben taugt wenig. Renegaten, die man verachtet
und denen man mißtraut, sind ihre Kanoniere, und vergeblich hat man bis¬
her Versuche gemacht, die Eingebornen selbst in einer gehörigen Handhabung
der Kanonen zu unterrichten. Sie sind nichts weniger als ungeschickt, den¬
ken aber zu gering von der Artillerie, als daß sie sich Mühe geben möchten.
Der Reiter ist mit einer langen Beduinenstinte, einem krumcn Säbel und
einem Uataghan bewaffnet. Die Udajas tragen auf ihrer Flinte ein kurzes,
sehr breites Bayonnet. Die meisten Gewehre sind von einheimischer Fabrika¬
tion, ohne Visir und ohne Gleichförmigkeit des Kalibers. Auch haben sie
keine Patronen. So kommt es. daß ein Reiter wenigstens zwei Minuten
braucht, um sein abgeschossenes Gewehr von Neuem zu laden, während ein
europäischer Soldat in der Minute zweimal, ja dreimal feuern kann. Die
Marokkanische Schlachtordnung dehnt die Flügel im Halbkreis aus soweit sie
kann, ohne jedoch zu große Zwischenräume zwischen den verschiedenen Gun, zu
lassen. Die Kerntruppen und die Artillerie kommen ins Centrum zu steheu,
hinter welchem die Flügel sich, im Fall der Angriff abgeschlagen wird
und die Ntitcrgeschwader in Unordnung gerathen, sich wieder aufstellen
können. Die ganze, aus uraltem Herkommen beruhende Taktik besteht darin,
daß man den Feind zu umringen und mit einem überlegnen Gewehrfeuer
SU überschütten sucht. Hat man ihn völlig umringt, so hält man sich
des Sieges gewiß. Die Reiterei ist — wenn auch ohne strenge Ord¬
nung in mehren Schlachtreihen von je hundert Pferden aufgestellt. Die
verschiedenen Gnu auf derselben halbkreisförmigen Linie geben sehr genau
aufeinander Acht, so daß sie mit ihren Bewegungen vortrefflich zusammen¬
stimmen. Plänkler. auf der Front des Heeres zerstreut. eröffnen den Kampf,
'"dem sie den Feind durch die Raschheit ihrer Manöver zu blenden und zu
^'streuen suchen. Glauben sie dies erreicht zu haben, so bricht plötzlich die
^'ste Schlachtreihe hinter ihnen los. Jeder Reiter sprengt, mit verhängtem
Zügel, das Gewehr mit der rechten Hand an den Backen haltend, auf halbe
Schußweite heran, feuert, ohne den Zügel loszulassen, mit einem Fingerdruck
der linken Hand, bringt sofort sein Pferd zum Stehen, lenkt um und galop-
pirt zurück, um von Neuem zu laden. In diesem Augenblick jagt eine zweite
Reihe heran, dann eine dritte, um dieselben Bewegungen auszuführen, bis
die erste wieder erscheint. Und so geht es fort. Nie greifen sie recht gründ¬
lich an, es wäre denn, daß der Feind den Rücken kehrte. Diese arabische
oder maurische Reiterei sieht allerdings sehr furchtbar aus. man muß sich aber
durch den Anschein nicht verblüffen lassen. Sie richtet durchaus nichts aus
gegen ein im Viereck aufgestelltes Fußvolk, das ihr die Bayonnette entgegen¬
streckt, sich in der Ebne wie ein Mann bewegt, im Gehen ladet. Halt macht,
um zu schießen, und so den Feind, der nur mit der Flinte umzugehen weiß
und dem es auf eine Salve vier wiedergibt, in Kurzem in die Flucht jage"
muß. Aber sie vermag auch einem geregelten Kavallerieangriff nur in Seite-
»en Fällen lange Widerstand zu leisten trotz ihrer wilden Tapferkeit und ihrer
außerordentlichen Geschicklichkeit in der Führung des Pferdes. Für den Rei¬
ter ist unter allen Umständen der Säbel die Hauptwaffe, bei den Marokkanern
aber verläßt sich derselbe fast nur auf seine Flinte, und so geschah es, daß
die französischen Chasseurs, die mit dem Säbel in der Faust gegen sie an¬
stürmten, sie in der Regel schon mit der ersten Charge in Verwirrung brach'
ten. Unerschrocken im Gewehrfeuer, scheuen sich diese Nachkommen der alten
Numidier, ganz so wie ihre Vorväter, vor dem Kampfe von Mann gegen Man",
und so sind sie verloren, wenn man sie mit den Handwaffen entschlossen »ut
kräftig angreift. So nur erklärt sichs, daß am Jsly 8500 Mann französisches
Fußvolk und 1 800 Reiter mit 16 Geschützen ein marokkanisches Heer von fast
40,000 Mann schlagen konnten, und zwar so, daß die Wegnahme des Lagers
mit seinen Zelten und seinem Gepäck, das Empfindlichste und zugleich Schmach'
vollste nach marokkanischen Begriffen, die unmittelbare Folge war.
Wir geben nun eine Beschreibung der Seestädte, Küsten und Häfen
rokkos, wobei wir die spanischen Presidios als in d. Bl. bereits ausführlich
geschildert (Ur. 41 d. Jahrg.) nur kurz erwähnen. Von dem Kap Milonöa.
der Grenze Algeriens, an hat Marokko bis zum Kap Agulun in der Land¬
schaft Sus El Aksa, die im Süden an die große Wüste stößt, etwas mehr als
300 Lieues Küsten, von denen etwa hundert auf das Mittelmeer und die
Straße von Gibraltar und noch einmal soviel auf das Atlantische kommen-
Mit Ausnahme von Tetuan und Tanger gehören alle Seeplätze aus der erster"
Strecke den Spaniern, nämlich Melitta und die Zaphar-Inseln in der Mün¬
dung des Maluwijeh, Alhuccmas, Velez de la Gomera und Ceuta. Ueber
letzteres ist unsrer frühern Mittheilung nachzutragen, daß seine Befestigungen
sehr stark und sehr gut armirt sind, daß zwei Häfen, einer im Süden und
einer im Norden der Stadt Schutz gegen alle Winde bieten, und daß der
Name Ceuta wie Sseuta ausgesprochen wird.
Tetuan, 12 Lieues von Ceuta. ist eine Stadt von 15 bis 16,000 Ein¬
wohnern, die im Innern sehr winkelig und düster, aber im Vergleich mit an¬
dern Orten des Landes, selbst mit Tanger, gewerbreich und lebhaft ist. Früher rcsi-
dirtcn die europäischen Consuln hier, da der Aufenthalt in Tetuan angenehmer und
gesünder ist. Die Negierung hat sie jedoch nach Tanger versetzt, um die Eifer¬
sucht der fanatischen Tetuaner zufrieden zu stellen, welche nur mit Aerger den
europäischen Luxus in ihrer Mitte sahen und es nicht zu ertragen vermochten.
Christen an sich vorüberschreiten zu sehen, ohne sie anspeien oder ihnen den
tiefverachteten Hut vom Kopfe schlagen zu dürfen. Man zählt in Tetuan
gegen dreißig Moscheen, in denen eine große Menge von Talcbs, Fakirs und
Santons (für heilig gehaltene Derwische) den Gottesdienst verrichten. Die
Umgegend ist sehr fruchtbar und zugleich sehr anmuthig. Sie erinnert in
Manchen Zügen an die von Granada und Valencia. Man sieht Wälder von
Orangenbäumen, deren Früchte von vorzüglicher Art sind, weshalb eine große
Menge derselben nach Malaga und Gibraltar und von dort nach den fran¬
zösischen und italienischen Häfen ausgeführt wird. Der Sultan besitzt hier
ein schönes Landhaus mit einem ausgedehnten Garten, in einer Gegend
vor der Stadt, welche mit Villen im maurischen Geschmack besäet ist.
Tetuan ist in alterthümlicher Weise befestigt. Um die Stadt läuft eine
Ringmauer von 15 Fuß Dicke, auf der sich Zinnen und viereckige Streit¬
thürme erheben, die jedoch keine Graben hat. Der höchste und stärkste dieser
Thürme, der im Norden steht, bildet eine Art Fort, welches mit fünf schweren
Geschützen armirt ist. Von der Landseite her erhebt sich die Stadt am Ende
der Fläche auf einem nach zwei Seiten hin abschüssigen Hügel. Sie wird
beherrscht und vertheidigt durch eine isolirte Kasbab (Citadelle) im Nordwesten,
die ii Geschütze trägt und einen ziemlich langen Widerstand leisten würde.
Der Hafen Tetuans wird durch die Mündung des Martii gebildet und liegt
Zwei Lieues von der Stadt, von der ihn eine sandige und unbebaute Strecke
Landes trennt. Die Einfahrt in den Fluß vertheidigt ein gewaltiger vierecki¬
ger Thurm, welcher oben eine Batterie schweren Kalibers trägt. Dieser Thurm
bat kein Thor, sondern erst in der Höhe von acht Fuß eine kleine Pforte, zu
welcher man auf einer Leiter gelangt. Am Fuß des Thurmes steht das Zoll¬
haus. Früher konnten Fahrzeuge von 5 bis 600 Tonnen und Korvetten von
^ Kanonen bis in die Nähe von Tetuan hinauffahren. Jetzt ist die Mün¬
dung des Martii nur für Schiffe von 200 Tonnen fahrbar; denn ein Fahr¬
zeug, das 7 bis 8 Fuß Wasser braucht, findet keine hinlängliche Tiefe mehr.
Einige Dampfbagger würden indeß hinreichen, den Fluß wieder schiffbar zu
wachen. Die Mauren aber denken nicht daran, ja sie sehen die Versandung
sogar gern, indem sie den Christen den Zugang erschwert und so als Schutz
der Stadt gegen ein Bombardement dient.
.Tanger, die nächste Stadt Marokkos, welche durch die spanische Ex¬
pedition bedroht wird, liegt südwestlich von Ceuta. an der Meerenge von
Gibraltar. Es ist ziemlich fest, und zwar sowol durch seine Lage als durch
seine wohlbewaffneten Batterien, obschon von einem laugen Widerstand gegen
einen Augriff durch eine europäische Flotte und Armee jetzt natürlich noch viel
weniger die Rede sein kann, als im letzten Kriege Frankreichs mit Marokko.
Tangers Anblick vom Meer aus gleicht sehr dem der Vorstadt Bab, EI Wat
in Algier. Es liegt auf dem Abhang eines Kalkberges, von dem ein Theil
unbebaut ist und mit seinen unbebauten Seiten einen trübseligen Anblick ge¬
währt. Die Stadt ist mit einer von Thürmen flankirten Mauer umgeben,
vor welcher sich ein Graben hinzieht, der jedoch keine Contrescarpe hat. Die
Mauer hat einen Umfang von etwa 7000 Fuß. Eine maurische Kasbah von
gewaltigen Dimensionen und ein von den Portugiesen erbautes jetzt sehr ver-
fallnes Fort mit modernen Bastionen dienen der Stadt zum Schutz. Die
Kasbah ist mit zwölf Geschützen besetzt, die sämmtlich nach der Meerenge von
Gibraltar hinausblicken. Die Gräben der Stadt, zum Theil verschüttet, sind
voll Bäume und werden als Gemüsegärten benutzt, und werden als solche
vom Gouverneur verpachtet, der sich deshalb hütet, sie wieder ausliefen und in
Bertheidigungsstand setzen zu lassen. In der Nähe des Hafens liegt ein klei¬
nes, mit der Kasbah durch eine Reihe von Staffelmauern, die den Berg hinan¬
laufen, verbundenes Fort. Der Wall, welcher dem Meer gegenüberliegt, hat zwei
terrassenförmige Stockwerke mit Einschnitten. in welchen Kanonen aufgepflanzt
sind. Im Norden der Stadt senken sich schroffe Felsabhänge, welche dieselbe
hier sturmfrei erscheinen lassen. Bor dem Ausladungsplatz, un Winkel des
Hafenthorcs befinden sich die Hauptverthcidigungswerke. Hier erheben sich
zwei Stufen Batterien, die mit 60 groben Geschützen und 8 Mörsern armirt
sind und den Hasen nach allen Richtungen beherrschen. Indeß sind die Plat^
formen zu schmal, die Brustwehren nur drei Fuß dick und die Schießscharte"
nicht weit genug von einander entfernt, was ebenfalls die Stärke des Bau¬
werks vermindert. Der Landungsplatz ist rechts und links noch von einer
Batterie flankirt. Die Bai von Tanger endlich wird außerdem durch sechs
gemauerte Batterien geschützt. Bon diesen letztern erhebt sich eine ans dem
Kap Malabata und eine aus den Ruinen des alten Tanger. Sie enthalten
zusammen 40 Stück Geschütze. Die Batterie, welche die Rhede aus den beide»
äußersten Landpunkten beschützen, liegen auf Höhen von 150 Fuß über dein
Meer, die andern ungefähr auf gleichem Niveau mit dem Wasserspiegel.
Wenn man also einen Angriff vom Meer her unternähme, so hätte man
erst diese Batterien zusammenzuschießen und dann sich quer vor den Hast"
on legen, um auf gleiche Weise die Mauern der Stadt und der Kasbah zu
^stören. Um aber hineinzubringen, müßte man noch drei Ringmauern neh¬
men, von denen jede mit einem ungemein starken eiscnbcschlagncn Thore ver¬
gehen ist. Man würde Kanonen auszuschiffen haben, um sie einzuschießen,
oder Minen oder Petarden anwenden; unterdeß aber wäre man einem mör¬
derischen Feuer von der Flanke und von vorn ausgesetzt, wofern Einwohner
und Besatzung sich vertheidigen wollten. Bei einem Angriff zu Lande aber
hätte man auf den Hügeln und Dämmen im Süden Stellung zu nehmen,
irischen dem Meer und der Straße nach Feß, nachdem die Landung in der
Nähe des alten Tanger außer dem Bereich der Hafenbatterien bewerkstelligt
wäre.
Das Innere der Stadt hat wenig Bemerkenswerthes. Man geht durch
düstre vielgewundcne Gassen, in denen man einer trägen, mürrisch blickenden
Bevölkerung begegnet. Nur das europäische Quartier, wo sich die Wohnungen
der Konsuln befinden, gibt der Stadt eine gewisse Bedeutung und einiges
^eben. Es liegt im Südosten, also dem zur See Anlangenden zur Linken,,
hinter dem erwähnten doppelten Stockwerk von Wällen, die gegen den Hafen
wort machen. Die Wohnungen der Konsuln sind schön, haben jede einen
Hof und einen Garten und bieten in ihrer gemischten, halb maurischen, halb
europäischen Bauart einen ungemein malerischen Anblick. Zwischen denselben
stehen die Häuser der übrigen Europäer und der jüdischen Handelsleute. Sonst
'se in der ganzen Stadt nur eine Straße, die vom HafeNthor nach dem Thor
von Feß hinaufsteigende Alkassarijeh bemerkenswerth, indem sie als Bazar
°>eilt. Von den Moscheen ist nur die Hauptmoschee zu nennen, die ein ele¬
gantes Minaret besitzt. Einwohner gibt man der Stadt 8000. doch rechnen
ändere nur 6000 heraus. Der Hafen von Tanger ist wenig geräumig und
uicht sehr tief, indem bei der höchsten Flut das Wasser in ihm nicht über
^ Fuß steigt; auch ist er dem in diesen Strichen sehr heftigen Nordostwind
ausgesetzt. Die kleinen Kauffahrer, die nicht mehr als 5 bis 6 Fuß Wasser
bedürfen, können sich davor schützen, indem sie hart vor der Stadt Anker wer-
^U- Die Rhede ist tief und weit. Sie ist die beste in ganz Marokko und
,d)e einzige dieser Küsten, welche eine ganze Kriegsflotte aufnehmen kann. Doch
'se auch sie dem Nordost offen, und so müssen große Schiffe, wenn Sturm
^ost. eiligst^die Anker lichten, um die schützende spanische Küste aufzusuchen.
Tanger gehörte während des ganzen fünfzehnten Jahrhunderts den Por¬
tugiesen. 1662 kam es an England, welches den Platz aber schon 1684
Wieder aufgab, da die Garnison von den Mauren eng blockirt gehalten wurde
""d man damals Gibraltar noch nicht besaß. Bei der Räumung sprengte
'"an die Hauptwerke und den Hafendamm, dessen Trümmer noch jetzt einen
^den des Hakens unsicher machen. Uebrigens versandet auch die Rhede von
Jahr zu Jahr mehr, besonders auf der Südseite. Die Ruinen des alten Tin-
gis sind unter den Sandmassen, welche der Ostwind herzuweht. schon bis auf
wenige Spuren verschwunden, und der Fluß Adir, der den Hafen dieser Haupt'
stadt des tingitischcn Mauritaniens bildete und noch im Mittelalter maurische und
portugiesische Galeeren aufnahm, ist jetzt so seicht geworden, daß er nur noch
von Fischerbarken und auch von diesen nur während der Fluth befahren wer¬
den kann. Die Umgegend von Tanger ist auf der Südwestseite am frucht¬
barsten, doch kommt sie der von Tctuan nicht gleich an Schönheit und Frische-
Die Engländer beziehen von hier die Schafe. Ochsen, Früchte und Gemüse,
welche die Garnison von Gibraltar bedars. ein Umstand, der die nächste Ver¬
anlassung für das londoner Kabinet hergab, gegen eine etwa beabsichtigte
dauernde Besetzung Tangers durch die Spanier zu protestiren. Im Uebrige"
ist die Stadt weder als Handelsplatz noch als militärischer Posten von großer
Bedeutung. Tanger ist der von allen drei Hauptstädten des Reichs: Feß-
Marokko und Mcquiuez, entfernteste Hafen Marokkos. Es liegt 70 Lieues von
Feß, ebensoweit von Mcquinez und 150 Lieues von Marokko oder Maraksch,
und um nach letzterem von hier aus eine Botschaft zu senden und Antwort
zu bekommen, braucht man mindestens 40 Tage. In Betreff der Wichtigkeit
Tangers für die Beherrschung der Meerenge aber ist zu bemerken, daß es
überhaupt keine Wichtigkeit für dieselbe hat. da die Scestraße hier wenigstens
sechs deutsche Meilen breit ist. Beträgt die Breite derselben doch selbst «n
der schmalsten Stelle, da wo Ceuta und Gibraltar sich gegenüberliegen, zwei
volle Meilen. Von einer Verhinderung des Durchgangs einer Flotte durch
Beschießung derselbe» ist also selbst, wenn man sich den Felsen Tanks »ut
den schwersten Armstronggcschützen gespickt denkt, auch hier nicht zu reden-
Einestheils haben die Engländer in Gibraltar nur die eine Seite der Durch¬
fahrt inne, während die andere. Ceuta, den Spaniern gehört, und es
würde sonach eine England feindliche Flotte sich nur an die afrikanische
Küste zu halten haben, um den Kugeln der britischen Festung zu ent¬
gehen. Andrerseits aber würde selbst, wenn Ceuta englisch wäre, der Scha¬
den, den eine Kugel auf die Entfernung von einer deutschen Meile an¬
richten könnte, kaum erheblich sein. Dennoch darf die Wichtigkeit, welche
Gibraltar für Englands Macht im Mittelmeer hat, nicht unterschätzt wer¬
den. Es geht nämlich durch die Straße von Gibraltar eine Strömung
vom Atlantischen Ocean in das Mittelländische Meer, die so stark ist, daß
sie bei Westwind selbst von Dampfern nur mit großen Schwierigkeiten und
von Segelschiffen gar nicht befahren werden kaun. Eine Flotte also,
welche die Meerenge passiren will, muß diesen ungünstigen Wind erst bei
Gibraltar abwarten, um gegen die Strömung aus dem Mittelmeer hinaus¬
zugehen. Das vermag sie aber nur, wenn sie sicher ist, dort an der Me"'
enge einen Hasen zu finden, in dem sie warten oder in dem sie. mit günsti¬
gem Wind kommend, bei plötzlichem Umschlagen desselben sofort Schuh suchen
kann. Nun finden sich an der Straße aus dem Mittelmeer in das Atlantische
nur zwei solche Häfen: Gibraltar und Ceuta. und da letzteres in den Hän¬
den einer Macht ist. die als Seemacht keine Bedeutung hat, so hat anch der
Hufen Ceutas in obiger Beziehung keine Bedeutung, indem es die Engländer
jeden Augenblick verhindern können, daß er von Spanien einer ihnen feind¬
lichen Macht geöffnet wird. So kann man in gewissem Sinne sagen, daß
die Engländer jetzt beide Seiten der Meerenge beherrschen. Etwas ganz An¬
deres wäre es. wenn Ceuta den Franzosen gehörte; dann wäre der Besitz
Gibraltars für Großbritannien von unendlich geringerer Wichtigkeit.
Wir kehren nun zu den marokkanischen Küsten zurück. Beim Cap Spar¬
tel, welches zwei Lieues westlich von Tanger liegt, verläßt man die Meerenge
und tritt in das Atlantische Meer ein. Infolge der erwähnten reißenden
Strömung ist ein Kreuzen an diesen Küsten sehr schwierig, man ist gezwungen,
in kurzen Schlägen zu laviren und sich dem Lande möglichst nahe zu halten,
da man, in die Mitte des Kanals gehend, gewärtig sein müßte, von dem Men-
n'sstwm mit großer Schnelligkeit weit von den Punkten der Küste weggerissen
Zu werden, die man zu beobachten gekommen. Nachdem man das Kap Spar¬
te! umschifft hat, trifft man den kleinen Hafen Arzila, den früher die Por¬
tugiesen besaßen, und dessen Gestade sich sehr gut zu Truppenlandungen eignet.
Man erblickt eine malerische, theilweise in Trümmern liegende Kasbah, eine
Ringmauer, die mit Zinnen gekrönt und an einigen Stellen von einem tiefen
Graben eingefaßt ist. und mehre dicke Thürme, von denen zwei zur Aufnahme
von Geschützen eingerichtet sind. Die Mauer hat auf ihren langen Seiten
1500. auf den schmalen 1200 Fuß Länge. Die Stadt ist fast ganz verlassen.
Nur etwa 500 Maurer und Juden bewohnen dieselbe und ernähren sich vom
Ertrag ihrer Gärtchen und etwas Fischfang. Der größte Theil der Hänser
liegt in Ruinen. Handel wird nicht getrieben. Dagegen ist Arzila als mi¬
litärischer Posten nicht ohne eine gewisse Bedeutung; denn man könnte ohne
übliche Kosten die Ringmauer in Vertheidigungsstand setzen und aus dem
Orte ein Depot für die Operationen machen, die man zu Lande gegen Tanger
"der gegen das 7 Lieues südlich von Arzila gelegne Larasch vorzunehmen
gedächte.
Larasch, eine Stadt von etwa 8000 Einwohnern, liegt am Ausfluß des
El Kos und zwar am linken Ufer desselben, in bezaubernd schöner Gegend,
U'Ngrünt von Orangenhainen und wohlbewässertcn Anpflanzungen, die sich
SU beiden Seiten des Stromes bis in die Gegend der Stadt Alkazar El Ke-
bir hinziehen. Näher betrachtet verlieren indeß diese anmuthigen Gärten ganz
^enso wie die Stadt (wie jede orientalische Stadt), deren malerische Gestalt
mit ihren weißen Hausern, ihren zinnenbesetzten Mauern, ihren schlanken Mi¬
narets aus der Ferne entzücken, während das Innere nichts als dunkle Win-
kelgassen, Häuser ohne Fenster, die wie Gefängnisse aussehen und Haufen von
Schmutz und Schutt zeigt. In den Gärten von Larasch trifft man unver¬
edelte Obstbäume verschiedener Gattungen, die ohne je beschnitten zu werden
unordentlich durcheinander wachsen. Um den Stamm und die Wurzeln der¬
selben winden sich die Ranken von Gurken, Kürbissen und Wassermelonen.
Nur hier und da findet sich ein Beet mit einigen andern Pflanzen. Kaktus,
Aloe und ähnliche Schmarotzergewächse nehmen den übrigen Raum ein, durch
den schlecht gebahnte Pfade führen. Dagegen sind die Bewässerungskanäle
und die Wasscrvertheilung überhaupt mit Sorgfalt und Geschick angelegt.
Die Stadt liegt auf dem Nordabhang eines steil ansteigenden Hügels,
von dessen Gipfel sich ihre Häuser bis hinab an den Hafen ziehen, der durch
die Flußmündung gebildet wird. Sie hat acht Moscheen, von denen die
größte eine schöne Architektur zeigt. Ebenfalls sehenswerth ist der Bazar, der,
ein Werk der Portugiesen des sechzehnten Jahrhunderts, von bedeckten
Säulengängen umgeben ist und für den schönsten in ganz Marokko gilt.
Außerdem sieht man noch alte Kirchen und Magazine aus der Zeit, wo die
Stadt eine portugiesische Kolonie war. Larasch ist der Kriegshafen Marokkos,
es hat eine Art Seearsenal und es liegt hier gewöhnlich die Flotte des Reichs
vor Anker, die indeß jetzt nur ein paar im kläglichsten Zustande befindliche
Korvetten und Briggs und etwa 20 Kanonenboote zählt.
Die Befestigungen an der Stadt sind von der Art. daß sie einst M
sehr > stark gelten konnten und noch jetzt einigen Widerstand zu leisten ver¬
möchten. Man sieht eine buntscheckige Mischung maurischer und europäischer
Festungsbauten, zinnengekrönter Mauern und regelrecht angelegter Basteien
mit Schußscharten. Die Kasbah. auf dem Gipfel des Stadthügels gelegen,
ist von maurischer Bauart. Sie dient als Rückhalt für ein bastionirtes Fort,
auf das sich der ebenfalls bis ans Meer hinab mit Bastionen versehene
Stadtwall nach Westen hin stützt. Oestlich steigt dieser Wall von der Kas¬
bah bis zum Fluße nieder, den sie an dem Punkte berührt, wo ein nach den
benachbarten Salzwerken führender Kanal mündet. Das östliche Thor, nach
dem Innern des Landes sich öffnend, wird von zwei Halbbasteien geschützt-
Die Kasbah ist auf der Vorderseite von einer Lünette aus Mauerwerk gedeckt,
die einen Kchlschluß hat, aber ohne Graben ist. Im Westen erhebt sich ein
fünfeckiges, mit Bastionen und Ohrwerken versehenes Fort, welches die Rhede
bestreicht. Eine wohlarmirtc Doppelbatterie. 2100 Fuß von diesem Fort ent¬
fernt, vertheidigt die Einfahrt in den Fluß. Eine kleine Strecke weiter unten
endlich liegen Ruinen eines Hauses und einer Windmühle, die man von fern
für Batterien halten kann. Trotz dieser starken und zahlreichen Befestigungen
winde sich Larasch selbst von einer tüchtigeren Truppe als die Marokkaner
sind, nicht lange halten lassen. Der Platz leidet an Wassermangel. Die
Brunnen sind schlecht, und man muß sich sein Trinkwasser ans einer Quelle
holen, die außerhalb der Stadt, über tausend Schritt von der Ringmauer
liegt, und überdies; von den Geschützen der letzten, nicht Gestrichen werden
kann. Die Portugiesen hatten eine riesige Cisterne angelegt, aber die Träg¬
heit und Sorglosigkeit der Mauren hat sie zerfallen lassen. Noch mag er¬
wähnt werden, daß Larasch im Herbst einsehr ungesunder Ort ist, weil dann
die benachbarten großen Sümpfe eine giftige, den Europäern oft tödtliche
Fiebcrlust aushauchen.
Wir entnehmen die folgende Schilderung des Weihnachtsfestes in London
auszugsweise aus dem im vorigen Heft d. Bl. angezeigten kleinen Buch: All¬
tagsleben in London von Julius Rodenberg(Berlin. Verlag vonI. Springer.
1860). Es heißt dort: — Wer London nicht im Weihnachtskleid gesehen hat,
der kennt die Glorie von London nicht. Der weiß nicht, wie unaussprechlich
schlich, wie ausgelassen lustig London sein kann. — Es gibt in London keine
Christbäume mit den kleinen, lieben Kerzen auf den schwankenden Zweigen.
W't den Spielsachen und Goldschaumüpfelchen zwischen dem Grün und Lichter-
Slanz. und der fröhlichen Kinderschaar ringsherum — aber ganz London ist
°'n riesiger Christbaum, jede Straße ist ein grüner Zweig, jedes Haus eine
funkelnde Kerze daran ... Die deutsche Weihnacht ist ein Fest für die Kinder
und für die Großen, die mit den Kleinen wieder Kinder werden. Weihnachten
England ist ein Fest für die Erwachsenen, ja fast das einzige Fest, das sie
haben. Der steife Hochkirchcnzwang des Sonntags engt sie an diesem Feier-
t"ge nicht ein; sie dürfen jubeln, sie dürfen lachen, sie dürfen singen, sie dur-
!°n trinken .... die ganze unbändige Lust dieses starken Volkes darf sich
einem gewaltigen Freudenschrei Luft machen.
Weihnachten in England hat nur einen Tag. aber die Weihnachtsfreude
^g'und früher und dauert länger als bei uns. Schon in den ersten Tagen
des December schmücken sich die Schaufenster von London mit den grünen
Zweiten des und des „miMetoo", der Walddistcl und der Mistel,
zweier Gewächse, die man bei uns wenig nennt und wenig beachtet, die aber
bei der englischen Weihnachtsfeier die hervorragendste Rolle spielen. Ohne
Holly, ohne Misiletoe keine Weihnachtsfreude - sie sind das, was hei uns
die Tannenbäume sind, aber noch viel mehr, sie werden Tag für Tag auf
Niesenkarren hcrangcschleppt und wie anfänglich nur, als die ersten 'Borboten
der seligen Zeit, die Läden sich mit ihnen schmücken, so allmälig auch alle
Häuser, alle Zimmer, alle Thüren und Fenster, und zuletzt auch die Speisen,
die auf den Tisch getragen werden, so daß, wenn die Weihnachtsfreude ihren
Gipfel erreicht hat, ganz London sich mitten im Winter in einen grünen Wald
verwandelt hat, in dem die rothen Beeren des Holly, die weißen Beeren des
Mistletoc und die hunderttausend Lichter der Metropole glänzen. O, und eM
schöner unvergleichlicher Blick ist es, die Ncbclstadt auf einmal so schimmern
zu sehen — in den langen, unabsehbaren Straßen die glänzenden Läden no
ihrem grünbekränzten Lichterschmuck und Haus bei Haus mit einem frischen
Zeichen der allgemeinen Freude. Holly und Mistletoe gehen der Weihnacht^
freute voraus und begleiten sie treu bis zum Letzten; ein .gemalter Kranz von
Holly und darin die Worte: „a, merr^ Otiristiims a,M a. Im,pp^ ^o^v-^ear
schmückt jeden Brief, den man in dieser fröhlichen Zeit schreibt, und ein Mist'
lctocbüschel hängt von der Decke jedes Wohnzimmers herab — und glücklich
der Maun, der unter diesem Büschel ein schönes Mädchen trifft . . .
Unendlich reich ist der Volksgesang an Liedern zum Preise des geliebten
Holly. Eines davon, welches schon aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammt,
lautet folgendermaßen:
Nein Efeu, nein! Wie Dich's auch Schmerzen mag:
Der Vorrang kommt dem Hvlly zu um Weihnachtstag.
Holly steht in der Halle — ein grüner Wald.
Efeu steht vor den Thüren und ihm ist kalt.
Nein Ehen, nein! Wie Dich's auch schmerzen mag:
Der Vorrang kommt dem Hvlly zu am Weihnachtstag.
Der Holly, und seine Dienerschaft, die tanzen in den Kammern.
Der Ehen und seine Mädchen, die weinen und die jammern.
Der Holly, der hat Beeren, so roth als jede Rose.
Es schmückt der Jäger seinen Hut damit und grünem Moose.
Der Efeu, der hat Beeren, so schwarz als wie die Schiebe,
Es kommt, um sie zu essen, die Eule mit der Krühc.
Der Holly, der hat Vogel, die lustig ihn Umschweifen,
Die Nachtigall, der Grünspecht, die sitzen drin und pfeifen.
O, Du mein Efeu, welche Vögel hast denn Du?
Die Krähe mit der Eule, die schreien; hu, hu, hu!
Nein Efeu, mein! :e. ze.
In den mit Holly geschmückten Ladenfenstern sangen nun auch die „ma¬
teriellen" Freuden der Weihnachtszeit an verheißungsvoll zu prangen. Zuerst
"scheinen an dem Fenster der Publichäuser die Gänse- oder Pudding-Club-
Subscriptionscinladungen (denn hier im Lande der Association ist diese, an
deren Spitze als Unternehmer ein Wirth steht, und deren Mitglieder Jung¬
gesellen und alle diejenigen sind, die eine Gans oder einen Pudding allein
nicht bezahlen tonnen, vielleicht eine der ältesten); kurz daraus häufen sich die
Rosinen in den Fenstern der ehrsamen Grocer (Spezcreikrämcr) in beunruhigen¬
der Weise, ganze Schiffsladungen dieser edlen Früchte scheinen ausgegossen zu
sein. In den Fenstern der Buchläden und auf dem Tische der Straßenverkäufer.
wachen die Weihnachtsbücher, die Weihnachtönovellen und Weihuachtsblätter,
voll illustrirter Gedichte und schönvcrziertcr Lieder ihre Erscheinung; und der
deutsche Bazar verkauft Spielsachen und „Weihnachtsbaume auf deutsche
Manier", die aber sehr schwindsüchtig aussehen. Die Zeitungen sind voll
lockender Offerten von „ewistma.8-Irl>.mi>erL" (Weihnachtökörbc), die „für gar
kein oder doch so gut wie gar kein Geld" Alles von köstlichen Getränk ent-
halten, was der rechte Engländer sich nur zur Weihnachtsfreude wünschen mag:
XX—^l<z (doppelt-starkes Vier), XXX—'Wlri-etc^ (dreifach starken Schnaps),
^i'<1la1 girr (zu Herzen gehenden Genever), 10 Pfund Kaffee und Familien-
ruin (kann^-w-lind^). Als Geschenk für Braut und Weib werden sogenannte
Parsümcriekorbchen empfohlen, welche alle möglichen Sorten von Essenzen ent¬
halten und nur zwei Schillinge tosten. Sie sind aber auch darnach! — Am
Großartigsten entwickelt sich Kraft und Stoff der Weihnachtsvorfreuden in der
«e-Utto-sIivw,« der großen Ausstellung des Mastviehs, das in diesen Tagen
Statt findet. Es Ware allein einer Beschreibung werth, wie John Bull sich
in dem Fett seiner Schweine weidet und spiegelt, während das Vieh kaum
"och grunzen kann und sehnsuchtsvoll den Tod erwartet, der es von der un¬
säglichen Bürde des eigenen Fleisches befreie; wie die Vettern und Basen
aus der Provinz mit roth gefrorenen Gesichtern herumstehen und bewundern.
U"d im Vorgefühl des Kommenden essen und trinken, bis man mit den Wor¬
ten der Schrift sagen könnte: „die ganze Erde ist voll ihres Gcfräßcs!"
Zugleich mit den grünen und sonstigen Vorboten der Weihnachtszeit be-
sinnen auch die Theater von London an dem allgemeinen Jubel Theil zu
"ahnen und ihn zu steigern. Die Weihuachtspantomimen (Llrrit-tmus-
Vcwtymimks) nehmen ihren Anfang, und zauberhafte Decorationen, Feentänze.
Kobolde. Zwerge. Niesen und der ganze Spuk der Romantik, zuweilen in ab¬
scheuliche Fratzen verkleidet, nehmen die Bühnen Londons, vom Prinzeßthcater
b's hinab zum niedrigsten Volkstheater „auf der andern Seite des Wassers"
Ganz London mit seinen zwei Millionen fünfmalhunderttausend Menschen
'"^ehe „den Ritt ins alte romantische Land" mit. und die Vorliebe fürs
Wunderbare, die dem Nationalcharakter der Engländer so eigenthümlich ist,
verbunden mit ihrer Leidenschaft für Reichthum und persönliche Fülle und
Größe der Dimensionen machen diese Weihnachtspantomimen — die übrigens
bis zur Osterzeit ununterbrochen fortgespielt werden — zu einem Volksvergnü¬
gen, das für den fremden Beobachter viel Belehrendes hat. „Wenn es einen
Abend im Jahre gibt" (sagt William Maccull in seinem geistreichen Buche
(,Me,iormI missions"), an welchem unser Landsmann sich auf der Höhe der
Seligkeit befindet. so ist es der Abend, an welchem er zur Pantomime geht.
Warum? Weil er Alles auf so lächerliche Weise außer Verhältniß findet; und
er schreit vor Entzücken, wenn ein Trupp Gesichter, eine Elle breit und andert¬
halb Ellen lang im Gaslicht vor ihm starrt. Er sieht, was er selber sein
möchte, wenn er könnte!" —
Neben den Pantomimen, deren abenteuerlich verzierte Programme die
Außenseiten der Theater und die Anschlagebreter vor den Ladenthüren der
Hauptstraßen bedecken, erscheinen an den späten Abenden der Weihnachtszeit
die ,^a.it8«, d. h. Musikanten, die von Thür zu Thür gehen und ihr Ständ¬
chen bringen — leider keine Melodien mehr von der alten guten Art, sondern
meist moderne Arien von Verdi und populäre Tänze von Jullicn und Musa>d-
Dagegen hat sich noch manch ein Stück vom alten Weihnachtsgesang, dein
sogenannten „OIiristmÄL-LlU'ol" erhalten, und rührend genug ist es. die alten
Mütterchen oder den Krüppel zu hören, wenn er es an den Straßenecken singt-
Einige dieser Lieder sind von uraltem Datum, und das echte Gold der Volks¬
poesie ,se in mehr als einem derselben ausgeprägt.
Aus solche Weise wird Weihnachten in London eingeleitet, und man wird
nicht anders sagen können, als daß es eine ebenso heitre als sinnig poetische
Weise sei. Nun aber kommt der Tag selbst; und wenn sich die Freude des
Jahrs in der Weihnachtszeit, die Freude der Weihnachtszeit im WeihnachtZ-
tag, und die Freude des Weihnachtstages in dem Weihnachtsnuttagsmahl ge¬
gipfelt hat. so gipfelt sich die Freude der Weihnachtsmittagsmahlzcit in dem
Weihnachtspudding! Ein ganzes Buch könnte ich über den Weihnachts¬
pudding schreiben, und wahrlich, es würde nicht das erste Buch sein, das
darüber geschrieben worden ist. Es gibt gelehrte Abhandlungen und seiten¬
lange Gedichte über diesen Gegenstand, über die Zusammensetzung des Pud¬
dings (er besteht aus Fleisch, klein gehackten Ingredienzen aller Art und be¬
sonders Rosinen und Pflaumen), über die Art, wie er gebacken, aufgetragen
und verzehrt werden muß.
Mit dem Pudding geht die Glorie des Weihnachtstages freilich dahin-
und wenn die Rnmflamme, in welcher er seine Erscheinung macht, wegg>''
braune ist, so ist auch der hellere und pocsievollere Theil der Weihnachtsstcu-
den zu Ende, und ihr grober Bodensatz kommt zum Vorschein und macht sich
geltend. Dem Pudding zunächst folgt die Punschbowle, die den Abend füllt,
und deren Wirkungen das Vorspiel zu dem bilden, was sich am andern Tage
ereignen soll. Der Tag nach Weihnachten ist in London der tollste Tag des
Jahres; es ist der sogenannte Boxing-Tag. welcher für eine Weile die ganze
Metropole aus ihren Angeln zu heben scheint. Es ist, als ob an diesem
einen Tage jeder Mann das Privileg habe, aus Rand und Band zu gehen
und das zu verlachen, was an den übrigen dreihundert und vier und sechzig
Tagen als ..tronost' und „i'vLxöetablv" streng beobachtet wird. Bei Tage
sind die Straßen voll von jubilirenden Menschen, am Abend in den Theatern
Pflegen sie betrunken zu sein, und in der Nacht das Fest mit allgemeiner
Prügelei zu beschließen, so daß der Tag nicht umsonst den doppelsinnigen
Namen hat. Boxing-Tag und Boxing-Nacht bezeichnet nicht den Tag und die
Nacht, wo man sich boxen und prügeln soll; die Bezeichnung deutet auf die
..Geldbüchse", die an diesem Tage zum Besten der Arbeiter. Aufwärter. Lehr-
jungen und Postboten geschüttelt wird. Es ist eigentlich ein Dienstbotenfest,
aber die Freude steckt an. und ..Geben ist seliger denn Nehmen." Der Tag
ist, wie> so vieles im Englischen Volksleben, von kirchlich-katholischem Ursprung.
Die „Weihnachtöbüchse" (Lnristrmrs-box) war eine Büchse, „in der um diese
Zeit Geld gesammelt wurde, damit die Priester Messe lesen möchten, um für
die Ausschweifungen des Volkes Vergebung zu erhalten. Die Dienstboten
hatten alsdann auch das Recht. Geld zu sammeln, damit auch sie den Prie¬
ster Geld für seine Messe zahlen konnten, da sie die Wahrheit des Sprich¬
worts: „Kein Pfennig, kein Paternoster" wohl kannten. So sagt ein alter
Tractat über diesen Gegenstand. Die Priester und die Messen sind außer Ge¬
brauch gekommen; aber der Boxing-Tag ist geblieben, und — die Dienstbo¬
ten sammeln ihr Geld und behalten es sür sich selber. Der Schlächter und
der Bäcker schickt seinen Lehrjungen, die Köchin und Elisabeth, die schöne
Pförtnerin, klopfen bescheidentlich an, und das Mädchen der Wäscherin kommt
und der Stiefelputzer aus der Nagschule macht im rothen Habit seine Auf-
Wartung und Mr. Brooks, der Vorschneider im großen Saale des Divan,
und „Boots", der Hausknecht bei Mr. Spyr vom Swiß-House, sie kommen
Alle und thun ihre Hand aus, und das Register der unfreiwilligen Steuern
bat kein Ende am Boxing-Tag. Zuletzt kommt der Postbote — „und hart
wuß die Natur des Mannes sein, der nicht ein freundliches Gefühl sür den
Postboten hat", sagt die Times. Denn nun ist auch der Tag nicht mehr
Wue. wo der Postbote von London in seinem höchsten Triumphe erscheinen
Wenn der Rausch der Boxing-Nacht verschlafen, wenn der Ruf:
ein-iLtnms ir tai)i>> — „fröhliche Weihnacht und
glücklich Neujahr!" verhallt und die Festzeit bis zum Abend der heiligen drei
^imige alt den letzten Resten des Mummenschanzes und des Narrentönigrcichs,
des I^ol-ä ot' NiKruIo, in der gelehrten Schule von Eton und den Hallen des
Immer- und des Middletemple's vergangen ist — eine Zeit, von der der alte
französische Tourist Misson sagt, daß sie eine Mischung von Andacht und
Ausschweifung sei — dann kommt dieser Tag. Es ist der vierzehnte Februar,
der Tag des heiligen Valentin.^ Es ist ein wunderlicher Tag; Alles,
was sich in London liebt, neckt sich an diesem Tage. Und das unschuldige'
Werkzeug dieser in die Hunderttausende gehenden Neckereien ist eben er. --
der Protegü der „Times", der höfliche, harmlose Postbote, der Favorit von
uns Allen. Es ist eine alte Sage in England, daß um diesem Tage die Vö¬
gel sich paaren, und ein ebenso alter Sprachgebrauch nennt das Männchen
alsdann Valentin und das Weibchen Valentine. Daher mag der Gebrauch
gekommen sein, daß sich das junge Volk von London an diesem Tage auch
seine Valentins und Valentinen wählt und dem erwählten Gegenstand mit
mehr oder weniger Witz. Gefühl und Orthographie seine Liebe in anonyme»
Briefen gesteht. Es liegt uns ein Bericht des Londoner Postamtes vom
Valentinstag 1857 vor. Um neun Uhr Morgens wurden 150.000 Briefe
ausgegeben, um zehn Uhr 25.000. »in eilf Uhr weitre 175.000. Mittag
12.000 und bis zum Abend noch einmal 00.000; so daß an diesem Tage,
außer 145.000 Zeitungen. 422.000 Briese ausgetragen wurden, d. h. zwe>
bis dreimalhunderttausend mehr, als an allen andern Tagen des Jahres. -
'''(>
Im vorigen Heft haben wir unsere Ansichten und Erwartungen von der Würz¬
burger Conferenz ausgesprochen; es ist seitdem durch das officielle Blatt der sach'
fischen Regierung (9. December) eine Art Aufklärung gegeben. — Das Blatt geht
davon aus. daß die Thätigkeit des Bundestags sich von 1815—1848 auf die innere
und äußere Sicherheit des Bundes beschränkt habe. Diese Thätigkeit, obgleich «»
sich sehr heilsam, habe doch Niemand recht befriedigt, und das Jahr 1843 sei
natürlicher Ausdruck dieser allgemeinen Unlust gewesen. Man sei damals mit dem
Einheitsgedanken zu weit gegangen. Seitdem aber sei das Volk — bis aus einige
eigensinnige Parteien — geheilt worden. „Idealistische Vorstellungen seien von ihm
gewichen." Man wolle nur gemäßigte Verbesserungen. Früher seien solche von dem
Zusammenwirken der beiden Großmächte erwartet worden; dieses habe seit
aufgehört, und statt dessen sei ein durchgehender Gegensatz, sglso doch auch in den
Jahren 1852 —1858! j eingetreten. Deshalb wollten die kleineren Staaten die
Initiative übernehmen. „Die Conferenzen derselben bieten sich nicht als einen Ans-
K"UM>null für große Bestrebungen in Vczng auf die Bundesform dar... sie be¬
halten nur das praktisch Erreichbare im Auge, d. h. die Beschleunigung der schwcr-
Migcn Geschäftsverhandlung am Bundestage." Sie seien „ein Beweis, daß nicht
das föderative Princip, nicht die staatliche Vielheit in Deutschland es sind, welche
"ne kräftige Behandlung der nationalen Interessen fördern." Sie hätten nichts
prcußcnfcindlichcs; „wir wenigstens würden uns in Preußens Interesse dagegen ver¬
wahren, daß man buudcsfreundlich und preußeufcindli es für synonym
«klärte." „Die Conferenzen sind vollkommen frei in der Form- man fasse dort
keine für die Haltung am Bund verpflichtende» Majoritätsbeschlüsse."
Sehr viel erfährt man aus dieser Erklärung freilich nicht; der einzig namhaft
gemachte Zweck, die Beschleunigung des Geschäftsgangs am Bundestag verdient den
Dank des gesammten Publicums. Einiges ist indessen zwischen den Zeilen zu lesen.
Wenn auch die bisherige Form der Vundestagsverfassung nicht geändert werden
soll, so giebt das Dresdner Journal doch zu, daß der Inhalt derselben einer Erwei¬
sung bedarf. Zugleich deutet es auf die Nothwendigkeit hin, bei dem fortdauern¬
den Contrast zwischen Oestreich und Preußen Mittel zu finden, eine endliche Ent¬
scheidung wichtiger Fragen herbeizuführen. — Wenn auch nicht dem Namen, fo doch
Sache nach, handelt es sich in der That um eine Bundesreform. Und war
sollte auch die Nothwendigkeit derselben verkennen, da bei einer Lebensfrage Deutsch¬
lands sich die bisherige Form als nicht ausreichend ergeben hat? Preußen hat be-
hauptet, die formelle Erledigung der Frage: ob ein von Oestreich in Bezug auf
s""e italienischen Bcsijznngcn unternommener Krieg eine solche Gefahr sür das Bun-
desgebiet in sich schlösse, daß der Bund zur Kriegsrüstung befugt sei, eine formelle
Erledigung dieser Früge durch Majoritätsbeschluß sei keine materielle, und könne
Preußen nicht verpflichten. Ein Theil der andern Regierungen hat dagegen prote-
st're, und hierüber ins Klare zu kommen, ist allerdings die wichtigste Angelegenheit
Deutschlands; es ist über nicht möglich ohne freie Einigung aller Regierungen über
diesen Punkt. Denn dazu wird doch die Majorität nicht ausreichen, eine anthcn-
''sche Interpretation der Bundesacte in dieser wichtigen Angelegenheit zu liefern?
Es ist um so wichtiger, diese Schritte der Regierungen sehr aufmerksam ins
Auge zu fassen, da man täglich beobachten kann, wie unklar über das, was wir zu
hoffen und zu fürchten haben, noch immer die öffentliche Meinung ist. — Zwei neu
"'schiene," Schriften sind starke Belege dafür: die eine von einem „Gothaer" (Die
Reform der deutschen Bundesverfassung auf der Basis des Bestehenden und ohne
Ausschluß von Oestreich. Von einem norddeutschen Publicisten. Erlangen, Enkel;
d>c andere von einem „Demokraten" (Betrachtungen über die anzustrebende Einheit
Deutschlands, von Schüler, eben. Mitgl. der d. Rat.-Vers.). — Der „nord-
d">tsche Publicist" giebt eine Erklärung von „Gothaismus", welche, wenn sic r>es.
t'» wäre. uus zum entschiedensten Protest gegen jede Betheiligung an diesem Namen
^stimmen müßte Nach ihm wählt der „Gothaer" nämlich, wenn der eine von eben
^rgeschlngcnc Weg keinen Beifall findet, einen andern. Wir haben immer geglaubt,
'"an hätte mit größeren Recht den „Gvthacrn" den cntgcgcugcschtcn Vorwurf ge-
'"acht: den des eigensinnigen Bcharrcnö auf dem einmal festgesteckten Ziel. Dieses
^
Ziel haben sie immer im Auge gehabt, und jede Thatsache, die demselben näher j"
führen schien (ob zu eilig, ist eine offne Frage!), anerkannt, jeder Thatsache, die von
demselben abführte, aufs heftigste widersprochen. — Die Auskunft, welche der ,.P"'
blicist" vorschlägt, ist folgender: 1) ein Bundcsdirectorium (Ccntralrcgicrung). alter-
nirend zwischen Oestreich und Preußen; 2) ein Bundesrath (der bisherige eng/«
Ausschuß des Bundestags, präsidire von derjenigen deutschen Großmacht, die nicht
das Directorium führt); ?) eine Bundesversammlung (jeder Staat, z, B. Lichten-
stein und Waldeck. schickt 2. Braunschweig, Schwerin und Nassau je 4, Baden.
Hessen-Kassel, Hessen-Darmstadt, Holstein-Lauenburg je ki. die sechs andern Staaten je
8 Abgeordnete. Sehr charakteristisch ist. daß diese zur Hälfte von den Regierungen,
zur Hälfte vou den Ständen erwählt werden- der König von Dänemark und der
König der Niederlande ernennt also jeder 3 Abgeordnete zum deutschen Parlament!;
4) ein Bundesgericht. Das Alterniren zwischen den beiden Großstaaten würde einen
Zustand hervorbringen, in welchem Keiner weiß, wer Koch und wer Kellner ist; ^
aber der Kaiser von Oestreich gegen das Ansinnen, mit Preußen das Dircctoru»»
zu theilen, höflichst Protestiren, und den Verfasser, um den Umständen Rechnung
zu tragen, nöthigen wird, auf eine andere Auskunft zu denken, so darf man wohl
das ganze Project dahingestellt sein lassen. — Der „Demokrat" sagt viel Verstän¬
diges, ja lange Stellen könnten wir unterschreiben; aber er hat einen Fehler, er
kommt zu keinem Abschluß. — Er kritisirt zuerst die großdcutschcn Pläne, und si">
det sic zwar wünschenswert!), aber ganz unausführbar; dann die kleindeutschcn, v"d
findet sie nicht wünschenswerth und fast unausführbar. — Dennoch muß Deutsch'
land gerettet werden. — Zunächst soll Preußen rund und nett erklären, ob es die
Initiative zur Herstellung einer Centralgewalt ergreifen.wolle; sagt es Nein, gut,
dann werde man sich nach einer andern Macht umsehen; vielleicht würde Bayer"
sich willig zeigen; sagt es Ja! dann solle es aber sofort ans Handeln gehen, daS
Publicum könne ihm sonst sein Vertrauen nicht schenken. Später, wenn die Re¬
formen durchgesetzt, könne ja Preußen mit Oestreich im militärischen Oberbefehl al¬
terniren. — Worüber soll sich denn Preußen rund und nett erklären? über die Er¬
richtung einer großdcutschcn Centralgewalt? Der Verfasser hat ja selbst bei der
Kritik der großdcutschcn Pläne gezeigt, daß das von ihm nicht erwartet werten
kann. — Und die Centralgewalt. die den beiden Großstaaten zu schwer fällt, se'it
Bayern an sich nehmen? — Mit solchen Rathschlägen ist nicht viel zu machen.
Sehen wir uns wieder nach den Regierungen nur Die „Leipziger Zeitung" enthüll
über die preußischen Militärreformcn eine Reihe sehr lcsenswcrther Artikel, in dene"
die deutschen Zustände in größerer Nacktheit vorgeführt sind, als fast irgend ein
Blatt es gewagt hat. Indem sic die Entfremdung von Oestreich fast als eine
vollendete Thatsache bezeichnet, faßt sic die Eventualitäten ins Auge, die eintreten
könnten, falls Preußen fortführe, gegen den Willen seiner deutschen Bundesgenossen
die Rolle einer europäischen Großmacht zu spielen. Es könnte dann gar wohl el»
„Schmerzensschrei" der Bedrohten zu den Ohren dessen klingen, der SchmcrzcnSschrcic
gern vernähme i — kurz sic deutet auf die Möglichkeit einer deutsch-französische"
Allianz gegen Preußen, und bürdet, indem sic ihre Hände wäscht, alle Schuld einer
solchen auf Preußen.
Eine arge, ja eine erschreckende Voraussetzung, die man aber doch, der letztern
Behauptung wegen, naher untersuchen muß.
Preußen hat sich seine Lage nicht gemacht. Seine Stellung als europäische
Großmacht ist so alt als die „Souveränität" der deutschen Königreiche. Daß im
wiener Kongreß sein Gebiet dergestalt zersplittert wurde, daß es durch seine bloße
^ristenz die eingeschlossenen Staaten bedroht, daran ist es selber völlig unschuldig.
Die Verhältnisse sind höchst verwickelt, sie sind aber nicht unlösbar, wenn sie
^vn allen Seiten rücksichtsvoll behandelt werden. — Der Preis des Friedens,
^n Preußen 1815 bis 1848 zahlte — die vollständige Paralysirung seiner eignen
Kräfte —, war zu theuer; er würde auch nichts mehr fruchten, da Oestreich seine
Lethargie gleichfalls abgeschüttelt hat, da in Deutschland der Wunsch nach einem po¬
etischen Fortschritt sich immer heftiger regt, da in Preuße» selbst durch die consti-
tutionelle Verfassung die öffentliche Meinung ein Organ gefunden hat. — Der Nath,
Unter allen Umständen sich mit Oestreich zu verständigen, ist müßig- zu allen
Verständigungen gehören zwei. Oestreich war unter Metternich mächtiger, selbststän-
d'gar (es verlangte für seine italienischen Verwicklungen keine BuudcShilse!) und
weniger anspruchsvoll als heute. Wenn Preußen den seiner Lage angemessenen Ein¬
guß am Bunde, die Unabhängigkeit der Action nach Außen erlangt; wenn Hanno¬
ver und andere Länder es nicht fortwährend auf das empfindlichste daran erinnern,
d"s> sein Gebiet ein zerstückeltes ist: so wird es ihm nicht einfallen, mit Verleugnung
seiner natürlichen Sympathien eine Rolle zu spielen, die immer etwas Abenteuer-
"ches hätte. — Wie die Sachen jetzt stehen, ist Preußen nicht mehr der Angreifer,
sondern die Koalition der andern deutscheu Staaten, die Preußen in eine gegen seine
bisher als gerecht anerkannten Ansprüche untergeordnete Lage bringen wollen. Die
^'"ißischc Regierung und das preußische Volk sind ebenso deutsch gesinnt als jede
Erinnerungen an die Jahre 18V7 —181!Z. Von Prof. Siegfried
.^U'sah. — Berlin, Hertz. — Ein anziehendes Gemälde der Persönlichkeiten, die sich
jener Periode um das preußische Königshaus gruppirtein I. Müller. Fichte, Achin
^ Arnim, Schleiermacher, Schenkcndorf, Erzbischof Borowski u. s. w. „Man ver-
Mßt leicht, daß nicht blos die Ausklärung, daß auch die Romantik ein berliner Kind
^' Ihren Führern nach stammt sie zu gutem Theil aus dem, Rathhaus und von
Zunstbank Berlins. - Ihre ersten Leistungen fallen in die Jahre 17»!;—1705,
' " hier noch der Proceß des Zopfschulzcn die wichtigste öffentliche Angelegenheit war.
fthx merkwürdiges Zusammentreffen: es zeigt recht, wozu dieser Boden bestimmt
'se- Die classischen Dichtungen, die Philosophischen Systeme sind hier nicht zum
eben gekommen: deren Geburt suchte stillere Hallen; erst da sie reif und fertig, sind
''e auf diese Bühnen, in diese Hörsäle getragen worden. Aber Alles, was Kampf
ist, gehört hierher: die Schlachtn, werden hier geschlagen/' — Ueber den Beruf
Preußens ist viel ErnstdnrchdachteS gesagt, und überhaupt enthält das kleine Schrift-
chen weit mehr, als man nach seinem Umfang (von nur 5« Seiten) vermuthen
sollte, —''
Kcrkcrwonne. Historischer Roman aus dem Anfang des 18, Jahrhunderts,
von W, Bach manu. Berlin, Decker, Wie die beiden frühern Romane des Ver¬
fassers (Fürst Liebchen, 185«! und Schloß Krnkau 1858) dem Original des Grafen
Rzcwnsti nachgebildet, — Ein eigentlich belletristisches Interesse zu erregen, Scheit
nicht eiunial im Plane des Verfassers gelegen zu haben; denn von Einheit der
Handlung ist, abgesehen von der Einheit der Person, um welche sich Alles dreht,
nicht die Rede; dagegen ist die historische Farbe der Zeit in vortrefflicher Frische n>'d
Deutlichkeit wiedergegeben, und wir werden aufs lebendigste in die polnischen Zu¬
stünde ans der Periode Johann SobicSkis und seiner Nachfolger versetzt. Dieser
historische Werth des Buchs ist um so hoher anzuschlagen, je unbekannter jene
Zeiträume im Ganzen dem größern Publikum sind.
Englisches Lesebuch. enthaltend chronologisch geordnete Meisterstücke der
Hanptiepläsentantcn der einzelnen Gattungen englischer Prosa, Biographien, Kri¬
tiken und eine kurze Geschichte englischer Prosa von F. A. Mu n mal. Leipzig, Gräb-
ner. — Von der ersten Periode der englischen Literatur (bis 1558) ist nur wenig
angeführt, mit Recht, wegen der pädagogischen Bestiinnnuig des Buches; reichhaltiger ist
schon die zweite (bis 1In>0) vertreten, namentlich durch starke Auszüge aus Bacon; wie
den» überhaupt das Buch einen durchweg ernsten Charakter hat; der historisch-philoft'-
phische Theil übcnviegt, wenn auch die Romane und humoristischen Schriften, »>it
zweckmäßiger Auswahl (namentlich Ficlting, Sterne, Scott. Bulwer, Irving,
Dickens). nicht verschmäht werden. Die weiter» Perioden (bis 1702. 1727, 17^,
1800, 1830) sind ziemlich gleichmäßig bedacht. El» poetischer Theil soll folgen. ^
-,.
Gehalte» in der feierlichen Sitzung der kön. Akademie
der Wissenschaften am 10. Nov. 1850 von Jacob Grimm. Berlin. Dünunlcr.
— Zu bei» große» Nativnalscste hat Jeder. gering oder erheblich, sein Scherflein
beigetragen; hier aber spricht ni» Mann, vor den, wir alle verstummen müssen. An
Jahren ein Greis, an Lebensfrijche und Lebensmuth noch ein Jüngling, gibt J^ob
Grin.in vo» der Bedeutung Schillers einen seharfgcprägte» Umriß, den sich Jeder
ins Gedächtniß eingraben sollte. — Wir lassen ihn zuerst in dem Felde reden, das
>h»r eigentlich angehört. — „Unleugbar besitzt Goethe die größere Sprachgcwalt, ja
eine so seltene und vorragende, daß insgemein kein andrer'unsrer deutschen Schrift'
steiler es ihn. darin gleichthut. Wo er seine Feder ansetzt, ist unnachahmlicher Reiz
Und durchweg fühlbare Anmuth ausgegossen. Eine Menge der feinsten und erle¬
sensten Wörter und Wendungen ist zu seinem Gebot, und stets an den eigensten
Stellen. Seine ganze Rede fließt überaus gleich und ehe», reichlich und ermessen-
kaum daß ein unnöthiges Wörtchen steht; Kraft und Milde, Kühnheit und Zurück¬
halten, alles ist vorhanden. Hierin kommt ihm Schiller nicht bei, der fast nur über
e>n ausgewähltes Heer von Worten herrscht, mit dem er Thaten ausrichtet und
Siege davonträgt; Goethe aber vermag der schon entsandten Fülle seiner Nedemncht
ans ungeahntem Hinterhalte, wie es ihm beliebt, nachrücken zu lassen... Er schal¬
tet in der Schriftsprache königlich. Seine Prosa wird zum mustergültigen Canon
und bleibt selbst im canzleimäßigcn Hoffen, den er in alten Tagen allzuoft anwen¬
de, gcfug und geschmeidig, für die Bearbeitung des deutschen Wortschatzes ist es
garnicht zu sagen, wieviel aus ihm allenthalben geschöpft und gewonnen werden
könne oder müsse. — Eben darin, daß Schiller in etwas engerem Kreise der Sprache
s'es bewegt, liegt doch sein stärkerer Einfluß auf das Volk mitbegründet, denn seine
Rede weiß alles, was er sagen will, zierlich ja prachtvoll auszudrücken und wird
genau verstanden . . . Das Alterthum unsrer Sprache blieb ihm fremd, er hat sich
untadelhaft blos an der heutigen Schriftsprache groß erzogen, deren Macht er so
bedeutend steigerte. Seine Lieder halten durchaus den Stil der gebildeten Gegen¬
wart und stehen auf deren Gipfel, was dem Volk gefällt, dem gleichfalls die alte
Weise der Vergangenheit fremd geworden ist, und das nur in den jetzigen Stand¬
punkt vorschreiten und sich darin einweihen lassen will." — Tiefer, als es jemals
geschehen, spricht sich I. Grimm in religiöser Beziehung aus. „Vielfach ist der Glaube
Unserer Dichter schnöde verdächtigt und angegriffen worden von Seiten solcher,
welchen die Religion statt zu beseligenden Frieden zu unaufhörlichem Hader und Haß
gereicht. Zu den Tagen der Dichter war die Duldung größer als heute. Welche
Verwegenheit heißt es, dem, der blinder Gläubigkeit anheimfiel oder sich ihr nicht
gefangen gab, Frömmigkeit einzuräumen und abzusprechen! Der natürliche Mensch
hat. wie ein doppeltes Blut, Adern des Glaubens und des Zweifels in sich, die
heute oder morgen bald stärker bald schwächer schlagen. Wenn Giaubensfähigkeit
e>»c Leiter ist, auf deren Sprossen empor und hinunter zum Himmel oder zur Erde
Wiegen wird, so kann und darf die menschliche Seele auf jeder dieser Staffeln re>-
s^n. In welcher Brust wären nicht herzquälcndc Gedanken an Leben und Tod.
Beginn und Ende der Zeiten und über die Unbegreiflichkeit aller göttlichen Dinge
Aufgestiegen, und wer hätte nicht auch mit andern Mitteln Ruhe sich zu verschaffen
gesucht als denen, die uns die Kirche an die Hand reicht! . . . Die lebendige Religion
'se auch die wahre, vor ihr kann nicht einmal von Ncchtglüubigkcit die Rede sein,
'"«l scharf genommen alle Spitzen des Glaubens sich spalten und in Abweichungen
vergehen. Aus Männern, deren Herz voll Liebe schlug, in denen jede Faser zart
""d innig empfand, wie könnte gekommen sein, was gottlos wäre! Mir wenig¬
e's scheinen sie frömmer als vermeinte Rechtgläubige, die ungläubig sind an das
'!>n immer näher zu Gott leitende Edle und Freie im Menschen." — Nach d.e,en
^erquickenden köstlichen Worten nur noch eine Bemerkung, die wir mit wahrem
5übel gelesen haben. — „Nicht einmal drei volle Jahre vor seinem Tode wurde
Schiller der Adel zu Theil, und seitdem erscheint der einfache Name durch ein sprach¬
ig angeschobenes von verderbt... Dem unerbittlichen Zeitgeist scheinen solche
Erhebungen längst unedel, geschmacklos, ja ohne Sinn . . , Ein Geschlecht soll auf
seinen Namen, wie ein Volk ans sei» Alter und seine Tugend stolz sein, das ist
natürlich und recht; unrecht al>er scheint, wenn ein vorragender freier Mann zu»'
Cdeln gemacht und mit der Wurzel aus dem Boden gezogen wird, der ihn erzeugte,
daß er gleichsam in andere Erde übergehe, wodurch dem Stand seines Ursprungs
Beeinträchtigung und Schmach widerfährt; oder soll der freie Bürgerstand, aus
dem nun einmal Goethe oder Schiller entsprungen, aufhören sie zu besitzen?'"
Es ist undcutschcr Stil oder gar Hohn zu schreiben ?rin:ärj<zü von Lciliillor; über
solchen Dingen liegt eine zarte Eihaut des Volksgefühls." — Es sind noch viel Be¬
trachtungen von sehr, sehr ernstem Gewicht, in dieser Rede; man möge sie selber
Ans die beiden großen kulturhistorischen Feste ist ein kleines, locales gefolgt,
das aber bei uns nicht weniger gemüthlichen Anklang gefunden hat: die Feier
des Tages, an welchem Frau Günther-Bachmann vor 25 Jahren zum ersten¬
mal unsere Bühne betrat. Sie ist. gegen die Gewohnheit unserer heutige»
Künstler, stets auf derselben geblieben, obgleich sie sich unter andern Verhältnissen
vielleicht ein glänzendes Loos Hütte bereiten können; denn im Fach der Soubretten
(Spiel und Gesang) hatte sie in Deutschland nicht leicht ihres Gleichen. Ein sehr
glückliches, anziehendes Naturell, ein seiner, echt künstlerischer Sinn in der Auffassn"«
jeder Rolle, ernstes Studium und harmonische Durchbildung, das alles findet sich
in dem gleichen Maß nicht leicht zusammen. Es freut uns. daß Leipzig seine Dank¬
barkeit — diese Bezeichnung ist hier ganz am Ort — in entsprechender Weise an
den Tag gelegt hat.-
-ii,
Im letzten Heft der Grenzboten (Ur. 50) ist auf Seite 439 Zeile 5 v. "
statt Westmann Westermann, auf Seite 440 Zeile 2 v. e>. statt Lvrcks Zeitscbnfre"
Lvrcks Zcitheftcn und auf derselben Seite Zeile 8 v. o. Schwind statt Swind
zu lesen.
Abonttementsnuzeige zum neuen Jnhr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grcnzbotrtt
den ^.L^. Jahrgang. Die unterzeichnete Lerlagshaudlung erlaubt
sich zur Pränumeration auf denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December 1 Fr. Ludw. .Herbig.
Heinrichs von Kleist Briefe an seine Schwester Ulrike, Herausgegeben von A. Köder¬
st ein, Berlin, Schweden ^
Schon im Nachtvag zu der neuen Ausgabe der Kleist'schen Schriften (Ber-
l'n, G. Reimer: III S, 420) habe ich auf das bevorstehende Erscheinen
dieser wichtigen Briefe aufmerksam gemacht, von denen ich leider erst erfuhr,
meine „Einleitung" schon ausgegeben war. Zwar werden durch sie die
Räthsel in dem Leben des Dichters nicht gelöst, es wird in dem Bilde sei-
'^s Charakters nichts Wesentliches geändert; aber über verschiedene Daten
turas Lebens, die bisher nur nach der Ueberlieferung mitgetheilt wurden,
haben wir nun urkundliche Zeugnisse; und zwar nicht der Grund seiner Stim-
Zungen, aber die Farbe derselben gewinnt ein volleres Licht. Nicht ohne die
^löste Rührung kann man diese Spuren einer tiefen, aber unklaren Natur
d"tthlesen.
Freilich machen sie, im Ganzen betrachtet, keinen erquickenden Eindruck;
k'n nicht kleiner Theil enthält Geldangelegenheiten. Ulrike hat ihren Bruder
"Ut einer Hingebung ohne Gleichen, mit Aufopferung ihres Vermögens (sie
"'übte zuletzt eine Pension halten) bis kurz vor seinem Ende unterstützt. Er
'^'te sie dankbar und innig, küßte ihre Hand, warf sich ihr zu Füßen, aber
7" läßt sich nicht an ihrem Busen rudert" — Die wenigen Briefe an
-Annette Schlieben und eine geistreiche Freundin (offenbar Frau v, Kleist, die
bester des bekannten Major Gualtieri) haben einen viel seelenvol-
"ren Ton.
Die ersten Briefe sind gerade so pedantisch lehrhaft, als die an Wilhel-
N"ne.») dieser lehrhafte Ton findet sich schon in einem Brief, 25 Febr. 95,
" er als I8jähriger Junker aus einem westphälischen Standquartier schrieb
^uFe vor seinem Studium der Kantischen Philosophie. Am merkwürdigsten
I^ne lange Epistel, worin er sie tadelt, keinen bestimmten Lebenszweck zu
haben. Das Poetische in seiner Natur entwickelte sich verhältnißmäßig sehr
spät. — Doch sind einige Aeußerungen sehr wichtig für das Verständniß
seines Innern. — 12 Nov. 99. — „Vorsähe und Entschlüsse wie die meinigen
(ausschließlich den Wissenschaften zu leben) bedürfen der Aufmunterung und
der Unterstützung mehr als andere vielleicht, um nicht zu sinken. Verse ander
wenigstens mochte ich gern zuweilen sein, wenn auch nicht gelobt; von einer
Seele wenigstens" u. s. w. — „Nenne es immerhin Schwäche von mir, daß
ich mich so innig hier nach Mittheilung sehne, wo sie mir so ganz fehlt-
Große Entwürfe mit schweren Aufopferungen auszuführen, ohne selbst auf den
Lohn, verstanden zu werden. Anspruch zu machen, ist eine Tugend, die
wir wohl bewundern, aber nicht verlangen dürfen... Meine Absichten und
meine Entschlüsse sind solche Schaumünzen, die aus dem Gebrauch gekommen sind
und nicht mehr gelten; daher zeige ich sie gern zuweilen einem Kenner der
Kunst, damit er sie prüfe und mich überzeuge, ob. was ich so emsig u»d
eifrig sanimle und aufbewahre, auch wohl echte Stücke sind oder nicht.---
Mit Recht kann man ein Mißtrauen in solche Vorsähe sehen, die unter so
vielen Menschen keinen finden, der sie verstände und billigte. Aber doch ist
es mit den meinigen so" u. s. w. — Der Drang nach Mittheilung wird
aber durch eine gewisse Beklommenheit gehemmt, die ihn immer öfter er-
greift. Er findet das sehr natürlich. „Wenn ein Anderer z, V. . . einen Ro¬
man gelesen hat, der einen starken Eindruck auf ihn machte und ihm die
Seele füllte, wenn er nun mit diesem Eindruck in eine Gesellschaft tritt, er
sei nun froh oder schwermüthig gestimmt, er kann sich mittheilen, und man
versteht ihn. Aber wenn ich meinen mathematischen Lehrsah ergründet habe,
dessen Erhabenheit und Größe mir auch die Seele füllt, wenn ich nun >»>t
diesem Eindruck in eine Gesellschaft trete, wem darf ich mich mittheilen, wer
versteht mich? Nicht einmal ahnden darf ich lassen, was mich zur Bewunder-
r,ng hinriß, nicht einen von allen Gedanken darf ich mittheilen, die mir
die Seelen füllen. Und so muß man denn freilich zuweilen leer und gedanken¬
los erscheinen, ob man es gleichwohl nicht ist."
Psychologisch ist in diesen Aeußerungen vieles interessant. Kleist ist des'
lig, ungestüm in seinen Entschlüssen, er ist von unendlichem Eifer im ersten
Versuch ihrer Durchführung; aber diese Hast ist die Reaction gegen das dunkle
Gefühl seines Wantelmulhs, und dieser Eifer läßt nach, sobald er zu lange
mit dem Widerwillen oder der Gleichgültigkeit der Andern zu kämpfen hat-
Er bedarf der Anerkennung; die Heftigkeit des Räsonnements, womit er seine
Entschlüsse vertheidigt, verdeckt eine innere Unsicherheit. Noch irrt er in
seinem Lebensberuf; er ist nicht zum Gelehrten bestimmt. Einem Mathema¬
tiker von Profession ist es ganz gleichgültig, ob sich die Damen seines Umgangs
für den pythagoreischen Lehrsah interessiren oder nicht; sein geselliges Lebe»
Und sein wissenschaftliches sind zweierlei. Bei einem Dichter ist es freilich
ganz anders, und schon schlummerte in Kleist der Dichter, ohne ihn doch
durch entschiedenes Hervortreten zu beglücken. Die Stütze der positiven Reli¬
gion fehlte ihm schon damals (S. 20); er mußte seinen Schwerpunkt selbst
suchen, und der Genius in seinem Innern sprach nicht vernehmlich genug. —
Bei Gelegenheit einer kleinen Reise aus Berlin nach Frankfurt (S. 25) schreibt
N". „Ich mußte mir diese Zerstreuung machen, weil mich das Brüten über die
schwangere Zukunft wieder ganz verstimmt hatte. In meinem Kopf sieht es
aus wie in einem Lottcricbeutel, wo neben einem großen Loose tausend
nieder liegen. Da ist es wohl zu verzeihen, wenn man ungewiß mit der Hand
unter den' Zetteln herumwühlt. Es hilft zwar zu nichts, aber es entfernt
doch den furchtbaren Augenblick, der ein ganzes Lebensgeschick unwiderruflich
entscheidet. . . Das Schlimmste bei dieser Ungewißheit ist, daß Niemand mir
rathen kann, weil ich mich keinem Andern ganz erklären kann."
Er rettet sich aus dieser Qual durch einen Einfall. Die Würzburg-Wie-
n°r Reise mit Brotes wird schon 14. Aug. 1800 projectirt; was er will, wird
ein tiefes Geheimniß gehüllt; Koberstein stellt eine Conjectur auf. die er
selber mit Recht als unhaltbar bezeichnet: eins ist klar, er will den ungestümen
Lagern aus dem Wege gehen. Nach Wien scheint er gar nicht gekommen
^ sein, in Würzburg leben sie müßig. Er scheint den Zweck verheimlicht zu
haben, weil er ihn selber nicht wußte. Es trieb ihn. wie später nach Paris,
^r läßt sich seinen Aufsatz über die Kantische Philosophie nachschicken, eiligst;
^ wollte versuche», ob sich „etwas fände." Man vergleiche die Eröffnungen
an Wilhelmine über seine Geheimnißkrämerei bei der spätern Pariser Reise!
Es findet sich nicht; er kehrt, 27. Oct., nach Berlin zurück, und soll uun
Rede stehn. „Du möchtest wol die Einzige sein auf dieser Erde, bei der ich
zweifelhaft sein könnte, ob ich das Geheimniß uun beenden soll oder nicht?
Zweifelhast, sageich; denn bei jedem Andern bin ich entschieden, nie wird
^ aus meiner Seele kommen. Indessen die Erklärung wäre sehr weitläufig .. .
Nach Frankfurt möchte ich jetzt nicht gern kommen, um das unausstehliche
Tragen zu vermeiden, da ich durchaus uicht antworten kann. Denn ob ich
gleich das halbe Deutschland durchreist bin, so habe ich doch im eigentlichsten
verstände nichts gesehen." - Die Frager! Nur eins ist klar: die Reise hat
sehr viel Geld gekostet; wir finden ihn im folgenden Monat als Volontär im
Finanzdepartement beschäftigt (er scheint in Frankfurt neben der Mathematik
"und Cameralia getrieben zu haben), wo es ihm aber nicht gefällt. Was er
darüber mittheilt, ist ganz unerheblich. Den Ausschlag scheint die Zumuthung
gegeben zu haben, er solle über dis praktische Brauchbarkeit eines Buchs über
Mechanik referiren, zu dessen gründlichem Studium ein Jahr gehörte.
Wichtiger sind die Mittheilungen über sein Inneres. — 5. Febr. 1801.
„Gern möchte ich dir Alles mittheilen, wenn es möglich wäre. Aber es ist
nicht möglich, und wenn es auch kein weiteres Hinderniß gäbe, als dieses,
daß es uns an einem Mittel zur Mittheilung fehlt. Selbst das einzige, das
wir besitzen, die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen,
und was sie gibt, sind nur zerrissene Bruchstücke. Daher habe ich jedesmal
eine Empfindung wie ein Grauen, wenn ich Jemandem mein Innerstes aufdecken
soll; nicht eben weil es sich vor der Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht
Alles zeigen kann, nicht kann, und daher fürchten muß, aus den Bruch¬
stücken falsch verstanden zu werden." — „Gern null ich immer thun, was
recht ist, aber was soll man thun, wenn man dies nicht weiß? Dieser innere
Zustand der Ungewißheit war mir unerträglich, und um ihr ein Ende zu ma¬
chen ... . beschloß ich. nicht aus dem Zimmer zu gehn, bis ich über einen
Lebensplan entschieden wäre; aber acht Tage vergingen, und ich mußte doch
am Ende das Zimmer unentschlossen wieder verlassen. — Ach, du weißt nicht,
wie mein Innerstes oft erschüttert ist. — Du verstehst dies doch nicht falsch-
— Ach es gibt kein Mittel, sich Andern ganz verständlich zu machen, und
der Mensch hat von Natur keinen andern Vertrauten als sich selbst." — „I"
Gesellschaften komme ich selten. . . Ich passe nicht unter die Menschen, es ist
eine traurige Wahrheit, aber eine Wahrheit; und wenn ich den Grund ohne
Umschweif angeben soll, so ist es dieser: sie gefallen mir nicht. Ich weiß
wohl, daß es bei dem Menschen wie bei dem Spiegel eigentlich auf die eigne
Beschaffenheit beider ankommt, wie die äußern Gegenstände darauf einwirkn
sollen; und mancher würde aufhören über die Berderbtheit der Sitten zu
schelten, wenn ihm der Gedanke einfiele, ob nicht vielleicht blos der Spiegel
in welchen das Licht der Welt fällt, schief und schmutzig ist. Indessen wen»
ich mich in Gesellschaften nicht wohl befinde, so geschieht dies weniger, weil
Andere, als vielmehr weil ich mich selbst nicht zeige, wie ich es wünsche
Die Nothwendigkeit, eine Rolle zu spielen, und ein innerer Widerwille dagegen
machen mir jede Gesellschaft lästig, und floh kann ich nur in meiner eignen
Gesellschaft sein, weil ich da ganz wahr sein darf. Das darf man unter
Menschen nicht sein, und keiner ist es. — Ach es gibt eine traurige Klarheit'
mit welcher die Natur viele Menschen, die an dem Dinge nur die Oberfläche
sehen, zu ihrem Glücke verschont hat. Sie nennt mir zu jeder Miene den Ge¬
danken, zu jedem Wort den Sinn, zu jeder Handlung den Grund, — sie
mir Alles, was mich umgibt und mich selbst in seiner ganzen armseligen Blöße,
und dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit.*)--Dazu kommt bei nur
m¬
eine, unerklärliche Verlegenheit, die unüberwindlich ist. weil sie wahrscheinlich
""e ganz physische Ursache hat. Mit der größten Mühe nur kann ich sie so
verstecken, daß sie nicht auffällt; — o wie schmerzhaft ist es. in dem Aeußern
Miz stark und frei zu sein, indessen -man im Innern ganz schwach ist. wie
"n Kind, ganz gelähmt, als wären uns alle Glieder gebunden, wenn man
sich nie zeigen kann, wie man wol mochte, nie frei handeln kann, und selbst
d"s Große versäumen muß, weil man voraus empfindet, daß man nicht Stand
galten wird, indem man von jedem äußern Eindrucke abhängt, und das al¬
bernste Mädchen oder der elendeste Schuft von Elegant uns durch die mat¬
teste Persiflage vernichten kann. — Das alles verstehst dn vielleicht nicht, es
'se wieder kein Gegenstand für die Mittheilung, und der Andere müßte das
«lief aus sich selbst kennen, um es zu verstehen. — Selbst die Säule, an wel¬
cher ich mich sonst in dem Strudel des Lebens hielt, wankt. Ich meine die
^lebe zu den Wissenschaften. — Aber wie werde ich mich hier wieder ver¬
ständlich machen? — Es ist ein bekannter Gemeinplatz, daß das Leben ein
schweres Spiel sei; und warum ist es schwer? Weil man beständig und immer
von Neuem eine Karte ziehen soll, und doch nicht weiß, was Trumpf ist; ich
'"eine darum, weil man beständig und immer von Neuem handeln soll, und
doch nicht weiß, was recht ist. Wissen kann unmöglich das Höchste sein.
Handeln ist besser als Wissen." U, s, w. — „Alle Männer, die mich kennen.
^l)er mir, mir irgend einen Gegenstand ans dem Reiche des Wissens aus¬
zuwählen und diesen zu bearbeiten.' — Ja freilich, das ist der Weg zum
^"sine. aber ist dieser mein Ziel? Mir ist es unmöglich, mich wie ein Maul-
^'Urf in ein Loch zu graben und alles andere zu vergessen. Mir ist keine
Wissenschaft lieber als die andere, und wenn ich eine vorziehe, so ist es nur,
^le einem Vater immer derjenige von seinen Söhnen der liebste ist, den er
eben bei sich sieht. — Aber soll ich immer von einer Wissenschaft zur andern
liehen, und immer nur auf ihrer Oberfläche schwimmen und bei keiner in die
Tiefe gehen?... Ich habe freilich einen Vorrath von Gedanken zur Antwort
""f alle diese Zweifel. Indessen reif ist noch keiner." — Anderthalb Monate
^mus, 22. März 1801: „Es scheint, als ob ich eines von den Opfern der
Thorheit werden würde, deren die Kantische Philosophie soviele auf dem Ge¬
wissen hat. Mich ekelt vor dieser Gesellschaft und doch kann ich mich nicht
kreißen aus diesen Banden." Und nun folgt eine fast wörtliche Wieder-
bvwng des an demselben Tage an Wilhelmine geschriebenen Briefs: der Ent-
'
Schluß. nach Paris zu gehen und die Wissenschaften aufzugeben. — Wie er seine
dienstliche Stellung löste, wird nicht gesagt.
Der innere Zusammenhang ist deutlich: daß er nicht zum Gelehrten gebo¬
ren war. fühlte er entschieden, und verallgemeinerte diese individuelle Wahrheit;
daß er ein Dichter sei, sollte er eist lernen. Zunächst empfand er sich als
unbrauchbar, und suchte der Qual dieses Gefühls durch eine Reise zu entfliehen.
— Daß er endlich die Auskunft fand. Bauer in der Schweiz zu werden, ist
bekannt; ebenso, daß dieser Entschluß zum Bruch mit seiner Braut führte. Und
seltsam! von diesem Bruch ist in den Briefen an Ulrike gar keine Rede; die
Familie wird noch mehrmals erwähnt, aber nicht einmal ein stiller Seufzer
klingt heraus. Das Verhältniß scheint nie recht tief gewesen zu sein.*)
Auf der Rückreise verließ Kleist (Dec. 1801) in Frankfurt a. M. seine
Schwester, um nach Basel zu gehen, wo er Zschokke vermuthete, den sie viel¬
leicht von Frankfurt a. O. her kannten, wo er bis 17S5 gewesen war. Ueber
diese Trennung empfand er später starke Gewissensbisse, namentlich da Ulriken
ein Unfall begegnete. „Aber Gott weiß, daß oft dem Menschen nichts anderes
übrig bleibt, als Unrecht zu thun." (16. Dec. 1801.) ,.Ach Ulrike! ein un¬
glückseliger Geist geht durch die Schweiz, es feinden sich die Bürger unter¬
einander an. O Gott, wenn ich doch nicht fände, auch hier nicht fände, was
ich suche, und doch nothwendiger bedarf als das Leben!" — Er folgt Zschokke
den er in Basel nicht antraf, nach Bern; von dort schreibt er 12. Jan. 1802!
„Zurückkehren zu euch ist, so unaussprechlich ich euch auch liebe, dock unmög¬
lich, unmöglich. Ich will lieber das Aeußerste ertragen. — Laß mich! erinnere
mich nicht mehr daran .... Wenn auch wirklich mein Vermögen so tief hcrabgc-
schmslzcn ist. wie du schreibst, so kann ich doch immer noch meinen stillen anspr»a>
losen Wunsch, ein Feld mit eignen Händen zu bebauen, ausführen. Ja zuletzt bleibt
mir. bei meinem äußern und innern Zustand, kaum etwas anderes übrig, und
es ist mir lieb, daß Nothwendigkeit und Neigung hier einmal so freundlich
zusammenfallen. Denn immer von meiner Kindheit an ist mein Geist an>f
diesem Lebenswege vorangegangen. Ich bin so sichtbar dazu geboren, ein stilles-
dunkles, unscheinbares Leben zu führen, daß mich schon die zehn oder zwölf
Augen, die auf mich sehen, ängstigen. Darum eben sträube ich mich so gegen
die Rückkehr, denn unmöglich wäre es mir, hinzutreten vor jene Menschen, die
mit Hoffnungen auf mich sahen, unmöglich, ihnen zu antworten, wenn s"'
Mich fragen: wie hast du sie erfüllt? Ich bin nicht, was die Menschen von
wir halten, mich drücken ihre Erwartungen. — ... Aber, nur in der Welt wenig
ZU sein, ist schmerzhaft, außer ihr nicht. Ach das ist ein häßlicher Gegen¬
stand. Von etwas Anderm. — Ich bin nun einmal so verliebt in den Ge¬
danken, ein Feld zu bauen, daß es wol wird geschehen müssen. Betrachte
wein Herz wie einen Kranken, diesen Wunsch wie eine kleine
Lüsternheit, die man, wenn sie unschädlich ist, immerhin gewähren kann.
(Werther!) — Und im Ernst, wenn ich mein letztes Jahr überdenke, wenn ich
erwäge, wie ich so seltsam erbittert gewesen bin gegen mich und Alles, was
wich umgab, so glaube ich fast, daß ich wirklich krank bin. Dich zum Bei¬
spiel, wie konnte ich dich, oft in demselben Augenblick, so innig lieben und
doch so empfindlich beleidigen? O verzeih mir! ich habe es mit mir selbst
«icht besser gemacht." . . . „Ich glaube, daß mich diese körperliche Beschäftigung
Wieder ganz herstellen wird. Denn zuletzt möchte alles Empfinden nur vom
Körper herrühren, und selbst die Tugend durch nichts anderes froh machen,
als blos durch eine noch unerklärte Beförderung der Gesundheit. — Wie, was
War das? So Hütte ich nicht krank sein müssen, oder —? Wie du willst, nur
lune Untersuchung! In der Bibel steht: arbeite, so wird es dir wohl gehen;
ich bilde mir ein. es sei wahr, und will es auf diese Gefahr hin wagen."
Nun folgen die Geldangelegenheiten. Er hat bereits einige landwirth-
^chaftliche Handbücher gelesen, und am Thuner See ein Landgut besehen, das
^)>n gefällt. „Die Güter sind jetzt im Durchschnitt alle im Preise ein wenig gesunken,
weil mancher, seiner politischen Meinungen wegen, entweder verdrängt wird
oder freiwillig weicht. Ich selbst aber, der ich gar keine politische
Meinung habe, brauche nichts zu fürchten und zu fliehen." — Aber schon
e»im Monat darauf hat er sich anders besonnen; er schreibt von Thun.
Febr. 1802: „Wundere dich nicht, diesmal ist das Schicksal wankelmüthig,
Mehl ich. Es hatte allen Anschein, daß die Schweiz französisch werden wird,
W'd mich ekelt vor dem bloßen Gedanken . . . Jetzt also ist es höchst gewagt,
anzukaufen . . . Ich gebe indessen den Plan nicht auf und werde das
"achste Jahr in der Schweiz bleiben." — „Ich bin jetzt bei weitem heiterer
^Wd kann wie ein Dritter über mich urtheilen." — Hier sind zuerst Andeu¬
tungen über eine andere Art. sein Brod zu verdienen; offenbar die Poesie,
"ber van diesem, was uns am meisten interessiren würde, ist kein Wort ge-
^ge. Se,hr ausführlich in der Darstellung seiner philosophischen Gedanken, ist
^' seltsam still über seine poetischen Träume. Die Schwächen seiner Poesie
Erstehen wir aus seinen Briefen vollkommen; aber das Große derselben: —
hat er die Penthesilea, den Guiscard, den Kohlhaas gelebt? Es zeigt sich
keine Spur.
Anfang April 1802 zog er auf eine Aarinscl bei Thun; ein Fischeriuädchen
führte ihm die Wirthschaft, sie wollten zuweilen sparen und lachten dann
einander aus. Er las keine Bücher, Zeitungen ?c., er arbeitete nur an seinem
Werk: „ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge
gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht lind eine große That. Denn das
Leben hat doch immer nichts Erhabeneres, als daß man es erhaben weg¬
werfen kann." (1. Mai). — Im August Ichreibt er aus Bern einen verzwei¬
felten Brief an seinen Schwager: er liege seit zwei Monaten krank und habe
sein Geld verloren. — Ulrike eilte zu ihm, pflegte ihn und brachte ihn nach
Weimar. Mit Wielands Sohn und Schwiegersohn schon in der Schweiz be¬
kannt, wird er in Osmanstüdt gastlich aufgenommen: schon im November ist
ihm dort ein eignes Zimmer eingerichtet, er bringt ganze Tage dort zu; end¬
lich siedelt er ganz über (bald nach Weihnachten).
Jede beginnt das ängstliche, hastige Arbeiten am Guiscard. Den 9. Den.
1802 schreibt er: „Der Anfang meines Gedichtes, das der Welt deine Liebe'
zu mir erklären soll, erregt die Bewunderung aller Menschen, denen ich es
mittheile. O Jesus! wenn ich es doch vollenden könnte! Diesen einzigen
Wunsch soll mir der Himmel erfüllen, und dann mag er thun was er will."')
— Ans einem spätern Brief: „Als ich meine Tragödie dem alten Wieland
mit großem Feuer vorlas, war es mir gelungen, ihn-so zu entflammen, daß
mir über seine innerlichen Bewegungen vor Freude die Sprache' verging u»d
ich zu seinen Füßen niederstürzte, seine Hände mit heißen Küssen überströmend."
— Im Januar 1303: „In Kurzem werde ich dir viel Frohes zu schreiben
haben, denn ich nähere mich allem Erdenglück."**) — Dann: Leipzig'
13. März 1803. „— Und dich begleitet aus allen Schritten Freude auf mei¬
nen nächsten Brief? O du Vortreffliche! und o du Unglückliche! Wann werde
ich den Brief schreiben, der dir so viele Freude macht, als ich dir schuldig
bin! ... Ich weiß nicht, was ich dir über mich unaussprechlichen Men¬
schen sagen soll. Ich wollte, ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen,
in diesen Brief packen und dir zuschicken. — Dummer Gedanke! Kurz, ich habe
Osmanstädt wieder verlassen. Zürne nicht! Ich mußte fort und kann dir
nicht sagen, warum? Ich habe das Haus mit Thränen verlassen, wo ich
mehr Liebe gefunden habe, als die ganze Welt zusammen aufbringen kann,
außer du! — Aber ich mußte fort! O Himmel, was ist das für eine Welt!"
— Warum mußte er fort? Koberstein coujicirt eine Wielcmdsche Tochter, ohne
allen Grund; wer dem Pulsschlag der folgenden Briefe, mitergrifscn, folgt,
hat keinen Zweifel: Wieland trieb ihn, den Guiscard zu vollenden, das machte
ihn rasend und trieb ihn fort. Es ging-ihm noch zweimal so. — In demselben
Brief*) heißt es: „Wenn ihr mich in Ruhe ein paar Monate bei euch fort-
arbeiten lassen wolltet, ohne mich mit Angst, was ans nur werden werde,
aasend zu machen, so würde ich — ja ich würde!" . . . „Aber ich muß Zeit
haben, Zeit muß ich haben. — O ihr Erinnyen mit eurer Liebe!" —
Dresden, 3. Juli: „Der Rest meines Vermögens ist aufgezehrt, und ich soll
das Anerbieten eines Freundes annehmen (Pfuel), von seinem Gelde so lange
ZU leben, bis ich eine gewisse Entdeckung im Gebiet der Kunst, die ihn sehr
interessirt, völlig ans Licht gestellt habe. Ich soll in spätestens 12 Tagen mit
>hin nach der Schweiz gehen, wo ich diese neue literarische Arbeit, die sich aller¬
dings über meine Erwartung hinaus verzögert, unter seinen Augen vollenden
s"it." Statt dessen bittet er die Schwester „so viele Fristung meines Lebens,
als nöthig ist, seiner großen Bestimmung völlig genug zu thun." — Ulrike
kommt persönlich nach Dresden, mit einigen andern Verwandten. „Seit ich
euch in Dresden sah, schreibt er 20. Juli aus Leipzig, scheint mir leicht an
euch zu schreiben, was mir früher unmöglich war. Ich weiß nicht, welche
seltsame Vorstellung von einer unvernünftigen Angst meiner Verwandten über
""es in meinem Hirn Wurzel gefaßt hatte." — Die Reise mit Pfuel findet
doch statt — einerlei wohin? in Dresden quälen sie ihn wieder mit Fragen
über das, was er leisten will!
Den 5. Oct. 1803 schreibt er aus Genf an Ulrike: „Der Himmel weiß
(und ich will umkommen, wenn es nicht wörtlich wahr ist), wie gern ich einen
Blutstropfen aus meinem Herzen für jeden Buchstabe» eines Briefes gäbe, der
!o anfangen könnte: mein Gedicht ist fertig! Aber du weißt, wer nach dem
Sprichwort mehr thut, als er kann. Ich habe nun ein Halbtausend hinter
einander folgender Tage, die Nächte der meisten mit eingerechnet, um den Ver¬
buch gesetzt, zu so viel .Kränzen noch einen auf unsere Familie herabzuringcn:
letzt ruft mir unsere heilige Schutzgöttin zu, daß es genug sei . . . Und so
^i es denn genug. Das Schicksal will, denke ich, die Kunst in diesem nörd¬
lichen Himmelsstrich noch nicht reifen lassen. Thöricht wäre es wenigstens,
^cum ich meine Kräfte länger an ein Werk setzen wollte, das, wie ich mich
endlich überzeugen muß, für mich zu schwer ist. Ich trete vor Einem zurück,
der noch nicht da ist, und beuge mich ein Jahrtausend im Voraus vor seinem
leiste. Denn in der Reihe der menschlichen Erfindungen ist diejenige, die ich
gedacht habe, unfehlbar ein Glied, und es wächst irgendwo ein Stein schon
sür den, der sie einst ausspricht. — Und so soll ich denn niemals zu euch,
weine theuersten Menschen, zurückkehren? O niemals! rede mir nicht zu. —
Wenn du es thust, so kennst du das gefährliche Ding nicht, das man Ehrgeiz
nennt. Ich kann jetzt darüber lachen, wenn ich mir einen Prätendenten mit
Ansprüchen unter einem Haufen von Menschen denke, die sein Geburtsrecht zur
Krone nicht anerkennen; aber die Folgen für ein empfindliches Gemüth, sie
sind, ich schwöre es dir. nicht zu berechnen. Mich entsetzt die Vorstellung. —
Ist es aber nicht, unwürdig, wenn sich das Schicksal herabläßt, ein so hilf¬
loses Ding wie der Mensch ist, bei der Nase herumzuführen? Und sollte man
es nicht fast so nennen, wenn eS uns gleichsam Kuxe auf Goldminen gibt,
die, wenn wir nachgraben, überall kein echtes Metall enthalten? Die Hölle
gab mir meine halben Talente, der Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes
oder gar keins. — Ich kann dir nicht sagen, wie groß mein Schmerz ist.
Ich würde von Herzen gern hingehen, wo ewig kein Mensch hinkommt. Es
hat sich eine gewisse ungerechte Erbitterung meiner gegen sie bemeistert: ich
komme nur fast vor wie Minette, wenn sie in einem Streite Recht hat und
sich nicht aussprechen kann. — Ich bin jetzt auf dem Wege nach Paris sehr
entschlossen, ohne Wahl zuzugreifen, wo sich etwas finden wird. Geßner hat
mich nicht bezahlt, meine unselige Stimmung hat mir viel Geld gekostet, und
wenn du mich noch einmal unterstützen willst, so kann es mir nur helfen,
wenn es bald geschieht. Kann sein, auch wenn es gar nicht geschieht." ^
In dieser Stimmung kam er nach Paris, entzweite sich mit Pfuel und
verschwand plötzlich. Der nächste Brief ist aus Se. Omer, 26. Oct.: „Was
ich dir schreiben werde, kann dir vielleicht das Leben kosten; aber ich muß, ich
muß, ich muß es vollbringen. Ich habe in Paris mein Werk, so weit es
fertig war, durchlesen, verworfen und verbrannt; und nun ist es aus. Der
Himmel versagt mir den Ruhm, das größte der Güter der Erde; ich werft
ihm wie ein eigensinniges Kind alle übrigen hin. Ich kann mich deiner
Freundschaft nicht würdig zeigen, ich kann ohne diese Freundschaft doch nicht
leben: ich stürze mich in den Tod. Sei ruhig, du Erhabene! ich werde den
schönen Tod der Schlachten sterben. Ich habe die Hauptstadt dieses Landes
verlassen, ich bin an seine Nordküste gewandert, ich werde französische Kriegs¬
dienste nehmen, das Heer wird bald nach England hinüberrudern, unser aller
Verderben lauert über dem Meere, ich frohlocke bei der Aussicht auf das un¬
endlich prächtige Grab. O du Geliebte! Du wirst mein letzter Gedanke sein."
An demselben Tage schrieb er einen (S. 94) „sonderbaren" Brief an den
Marquis Lucchesini, der ihm später (Juni 1804) zu folgender Erklärung gege"
den General Köckeritz Veranlassung gab: „Dieser Brief müsse unverkennbare
Zeichen einer Gemüthskrankheit enthalten, und ich unterstände mich, von Sr.
Majestät Gerechtigkeit zu hoffen, daß er vor keinen politischen Richterstuhl ge¬
zogen werden würde .. . Jene Einschiffungsgeschichte hätte gar keine politische»
Motive gehabt, sie gehöre vor das Formen des Arztes weit eher als des Cabi-
nets. Ich hätte bei einer fixen Idee einen gewissen Schmerz 'w
Kopfe empfunden, der unerträglich heftig steigernd, mir das Be-
düvfniß nach Zerstreuung so dringend gemacht Hütte, daß ich zu¬
letzt in die Verwechselung der Erdaxe gewilligt haben würde,
'du loszuwerden. Es wäre doch grausam, wenn man einen Kranken ver¬
antwortlich machen wolle für Handlungen, die er im Anfall der Schmerzen
beging."
Hier stehn wir an dem entscheidenden Punkt — aber freilich wird der
Knoten mehr zerhauen als gelöst; auf das pathologische Gebiet kann der
Psycholog, der Aesthetiker nicht folgen. — Mit dem Brief aus Se. Omer
schweigen die Nachrichten; der nächste Brief ist voM 24. Juni 1804 aus Ber¬
lin, wo Kleist wenige Tage vorher angekommen ist und sich ernstlich um
une Anstellung bemüht. Die Poesie scheint er damals — wenigstens vor¬
läufig — aufgegeben zu haben. General Köckeritz. dem er sich als geheilt
vorstellt, fragt ihn sehr ernst: „Sind sie wirklich jetzt hergestellt? — ganz,
versteh» Sie mich, hergestellt? — Ich meine, ob Sie von allen Ideen und
schwindeln, die vor Kurzem im Schwange waren, völlig hergestellt sind?" —
Major Gualtieri. der ihn schon während seines ersten Potsdamer Aufenthalts
protegirt hatte, schlägt ihm vor. ihn nach Spanien zu begleiten; in einiger
Zeit könne er dann Lcgationssecretär werden. Auch von einer Anstellung im
Fränkischen ist die Rede. Vorläufig unterhält ihn die Familie, die zuweilen
recht ungeduldig geworden zu sein scheint. „Werde nicht irre an mir, mein
bestes Mädchen!" schreibt er im Juli 1804, „laß mir den Trost, daß Einer in
der Welt sei, der fest auf mich vertraut! Wenn ich in deinen Augen nichts
Mehr werth bin. so bin ich wirklich nichts mehr werth!" Und im December
(abermals hatte sich über seine Anstellung noch nichts entschieden): „Ich bin
sehr traurig. Du hast zwar nicht viel Mitleiden mit mir. ich leide aber doch
Wirklich erstaunlich. Komm also mir herüber und tröste mich ein wenig.
Ich weiß doch, daß du mir gut bist, und daß du mein Glück willst, du
weißt nur nicht, was mein Glück wäre!" — Endlich ist er in Königsberg
""gestellt; Ulrike begleitet ihn dahin und bleibt einige Zeit bei ihm (S. 128).
Den 24. Oct. 180«*) schreibt er: „Ich war vor einiger Zeit willens nach
Berlin zu gehen. Doch mein krankhafter Zustand macht es mir ganz un¬
möglich. Ich leide an Beängstigungen, schwitze und phantasire und muß
unter drei Tagen immer zwei das Bette hüten. Mein Nervensystem ist zer-
sti"r. Ich war zu Ende des Sonnners fünf Wochen in Pillau, um dort
das Seebad zu gebrauchen, doch anch dort war ich bettlägerig und bin kaum
fünf- oder sechsmal ins Wasser gestiegen." Den e. Dec. 1806. als er einen
Vues von ihr erhalten: „Liebe, Verehrung und Treue wallten wieder so
Abhast in mir auf. wie in den gefühltesten Augenblicken meines Lebens.
Es liegt eine unsägliche Lust für mich darin, mir Unrecht von dir vergeben
zu lassen; der Schmerz über mich wird ganz überwältigt von der Freude über
dich. Mit meinem körperlichen Zustand weiß ich nicht, ob es besser wird,
oder ob das Gefühl desselben blos vor der ungeheuren Erschein¬
ung des Augenblicks zurücktritt. Ich fühle mich leichter und an¬
genehmer als sonst. Es scheint mir, als ob das allgemeine
Unglück die Menschen erzöge, ich finde sie weiser und wärmer
und ihre Ansicht von der Welt großherziger. Ich machte noch heute
diese Bemerkung an Altenstein. diesem vortrefflichen Manne, vor dem sich
meine Seele erst jetzt mit völliger Freiheit entwickeln kann. Ich habe ihn
schon, da ich mich unpäßlich fühlte, bei mir gesehen; wir können wie zwei
Freunde mit einander reden. An unsere Königin kann ich gar nicht ohne
Rührung denken. In diesem Kriege, den sie einen unglücklichen nennt, macht
sie einen größeren Gewinn, als sie in einem ganzen Leben voll Frieden
und Freuden gemacht haben würde. Man sieht sie einen wahrhaft königli¬
chen Charakter entwickeln. Sie hat den ganzen großen Gegenstand, auf den
es jetzt ankommt, umfaßt; sie. deren Seele noch vor Kurzem mit nichts be¬
schäftigt schien, als wie sie beim Tanzen oder Reiten gefalle." Damals er¬
hielt Kleist von der Königin eine Pension von ki0 Louisdor.
Trotz dieser Empfindungen beschließt Kleist, das Preußische zu verlässt»
und nach Dresden zu gehen (wohl durch Rüste aufgefordert), um ganz der
Literatur zu leben. Ende Januar 1807 ist er in Berlin*), wo er einige
Tage nach seiner Ankunft mit zwei andern verabschiedeten Officieren von de»
Franzosen verhaftet und nach Frankreich transportirt wird. „Vielleicht." schreibt
er 17. Febr. 1807 aus Marburg, „gibt es nicht drei Menschen in der Welt, die
den Franzosen gleichgültiger sein konnten, als wir in jenem Augenblick."
Den 5. März kämmen sie in Fort Joux an, und werden anfangs w lMt"
Haft gehalten; indeß bezeichnet sie der Gouverneur von Berlin, s. April-
auf die Verwendung Ulrikens als unschädlich. und schon den 23. April sind
sie in Chalvns. mit völliger Freiheit, aber auf Ehrenwort. Der Uebelstand ist
nur, daß man ihnen gar keinen Sold zahlt, da man nicht weiß, ob um»
sie in die Kategorie der staatsgefangenen oder Kriegsgefangenen stellen soll.^1
Den 14. Juli kommt die Ordre ihrer Entlassung an, und nach einigem Zö¬
gern entschließt er sich abzureisen. -
Der erste Bries aus Dresden, 17. Sept. 1807, ist freudestrahlend. Nach
dem häusigen Vorurtheil der Schriftsteller, durch eignen Verlag ihrer Werke
bessern Gewinn zu erzielen, beschließt er mit Ad. Müller. Rüste u. A. eine Buch¬
handlung zu etabliren; Ulrike soll einen Theil des Geldes vorschießen, was auch
geschieht; besonders reichen Ertrag verspricht er sich aus Novalis' nachgelasse¬
nen Papierschnitzeln! Er ist in den vortrefflichsten Häusern eingeführt, beim
östreichischen Gesandten Buol. bei Körners. Hazns u. s. w. „Meine Manu-
scnpte sind mehrere Male in öffentlichen Gesellschaften, und immer mit wieder¬
holtem Beifall vorgelesen worden." — 25. Oct. „Es geht mir in jedem Sinne
so wie ich es wünsche, lind in dem Maaß, als der Erfolg jetzt meine Schritte
rechtfertigt, geht mir ein ganzer Stoff zu einer die Vergangenheit erklärenden
Korrespondenz auf. mit der ich dir noch verschuldet bin."*) „Den 10. Oct.
bin ich bei dem sser. Gesandten mit einem Lorbeer gekrönt worden; und das
von den zwei niedlichsten kleinen Händen, die in Dresden sind." Proben von
der guten Stimmung reichen noch in den Januar 1 808; in, August schlägt sie
um: „Der Phöbus hat sich trotz des gänzlich darniederliegenden Buchhandels
Noch bis jetzt erhalten; doch was jetzt, wenn der Krieg ausbricht, daraus
werden soll, weiß ich nicht." Damals hatte er das Käthchen an die Dresdner
Bühne verkauft. — Einige geheimnißvolle Auftrage (aber nicht etwa politischer
Natur), für die man keinen Schlüssel findet. — Den 2. Nov. 1808 reist er
im Auftrage einer liebenswürdigen Frau von Haza (später Adam Müllers
Gattin?) nach Posen. — Den 29. April 1809 verläßt er Dresden, wie wir
wissen, mit Dahlmann. „Alles stand so gut, daß ich in Dresden bleiben zu
können glaubte; doch die letzten Begebenheiten haben mich gezwungen, von
dort hinwegzucilen. (Er hatte ursprünglich, 3. April, mit dem sser. Gesand¬
ten weggehn wollen.) Was ich nun eigentlich in diesem Lande thun werde
(der Brief ist aus Töplitz, Z.Mai), das weiß ich noch nicht; die Zeit wird es
wir an die Hand geben." Die Bezahlung seiner Schulden empfiehlt er Ul¬
riken. — Prag. 17. Juli. „Ich ging aus Dresden weg in der Absicht?
Wied mittelbar oder unmittelbar in die Arme der Begebenheiten hinein¬
zuwerfen; doch in allen Schritten, die ich dazu that, auf die seltsamste
Weise contrecarrirt. war ich genöthigt, hier in Prag, wohin meine Wünsche
gar nicht gingen, meinen Aufenlmlt zu nehmen. Gleichwol schien sich
hier, durch Buol und durch die Bekanntschaften, die er mir verschaffte, ein
Wirkung-Streif für mich eröffnen zu wollen. Es war die schöne Zeit nach dem
21. und 22. Mai (Schlacht bei Aspern), und ich fand Gelegenheit, meine
Aufsätze, die ich für ein patriotisches Wochenblatt bestimmt hatte, im Hause
des Grafen v. Kollowrat vorzulesen. Man faßte die Idee lebhaft auf" u. f. w.
— „So lange ich lebe, vereinigte sich noch nicht so viel, um mich eine frohe
Zukunft hoffen zu lassen, und nun vernichten die letzten Vorfalle (Schlacht bei Wag¬
ram 5. 6. Juli) nicht nur diese Unternehmung, sie vernichten meine ganze Thätig¬
keit überhaupt. Ich habe ein paar Manuscripte zu verkaufen; doch das eine
(Hermannsschlacht) wird wegen seiner Beziehung auf die Zeit schwerlich einen
Verleger, und das andere (Käthchen). weil es keine solche Beziehung hat, wenig
Interesse finden. Kurz, das ganze Geschäft des Dichtens ist mir gelegt, denn
ich bin, wie ich mich auch stelle, in dieser Alternative." Er bittet dringend
um Geld, aus Prag loszukommen. „Was ich ergreifen werde, weiß ich nicht;
denn wenn es auch ein Handwerk wäre, so würde bei dem, was nun die
Welt erfahren wird, nichts herauskommen. Aber Hoffnung muß bei den
Lebenden sein."
Von da an werden die Nachrichten sehr spärlich. — Den 23. November
1809 schreibt er aus Frankfurt a. O. (wo er sich in Geldangelegenheiten auf¬
hielt), er sei im Begriff, nach Oestreich zurückzukehren. Den 19. März 1810
schreibt er aus Berlin: er hat der Konigin ein rührendes Gedicht überreicht
(Werke III. S. 370), sein „Prinz von Homburg" wird auf dem Privattheater
des Fürsten Radzivil aufgeführt und solle dann gedruckt werden. Er verkehrt
bei Altenstein, bei Stägemcmn (auch bei der Reimerschen Familie). Den
11. August 1811 noch ein zärtlicher Brief, worin er Ulriken eine Stelle im
Lnisenstift offerirt, damit sie näher zusammenleben können.
Nun noch eir? undatirter Zettel, Ur. 55, wahrscheinlich in Frankfurt ge¬
schrieben. — „Die Absicht, in der ich hierher kam, war. . . mir Geld z»
verschaffen. . . Da du dich aber, mein liebes, wunderliches Mädchen, bei
meinem Anblick so ungeheuer erschrocken hast, ein Umstand, der mich, so wahr
ich lebe, auf das Allertiefste erschütterte: so gebe ich, wie es sich von selbst
versteht, diesen Gedanken völlig auf, ich bitte dich von ganzem Herzen um
Verzeihung, und beschränke mich, entschlossen, noch heute Nachmittag nach
Berlin zurückzureisen, blos auf den andern Wunsch, der mir am Herzen lag,
dich noch einmal auf ein paar Stunden zu sehen."
Der Zettel sagt sehr viel; er sagt, daß seine letzte Stütze wankte. JH
bin überzeugt, daß Koberstein ihm eine unrichtige Stelle gegeben hat, daß er
nach dem 11. August fällt. Er erklärt völlig die Anspielung in dem letzten
Brief, den Kleist bei seinem Tode (21. November) an seine Schwester zurück¬
ließ. „Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter wie ich bin,
mit der ganzen Welt und soweit auch vor allen Andern, meine theuerste
Ulrike, mit dir versöhnt zu haben. Laß sie mich, die strenge Aeußerung, die
in dem Brief an die Kleister enthalten ist, laß sie mich zurücknehmen; wirk¬
lich, du hast an mir gethan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester,
sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit
ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl; möge dir
der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher
Heiterkeit dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch,
den ich für dich aufzubringen weiß."
Hätte sich noch in diesen Tagen eine dauerhafte Hülfe gesunden, so würde
den armen, des Kampfes mit dem Leben müden Dichter das romantische Ver¬
hältniß zu Henriette Vogel vielleicht doch nicht bestimmt haben, diesen Kampf
durch einen hastigen Schritt zu beendigen.
Hier sei noch nachträglich ein Brief Adam Müllers an Fr. Schulz in
Berlin mitgetheilt, Wien, 10. December 1311 (Dorow II. S. 140). „Die
nächste Wirkung von einer solchen Nachricht, wie die von dem schrecklichen
Ende unsers Kleist, ist wohl, daß man die übrig gebliebenen Freunde zu¬
sammenzählt, und überhaupt den zerrissenen Kreis enger zusammenzieht. Aus
Intendanten unter vielen andern Berlinischen Klatschereien haben wir diese Nach¬
richt empfangen, die uns in unzähligen Rücksichten so nahe anging; und zu¬
letzt auch noch die schriftlichen Beweise erhalten, daß beide Verstorbene das
Andenken an uns in das frevelhafte Spiel ihrer letzten Gedanken verwickelt
haben. Durch die Entfernung wird nun das ganze schreckliche Bild wie in
einen Nahmen gefaßt, während an Ort und Stelle Umstände und Urtheile m-
und abströmen, und die ganze That eigentlich nie die Ruhe und Abgeschlossen¬
heit erreicht, in der wir sie zu sehen verurtheilt sind. Kurz, wir müssen uns
an die Hinterbliebenen Freunde fester anschließen, um eine Erholung zu fin¬
den. Wenig Menschen stehen uns näher als das Stägemannsche Haus und
Sie, und so finden Sie es begreiflich, daß ich ein Bedürfniß habe, wenn auch
Nur wenig Zeilen, Ihnen zu schreiben." — Für einen intimen Freund des
U
Wenn es in unserer Zeit nur zu häusig vorkommt, daß Dichter männ-
lichen Geschlechts einen weibischen Ton anstimmen, so begegnet uns auch nicht
selten die entgegengesetzte Erscheinung. Wir meinen nicht jene emancipirten
Damen, deren Sopran um so hörbarer wird, je mehr sie sich bemühen, im Ton
eines Dragoners zu reden, sondern stille ernste Naturen mit ruhigem und doch
weitem Blick, mit fester, sicherer, fast harter Zeichnung und mit einem Denken,
das den Gesetzen der Logik folgt. Am meisten zeigt sich diese Richtung des
Talents bei der Zeichnung männlicher Figuren. Frau v. Staöl und George
Sand, die erste mit einem umfassenden Geist, die andern mit großer dichte¬
rischer Imagination ausgestattet, haben die Schwächen der Männer sehr fein
zu durchschauen und glänzend wiederzugeben verstanden; aber eine starke, ge-
sunde, männliche S^ele zu zeichnen, ist ihnen nicht gelungen. Das ist bei
vielen modernen Dichterinnen jetzt ganz anders geworden, und wenn man
über so manche Molluske unserer neuen Literatur in Verzweiflung gerathen
mochte, so-kann man sich bei den festen harten Männergestalten englischer
Dichterinnen entschädigen.
^clam Leclo. 6 sorge Lliot, ^utuor ,,8esu6 0k elerieiü um."
dox^iiglrt. kdition. 2 Bd., Leipzig, Tauchnitz. — Daß der Pseudonyme
Autor eine Verfasserin verbirgt — man vermuthet eine intime Freundin von
Lewes, dem Biographen Goethes — gilt in England für ausgemacht. Wieder
eine würdige Nachfolgerin von Currcr Bell, Julie Kavanagh u. f. w. Del
neueste realistische Roman hat jenseit des Kanals noch eine andere Bedeutung
als für uns. Der eigentliche Vater desselben ist Carlyle, der in ?äst. auel
?i-esizut mit tiefem Gefühl für alles Menschliche, mit scharfer Sonde in die
geheimen Schäden der Gesellschaft einzudringen versuchte. An ihn schloß sich
der Pastor Kingslcy (^.Iton I^oelcv, ^east. und zahlreiche Streitschriften; später
hat er dieselbe Methode auf den historischen Roman anzuwenden gesucht); in
weiterer Linie Mrs Gaskell (Niu-^ Lartori, Iiut.Il) und die vorher genannten
Schriftstellerinnen; Lewes selbst steht ihnen nahe, in gewissem Sinn kann man
auch Thackeray und Warrcns dazu rechnen, obgleich bei diesen das novellistische
Interesse dein socialen den Rang abläuft. Die Keunzeichen der neuen Schule
sind folgende: 1) Tiefes Interesse für die nothleidenden Classen und die gel'
feigen Bewegungen derselben, die ausführlich geschildert werden, um einen Weg
zur Verbesserung zu finden; 2) Vertiefung aller einzelnen Personen in diesen
least, (Hefe, Währung, Gischt), als dessen Träger sie erscheinen; Unterordnung
des Romans unter die sociale Tendenz; 3) Detail der Ausführung, nicht um
den Gang der Handlung deutlicher zu machen, sondern um die Seele des
Volks in ihren geheimen Tiefen zu ergründen; alle diese Romane sind Studien,
aus denen man etwa Bücher wie IlOnävu I^Korn- and I-ouclou ?vor (Henry
Mayhew) zusammentragen kann; 4) Vorliebe für massive, naturwüchsig^
Charaktere, namentlich in den untersten Classen; 5) tiefes Interesse für die
Religion, nicht als Kirche, sondern als subjective Glaubensforni. — Ada»'
Bete und sein Bruder Seth, die beiden Haupthelden. sind arme Handwerker;
auch die beiden Heldinnen, die Mcthodistin Dinah und die leichtsinnige schone
Helty gehören in diesen Lebenskreis. In Adam sind die innern Kämpfe eines
robusten Gemüths auf eine ergreifende Weise dargestellt: eine harte Natur, die
aber um so tiefer erschüttert wird, wenn das Leben sie wirklich einmal trifft.
Man nimmt ernsten Antheil an diesen Lebenswirrcn — freilich mit dem Gefühl,
daß sie uns eigentlich etwas fern liegen. Denn darin liegt der Mangel der
„realistischen" Schule: sie zwingt uns nicht durch Kunst, ihr Gehör zu geben,
sondern sie sucht zunächst Sympathien für unsere Mitmenschen in uns zu er¬
wecken, um des guten Zweckes willen, wir haben aber auch etwas Langeweile in
Kauf zu nehmen. — W.Scott hat es anders gemacht; seine Jenny Deans und
die ganze Familie haben nicht erst nöthig, unsere Menschenliebe im Allgemeinen
aufzurufen. — Aber als Studie einer wichtigen Volksschicht hat Adam Bete
doch großes Interesse, vielleicht gerade für den Ausländer.
Ausgewählte Werke von Fernau Caballero; aus dem Spanischen von
L. G. Lemcke. — Braunschweig, Westermann. — Bd. 1 u. 2. Die Möve. —
Wiederum eine Dichterin, und zwar, wie man allgemein annimmt, Frau
Cecilia de Arrom, geb. I7ö7 in der Schweiz, die Tochter I. N. Böhls,
eines Schülers von Campe, der den Lesern des Robinson als der kleine Jo¬
hannes bekannt ist. Ihr erstes Lebensjahr brachte sie in Hamburg und Braun¬
schweig zu, dann 7 Jahre in Spanien, dann wieder in Hamburg, 'wo ihre
Erziehung vollendet wurde. Seit 1813 lebt sie in Spanien; jetzt in dritter
Ehe in Sevilla, in den angenehmsten Verhältnissen. — Die „Möve" ist ihr
erster Roman, 1847; es folgen eine ganze Reihe daraus, durch deren Ueber-
setzung sich Hr. Lemcke um uns ein wahrhaftes Verdienst erwirbt, denn er lehrt
uns ein ganz neues Genre kennen. Aber in einem Punkt können wir sein
Zerfahren nicht billigen. — „Wir würden," sagt er, „geglaubt haben, den Ge-
nuß unserer Leser zu beeinträchtigen, wenn wir nicht Alles, was in diesen
Werken nach religiöser Polemik schmeckt, unterdrückt Hütten;" — und das
scheint ziemlich viel zu sein. Wir glauben, daß die Erscheinung dieser fremden
Natur an Interesse gar nicht verlieren würde, wenn sie uns in ihrer ganzen
Fremdheit, mit allen Vorzügen und Schwächen vorgeführt wäre. Denn was
der Uebersetzer von dem deutschen Gemüth seiner Dichterin rühmt, möchte auf
^e Neigung herauskommen, die Deutschen als gemüthliche Schwachköpse zu
verspotten, wie hier in der Person des Dr. Stein geschieht. Gerade so macht
^ Sealssield mit seinem „Bohne" in „Süden und Norden." Gemüth finden
wir bei Fernau Caballero nicht viel, desto mehr Farbe und Zeichnung, und das
^ für das Studium des spanischen Volkslebens ungleich wichtiger. Die Fi¬
guren treten sammt und sonders aus der Leinwand hervor; vor allem die
b^den Hauptpersonen, die Sängerin Marisaladn und der Stierfechter Pepe
Aerci, beides Originalen, wenn auch die erste etwas an Mörimäes Carmen
Und ein Thackcraus Bccku Sharp erinnert; zwei brillante Erscheinungen in
ihrer ganzen Geschichte bis zu dem traurigen Ausgang, der doch wieder hu¬
moristisch aufgefaßt wird, wie denn überhaupt der Humor der Erzählung an
die alten spanischen Schelmenromane erinnert. Ebenso vortrefflich sind die
Umgebungen der „Möve", der unverschämte Mono, der Barbier Ramon Perez,
der ehrliche, etwas abgeschabte Commandant Don Modesto Guerrero u. s. w.
Die Aristokratie von Sevilla, in deren Schilderung die Dichterin nach der An'
gäbe des Uebersetzers eine besondere Virtuosität entwickeln soll, hat uns we¬
niger interessirt; abgesehen von einigen Reminiscenzen an Don Quixote und
Calderon zeigt sie ebenso wenig Physiognomie als die unsrigen. — Es ist
Schade, daß Fernau Caballero ihre Kraft ausschließlich auf die Zeichnung der
Charaktere verwendet, auf die Composition des Ganzen dagegen wenig Ge¬
wicht legt. — Mit nicht geringem Interesse erwarten wir die weitern Romane!
vorläufig entnehmen wir den Angaben des llebersctzers einige charakteristische
Notizen. — „Caballeros Patriotismus gilt dem Spanien von ehedem mit sei¬
ner starren Ausschlrcßlichkeit, seinen Eigenthümlichkeiten in Glauben, Ver¬
fassung, Gesetz. Sitte, Tracht . . . Ein Theil ihrer Dichtungen hat die offen
ausgesprochene Tendenz, ihren Landsleuten die sorgfältige Erhaltung der alten
Nationalsitte, wo sie noch besteht, und die Rückkehr derselben, wo sie verloren
gegangen ist, dringend ans Herz zu legen. Zu diesem Zweck sucht sie die
alte Nationalsitte da auf, wo sie fast allein noch zu finden ist, beim Volk, und
zwar vorzugsweise in den von der modernisirten Hauptstadt entferntesten Pro¬
vinzen, zunächst in ihrer eignen Heimat Andalusien. Sie liebt das Volk,
weil es national, weil es eigenthümlich, weil es poetisch ist; sie studirt seine
Anschauungsweise, seine Sitte, seine Traditionen, seine Gebräuche, seine
Poesie, und entwirft davon ein naturgetreues Bild zur Belehrung der¬
jenigen Schichten der Gesellschaft, denen die alte Sitte abhanden gekommen
ist. In dem Ton eines Reisenden, der von einem entlegenen Lande, von
eurem beinahe Verlassenen berichtet, erzählt sie ihren Standesgenossen, w>e
das Landvolk in Andalusien lebt und denkt, fühlt, tanzt und spielt, singt und
sagt, liebt und leidet." „Sie hat eine tiefe Abneigung gegen den alle Gebiete
des Lebens mehr und mehr überwuchernden Jndustrialismus und Materialis¬
mus, wie gegen die Herrschaft der sogenannten Mittclclasscn" u. s. w. ^ Die
Tendenz mag man also romantisch nennen; die Ausführung ist es eben!"
wenig als bei W- Scott: sie ist sinnlich klar und lebendig, von höchster Plastik
und einer Unbefangenheit, daß sie den besten Humoristen an die Seite gestellt
werden kgnn. —
Neue Romane von Fanny Lewald. 4 Bd., Berlin, Zanke. — Fanny
Lewald hat sich von der Tendenz ihrer ersten Romane, die modernen Lebens¬
conflicte in einseitig modernem Sinn zu losen, vollständig freigemacht. Die
neuen Erzählungen hinterlassen durchweg einen wohlthuenden Eindruck: Po»'"
rrait und Ideal sind harmonisch in einander verarbeitet. — Am wenigsten
befriedigt uns der Scehof. obgleich für das specifisch novellistische Interesse da¬
nn am meisten gesorgt ist: dem Helden wäre ein wenig mehr Willens¬
kraft zu wünschen; sonst ist der Gegensatz zwischen der aristokratischen und der
bürgerlich deutschen Familie sehr gut gezeichnet. Schloß Tannenburg enthält
vortreffliche Localbilder vom Ostseestrande; die „Cousine" ist eine ausgezeichnete
Erfindung, wenn sie nicht Portrait ist; in dem entscheidenden Punkt scheint die
Dichterin dem Moralgefühl etwas zu viel Concessionen gemacht zu haben;
die Geschichte scheint ursprünglich darauf angelegt, daß der Baron wirklich
schuldig war, wenigstens hätte die Schlußkatastrophe — die doch auch in der
neuen Fassung peinlich bleibt — an Ernst dadurch gewonnen. — In Graf
Joachim und dem alten Arzt ist wieder der Contrast adliger und bürgerlicher
Denkungsart sinnig entwickelt; das Leben in einer kleinen Stadt sehr anschau¬
lich geschildert. — Die beste Novelle ist Emilie. schon wegen des Charakters
der Heldin. Doch verdient auch die Familie des Finanzraths alles Lob. —
Auf diese Frauenromanc mag ein männlicher folgen:
Vier neue Novellen von Paul Heyse. Dritte Sammlung. Berlin,
Hertz. — Den Dichter der La Rabbiata erkennt man sehr lebhaft in den
beiden Novellen „die Einsamen" und „Maria Francisco" heraus; Farbe und
Stil hochpoetisch, die Empfindung rein und schön ausgedrückt. „Anfang und
Ende" obgleich sehr gut erzählt, ist in der Anlage doch etwas gewagt; diese
Art der Verlobung hat etwas gar zu Modernes, wenn auch der Dichter unser
Gefühl zu versöhnen sucht. — „Das Bild der Mutter" ist die schwächste No-
velle; es wird viel Aufwand gemacht, um die Entwicklung herbeizuführen,
und diese kommt dann von selbst, man weiß nicht recht, wie. — Paul Heyse
hat sich durch seine kleinen Novellen und ihren tiefpoetischen Gehalt zahlreiche
Freunde erworben; es wäre aber für sein Talent sehr förderlich — und wir
glauben nothwendig — wenn er sich einmal von diesen kleinen zierlichen Bil¬
dern zu der Komposition eines größern Ganzen wenden wollte. —
Des Fähnrichs Stohl Sagen. Von Runeberg. Aus dem Schwe¬
dischen. — Leipzig, Köhler. — Wir haben die lebensvollen, echt volksthüm-
lichen Balladen und Erzählungen schon bei einer frühern Gelegenheit angezeigt;
der Uebersetzer hat den frischen, männlichen Ton im Ganzen glücklich ge¬
troffn. —
Altes und Neues. Gedichte von Fr. Bodenstedt. 4. Aufl. Berlin,
Decker. — Die neuen Zugaben sind durchaus der alten Leistungen würdig,
von denen der Dichter selbst mit Recht sagt: „Nichts ist fremd hier, nichts Ge¬
machtes, nur Selbsterlebtes, Sclbstcrdnchtes, wie es der Drang zum Liede
Im vorigen Abschnitt haben wir nur solche marokkanische Küstenstädte
beschrieben, die man wegen ihrer Entfernung von den drei Hauptstädten des
Reiches als excentrische bezeichnen kann. Jetzt wenden wir uns zu denen,
welche den Residenzen des Sultans näher liegen und deshalb als Ein- und
Ausfuhrhäfen für dieselben dienen, eine Eigenschaft, die ihnen trotz ihrer
weiteren Entfernung von den Stätten europäischer Cultur eine größere poli¬
tische und commerzielle Wichtigkeit verleiht, als Tetuan, Tanger und Larasch sie
besitzen.
22 Lieues südlich von Larasch gelangt man an die Mündung des sehn,
eines breiten und wasserreichen Stromes, der aus den Gebirgen östlich von
Feß kommt. Hier stand in der Zeit, als die Portugiesen in diesen Gegenden
Besitzungen hatten, die Stadt Marmora oder Mehedia mit einem große»»
wohlgeschützten Hafen, der Tiefe genug hatte, um die größten Schisse auf¬
zunehmen. Die Stadt ist jetzt eine weite fast ganz verlassene Ruine, der
Hafen versandet. Das Phlegma der Mauren hat gelassen zugesehen, wie sich
im Laus der Jahrzehnte Sand und Schlamm im Fahrwasser des prächtigen
Beckens häuften, so daß jetzt die Einfahrt durch eine Barre geschlossen ist, u»d
das ganze Becken sich in einen seichten Landsee verwandelt hat, der nur zur
Zeit der Fluth mit dem Meer in Verbindung steht. Ueberdies ist dem Platz
von der Regierung aller Handel und alle Schifffahrt verboten, man wollte
die verhaßten Europäer uicht in der Nähe der Hauptstädte sehen. Die Stadt
Mamora, deren Reste noch vorhanden sind, stand in dem Winkel, den der
Fluß bei seiner Mündung in das alte Hafenbecken bildet, und dehnte sich
am Fuß einer beträchtlichen, auf dem Gipfel mit Wald bekränzten Höhe ans.
Die noch ziemlich gut erhaltene Stadtmauer läuft etwa zweitausend Schritt
am User des sehn hin. Sie wurde einst von den Wellen der Fluth bespült-
An ihrem Ende erblickt man ein rundes Fort, das, wie die Zahl und Lage
seiner Schießscharten zeigt, mit dreißig Geschützen den Hafen bestrick). Nach
der Landseite hin zieht sich eine sehr starke, jetzt zum Theil zusammengestürzte
Mauer hin. Ueber der Stadt erhebt sich eine noch gut erhaltene Citadelle,
die eine Besatzung von einigen hundert schwarzen Soldaten hat, welche indeß
nur die Aufgabe haben, zu wachen, daß kein Schmugglerschiff sich nähert und
überhaupt kein Handelssahrzeug seine Ladung landet. Das Land ist in der
Nachbarschaft schön und fruchtbar. Im Süden streckt sich der prächtige Wald
von Beine hin. Mamora ist nur 25 Lieues von Mequinez entfernt, das
seinerseits nicht weiter als 10 Lieues von Feß liegt. Eine Landung der
Spanier in dieser Gegend würde erhebliche Vortheile haben. Die Citadelle
von Mcunora wäre ohne grosie Verluste zu nehmen, die alten Befestigungen
der Stadt ließen sich sehr bald so weit wiederherstellen, daß sie gegen einen
Handstreich der Marokkaner gesichert wären. So hätte man an Mamora einen
trefflichen Verproviantirungsplatz für einen Zug nach Meqninez. der dritten
Hauptstadt und Lieblingsresidenz der Sultane, wo sich zugleich der eine Theil
des kaiserlichen Schatzes befindet, welchen man — wohl zu hoch — auf 24
Millionen harte Piaster veranschlagt. Hätte man sich in Mamora festgesetzt,
so würde man sich ohne Beschwerde durch Schiffe, welche wenig Tiefgang
haben und so bei der Fluth die Barre zu pnssiren vermögen, Lebensmittel
verschaffen können. Auch wäre es keine Unmöglichkeit, durch ein Dampfboot
Mit einer Baggermaschine die Einfahrt in den großen Hafen zu öffnen, so-
daß er wenigstens für Schiffe zweiter und dritter Klasse zugänglich würde.
Der panische Schrecken, welchen eine Occupation der Stadt und eine ernsthafte
Demonstration gegen das Innere des Landes in Mequinez und Feß verbreiten
würden, dürfte den Sultan und seine Rathgeber sofort zur Nachgiebigkeit gegen
die Forderungen Spaniens stimmen.
Verläßt man die Mündung des sehn, um weiter nach Süden zu segeln,
so gewahrt man 6 Lieues von Mamora die Mündung des Buregreb, eines
nicht unbedeutenden Flusses, der im Gebirge südlich von Mequinez entspringt.
Hier erheben sich rechts und links vom Flusse die beiden Städte Sales und
Rabat, die mit ihren Kasbahs, ihren Streitthürme». Zinnen, Minarets und Kup¬
peln einen imposanten und malerischen Anblick gewähren. Dieselben sind nach Feß
und Marokko die bedeutendsten und wohlhabendsten Städte des Reichs. Sales
am rechten oder Nordufer des Stromes soll 24.000, Rabat, am südlichen Ufer
gelegen. 28.000 Einwohner haben. Vielleicht sind diese Angaben zu hoch.
Namentlich in Betreff Salehs. Gewiß aber ist, daß sich im siebzehnten Jahr¬
hundert, wo die Piratenschiffc der Barbareskcn noch ungestraft die Kauffahrtei¬
schiffe und die Küsten Europas plünderten, die Einwohnerzahl sowol Salehs
als Rabath auf 50—60,000 Seelen belief. Hatten die Seeräuber ihre Fahr¬
zeuge mit Beute gefüllt, so kehrten sie triumphirend nach Hause zurück, um ihren
Gewinn an Waaren und Christensklaven hier zu verhandeln; und wenn man
°>e starken Mauern und Thürme von Rabat und Sales erblickt, so hat man
sich zu errinncrn, daß sie zum großen Theil von eben solchen Sklaven erbaut
worden sind. Seit der -Erstarkung der europäischen Seemächte und der Be¬
schränkung und schließlichen Vernichtung der Corsarenwirthschaft, sind Sales
und Rabat ganz ebenso, wie die andern Seeplätze Marokkos, in Verfall ge¬
rathen und das ganze Reich mit ihnen. Es ist, als ob dieses Volk zu keinem
andern Handwerk tauge, als zu Krieg und Raub; und seit ihm dies verwehrt
ist, sieht man es von Jahrzehnt zu Jahrzehnt tiefer sinken, die Denkmale
seiner alten Größe und Kraft verfallen, die Merkmale der Altersschwäche
immer deutlicher hervortreten, und es ist kam» eine Frage, daß binnen hundert
Jahren das „Chalifat des äußersten Westens" aufgehört haben wird zu
existiren.
Während der vieljährigen Bürgerkriege, welche das Reich im sechzehnten
Jahrhundert verwüsteten, hatten die beiden Städte Sales und Rabat sich
unabhängig gemacht und sich dadurch den Zerstörungen und Belastungen ent¬
zogen, welche so viele andere Orte Marokkos in dieser Zeit für immer zu
Grunde richteten. Später wurden sie zwar wieder unterworfen, indeß haben
sie sich noch heute gewisse städtische Vorrechte bewahrt. Sie verstehe» es, sich
gegen die Alles an sich reißende Habsucht der Regierungen und gegen die
räuberischen Gelüste des Paschas zu wehren, so daß sie sich eines Grades von
Freiheit und Wohlstand erfreuen, den man sonst in Marokko vergeblich sucht-
Die Häuser in Rabat sind solider gebaut und haben ein besseres Ansehen,
als die der übrigen Städte. Die innere Eintheilung und Einrichtung gleicht
der, welche man in den Städten Algeriens sowie in den alten maurischen
Wohnungen Granadas und Sevillcis antrifft. Jedes Haus hat einen innern
Hof mit Gallerten, auf welche sich die Fenster und Thüren öffnen. Da die
Stadt ganz so wie Sales auf dem Abhang einer Anhöhe gebaut ist, so sind
die (beiläufig auch sehr unregelmäßig gepflasterten) Straßen steil und abschüssig-
überdieß aber, wie in allen Städten Mauretaniens, dunkel, eng und gewunden,
das Ganze ein Labyrinth ohne irgendwelchen Plan.
Die Kasbah oder Burg von Rabat, die sich am östlichen Ende der Stadt
erhebt, ist von ungeheurer Größe und schließt einen Palast des Sultans ein,
hat aber mehre Stellen, wo sie dem Verfall entgegengeht. Es ist eben hier
wie in allen mohammedanischen Ländern, was einfallen will mag einfallen
und bleibt liegen. Eher baut mau neu, als daß man das Alte ausbesserte-
Das höchste, was man thut, ist, daß man die Ruine übertüncht, als ob der
Schein des weißen Kalknberwurfs das Haus oder die Mauer wirklich neu
werden ließe. Sales erscheint, wenn man sich der Stadt von der See her
nähert, auf dem grauen Grunde des Gestades in Gestalt eines gewaltigen
Vierecks von weißen Steinen, welches sich an die' Seite eines großen mit
Gärten bedeckten Hügels lehnt. Es besitzt eine bedeutende Anzahl von Mo¬
scheen, von welchen jedoch nur eine einzige den Ruf der maurischen Baukunst
rechtfertigt. Die Stadt ist älter als ihre Nachbarin auf dem andern Ufer des
Flusses, aber zugleich schmutziger und verfallener. Ihre vierseitige Ringmauer
wird von einer starken Kasbah überragt und von runden und viereckigen
Thürmen flankirt. Die in den vier Winkeln sind ungemein groß und mit
Bastionen versehen. Die Schießscharten aller Vertheidigungswerke Salehs sind
auf etwa 300 Geschütze berechnet, doch liegen nur in einigen wenigen wirk¬
lich Kanonen. Sales hat nur auf zwei Seiten Gräben, dieselben sind aber
auch hier großentheils zugeschüttet, und die Gärten erstrecken sich an den
«leisten Stellen bis an den Fuß der Mauern. Man findet in diesen Gurten
ausgedehnte Baumwollenpflanzungcn.
Uebrigens ist zu bemerken, daß man das Wort Garten in diesem Zu¬
sammenhang nicht so genau zu nehmen hat. Denn unter einem Garten ver¬
steht man in diesen sonnenversengten Gegenden nur einen Ort, wo sich das
Grün — natürlich durch künstliche Bewässerung — das ganze Jahr hindurch
erhält. Das Wasser wird hier durch einen massivni Aquäduct, der im Osten
eine Art zweite oder äußere Ringmauer bildet, in die Stadt geführt. Der¬
selbe würde indeß der Vertheidigung wenig Vorschub leisten, sondern eher da¬
zu dienen, dem Angreifer die Annäherung an die eigentliche Mauer zu er¬
leichtern. Auch wäre er mit Vierundzwanzigpfündern sehr bald zusammengeschossen
und die einzige Schwierigkeit bestände darin, das; man die Belagerungsgeschütze
über verschiedene Bodenhindernisse hinwegzuschaffen hätte, um zu dem passend¬
sten Angriffspunkt zu gelangen.
Die Einwohner von Sales gelten für rauhe, wenig gesellige Menschen,
voll Haß gegen alle Fremden, feindselig selbst g?gen ihre Landsleute und
Glaubensgenossen. Die von Rabat dagegen sollen zugänglicher. lebhafter,
gebildeter und fleißiger sein als die aller andern Städte Marokkos. Hier in
Rabat concentrirt sich aller Handel und Verkehr der beiden Schwesterstädtc.
Man verfertigt in der Stadt feine Wollenstoffe, Ha'ils oder Kapuzenmäntel
von weißer Wolle mit Seidenquasten, viel Maroquin und verschiedene Sorten
von Topferwaaren. Die Umgebung ist anmuthig. fruchtbar und vortrefflich
bewässert und bebaut. Rabat erhält sein Wasser ebenso wie Sales durch
eine Wasserleitung. Aber die hiesige ist viel großartiger, indem sie 4 Lieues
lang ist und einen ganzen Bach des besten Wassers herzusührt. Beide Wasser¬
leitungen gehören der Glanzperiode der marokkanischen Geschichte an; die
heutigen Mauren wären nicht im Stande, den Gedanken zu solchen Werken
SU fassen, geschweige denn ihn auszuführen. Der Anblick Rabath vom Meer
aus gehört zu den imposantesten Bildern an diesen Küsten. Gerade vor sich
steht man die Kasbah mit ihren viereckigen Thürmen anfragen, rechts die Bastionen
des neuen Schlosses, weiter südlich die Zinnen und Minarets der Stadt, und
in der Mitte des ganzen Gemäldes treten die sechs Bogenwölbungen des
Aqunducts hervor, die das Wasser bis zum höchsten Punkt der Stadt, der
Citadelle, leiten, von wo es sich in alle Quartiere vertheilt, um zuletzt die
Bärten zu tränken. Am nordöstlichen Ende erhebt sich auf einem vom Fluß
bespülten Felsen der prachtvolle Hassansthurm. Viereckig, von einem zierlichen
Minaret überragt und mit diesem iso Fuß hoch, hat dieser Thurm nur seines
Gleichen in dem der Moschee El Kolubia zu Marokko und der berühmten
Giralda in Sevilla: alle drei wurden zu gleicher Zeit erbaut, indem sie aus
der ruhmvollen Herrschaft der Almoraviden (12. Jahrh.) stammen.
Der Strand unter der Stadt Rabat wird von einer geschlossenen Batterie
vertheidigt, weiche 14 Geschulte trägt. Weiter zur Rechten, vor dem neuen
Schloß liegt ein anderes gemauertes Schanzwerk mit 4 niedrigen Thürmen,
welche bastionirt und gut armirt sind. Die Einfahrt in den durch die Mün¬
dung des Buregreb gebildeten Hafen kann von einem rechtsstehenden dicken
Thurm bestrichen werden, die 10 bis 12 schwere Kanonen trügt. Die Rhede
wird von einer gerundeten Einbuchtung der Küste zwischen diesem Thurm und
dem Felsen gebildet, auf dem der Hassanthurm sich erhebt.
Sales, einst durch seine kecken Piraten berüchtigt, besitzt jetzt gar keinen
Hafen mehr. Seine alte Rhede ist von den Sandmassen, die der Fluß herab¬
spülte, zugcfüllt worden, und eine Barre von 2500 Fuß Breite trennt es von
dem ihm gegenüberliegenden Hafen. So hat hier die Schifffahrt gänzlich
aufgehört; nur Fischerbarken und Boote, welche die Verbindung mit Rabat
unterhalten, sind noch vorhanden. Auch der Hafen von Rabat hat nur ge¬
ringen Werth; denn einestheils ist er den gefährlichen Nordweststürmen aus¬
gesetzt, anderntheils hat er wahrend der Ebbe nur 6, und während der Flut
nicht mehr als 13 Fuß Wasser. Vor der Einfahrt in den Buregreb liegt
eine Sandbank wie vor der zum El Kos und zum sehn, aber man kann bei
15 Klafter Tiefe außen ankern, wofern der Westwind nicht zu heftig ist. Dann
können auch große Kriegsschiffe sich quervor legen, um die Städte zu beschie¬
ßen, jedoch ist hierzu Vorsicht erforderlich und man thut wohl, sich keine zu
verächtliche Vorstellung von der Festigkeit der maurischen Werke zu machen,
da dieselben trotz ihres Alters und ihrer Vernachlässigung mehr Widerstand
zu leisten fähig sind, als man auf den ersten Blick durch das Fernrohr zu
glauben geneigt ist. Rabat und Sales sind als Doppelscstung zu betrachten,
deren beide Theile sich gegenseitig unterstützen, und die deshalb einen doppelten
gleichzeitigen Angriff nöthig machte, wenn es aus eine wirkliche Ueberwältigung
des Platzes, nicht auf eine bloße Lection abgesehen ist. In das Innere des
Hafens mit einem Geschwader von Kanonenbooten oder andern kleinen Fahr¬
zeugen, denen die geringe Tiefe das Hineinkommen erlaubt, hineinzubringen,
wäre hier ein weit Schwierigeres und gefährlicheres Unternehmen, als in La-
rasch. weil man sich hier in ein Kreuzfeuer wagte, indem Sales Batterien
am Meeresstrande und am Flußufer hat und Rabat den ganzen Hafen be¬
herrscht.
Unterhalb Rabat, am Ufer des Flusses und jenseits des Hafens befindet
sich die sehr zierliche Moschee von Ein Sakkas. in der das Grabmal des gro¬
ßen Chalifen Yatub El Mansur, des Almansor des Mittelalters steht. Neben
derselben liegt ein Palast des Sultans, der von verschiedenen andern Gebäuden
und ausgedehnten Garten umgeben ist. Aus dieser Stelle stand im Alterthum
eine punische Stadt. Der Ort, welcher sich bis an den Rand des Stromes
hinzieht, ist mit einer von Thürmen flankirten Mauer eingeschlossen, die sich
an die Wälle der Stadt anschließt und so eine zweite Ringmauer für diese
bildet. Der Weg von Rabat herab nach Em Salinas ist außerordentlich schön.
Derselbe windet sich zwischen Bäumen, Gesträuch und Felsblöcken den Hügel¬
hang hinab und an allerlei Rieselbächcn vorbei, die aus dem Aquäduct her¬
vorstürzend in die Tiefe eilen, um die Gärten der Moschee und des Sultans¬
palastes zu bewässern. Haine von Palmen und Orangenbäumen, Feigengärten,
Kaktushecken und andere Pflanzungen, die ein für die Sonnenstrahlen fast
undurchdringliches Dickicht bilden, machen Em Sakkas zu einem entzückenden
Aufenthaltsort. Der Boden gilt hier für heilig, sodaß Christen und Juden
ihn nicht betreten dürfen. Die Mauren feiern hier das Bairamfest, die mo¬
hammedanischen Ostern. Unter den Einwohnern Rabath befinden sich viele
Juden, und ebenso unter denen von Sales. Man schlägt ihre Zahl auf 7
bis 8000 an. Sie werden wie überall in Marokko sehr verächtlich behandelt
und müssen in eignen Quartieren außerhalb der Stadt wohnen.
Während Larasch mehr der Stationsplatz der marokkanischen Kriegsfahr¬
zeuge ist, kann man Rabat als die Kriegswerften des Reichs bezeichnen. In¬
deß baut man hier jetzt nur noch große Schaluppen. Als man vor einigen
Jahren den Bau einer Corvette vollendet hatte, mühten die Mauren sich lange
vergeblich ab, sie von den Helgen ins Wasser zu bekommen, und als dies
endlich gelungen war, fand man es noch schwieriger, sie über die Barre an
der Mündung des Flusses zu bringen. Wahrscheinlich wären alle Seeleute
der beiden Städte zusammengenommen nicht im Stande gewesen, dies letztere
Zu bewerkstelligen, wenn ihnen nicht die Matrosen der im Hafen ankernden
europäischen Schiffe beigesprungen wären. Die Negierung unterhält hier
einige hundert Matrosen, deren Lohn aber so schlecht ist, daß jeder derselben
noch ein Handwerk treiben muß, wenn er leben will, und dasselbe Verhältniß
herrscht in Bezug auf die Artilleristen, welche die Geschütze der Festungswerke
ZU bedienen haben. Rabat und Sales sind gleichweit, d. h. ebenfalls 25 Lieues,
von Mequinez entfernt wie Mamora. Wollte man nach dieser Hauptstadt
marschiren, so wäre es gerathener, in Mamora zu landen, wo man sich ohne
ernstlichen Widerstand festsetzen könnte, statt sein Pulver auf die Einnahme des
schlechten und dabei verhältnißmäßig gut vertheidigten Hafens von Rabat zu
verschwenden.
Wir kommen jetzt zu der letzten marokkanischen Seestadt von Bedeutung,
Zu der im äußersten Süden des Reiches gelegenen Stadt, welche von den
Christen Mogador genannt wird und den Ein- und Ausfuhrhafen für die
Stadt Marokko bildet, bis wohin man von hier nicht mehr als 48 Lieues
hat. Die Bevölkerung wird auf etwa 12,000 Köpfe geschätzt, unter denen
sich gegen 1200 Juden befinden. Bei den Mauren führt die Stadt den Na¬
men Suerah. d. i. das Bild, und in der That soll ihre Lage inmitten
einer Ebene von beweglichem Sand auf einer Halbinsel, deren Seiten von den
Wellen des Meeres gepeitscht werden, mit den hochragenden Minarets und
den bis 40 Fuß hohen seltsamen Sandkegeln der Nachbarschaft, die alle
Augenblicke ihre Gestalt verändern, eine sehr malerische sein. Die Stadt ist
von sehr neuem Datum, sie feiert im Jahr 1860 (vielleicht mit dem Donner
spanischer Schiffskanonen dazwischen) ihr hundertjähriges Jubiläum. Ihr
Erbauer war der Sultan Mulei Sidi Mohammed, der sich nicht verrechnet
hat, wenn er in ihr den Haupthafen des ganzen Reiches und die ergiebigste
Quelle für die Zollrevenüen zu gründen glaubte. Während Rabat und Sales
zusammengenommen jährlich nur 380,000 Francs an Zöllen eintragen, das
als Stadt bedeutendere Asfi (nördlich von Mogador) nur 50—60.000 Francs
abliefert, wirft der Zoll in Mogador dem Sultan jährlich fast eine Million
ab. Der Hafen ist bis aus zwei schmale Einfahrten durch eine kleine Insel
geschlossen, die eine Länge von einer Viertellieue hat und gegen 1800 Fuß
breit ist. Dieselbe war, als die Franzosen unter dem Prinzen von Joinville
sie am 15. August 1844 angriffen, mit vier gemauerten Batterien armirt und
wurde von den Hauptfestungswerken der Stadt aus einer Entfernung von
4500 Fuß bestrichen. Sie hat den Namen hergegeben, mit welcher die Fran¬
zosen die Stadt bezeichnen, indem auf dieser Insel in einer Moschee das Grab
eines mohammedanischen Heiligen, Namens Sidi Mogodul steht.
Die Erbauung von Mogador hat jedenfalls mit großen Schwierigkeiten
zu kämpfen gehabt, namentlich die Aufführung der Mauer an der südwest'
lichen Seite nach der Insel hin. Dieser Theil nämlich ruht auf mehren Felsen¬
klippen, die das Meer bespült, und die durch zwei starke Zwischenwälle mit
einander verbunden sind. Auch hätten die Mauren des 18. Jahrhunderts den
Bau nicht zu Stande gebracht, wenn ihnen nicht verschiedene Europäer,
namentlich der Franzose Comer, dabei mit ihrem Rath zu Hülfe gekommen
wären. Die Stadt ist das Werk eines Despotismus, der in gewissem Sinn als
aufgeklärter gelten mag. etwa wie der, welcher Petersburg erbaute. Sidi Mo-
hammed zwang die Einwohner von Agadir, sich hier anzusiedeln, und schickte
eine Anzahl reicher Mauren aus den benachbarten Provinzen her, um eben¬
falls die Kolonie zu verstärken. So wurde binnen 10 bis 12 Jahren die
neue Stadt bevölkert, und da der Sultan auch europäische Kaufleute zur Nie¬
derlassung einladen ließ und dem Handel große Erleichterungen gewährte, so
begann diese Schöpfung des Zwanges bald wirklich Wurzel zu fassen und
aufzubinden. Indeß machte die anfängliche Milde der Regierung schon nach
Verlauf weniger Jahre dem altgewohnten sich selbst schadendem Raubsystem
des marokkanischen Fiskus Platz, und die Folge war, daß drei Viertel der Kauf¬
leute sich wieder entfernte und die auf 25,000 Seelen angewachsene Zahl der
Einwohner sich im Lauf eines Vierteljahrhunderts auf die Hülste verminderte.
So hübsch Mogador oder Suerah mit seinen hohen schlanken Minarets von
Weitem sich ausnimmt, so glatt und neu seine mit Kanonen gespickter Mauern
aussehen, das Innere ist fast ebenso schmutzig wie das ihrer Nachbarstädte im
Norden. Indeß sind die Straßen, zwar, der Hitze des Sommers wegen, eng
und dunkel, aber regelmäßig und einige Gebäude mit Sorgfalt aufgeführt,
und so ist Mogador immerhin die am Besten gebaute und freundlichste Stadt
Marokkos. Daß sie einen Theil ihrer Fundamente hat dem Ocean abringen
müssen, erkennt man auf den ersten Blick. Ihre vorgeschobenen Batterien
werden, wie bemerkt, von den Wellen bespült, ihre Mauern nach dem Meer
hinaus dienen als Wall und zugleich als Hafendamm. Sie scheinen die Wo¬
gen herauszufordern, die sich mit Wuth daran brechen, oft bis zu ihrer Krö¬
nung aufschwellen und sie mit Schaum bedecken. Beim ruhigsten Wetter sieht
man von den Terrassen der Häuser herab unablässig die weißen dunstigen
Schaumkämme der Brandung sich an den Felsen und über die Ringmauer im
Westen emporbäumen, und wenn es stürmt, sieht Mogador aus, als wolle es
jeden Moment in den aufwogenden Wellen und inmitten der Sandwirbel,
welche der Wind emporjagt, verloren gehen. Alles ist außerhalb der Ring¬
mauer der Stadt beweglich, die Wüste so gut wie der Ocean. Die Dünen,
welche der Flugsand hinter der Stadt zusammenweht, wechseln ihre Gestalt
fast ebenso oft als die Wellen, und man sieht so an dem einen Tage einen
ganz andern Horizont als am vorhergehenden. Die Entfesselung der Fluthen
des Wassers und des Sandes durch einen Sturm wirkt in dieser wilden Um¬
gebung außerordentlich stark auf die Phantasie, namentlich wenn zu gleicher
Zeit die Mueddins auf den Balkonen der Minarets durch den Aufruhr der
Elemente hindurch mit eintöniger, aber weithinschallender Stimme ihre Koran-
Suren erschallen lassen, um die Gläubigen zum Gebet zu rufen.
Alle Kauffahrer ankern die Ostseite der kleinen Insel entlang, die sie gegen
alle West- und Nordwinde sicher stellt, aber keinen Schutz vor den Südwest¬
winden gewährt, die hier fast immer Stürme sind und schon manches Schiff
im Hasen zu Grunde gerichtet haben. Schaluppen und Boote dienen als
Verkehrsmittel zwischen den Schiffen im Hasen und der Stadt, da die Wasser¬
tiefe in der Nähe der letztern zu gering ist, als daß größere Fahrzeuge bis an
das Land heranfahren könnten.
Die Stadt ist, wie in der arabisch-maurischen Welt häufig vorkommt,
durch Mauerabtheilungen mit Thoren in verschiedene Viertel getheilt. Die¬
selben sind: der Landungsplatz und die Vorrathshäuser der Marine, der Palast ^
des Sultans, die Kasbah. das Viertel der Neger, das Judenquartier, welches
mit dem der Neger ganz am Ende der Stadt liegt, dann die eigentliche, nur
von Moslemin bewohnte Stadt. Hier in letzterer trifft man die Moscheen, die
Kaufgcwölbe und den Suk oder die Alknssarie (Bnzar, überbauter Markt),
welcher von ziemlich netter Vanart und mit Säulengängen geschmückt ist.
Den Getreidemarkt bildet ein ebenfalls hübsch gebauter, viereckiger und an den
Seiten mit Nischen, in denen die Verkäufer sitzen, versehener Platz. Der Han¬
del, den die Stadt treibt, ist nicht unbedeutend. Außerdem verfertigen die
Einwohner sehr feine Stoffe von weißer Wolle, wie sie die reicheren Mauren
zu ihren Halts und Burnus verwenden. Maroquinpantoffeln und verschiedene
Stahl- und Eisenwaaren. Das Gebiet, welches Mogador umgiebt, ist im
Kleinen dasselbe, wie das der ungeheuren Flngsandwüsten, welche die von hin'
über Marokko oder von Feß ucich Timbuktu ziehenden Karavanen durchwan¬
dern müssen. In der Sahara findet man solche Flugsandgebiete nur hin und
wieder; denn diese Wüste ist im allgemeinen mehr steinig als sandig. We»n
man behauptet, ein Sandsturm in diesen Gegenden könne eine Karawane wäh¬
rend des Marsches begraben, so möchte das übertrieben sein. Aber des
Nachts im Lager ist eine solche allerdings in Gefahr überschüttet zu werden,
und ist dann wenigstens nur Morgen genöthigt, ihr Gepäck auszugraben, und
ihre Waarenballen, ja ihre Kameele herauszuschauen, von denen gewöhnlich
nur noch die Köpfe aus den Wogen des Sandmceres hervorragen. Es ist
sehr schwierig, in der Gegend von Mogador den Weg zu finden, besonders
wenn man nach Marokko hinaus will. Mitten in den Sandwehen, die fort¬
während ihren Platz wechseln, erblickt man nichts als den gelben Erdboden und
den blauen Himmel, und in dein Augenblick, wo Pferd oder Kameel den Fuv
hebt, ist auch die Spur derselben auf dem Boden, so tief sie gewesen sein
mag, schon wieder zugerieselt. Ein Heer mit schwerer Artillerie und vielem
Gepäck würde somit auf keinen Fall die Strecke zwischen Mogador und Ma¬
rokko zurückzulegen im Stande sein.
Mogador ist bis jetzt erst einmal von einem europäischen Geschwader an¬
gegriffen worden, nämlich 1844 von den Franzosen. Dagegen wurde es wieder¬
holt von den benachbarten Stämmen vom Lande her belagert. Dies geschieht
in Marokko nicht selten. Häufig kommen die Bewohner der Wüste und des
Gebirges, um die Hauptstadt ihrer Provinz zu bereunen. deren Häuser sie voll
Schätze glauben und deren Plünderung der stete Traum ihrer Raubsucht ist-
Sie verachten die maurische Bewohnerschaft der Städte aufs tiefste, und nicht
mit Unrecht, da dieselbe nichts von den kriegerischen Gewohnheiten und der
Tapferkeit jener Bevölkerungen besitzt. Ein Kant oder Statthalter würde es
daher niemals wage», sich ohne starke Begleitung auf dem platten Lande er-
. blicken zu lassen oder anderswo als in einer befestigten Stadt zu wohnen.
Der Hafen Mogadors wird jährlich von etwa 50 europäischen Kauffahrtei¬
schiffen besucht, die durchschnittlich 150 Tonnen messen. Die Ausfuhr besteht
vorzüglich in Gummi. Mandeln, Häuten und Wolle. Eingeführt werden eng¬
lische und französische Manufacturwaaren, etwas Eisen, weißer Hutzucker und
Dielen. England betheiligt sich an diesem Handel mit ungefähr der Ein-
und Ausfuhr.
Von den Städten im Innern ist zunächst Marokko oder Maraksch zu
nennen, die erste Residenz der Sultane. Es liegt auf einer weiten Hochebne
zwischen dem Atlas und dem Flusse Tensift. 1052, vielleicht an der Stelle
des alten Bonarum Hemcrum. gegründet, soll es im zwölften Jahrhundert an
hunderttausend Häuser und mehr als eine halbe Million Einwohner gezählt
haben. Jetzt liegen ganze Quartiere der Stadt in Ruinen, und die Zahl der
Einwohner beträgt kaum mehr als 40,000. Die Stadt ist mit 30 Fuß hohen
Mauern umgeben, welche zwei deutsche Meilen im Umfang haben und von
Zahlreichen Thürmen flankirt sind. Die Moscheen, von denen die Dschama
ElKolubijeh mit ihrem 220 Fuß hohen Thurme die größte ist, sind zum Theil
sehr schön, aber meist ebenfalls halbe Ruinen. Der Palast des Sultans, eine
Gruppe prächtiger Gebäude, welche von großen Gärten umgeben und mit
einer Mauer von IV- Stunden Umfang eingefaßt sind, liegt außerhalb der
Stadt. Letztere treibt noch immer nicht unbeträchtlichen Handel und hat große
Gerbereien. Auch werden hier schöne Seidenstoffe gemacht. Feß oder Faß
ist die größte Stadt des Sultanats und die zweite Residenz. Von Edris dem
Zweiten 808 gegründet, galt es im Mittelalter für die größte und reichste
Stadt der ganzen mohammedanischen Welt. Es zählte damals 90,000 Häuser
und mehr als 700 Moscheen und war berühmt wegen seiner Prachtgebäude
und seiner wissenschaftlichen Anstalten. Durch die Verlegung des Herrscher¬
sitzes von hier nach Maraksch um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts
büßte es seinen Vorrang ein und infolge des allgemeinen Verbindens der mo¬
hammedanischen Civilisation ist es jetzt nur noch ein Schatten seiner einstigen
Herrlichkeit. Indeß ist die Stadt noch immer bedeutend. In einer von hohen
Bergen umschlossenen Thalebene, zwischen anmuthigen Vlumeu- und Gemüse¬
gärten, Orangen-, Palmen- und Granatenhainen gelegen, von dem Wad El
Dschaher in eine Alt- und eine Neustadt getheilt, zählt sie noch über 60,000
Einwohner und gegen hundert Moscheen, von denen die des Sultan Edris
welche die Marokkaner als unverletzliche Freistatt betrachten, die berühmteste
'se. Auch hat Feß noch 7 stark besuchte Gelehrtenschulen, die sich in der Welt
des Islam nach denen von Kairo des größten Rufs erfreuen. Der alte Palast
der Sultaue ist sehr ausgedehnt, aber verfallen. Sonst gleicht Feh mit seinen
Khanem und Bazaren und seinen vielen Bädern den arabischen und ägyptischen
Großstädten, und nur die große Menge von Wirthshäusern und Kaufläden
gibt ihm ein mehr europäisches Aussehen. Der Handel mit den südlichen
und östlichen Gegenden des Reiches ist bedeutend, es gehen von hier Kara-
vanen selbst bis nach Timbuktu hinab. Endlich ist Feß auch der Hauptsitz
der marokkanischen, allerdings nicht sehr wichtigen Industrie. Die dritte Haupt¬
stadt ist Mequinez. arabisch Meknäs. Dieselbe liegt 4'/- deusche Meilen
südwestlich von Feß und war die Lieblingsresidenz des vorigen Sultans. Die
Lage der Stadt auf einer Hochfläche inmitten lachender Gefilde und prächtiger
Baumgärten ist höchst anmuthig. Sie hat eine dreifache Mauer und zwei
Gräben, enthält einen sehr großen Palast und hatte früher an 60,ovo, in den
letzten Jahren aber nur noch 25,000 Einwohner.
Außerdem sind von Städten des Innern noch zu erwähnen: Teza mit
11,000 Einwohnern eine hübsche Stadt, welche 12 Meilen nordöstlich von
Feß liegt und der Versammlungsort der Mettakarcivcmen ist, Alkasser oder
Alkaßra, ein finstrer schmutziger Ort am obern El Kos, in deren Nähe 1578
König Sebastian von Portugal Schlacht und Leben verlor, endlich Tafilet,
eine Gruppe von Schanzen und Dörfern auf beiden Ufern des Zizflusses süd¬
östlich von Maraksch, welche 10,000 Einwohner haben sollen und einen leb¬
haften Karavanenhandcl mit dem Innern Afrikas treiben.
Der Krieg Frankreichs mit Marokko im Jahre 1844 ist unsern Lesern
jedenfalls noch erinnerlich. Er war von kurzer Dauer. Die französische Flotte
bombardiren zunächst Tanger, dann Mogador und schoß binnen wenigen Stun¬
den die Forts und Schcmzwcrke dieser Küstenorte in Trümmer. Marschall Bu-
geaud schlug in der Schlacht am Jsly das von einem Sohne des Sultans
geführte marokkanische Heer so entscheidend, daß es sich auflöste. 1849 kam es
zu neuen Mißhelligkeiten mit Frankreich, die indeß, als eine französische Fregatte
vor Tanger erschien, beigelegt wurden, indem der Sultan Genugthuung ver¬
sprach. 1851 folgte ein neues Zerwürfniß. indem der Sultan die von Frank¬
reich geforderte Genugthuung wegen Plünderung eines marseiller Schiffs durch
marokkanische Korsaren verweigerte. Der Admiral Dubourdieu erschien darauf
mit einem Geschwader vor Sales und beschoß die Stadt aufs heftigste, wo¬
rauf er nach Tanger segelte, um auch diesen Ort zu bombardiren, was indeß
abgewendet wurde, da die Marokkaner jetzt nachgaben. Seitdem war Friede
zwischen beiden Mächten, und der diesjährige Feldzug der Franzosen auf ma¬
rokkanischen Geb,et galt bekanntlich nicht dem Sultan, sondern den Näuber-
stämmen der Beni Suassen und Angadcs, welche auf eigne Faust die Grenz-
districte Algiers überfallen hatten.
Der Tribut, welchen die kleinern Seemächte an Marokko früher zahlten,
um sich Sicherheit gegen die Piraten des Landes zu erkaufen, hat jetzt auf¬
gehört. 1820 verweigerte Oestreich die 25.000 Thaler, die es bis dahin ent¬
richtet, serner zu zahlen, und als darauf der Sultan ein venetianisches Schift
mit Beschlag belegen und die Mannschaft desselben in den Kerker werfen ließ,
erschien der Admiral Bandiera vor der Stadt, schoß die dort ankernde ma¬
rokkanische Flotte zusammen und bombardirte die Stadt so lange, bis der
Sultan den erwähnten Kauffahrer herausgab und auf ferneren Tribut ver¬
zichtete. Die skandinavischen Mächte entledigten sich der lästigen Abgabe °,erst
1844, indem sie ein Geschwader vor Tanger schickten, welches indeß nichts zu
thun bekam, da England beim Sultan den Erlaß fernern Tributs vermittelte.
In demselben Jahre schickte sich auch Spanien zu einem Feldzug gegen Ma¬
rokko an. Victor Darmon, ein in Marseille geborner, von einem tunesischen
Vater stammender Jude, war als Konsularagent Spaniens und Sardiniens in
Mazaghan an der atlantischen Küste Marrokkos angestellt. Derselbe bekam im
September 1843 auf der Jagd Streit mit Mauren, welche ihm den Uebergang
über ihr Feld verweigerten, und, da sie wußten, daß er ein Jude sei, ihreMach-
barn gegen ihn aussetzten. Mit Steinen geworfen, glaubte er sich in Lebens¬
gefahr, schoß und tödtete einen der Angreifer. Dieser Mord eines Musel-
Mans durch einen verachteten Juden erregte im Lande die wüthendste Erbitterung.
Darmon wurde verhaftet und durch den Kalb von Mazaghan zum Tode ver-
urtheilt. Zur Vollziehung des Urtheils war die Bestätigung des Sultans er¬
forderlich. Während diese erwartet wurde, gelang es Darmon, aus seinem
Kerker zu entfliehen. Er wurde eingeholt, vertheidigte sich und verwundete
einen der Häscher, wofür ihn ein neues Gericht zum zweiten Mal zum Tode
verurtheilte. Das Urtheil wurde jetzt wirklich vollzogen. Spanien erhob
darüber Klage beim Sultan und forderte zugleich für die Plünderung eines
seiner Schiffe durch marokkanische Seeräuber Genugthuung und Entschädigung.
Als diese, wie gewöhnlich, auf sich warten ließ, rüstete man in Spanien,
um einerseits für jene Beleidigungen Sühne zu erzwingen, andrerseits aber
zugleich eine größere Sicherheit Ccutas durch Eroberung eines diese Festung
zum Theil beherrschenden Stückes marokkanischen Gebiets zu erlangen. Schon
wachte man Miene, von Ceuta aus mit 6000 Mann nach dem Innern zu
Warschiren, während zugleich ein Geschwader mit Landungstruppen nach den
westlichen Häfen abgehen sollte, als der Sultan nachgab und Friede ge¬
schlossen wurde.
„Der Zug gegen Marokko." sagte damals das Organ des spanischen
Ministeriums, „ist das Vorspiel großer Ereignisse und beweist, daß die
spanische Nation endlich die alte trüge Politik mit einer thätigen kriegerischen
vertauscht. Aber wenn wir auch die Nothwendigkeit behaupten, daß Spanien
sich aus sichere und dauernde Weise in Afrika festsetzt, so müssen wir doch
weiter gehende, auf eine Besetzung des ganzen Küstenstrichs gerichtete Pläne
als unzeitig von uns weisen. Wir bedürfen der Hülfe und Mitwirkung
Frankreichs, und Ludwig Philipp findet bekanntlich seinen Ruhm in der Er-
Haltung des Friedens. Auf eigne Rechnung den ganzen Krieg zu übernehmen,
gestatten unsre Geldverhältnisse nicht. Nur müssen die Mauren einsehen ter>
man, daß man uns nicht ungeahndet beleidigen darf und daß wir die Macht
haben, ihr Gebiet mit Krieg heimzusuchen. Von diesem Augenblick an be¬
deuten auch wir etwas in der afrikanischen Politik, legen auch wir wieder
ein Gewicht in ihre Wagschale. Europa aber macht sich allmälig mit dein
Gedanken vertraut, daß wir früher oder später unsre alte Herrschaft in den
Babareskenstaaten des nördlichen Afrika wieder herstellen werden. Alsdann
können wir auf die uns höhnende Redensart: Afrika erstrecke sich wieder bis
zu den Pyrenäen, stolz erwidern: Spanien reicht bis zum Atlas."
Aehnliches liest man auch jetzt in den spanischen Blättern, und es lei¬
det keinen Zweifel, daß Spanien jetzt mehr wagen kann, als damals. Das
Land ist beruhigt, die Bürgerkriege haben aufgehört, die Finanzverhältnisse
sich wesentlich gebessert und statt Ludwig Philipps nimmt den französischen
Thron ein kriegerischer Herrscher ein, von dem man wohl nicht mit Unrecht
glaubt, daß er die Haupttriebfeder des Unternehmens der Spanier gegen ih¬
ren maurischen Nachbar war. England endlich, dem an einer Verstärkung
der spanischen Stellung an der Meerenge von Gibraltar nichts gelegen sein
kann, hat nicht mehr die volle Macht, wie damals, seinem Einspruch gegen
etwaige Eroberungsgedanken des madrider Kabinets Nachdruck zu geben.
England wird dem Kriege ruhig zusehen, es wird eine zeitweilige Besetzung
von Tetuan und selbst von Tanger gestatten. Es hat sich einverstanden er¬
klärt mit der Forderung Spaniens nach einer Gebietsvergrößerung in der
Nähe Ceutas, obwol ihm die darin gestattete Vergrößerung der Wichtigkeit
dieser Festung keineswegs angenehm sein kann. Mehr zu erobern aber wird
es den Spaniern nicht erlauben, und da das gute Einvernehmen zwischen
England und Frankreich sich erhalten zu wollen scheint, so werden sich auch
die spanischen Minister begnügen müssen, wenn ihre Armee jenes Stück Land
bei Ceuta erobert. Ob dies die großen Rüstungen verlohnt, ist eine andere
Frage, die kaum zu bejahen sein wird, und für den Ruhm, der bei dem
Kampfe erworben werden kann, vermag sich gewiß jeder Soldat zu begeistern,
sicher aber kein spanischer Finanzminister. Auch O'Donnell scheint nach den
neuesten Berichten zweifelhaft geworden zu sein. Möglich, daß er eingesehen
hat. wie es klüger gewesen wäre, seine Forderungen an Marokko nicht zu
steigern und sich mit dem zu begnügen, was der Sultan zugestehen wollte.
Vielleicht auch, daß ihm klar geworden ist. wie er vom Kaiser der Franzosen
bei dieser Angelegenheit benutzt wurde, den Engländern zu zeigen, daß man
ihnen auch in diesen Gegenden schaden könne, daß man sich auch hier em
Terrain bereit halte, ihre Interessen zu beeinträchtigen, falls sich die Ein¬
tracht zwischen den beiden westlichen Großmächten einmal in Zwietracht
verkehren sollte. Auffällig bleibt jedenfalls, daß zu derselben Zeit, wo ein Zer¬
würfnis; zwischen den Kabinetten von London und Paris wegen der mittel¬
italienischen Frage drohte, die marokkanische Angelegenheit in den Vorder¬
grund trat, und daß fast in demselben Maße, in welchem sich das gute
Einvernehmen zwischen den beiden Großmächten wieder mehr befestigte, auch
die Kriegslust O'Donnells sich verminderte, so daß er jetzt nur durch die Stim¬
mung der Bevölkerung, namentlich der Geistlichkeit, die in dem Angriff auf
die Mauren einen Kreuzzug erblickt, noch genöthigt zu sein scheint, den
Kampf fortzusetzen.
8vno<ZMl'8 et Oorrosponä^vo tirös usf taxier» als Nactame RöLS-misr. 2. vol.
?g.ris, 1859.
Frankreich ist recht eigentlich das Land der Memoiren, es hat immer diese
steundürc Form der Geschichtschreibung, in der die Begebnisse des Familien¬
lebens sich mit den großen politischen Ereignissen begegnen geliebt, und in diesem
ungezwungenen Gewände hat sich der französische Geist mit allen seinen Schwächen und
Vorzügen vielleicht am reichsten offenbart. Auch in unsrer Zeit müssen Memoiren
die, durchgängige Nichtigkeit selbstständiger Schöpfungen in der französischen Literatur
aufwiegen. Wir reden hier nicht von solchen Memoiren wie denen Guizots, welche
wohl nichts direct Unwahres, aber doch nicht die ganze Wahrheit enthalten, sondern
von denen, welche längere Zeit nach dem Tode der betreffenden Person erschienen
send und in denen die nothwendigen Rücksichten auf noch Lebende das Interesse
der Geschichte nicht zu sehr beeinträchtigt haben. Besonders reich ist der Antheil, der
von dieser Literatur der ncipvlconischcn Epoche zufällt und in die auch theilweise
das obenerwähnte Leben fällt.
Madame Röccunlcr, deren Name als der der schönsten Frau ihrer Zeit
und der Freundin Chatcaubriands lange berühmt ist, hat selbst keine Denkwürdig¬
keiten verfaßt; aber was ihre Advvtivtvchtcr als solche aus ihren Papieren gewählt
hat, wird jedem willkommen sein, der sich nicht nur über die Frau, sondern auch
über ihre Zeit und Umgebung belehren will.
Sie war Z777 in Lyon geboren und verheiratete sich in ihrer ersten Jugend
mit dem viel ältern Banquier Necamicr, der sie mehr als Tochter denn als Frau
behandelte. Sie erschien in Paris, als sich eben die wildesten Wogen der Revolution
gelegt hatten und unter dem Directorium zum erstenmal eine leidliche äußerliche
Ordnung hergestellt war. Ihre Schönheit bezüubertc Alles und ward sofort be¬
rühmt, sie war die Königin von Longchamps und auf allen Bällen, Lucian Bona¬
parte schrieb als Romeo dieser Julie feurige Liebesbriefe, welche sie pflichtschuldig
'drein Manne übergab. Derselbe fand, daß es gefährlich sei dem Bruder des Ge-
ncrnls Bonaparte die Thür zu weisen, und wies seine junge Frau an, ihm nichts
zu gewähren, aber ihn auch nicht verzweifeln zu lassen. Dies genügt, um das pia«
tonische Eheverhältniß zu zeichnen. Später zog Madame Nvcamicr die Blicke des
ersten Consuls auf sich, es verdroß ihn, laß sie seine Cirkel nicht besuchte, und als
er Kaiser geworden war, suchte er sie als Hofdame Joscphinens in die Tuilerien zu
ziehen. Fouchv ward mit dieser Mission, deren Erzählung höchst ergötzlich zu lesen
ist, beauftragt. Der Polizeiminister begann den Salon von Madame Nöcamicr zu
besuchen und bat sie, als. er sich dort sicher glaubte, um eine vertrauliche Unter¬
haltung. Mit bedenklicher Miene sprach er von der kalten und widerstrebenden
Weise, in der sie sich zum Kaiser stelle, seine Gegner sehe, und erinnerte sie daran,
daß, als die stolze Herzogin von Chevreusc mit dem Helden frondirt, derselbe sie an
den Ursprung ihrer Familiengütcr erinnert und auf eine mögliche Confiscation an¬
gespielt, was die hochfahrende Frau dazu vermocht habe, demüthig um eine Stelle
als Palastdame der Kaiserin zu bitten. „Der Kaiser," schloß Fouchü," „hat Sie,
seit er Sie zuerst gesehen, nie vergessen oder aus dem Auge verloren, seien Sie vor¬
sichtig und verletzen Sie ihn nicht." Madame Roccunier, erstaunt und eingeschüchtert,
dankte für den Nath, fügte aber hinzu, daß sie ihre Freunde nicht verleugnen könne.
Einige Tage darauf kam Fouchö wieder und sagte: „Wissen Sie, daß ich gestern
Abend eine Stunde lang mit dem Kaiser von Ihnen gesprochen habe? Obwohl er
sich darüber beklagt, daß Sie zu seinen Feinden stehe», so giebt er doch nicht Ihnen
persönlich, sondern Ihren Freunden die Schuld!" Er drang in sie, ihm ihre wahre
Meinung über den Kaiser zu sagen. Madame Nücamier erwiderte, daß sie die
höchste Bewunderung für das Genie und die Verdienste Napoleons hege, daß die
einfache Größe seines Wesens ihr imponire, daß aber die Härte, mit der derselbe
gegen ihre Freunde verfahren, sie tief verletzt habe. Der Minister achtete dies offene
Geständniß nicht, sondern drang in sie, eine Stellung bei Hofe zu erbitte», welche
ihr unverweilt zugestanden werden würde, er suchte ihr lockend auszumalen, wie viel
Gutes sie dort stiften, welchen Einfluß eine schöne und edle Frau auf den
Kaiser üben könne. „Napoleon," sagte er, „ist noch keiner Frau begegnet, die
seiner würdig, niemand weiß wie seine Liebe sein würde, wenn sie sich einer reinen
Persönlichkeit zuwendete." — Die Prinzessin Caroline Murat sccuudirtc diese locken¬
den Anerbietungen durch ausgesuchte Aufmerksamkeiten, sie stellte ihre Loge im
Theater Madame Ne-camicr zur Verfügung und die Höflinge sahen in ihr schon eine
steigende Größe, aber Alles machte auf diese Frau keinen Eindruck, und als Fouchü
,ihr endlich förmlich von Seiten des Kaisers die Stellung als Palastdamc anbot,
erwiderte sie mit einem höflichen Nein, das Gebieter und Diener in Wuth
versetzte.
Madame Nücamicr sollte erfahren, daß man nicht ungestraft den Wünschen der
Mächtige» widerstehe, das Haus ihres Mannes gerieth in Verlegenheit, eine Million,
vom Schatz vorgestreckt, hätte dasselbe gerettet, es geschah nicht. Aber die edle Frau
wußte den Verlust des Reichthums zu tragen, sie zog sich in ein einfaches Leben
zurück und ward desto mehr von dene» aufgesucht, welche Unabhängigkeit und Rein¬
heit zu schützen wußten, vorzüglich auch vo» den berühmten Fremden, welche sich
in der Etiquette des kaiserliche» Hofes langweilten. Es gab unter dem Kaiscrrcicü
keine eigentliche Opposition, der Despotismus schloß sie aus; aber es gab Nicht-
anhänger und Schlcchtangcschricbcnc. Zu ihnen gehörte Frau von Stal-l, mit der
Madame Rocamier sich in enge Freundschaft verband. Wir finden in dem Buche
anziehende Seiten über jene gewählte Gesellschaft, die sich damals in Cvppct am
genfer See versammelte, nährend in Erfurt ein „Mi'terrö as rois Mrvcmug se
waintönus" Talma beklatschte, bewunderten hier freisinnige Kritiker die Verfasserin
der Corinne als Phädra, der ihre junge Freundin als Ariadne zur Seite stand
!><1'n u'kut clans so» ivlo ein'un «uocüs as bolrutö;" hier entstand das Buch ac
1'^IIswlrgus, dessen Begeisterung der kaiserlichen Polizei gefährlich genug erschien, um
es als antifranzösisch zu verbieten.
Freilich treten hier an Madame Nvcamier auch andre- als rein geistige Inter¬
essen heran; unter den Gästen der Fran von Stavl befand sich der Prinz August
von Preuße», der eine heftige Leidenschaft für sie saßte und ihr den Antrag machte,
sich von ihrem Manne scheiden zu lassen und ihm ihre Hand zu reichen. Sre er¬
widerte seine Gefühle nicht, wie denn ihre gleichmäßige Schönheit nie von einer
Neigung bewegt zu sein scheint,, aber sie war durch seine Ergebenheit gerührt; ihre
Phantasiereiche Freundin, durch eine so romantische Heirath entzückt, redete ihr leb¬
haft zu und bewog sie, ihrem Manne zu schreibe«, der ihr väterlich volle Freiheit
gab, aber ihr deu Schmerz nicht verhehlte, den ihm eine Trennung verursachen
würde. Madame Nvcamier, bei der das Herz nicht sprach, die als Katholikin vor
einer Scheidung ebenso zurückschreckte, wie als Frnuzösin fürchtete, ihre Heimat zu
verlieren, lehnte das Anerbieten des Prinzen ab, um sich nicht vom Unglück und
Alter ihres Mannes zu trennen. Prinz Nngust war untröstlich und bewahrte
seine Neigung auch als er sie beim Einzug der Verbündeten 1815 in Paris
wiedersah.
- Dem Verbot des Buches über Deutschland folgte die Verbannung der Frau
von Staöl ans Frankreich, die sich bald auch auf ihre Freundin ausdehnte. Ma¬
dame Nücamicr ging von Lyon nach Italien, an dessen Kunstschätzen sie sich weidete,
und in Rom und Neapel einen Kreis von ausgezeichneten Leuten wie Canova, Nvr-
bies, Rohan-Chabot, den Philosophen Vellanchc u. ni. um sich vereinigte, sie ward
am Müratschcn Hofe mit ausgezeichneter Aufmerksamkeit aufgenommen und war
bald Vertraute des Königs und der Königin; als crstrcr nach langem Zögern sich
den Alliirten angeschlossen und den Vertrag mit Graf Ncippcrg unterzeichnet hatte, kam
er in heftiger Bewegung zu seiner Gemahlin, bei der er Madame Nvcamier fand.
„Was hätten Sie gethan?" fragte er lebhaft. „Sire, Sie sind Franzose und müs¬
sen Frankreich treu bleiben," war die Antwort; aber es war zu spät, als sie ans
Fenster trat, sah sie die englische Flotte in den Golf cinsegcln. Als sie bald dar¬
auf Neapel verließ und nach Rom ging, war sie Zeuge der Rückkehr des Papstes,
der Jubel des Volkes war unbeschreiblich und rührte Madame Nücamicr aufs tiefste,
doch vergaß sie nicht den bisherigen Commandanten General Miollis zu besuchen,
der Nom vom Capitol regiert und jetzt verlassen und arm mit einem alten Die¬
ner lebte.
Die Restauration führte die Verbannten nach Paris zurück, und als die ver¬
besserten Umstände ihres Mannes erlaubten wieder ein Haus zu machen, drängten
sich bald die ersten legitimistischen Namen in ihren Salon; aber die Exclusivität
war ihr fremd, sie suchte stets auch die vom Schicksal Besiegten ans und neben den
Mvntmorencys, Noailles und Broglios sah man die Wittwen napoleonischer Ge-
nerälc. Wellington, der gefeierte Held des Tages huldigte ihr, bis sie ihm auf seine
Bemerkung über Napoleon! disn b^den, ihre Thür schloß. Sie sah alle Sou'
verainc, alle Größen, welche jene bewegte Zeit nach Paris führte, und die Memoiren
bieten uns eine Reihe von interessanten Billeter und Briefen berühmter Männer
und Frauen, wie des Erbgroßhcrzogs von Weimar, Benjamin Constants, der Frau
von Krüdener, Alexanders von Humboldt u, a. in. Im Jahre 1813 zog Madnmc N6-
camier sich ganz in ein Kloster an Lois zurück, wo ihr auf Lebenszeit
eine Wohnung eingeräumt ward; aber diese enge Zelle ward berühmt, weil alle Be¬
rühmtheiten Frankreichs es sich zur Ehre rechneten, dort empfangen zu werden. Die
Hauptperson ward bei Madame Nscamicr Chateaubriand, um dessen willen man fast
ebenso viel kam als um ihretwillen und dessen Briefe aus Berlin, London, Verona,
Rom und Paris viele Seiten der beiden Bände ausmachen. Diese Briefe bilden
nebst denen des Herzogs von Montmorency einen interessanten Beitrag zur Ge¬
schichte der Restauration, namentlich ihrer frivolen Seite. Sie zeigen aufs neue,
daß die Jahre von 1816—1830 die hoffnungsvollste und inhaltreichste Zeit seit Na¬
poleons Sturz für Frankreich war. Trotz der ultraroyalistischen Reaction hatten
Tribüne, Presse und vor allem Salons doch größere Freiheit als in irgend einem
andern Staate des Kontinents. Das Land war mit kriegerischem Ruhm übersättigt,
man vergaß die kurze Demüthigung der Fremdherrschaft, weil der Druck, den das
Kaiserthum auf das geistige Leben übte, abgenommen war, und wandte sich den
Künsten des Friedens und den Fragen der innern Politik zu, welche damals die
besten Köpfe beschäftigten. Chateaubriand, Villele, de Serre, Constant, standen auf
der Höhe des Ruhms, dem die jüngern Talente, wie Guizot, Thiers, Villemain und
andre erst zustrebten, Ackerbau und Industrie waren im Aufschwung, und doch war
der Kultus des goldnen Kalbes noch nicht allmächtig, wie er es später ward. Ein
folgenschwerer Mißgriff der Regierenden, welchem gesetzlich entgegen zu treten den
Regierten die Weisheit fehlte, zerriß den mühsam angeknüpften Faden geschichtlicher
Kontinuität: Frankreich konnte von Tones regiert werden, aber nicht von Jakobitcn,
so wenig sich England seinen Protestantismus, so wenig wollte es sich seine Charte
nehmen lassen. Der neue Bruch mit der Vergangenheit brachte auch einen tiefen
Riß in das sociale Leben, die Anhänger der alten und der neuen Ordnung standen
sich nicht mehr als zwei gleichberechtigte Parteien auf dem gemeinsamen Boden einer
Verfassung gegenüber, sondern als Jakobiten und Hannoveraner; aber während die
letztern in dem festgefügten Bau des englischen politischen Lebens die Kraft fanden,
ihre Gegner zu absorbiren, vereitelten hier die Legitimisten nur das Gelingen eines
neuen haltbaren Gebäudes durch ihre Opposition. Auch durch den Cirkel Mndaine
Rscamiers ging diese Spaltung, ihre jüngern Freunde schlössen sich dem Gestirne
Louis Philipps an, während Chateaubriand alternd und mürrisch an der linken
Seite ihres Kamins blieb und sich von ihr darüber trösten ließ, daß die Welt ihn
vergaß; seine Unterhaltung scheint für gewöhnlich unbedeutend gewesen zu sein, so¬
wie alles, was wir aus diesen Bänden von ihm erfahren, uns in der Ansicht be¬
stärkt, daß er ein vollendeter Egoist war und seine unzweifelhaft großen Gaben durch
Dünkel, Eitelkeit und Verdrehung sehr gedämpft wurden. Nur zuweilen konnte das
Feuer der Jugend bei ihm ausbrechen, wenn die Unterhaltung ihn besonders inter-
essirte, dann belebte, sich sein großer edler Kopf, das matte Auge fand den Glanz
wieder und seine sonore Stimme, die gewissen Worten einen unnachahmlichen Accent
zu verleihen vermochte, ward bezaubernd; aber solche Augenblicke waren selten und
seine Jahre vergingen im Mißmuth über verfehlte Ziele und Selbstvergötterung seines
Talentes. Er starb 1848, seine Freundin folgte ihm bald darauf.
Madame Nvcamier war unzweifelhaft nicht, was man eine Frau von Geist
nennt: in ihrer Jugend fesselte ihre Schönheit, später die Erinnerungen und ihr
reines, wohlwollendes Gemüth. Einer Leidenschaft mochte sie unfähig gewesen sein,
aber feinen Takt und sanfte Empfindung scheint sie in hohem Maße besessen zu
haben. Als der Mittelpunkt eines reichen Kreises bedeutender Menschen wird sie
merkwürdig bleiben.
Beim Schluß des Jahres ziemt es, einen Rückblick auf die ebeu abgelaufene
Periode zu werfen. Im Drang der Begebenheiten, an denen wir, wenn nicht durch
unsre Thätigkeit, so doch dnrch unsre Wünsche, Interessen und Hoffnungen selber
betheiligt waren, haben wir kaum Zeit genug gehabt, zu beachten, daß dieses Jahr
eines der merkwürdigsten unsers Lebens war; ja, seit 1848 unstreitig das merkwür¬
digste. Zwar sind wir alle noch in einem Gährungsprozeß begriffen, der einer klaren
Gestaltung widerstrebt, wir tragen noch immer mehr Ahnungen als Begriffe, mehr
Vclleitütcn als einen bestimmten Willen in uns, aber wir haben doch das sehr ent¬
schiedene Gefühl, daß in uns, wie um uns, eine wichtige Veränderung eingetre¬
ten ist.
Ob diese Veränderung unbedingt eine gute zu nennen sei, scheint aus den er¬
sten Anblick zweifelhaft. Werfen wir zunächst einen Blick auf Preußen, das uns
nicht blos persönlich am nächsten angeht, sondern von dessen Thatkraft und Ent¬
schlossenheit, nach der stillen Ueberzeugung aller Deutschen es hauptsächlich abhängt,
was aus uns werden soll. Am Schluß des vorigen ZnhreS war die Regentschaft
eingerichtet, ein wenigstens theilweise liberales Ministerium eingesetzt, eine neue Kam¬
mer gewählt, die in überwiegender Majorität der Freiheit und-dem Fortschritte
huldigte. Längst entschlafene Hoffnungen regten sich wieder, Und, was der damali¬
gen Periode eine so eigenthümliche Physiognomie gab, diese Hoffnungen waren mit
einer ungewöhnlichen Bescheidenheit verbunden. Jeder rief seinem Nachbar zru er
solle nicht zuviel von Außen erwarten; es sei schon genug, daß der Bewegung nur
einiger freie Spielraum gegönnt werde; das Volk habe nnn zu zeigen, ob es im
Stande sei, entschieden und niacißvoll zugleich, Schritt für Schritt vorwärts zu
kommen. Es ist nicht zu verkennen, daß die gegenwärtige Stimmung in Preußen
selbst gedrückter ist als damals. Ueberall vernimmt man ein stilles Grollen, und
wenn das Maaß dessen, was man zu erreichen strebt, sich noch immer in den schick¬
lichen Grenzen halt, so ist doch die Art des Begehrens unruhiger und ungeduldiger
geworden. Die politischen Zustände tragen durchweg den Charakter des Proviso¬
rischen, grade wie die Finanziellen in der großen Krisis, wo eigentlich auch kein
wirklicher Mangel vorhanden war, sondern nur keiner recht wußte, wie es eigentlich
mit seinem Vermögen stand. Dies Gefühl des Provisorischen ist in gewissem Sinn
noch unerquicklicher als ein wirkliches Leiden; denn das Mißbehagen hat keinen
greifbaren Gegenstand und kommt daher nach allen Seiten zum Vorschein. Wer
aber darüber den Muth verlieren wollte, der möge Folgendes erwägen.
Man blättre in den geistvollen Londner in Korrespondenzen der National-
zcitung. Wer die englischen Zustände aus keiner andern Quelle studiren wollte, müßte
daraus die Ansicht gewinnen, die ganze Nation sei in Eigennutz, Schwäche, Wind¬
beutelei, in Lug und Trug untergegangen. Zwar tritt überall ein Hauptbösewicht
hervor, Lord Palmerston, aber er macht sich, wie es scheint, doch nur darum geltend,
weil er den allgemeinen Humbng auf die Spitze treibt. Diese Ansicht wird durch
die beliebtesten Belletristen, durch Thakcray, Dickens, Carlule, u. s. w. sehr vielseitig
bekräftigt.
Schlägt man dann die Briefe des Junius auf, die nun bald ein Jahrhundert
alt sind, so findet man die nämlichen Charaktere wieder: zwar existirte damals noch
kein Lord Palmerston, aber die Bcntclschncidcrci und Lüge scheint damals ebenso
groß gewesen zu sein, als jetzt. Geht man noch um ein Jahrhundert zurück und
liest den Bericht der großen Revolution z. B. von Lord Macaulau, so hat man auch
da im Ganzen dasselbe Bild! lauter kleinliche Motive, schwache und waukelmüthige
Charaktere, von denen im Grund keiner recht weiß, was er will. Zwar hat der
berühmte Geschichtschreiber künstlerisches Gefühl genug, auf eine seiner Figuren ein
helleres Licht zu werfen, weil sonst das Ganze unbeschreiblich langweilig sein würde,
aber man merkt zu gut den künstlerischen Sinn dieser Beleuchtung, um sieh dar¬
über täuschen zu lassen, daß auch Wilhelm von Oranien zu seinem Jahrhundert
gehörte.
Ganz anders ist die gewöhnliche Vorstellung über England, ganz anders das
Bild, das sich in der Ferne darstellt. Hier hat man das Gefühl einer großen,
mächtigen, freien, im Ganzen glücklichen und in riescnmüßigcm Fortschritt begrif¬
fenen Nation. Und fleht man, immer von der richtigen Perspektive aus, näher zu,
so wird dieses Bild keineswegs abgeschwächt. An die materiellen ^Fortschritte zu er¬
innern ist gar nicht nöthig-, aber was man so gern damit in Contrast stellt, auch
die Individualität ist keineswegs in diesem geschäftigen Strudel untergegangen. Die
englischen Staatsmänner sind freilich keine großen Lichter, aber eine Nation, die
Männer hervorbringt wie Havelock und die andern indischen Helden, die im Laufe
dieses Jahrhunderts eine Reihe von Dichtern hervorgebracht hat — Scott, Buro»,
Dickens u. s. w., die doch in der jetzigen europäischen Literatur den ersten Rang
einnehmen —, bei der sich in der Mitte des tollsten Eigennutzes, der einmal mit über¬
großen: Reichthum unzertrennlich verbunden ist, so viel praktische aufopfernde und
energische Philanthropie entwickelt, wie in England: — von einer solchen Nation
kann man mit Recht nicht sagen, sie sei im Verfall.
Deshalb haben aber jene Humoristen — Junius, Bucher, Carlyle, Thakera»
— nicht unrecht; sie stehen nur den Ereignissen zu nah, sie legen zu häufig das
Mikroskop an, um die richtigen Dimensionen zu gewinnen. Es ist ganz natürlich,
daß man in dem unmittelbaren Verkehr mit jener hastigen, von einem Tag aus den
andern arbeitenden Geschäftigkeit zunächst das Kleinliche, Unbestimmte, Abgeschmackte
empfindet, und darüber vergißt, die einzelnen Ziffern so zu stelle», daß sie im Ganzen
den richtigen Werth geben. Diese Physiognomie des Lebens gehört keineswegs Eng-
land eigenthümlich an, sie ist der Charakter unserer ganzen Zeit, unserer Zeit, in der
die Bewegung nicht mehr durch einzelne Heroen, sondern durch die Massen geschieht.
Wenn Carlyle und seine Gleichgesinnten sich darüber beklagen, daß die Heroen
aus der Welt verschwunden seien, so mag man vom ästhetischen Standpunkt
mit ihnen empfinden. Aber die Seelengröße ist nicht durchaus an die Dimensionen
der äußern Thätigkeit geknüpft: Wahre Größe gibt es heute wie sonst; auch an
ernsten Tragödien, an großen Opfern und großen Entschlüssen fehlt es nicht; nur
ist der Spielraum, der ihnen gelassen wird, geringer geworden. Die Perioden spe¬
cifisch großer Männer, d. h. die Perioden, in denen die Größe so viel Spielraum
fand, die Welt zu beherrschen, waren nicht die glücklichsten der Menschheit. Wenn
Raum da ist für ein unbedingtes, gewaltiges Wollen, so ist das ein sehr entschie¬
denes Zeugniß, daß der Widerstand gegen dasselbe, d. h. die Willenskraft der An¬
dern unverhältnißmäßig schwach sei» muß. Es ist, als ob die Natur nur über
eine gewisse Summe von Kräften zu disponiren habe, und daß, wenn sie alle ihre
Kraft auf ein einziges Haupt concentrirt, die Andern dadurch entnervt werden.
Fast alle Männer, denen die Geschichte den Beinamen des Großen gibt, gingen aus
einer absterbenden Cultur hervor: freilich waren sie dann die Begründer einer neuen,
wie die ewige Naturkraft immer sich selbst hilft.
Diese Bemerkungen mögen trivial klingen, sie sind darum auszusprechen nöthig,
weil man die triviale Wahrheit fortwährend vergißt. Die bei uns so häufig her¬
vortretende Sehnsucht nach großen Männern, d. h. nach Männern, welche die
Zwecke des Weltgeistes allein ausführen, während das Publikum die Hände in den
Schooß legt, ist unvereinbar mit den Gütern, die doch den wahren Kern unsers
Lebens ausmachen, unvereinbar namentlich mit der Freiheit. Die Publicitüt, das
Ueberwiegen der bürgerlichen Interessen, die jedem großen Willen aufgelegte Noth¬
wendigkeit, den Willen der Andern zu respektiren, auch wo er ihn nicht billigen
kann, kurz die Herrschaft des Gesetzes über die Leidenschaft, hat England in den
vorigen Jahrhunderten zu dem Staat gemacht, der den Satyrikern und Humoristen
so überreichen Stoff bietet, der an Humbug und Snobs alle Völker der Erde
übertrifft und der doch in der Geschichte ewig groß dastehen wird. Dasselbe System,
das setzt auch bei uns allmülig sich geltend macht, wird die Narrheiten aller Art
befördern oder wenigstens ans Licht ziehen, die Vorurtheile häufen und verhärten,
Manche große und schöne Kraft frühzeitig mürbe machen und abnutzen und uns
doch im Ganzen groß und glücklich machen. Das Bürgerthum ist etwas anders
als der Adel, der Parlamentarismus etwas anders als ein Heldcnzeitaltcr. Nicht
durch die Weisheit der Einzelnen, sondern durch das Gleichgewicht ihrer Interessen
und Vorurtheile stellt die öffentliche Vernunft sich her.
Man würde diese Bemerkungen aber vollständig mißverstehen, wenn man da¬
rin eine Empfehlung der Gleichgiltigkeit, des Gehenlassens suchen wollte. Der Neu-
iahrsbetrachtung ziemt eine contemplativa Stimmung, dann aber beginnt wieder das
Tagewerk, und je eifriger, leidenschaftlicher und unverdrossener man darangeht, desto besser.
Die gegenwärtige Ungeduld ist kein schlechtes, sondern ein gutes Zeichen: sie ist auch
nicht unberechtigt, denn es hätte in der That in diesem Jahre mehr geschehen können,
^s geschehen ist, und sie wird gute Frucht tragen, da sie einen geraden Weg vor sich hat.
Der nächste Zweck der gegenwärtigen Bewegung ist, die Mißbräuche wegzu¬
schaffen, die das vorige System, ganz dem altpreußischen Geist zuwider, in das sitt¬
liche und rechtliche Leben des Volks eingeführt hat. Man überließ im vorigen Jahre,
und zwar mit Recht, die Initiative dem neuen Ministerium, das man in keiner Weise
drängen wollte. Die Kammern werden jetzt die Verpflichtung haben, der Regierung
darin eifriger als bisher zu Hilfe zu kommen. Sie haben sich namentlich durch die
Furcht nicht abschrecken zu lassen, es könne durch zu heftiges Drängen das befreun¬
de Ministerium erschüttert werden. Es kommt bei uns noch gar nicht darauf an,
daß die liberale Partei den Staat regiert, sondern daß der Staat verhindert wird,
die Freiheit und Selbstthütigkeit des Volks in einer ungebührlichen Weise zu bevor¬
munden. Die neusten Erlasse des Cultusministerinms haben mit Recht verstimmt.
Es handelt sich dabei nicht blos um die Frage- wer geistvoller ist, Stiel oder Dicstcr-
wcg? sondern um die Frage- wie weit die Regierung im Recht ist, den Gemeinden
ein ihnen unbequemes ErziehungSsustem aufzudrängen? Daß an Luthers Bibel¬
übersetzung die Cultur des Volks groß geworden ist, wissen wir auch; aber das all¬
gemeine Gefühl ist im vollsten Recht, wenn es die daraus hergeleitete Folgerung:
die Bauernkinder sollten hauptsächlich die Bibel und das Gesangbuch auswendig
lernen, als irrig bezeichnet. Es wird nie, oder nur durch Gemaltmittel gelingen,
in die neu aufwachsende Generation einen Geist zu bringen, der dem Geist der Er¬
wachsenen entgegengesetzt ist, und jeder doctrinäre Versuch der Art stört die natür¬
liche Harmonie zwischen Volk und Staat.
Wenn man in Preußen selbst noch nicht ganz im Klaren darüber ist, wie weit
man mit dem neuen System zufrieden sein soll, so ist das im übrigen Deutschland na¬
türlich in noch viel höherem Grade der Fall. Bei den Bewohnern der mittlern und
kleinern deutschen Staaten äußert sich die vorher charakterisirte Sehnsucht nach großen
Männern hauptsächlich darin, daß sie von Preußen große Entschlüsse und große
Thaten verlangen. Die Stimmung wechselt von einem Tage zum andern, bald
macht man sich von Preußens Kraftmitteln die übertriebensten Vorstellungen und
muthet ihm Unbilliges zu; bald, wenn es diesen Erwartungen nicht entspricht, ist
man geneigt, es wie einen ganz schwachen hilflosen Staat zu behandeln, den man
von der Karte ausstreichen könnte, sobald man wollte. Der Wechsel ist natürlich,
denn er ist auf die seltsame geographische Lage Preußens basirt; und er wird noch
lange fortdauern, denn Preußen ist der natürliche Mittelpunkt für die allgemeine
Aufmerksamkeit Deutschlands, und schwerlich wird sobald Alles, was dort geschieht,
sich des allgemeinen Beifalls zu erfreuen haben. Zunächst hat wol jeder Deutsche
nach Kräften dafür zu sorgen, daß das eigne Haus wohl bestellt werde; es ist aber
ein sehr wichtiger Fortschritt dieses Jahres, daß die Zusammengehörigkeit deutscher
Interessen sich im öffentlichen Bewußtsein deutlicher herausgestellt hat. Auf die all¬
gemeine Lethargie der letzten zehn Jahre ist eine thätige Bewegung erfolgt, die zwar
noch häufig auseinander läuft, sich einander hemmt und durchkreuzt, die aber doch
zeigt, daß wir leben.
, Seltsamer Weise knüpfte sich diese Regung des deutschen Nationalgefühls zuerst
an Oestreich; wie wenig man auch mit dem dortigen Regiment zufrieden war, so¬
bald der alte Kaiserstaat von dem Ausländer bedroht wurde, regte sich das deutsche
Blut. Es war für Oestreich die günstigste — vielleicht die letzte Zeit, zu einem
herzlichen Einverständnis; mit Preußen zu kommen, es hat es verschmäht, im stolzen
Gefühl seiner alten Würde; nicht zu seinem Heil, denn schlimmer als der unmittel¬
bare Verlust siud die Zeugnisse von dem allmäligen Verfaulen seiner Balken und
Stützen, die dieser heftige Stoß bloßgelegt hat. — Möge das neue Jahr sie nicht
zu hart versuchen._____
Abonnementsauzeigezum neuen Znhr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzbotett
den XZ^. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeratwn auf denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhaltungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, w> December '1839. Fr. Ludw. .He^dig
"'''"