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]]> Nach Manchester! lautete die Losung der Kunstfreunde im vorigen Jahre,
München ist ihre Parole in diesem Jahre geworden. Wer als pflichttreuer
Soldat beiden Losungen folgte, wird bei.dem besten Willen die Vergleichung
der großen englischen und der nationalen deutschen Ausstellung nicht unter¬
lassen können. Er wird natürlich nicht die Fülle der hier und dort dem
Auge vorgeführten Kunstschätze gegeneinander abwägen, da der Münchner Aus¬
stellung freiwillig engere Grenzen gesetzt wurden, oder aus dem geringern Um¬
fange der letzteren allein auf ihren geringeren Werth schließen, er wird aber
unwillkürlich die verschiedenen Weisen der Anordnung, die mannigfachen Mit¬
tel, das Interesse des Volkes zu erwecken und rege zu erhalten und endlich
die in England und Deutschland beobachteten Grade der Opferfreudigkeit der
Kunstsammler zusammenhalten und prüfen. Noch gegenwärtig kann nur in
einzelnen deutschen Bahnhöfen die Riescnvlacate wahrnehmen, welche die Aus¬
stellung" von Manchester pomphaft ankündigten, noch jetzt sind die lockenden
Anschläge der verschiedenen Dampfschiffahrt- und Eisenbahngesellschaften, auf
welche Art man sich den Genuß der großen Ausstellung am wohlfeilsten ver¬
schaffen könne, vorhanden. Es war überreiche Sorge dafür getragen, daß
die Erinnerung an das Schauspiel von Manchester jedermann zu jeder Stunde
und an jedem Orte nahe gerückt werde. Kam man vollends nach England
und Manchester, so merkte man auf Weg und Steg die großartige Bedeu¬
tung des Unternehmens. Selbst die indischen Wirren waren nicht im Stande,
die Ausstellung aus dem Vordergründe, den sie im Kreise der Tagesinteressen
einnahm, zu verdrängen. Jeder Omnibus, jede Eisenbahnlinie suchten die¬
selbe auszubeuten. Bis unmittelbar an die Eingangsthür waren die Schie¬
nen gelegt worden, auf welchen tagtäglich gefüllte Extrazüge heranbrausten.
Keine Woche verging, die nicht ein besonderes Schauspiel im Innern des-
Glaspalastes bot. Heute waren es Schüler, denen das Comite großmüthig
den Besuch der Ausstellung gönnte, morgen kamen mit klingendem Spiel und
wehenden Fahnen die Fabrikarbeiter eines Jndustriebezirkes, von ihren Brod¬
herrn zu ihrer Belehrung hierher gesendet, ein anderes Mal wimmelte es
wieder von Uniformen. Ein kunstsinniger Oberst hatte seinem ganzen Regi¬
ment das Eintrittsgeld bezahlt. Zu viel des Guten, mußte man oft rufen,
wenn man sah, daß vor lauter Anregungen der ruhige Genuß nicht erlangt
werden konnte und über dem Streben, den Besuchern jeden nur erdenklichen
Comfort zu verschaffen, diesen es unmöglich gemacht war, bequem und un¬
gestört zu schauen und zu studiren. Aehnliche Störungen sind in München
nicht zu befürchten. Vielleicht wäre es hier nützlich gewesen, nicht die Tu¬
gend der Bescheidenheit bis zum Uebermaß zu üben und ohne grade den Weg
der Reclame zu betreten, doch die Aufmerksamkeit des Publicums in nach¬
haltiger Weise auf die „nationale" Ausstellung zu richten. Außerhalb Mün¬
chens erführe man, da die. Zeitungen schweigen, über das Unternehmen, seine
Bedeutung und Erfolge blutwenig, aber auch in München selbst erscheint alles
festliche Gepränge, alles, was das Interesse auch in den nichttünstlerischen
Kreisen anregen, die Wichtigkeit des Unternehmens auch dem Laien zu Ge¬
müthe führen könnte, sorgfältig vermieden. Nicht einmal eine Fahne oder
Flagge weht aus dem Glaspalaste, doch freilich, mit welchen Farben hätte
man dieselbe schmücken sollen? Auch in der Erwartung, jetzt, wo so viele Kunst¬
freunde nach München strömen, würden die übrigen Kunstanstalten und Samm¬
lungen zugänglicher gemacht werden, findet man sich getäuscht. Nach wie vor
bleiben die Tage und Stunden des öffentlichen Zutrittes eng beschränkt, und
nach wie vor geht an diesen Tagen zur Eröffnungsstunde die Uhr der Auf¬
seher eine halbe Stunde zu spät und wenn die Schlußzeit naht, merkwürdiger¬
weise ebenso viel zu früh. Man muß den Werth der in der Ausstellung vor¬
handenen Schätze sehr hoch und die Kunstliebe des deutschen Publicums sehr
eifrig und warm voraussetzen, um trotz dieses Mangels an jeglichem Fest¬
apparate, an Winken und deutlichen Fingerzeigen den Erfolg der Ausstellung
gesichert zu halten. Zu beiden Voraussetzungen hat man' auch ein gewisses
Recht. Was insbesondere den innern Werth der Ausstellung anbelangt, so „
kann'man nicht leugnen, daß sie eine große Zahl anziehender und bedeuten¬
der Kunstwerke in sich birgt. Aber diesem Zugeständniß folgt der hinkende
Bote unmittelbar nach. Wir müssen ein Auge gar fest zudrücken, um den
Titel: Allgemeine und historische Ausstellung gerechtfertigt zu finden. Wir dür¬
fen von derselben nicht die Enthüllung eines vollständigen Bildes der deut¬
schen Kunstentwicklung in den letzten sechzig Jahren erwarten, sondern müssen
uns damit begnügen, Beiträge zu dieser Erkenntniß hier zu sammeln. Fünfzehn
Architekten haben >blos zur Münchner Ausstellung beigesteuert, vierunofunszig
Bildhauer und unter diesen die Mehrzahl unbekannte Namen — wahrscheinlich
Schüler der Akademie — Werke ausgestellt. Eine solche Vertretung zweier
Kunstzweige, in welchen die Entwicklung überdies so überaus rasch und er¬
folgreich war, bleibt auch hinter den billigsten Erwartungen zurück. Selbst
im Kreise der Malerei, welche 1744 Werke (Kupferstiche/ Holzschnitte und
Photographien mitgerechnet) von etwa 571, Künstlern eingesendet aufweist,
machen sich empfindliche Lücken bemerkbar. .Keine einzige Landschaft von Lea¬
sing, kein größeres Werk von Leutze, keines der ihrer Zeit so hochgefeierten
Werke von Sohn, die berliner Schule, wie die norddeutschen 5lünstlcrgruppen
überhaupt auf das spärlichste vertreten, das sind dunkle Flecken, die dem
sonstigen Glänze der Ausstellung wesentlichen Eintrag thun. Wer die Schuld
dieser mangelhaften Vertretung trügt, wird wol der Rechenschaftsbericht des
Comite sagen. Die Fehler in der Organisation des letztern, die seiner Zeit
in diesen Blättern aufgedeckt wurden, erklären den Uebelstand nicht vollständig.
Es scheint auch in einzelnen Kreisen an der rechten Opferfreudigkeit gefehlt
zu habe», ausfallend bleibt wenigstens die Kargheit der Zusendungen aus den
streng akademischen Kreisen und das Zurückbleiben bestimmter landschaftlicher
Bezirke. Das wäre ja auch keine rechte deutsche Ausstellung, die nicht unseren
Zwiespalt und unseren Particularismus offenbarte. Hoffentlich verfuhr das
Comitö bei dem Suchen und Prüfen der für den Zweck der Ausstellung pas¬
senden Kunstwerke nicht se> cavaliermüßig, wie bei der Abfassung des Kata¬
loges. Er ist der leibliche Bruder des berüchtigten Kataloges zur Pinakothek,
der wirkliche Künstler todtschwelgt, um selbstgeschaffenen Leben zu geben und
beweist, freilich nur durch den Contrast, wie richtig die Behauptung sei: ein
guter Katalog mache das Beschauen der Bilder noch einmal so leicht und be¬
quem. Wir verlangen keinen wissenschaftlich gearbeiteten Katalog, wir ver¬
langen also nichts, was über die Kräfte der Münchner Akademie geht. Billig
wäre es aber gewesen, nicht blos ausnahmsweise, sondern regelmäßig das
Entstehungsjahr der Bilder anzugeben. Wir Hütten gern die Kunde dem Ver¬
fasser des Kataloges geschenkt, daß Schinkel das Amt eines „Obcrlandesbau-
directors" bekleidet — Faust ist von Sr. Excellenz dem Geheimrath von
Goethe verfaßt — hätte er uns dafür bei mehr als zwanzig Ausstellern mit
ihrem Wohnort bekannt gemacht. Geburtsjahre mit Sterbejahren zu ver¬
wechseln, einen Maler zur wiener Schule zu rechnen, weil er seine Kunstbil¬
dung in Belgien empfangen und seitdem in Paris lebt und wirkt, Äüngst-
vcrstorbene noch unter den Lebenden anzuführen, das heißt denn doch mehr
als blos nicht pedantisch verfahren. Wir befinden uus in einer historischen Aus¬
stellung, wir sollen ein anschauliches Bild von der deutschen Kunstentwicklung
seit dem Schlüsse des vorigen Jahrhunderts erhalten. Ist es denn gleichgültig,
ob wir, auf die Angabe des Kataloges vertrauend, einen Künstler fünfzig
Jahre früher oder später austreten lassen? Wir finden bei vielen, selbst un¬
bedeutenden Künstlern das Todesjahr im Katalog angegeben, folgerichtig
schließen wir, daß, wo dasselbe nicht verzeichnet ist, der Künstler noch als
Mitlebender gedacht werden muß. Also lebt Friedrich noch, auch Wächter
und Fügcr, auch sogar der alte Koch! Wenn aber Friedrich noch als „Pro¬
fessor" in Dresden fungiren kann, dann lebt auch die Romantik in ihrer ro-
hesten Form noch unter uns und wir waren Lügner oder Thoren, sie längst
als überwunden anzunehmen. Wenn Füger und Wächter noch unter uns
wandeln, so haben wir Davids Richtung nicht blos als eine historische Exi¬
stenz zu betrachten. Die Ausstellung ist doch nicht blos zu Nutz und From¬
men der Kunsthistoriker veranstaltet worden. Daß man an dieselben nicht
dachte, beweist schon der Umstand, daß man Friedrich und Runge in ent¬
gegengesetzte Winkel verbannte, die doch dieselbe Zelle im Narrenhause der
Romantik bewohnten. Ein solches Herzeleid hätte man wissentlich gewiß nicht
den Kunsthistorikern zugefügt. Die Laien, zu welchen die Mehrzahl der Be¬
sucher gewiß gehören, werden Dank der leichtfertigen Fabrikation des Kata¬
loges täglich zahlreiche Irrthümer w'nen und auf diese Art den beabsichtigten
Zweck der Ausstellung in das Gegentheil verkehren. Doch lassen wir diese
unerquicklichen Katalogsstudicn und wenden wir uns lieber zur Sache selbst
und zwar zunächst zu i>en Alten, zu dem alten Carstens insbesondere, bei
welchem die Wechselbezeichnung: Alt und Classisch eine so treffliche Urwelt-'
dung findet.
Dreizehn Nummern des Kataloges fällen auf Carstens, die uns mit neun
verschiedenen Werken bekannt machen. Sein unglückliches Leben, die Selbst -
verzehrung seiner Kraft aus Mangel an einem großen Wirkungskreise, die
ausschließliche Betonung des antiken Elements in Motiven und Formen, die
Schildcruugsweise mit den elementaren Mitteln der Malerei, alles das brau¬
chen wir wol nicht ausführlicher zu schildern. Ist auch Carstens kein Name,
den jedermann auf der Lippe trägt, so wird doch im Allgemeinen seine histo¬
rische Stellung richtig bestimmt, seine Bedeutung gewürdigt. Den Nachdruck
darf man bei Carstens nicht auf seine Vorliebe für die Antike legen. Zahl¬
reiche Zeitgenossen theilten dieselbe mit ihm. Ihn unterscheidet vorzugsweise
ein vollendetes Verständniß des Plastischen, ein feines Gefühl für einfache
Formenschönheit. Das letztere war der Kunst des achtzehnten Jahrhunderts
beinahe vollständig abhanden gekommen.' Die Zopfkünstler malten nicht schlecht,
in einzelnen Füllen sogar vortrefflich; wenn wir ihre Werke mit den modernen
zusammenhalten, so werden wir bemerken, daß sie uns in technischer Beziehung
weit überragen. Sie hatten noch gar mannigfache Kunstgriffe und Recepte
überliefert erhalten, die seitdem verloren gingen, ihre Bildung ruhte mehr noch
auf einer handwerksmäßigen Grundlage und gestattete eine tüchtigere technische
Schulung, In der Gegenwart, wo die Maler gewöhnlich nur eine dilcttan-
tcnhafte Erziehung genießen, ist die letztere blos ausnahmsweise noch anzu¬
treffen. Unausstehlich erscheint uns an den Werken des vorigen Jahrhunderts
der Mangel an ernster Auffassung, das frivole Spiel mit den Motiven, deren
wahre Natur ohne subjectiven Beigeschmack zu verkörpern keinem in den
Sinn kam, widerlich wirkt die gezierte, verzwickte Formengebung, die weder
naiv an die Wirklichkeit sich anschließt, noch von reinem idealen Sinn ge-
ragen auf die ewigen Grundformen menschlicher Erscheinungsweise zurückgeht,
sondern mit der Wiedergabe abgegriffener conventioneller Typen sich begnügt.
Die Reaction dagegen war in einer Zeit, wo Gluck auf musikalischen, Winckel-
mann, Lessing, Diderot auf literarischen Gebiete den Kampf gegen das Con-
ventionelle im Interesse der charakteristischen Wahrheit und einfachen Schön¬
heit schon siegreich eingeleitet hatten, unausbleiblich. Sie konnte so bewirkt
werden, daß man den Gedankengehalt in den Kunstwerken änderte, das stoff¬
liche Interesse an den Motiven hervorsuchte, das Nationale und Volksthüm-
liche betonte. Es wäre dadurch Ernst und Kraft in die künstlerischen Gedanken,
strengere Wahrheit in die Formen gekommen. Oder man beseitigte blos das
Symptom der Krankheit und setzte an die Stelle der conventionellen, gemach¬
ten Typen wahrhaft ideale, wobei man zwar auf die innigere Theilnahme
des Volkes verzichten mußte, aber in das Formelle der Kunst ein mächtiges
Element der Bewegung und Entwicklung hineinwarf. Eine Zeichnung des älteren
Tischbein: Götz von Berlichingen — vielleicht die älteste künstlerische Illustra¬
tion, die Goethes Werke erfuhren — deutet an, daß man auch den ersten
Weg versuchte und einen nationalen Gehalt, ein unmittelbar stoffliches Inter¬
esse der Malerei einverleiben wollte. Es blieb jedoch bei dem bloßen Ver¬
such. Weltbekannte Verhältnisse empfahlen in der Poesie wie in der bilden¬
den Kunst die Flucht aus der Wirklichkeit und ließen für die Correctur des
Zopfgeschmackes blos den zweiten Weg offen.
Carstens Verdienst besteht übrigens nicht blos in dem ernsten und tieferen
Rückgange auf das antike Formengerüst. Die Antike ist für ihn nichts Aeußer-
liches, kein fremdes Gewand, in welches er erst nachträglich seine Phantasie-
gebilde einhüllt. Seine ganze Natur ist plastisch angelegt, auch durch seine
leisesten Empfindungen klingt jener unendliche Wohllaut, für welchem nur die
Antike den entsprechenden Ausdruck besitzt. Goethes Liebe zu Carstens, der
wir die Erhaltung der Werke des letzteren vorzugsweise zu danken haben, und
welche auch die Bestrebungen der Weimarer Kunstfreunde grundsätzlich bestimmte
— die Spuren derselben sind leider auf der Münchner Ausstellung nicht zu
'erblicken — ruht auf innerer Wahlverwandtschaft, die Verhältnisse, welche die
Wandlungen des Dichters erklären, sind auch für Carstens Entwicklung ma߬
gebend geworden.
Carstens Werke, einfache Zeichnungen, zuweilen schematisch gefärbt, blen¬
den das Auge nicht. Hat man aber einmal die Aufmerksamkeit aus dieselben
gerichtet, so wird man Mühe haben, sich von denselben zu trennen. Der
Preis gebührt dem goldnen Zeitalter aus der Sammlung des Baron von
UcMll. Hier der Vater, der mit dem Kinde spielt, daneben der Greis, der
befriedigt und neidlos der genießenden Jugend zusieht, weiter nach hinten die
Liebespaare und der lustige Tanzreigen, rechts davon die selige Mutter, die in
ihren tändelnden Kindern sich wiederfindet, der naschende Knabe, der Schläfer
endlich, dem auch im Traume das Glück und die Freude zulächelt, geben ein
Bild des reinen Genusses, der ungetrübten Seligkeit zu leben und zu athmen,
wie es wahrer und ergreifender nicht geschildert werden kann. Der Bildhauer,
der mit geschickter Hand die > Graziengruppe aus dem Aquarell: Apollo und
die Musen verkörpern könnte, hätte die Unsterblichkeit sich gesichert. Von un¬
endlicher Poesie ist auch auf einem dritten Bilde: Die Ueberfahrt des Mega-
penthes der Zug, daß die beiden Kinder, die auch auf Charons Kahne Platz
gesunden, unbekümmert um ihre Umgebung, ohne Ahnung der kommenden
Schrecknisse heiter in den Strom gucken und mit den Wellen spielen. Und
so kann man Bild für Bild und auf jedem Bilde Gruppe für Gruppe be¬
trachten und wird stets Gebilden der lauteren Schönheit gegenüberstehen.
Als Kind des achtzehnten Jahrhunderts offenbart sich Carstens am meisten in
dem Traumorakel des Amphiaraos. Das Motiv besitzt keinen poetischen Reiz,
ist sür die bildende Kunst nur undeutlich zu verkörpern, interessirt aber insofern,
als es zeigt, wie sehr, jedes Gemüth von den Wirkungen der französischen
Revolution erfüllt war. Die Bilder der Freiheit und des Despotismus, die
aus den Pforten der Träume emporsteigen, find offenbare Anspielungen auf
das politische Drama in Frankreich.
Carstens Beispiel blieb zwar nicht ohne Nachfolge. Wir besitzen in Genelli
den rechten Erben seiner Phantasie und seines lauteren Schönheitssinnes,
wenn auch die poetische Natur bei dem lederen nicht so reich auftritt, und
die Anwendung antiker Formen nicht immer das Gepräge innerer Nothwendig¬
keit offenbart. Einen weiteren Raum und ausgedehnteren Umfang gewann
schon unter Carstens Zeitgenossen die im Ganzen verwandte Richtung,
welche David in Paris angebahnt hatte. An einem reizenden Bilde von
Schick: Christus im Schoße der Engel vom Kreuze träumend, bei dem man
freilich die trockne Färbung in Gedanken wegwischen muß, bemerkt man den
Einfluß von Carstens am deutlichsten. Es ist derselbe Wohllaut der Linien,
die gleiche Formenanmuth, die wir hier antreffen. Aber schon an Schlaks
großem und mit Recht vielbewundertem Bilde: Apoll unter den Hirten, deutet
das Colorit, in der Wirkung schönen Gobelins nahestehend, den Uebergang
zur französischen classischen Manier an, welche vollends bei Wächter (durch
dreizehn Werke vertreten) herrschend erscheint. Wären sein: Letzter Schlaf des
Sokrates, seine Andromeda, Hiob mit seinen Freunden im Louvre aufgestellt,
keinem Menschen würde ein Zweifel über ihren französischen Ursprung auf¬
tauchen. Das „Lebensschiff", ein reizend erfundenes Motiv, brauchte blos um
einen Ton Heller angelegt zu sein, um für eine Arbeit des bekannten Hamon
zu gelten. Nur im „Batchus, der Amor den Trank der Unsterblichkeit zeigt",
fühlt man die keuschere deutsche Natur durchbrechen, nur in seinen Zeichnungen
und ebenso in jenen Wagners, Hetschs u. a. bemerkt man die ernstere Vertie¬
fung in die Antike, wie sie die Franzosen mit ihrer rhetorischen Anlage nie¬
mals kennen. Will man Davids Einfluß auf die deutsche Kunst noch weiter
verfolgen, so trete man vor Matthaeis (in Dresden) Ermordung des Aeghist
oder Fügers (Wien) Tod des Germanicus. Patriotische Klagen brauchen
wegen dieser raschen Entfremdung der deutschen Kunst vom nationalen Boden
nicht laut zu werden. Zunächst greift die Bildung der modernen Völker enger
ineinander, und läßt sich eine gegenseitige Absperrung auf diesem Gebiet nicht
mehr erreichen. Und dann war dadurch noch keineswegs eine eigentliche Fran-
zvsirung des deutschen Geschmackes erreicht, keine Huldigung dem französischen
Geiste beabsichtigt worden. David hatte eben den scheinbar richtigen Aus¬
druck für die malerische Verwerthung der-ant'item Formen gefunden, hatte die
Zugänglichkeit der letzteren erweitert und wurde so für einige Zeit das Vor¬
bild zahlreicher Maler aus aller Herren Ländern. Uebrigens dauerte auch
seine Herrschaft in der deutschen Malerei nicht lange, und wurde noch zu einer
Zeit, wo der französische Imperialismus officiell galt, von andern bestimmen¬
den Einflüssen abgelöst.
Schick und Wächter, durch das geräuschvolle Auftreten des spätern Künstlcr-
gcschlechts in den Hintergrund gedrängt, in den besuchteren deutschen Gemälde¬
galerien nicht vertreten, werden für die Mehrzahl der Besucher der Münchner
Ausstellung wahrscheinlich eine ganz neue, jedenfalls eine überaus anziehende
Erscheinung bilden, durch welche die Frage nach der Entwicklung unsrer Kunst
bei vielen eine von der gewöhnlichen Meinung abweichende Lösung erfahren
dürfte. Man wirft uns häusig Parteilichkeit gegen Cornelius und Kaulbach
vor und nennt es Undank gegen die Größe dieser beiden Männer, daß wir
ihre Bedeutung einschränken, ihre Wirksamkeit als bereits theilweise der Ge¬
schichte verfallen darstellen. Mit größerem Recht könnte man uns, d. h. das
gegenwärtige Geschlecht, der Parteilichkeit für diese Künstler und ihre Zeit¬
genossen zeihen und uns anklagen, daß wir die Verdienste ihrer unmittelbaren
Vorgänger der Vergessenheit überlieferten. Wir lassen die Größe unsrer Kunst,
mag sie nun eine wirkliche oder nur eine scheinbare Größe besitzen, durch die
Einkehr in das Heimathliche und Ursprüngliche, wie sie gewöhnlich von den
Bewohnern des Klosters San Jsidoro gerühmt wird, bedingt werden, wir
knüpfen die Wiedergeburt der nationalen Kunst an die Romantiker an, feiern
in den Nibelungen- und Faustillustrationen patriotische Thaten, welche uns erst
wieder eine eigenthümliche Kunst schenkten und denken gering von der frühern
deutschen Künstlerkraft.. Einen scheinbaren Vorwand dazu gibt noch die un¬
leugbare Berührung deutscher und französischer Kunst am Schlüsse des vorigen
Jahrhunderts. Wir können aber nur wiederholen, daß keine Abhängigkeit
von der nationalen französischen Kunst beabsichtigt wurde, daß vielmehr die
Uebereinstimmung in dem antiken Cultus diese Verwandtschaft hervorrief. Wir
bemerken in einzelnen Fällen ein Zusammentreffen mit der Kunstweise Davids,
wo wir keine Spuren unmittelbarer Beziehungen zu dem französischen Alt¬
meister nachweisen können. Es lag eben diese Richtung in der Luft und theilte
sich unwillkürlich allen Strebenden mit. Wenn wir billig sind, werden wir
eingestehen, daß bei Schick und Wächter die Phantasie, die specielle male¬
rische Begabung ungleich höher entwickelt war, als bei den meisten Gro߬
meistern der gegenwärtigen Kunst. Zum Ausdruck ihrer Gedanken brauchten
sie freilich nicht so große Maschinen, wie die Franzosen spöttisch unsere mo¬
numentale Malerei nennen, aber in dem beschränkten Raume zeigen sie eine
Fülle malerischer Reize, eine Gewalt über plastische Formen, einen Sinn für
reine Schönheit, Hoheit und Anmuth, wie wir sie bei unsern Zeitgenossen ost
schmerzlich genug vermissen. Es wäre nicht schwer, auch bei Carstens die
buonarottische Inspiration, bei Schick eine Rafaels würdige Grazie nachzu¬
weisen. Hält man vollends mit ihren Werken die älteren Schöpfungen der
Neurömer, die Anfangsarbeiten Schuorrs, Overbecks, u. a. zusammen,
dann empfängt man unwillkürlich das Gefühl, als würde man mit einem
Zauberschlage aus dem Sitze hoher Civilisation in eine Urwildniß versetzt.
Auch diese Rohheit und Unförmlichkeit hat ihr historisches Recht. Wir wollten
überhaupt nicht unsern gegenwärtigen Künstlern zu nahe treten und halten
für ihre Eigenthümlichkeit den gleichen empfänglichen Sinn bereit. Nur mei¬
nen wir, es sei nicht rathsam, für unsere jüngste Gegenwart stets nur das
sechzehnte Jahrhundert zum Vergleiche heranzuziehen und unbillig, die Außen¬
stehenden glauben zu machen, als wäre erst mit dem Jahre 1810 oder 1812
das Licht in die Welt gekommen. Der Hellenismus in der Malerei fand in
dem erweiterten Gedankenkreise eine nothwendige Schranke, er besitzt nur sür
eine abgeschlossene Ideenwelt die entsprechenden Formen, über jene hinaus
sinkt er zur leidigen Manier herab. Man sehe nur in dem Bilde des jungem
Tischbein: Conradin von Schwaben wird das Todesurtheil verkündigt, welche
Caricaturen mißverstandene Klassicität schasst. Auch das geben wir zu, daß der
Hellenismus namentlich durch die Wahl fernliegender Motive die Kunst vom
Leben trennte nöt ausschließlich an einen Kreis der Eingeweihten sich wen¬
dete. Wer nicht Freimaurerei in künstlerischen Dingen trieb, höhere Grade
in der Kunstkennerschaft erreicht hatte, für den waren die Werke der Hellenisten
nicht vorhanden. Die Neurömer appellirten an die Armen im Geiste, ihre
Formlosigkeit, ihre Derbheiten grade ließen die Kunst wieder in weiteren Krei¬
sen wirken und machten sie volksthümlich. Wenn aber auch Carstens und
Wächters u. a. Nachfolger so weit im Recht waren, daß sie mit dem Helle¬
nismus brachen, so folgt daraus noch keineswegs, daß sie alsdann den rech¬
ten Weg einschlugen. Im Gegentheil scheint seitdem die Unruhe und Unbe-
friedigtheit, das Rathen und ^ Suchen und Uebertreiben die oberste Gewalt
in der deutschen Kunst erlangt zu haben. Wunderbar wäre es keineswegs,
da wir nicht ein starkes und trotziges Geschlecht sind, wenn wir, um der Un¬
ruhe loszuwerden, für einige Augenblicke wieder in den Hafen des Hellenis¬
mus flüchteten. Daß die dramatische Poesie der jüngsten Tage'mit Sack und
Pack in das Lager der Antike überging, ist ein Zeichen der Zeit, welches
wahrscheinlich unsere bildenden Künstler zu dem gleichen Vorgang anfeuern wird.
Aehnlich wie mit Schick und Wächter dürfte es vielen Besuchern mit
Koch und Reinhardt ergehen, und sie erst durch die Vermittlung der Aus¬
stellung eine anschauliche Erkenntniß vom Wesen dieser Meister empfangen.
Reinhardt zwar kann aus den drei Oelgemälden und der einen Zeichnung,
die von ihm hier vorhanden sind, nicht füglich beurtheilt werden, dagegen ist
Koch durch 23 Werke verhältnißmüßig glänzend vertreten. Koch war eine
klobige Natur und konnte bei Gelegenheit den Namen eines groben Gesellen
sich erwerben, er besaß aber nicht nur eine respectable Bildung, sondern auch
eine tüchtige Natur, eine felsenfeste Ueberzeugung von der geistigen Mission
des Künstlers-, über deren geringe Beachtung seitens der jüngern Künstler-
welt er recht herbe Klage führen konnte. Von dieser selbstständigen Kraft,
diesem Künstlertrotze legen seine Werke in ihren Mängeln und Vorzügen ein
deutliches Zeugniß ab. Koch lehnte sich bereits an jenen Künstlerkreis an,-
den man früher mit dem Namen der Nazarener zu bezeichnen pflegte. Wir
wollen, um Mißdeutungen zu begegnen, die Männer, die theilweise auf' der
Flucht aus deutschen Akademien, von enthusiastischen Ideen über das Mittel¬
alter erfüllt, in Rom zusammentrafen, lieber als Ncurömer bezeichnen. Mit
ihnen theilt er die Liebe für Dante Und die romantischen Dichter, die Ge¬
ringschätzung des rein Formellen in der Malerei, die bis zu Einseitigkeit aus¬
geprägte Abneigung gegen alles, was nicht mit dem Gedanken und der Em¬
pfindung in unmittelbarer Beziehung steht. Augenfreude war das letzte Ziel,
welches er der Malerei steckte. Auf der andern Seite steht er aber auch noch
mit den Hellenisten im Zusammenhange und weiß den Wohllaut der
Linien, die Schönheit reiner Formen wohl zu schätzen. Für beide Richtungen
weist die Ausstellung charakteristische Beispiele auf. Ein gar seltsames Bild
ist der tiroler Landsturm vom Jahr 1809. In der Mitte einer bewegten
Gruppe sitzt hoch auf hölzernem Rosse der biedere Sandwirth, in die comple-
mentaren Farben, Noth und Grün, gekleidet, in heftiger Action be¬
griffen, hinter ihm gleichfalls in pathetischer Stellung Haspinger, in der einen
Hand den häßlichsten Tamboursäbel, der jemals in der östreichischen Armee
existirte, in der andern ein Crucifix schwingend. Von allen Seiten strömen die
Freiwilligen herbei, Weiber laden Waffen, Gatten umarmen sich, Kinder
schreien, Männer fluchen, ein Schneider, nach seinem hungrigen Ansehen zu
schließen, mnssacrirt einen Franzosen, kurz gar lebendig geht es im Norder¬
grund zu. Nicht minder episodenrcich ist der Hintergrund. Rechts knallen
die Büchsen und sehen wir die Flammen eines angezündeten Dorfes empor¬
lodern, links läßt sich vor dem Wirthshause ein Freiwilliger von der Frau
Wirthin noch einen Schcidetrunk einschenken, nach der Mitte zu öffnen sich die
Thüren eines Kirchleins, um eine Procession mit allem Zubehör herauszu¬
lassen. Ganz hinten endlich, möchten wir beinahe sage», wackeln die Berge
mit ihren Köpfen über ein solches Durcheinanderschüttein von Episoden, über
den gänzlichen Mangel an dramatischer Einheit sowol. wie malerischer Durch¬
führung. Als Kunstwerk steht dieses Bild grade so hoch, wie sein Held als
Feldherr und Staatsmann. Sobald wir aber den Blick zu- den Kochschcn
Landschaften wenden, wird unsere Meinung von der Künstlerkraft des Meisters
gar gewaltig verändert. Ohne Einschränkung können wir das Lob freilich
nicht gelten lassen. Kochs Schweizerlandschaften sind einfach mißlungen zu
nennen, seiner Auffassung nordischer Bergnatur fehlt die Wahrheit, fehlt aller
Charakter. Auch die Landschaften mit Apoll unter den Hirten und mit Ja¬
kobs Heimkehr als Staffage berühren unangenehm durch die-bunte, fast
schreiende Mannigfaltigkeit der Farbentöne. Die zuletzt erwähnte Staffage
hat Cornelius in die Landschaft hineingemalt, keineswegs zum Vortheil für das
Werk, da das von Cornelius angewendete Colorit dem Tone der Landschaft
vollkommen widerspricht. Dagegen sind die Schilderungen der Ruinen des
Kaiserpalastes, des Lago ti Nemi, des Albanersees unendlich seelenvoll in der
Auffassung, harmonisch in der Stimmung und vor allem reich an schönen
Linien. Wir möchten wol zuweilen wünschen, Koch hätte nicht zu viel in die
Natur hineingebaut, die Charakteristik nicht durch Pleonasmen beschwert (in
einer biblischen Landschaft z. B. mit Boas und Ruth wird das Thema jder
Fruchtbarkeit, das schon aus der landschaftlichen Schilderung vollkommen
klar ist, noch durch eine dreifache Staffage überflüssig erläutert), aber ein
tiefer poetischer Schwung der Empfindung, ein seiner und reiner Liniensinn
machen alle diese Mängel vergessen und lassen einen nachhaltigen Eindruck im
Beschauer zurück. Wir haben seit den letzten zwanzig Jahren so viel in Licht-
essccrcn und frappanten Wirkungen der Landschaftsmalerei geschwelgt, das
stofflich Große und Interessante von der Landschaftsmalerei gepflegt gewahrt,
daß wir von dem Dasein einer solchen Richtung, wie sie uns Kochs Werke
zeigen, kaum noch eine Kunde nehmen. . Sie pflanzte sich aber nicht allein
stetig fort (Rhodeus. Helmsdorfs. Steinkopfs. Kobells Bilder in der Aus¬
stellung bürgen dafür), sondern fand auch in den jüngsten Tagen, offenbar als
Reaction gegen die übertriebene Stofflichkeit in den Landschaften zahlreicher
düsseldorfer und Münchner Malereien, eine erhöhte Pflege. Wir lassen uns na¬
türlich die erweiterte Ausdruckskraft der modernen Landschaftsmalerei nicht
rauben, wir freuen uns billig über ihre erhöhte Fähigkeit, die Erscheinungen
der äußern Natur zu verkörpern. Ohne alle Frage sprechen auch die Natur¬
formen für sich, ist das Colorit eine überaus wichtige Hilfe, poetische Empfin¬
dung in uns anklingen zu lassen und charaktervolle Wahrheit am besten ge¬
eignet, die entsprechende Stimmung in uns zu erregen.
Es ist eine Sünde, wenn man der landschaftlichen Natur gewissermaßen
articulirte Laute abpressen will, aus ihren Formen eine conventionelle Buch¬
stabenschrift zusammensetzen, wo sie doch nur klingen und tönen kann. Es
ist ferner eine Sünde, wenn man die wirklichen Naturformen verdreht und
willkürlich ändert, und es rächt sich am Künstler auch unmittelbar, wenn er
das Eingehen in ihre feineren Eigenthümlichkeiten hochmüthig verachtet. Frie¬
drichs in Dresden Versuch. eine religiöse Landschaft zu gründen, seine Schil¬
derung des Eismeers, in welcher die Eisberge die Gestalt, graugrün ange¬
strichener stereometrischer Figuren an sich tragen, sind einfach lächerlich. Sie
sollten aber, ähnlich wie Rungcs symbolische Naturgedichte, nicht vergessen
werden, sobald von dem wohlthätigen Einfluß der Romantiker auf den Auf¬
schwung der Malerei gesprochen wird. Auf der andern Seite lassen sich aber
der landschaftlichen Natur auch symbolische Beziehungen zu menschlichen Ver¬
hältnissen und Leidenschaften abgewinnen. Je nach unserer Stimmung fühlen
wir uns von bestimmten landschaftlichen Formen angezogen oder abgestoßen,
suchen wir sie auf oder fliehen dieselben. Dem Frieden der Seele, der Ruhe
des Genusses, den Stürmen der Leidenschaften, der Klage der Sehnsucht ent¬
sprechen gewisse landschaftliche Situationen und wenn sie nicht das innere Le¬
ben des Geistes mit der dramatischen Schärfe und Bestimmtheit einer äußeren
Handlung wiedergeben können, so lassen sie doch, der musikalischen Begleitung
eines Liedes vergleichbar, eine verwandte Empfindung anklingen. Bei einer
solchen Auffassung der Natur, zu welcher sich südliche Landschaftsformen am
trefflichsten eignen und wo die detaillirende Farbe der allgemein zeichnenden
^nie an Ausdruckskraft zurückstehen muß, ist die Staffage schwer zu entbeh¬
rn. Die Natur spricht zwar für sich selbst, um aber die Aufmerksamkeit gleich
in die rechte Bahn zu lenken, liebt man es, den Grundgedanken der
Landschaft in der Staffage zusammengefaßt und verdeutlicht zu reproduciren.
Neu ist diese Gattung der Landschaftsmalerei keineswegs, sie ist sogar älter
als die entgegengesetzte Richtung, in welcher die Naturstimmungen in selb¬
ständiger Weise, ohne allen symbolischen Anklang wiedergegeben werden. Die
Paradicsbildcr der alten Niederländer, die von der italienischen Nutur begei¬
sterte Gruppe der Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts haben sich in der¬
selben versucht, sie ist auch Rubens nicht fremd geblieben, am Anfange dieses
Jahrhunderts hat sie Koch (Macbcthlandschaft) wieder aufgefrischt, jetzt sehen
wir sie mit verjüngter Kraft, mit weiser Benutzung der bisher erworbenen
technischen Geschicklichkeit in den Werken Schirmers in Karlsruhe und Prellers
in Weimar wieder verkörpert. Die Ausstellung besitzt außer Schirmers vier
Tageszeiten (Staffage: der barmherzige Samariter) 26 Entwürfe und in
Oel gemalte Skizzen desselben Meisters zu.biblischen Landschaften und Prel¬
lers 14 landschaftliche Illustrationen zur Odyssee. Schirmers Entwürfe sind
nicht alle von gleichem Werth. Daß die Schilderung des Paradieses weder
aus dem mit Kohle gezeichneten Entwurf, noch in der iheilweise veränderten
Farbenskizze allen Erwartungen entspricht, die Landschaft nach der Ver¬
treibung aus dem Paradies beinahe noch lachender und wohnlicher erscheint,
als das Paradies selbst, können wir leicht nehmen. Der Unschuldszustcmd
der Natur ist uns eben nicht bekannt, der Rückgang auf paläontologische For¬
men, den Naturforscher vielleicht anrathen möchten, war aus malerischen
Gründen nicht zulässig., Dagegen scheint die Wahl der landschaftlichen For¬
men bei der Flucht Kains, der Berstoßung Hagars und ihrer Wüstennoth nicht
glücklich gegriffen. Kains leidenschaftlicher Grimm ist nach dem Todtschlage
ausgebrannt, eine furchtbare Oede ergreift ihn, er weiß nicht, wohin vor dem
Geiste zu flüchten und fühlt das Endlose seiner Qual. Dieser Gemüthsstim¬
mung entspricht schlecht eine stürmische Landschaft, in welcher alle Elemente
ihre Wuth losgelassen haben, eine öde, leere, todte Natur, die das Ziel¬
lose seiner Flucht andeutet, die Ewigkeit der Schuld versinnlicht, wo die Gra¬
besstille der Umgebung die Stimme des Gewissens nur lauter tönen macht,
hätte nach unserm Bedünken die Situation wahrer charakterisirt. Bei Hagars
Verstoßung ist das Wüstenelement nicht scharf genug ausgedrückt. Dagegen
entwickeln andere Bilder wieder eine Fülle poetischer und geistreicher Züge,
welche die Betrachtung derselben zu einem köstlichen Genuß machen. Der
Baum der Erkenntniß erhebt sich (in der Farbenskizze) auf einem üppig grünen
Hügel, die Sonne hat sich breit aus denselben gelagert, wer könnte der Ver¬
suchung widerstehen und auf diesem köstlichen, wohnlichen Plätzchen nicht ver¬
weilen. Verführerischer konnte die Schlange nicht sprechen, als die landschaft¬
lichen Formen hier schmeicheln und locken. Die Austreibung aus dem Para¬
dies geht am späten Abend vor sich, ein über den Weg gestürzter Baumstamm
zeigt, daß auch die Natur ihre Jungfräulichkeit verloren hat, dem Tode und
dem Verderben ausgesetzt ist. In die dunkle Nacht werden die Sünder ge-
trieben, matt leuchtet der Mond, die Schrecken der Finsternis? stehen ihnen
bevor. Geistreich ist bei der Schilderung der ersten Menschen nach der Ver¬
treibung dem Wasser, dem wahren Elemente der Thätigkeit und des beweg¬
lichen Lebens ein größerer Raum gegönnt, vollendet vor allem Abrahams
Einzug in die lachenden Gefilde des gelobten Landes geschildert. Schirmers
vollständige Gewalt über die landschaftlichen Formen, die Anmuth seiner Li¬
nien, die Schönheit seiner Gruppen sind so bekannte Züge, daß es nicht
nöthig erscheint, darauf noch aufmerksam zu machen. Ohnehin lassen sich
solche Eigenschaften durch Worte nicht verdeutlichen.
Gleich vollendet, vielleicht weniger geistreich, aber durch die einfache
Größe noch ergreifender sind Prellers homerische Landschaften. Gleich den
Helden, deren Leben und Leiden sie schildern, erscheint die Natur noch größer
und mächtiger, als sie seitdem uns gewöhnlichen Menschenkindern entgegen¬
tritt. Die Stürme brausen gewaltiger, die Bäume wölben sich höher, die
Zweige breiten sich reicher und breiter aus. das Meer birgt größere Schrecken
in sich, aber auch der Genuß der Natur lockt süßer. Alle Formen des Auf¬
tretens der landschaftlichen Natur finden sich in Prellers Bildern verkörpert, die
furchtbarste Leidenschaft und die selige Ruhe und die ganze scena von Ein¬
drücken, die dazwischenliegt, wird offenbar, überall aber fühlt man sich vom
Hauche einer classischen Phantasie angeregt und von der edlen Wahrheit der
Schilderung ergriffen. So weit es der Landschaftsmalern möglich ist. einen
epischen Ton anklingen zu lassen, ist es hier geschehen. Wirft man einen
Blick auf die 'in der Nähe' von Prellers Illustrationen aufgestellten Zeichnungen
von Olivier und Föhr, so erkennt man. daß Schirmer und Preller hier eine
Richtung eingeschlagen haben, welche die Landschaftsmalerei schon vom Anfänge
des Jahrhunderts beherrschte; man erkennt aber auch, daß. wenn die Kunst
der jüngsten Tage einen Fortschritt aufweist und Vorzüge über die Werke der
ältern Generation besitzt, sie hier zu suchen und auch zu finden sind. Der
Poetische Geist ist geblieben, die Gewalt über die Formen ist gewachsen.
Frühere Kriegsereignisse hatten allenthalben und namentlich bei den Eng¬
ländern den Glauben verbreitet, daß nur in den seltensten Fällen Festungen
den Angriffen von Flotten mit Erfolg widerstehen könnten, und daß diese, um
es zu tonnen, auf das solideste erbaut sein müßten. Von dieser Idee aus¬
gehend, befestigte England seine -Seehäfen am mittelländischen Meer auf
das stärkste, hielt aber keine Seefestung, welche andern Nationen angehörte,
für fähig, sich auf die Dauer gegen die Angriffe seiner Flotte zu halten —
eine einseitige Ansicht und Überschätzung der eignen Kräfte, welche ihm im
orientalischen Kriege vor Sweaborg, Kronstäbe und Sebastopol bittre Früchte
trug. Nun kam man auf eine andere Idee. Mit tiefgehenden großen Schiffen
ließen sich gut befestigte Häfen, wegen der Schwierigkeit das Fahrwasser zu
finden, wegen der Leichtigkeit, mit der es unfahrbar gemacht werden konnte,
nicht forciren, erbaute man daher eine ganze Flotille von eisernen Kanonen¬
böten, die, mit wenigen schweren Geschützen bewaffnet, nur geringen Tiefgang
hatten und mit Dampfmaschinen versehen wurden. Von diesen erwartete
man bedeutende Erfolge, als unerwartet, und bevor man noch Gelegenheit gehabt
hatte, sie in Masse vor den Feind zu bringen, und so deren praktischen
Nutzen zu erproben, der Friede kam. Nur auf Offensivunternehmcn richteten
die Engländer der Hauptsache nach ihre Aufmerksamkeit und auf den Schutz
der isolirten Seefesten des Mutterlandes, für die Befestigung der eignen Lan-
dcsgrenzcn geschah unendlich wenig, man verließ sich in dieser Beziehung wie
früher auf die Unüberwindlichkeit seiner schwimmenden Festungen. Die ge¬
fährdeten Grenzen Englands sind die< welche dem Festlande am nächsten liegen,
und am leichtesten von diesem aus erreicht werden können, mithin die am
Kanal. Bisher waren die vorherrschenden Winde und Strömungen ein ganz
besonderer Schutz derselben, der durch Anwendung der Dampfkraft bei Schiffen
nur zu viel von seinem Werthe verloren hat. Beide gehen vorherrschend von
Osten nach Westen, folglich mußte England daran denken, im Osten einen
großen Kriegshafen zu haben, um mit Benutzung jener Naturkräfte Meister
des Kanals zu bleiben. Hierzu eignete sich die Mündung der Themse am
besten, und Sheerneß ward zum Depotpiatz erhoben, der vollständig günstig
gelegen war, um den oben angedeuteten Zweck zu erfüllen; nur das Vorland
brauchte umschifft zu werden, um durch die Straße von Calais in den Kanal
selbst zu gelangen. — Der Central- und Haupthafen durfte aber kein andrer als
Portsmouth werden, dessen geschützte Lage hinter der Insel Wight es den An¬
griffen feindlicher Flotten sowol, als dem Andrange von Wind und Wellen
entzog. Dies ward auch der Hauptdepotplatz für die Kanal- und Mittelmcer-
slotten, und von hier segelten die Geschwader aus, welche einst die spanische
Armada, später die Holländer und dann die vereinigten Spanier und Fran¬
zosen schlugen. Die Engländer waren mit diesen Festungen so vollständig
Herren des Kanals, daß die Franzosen es in den letzten Kriegen kaum mehr
wagten, ihre befestigten Hasen zu verlassen. Da drohte 1808 Napoleon mit
einer Landung von Boulogne aus; zwar hatte er nicht über eine große Kriegs¬
flotte zu gebieten, immerhin war aber eine Invasion, wenn Wind und Wetter
den Transport von Truppen auf flachen Schisien erlaubten, denkbar, und ein¬
mal mit einer Armee auf englischem Boden, winde er sich schon zu helfen
gewußt haben. Damals suchten die Engländer ihre Küsten durch Befestigungen
zu schützen, die Zeit drängte, und es entstand rasch jene Uferbefestigung, die
heute noch existirt. —Dover, der erste der sogenannten „fünf Häfen" (OiiMie
Ports), ist der östliche Flügelpunkt derselben. Ein altes, auf einer steilen Höhe
liegendes römisches Castell ward aufs neue befestigt, und aus den jenseitigen
Hohen, getrennt von einer Straße, die durch eine Einsattlung nach der un¬
mittelbar um Ufer liegenden Stadt führt, mehre geschlossene Redouten aufgeführt;
auch legte man einige Batterien am Meeresufer selbst an und errichtete der¬
gleichen auf dem Hange des Berges, auf dem das Castell liegt, nach Osten
zu.. Von der offnen Stadt selbst, die nicht einmal einen einfachen Wall hat.
führt eine kleine in den Felsen gehauene Wendeltreppe nach dein Hasen, deren
Eingang von einem kleinen Werke vertheidigt ist; diese und jener oben be¬
rührte Weg sind die einzigen Communicationen zwischen der Stadt und den
Festungswerken. Um , dem nicht sehr geräumigen Hasen eine größere Aus¬
dehnung zu geben, hat man vom Westen der Stadt aus. wo die Felsen sich
schroff in das Meer herabsenken, einen hohen Molo (w<zakna.ehr) vorgetrieben,
welcher den Fehler hat. daß er das Feuer der im Osten gelegenen Uferbattc-
ncn und die Umsicht aus denselben sehr beschränkt, und der einzige Punkt,
wo eine Batterie mit Vortheil anzulegen wäre, ein kleines Plateau, das gleich
einer Bastion vorspringt, ist nicht zur Anlage einer solchen, sondern zum Bau
des ersten Gasthauses der Stadt, „Lord Wartens Hotel" genannt, benutzt
worden. Infolge dieser Uebelstände hat eine von Westen kommende angrei¬
fende Flotte von den Uferbatterien so lange nichts zu fürchten, als sie hinter
den Molen bleibt, und ist dort nur dem Feuer des Castells und der Redouten
ausgesetzt, da dies aber nicht anders als bohrend sein kann, weil diese hoch
über dem Wasserspiegel liegen, so bringt es eben keine zu große Gefahr.
Der Weg, welcher nach dem Hafen führt, ist fast nirgend bestrichen, und liegt
fast überall im todten Winkel. Die Hauptverbindung, die Eisenbahn, welche
von London kommt, geht von Folkstone aus oft dicht am Ufer hin, und kann
an einzelnen Stellen von Schiffen aus beschossen werden. Dieser Flügelpunkt
ist nach dem, was wir gesehen und hier gesagt haben, zu schwach, um als
Anlehnungspunkt gelten zu können, die Stadt ist ohne Mauer, und würde
sofort durch Landung von Truppen in Böten genommen werden können; diese
würden dann auf dem eben beschriebenen Wege die Häfen hinter den Redouten zu
erreichen suchen, die, trotzdem daß sie letztere im Bereich des Büchsenschusses
dominiren, doch nicht in das Festungsnetz gezogen sind, weil man an einen derar-
eigen Angriff von der Landseite nie gedacht hat. Küstenbefestigungen allein, ohne
derartige Sicherungen sind immer fehlerhaft, namentlich bei irgend wichtigen
Punkten, deren Verlust große Nachtheile bringen könnte. Das Terrain um Dover
ist von der Art, daß man mit Leichtigkeit eine Festung ersten Ranges aus ihm
machen könnte, was auch seine strategische Lage, als der französischen Küste am
nächsten, als Stütz- und Flügelpunkt der ganzen Befestigung der Südküste Eng¬
lands gebieterisch zu fordern scheint. Keine Festung liegt zwischen hier und London,
der Weg dahin ist für eine hier gekantete feindliche Armee vollständig offen.
Dover hat ohne ein befestigtes Lager keinen Werth, denn wie es ist, kann
es mit wenig Truppen beobachtet und unschädlich gemacht werden, sobald
diese westlich gelandet sind und festen Fuß gesaßt haben. Von Dover aus be¬
ginnt die 1808 errichtete Uferbefestigung, bestehend aus einer Reihe kleiner
runder kasemattirter Thürme, die sich längs der ganzen Südküste hinziehen/
Diese Thürme liegen bald unmittelbar, am Strande, bald auf den Höhen oder
den Hängen, welche erstere begrenzen, und sind in beiden letzteren Fällen von
Gräben mit crcvetirten Escarpen und Contrecscarpcn umgeben, über welche
eine Zugbrücke führt. Sie fassen höchstens 60 bis 100 Mann, und können
nur mit wenigen Geschützen armirt werden. In Friedenszeiten sind sie meist
ohne Garnison, und nur von einem Wächter bewohnt. Die Entfernung, in
welcher sie voneinander stehen, ist verschieden, doch jedenfalls zu groß, als
daß sie einer Landung irgend ernsten Widerstand entgegensetzen könnten. Sie
sind rem Verlorne Posten, und würde, im Fall der Feind vordränge, ihre
Garnison allemal kriegsgefcm^en werden. Derartige Werke können für die
Vertheidigung des Landes nur von Vortheil sein, wenn sie an Sperrpunkten
liegen und nicht umgangen werden können, oder wenn hinter ihnen ein.Cen-
tralwcrk liegt, von dem aus sie Unterstützung erhalten können. Ein solches
fehlt aber gänzlich, und überall sind sie sich vollständig selbst überlassen, und
ihr Werth kann infolge dessen nicht höher angeschlagen werden, als der von
Wartthürmen überhaupt. Auf der Distanz zwischen Dover und Hythe, das
als der zweite der LümyuL xviks einige Uferbatterien besitzt, welche jetzt mit
schweren Geschützen bewaffnet werden, liegt der Hafen von Folkstone, der nur
von einigen jener Thürme beschützt wird, während er sich Boulogne gegen¬
über sieht und einen bedeutenden Handel treibt. In Boulogne haben die
Franzosen ein stehendes Lager. Ein gleiches legten die Engländer auf den
rückwärtigen Höhen zwischen hier und Dover an (Shorncliffe) — da es aber
nicht befestigt ist, hat es keinen andern Werth für die Küstenvertheidigung,
als den., daß man von hier aus die vom Feinde zunächst bedrohten Punkte
mit Truppen verstärken kann. Wenn die Engländer meinen, mit diesem Lager
denselben Zweck zu e-rreichen, als die Franzosen im Ernstfalle mit dem von
Boulogne, so irren sie sich vollständig. Zuerst hat Frankreich nie eine Lar-
dung englischer Truppen zu besorgen, bedarf also zum Schutze seiner Küsten
der großen Lager nicht, diese haben hier keinen defensiven, sondern einen offen¬
siven Zweck, wenn sie auch strategisch betrachtet nach Defensivgrundsätzen d. h.
in unmittelbarer Nähe von Festungen angelegt sind. -Betrachten wir die klei-
ne. obenerwähnter gegenüberliegende Strecke von Dünkirchen bis zum Ausfluß
der Somme, also bis zu der an diesem Flusse liegenden Festung Abbeville,
so würde es nur einem sehr zahlreichen Feinde möglich sein, aus dieser
Fortschritte zu machen, wenn er auch glücklich gelandet wäre; denn er würde
bei seinem Vorrücken in ein Netz von Festungen gerathen, die ihn so lange
aufhalten würden, bis bedeutende Verstärkungen aus dem Innern Frankreichs
herangezogen worden wären, die ihn zum Rückzüge zwingen würden. Der
Flügclpunkt dieses Abschnittes ist das stark fortisicirte Dünkirchen mit einem
befestigten Lager. Von Calais aus kann der Feind nicht vorgehen, weil er
sonst von ersterem aus flcmkirt ist und aus die Festungen Se. Omer. Aire,
Douai und Arras treffen würde, die wieder das mächtige Lille in der rechten
und Amiens in der linken Flanke haben. Aus diesem ergibt sich die Unmög¬
lichkeit einer feindlichen Invasion auf dieser Strecke, folglich — da man der
Truppen in d,ein Lager von Boulogne zur Vertheidigung derselben nicht be¬
darf — sein Ofsensivzweck. Betrachten wir nun aus demselben Gesichts¬
punkte die Küsten der Grafschaft Kent von Dover bis Hythe. so ist letzterer
Platz auch nur schwach von Küstenbatterien vertheidigt, und das Lager von
Shorncliffe. das einen reinen Defensivzweck haben muß, ist, wie bemerkt, gar
nicht befestigt, nur in seiner Fronte nach dem Meere zu befinden sich zwei
jener eben geschilderten Thürme, auch in seinem Rücken oder seinen Flanken
hat es keine Festungswerke, mithin hat es gewiß keinen höheren Werth, als
den von uns ihm früher beigelegten. Eine Eisenbahn geht von Brighton.
weiter östlich gelegen, nach London, der Weg. der von hier dorthin führt, ist
der kürzeste und gefahrloseste, um nach der letztern Stadt, dem Centralpunkt des
Reiches zu gelangen und diese nebst der Themse in seine Gewalt zu bekom¬
men. Kein Fluß, kein Gebirge tritt hier den Operationen eines Jnvasions-
heeres nur irgend hemmend entgegen, keine Festung, kein befestigtes Lager
versperrt den Weg. und die Gegend ist so reich, daß eine Armee sich rein von
Requisitionen erhalten kann, ohne wegen ihrer Existenz an die Flotte gebun¬
den zu sein, wie es z. B. die englisch-französische Krimarmee war.
Das Lager von Aldershott. das in der Nähe liegt, ist nicht befestigt und
kann nur als concentrirtes Cantonncment betrachtet werden. das infolge seiner
Bauart unendlich leicht in Brand geschossen werden kann, so daß die Truppen
gezwungen sind, es zu verlassen. Gehen wir nun an der Küste weiter, so
kommen wir auf die Seefestung Portsmouth. Die Entfernung zwischen hier
und Dover betrügt ungefähr 40 Meilen, und diese ganze Strecke läge, da sie
nicht von Festungen geschützt ist, einer feindlichen Invasion ziemlich offen,
wenn man nicht auf andere Weise für Schutz gesorgt hätte. Diesen Schutz
erhalt sie in hohem Grade von zwei Flotten, deren eine in Sheerneß, die
andere in Portsmouth stationirt ist, die ein'feindliches Geschwader flcmkiren,
und jeden feindlichen Persuch hier zu landen durch einen concentrischen An¬
griff von beiden Seiten vereiteln würden. Dagegen trafen die Franzosen
Vorkehrungen, .sie mußten eine Scefestung schassen, deren Hafen geräumig ge¬
nug war, um eine Flotte bergen zu tonnen, die an Schiffszahl den beiden
obigen die Spitze bieten konnte, wo nicht überlegen war, und zu einer solchen
Festung ward Cherbourg ausersehen, das, in dein eingehenden Winkel einer
weit vorspringenden Landspitze der Bretagne gelegen, in der neuesten Zeit eine
Bedeutung erhalten hat, die England nicht verkennen sollte. Denn handelt
es sich vor der Hand auch nicht um eine Invasion seiten Frankreichs, so han¬
delt es sich ganz gewiß darum, im Kanal und den angrenzenden Meeren Mit¬
herrscher zu sein. Wenn die Mitglieder des Unterhauses, die bei Gelegenheit
des Besuches der Konigin Victoria in Cherbourg waren, die Gefahr, welche
diese Festung England bringen kann, die ganze Wichtigkeit des Platzes nicht
erkannt liaber, so ist das eine Blindheit, die man nur beklagen kann. Bei
einem Meeting sagte Lindsay, er habe wol einen bedeutenden Hafen, eine
große Festung, aber keine Schiffe gesehen. Das mag richtig sein, aber mehr
wollte der Kaiser vermuthlich auch den Briten nicht zeigen; sie sollten eben
nur die Festung und ein Prnchtschiff sehen; die Flotten, die wahrlich nicht
unbedeutend sind, liegen in andern Hasen. Sie können jedoch, wenn nöthig,
sehr rasch concentrirt sein, da sie nicht gleich der britischen in allen Meeren
zerstreut sind, und die des mittelländischen Meeres können mit Anwendung der
Dampfkraft, und da sie von Gibraltar nicht abgesperrt werden können,
(dieses ist blos nach dem Hafen, nicht nach der Meerenge zu befestigt) binnen
fünf Ta^en im Kanal erscheinen. Die Erinnerung an die Schlacht von Tra-
falgar wird sie nicht daran hindern, und der Trost, daß die Franzosen keine
so guten Seeleute seien als die Briten, ist ein sehr leidiger. England hat
die Seeleute, welche Nelsons Schlachten schlugen, auch nicht mehr, es wird
ihm ungemein schwer, seine Flotten zu bemannen, weil die Matrosen den Dienst
aus Kauffahrern vorziehen. Man kann das aus den darüber jüngst gepflogenen
Parlamentsverhandlungen ersehen, und die Vorgänge an den Küsten der Krim
sollten der Regierung mindestens Vorsicht lehren. An den Schlangeninseln
waren die Franzosen eher concentrirt als die Engländer, bei Eupatoria rascher
ausgeschifft, bei dem Angriff auf Kinburn kamen die mit ihnen gleichzeitig
abgesegelten englischen Kriegsschiffe grade zwei Stunden nach beendeten Bom¬
bardement an. Sich selbst zu überschätzen, und seinen Gegner zu gering zu
achten, führt immer zu verhängnißv.oller Resultaten. Daß man seiten der
Militärs die Sache etwas anders ansieht, beweist die schleunige Bewaffnung
der oben geschilderten englischen Batterien und Befestigungen mit Geschützen
des schwersten Kalibers, von denen wöchentlich mehre Batterien von Wonl-
wich abgesendet werden. Es ist dem 1'emxü-e e'est 1a xaix einmal nicht voll¬
ständig zutrauen, und dem Kaiser stehen gegen England ganz andere Mittel
zu Gebote, als ehedem seinem Oheim. Die Vervollkommnung im Maschinen¬
wesen muß einen überwiegenden Einfluß auf die Kriegführung überhaupt aus¬
üben, Dampfwagen und Dampfschiffe kürzen alle Entfernungen ab, letztere
überwinden widrige Winde und Strömungen, sie gestatten Seegefechte zu en-
iwgiren und abzubrechen, ohne vom Wetter sehr abhängig zu sein, sie be¬
günstigen ein rasches, selbstständiges Manövriren, und eine Schlacht wie die
K>ar, wo die spanische Armada von den Engländern zerstört wurde, dürfte so
leicht nicht wieder vorkommen.
,
Die Alm hat ihre unvergänglichen Zauber, und wer aus den Thälern
einmal hinauf kann, dem wird die Mühe des Bergsteigens reichlich belohnt.
Es weht doch eine andere Luft da droben, es erweitert doch die Brust, ein¬
mal den Bergriesen Aug in Aug gegenüberzustehen, in reinerer Atmosphäre
all die lieblichen Farbenspiele des kommenden oder scheidenden Gesürns im
weiten Umblick zu überschauen, fern von dem summenden - Geschwirr des
Dorf- oder Feldlebens sich mit dem Gefühl des Allein- und Geborgenseins
zu durchdringen, aufzuathmen. in großartiger Naturumgebung sich selbst zu
vergessen.
Ein Dutzend, oder weniger, Holzhäuschen stehen umher. Sie sind noch
leer, denn die Schneewetter sind noch nicht ganz vorüber. „Mailüftcrl" wehen
W Thal, aber droben gibts, noch alle Morgen glitzernde Silbcrdecten. Vor
Ende Mai kommt kein Leben in die Almhütten und mit dem Anfang oder
Ende September ist das Almleben schon wieder vorüber. Um so einsamer und
feierlicher ists noch hier zwischen den leeren Häuschen. Ein jedes hat seinen
umzäunten Krautgarten, seinen hölzernen Anbau für zehn bis zwölf- Kühe,
für etliche Schweine und Ziegen, auch wol für Hühner. Viereckige, überein-
andergelegte Fichtenbalken, an den Winkeln des Hauses mittelst Ausschnitten
mit der anstoßenden Balkenlage zusammengefügt , bilden die vier Wände.
Das überragende Dach besteht aus Holzschindeln, von Holz ist der Schorn¬
stein, wo ja einer ist, und von Holz sind alle übrigen Theile des Hauses;
kaum daß ein Eisennagel an das Thürschloß verschwendet wird. In nicht
zu großer Ferne gibts eiskaltes Quellwasser. Auch ein paar klare Lachen von
geringer Tiefe spiegeln den blauen Frühlingshimmel ab, willkommene
schwemmen für das Almvieh, wenn erst die Sonne mehr in Scheitelhöhe
steht. Zwischen Eichbäumen, denen eben junge Blätter wachsen, steht eine
Kapelle von Holz. Verdorrte Alpenrosen vom vorigen Jahr, Edelweiß und
gelbe Alpenprimeln trauern in Scherben vor einem verwitterten Marienbilde.
Das welke Einstand tanzt unter dem Gebetbänken umher, und wenn der
Wind zwischen die verblaßten Bänder und unter die von der Wand sich
lösenden Notivbilder fährt, raschelts gar eigen.
Zwei Fichtenstämme, seitwärts von der Kapelle, der weitesten Aussicht
grade gegenüber, hat der Wintersturm vor so manchem Jahre auf den Boden
hingestreckt. So weit die Axt der Schwägerinnen den Aesten und Zweigen
beikommen konnte, haben diese zur Heizung des Milch- und Käsekessels her¬
halten müssen; die Stämme selbst sind in so hoher Region werthlos, genug
gibts immer des leicht erreichbaren dürren Zwergholzes. .Man wird sich
ihrer als willkommner Ruhebänke bedienen und manche Abendstunde darauf
verplaudern, bis das Gewürm die Sitze morsch und morscher macht und
die letzten Trümmer nun doch — aber Jahrzehnte kanns noch dauern — den
Weg alles Holzes gehen werden. Graswuchs bedeckt den ganzen Almboden.
Es ist noch kurz und die recht schmackhaften Futterkräuter, nach denen die
Schwägerinnen mit Sichel und Steigeisen stundenweit umherklettern, beginnen
kaum erst zu sprießen; aber wie alles frischer und aromatischer hier oben ist,
so auch die kurze Grasdecke selbst; der kleinste Halm hat seinen Duft. Das
ist die Alm im'Frühling, wenn sich die Gemse noch zuweilen aus der Höhe
ihrer kahlen Bergheimath bis auf die futterreichen Almhänge hinabgetraut,
wenn sich die summenden Insekten noch im Thal wohler fühlen, und der
kreisende Keier unter der Augenlinie des hinabblickenden Bergsteigers nach
den Krähennestern in den Tannenwipseln des niedrigen Gebirgs späht, kaum
hörbar sein lauter Ruf, kaum erkennbar sein schillerndes graubraunes Ge¬
fieder.
Aber die Tage werden länger. Nun wird unten im Dorf oder Markt¬
flecken zum „Auftrieb" gerüstet. Das milcharme Vieh wird verkauft oder
abgestochen. Die Henne, welche sparsam im Eierlegen ist, kommt in den Koch¬
topf, der alte Hahn erhält einen beschränkteren Wirkungskreis und sein kreide¬
weißer Sohn, dem eben erst die stolzen Schweiffedern und die Sporen gewachsen
sind, wird den Almhennen zugetheilt. Eines Morgens früh gehts mit mächtigem
Geblök aus den dumpfen Ställen hinaus ins Freie, die springenden Kälber vor¬
auf, die brüllenden Kühe hinterdrein. Lang und spitz ausgewachsen sind die
Hufe, der Schweif trägt schwer an den Wintervermächtnissen des langen Stall-
lebens. Alles draußen ist den Thieren fremd, staunenswerth geworden. ^-
sie würden sich kaum auf die Straße wagen, ginge nicht die ihnen wohl-
bekannte Schwägerin mit dem Salzblock unterm Arm und dem Zeugbündei auf
dem Kopfe voran, folgte nicht mit dem groben Stecken der Mähr (der Gro߬
knecht) und an dessen Kette der stolz auftretende Brummochs, dem sie es schon
an der Stimme anmerken, daß die Almreise begonnen hat. Zwer, drei Stun¬
den geht es bergauf. Manche Trifthecke wird passirt und das Tannenthor sorg¬
lich wieder verschlossen. Rehe huschen auf die Seite und gucken aus der Ferne
nach der blökenden Karavane. Wo eine Eiche ihre Früchte umherstrcnte,
möchten die Schweine Rast machen. Die kletternden Ziegen spähen jedes
schmackhafte Kräutlein aus, und der mitgenommene Gaisbube wird nicht fertig
mit Steinwerfen, um die abseits botanisirenden zurückzurufen. Aber Halt
gemacht wird nur. w/die Ruhestellen zum Abladen der Kopfbürden, galgcn-
artige Gerüste in ungefährer Schultcrnhöhe der Tragender, hergerichtet sind.
Wenn der Mähr am Freitag jeder Woche Mehl, Brot und Salz auf die
Aline schafft _ denn die Schwägerin kommt jetzt nicht wieder vor dem Herbst
ins Thal hinab — da setzt er dort von Strecke zu Strecke die'Bürde ab, und
ebenso erleichtert er sich beim Hinabsteigen, so oft ihm die Schmalz- und Käje-
wst zu drückend wird. Nun ist die Alm nahezu erreicht. Dem MetaiMange
der Kuhglocken antworten gleiche Töne aus der Höhe. Aus hellgestimmter
Kehle jodelts herab, und die Schwägerin steht still, um zu probiren. obs noch
so voll aus der Brust zurückklingt wie im vorigen Jahr. Viel Salpetcrluft
gabs den Winter über im dumpfen Stall zu schlucken. In den ersten acht
Tagen wirds noch keinen rechtschaffnen Jodler geben. Aber die Stimme ist
noch da. Sie wird sich schon wieder frei singen. Daß die Alm wol in einer
Woche, aber nicht an demselben Tage von allen Schwägerinnen bezogen wird,
hat seinen Scheingrund in mancherlei kleinen Geschäften, die erst abgethan
sein wollen, ehe der Auftrieb möglich ist. Einen wirklichen Grund mag man
oft im Kalender suchen, der diesen oder jenen Tag als segensreich zu solch
einem Vorhaben empfiehlt, oft auch in der Vorliebe des Bauers oder der
Schwägerin für diese oder jene kirchliche Bedeutung des Wochentags. Der
Montag z. B. ist dem heiligen Geist und den armen Seelen (im Fegfeuer)
geweiht; der Dienstag gehört den heiligen Engeln; am Mittwoch verehrt man
den heiligen Joseph. am Donnerstag das heilige Altarsacrament. Den Lei¬
den Jesu ist der Freitag gewidmet, der Mutter Gottes gedenkt man vorzugs¬
weise (freilich jetzt kaum noch mit dieser Einschränkung auf einen Tag) am
Samstag. Und endlich thront die goldene Dreieinigkeit, wie das Sonnen-
dreicck auf alten Kupferbildcrn, über dem Sonntage. Was Wunder, wenn
da der eine Tag noch verheißungsvoller ist als der andere?
Am Sonntag wird freilich niemand auftreiben, und auch am Samstag
mögen wenige Schwägerinnen hinauf; denn auf der Stelle ist doch nicht alles
sauber und in Ordnung, und der Samstagabend könnte halt Besuch bringen.
So hält man es denn etwa mit den heiligen Engeln und hat nun Zeit, um
sich vorzusehen.
Jetzt ist die Alm vollzählig besetzt. Zehn bis elf Almhütten und ein
paar lose dabei stehende Stadel, in jeder Hütte eine handfeste Schwägerin,
jung oder alt, wie es eben kommt, in einer auch wol noch eine Kälberdirne fürs
Jungvieh; dazu auf jede Hütte 12 bis 20 Vierfüßer, vielleicht noch ein paar
Hennen und ein Hahn — das etwa ist der Durchschnittsbestand einer sibiri¬
schen Almwirthschaft.
Nun die Schlüssel nicht mehr hinterm Ofen beim Bauern hängen, sondern
unter dem Schwcllenbret der Schwaghütte selbst verborgen sind, läßt sich auch
ein Blick ins Innere der Räume thun. Zwei gesonderte Abtheilungen gibts,
an die sich eine dritte anschließt. In dieser wird Milch, Schmalz, Käse, Mehl
und Salz verwahrt; die nächste enthält den breiten Herd, die Kessel und Ge¬
schirre und was sonst beim Schmalz- und Käscmachen gebraucht wird; die
letzte Abtheilung endlich ist der Schwägerin Wohn- und Schlafzimmer. Hier
zeigt sich die größere oder geringere Sauberkeit der Bewohnerin mehr noch
als in der Vorratskammer, in welcher auch die minder ordentliche Schwäge¬
rin selten eine Nachlässigkeit zur Schau treten läßt. Ein solch viereckiges
Schlafgemach hat meist dr>'i kleine, vergitterte Fenster. In demjenigen, das
wir eben betraten, steht das Bett hart neben einem dieser Fenster, so daß
die aufgehende Sonne der Schlafenden unmittelbar in die Augen scheint, wenn
ja das Morgenroth sie nicht schon an ihr Geschäft gerufen haben sollte. Das
Bett selbst ist durch ein Bret noch über seine eigentliche Höhe erhöht. So
hoch das Bret reicht, liegt frisches Stroh. Ein grobes Linnentuch bedeckt das
stachlige Lager; ein Slrohpfühl, eine schwere Fcdcrdecke vollenden die Aus¬
stattung. Es schläft sich nach ermüdender Bergersteigung in solchem Bette
gut genug, zumal wenn man kein Insekten anlockendes Blut in den Adern
hat. Ein Winkel des Schlafzimmers gehört den Heiligenbildern und die
Wand bildet dort eine Art griechischer Jkonostasis. Was sich im Lauf der
Jahre an solchen Reliquien ansammelte, fand dort einen Nagel. Madonnen,
heilige Annen, Theresen, Magdalenen — vor allem die letztern, eine mit der
vieldeutigen Unterschrift: Weil dn viel liebtest, ward dir viel vergeben. Unter
dieser heiligen Ecke, wohin sich auch allerhand Neujahrs- und Geburtstags¬
bilder mit Versen und lustigen Sprüchlein flüchten, steht^der tcmncnhölzerne
Tisch, welcher die Morgen-, Mittags- und Abendlost zu tragen bestimmt ist
und. um der dazu gehörigen' Gebete willen, unter den Bildern und dem Cru¬
cifix seinen Platz hat. Zwei festgenagelte Bänke stehen daneben. Eine buntbe¬
malte Zeugiade an der Wand, unter der am Nagel hängenden silbernen Taschen¬
uhr, enthält den Kleidervorrath der Schwägerin und die Betttücher zum frischen
Ueberziehen von Pfühl und Decke, für den Fall eines Jäger- oder Fremden¬
besuchs, um dessen willen sichs lohnt das Nachtlager zu räumen und zur
Nachbarin zu gehen. Ein Rosenkranz, ein Kamm von hartem Holz, ein
Strang Pferdehaare. um ihn zu reinigen, ein paar Flaschen mit Thierarznei,
auch wol eine halbleere mit süßem Rosoglio — Nachlaß des letzten Jäger¬
besuchs — ein abgegriffenes Gebetbuch vom vorigen Jahrhundert, ein Kalen¬
der voll rother Silengesichtcr und schwarzer Satirprofile als Mondesconterfeie.
ein paar Büschel Stiertraut und Fingerkraut — und das Inventarium der
Schwaghütte ist fertig. Die Nacht über steht das Vieh im anstoßenden Stall.
Nach dem Frühmetten wird es ausgetrieben und sucht sich sein Futter selbst; Abends
ruft die Stimme der Schwägerin es wieder heim. „Gamsl. Hirschl. Schäl'ert"
doues dann in langgezogenen Rufen, und die Gerufenen kennen so wohl die
Stimme ihrer Schwägerin, wenn sie ihre Namen durch die hohle Hand schreit,
wie wenn sie den Unfolgsamen ein „Alle-Galgen-Vieh" oder eme sonstige Ver¬
deutlichung ihres Heimrusens nachwcttert.
Fällt ein Ungewitter ein. da gibts am lichten Tage plötzliches Hallo aus
der Alm. Alle Dirnen sind hinter dem weit umher verstreuten Vieh drein,
jede bemüht, das ihrige mit Schmeicheln, Schelten und Steinwürfen unter
Dach und Fach zu schaffen; denn ein Nebel kann dem Wetter folgen und auf
halbe oder ganze Tage das Eintreiben des Viehs vereiteln.
Oft auch hat sich ein Thier verklcttert oder im Zerbenholz verwickelt, daß
die Hilfe der andern Schwägerinnen aufgeboten werden muß. um es zu be¬
freien. Oft hat sich eins völlig verloren und nach allen Seiten nun schweifen
die Dirnen aus. um es wieder zu schaffen. Gibt es gar jungen Zuwachs
im Stall oder Vieherkranken, so müssen die Erfahrensten mit Rath und Hilfe
herhalten, und allenthalben geschieht es willig, da das Trag und Hilf gar rasch
in der Reihe herumkommt und wer heute Beistand leistet, morgen desselben be-
nöthigt sein kann. Dabei zwingt die stete Möglichkeit schlechter Witterung
die Schwägerin zum Vorrathsammeln von schmackhaftem Futter. Und hier
spornt der Eifer der einen denjenigen der andern. Während des Melkens will das
Vieh die besten Kräuter fressen, sonst hält es nicht still; denn das Almvieh
ist lebhast, unruhig und nahezu der Wildheit zurückgegeben. Während Sturm
und auch wol Schnee es im Stall hält, will es gut genährt sein, oder ein
empfindlicher Ausfall an Milch folgt sofort der Vernachlässigung auf der Ferse.
So benutzen die Schwägerinnen denn freie Stunden unermüdlich, um
große Futterbündel von allen Seiten zusammenzuschleppen. Die sich der Mühe
verdrießen ließe, unwegsame Stellen zu diesem Zwecke zu erklimmen, käme
bald als schlechte Futtergeberin in Verruf, und da es der Mähr erführe und
durch ihn der Bauer selbst, so hätte sie ihr Amt in kurzem verscherzt. Man
sieht die Schwägerinnen daher, ob sie auch weit aus dem Gesichtskreise ihres
Brodherrn sind, immer vollauf beschäftigt. Sie haben einen schweren Dienst
und die zwei bis drei Gulden Monatslohn, das grobe Paar Schuhe, das
noch gröbere Hemd und das knallrothe Tüchle, worauf sie etwa Anspruch
haben, werden sauer genug verdient.
Dennoch geht die steirische Dirne gern auf die Alm. Sie hat dort eine
Art Selbständigkeit, welche im engen Bauerhof ihr fehlt, und die jeder Die¬
nende als eine große Erleichterung seiner Aufgabe ansieht und anstrebt. Im
Hofe ist sie Kühmensch, Saumensch, wie die derbe Sprache des bäurischen
„Hoflebens" sie ohne Arg, aber auch ohne alle beschönigende Wendung, ge¬
tauft hat. Auf der Alm ist sie Schwägerin, gleichberechtigt in einer Taschcn-
republik von Leidens- und Freudensgefährtinnen. Der bergsteigende Natur¬
forscher, der Tourist, der Maler, der Sittenschilderer ihres lustigen Daseins,
— sie alle klopfen um Obdach bei ihr an, behandeln sie gut, verrathen ihrem
langsamen Verstand, was sie selbst nur dunkel faßte: daß es ein eignes, zau¬
berisches, poetisches Leben hier hoch oben auf der Alm gibt, wohl werth, daß
man Mühe und Anstrengung nicht scheue, um ihm auf flüchtige Stunden
nahe zu kommen. Am meisten spricht der Jäger ein, und man weiß bis zu
welcher gefürchteten Höhe eben in den steirischen Gemsbergen der Name Jä¬
ger hinaufreicht. Wo anders alA in den Hütten der Schwägerinnen läßt sich
Nachtlager finden, wenn der Förster mittelst Staffette die Nachricht entsandte^
ein SchUdhcchn balze hoch oben im Gebirg, ein Zwanzigender habe gewech¬
selt, ein Gemsbock sei schon zum zweiten Mal gesehen worden. Vier- bis!
fünftausend Faß Berghöhe beseitigen alle Etikette, machen die'Ständeunter¬
schiede zu Nichte wie die Größenunterschiede der Schober und Stadeln da
unten tief im Thale, und lassen jeden plumpen Bescheid jenen Reiz der Ori¬
ginalität behalten, der in gewissen Kreisen so'schwer aufzutreiben ist. Wie
gern wiederholt man noch das naive Wort des Köhlers, der einer hohen
Person beim Forellensang behilflich sein wollte, dem aber der wegen eines'
vielbesprochenen Attentats dieser hohen Person beigesellte und immer in der
Ferne folgende Gensdarme ein Dorn im Auge: „Wir werden heut nix fangen,,
wenn Ihna der Herr Hofmeister da nit Ruh gibt."
Aber eine andere Art Aufsicht, als die schon dem Köhler „zuwidre", fällt
im hohen Gebirg weg. Kein Beichtvater steigt auf die Alm. Die Sommer¬
zeit gibt den Schwägerinnen Beichtferien, und das Lied „Auf der Alm ist ka
Sund" spricht vollkommen aus, wie hier, hoch über den Kirchthurmspitzen der
Flecken und Dörfer, das Maß von Schuld und —Unschuld eine weitere Fassung
hat. als die dort unten gebräuchliche. Und das ist in einem Lande, wo das
eheliche Band nur für begüterte Personen erreichbar ist, begreiflich genug.
In der That hat die Armuth hier fast niemals Aussicht bei jungen Jah¬
ren heirathen zu tonnen. Der Lohn eines Holzknechts reicht eben hin. ihn in
heilen Kleidern zu halten und für die immer durstige Kehle noch ein paar
Sonntagsrausche übrigzulassen. Nicht besser steht sich der Forstknecht oder
Jäger. Kaum daß die Arbeiter in den Eisenschmelzen sich zu einer Art Selbst-^
Ständigkeit durchhelfen. Selbst der „Mähr" eines Baucrhofs kann mit seinen
fünf Gulden Monatslohn, dem üblichen Hemd und dem schweren Paar Bund¬
schuhe uicht eben große Sprünge machen. Sie alle, mit wenigen Ausnahmen,
werden deshalb in wechselnden Verhältnissen, denen die Weihe der Kirche und
die Heiligung der gesetzlichen Anerkennung vorenthalten wurde, alt und grau.
Wo aber eine Sitte, und sei es selbst eine unbezweif/lbare Unsitte, diese Wur¬
zln schlägt, da hat sie durch ihre Allgemeinheit schon eine Scheinberechtigung
gewonnen, und eine laxe Auffassung des einmal Unvermeidlichen tritt bald
genug um die Stelle des richtigen Empfindens. Fast jede Hausfrau fügt sich
in die Nothwendigkeit, ihren Dienstleuten zu gewissen Stunden nicht strenge
nachzuschauen. Sie konnte sich künftig selbst bedienen, wollte sie nicht fünfe
gerade sein lassen. Eine Menge Ziehkinder, welche aller Orten untergebracht
sind, die Folge dieser verschrobenen Zustände, wachsen ohne Vater und Mutter
auf und bilden die natürliche Pflanzschule für die immer weitere Ausbreitung
solcher launenhaften Bruchtheile des Familienlebens. Uebereinstimmend mit
der milden Beurtheilung dieser Verhältnisse, findet man den freundlichen Ge¬
brauch, sich solcher armen Kinder anzunehmen, wenn sie jemandem heimlich
zugetragen werden, und sie nicht aus Findelhaus abzuliefern. Dre zahlreichen
Fehlgeburten aber und die große Menge der Todesfälle eben unter den Kin¬
dern der dienenden Classe beweisen zur Genüge, wie wenig selbst der gute
Wille der Begüterten Mißstände so folgenschwerer Art unschädlich zu machen
un Stande ist, und auf welche Abwege zu Zeiten die Scheu vor den Kosten
und Opfern, mehr sast noch als vor dem Bekanntwerden, führen mag.
Es wird hier nicht ohne Interesse sein, die statistischen Quellen reden zu
lassen, so weit sie uns eben zur Hand sind, und wie,sich nach ihnen die ein¬
schlagenden Verhältnisse in sämmtlichen Provinzen des östreichischen Kaiser-
staats") einer Vergleichung darbieten. Eine eingehendere Zusammenstellung
aller, bis jetzt uns nur in unvollkommenen Rubriken vorliegenden Merkmale
der Sittlichkeits- und Erwerbsvcrhältnisse wäre eine Arbeit, welche von gro¬
bem Nutzen sein könnte. Alles Predigen von den Kanzeln, alles Ausfragen
und Schelten in den Beichtstühlen, alles Missionsausschreibcn und Processions-
anordnen, so lobenswerther Eifer sich darin bethätigen mag, sie alle rühren
nur an die Oberfläche der Erscheinung und ihre Ergebnisse sind daher auch
nichts in die Tiefe Reichendes." Eine.wissenschaftliche Verarbeitung des stati¬
stischen Materials würde die geheimen Ursachen der offenen Schäden ganz
anders an der Wurzel packen, und wäre zu wünschen, daß eben jener lobens-
werthe Eifer sich diesem fruchtbaren Felde vorzugsweise zuwendete.
Wir haben in folgender Uebersicht die Zahlen auf Promilledurchschnitte
zurückgeführt. Das Jahr 1851, als das in dem erwähnten Werke am voll¬
ständigsten statistisch festgestellte, treue den Ermittlungen als Grundlage.
Die beiden letzten Rubriken führen vor allem zu den auffallendsten Ein¬
blicken in die Geheimfächer der untereinander so abweichenden Sitten. Es
liegen aber die Schlüssel für die eigentlichen Ursachen so großer Abweichungen
nur in Vermuthungen zur Hand. Die ärztlichen Behörden wären vorzugs¬
weise berufen, ihre Untersuchungen diesem Felde zuzuwenden und durch klares
Aufdecken der gewonnenen Resultate Abhilfe anzubahnen. Es scheint in dieser
Richtung noch kaum der Anfang gemacht worden zu sein. Zum Glück rei¬
chen diese Sittlichkeitsbilanzen nicht bis auf die Alm hinauf. Sie würden
hier nichts bessern; denn Klostersitten bedurften noch immer des Zwanges und
der bannender Mauern, und die Natur müßte ihre Gesetze revidiren, sollte
eine Schwägerin zum freiwilligen Nonncnthum- hinneigen. Da aber die Vor¬
bedingungen einmal nicht anders sind, so mag ihren Folgen wenigstens der
schwache Rest von Einfalt und Naturwüchsigkeit nicht verkümmert werden, der
doch noch einen Hauch von poetischer Jugendfröhlichkeit über das harte Ar¬
beitsdasein dieser Gebirgsproletarier verbreitet. Und das thut der Samstag¬
abend, dieser schlimme Kiltgangsabend, gegen dessen Ausartungen der Volks¬
freund von Lützenflue mit so vielem Rechte in einem Lande, wo die Ehen
weniger erschwert sind, den Eifer feiner Beredtsnmkeit entbrennen ließ. Am
Samstagnachmittage ruht die Axt des Kohlerbuben, die Säge des Holzknechts.
In den Schmelzwerken werden die Kohlen der mächtigen Essen mit Wasser
ausgegossen, der schwere Hammer im Hammerwerk wird an die Kette gelegt,
der Mahlgang zum Gebläse trocknet aus und der immer reichliche Gebirgs-
strom braust durch die aufgezogenen Schleußen ungenützt dahin. Erst in der
ersten Stunde der Montngsuacht beginnt des. Heizers Geschäft von neuem.
Es ist dem Arbeiter einmal Zeit gegönnt, den Ruß der Essen und den Koh¬
lenstaub abzuwaschen und sich seiner kaukasischen Abkunft im Wiedergewinnen
der hellen Hautfarbe zu erfreuen. Nun gehts im besten Staat bergauf, eine
Blume hinterm Ohr, Gamsbart oder Schildhahnsfeder auf dem grünen Hut.
Die Beine stecken in kurzen, schwarzen Gans- oder Vocksiederhosen; wo der
blaue oder grüne Strumpf der strammen Wade aufhört, beginnt das hohe
Oberleder des schwerbenngeltcn Bundschuhs. Die Brust bedeckt der rothe, hin¬
ten offene Brustfleck von Kattun, darüber das grüne Tragband mit breitem
Berbindungöband quer über der Brust, Die graue Jacke mit kurzen, grün-
belitzten Schößen hängt über die Schulter, damit das frische weiße Hemd
nicht versteckt werde. Aus der Hosentasche guckt das Besteck in blanker, viei-
verzierter Stahlscheidc. So gehts bergauf und zur Schwägerin. Die hat
sthon früher als gewöhnlich eingetrieben, abgemolken und ihr bestes Zeug au¬
gelegt.. Auf dem Herde brodelt ein gewaltiger Kessel mit Schmalz d. h. mit
cingesottner Butter. Weißes Mehl wird hineingerührt, bis die fette Masse
einigen Halt gewinnt. Dann kommt noch ein Löffel voll Schmalz hinzu und
nun ist. das Leibgericht der Sterrer. .der glänzend fette Sterz, fertig. Milch
ist in Fülle zur Hand. Wein oder Nosoglio bringt der Bursche mit. wenn
anders er seinen Vortheil versteht. Jetzt macht sie sich, so lange der „Bua"
noch im Aufsteigen begriffen ist. ans Jodeln. Weit hinab hört ers und ihm
müßt es gar schwach in den Lungen sein , wenn er nicht zurückjvdclte, daß die
"neu „G'mäuer", wie der Steirer das Gebirg nennt, vor Einsamkeit und
Langerweile Echorus zurückstöhnen. Kienfackeln werden angezündet, so oft be¬
wölkter Himmel die Wege verdunkelt. Da zieht sichs leuchtend und jodelnd
bergauf, daß die Dirnen im Thal nicht wissen, wohin mit den Augen und
Ohren. Denn gar viele Singweiscn sind weit und breit bekannt genug, um
daß bei der Melodie auch der'fernen Lauscherin gleich die Worte mit ins Ohr
klingen, und die eine Weise, die mit dem schönsten Jodler schließt, mag hier,
wie wir sie an Ort und Stelle ausschrieben, unsere Schilderung schließen.
Ich freu mi auf die Samstagnacht,
Do geh i zu mei Mad'l,
Ich tanz mit ihr er Steirischen,
Sie dreht sich wie er Rad'l.
Hull auf der hohen Alm :c.Und wie ich auf die Alma kinn,
So brommclt schon der Stier,
Und wenn ich bei der Schwagrin schlaf,
So brummt er nah bei mir.
Hull auf der hohen Alm :c." Die Schwägerin heißt Klarcli,
Ist gar e saubres Mad'l,
Sie hat schwarzbraune Acugclein
Und schlatterische Wad'l.
Hull auf der hohen Alm,ze.Der Kuabuab ans Trüibel
Ist gar e seiner Dua,
Er trinket gern, er zahlet gern,
Er geht der Schwagrin ma
Hull auf der hohen Alm :c.Im tirolcrischcn Pinschkerland
Da machen's größere Käs,
Sie sehn's als wie die Schliefstein aus
E Theil noch größer es.
Hull auf der hohen Alm :c.Und dreimal um den Kaf herum
Und dreimal um den, Herd,
Und wann die Mad'l nit sauber sein,
So sein's kein' Mann nit werth.
Hull auf der hohen Alm!
Alle Einrichtungen der Römer gewähren, schon mit der ersten Entstehung
ihres Gemeinwesens, eine überraschende Wahrnehmung.*) Sorgfältig sind sie
in denselben bemüht, alle Bestandtheile des kleinen. Staates in einheitliche
Uebereinstimmung zu bringen, nach allgemeingiltigen Formen zu streben,
welche das Verschiedenartigste zusammenzuhalten im Stande wären, jede ent¬
stehende Gliederung in den Nahmen der öffentlichen Zwecke einzufügen, aus
diese Weise die heimischen Zustände festzustellen, und zugleich neue Erwer¬
bungen anzubahnen, und ihre Verschmelzung mit dem schon Bestehenden mög¬
lich zu macheu. Ihr klarer Verstand sagte ihnen indessen sehr bald, daß für
die Erreichung dieses staatlichen Zieles unerläßlich sei, auch die Mittel der
äußern Verbindung zu schassen. Sehr frühe wurden zunächst alle eroberte
Punkte in Latium, dann die Landschaften Campaniens, zuletzt die Gebiete
der niedergeworfenen Sa-mulden durch vortreffliche und dauerhafte Kuusistraßen
"ut Rom verbunden. Diese Heerwege hatten allerdings zunächst nur eine
kriegerische Bedeutung; aber andere Einrichtungen zeigen deutlich, daß man
dabei auch auf die Förderung des allgemeinen Erwerbes überhaupt bedacht war.
Den höheren Beamten waren für ihren Geschäftskreis eine Reihe von Per¬
sonen, Hilfsmitteln und Geräthschaften zur Verfügung gestellt, we.lebe vor
allem andern darauf hinzielten, ihre Verbindung nach außen wie nach innen
in umfcisftudcr und zugleich möglichst ausdrucksvoller Weise zu unterhalten.
Das ausgedehnteste Triebwerk dieser Art vereinigte sich in dem gewichtigen
Amte der Censoren. Die ihnen zukommende Aufsicht über die Landstraßen
und öffentlichen Gebäude, die Verwaltung der Staatsgüter, die Verpachtung
der liegenden Gründe, welche sie zu leiten hatten, machten zahlreiche persön¬
liche Mittheilungen, häufige Frachten und Versendungen zur unumgänglichen
Nothwendigkeit, und dieser Verkehr wuchs in eben dem Maße, als das römische
Gebiet an Ausdehnung gewann. In allen diesen scharf ineinandergreifenden
Einrichtungen lagen bereits die Keime, nicht blos der politischen Macht des
Volkes, sondern noch weit mehr einer großartigen Weltvcrbindung und aller
der äußeren Anstalten, durch welche dieselbe begründet und aufrecht erhalten
wurde.
Die kleinen Anfänge dieses öffentlichen Verkehres, welcher die gegen¬
seitige Verbindung aufrecht zu erhalten berufen war, gewannen einen be-
deutenden Umfang erst dann, als die Römer mit ihren Eroberungen über die
Grenzen Italiens hinausgingen. Die Nachrichten aus dieser Zeit sind es
auch, welche uns einen ersten richtigen Blick in die ursprünglichen Einrichtungen
gestatten. Da die Statthalter der römischen Provinzen in größerem oder ge¬
ringerem Umfange die Macht und das Ansehen der römischen Behörden da¬
selbst zu vertreten hatten und demnach 'mit den Vollmachten dieser letzteren
ausgerüstet waren, so wurde auch der öffentliche Verkehr nach demselben
Maßstabe hier wie dort behandelt. Insbesondere unterhielten die Obrigkeiten
ti;r Provinzen durch ihre Bediensteten, durch ihre Statoren, Cursoren, oder
^welchen Namen sie immer tragen mochten, eine äußerst lebhafte Verbindung.
Neben den amtlichen Berichten und Depeschen übernahmen diese öffentlichen
Diener auch die Beförderung von Gegenständen und Briefen zu Gunsten aller"
Personen, welche zu den obrigkeitlichen Kreisen in näheren Beziehungen
standen.
Weit ausgedehnter als die Beförderung von Briefen und Gepäck, welche
die Weibel und Boten der römischen Statthalter übernehmen konnten, war
die weitverzweigte Fergung, welche durch die Körperschaft der Pächter in das
Werk gesetzt wurde. Es ist bekannt, daß sich mit der wachsenden Zunahme
des Reiches allmälig eine meist aus den Gliedern des ehemaligen Ritter-
standes bestehende Genossenschaft gebildet hatte, welche die öffentlichen Lände-
reien so ore die auf den Grundstücken lastenden Zehnten. Gefällt und Steuern
in Pacht nahm. Die Gesellschaft hatte in allen bedeutenden Städten der
Provinzen große Niederlagen von Getreide und Landcscrzeugnisscn. die von
diesen Punkten aus in den Handel gebracht wurden. Schon die Bestreitung
der Borschüsse an den Staat erheischte fortwährend große Baarschaften; diese
wurden noch durch die Ergiebigkeit des Unternehmens fortwährend vermehrt.
Die Gelder der Gesellschaft waren bis in die entferntesten Gegenden in zahlreichen
Kassen niedergelegt, woselbst sie durch Zinsgeschäfte. Darlehen. UmWechsel und
anderweitige Unternehmungen der mannigfaltigsten Art fortwährend umgesetzt
wurden. Ein so weitverzweigtes Unternehnren machte die schnellste gegenseitige
Mittheilung zur Nothwendigkeit. Die Gesellschaft hatte daher bis in die kleinsten
Städte hinein Briefträger (wbellarii) bestellt, welche die ihnen übergebenen Brich
schaften, Befehle und Weisungen regelmäßig nach allen Seiten hin beförderten.
Dieselben übernahmen aber auch die Besorgung aller Briefschaften von Pri¬
vaten, und -die letzteren machten von dieser Bereitwilligkeit einen sehr aus¬
gedehnten Gebrauch, da einestheils die Verbindungen der Pächter bis in die
kleinsten Orte reichten, anderntheils die Briefe selbst, 'bei der Heftigkeit der
bürgerlichen Unruhen, den> Nachspürereien der Parteien wenigstens nicht un¬
mittelbar ausgesetzt waren.
Zu den genannten Arten der Beförderung kamen aber noch die beson-
deren Anstalten dos römischen Adels. Alle vornehmen und angesehenen Familien.,
der Römer waren damals zu großen Besitzungen in den Provinzen gelangt,
oder betheiligten sich an Bauten und Unternehmungen jeder Art. Sie hatten
daselbst ferner einen großen Anhang von Gastfreunden und Clienten, deren
Interessen sie als Schutzherren vor den römischen Behörden verirren. Man
war genöthigt, bis nach den entferntesten Orten hin sorgfältige Verbindungen
zu unterhalten. Daher besaßen denn auch die großen Familien ihre beson¬
deren Briefträger, und auch diese wurden von dem größeren Publicum. wenn
.schon im beschränkteren Maße, für die eigenen Bedürfnisse benutzt.
Außer diesem bestanden endlich die zahlreichen Gelegenheiten, welche die
Reisenden überhaupt, und insbesondere die kleineren Körperschaften des ge¬
werblichen Lebens, die Schiffer, die Kaufleute, die Hirten, die Fuhrleute, selbst
die sehr gchäbigen Schwemehändler und andere in reichlichem Maße dar¬
boten. Alle dich beförderten Briefe und Gepäck, und obschon ihre Wande¬
rungen nach genau festgestellten Zielen gerichtet waren, oder nur geringe
Gebiete umfaßten, so wurden sie grade deswegen in oft sehr entlegene und
wenig besuchte Gegenden geführt, und füllten damit die Lücken aus. welche
die größeren Anstalten übrigließen. Auf diese Weise gelangten damals
Brese und Gepäck von den Ufern des Euphrat bis zu dem gallischen See¬
hafen Bononia. von dem Fuße des Atlas bis zu den Ufern der Donau. Die
Weltverbindung jener Zeit steht einzig in ihrer Art da. und wird immerhin für alle
Zeiten staunenswürdig bleiben, wenn man erwägt, daß die Schwierigkeiten, welche
die Natur entgegenstellte, nicht durch die zahlreichen technischen Erfindungen der
Jetztzeit, sondern nur durch ungeheure Anstrengung, namentlich durch einen über¬
mäßigen Verbrauch der körperlichen Kräfte von Menschen und Thieren überwun¬
den werden sonnten. Indessen war von allen diesen Anstalten des öffentlichen
Verkehrs keine einzige zu einer'Anstalt der gesammten Gesellschaft erhoben;
Behörden. Körperschaften und Privatpersonen, schufen neue Mittel, und be-
. nutzten nach Möglichkeit und Willkür die ihnen dargebotenen. In dieses
bunte Gewirr von Verkehrsmitteln brachte die kaiserliche Zeit eine einseitige
und gewaltsame Abänderung.
Um nämlich von allen Vorgängen in den Provinzen möglichst schnelle
und genaue Nachrichten zu erhalten, bestellte Augustus junge, rüstige Leute
als öffentliche Läufer, welche die ihnen übergebenen Briefschaften schnell von
einem'Orte zum andern beförderten, bis sie in die kaiserlichen Hände gelangt
waren. Diese Einrichtung erhielt bald eine Abänderung. Es scheint, daß
die brieflichen Mittheilungen dem sorglichen Sinne des Augustus nicht immer
genügten; er wünschte auch mündliche Erkundigungen einziehen zu können.
Deshalb wurde verordnet, daß an-allen Rasten auf Kosten des Staates
Wagen in Bereitschaft gehalten werden sollten, aus welchen die gleichen
Couriere, welche sich von irgend einem Punkte zuerst in Bewegung fehlen, ihre
Reise ohne Unterbrechung fortsetzen und so nach Rom gelangen konnten.
Statt des früheren Wechsels der Personen fand also jetzt nur ein Wechsel der
Reisewagen und Gespanne statt. Man sah nun persönliche Augenzeugen vor
sich, welch« nach Belieben über alle Dinge befragt werden konnten, von denen
in den Briefen selber keine Re5>e war. Die ganze Einrichtung hatte ein
militärisches Gepräge; die Couriere bewegten sich nur auf den Kriegsstraßcn
und ständen unter der Leitung des Obersten der Leibwache , der über die
eingegangenen Depeschen an den Kaiser zu berichten hatte. Im Grunde
der Sache aber, und seinen geheimsten Absichten gemäß, dachte Augustus
zunächst nur an eine Anstalt zur polizeilichen Ueberwachung der Provinzen
und der in denselben aufgestellten Heere.
Leider werden von diesem Zeitpunkte hinweg die Nachrichten äußerst dun¬
kel und spärlich, so daß wir darauf hingewiesen sind, die erhaltenen Bruch¬
stücke durch Rückschlüsse zu einem Ganzen zu vereinigen. Vor allen Dingen
ist einleuchtend, daß die neue Ansialt nach allen Seiten hin zur Benutzung
anlockte, dieweil der Mensch allenthalben geneigt ist, auf Kosten der Ge¬
sammtheit sich eigne Vortheile zu verschaffen. Die Umgebungen des Kaisers,
die Vertrauten und Begünstigten des Obersten der Leibwache, die höheren
Staatsbeamten überhaupt drängten sich hinzu, und erlangten Freibriefe oder
sogenannte Diplome für die Benutzung der öffentlichen Anstalt. Züge und
Reisewagen mehrten sich, und da die von dem Staate für gewöhnlich ange¬
ordneten Pferde und Maulthiere zur Beförderung derselben nicht ausreichten,
so mußten die Kräfte der 'Gemeinden weithin mit Vorspann und Aushilfe in
Anspruch genommen werden. Dies führte zu Klagen und Beschwerden, und
so entstand von selbst die Rechtsfrage, ob die Kosten der Anstalt von dem
kaiserlichen Fiscus zu tragen, oder zu denselben auch Städte und Landschaften
herbeizuziehen seien. Die willkürlichen Kaiser, welche aus Augustus folgten,
deren Kasse bei ihren übrigen Verschwendungen oft geleert war. entschieden
sich leichten .Kaufes für das letztere; für das erstere aber sprachen der gesunde
Sinn und die Beschaffenheit der Sache. Aus dieser Lage der Dinge erklärt
sich eine Verordnung des Kaisers Nerva, welche wenigstens für Italien die
Nöthigung zum Fahrdienste aufhob. Dieselbe wurde von Trajanus'aufrecht
erhalten, und scheint auch zu Gunsten der Provinzen in milderem Sinne aus¬
gelegt worden zu sein. Neben dem allgemeinen Postwesen blieben noch ein¬
zelne Boten, Läufer und außerordentliche Staffelten in fortwährender Uebung.
Auch der. Kaiser Hadrianus erließ ein Gesetz über die Posten. Aber die
Stelle des Aelius Spartianus, welche uns davon Kunde gibt, ist von dunkler
und schwieriger Beschaffenheit und hat zu den abweichendsten Auslegungen
Veranlassung gegeben. Unzweifelhaft ist nur, daß darin von Erleichterung
der Obrigkeiten (irmgistraws) die Rede ist; aber man streitet darüber, ob dar¬
unter kaiserliche Obrigkeiten zu verstehen seien, zu deren Gunsten man einen
neuen Postdienst errichtete, oder die Obrigkeiten der Städte und Bezirke, denen
man damit eine drückende Last abnehmen wollte. Dem sei nun. wie ihm
wolle — Thatsache bleibt, daß die Leistungen der Provinzialen in drückender
Weise fortdauerten, und daß die dortige Sachlage dem milden «inne des
Antoninus Pius wenigstens in diesem Lichte erscheinen mußte, wenn er sich
veranlaßt sah, eine Verordnung zur Erleichterung derselben zu erlassen. Die
Verfügung des Septimius Severus, wodurch die Last des Fuhrdicnstes neuer¬
dings dem Fiscus überwiesen werden sollte, änderte darin nur wenig; denn
sie war in der That nichts weiter, als ein vorübergehendes Zugeständniß an
die Volksgunst, und das Schwergewicht des unförmlichen Räderwerkes drückte
von selbst wieder zur Tiefe nieder. Auch sehen wir die Rechtsgelehrten jener
Zeit fortwährend an Formeln meißeln, um die Verpflichtung der Privaten zu
den Lasten des Postdicnstcs als einen vernunftgemäßen Rechtssatz hinzustellen.
Die meisten der uns übriggebliebenen Gesetze über das Postwesen häufen
sich gegen das Ende des dritten Jahrhunderts, und ziehen sich durch die Re¬
gierung der konstantinischen und theodosischen Kaiser bis in die Mitte des
fünften Jahrhunderts ununterbrochen fort. Es ist dies grade die Zeit, in
welcher das Postwesen des römischen Reiches zu seiner höchsten Ausbildung
gelangte, aber zugleich zu einem krebsartigen Uebel emporwuchs, das, mit
andern Uebeln aus derselben Quelle stammend, zum Untergange des Reiches,
wofern wir darunter seine äußerliche Maschinerie verstehen, wesentlich beige¬
tragen-hat. Von jetzt an gestattet auch die Reichhaltigkeit des Stoffes, die
Einrichtungen in das Einzelne zu verfolgen.
Alle große Heerstraßen waren durch Rasten bezeichnet, welche in den volk¬
reicheren und belebteren Gegenden fünf römische Meilen, in den entfernteren
und menschenleeren auch wol acht bis neun Meilen, in dem ersten Falle also
, Zwei und eine halbe, in dem anderen vier und eine halbe dclttsche Stunde
auseinanderlagen. Die größeren und geräumigeren unter denselben unter¬
schieden sich als sogenannte Mansionen oder kaiserliche Rastorte von den klei¬
neren, den sogenannten Mutationen. d,in anfänglich nur zum Wechsel der Zug¬
thiere dienten, aber nach und nach den Mansionen immer ähnlicher wurden.
Da die letzteren ebenso wol zur Beherbergung der Reisenden, als zum An¬
spannen der Pferde. Maulesel und Ochsen dienten, so waren sie mit Gast¬
zimmern. Stallungen und Schuppen in ausgedehntester Weise versehen. Manche
derselben erhielten grade gegen das Ende des Reiches eine glänzende Aus¬
rüstung und wurden sogar mit Palästen ausgeschmückt. Mansionen und Mu¬
tationen lagen oft in Städten und Dorfschaften. und wenn sie auch vereinzelt
waren, doch möglichst in der Nähe derselben. Zu diesen Rasten mußten aus
den umliegenden Landschaften die nöthigen Vorräthe und Hilfsmittel zusammen¬
gebracht und daselbst in steter Bereitschaft gehalten werden.
Der Dienst der öffentlichen Posten bestand in Beförderung theils von
Personen, theils von Lasten und Gepäck. Die erstere geschah bald zu Pferde,
bald zu Wagen. Von diesen letztern gab es drei Hauptarten. Zuerst gehör¬
ten dahin die Rheden, jene Reisewagen alter Form und Gattung (rlreZas),
deren sich noch Cicero zu seinen Fahrten bediente. Sie scheinen etwas schwer¬
fällig gewesen, und wenn wir die widersprechenden Berichte vereinigen wollen,
je nach Bedürfniß bald bedeckt, bald unbedeckt geblieben zu sein. Den kaiser¬
lichen Verordnungen gemäß sollten sie im Sommer mit acht, im Winter mit
zehn Pferden bespannt werden. Die zweite Art bildeten die in den späteren
Zeiten oft genannten Carrukeu (cal-rueg-o), Gefährte, welche ohngefähr die
Stelle unserer heutigen Kutschen vertraten., Sie hatten eine in die Höhe stre¬
bende Gestalt, und waren jedenfalls gedeckt, wenn auch manchmal nur zur
Hälfte. Als Fuhrwerke der römischen vornehmen Welt wurden sie oft auf
das herrlichste ausgeschmückt, mit silbernen und goldenen Nägeln beschlagen,
und durch zwei, wol auch durch vier Zugthiere in Bewegung gesetzt. Ihr
Name klingt noch in dem berühmten Carrocium der Mailänder wieder, und
hat sich in dem französischen Carrosse erhalten. Den Schluß machen die
zweirädrigen Fuhrwerke (birotae), wie sie noch heutiges Tages in manchen
italienischen Städten üblich geblieben sind. Sie entsprachen im Uebrigen den
französischen Cabrioleten, und mußten auf den Heerstraßen mit drei Zugthieren
bespannt werden.
Den zweiten Haupttheil des römischen Postwesens bildete die Beförderung
der Lasten und des Gepäckes. Die Römer faßten denselben unter dem Namen des
clavularischen Zuges (cursus clavuliz.ris) zusammen, den wir immerhin, wenn
wir dabei nur stets von einem allgemeinen und freien Verkehr 'der Gesell¬
schaft absehen, unsern sogenannten Güterzügen vergleichen mögen. Die Last¬
wagen (aiiMriac;), welche vorzugsweise dahin gehörten, hatten eine Art höl¬
zerner Stäbe (<^vull, woher der Name! cui'Lus clirvulariK), welche ohne
Zweifel unsern nungen sehr ähnlich waren, und zwischen welche der vermuth¬
lich mit Flechtwerk versehene Wagenkasten (caM-r) eingefügt war. Sie wur¬
den mindestens mit vier, in den meisten Fällen aber wol mit sechs und acht
Stieren bespannt, welche paarweise hintereinander hergingen. Ausnahmsweise
ersetzte man diese auch durch Pferde oder Maulesel. Die Güterzüge beförder¬
ten vorzüglich die Massen der Kriegsvorräthe. wie Linnenzeug, Kleidungsstücke,
Waffen und Schießbedarf, sodann die großen Geldsendungen in Gold und
Silber. Ergänzungsweise fand mit den.Güterzügcn auch die Beförderung
von Personen statt. Dahin gehörten zunächst die Familien der Soldaten,
und ganz besonders die Nachzügler und Kranken des Heeres.
Es bietet sich nunmehr ein entscheidender Punkt in der Frage, bis zu
welchem Gewichte Personen und Gegenstände ans den römischen Postwagen
fortgeschafft werden konnten. Die Angaben müssen demjenigen, der mit der
gewöhnlichen Vorstellung von den sehr vervollkommneten Zuständen der alten
Welt zum Gegenstande kommt, in hohem Grade überraschend und räthselhaft
erscheinen. Durch oft eingeschärfte kaiserliche Gesetze war festgestellt, und zwar
aus Schonung gegen die Thiere, daß die Belastung der Rheden tausend Pfund,
die der zweirüdrigen Cabriolete zweihundert, die der Angaricn bei den Güter-
Zügen fünfzehnhundert, und die der Karren (carri), einer kleineren Art von
Lastwagen, sechshundert Pfund nicht übersteigen sollte, und daß dabei jedem
einzelnen Postpferde nicht mehr als dreißig Pfund aufgebürdet werden dürften.
Dies gibt in der That ein äußerst geringes Maß, wofern wir, auf die Unter¬
suchungen bewährter Sachkenner gestützt, annehmen dürfen, daß die Adra oder
das Porto der Römer ohngefähr das Drittel eines französischen Kilogramms,
oder etwas über die Hälfte eines wiener Pfundes betrug. Sollte sich nun
auch bei näherer Untersuchung herausstellen. daß die Angaben vielleicht nur
aus das Gepäck, nach Abzug der Personen. Bezug haben, oder daß man das
Gewicht ermäßigte, um die Beförderung durch schnelleren Laus der Thiere.zu
beschleunigen, so bliebe das Ergebniß auch so noch unbedeutend genug. Heut¬
zutage haben die Leiterwagen unsrer Landleute schon an sich ein Gewicht von
acht bis zehn Centnern, und zwei tüchtige Pferde können nebst demselben zu-
gleich noch eine Last von zwanzig bis dreißig Centnern ohne erhebliche Schwie¬
rigkeit in Bewegung setzen. Auf ebenem Wege laufen zwei Pferde mit zwanzig
bis fünfundzwanzig Centnern im Trabe.
Was indessen die Posten des römischen Staates von den Postanstalten
unsrer Zeit wesentlich unterschied und sie zu einer wahrhaft drückenden Last
des Volkes machte, das war ihr rein staatlicher, oder vielmehr siscalischer
Zweck. Nur Beamtete und Bedienstete des Staates hatten Zugang zu den¬
selben; nur des letzteren Güter wurden befördert; die außerhalb jener Kreise
liegenden Schichten der Gesellschaft hatten daran keinen Antheil, keine Ver¬
günstigung. Dies mochte immerhin geschehen, wenn dabei die Grenzen der
Schicklichkeit und Billigkeit nur einigermaßen innegehalten worden wären.
Aber man wälzte mit unerhörter Selbstsucht die außerordentlichen Kosten der
Anstalt auf die Schultern derjenigen, die davon gänzlich ausgeschlossen blieben.
Die Freibriefe, sonst um das Vorrecht der Kaiser und einiger höheren Beam¬
te, wurden in das Unermeßliche vermehrt und von solchen ertheilt, die dazu
'"'ehe von fern ermächtigt waren, und von andern benutzt, denen jeder recht¬
liche Anspruch darauf abging. Die zahlreichen Verordnungen, welche diesem
Mißbrauch abhelfen sollten, beweisen nur. daß das Uebel bereits unvertilg-
b ar geworden war. Der Zudrnng zu den öffentlichen Posten steigerte sich fort
und fort. Ganze Scharen von Kriegsleuten benutzten dieselben, den bestehen¬
den Verordnungen entgegen, zur Weiterbeförderung. Die christliche Geistlich¬
keit that das Gleiche und hätte sich ohne dieses Hilfsmittel kaum so oft, als
damals geschah, in Synoden und Concilien vereinigen können. Der kostbare
Unterhalt der kaiserlichen Rasten, der Mutationen wie der Mansionen, sammt
der großen Zahl der daselbst in Bereitschaft gehaltenen Thiere, blieb den Pro¬
vinzen aufgebürdet, und wo diese nicht ausreichten, da hatten Gemeinden und
Grundbesitzer die Verpflichtung zur Vorspann, welche mit den Namen der
Bereden und Paravercden bezeichnet ward. Darunter begriff man die gewalt¬
same Verwendung der vorhandenen Perte für den öffentlichen Dienst, wie
man sie auch in den persischen Ländern vorfand; die Willkürlichkeit des Ver¬
fahrens, die dort aus den Zeiten des Kyros stammte, hatte sich mit den rö¬
mischen Einrichtungen auf das beste verschmolzen und sich zu dem Grundsatze
des fortdauernden Beschlages kunstvoll ausgebildet.
In keinem Zweige der Verwaltung zeigt sich die öde Unfruchtbarkeit des
damaligen Staatswesens mehr, als in der Anwendung der Postanstnlten.
Hier drängte sich der ganze Unsegen des ungefügigen Räderwerks in der ab¬
schreckendsten Weise zusammen. Man verbrauchte "die Kräfte der Städte und
Gemeinden; man zernichtete das Mark des Lebens bis in die entferntesten
Landschaften, und statt dafür eine schaffende Thätigkeit zurückzugeben, ertödtete
man zugleich die Productivität des gesammten Landes.
Die Baumwollenindustrie ist unendlich viel jünger als die des Flachses, der
Wolle, der Seide, und ist doch mächtiger in unserm Jahrhundert geworden als ihre
altern Schwestern, ja sie muß als diejenige bezeichnet werden, welche das Signal
zu dem gewaltigen gewerblichen Aufschwung unsers Jahrhunderts gegeben hat; sie
ist so zu sagen die industriellste der modernen Industrien. Das Bedürfniß einer
größern Masse von Waaren für den offnen Absatz der Kolonien führte zuerst in
England auf Ersetzung der Handarbeit durch Maschinen. Dies eröffnete der Baum¬
wollenfabrikation eine Bahn unerwarteten Fortschritts, in ihr feierte die Mechanik
ihre zahlreichsten und glänzendsten Triumphe. Die meisten der Erfindungen, welche
heute überall in andern Industrien eingeführt sind, haben ihren Ursprung in den
Werkstätten der Banmwollenfabrikation gefunden und dort die Proben ihrer Nutz¬
barkeit abgelegt. Die leichte Flocke der Staude, die noch im Anfang vorigen Jahr¬
hunderts in Amerika nur eine Zierpflanze war. ist der Stoff geworden, der nach
dem Getreide zu dem größten Transport veranlaßt und den Verkehr zwischen den Ver-
einigten Staaten und Europa vor allem nährt, so daß man mit dem trefflichen säch¬
sischen Statistiker or. Engel wol sagen kann : „England und die Vereinigten Staa¬
ten sind durch einen Baumwollfaden miteinander verbunden, der, so schwach und
gebrechlich er scheinen mag. doch stärker ist, als ein eisernes Tau."
Seit den großen Erfindungen von Arkwright. Whale und Whitney ist d.c Ver¬
arbeitung des Rohmaterials immer leichter und wohlfeiler geworden, und doch erhöht
sich der Werth keines Stoffes so sehr durch die Verarbeitung als der der Baumwolle.
Der der Wolle steigt im Verhältniß von 8:13. der der Baumwolle um das vier- ins
siebenfache, sie ist auch mehr als alle andern Materien fähig, die verschiedenste Gestalt
anzunehmen, die wärmsten und dicksten Stoffe werden jetzt daraus in Manchester
und Gladbach gemacht, die luftigsten Ballkleider in Tarare. Erst durch die Baum¬
wollenindustrie ist es möglich geworden, sich, ansprechend, paradcmäßig und doch sehr
billig zu kleiden, sie ist deshalb von größter Wichtigkeit sür die arbeitenden Classen
und die Frage der genügenden Zufuhr für den immer wachsenden Bedarf beschäftigt
mit Recht die besten nationalökonomischen Köpfe, vor allem in den Vereinigten Staa¬
ten als dem Hauptculturland.
Um über den Verbrauch der Baumwolle in Europa zuverlässige Angaben zu
erhalten, hatte deshalb der amerikanische Kongreß im vorigen Jahre Herrn John
Claibvrne beauftragt, sich nach Europa zu begeben und dort durch eigne Anschauung
sich genau über den Stand der Frage zu unterrichten. In seiner Instruction war
er angewiesen, den Ballen Baumwolle, der aus den Händen des Pflanzers kommt,
bis zum Uebergang in den wirklichen Verbrauch zu verfolgen. „Jede Meile." heißt es
hier, „um welche dieser Weg abgekürzt werden kann, jedes Hinderniß, das zu behelligen
oder zu vermeiden ist. jeder Cent, der erspart werden kann, sind Vortheile, welche
den beiden Individuen zu Gute kommen müssen, welche an den Enden dieser Kette
stehn und Angebot wie Verbrauch vermehren werden." Der Kommissar wird daher
angewiesen zu erforschen:
1) Die Masse der in den verschiedenen Ländern Europas verbrauchten Baum¬
wolle, das in den Etablissements angelegte Capital, die Zahl der Spindeln und
Stühle, den Durchschnittspreis'der Löhne.
2) Die Quellen, woher das Rohmaterial bezogen wird und den raschesten
Bczugswcg von den Vereinigten Staaten.
3) Welch« Güter dafür nach der Union zurückgehen oder zurückgehen könnten.
4) In welchem Verhältniß die verschiedenen Fabriken Baumwollcngewcbe oder
blos Garn liefern.
5) Die'Zölle und Unkosten auf das Rohmaterial u. s. w.
Der Bericht des Hrn. Claiborne ist dem Congreß in seiner diesjährigen Sitzung
vorgelegt, es ist zu bedauern, daß die Zeit für seine Nachforschungen viel zu knapp
zugemessen war. und daß er vor allem England, das wichtigste Land für diese In¬
dustrie, nicht näher hat bereisen können. Indeß ist grade über Englands Baum¬
wollenfabrikation vieles geschrieben, und die Mittheilungen, welche uns der Bericht
über den Stand der Industrie auf dem europäischen Festlande gibt, sind so inter¬
essant, daß wir unsern Lesern sür die wichtigsten Länder einige Hauptergebnisse da¬
raus vorlegen möchten. '
Aus einer englischen Tabelle ersehen wir zunächst, daß in der Periode von
1821—55 aus den Vereinigten Staaten 18,475,204,240 Pfd. im Werth von
1,829,939.736 Dollars ausgeführt wurden, wovon Großbritannien allein
12.917.989,369 Pfd., also über -/-. absorbirte. In der Periode von 1821—25
war die Ausfuhr durchschnittlich 762 Mill. Pfd.. während sie 1851—55 aus
5,128 Mill. Pfd. gestiegen war, aber wir sehen auch, daß in der ersten Periode
das Psd. durchschnittlich 16,19 Cents kostete, während es in der letzten auf 9,58
gesunken ist. In jener fünfunddrcißigjährigcn Periode exportirte England an Baum¬
wollengarn für 194.647,478 Pfd. Se., also jährlicher Durchschnitt 5.561.357 Pfd. Se.
und an Geweben für 598,645,443 Pf. Se., jährlicher Durchschnitt 17,104.156 Pf. Se.
Wahrlich gewaltige Ziffern, nirgends sieht man das Gesetz der Massenproduction,
das die moderne Industrie beherrscht, in so großen Zügen geschrieben.
Während England rasch auf dem Wege der mechanischen Baumwvllenindustrie
fortschritt, als es ihn einmal betreten hatte, machte Frankreich im Anfange dieses
Jahrhunderts nur langsame Fortschritte- und blieb bei den gröbern Sorten. Die
erste Spinnerei ward 1803 in Mühlhausen angelegt. 1812 wendete Dollfuß ebenda
zuerst Dampf in seiner Fabrik an. Erst seit 1820 vervollkommneten sich die Fa¬
briken und schieden sich die Bezirke, welche sich den verschiedenen Arten von Gewe¬
ben widmen. Frankreich kann in dieser Beziehung in drei Gruppen getheilt werden:
die Normandie, deren Mittelpunkt Rouen ist für geringere Sorten und Calicos,
Mühlhausen und Nachbarorte im Elsaß, Vogesen und Doubs für schöne Musseline,
und der Norden mit Se. Quentin, Lille, Valenciennes und Calais für Tülle und
Spitzen. Außerdem ist noch Tarare bei Lyon zu erwähnen, das seit einiger Zeit
mit Se. Gallen und Appenzell in seinen Tarlantnnen und Stickereien wetteifert. Die
normannische Gruppe ist die bedeutendste, wenn man die Zahl der Spindeln und die
Masse des verarbeiteten Rohmaterials zum Maßstab nimmt, denn von den 5 Mill.
französischen Spindeln kommen 1^/, auf sie, und von den 140 Mill. Pfd., die in
Frankreich eingeführt werden, werden hier 30 Mill. verbraucht, indeß steht der Werth
ihrer Producte nicht in gleichem Verhältniß. Die östliche Gruppe hat 109 Spin¬
nereien, die 29,996 Arbeiter beschäftigten und 136 Webereien mit 37,897 Arbeitern,
ihre Producte werden auf 41'/- Mill. Dollars geschützt. Für ganz Frankreich
schlägt Moreau de Jonnds den Verbrauch auf 138 Mill. Pfd. an. die verarbeitet
ein Kapital von 334 Mill. Franken reprüsentircn; nur wenig Baumwolle wird von
andern Ländern als den Vereinigten Staaten eingeführt, die Versuche, sie in Al¬
gier zu akklimatisiren. haben bis jetzt wenig Erfolg gehabt.
Die Schweiz hat bei der ungünstigsten Lage sich eine bedeutsamere Stellung in
der"Industrie der Baumwolle wie in andern Zweigen zu erwerben gewußt. Obwol
das Rohmaterial einen größern Weg zu ihr machen muß, als nach irgend einem
andern Lande, haben ihre Fabriken durch Geschick und billige Arbeit erfolgreich mit
England concurrirt und im Jahre 1850 an 27 Mill. Pfd. verarbeitet. Sie hat
132 Spinnereien und 48 Webereien. Die kunstvollen Stickereien der östlichen Can-
tone sind mit Recht berühmt. Leider, hat sich der Baumwollcnimport fast ganz nach
Frankreich gezogen, da der Zollverein noch unverständig genug ist, seine Durchfuhr¬
zölle aufrecht zu erhalten und so den Bezug über die Hansestädte zu erschweren.
Dieselbe falsche.Politik erschwert auch den Bezug der Baumwolle über deutsche
Häfen für den Zollverein selbst. Für den rheinischen Fabrikkreis wären Enden und
Bremen die natürlichen Häfen, aber die Durchfuhrzölle geben Holland und Belgien
einen Vorzug, den die hanseatischen Häfen selbst durch ihre liberalen Zollemrcchtun-
g-n nicht aufwiegen können. Wann werden die deutschen'Regierungen einsehen. daß
die unbedeutenden Zoll-innahmen. welche ihnen diese Durchfuhrabgabe einbringt,
reichlich durch die Mehreinnahme der Eisenbahnen und Bereicherung ihrer Angehö¬
rigen aufgewogen würden? Dennoch haben die Hansestädte sich unablässig bemüht,
die Baumwollcncinfuhr an sich zu ziehen und haben in diesen Bestrebungen erfolg¬
reich gestrebt. Es wurden nach den amerikanischen Schatztammerbcnchtcn aus¬
geführt nach:
Man sieht daraus, daß diese beiden Häfen große Wichtigkeit für den amerikanischen
Markt haben, bei weitem der größte Theil ihrer Einfuhr geht uach dem Zollverein,
in neuerer Zeit fängt Oestreich auch an über die Nordsee zu beziehen. Während
England 21 Mill. Spindeln hat, Frankreich 3'/» Will., besitzt der Zollverein deren
2.018,146, er ist demnach die dritte Macht für den Baumwollenvcrbrauch, und
man darf hoffen, daß er rasch fortschreiten wird, da jetzt erst sein Eisenbahnnetz
vollständig geworden ist, und der größere Betrieb, durch den England so lange das
Uebergewicht hatte, fast überall eingeführt wird. Ein wie bedeutendes Feld die
Industrie hier in Deutschland noch vor sich hat. geht daraus hervor, daß einer-
'seits noch circa 550,000 Eentncr Baumwollengewebe, namentlich sammele, von
England allein eingeführt werden, welche wir nicht durch höhere Zölle, aber wol
durch eigne Tüchtigkeit zu verdrängen haben, und daß andererseits von Gro߬
britannien über Hamburg allein im Jahre 1857 für 13 Mill. Thlr. Baumwollen-,
Mu (Toise) importirt wurde. Indeß haben sich grade in den letzten Jahren die deutschen
Spinnereien sehr vervielfacht und vervollkommnet, man hat nur noch nicht die feineren
Nummern in Angriff genommen-, denn da die Vercinszölle nach dem Gewicht bemessen
sind und nicht nacb dem Werth, so lassen sich jene höhern Nummern, die außerdem
kostbarere Maschinen erfordern, vortheilhafter einführen als man sie in Deutschland
herstellen könnte. In den untern Nummern dagegen haben die deutschen Spinner sich
den einheimischen Markt ziemlich gesichert, nach und nach wird man zu den feineren
Garnen übergehen, und da die jetzt im Zollverein verfertigten Gewebe 236,000 Ballen
roher Baumwolle repräsentiren, wahrend nur 158,650 Ballen eingeführt werden,
und außerdem 550,000 Ctrl Gewebe, die 175.000 Ballen repräsentiren, von England
^in eingehen, so sieht man. daß selbst wenn der Bedarf nicht stiege, den deutsche»
Spinnern und Webern noch ein weites Feld für ihre Thätigkeit geöffnet ist. Unter
den verschiedenen Staaten der Union steht Sachsen obenan. Es hat 135 Spinnereien
""t 600.000 Spindeln, die etwa 30 Mill. Pfd. Baumwolle verarbeiten und 19'/-
M'it. Pfd. fabriciren im Werth von 5V- Mill. Thlr.; fast alles dies Garn wird in
Sachsen selbst verwebt und noch 15 Mill. Pfd. von England bezogen. Das Königreich hat
20,000 Webstuhle für reine Baumwollgewebe, 10,000 für Mischungen von Leinen
und Baumwolle, 25,000 für Mischung der letzteren mit Wolle. Grade diese ge¬
mischten Gewebe sind Sachsens Hauptcrzeugiusse. Preußen hatte 1856: 88 Spinnereien
mit 288,907 Spindeln und 71,500 Webstuhle. Obwol die berliner Fabriken Fort¬
schritte gemacht haben, bleibt die Rheinprovinz der Hauptdistrict für Baumwollen¬
waaren. Einen eigenthümlichen und hervorragenden Platz nimmt hier Gladbach durch
seine dicken Stoffe ein, bei großer Billigkeit eignen sich dieselben namentlich sür die
arbeitenden Classen im Norden. Durch eine von der preußischen Regierung an¬
gelegte Musterappreturanstalt ist diese Industrie sehr gehoben, es sind jetzt über 6000
Webstuhle in diesem Bezirke thätig.
Die östreichische Baumwolleuindustrie hat in der letzten Zeit große Fortschritte
gemacht. 1856 wurden ca. 85 Mill. Pfd. Baumwolle eingeführt, wovon 84 Mill. in
den verschiedenen Provinzen verarbeitet wurden; für die Lombardei und südlichsten
Provinzen sind Triest und Genua die Importpläne; Böhmen, Mähren und Oestreich,
ja auch Tirol und Vorarlberg beziehen ihren Bedarf über Bremen und Hamburg.
Im Ganzen hat der Kaiserstaat 189 Spinnereien mit 1^2 Mill. Spindeln, wovon
140,000 auf die Lombardei und 450,000 auf Böhmen kommen Die Einfuhr von
Toise und fremden Geweben ist durch die Prohibitivzölle so gut wie unmöglich ge¬
macht.
Sardiniens Baumwolleneinfuhr ist beträchtlich, doch ist sie nicht allein sür sei¬
nen eignen Verbrauch bestimmt, da seit der Beendigung der Genua-Novarcr Eisen¬
bahn die Lombardei einen beträchtlichen Theil ihres Bedarfes über Genua bezieht.
Die Fabriken liegen meist am Logo Mnggiore nahe bei Aroma, doch existirten nach
der Angabe von Herrn Claibvrnc keine genaueren statistischen Notizen über ihre Zahl
und ihre weitem Verhältnisse. Die gcscimmtc Baumwollencinfuhr ward 1855 auf 19
Mill. Pfd. geschätzt. In Belgien fehlen diese Angaben gleichfalls, ein Schriftsteller schätzt'
die Zahl der Spindeln auf V2 Mill. und den Verbrauch auf 22 Mill. Pfd. Dank den
zollvereinSlündischcn Durchfuhrabgaben ist die Masse der Baumwolle, welche Belgien
nur passirt, sehr bedeutend, 1852 war sie 14 Mill. Pfd.; 1855 wurde nur der sie-
heute Theil der eingeführten Baumwolle im Lande verbraucht. Gent ist das bel¬
gische Manchester.
In Rußland ward 1823 die erste Spinnerei eröffnet und gleichzeitig die Ein¬
fuhr aller Gewebe verboten. Infolge dieses Monopols wuchs die Industrie rasch auf,
und während die Einfuhr 1330 nur 4 Mill. Pfd. war, betrug sie 1852 63 Mill.
Die Garne und Gewebe, welche Nußland bis vor kurzem ausschließlich zum eignen
Verbrauch fabricirte, gehören den unteren Classen an. In den letzten Jahren hat ein
nicht unbedeutender Export nach Asien, namentlich auch nach China begonnen; der¬
selbe wird auf 2 Mill. Rubel geschützt. Im Ganzen zählt man 55 Spinnereien
mit 1,200,000 Spindeln, die Einfuhr war 1856: 59 Mill. Pfd.
— Die in Ur. 36 d. Bl. enthaltne Nachricht, daß Julius von Rodenberg
nach Amerika auswandern wolle, ist, wie uns ein Freund des Betreffenden meldet,
unbegründet.
Wir dürfen als bekannt voraussetzen, daß das Münzrecht, d. h. das
Recht, aus edlen Metallen diejenige Waare zu verfertigen, welche nur
.Geld" nennen, weil sie überall gilt, dem Aerar der einzelnen Staaten
in der Weise, wie es der Regel nach ausgeübt wird und werden soll,
keinen Gewinn bringt. Das heißt mit andern Worten: der Nominalwerth
der in gesetzlicher '— von den Staaten vertragsmäßig festgestellter —
Weise geprägten Münzen, entspricht beinahe ganz dem Kaufwerth des dazu
verwendeten Metalles in der Art. daß diese Münzen, wenn sie weder beschnit¬
ten, noch durch häufigen Gebrauch abgenutzt, oder in sonstiger Weise an
ihrem Gewichte beeinträchtigt sind, jederzeit mit ganz unbedeutendem Verlust
an dem betreffenden Nennwerth als bloßes Metall verkauft werden können.
Dieser Verlust oder Minderwerth repräsentirt die Prügungskosten, ist aber nie
so bedeutend wie diese, woher es kommt, daß in den verschiedenen Budgets
der Staatshaushaltungen dieses Münzrecht immerdar nur in den Ausgaben
figmirr. und zwar in um so stärkeren Posten, je größer in dem fraglichen
Jahre die Summe des geprägten Geldes erscheint.
Es konnte deshalb nicht fehlen, daß die Volkswirthschafter und Staats¬
männer ein Auskunftsmittel suchten. Geld auf noch andere Weise als durch
die so theuren edlen Metalle herzustellen, und dieses geschah durch Werth-
eichen aus Papier. „Papiergeld", und bald wollten alle Staaten — groß und
klein - an den Vortheilen Participiren, welche die so leichte und verlMmß-
waßig mit so geringen Kosten zu bewerkstelligende Schaffung papierner Geld-
Wrogate dem Aerar gewährt/) Es ist dieses ein so natürliches Ereigniß.
als die Ausführung dieses Geschäftes in einer unnatürlichen d. h. den vor¬
liegenden Verhältnissen durchaus nicht entsprechenden Weise geschieht, denn
wie begreiflich hat das Papiergeld nur so lange den erforderlichen (nommat-)
Werth, findet also nur so lange willige Abnehmer, als die Möglichkeit und
Wahrscheinlichkeit vorhanden ist,, wieder andere Abnehmer zu finden, oder es
an den geeigneten Orten gegen klingende Münze — Metallgeld — ohne Verlust
umtauschen zu können/)
Dabei bleibt natürlich der größte Vortheil, welcher einem Staate durch
Ausgabe von Papiergeld zugewendet wird, nicht die leichtere und wohlfeilere
Beschaffung desselben, sondern die Vermehrung der Umlaufsmittel,
indem dasselbe da, wo das vorhandene baare Geld den lebhaften Ansätzen
des inländischen Handels und Verkehrs nicht genügt, ein sehr Wünschenswerther
Zuwachs der Circulationsmittel ist, welcher zugleich einen niedrigeren Zinsfuß
mit allen günstigen Folgen desselben erzeugt/*)
Es ist bekannt und begreiflich, daß, je kleiner ein Staat ist, desto bedeu¬
tender — wenigstens verhältnißmäßig — die Menge des Papiergeldes, welches
derselbe ausgibt, in der Regel sein wird. Begreiflich ist es, sageich; denn
wenn z. B. das Königreich Preußen mit seinen 17 Millionen Einwohnern
(ich werde, wenn ich Zahlen anführe, immer nur runde Summen blos an¬
nähernd annehmen) etwa für 50 Millionen Thaler Papiergeld ausgibt, so
beträgt dieses auf den Kopf ungefähr 3V» Thaler, und macht die Hälfte des
jährlichen Staatseinkommens aus. - würde aber in dem Herzogtum Anhalt-
Köthcn in demselben Verhältniß dieses Geldsurrogat in Umlauf gesetzt, so
betrüge dieses bei 43.000 Einwohnern nur die höchst bescheidene Summe von
ungefähr 129.000 Thalern, womit freilich diesem Staate nur sehr wemg ge¬
dient sein dürfte. Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, erscheint es verzeih¬
lich, wenn die Regierung die so eng gezogene Grenze des Verhältnis!es über¬
schreitet und so viel Papiergeld schafft und ausgibt, als sie grade nöthig
braucht. Immer aber ist es nöthig, gewisse Grenzen einzuhalten, denn wenn
dieser kleine Staat für zwei Millionen solcher Werthzeichen in Umlauf setzt, so ko.n-
un auf den Kopf 47 Thaler, und es übersteigt diese Summe die Steuerkraft
des Landes, oder was hier gleichbedeutend sein dürfte, die jährlichen Staats¬
einkünfte um das Fünffache, also zehnmal mehr, als bei Preußen, und da
ein so großes Land wie das zuletzt genannte jedenfalls, noch andere, selbst
verhältnißmäßig größere Hilfsmittel hat. als ein so kleines Ländchen, so
ist die Besorgnis, der Beswr solchen Papiergeldes wegen endlicher Realisirung
uicht nur verzeihlich, sondern durchaus gerechtfertigt, und in dem gegebenen
Fälle um so mehr als ohnedies die Staatsschulden dieses Landes die fünf¬
fache Höhe der jährlichen Einkünfte bereits nicht unbeträchtlich übersteigen,
während z. B. in Preußen diese Schulden noch mehr einmal die doppelte Hohe
der Jahresrevenuen erreichen. Die Möglichkeit der Einlösung unter den ge¬
gebenen Verhältnissen wird also bei Preußen nV-mal größer sein als bei
, dem HerzogihUm Anhalt-Köthen.
Die Ausgabe dieser Geldsurrogate nahm in dem letzten Decenmum aus
eine überraschende Weise überHand, und verfehlte nicht, im Hinblick auf die
Assignatenwirthschast des vorigen Jahrhunderts und ähnliche traurige Vor¬
kommnisse, endlich gerechte Besorgnisse in der Finanzwelt zu erregen, denn
nicht nur Staaten, sondern auch Communen und Eisenbahnverwaltungen
nahmen, um sich ihrer Verbindlichkeiten mit Umgehung verzinslicher Anleihen
zu entledigen. dieses leichte Zahlungsmittel zur Hand. das um so willigere
Abnehmer fand, als es sich im täglichen Verkehr höchst vortheilhaft und an¬
genehm bewährte, indem man selbst sehr bedeutende Summen nicht nur leicht
verschicken, sondern auch ohne Beschwerde bei sich tragen kann.
Dazu kamen nun in dem letzten Lustrum die allerwürts wie Pilze fastüber Nacht auftauchenden Privatbanken. Crcditanstalten. Kassenvereine :e.. welche
natürlich ihre Lebensthätigkeit mit Schaffung neuer Papicrgcldsorten begannen.
s° daß mir jetzt in Deutschland eine ansehnliche Musterkarte solcher Papiere
vorzuzeigen im Stande sind.
Jener Annehmlichkeit dieser Zahlungsmittel glaubte man noch weitere
Rechnung tragen zu müssen, indem man für die kleineren Bedürfnisse des
täglichen Verkehrs bis auf einzelne Thaler und Gulden herab Papierscheine
ausgab, in Oestreich sogar noch weiter ging und ganz einfache Zettel in dem
Werthe einiger Kreuzer schuf.*),
Der Werth des Papiergeldes gründet sich jedoch immer nur — wie be¬
reits oben Hervorgehoben — auf das dem Aussteller geschenkte Vertrauen,
daß er aus Verlangen, also zu jeder Zeit, die^ Scheine gegen die darauf be¬
zeichnete Summe in Metallgeld umtauschen könne und werde. Wenn dieses
Vertrauen abnimmt, wenn der betreffende Staat den Nennwerth seines Papier¬
geldes nicht jederzeit, oder nicht zum vollen Belauf zu gewähren bereit ist,
so erscheint der Schluß auf den Mangel an Zahlungsfähigkeit so folgerichtig
als erlaubt, und ein plötzliches Sinken des Werthes unausbleiblich, was na¬
türlich zu bedeutenden Verlusten der Besitzer desselben zur Zeit dieser Entwer¬
tung führen muß. Eine vorsichtige Regierung wird solche Möglichkeiten
gewiß nicht außer Acht lassen und jederzeit darauf bedacht sein, ihre Staats¬
angehörigen vor solchen Verlusten zu bewahren. ^
")'Eine Lurchaus nicht unwichtige Frage ist die, bis zu welchem Betrag soll das Pa¬
piergeld hcrnbgehcn, oder welches soll die kleinste durch Papier dargestellte Geldsumme sein?
Die Ansichten darüber sind verschieden. Ich glaube, man muß hier zwischen Staatspapier-
geld und Banknoten unterscheiden; — die letzteren sollen hauptsächlich dem Handel und der
größeren Industrie dienen, das letztere wenigstens nebenbei auch ,dem täglichen bürgerlichen
Verkehr, somit genügt es vollkommen, wenn jene höchstens bis zu 10 si, herabgehen, während
das von dem Staate auszugebende Papiergeld, von welchem ich hier vorzugsweise rede, auch
in kleineren Beträgen von 5, 2, 1 Thaler und Gulden — in keinem Falle jedoch weiter her¬
ab — auszugeben wäre, da es sich nicht um die Gesammtmenge des Papiergeldes handelt,
sondern nur um die Stückelung der Werthzeichen, und hierbei einzig die Rücksicht auf die
Abnehmer entscheidet, also der Begehr derjenigen, welche das Papier statt der Metallmünze
umsetzen. Es ist aber eine feststehende Thatsache, daß gut fundirtes Papiergeld d. h. solches,
welches allenthalben unbedenklich wieder abgenommen wird, bis zu diesen Beträgen herab viel¬
fach gesucht ist.
Die Gefahr der Fälschung kann hier nicht in Betracht kommen. „Von dem Augenblick
an" sagt der bekannte franz. Nationalökonom Say, „wo aus wohlfeilen Stoffe eine theure
Waare verfertigt werden kann, wird die Gier aller Fälscher geweckt; den Geschicktesten winkt
eine furchtbare Prämie. Der redliche Mann schwebt in beständiger Besorgnis;, falsche Papier¬
scheine zu erhalten. Es thut, der Gesellschaft wehe, daß sie so viel strafen muß. Dies ist eine
traurige Zugabe zu dem Papiergeld, und wenn man bei gehöriger Ordnung und Umsicht da¬
rin ein wohlfeiles Werkzeug des Verkehrs finden kann, so ist doch auf der andern Seite die
Versuchung, welche es den Fälschern bietet, und der sie nur zu oft unterliegen, ein Gegen¬
gewicht, welches man nicht vernachlässigen darf." So weit Say. — Die Zeiten sind aber
anders geworden, sie überstürzen sich, und was heute nichts ist, als „ein wohlfeiles Werk¬
zeug des Verkehrs", das ist morgen eine Nothwendigkeit. Die Abschaffung des Papiergeldes
würde in allen Schichten der Gesellschaft schwer empfunden werden, — Rücksichten auf mög¬
liche Fälschungen dürfen nicht in den Vordergrund treten. Fälschungen kamen zu allen Zeiten
vor, und wie bekannt nicht nur bei dem Papiergeld, sondern auch bei den Metallmünzen jeg¬
licher Art. Die Bestrafung solcher Handlungen von Joh. Laws Zeiten an bis herab zu der
neuesten Verfälschung baierischer Banknoten, — selbst mit vieljährigem Zuchthause, oder gar
mit Tod — schreckt nicht ab, und. wenn seither auch meistens nur die kleineren Werthzeichen
Gegenstand dieser verbotenen Nachbildung waren, so wagt sich der Fälscher alsbald an die
größeren, so wie es keine kleineren mehr geben sollte.
Zuerst wurde Preußen auf die wahrhaft sündflutliche Überschwemmung
des Geldmarktes mit diesen Surrogaten, und das successive Verschwuren der
klingenden Münze (des Metallgeldes) aufmerksam, und faßte den Beschluß
alles ausländische Papiergeld in seinen Staaten zu verbieten;' vorerst jedoch
hat es dieses Verbot auf Scheine unter zehn Thaler beschränkt, sich geeignet
findende Ausdehnung desselben vorbehaltend.
Diese Maßregel hatte die Folge, daß man auch anderwärts d,e Annahme
verweigern zu müssen glaubte, und so strömte dieses Geld in kürzester Zeit
an die Emissionsstellen zurück.
Vielfache Versuche, dieses Verbot wieder rückgängig zu machen, waren
fruchtlos und zeigten nicht die mindeste Hoffnung aus erwünschten Erfolg.
Natürliche Folge dieser Vorgänge waren mehrseitige Anträge zur Regelung
der gegenseitigen Verhältnisse der Papiergeldemission. Man unterhielt sich
bereits von staatlichen Eonfcrenzen über diesen allerdings hochwichtigen, alle
socialen Verhältnisse berührenden Gegenstand, und wenn auch bisher von
regierungsseitlich erfolgten Schritten noch nichts Zuverlässiges in die Ocffent-
Uchkeit gedrungen ist. so durste es doch außer allem Zweifel sein, daß derartige
Unterhandlungen — wenigstens innerhalb der Grenzen des Zollvereins —
bereits stattgefunden haben, und in nicht ferner Zeit wirklich Eonfcrenzen
darüber stattfinden werden; denn das Verharren in dem gegenwärtigen Zu¬
stande ist auf die Dauer hin gradezu unmöglich, ja selbst gefährlich.
Nachstehende Vorschläge zur Regelung dieser Angelegenheit möchten als
sachgemäß erscheinen.
i) Es wird und Berücksichtigung, wo nicht mit alleiniger Zugrundlegung
' der Steuerkraft, beziehungsweise der durchschnittlichen Jahreseinkünfte
der einzelnen sich daran betheiligen wollenden Staaten, wobei Beach¬
tung der bereits vorhandenen.Landesschulden nicht unterbleiben darf,
bestimmt, wie viel Papiergeld'jedes derselben ausgeben darf.
Sollte ein oder das andere Land es in seinem Interesse finden, eine
größere Summe als ihm hiernach zukommt, aus seine Rechnung zu
nehmen, beziehungsweise auszugeben, so wird das gestattet, wenn es
ihm möglich ist. entsprechende — hypothekarische — Sicherheit dafür
zu stellen.
Nicht der wirkliche Bedarf d. h. die Summe, welche der Verkehr
°wes Landes erheischt, kann hier maßgebend sein, sondern allein die Möglich-
keit einer genügenden Sicherstellung theils den Abnehmern, theils den
übrige« Staaten gegenüber, welche letzteren ja alle die Garantie für die gesammte
Summe des circulirenden Papiergeldes gewissermaßen unier solidarischer Haft-
barkeit übernehmen müßten. Denn als Finanzmaßrcgel an sich ist die Aus¬
gabe von Papiergeld wol nie eigentlich zu loben. In ruhigen Zeilen mag
ein Staat sich mit Vortheil auf diese Weise, statt durch, verzinsliche An¬
leihe ein unverzinsliches Betriebscapital verschaffen, allein dieser Vortheil wird
gewiß aufgewogen durch die drohende Gefahr, daß eine Zeit kommen könne,
in welcher die Einlösung suspendirt werden muß, — es wird dann, während
der Fiscus nicht den geringsten Gewinn dabei hat, der ganze Privatverkehr
mit in den Strudel gezogen, und alle Privatschuldner haben das Mittel, ihre
Gläubiger theilweise zu betrügen.
Einestheils würden dadurch gar manche leicht begreifliche Uebelstände be¬
seitigt/ anderthcils die Controle außerordentlich vereinfacht, endlich wiirhen
die Kosten der Fabrikation des Papiergeldes aus ein Minimum reducirt.
Schwerlich wird dieser Gegenstand viel einfacher, richtiger und zweck¬
entsprechender geordnet werden können.
Dabei komme ich aus einen Vorschlag zurück, welchen ich vor fünfzehn Jah¬
ren bereits an einem andern Orte gemacht habe; — nämlich die Emission so¬
genannter Zinszettel, entweder an der Stelle des gewöhnlichen Papiergeldes,
oder neben demselben etwa anstatt einer jeden verzinslichen Anleihe.
Es sind dieses verzinsliche Creditpapiere, welche die Vortheile und An¬
nehmlichkeiten der gewöhnlichen verzinslichen Staatspapiere. Pfandbriefe u. tgi.
mit den Vorzügen der Sparkassenbücher zur verzinslichen Anlegung kleinerer
und größerer Beträge, und des Papiergeldes in sich vereinigen.
Man könnte nämlich solche Zinszettel wie die Kassenanweisungen in be¬
liebigen Beträgen grade wie das gewöhnliche Papiergeld ausgeben. Die
davon zu erhebenden Zinsen würden immer zum Capital geschlagen, und die
daraus hervorgehende Zunahme des Werthes für jedes Jahr und sogar für
jeden Monat auf dem Zettel selbst bemerkt, so daß jeder Inhaber jeden Augen¬
blick wissen kann, wie viel sein Zinszcttel werth ist. Endlich müßte dieser
Zinszettel einschließlich der aufgelaufenen Zinsen zu jeder Zeit bei allen herr¬
schaftlichen Kassen in der Art realisirt werden können, daß man ihn entweder
an Zahlung annähme, oder den Nennwerth ausbezahlte, wie dieses ja auch
z. B. urit den preußischen Kassenanweisungen und mit den Banknoten bei den
verschiedenen Realisationscomptoirs der Fall ist. Es würde dieses jedoch noch
seltener als bei dem jetzt üblichen Papiergeld der Fall sein, indem, wenn
man diese Zinszettel ganz ruhig in seiner Kasse liegen läßt. Zinsen nicht ver¬
loren gehen, sondern gewonnen werden.
Legte man — da die Zinsen unter Umständen monatlich bezahlt wer¬
den müssen — etwa den Zinsfuß nur zu 3"/c> zu Grunde, was unter den
jetzigen Verhältnissen und auch auf die Dauer hin wol nicht unangemessen sein
möchte, so würde die Vermehrung des Werthes der Zinszettel von z. B. 10 Fi.
monatlich 1^2 Kr. und jährlich Is Kr. betragen, am Ende einer zehnjäh-
ngen Umlaufspcriode aber Fi. 3 — und würde dabei die Uebersicht, wie viel
derselbe jeden Augenblick werth sei. sehr erleichtert werden.
Es geht aus dieser Bestimmung hervor, daß ich eine immer nach zehn
Jahren stattfindende Einlösung der noch vorhandenen, im Umlauf befindlichen
Zmszettel, beziehungsweise deren Ersetzung mit einer neu.zu cmittirenden Serie
Augen habe, weil anzunehmen sein möchte, daß nach dieser Periode die
ziemlich abgenutzt sein werden, während natürlich die Festsetzung dieses
Zeitpunktes ganz in der Willkür der Emittenten liegt. Er könnte dann bei¬
spielsweise folgende Form haben:
«
s
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KZ
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Man könnte mir einwenden,
daß ein Staat, welcher z. B. in
dieser Weise ein Capital von 10
Millionen Gulden aufnehmen woll¬
te, für diesen Betrag also Zins-
zettel ausgeben würde. sich am
Ende der zehnjährigen Periode ge-
nöthigt sehe, statt für diese 10
Millionen nunmehr für 13 Millio-
nen neue Zinszettel auszugeben,
weil die Zinsen jn dieser Periode
3 Millionen betragen würden, daß
also dieses Papiergeld ihn in Schul->1-?-i> /
den zu stürzen Veranlassung sein
sein könne. Diesem allerdings
möglichen Uebel würde jedoch da¬
durch leicht vorgebeugt werden kön¬
nen, wenn der betreffende Staat
jährlich so viel als der Betrag der
Zinsen ausmacht, an solchen Zins-
zetteln vernichtete, so daß auf diese
Weise aus dem alljährlichen Hin-
zuschlagen der Zinsen zum Capital
keine Vergrößerung der Staats-
schuld erwüchse. Die Zinsen des
als Beispiel angenommenen Capi¬
tals von lo Millionen zu 3<Vo b?-
tragen jährlich 300,000; würden
nun alljährlich so viele Zinszettel
vernichtet, so würde nicht nur ein
Zinsrückstand nicht entsteh». es
würde sogar durch Ersparung der
Zwischenzinsen (Zinsen von Zin¬
sen) am Ende der zehnjährigen
Periode ein Theil des Capitals
abgetragen sein.
Ebenso leicht könnte die jähr-
liebe Tilgung einer bestimmten oder
beliebigen Summe des Capitals
vollzogen werden.
Ein besonderer Nutzen würde in der Eigenschaft dieses Papiergeldes, als
allgemeine Sparfasse zu dienen, liegen. Jeder, der irgend einen Betrag in
solchen Zetteln entnähme, würde ihn ohne weiteres so lange verzinslich be¬
nutzen, bis er ihn wieder aufgäbe, und so viele Leute aus den niederen
Classen, die keinen klaren Begriff von dem Werthe des Geldes und von sei¬
ner verzinslichen und productiven Anwendung haben, würden diese Anwen¬
dung ohne ihren Willen zu ihrem eignen großen Nutzen kennen lernen. Während
sich sonst das Geld in ihrer Tasche verlor, würde es dann vielmehr darin
keimen und wuchern. Jeder würde sich so lange als nur immer möglich
hüten, sem Geld auszugeben, wenn es morgen vielleicht schon einen höhern
Werth hätte, und der Sinn für Sparsamkeit, die Grundlage des Wohlstandes,
würde sich in allen Classen der Bevölkerung, vorzugsweise aber in den niederen
immer mehr verbreiten.
Auch hier könnte man sagen, daß ja über unser ganzes Vaterland ein
vollständiges Netz von Sparkassen verbreitet sei. welche entsprechende Gelegen¬
heit'zur Förderung der Sparsamkeit bieten, indem sie bereitwillig auch die
kleinsten Beträge annehmen und angemessen verzinsen u. s. w. Eine ver¬
gleichende Uebersicht dieser gewiß sehr lobeBwerthen und vielen Nutzen stif¬
tenden Kassen belehrt uns jedoch, daß dieselben bei weitem nicht so benutzt
werden, wie sie es verdienten, daß sie also entweder in ihren Einrichtungen
nicht allen Erfordernissen entsprechen, welche Attribute solcher Institute sein
müssen, oder daß der rechte Geist in dem Volke noch nicht geweckt ist, welcher
M Benutzung derselben anspornt. Es geht dieses ganz unzweideutig aus den
Resultaten derselben hervor; denn wenn auch einzelne Sparkassen b edeutende
Capitalien zu verwalten haben, so gibt es doch noch gar viele, welche vcr-
haltnißmähig — obschon größere Bezirke auf sie angewiesen sind — wenig
benutzt werden. Ein Hauptgrund dieser Erscheinungen ist wol darin zu suchen,
daß solche Kassen unmöglich in jedem einzelnen Orte errichtet werden können,
vielmehr in der Regel nur in der Kreis- oder Bezirkshauptstadt bestehen. Hat
nun jemand auf dem Lande eine kleine Summe erspart, und möchte dieselbe
gern in der Sparkasse anlegen, so müßte er sie 2, 3 Stunden weit dahintragen;
er will aber den dazu erforderlichen halben Tag nicht versäumen, und er läßt
das Geld liegen, bis er gelegentlich in die Stadt kommt. Erscheint endlich
die Gelegenheit.' so ist das Geld häusig wieder ausgegeben. Ein Andrer
glaubt das Geld in einigen Monaten wieder zu brauchen, ein Dritter fürchtet,
°s möchte bekannt werden, daß er sich Geld erspart habe u. s. w. Alle diese
Einwände Mer bei diesen Zinszetteln weg. ja die Leute sind gezwungen,
die Vortheile der Verzinsung anzunehmen, wenn sie mit solchem Papiergeld
bezahlt werden, und bald werden 'sie den Nutzen einsehen, und der Sache
solchen Geschmack abgewinnen, daß dieses Geld allem andern vorgezogen
wird.*)
Aber auch die reichen Leute würden sich bemühen, in ihren Kassen nur
solch verzinsliches Geld statt des unverzinslichen Metallgeldes einzunehmen,
und während niemand sonst gern große Summen baaren Geldes bei sich be¬
hält, würde das leicht zu verwahrende verzinsliche Papiergeld durch bloßes
Liegen schon ohne irgend eine Bemühung, und ohne irgend eine Gefahr
dabei zu besorgen zu haben, sich vimnteressiren, darum überall gesucht,
und die Nachfrage nach demselben viel größer sein, als nach dem gewöhn¬
lichen Papiergeld.
Auch zu Depositen würden diese Zinszettcl vorzugsweise benutzt werden,
indem mit dem Augenblick der Deposition die Verzinsung ansinge (oder viel¬
mehr sie würde gar nicht aufhören) und das Depositum jeden Augenblick
zurückgenommen werden könnte, ohne dasselbe vorher aufkündigen zu müssen.
Welche immense Vortheile würden die Staatskassen sich verschaffen kön¬
nen, wenn sie z. B. bei den gegenwärtig so vielfach negociirt werdenden
Anleihen zu Ausführung von Eisenbahnen sich solcher Zinszettel bedienten.
Es ist doch immer nöthig und ganz unvermeidlich, daß größere Summen
baares Geld in den Kassen liegen, welche natürlich verzinst werden müssen,
aber selbst keine Zinsen tragen; — bestände nun dieses vorräthige Geld in
Zinszetteln, so wäre es für die Kasse selbst verzinslich, indem bei der Aus¬
zahlung jederzeit dem Empfänger der bereits entstandene Zins aufgerechnet
würde.
Man könnte hier den Einwand machen, daß immer der Staat es sein
würde, welcher diesen Zins zu bezahlen habe, daß somit diese Zinsersparniß
durchaus illusorisch sei, — es ist jedoch nicht andem. Das baare Geld —
die klingende Münze — welche der Staat schafft, kostet demselben, wie ich oben
gezeigt habe, grade so viel, als die Summe desselben ausmacht, oder mit
anderen Worten: Wenn der Staat für 10 Millionen Gulden z. B. klingende
Münze ausprägt, so kosten ihm die dazu erforderlichen edlen Metalle und die
Prägungskosten sogar etwas mehr als jene 10 Millionen. Hat der Staat
nur diese Summe z. B. als erforderliches Betriebscapital in seinen Kassen
liegen, so gehen die Zinsen verloren, ohne daß jemand irgend einen Genuß
davon Hütte, während andererseits das Capital verzinst werden muß. Die
Schaffung der erforderlichen Summe Zinszettel verursacht keine nennenswerthen
Kosten, der Staat hat also nur einmal Zinsen davon zu zahlen, und die
im andern Falle verloren gehenden Zinsen kommen alsbald den Empfängern
der einzelnen Zahlungen zu gut.
Das auf diese.Weise durch die Zinszcttcl verwirklichte allgemeine Spar¬
kassensystem müßte auf den ganzen Haushalt der Völker den wesentlichsten und
wohlthätigsten Einfluß haben und würde dem ganzen Geldverkehr eine andere
Die neuesten Nachrichten aus Berlin bestätigen, daß Preußen mit den
einzelnen Bundesregierungen über die Regelung der Papiergeld- und Bank¬
notenemission keine Separatverhandlungen führe, und daß die Negierung es
als Grundsatz angenommen habe, auch künftig über solche Scparatverein-
varungen nicht zu'unterhandeln. Namentlich scheint dagegen das Bedenken
zu sprechen. daß alle Sonderabmachungen mit einzelnen Staaten wegen der
fast unvermeidlichen Rücksichten auf Specialintcressen der einzelnen Staaten
einer durchgreifenden und allgemeinen Regelung der Papiergeldsrage, wie sie
wünschenswert!) erscheint, nur Hindernisse bereiten könnten. Auch würde ein
Weiterer Anschluß schon dadurch erschwert, daß mit dem Hinzutreten neuer
Interessen und Gesichtspunkte die Principienfragen immer von neuem angeregt-
werden würden, um die zu engen Grenzen der schon bestehenden Uebereinkünfte
zu erweitern.
Wie als bestimmt verlautet, wird Preußen mit allen denjenigen Zoll-
vereinsstaaten zusammen verhandeln, welche sich an einer gemeinsamen
«Vereinbarung dieser Angelegenheit betheiligen wollen., Beinahe sämmtliche
Vereinsmitglieder haben ihre Bereitwilligkeit dazu ausgesprochen. Ob auch
Baiern — welches noch zur Zeit kein Staatspapiergeld, und nur Noten der
dortigen Hypotheken- und Wechselbank, jedoch nicht unter zehn Gulden hat
- an den'Conferenzverhandlungen. die noch in diesem Jahre aufgenommen
werden. Theil zu nehmen gesonnen sei. ist bis jetzt mit Bestimmtheit noch
nicht abzusehen; - das Münchner Cabinet hat in neuerer Zeit sich darüber
nicht weiter ausgesprochen und scheint seine frühere, es isolirende Stellung
noch nicht aufgegeben zusahen, indem es sich von der Regelung dieser Frage
sten halten will. Sollte es übrigens in dieser Abneigung gegen eine Ueber-
einkunft auf dem engeren Gebiete des Zollvereins beharren, so würde dieses
für die übrigen Staaten schwerlich ein Hinderniß abgeben, ihrerseits zu der für
nothwendig erkannten, nicht länger mehr zu umgehenden Regelung dieser in
das gewerbliche Leben so tief einschneidenden Frage unverweilt zu schreiten.
Die Staaten, welche sich dieser Nothwendigkeit entziehen, haben den unaus¬
bleiblichen Nachtheil sich allein zuzuschreiben.
Es besteht in England eine Künstlersekte, welche eine übermäßige und
blos aus gedankenloser Nachbetung des Ueberlieferten erklärliche Macht des
Konventionellen in der neuern Malerei entdeckt zu haben meint und mit ge¬
waltigem Geräusch nun gegen diese Herrschaft ankämpft, nur die reine Natur,
nichts als die Natur, die natürlichste Natur in der Kunst wiederzubildcn er¬
strebt. Als conventionell betrachten diese Männer die Farbenharmonie, die
Mehrzahl der perspectivischen Gesetze, vor allem die sogenannte Luftperspective;
auch die Auswahl der Formen, die Rücksicht auf reinen Linienfluß in der
Zeichnung hallen sie vom Uebel, überhaupt die Entwicklung der Malerei seit
dem sechzehnten Jahrhundert sür eine dauernde Berirrung. Die Schutzpatrone
dieser Sekte sind die italienischen Maler des fünfzehnten Jahrhunderts, der
Name, unter welchem sie sich in England eingebürgert hat, jener der Prae-
raphacliten. Wir besitzen in Deutschland nicht den Namen, wol aber die Sache.
Die erkünstelten Schönheitsformen, die Aufgedunsenheit, die als markige Kraft
galt, die verzwickte Geziertheit^ die für Grazie genommen wurde, kurz alle in
akademischen Rumpelkammern bewahrte Schablonen fanden vor vierzig oder
fünfzig Jahren auch bei uns in der strebenden Künstlerjugend heftige Gegner
und erzeugten in dieser' den Entschluß zur Rückkehr auf primitive Formen.
Mitbestimmend wirkten literarische Einflüsse und jene bekannte Gemüthsdespcra-
tion, die, zu schwach, um aus den Wirren der neuern Zeit sich herauszuarbeiten,
die letztere lieber völlig verneinte. Die Flucht aus der Gegenwart war hier
ganz anders gemeint, als bei den antik gesinnten Künstlern. Diese nehmen
auf ihre einsamen Höhen doch eine allgemeine Lebensfreude, eine für alles
Schöne offene Stimmung mit, sie stehen mit dieser grade jetzt existirenden
Menschheit, nicht mit der Menschheit überhaupt im Unfrieden, bei der letzteren
Gruppe macht sich oft ein allgemeiner Lebensüberdruß, der Aerger über die
ganze Welt bemerkbar. Flete mit dieser Kunstrichtung nicht auch die Wieder¬
belebung altdeutscher Weise zusammen, wir wüßten ihr wenig Dank sür tue
Opposition gegen das akademische Unwesen. Gewiß haben wir uus über den
Untergang des letzteren nur zu freuen; am wenigsten beklagen wir den Tausch
der ausgelebten Phraseologie, wie sie unter den Akademikern galt, mit primi¬
tiven Formen. Grobheit ist immer besser als Heuchelei. Wäre nur diese
, Heuchelei nicht durch eine andere Thür wieder in die deutsche Kunst hinein¬
gekommen, sähen wir nicht, wie ehedem die Herrschaft scheinheiliger Formen, jetzt
die Macht scheinheiliger Gesinnung, die. statt Gott in seinen Werken zu ver¬
ehren, diese ansieht, als hätte sie der Gottseibeiuns eigenhändig bezeichnet,
wäre endlich nicht das Schwächliche präkonisirt worden und ein System der
künstlerischen Anschauung gepredigt, das in Wahrheit lungcnsüchtige Schnerdcr-
gesellen zu Idealen der Männlichkeit erhebt. Es ist kein Unglück, daß die
Münchner Ausstellung nur geringe Proben dieser Richtung ausweist. Dagegen
bleibt es zu beklagen, daß die Entwicklungsgeschichte des Mannes, der wieder
Kraft und Muth in die deutsche Kunst brachte, nicht vollständig durch Proben
belegt ist. Man braucht allerdings nur einige Straßen weiter zu wandeln,
um eine vollständige Uebersicht von der Münchner Wirksamkeit des Meiste^Cornelius zu gewinnen. Aber die Werke aus der älteren Periode. die ohnehin
im Gedächtniß jüngerer Zeitgenossen nur schwach leben, hätten wir gern
reicher vertreten geschaut.
Die Männer, an die man gewöhnlich denkt, wenn von der Blüte unserer
Kunst gesprochen wird: Overbeck. Cornelius. Schmorr. Schadow. Kaulbach
fehlen natürlich in der Ausstellung nicht, doch bietet, was sich von denselben
hier vorfindet, keinen neuen Stoff zur Würdigung dieser oft und viel besprochenen
Meister. Die alte Freundschaft wird man sür Overbecks biblische Zeich¬
nungen fühlen, gern wieder sich anregen lassen von den frischen naiven Zügen,
die in zahlreiche Scenen eingewebt sind, und den unverwischbaren Schönheits-
sinn, der aus einzelnen Bildern und Gruppen spricht, bewundern. Wer für
Wilhelm Schadow anhängliches Wohlwollen aus alter Zeit empfindet und
das Greisenalter schonen will, wird rasch den Blick von einzelnen schwachen
Erzeugnissen seiner späteren Jahre wenden. Verweilen darf man vor diesen
Bildern nicht, sonst ist ein herbes Urtheil schwer zu verwinden, zumal diesen
Werken die Anspruchslosigkeit fehlt und sie etwas Großes bedeuten wollen,
^vns vitÄö steht mit Lapidarschrift auf dem einen Bilde geschrieben. Man
erwartet natürlich eine Schilderung, von demselben Geiste inspinrt. der aus
den Eyckschen Darstellungen leuchtet, und findet schwach erfundene, matt
charakterisn-te und geistlos gefärbte Gruppen. Von Murillo existirt eine
Studie zu seinem großen Mosesbilde, ein einfaches Weib mit Kindern, die
halbverdürstet nach dem frischen Labetrunk greifen. Es ist ein einfaches
Bild aus dem Volke, in Sevilla hat es der Künstler wahrscheinlich oft genug
erblickt, alltäglich kann man auch jetzt es an heißen Sommertagen schauen.
Kein „fons viwo" steht auf dem Bild geschrieben. Wozu auch? desto deut¬
licher spricht aus den Gestalten die belebende Kraft der ältesten Gottesgabe.
Wenn es eines warnenden Beispieles gegen die symbolische Malerei noch be¬
dürfte, hier wäre es gegeben. Das Bildniß Jmmermnnns aus dem I. 18?4
zeigt, was Schadow war, ehe ihm unklare Speculationen das einfache Kunst¬
gefühl raubten, und erklärt, warum der Geschichtschreiber der modernen Kunst
anerkennender von ihm spricht, als es nach einzelnen hier vorhandenen Proben
gerechtfertigt erscheint. Um Schmorr zu beurtheilen, überhaupt eingehend
kennen zu lernen, wird man wohl daran thun, in den Rcsidenzbau zu pilgern,
hier, wo er nur kärglich (die Hauptwerke nur durch Kupferstiche) vertreten ist.
dürfte eine h. Familie aus d. I. 1817 vorzugsweise interessiren. Johannes
Eltern sind'nach Nazareth zu Besuch gekommen und werden vom h. Joseph
herzlich begrüßt. Die Madonna selbst .sitzt in einem eingezäunten Hof. den
Schlaf des Christkindes bewachend. Daß der kleine Johannes von der
Ferne bereits schelmisch auf den Spielkameraden weist, ist ein glücklich er¬
fundener, naiver Zug. Im Uebrigen wird man die strenge Nachbildung vor-
raphaclischcr Muster, einen Rückfall in primitive Formen, eine steile, hölzerne
Komposition, die bloße Färbung der von scharfen Contouren eingeschlossenen
Flächen statt eines lebendigen Colorites wahrnehmen. Welche Fülle von
Kraft und welche Gesundheit gehörte dazu, um von diesem Bilde die Ent¬
wicklung bis zum Nibelungcncyklus und zu den biblischen Zeichnungen zu
finden.
Es bleiben von den Koryphäen deutscher Kunst noch Cornelius und Kaul¬
bach übrig. Die wahrscheinlich auswärts verbreitete Meinung, die Werke
dieser Männer würden den Mittelpunkt der Ausstellung bilden, die gewaltigste
Anziehungskraft üben, wird nicht bestätigt. Die Mehrzahl der Besucher geht
ruhigen, ja gleichgiltigen Blickes an denselben vorüber und hat Muße und
Aufmerksamkeit genug für die Betrachtung und Bewunderung der übrigen aus¬
gestellten Bilder übrig. Doch das entscheidet nicht/ Zunächst sind es sämmt¬
lich schon wohlbekannte und oft geschaute Werke, die uns hier entgegentreten.
Von Cornelius sehen wir einzelne Cartons zu den Fresken in der Glyptothek,
in der Ludwigskirche und im berliner Llrmxo fundo. Kaulbach wird re-
präsentirt durch Fragmente des Bilderschmuckcs im berliner neuen Museum:
durch die Cartons der Völkerschcidung, des welthistorischen (nicht der Be¬
deutung, sondern dem Inhalt nach) Kinderfrieses und einzelne allegorische Fi¬
guren. Die Hoffnung. den vielgerühmten Entwurf zur Salamisschlacht zu
sehen, ging leider nicht in Erfüllung. Dazu kommt noch der weitere Umstand,
daß reich, oft buntgefärbte Oelgemälde den Cartons benachbart sind, wodurch
natürlich das Auge des Beschauers für die Auffassung einfacher Cartonzeich-
nung abgestumpft wird. Wer sich durch diese Hindernisse hindurchwindet, wird
nicht anstehen, die energische Kraft, die ergreifende Schilderung des tragischen
Leidens und mächtiger Asiecte bei Cornelius, die geistreiche, pointenreiche Auf¬
fassung bei Kaulbach bewundernd anzuerkennen. Wenn auch die Darstellung
der Passion und der Evangelisten (ans der Ludwigskirche) keine große Wir¬
kung übt und es scheint, als ob die Seele des Künstlers nicht am Werke
Theil genommen, er vielmehr mit der Anordnung kunstvoller Gruppen sich be¬
gnügt — der Untergang Trojas und die apokalyptischen Reiter, die wir in
der Ausstellung erblickten, bleiben große künstlerische Schöpfungen.
Nicht ohne Einfluß auf den geringeren Erfolg des Meisters in dem reji-
giös-historischen Fache war vielleicht die beschränkende Nähe musterhafter Vor¬
bilder, welche die Phantasie unwillkürlich in die von ihnen breitgelegten-Ge¬
leise zurückführten, jedenfalls die Hoffnung, in der Schilderung neu und doch
eben so gut zu verfahren, vernichteten, und die Gefahr minderer Einfachheit
und Wahrheit heraufbeschworen. Bei den apokalyptischen Scenen ist der mo-
derne Künstler nicht in gleicher Art gezwungen, gegen Sonne und Wind zu
kämpfen, die Tradition hat hier keine Auffnssungsweise so geregelt, wie dies
z- B. bei der Passionsgeschichte der Fall ist. die Phantasie bewegt sich freier,
das Bewußtsein, gleich den großen Ahnen, schöpferisch auftreten, einen bis da¬
hin spröden Stoff künstlerisch gestalten zu können, gibt dem Auge Schärfe,
der Hand Schwung. Hier wird die Kühnheit herausgefordert, dort auch eine
reiche Kraft gelähmt. Bei einem Künstler, dessen Erfindungsgabe so
hoch gerühmt.'als die stärkste Eigenschaft gepriesen wird, ist die Neuheit
oder Abgegriffenheit der Motive keineswegs gleichgültig. Die Erfindungs¬
gabe unserer Meister bezieht sich nicht allein auf neue poetische Verbindungen
Kroßerer Gedankenreihen, die selbst wieder erst aus dem tiefsinnenden Geiste
des Meisters geboren wurden, auch die Formenwelt muß sich seinem Willen
beugen, ihre Maße seinem Belieben sich unterordnen. Vom artistischen Stand¬
punkt bildet der letztere Umstand den wichtigsten Unterschied zwischen Corne¬
lius und den übrigen Idealisten, die geringe Sorge um den allgcmeingiltigen
Kanon der Verhältnisse, der als Gesetz die endlichen und in ihrer Reinheit
getrübten Erscheinungen umschwebt und von allen auf plastische Schönheit ihrer
Gebilde bedachten Künstlern befolgt wird, die Aufstellung besonderer von der
^"kunsten blos abweichenden, nicht ihr zu Grunde liegenden Maßverhältnisse ist
wesentliches Charaktermerkmal seiner Kunstweise. In den letzten Werken von
Cornelius, z. B. in der auch sonst völlig unbedeutenden „Erwartung des Welt¬
gerichtes" „rächt sich diese Manier am stärksten geltend, doch guch in den
ältern apokalyptischen Bildern, auch in den Deckenbildern der Glyptothek, kann
man diese Vorliebe sür fictive Formen und Verhältnisse wahrnehmen. Die
Erinnerung an ähnliche Vorgänge bei Dürer läßt Viele diese Eigenthümlich¬
keit als nationalen Zug erkennen und gibt ihnen einen neuen Grund, Cor¬
nelius zu preisen. Es bliebe aber zu erwägen, ob denn das verschiedene
Material, in welchem Dürer und Cornelius ihre Gedanken verkörpern, nicht
auch für die Formengebung verschiedene Gesetze feststellt. Der Holzschnitt und
Kupferstich geht seiner ganzen Natur nach auf die Detaillirung der Daseins¬
formen nur in geringem Grade ein, er besitzt (von modernen Stichen ist hier
nicht die Rede) nicht die Mittel, hat auch nicht den Zweck, die selbstständige
Geltung der letzteren zum Ausdruck zu bringen, er begnügt sich mit der halb¬
wirklichen/tiaumhaften Schilderung und wird eben dadurch ein unübertreff¬
liches Mittel, jene Ideen, wo das Phantastische mitspielt, zu verkörpern.
Kann man diese Darstellungsweise, die ganz wesentlich durch die Natur des
Holzschnittes und Kupferstiches bedingt ist, ohne Gefahr, mcmierirt zu er¬
scheinen, auch auf den Kreis monumentaler Malerei übertragen, verwischt man
nicht vielleicht dann die Grenzen in Wahrheit scharf voneinander geschiedener
Kunstzweige?
Wie bei Cornelius die subjective Vergewaltigung der Erscheinungsformen
und gesetzlich giltiger Verhältnisse, so fällt bei Kaulbach die große Einförmig¬
keit der Formensprache in hohem Grade aus. Seine Kindergestalten nament¬
lich gehören nicht blos derselben Familie an, sie sind Zwillingsgeschwister,
so seine jungen Weiber, so seine Heldenmänner. Die Zudringlichkeit, mit
welcher dieselbe Physiognomie, dieselbe Charaktermaske immer wieder vor das
Auge tritt, wird nachgrade lästig. Der witzige Verstand, der an der Hervor¬
bringung Kaulbachischer Werke einen so großen Antheil nimmt, hat sür die
reinen Formen keinen sonderlichen Reiz, ja selbst das Grobe und Manie-
rirte wird er nicht von sich stoßen, falls nur die gesuchte Pointe zum Aus¬
druck gelangt. Einfache positive Existenzen zu schildern ist nicht Kaulbachs
Sache. Sein Karl der Große, Moses und Solon besitzen durchaus keine
Individualität, seine Personification der Geschichte, Wissenschaft u. s. w.
keinen besondern Charakter. Das schneidige Wesen Kaulbnchs macht ihn für
das Erfassen des ruhig Großen schlecht geeignet und zwingt ihn, z» Gemein¬
plätzen seine Zuflucht zu nehmen. Nur Motive, die in das Traumartige
übergreifen, nur Gestalten, die einen negativen Zug an sich tragen, des ge¬
schlossenen Charakters entbehren, mühsam innere Widersprüche verhüllen,
zwischen Himmel und Erde, noch besser aber zwischen Erde und Hölle schwe¬
ben, fesseln nachhaltig seine Phantasie und empfangen eine durchdringende
Verkörperung. Die sieben Todsünden von Kaulbach gemalt, würden wahr¬
scheinlich ebenso viele Meisterwerke werden, sollte er einmal die sieben Cardinal-
tugenden darstellen, würde er über die Phrase schwerlich herauskommen. So
nichtssagend die Gestalten der Geschichte und der einzelnen Künste, so ergrei¬
fend und charakteristisch ist das Bild der Sage, die mit den unterirdischen
Mächten verkehrt und von finsterm Dümonengeiste beherrscht wird. Auch auf
dem Carton der Völkerscheidung erscheinen die Repräsentanten der niederen
Ra?en ungleich schärfer und tiefer gefaßt, als die Gruppen, in welchen die
reine, entwicklungsreiche Menschheit geschildert werden soll. — Zusammen¬
gehalten mit den ältern Meistern der Ausstellung zeigen die zuletzt genannten
Künstler einen reicheren und größeren Inhalt. Sie haben neue Gedanken¬
kreise der Malerei zugeführt, die Aufmerksamkeit aus Motive von unbestreit¬
barer Mächtigkeit gelenkt, Kraft und Kühnheit in die Auffassung der letzteren
gebracht. Das reine Formengefühl freilich findet bei ihnen keine vollkommene
Befriedigung, die einfache Schönheit, der Wohllaut, der aus den Werken
von Carstens, Wächter und Schick spricht, keine heimathliche Stätte. Mit
dem Großartigen. Tiefsinnigen oder Geistreichen ihrer Intentionen beschäf¬
tigt, hatten sie keine Muße.'nach Art des alten Idealismus die an und für
sich giltigen Formengesetze zu durchdringen oder sie fanden sie gar in denselben
Schranken für die freie Verkörperung ihrer Phantasiegebilde, welche durch¬
brochen werden mußten. Es wird gewöhnlich erst in Kaulbachs Werken das
Vorwalten des ironischen Elementes wahrgenommen und als Eigenthümlich¬
keit des Meisters betont. Daß es in dem Verhalten des Künstlers zu dem
darzustellenden Motiv schon früher bestand, zeigt Koch, der seinem „Tiroler
Landsturm" noch einen besonderen pikanten Reiz einzuverleiben meinte, indem
er zu Hofers Füßen einen Schlund sich öffnen lirß. aus dem eine Schlange
emporsteigt, und welcher die Ueberschrift: I'cMiea hat. Ist aber nicht auch
in der von.Cornelius beliebten Formengebung. in den alle Existenzbedingungen
vernichtenden Maßverhältnissen eine gewisse Ironie gegen die Formengesetze
enthalten? Jedenfalls hindert dieser Zug den Künstler, eine legislatorische
Wirksamkeit zu entfalten, wie sie in einem bestimmten Kreise Carstens un¬
zweifelhaft übt und noch geraume Zeit bewahren wird.
Die Künstlergruppe. die sich in den dreißiger Jahren um Cornelius in Mün¬
chen, an Schadow in Düsseldorf anschloß , ebenso die älteren berliner Maler
fanden in der Ausstellung nur eine ungenügende Vertretung. Ob eine glän¬
zendere Repräsentation derselben die alte, dem jüngeren Geschlechte kaum
mehr begreifliche Liebe des Publicums zurückgebracht hätte, ob in unserer Brust
uoch immer Sympathien für die schwächlichen, in Leiden halbaufgelösten Ge¬
stüten der älteren düsscldorfer Schule ruhen, ob wir noch immer den am
geblieben Gedankenernst, der in Cornelius Schule heimisch war. so gewaltig
hoch stellen, daß wir darüber die Formenrohheit, den oberflächlichen Dilettan¬
tismus im eigentlichen Malerischen vergessen, darf man wol bezweifeln. Stein-
brücks Elfen und Klöbers Nymphen zeigen uns jetzt nur den argen Abfall
von der keuschen Auffassung der Antike, wie sie Carstens siegreich angebahnt
hatte, Hildebrandts Söhne Eduards kann man ohne Verwunderung über die
geringen Anforderungen, die man an die technische Tüchtigkeit des Künstlers
stellte, nicht betrachten, bei Hermanns deutschen Geschichtsbildern weiß man
nicht recht, ob man über die Selbstüberschätzung des Malers sich ärgern, oder
über die kindische Auffassung namentlich des Mittelalters und der neuern Zeit
lachen soll, Erwin Specktcrs: Frauen am Grabe mit Christus zeigen, welchen
Grad der Mangel an Schulung erreicht hatte, Krügers Wachparade vollends
erscheint uns nur noch als Curiosum und erfüllt uns mit Dank für die Er¬
findung der Photographie. Solche Ausgaben werden hoffentlich nicht mehr
an Künstler gestellt werden.
Die Zahl der Cartons, die wir sonst noch in der Ausstellung erblicken,
ist keine unerhebliche. Thüringen namentlich stellt ein reichliches Contingent
von Künstlern, welche die in München selbst wenig gepflegte Richtung so¬
genannter idealer Geschichtsmalerei fortsetzen. Doch laßt sich von diesen Ar¬
beiten eines Losson. A. Müller und Wislicenus keine Eigenthümlichkeit behaupten.
Dagegen bewahren Rethels Entwürfe zu den achmer Fresken und seine Skizzen
zu Hannibals Zug über die Alpen ihren alten Ruhm und lassen den frühen
Verlust des Mannes für die Kunst innig bedauern. Er hielt historischen
Ernst mit tiefer Empfindung nicht für unvereinbar, verwechselte nicht den
Kothurn mit Stelzen und strebte kräftig nach einfacher Würde der Schil¬
derung.
Ein schön geformtes nacktes Bein ist ein würdigerer Gegenstand künst¬
lerischer. Darstellung als gelbe Lederhosen, ein jungfräulicher Leib in seiner
zarten Entfaltung für jeden, der einen gesunden Sinn sich bewahrt hat, eine
größere Augenweide, als ein rostiges Schwert, ein schmuziger Büsfelkoller
oder blank geputzte Stiefel. Das ist das kurzgefaßte Urtheil der Freunde der
Antike über jenen in Deutschland erst seit einigen Jahren gepflegten Zweig
der historischen Malerei, welche die charakteristische Wahrheit der Schilderung
vorzugsweise betont, die äußeren Erscheinungsformen mit sichtlicher Vorliebe
und oft mit bewunderungswürdiger Genauigkeit wiedergibt und als wesent¬
lichstes Ausdrucksmittel das Colorit benutzt. Der mächtige Eindruck der Zeich¬
nungen und Aquarelle von Carstens, die Bewunderung, die Kochs poetischer
Kraft. Schlaks anmuthiger Grazie'allgemein gezollt wird, haben der kleinen
Gemeinde der Hellenisten neuen Muth verliehen, und die Hoffnung, es könnte
sich ihnen, den lange Vernachlässigten und wie sie glauben Verläumder wieder
die öffentliche Gunst, die verdiente Anerkennung zuwenden, belebt. Der alte
Streit, ob ein Gemälde eines stofflichen Interesses bedürfe oder nicht, ob das
Colorit auch eine selbstständige Bedeutung besitze, ob die täuschende Wieder¬
gabe eines Scheines, mag derselbe auch an unreinen oder gleichgiltigen For-
wen hasten, unsere Phantasie anrege, oder ob nur der plastische Formen¬
gehalt die Schönheit bestimme, ist wieder entbrannt. Auch Parteinamen hat
man glücklich gefunden, in den beiden Worten: Idealismus und Realismus
wohlfeile Mäntelchen entdeckt, unter welchen man Freund und Gegner rasch
unterbringen kann und je länger man kämpft, je hitziger man ficht, desto
unklarer werden die Köpfe, desto verworrener die Begriffe. Die lange Zurück¬
setzung hat viele der sogenannten Idealisten im Innern verbittert, so daß sie
dem Colorit auch nicht die geringste künstlerische Wirkungskraft zugestehen
'wollen, die malerischen Effecte, die Charakteristik durch die Farbe nicht blos
für ein Spiel, sondern auch für ein leichtes Spiel erklären. Seltsam, daß
dann so viele zwar die Lust, so wenige aber den Muth haben, dieses-leichte
Spiel zu beginnen. Sie haben in manchen Fällen ein volles Recht zu dem
Vorwurf, daß der Kopf ihrer Gegner einen photographischen Apparat statt
der Phantasie berge, und diese für den Fleiß, den sie auf die genaue Repro-
duction silberner Leuchter, metallner Buchbeschläge, damascirter Schwertklin¬
gen u. s. w. verwenden, sich durch leblose Allgemeinheit des Ausdruckes in
den Hauptfiguren schadlos halten. Wenn sie aber solche zufällige Mängel des
einen oder andern Bildes ausschließlich dem Kunstprincip als Schuld anrechnen,
als ob dasselbe zu jenem Verfahren nöthige, so betrügen sie sich nur selbst
und offenbaren Unredlichkeit oder Unwissenheit. Sie wollen nicht wissen oder
wissen wirklich nicht, daß Rembrandt und die spätern Niederländer überhaupt,
die Spanier des 17. Jahrhunderts und die Venetianer das gerade Gegentheil
der Kunstvcrderber bilden.
Die da sagen, in der Malerei komme es vorzugsweise auf die Poesie
der Gedanken, auf'die Gewalt und Bedeutung des Stoffes an. müßten uns
eigentlich erst sagen. welches Recht denn die Malerei auf das Dasein als be¬
sondere Kunstgattung besitze. Wenn uns der Künstler über seine hohen In¬
tentionen einfach verständigte, wenn er auf irgend welche Weise, — conven-
tionelle Zeichen würden den Zweck vollkommen erfüllen — die Vorstellung
seiner poetischen Gedanken in uns erweckte, so hätte er allen Anforderungen
ein sein Künstlerthum genügt. Nach dieser Aesthetik ist alle weitere Entwick¬
lung der Malerei seit dem Ausleben der byzantinischen Kunst eine überflüssige
Kraftverschwendung gewesen. Welche verwickelten Gedankensysteme haben die¬
selben nicht als Motive der Darstellung gewählt, mit welcher Kühnheit wu߬
ten sie nicht auch die entlegensten Himmelsgestalten der Erinnerung nahe zu
rücken, wie sinnreich erfanden sie zwischen dem Inhalt des Bildes und seiner
räumlichen Umgebung bestimmte Beziehungen. Für den kirchlich Gläubigen
enthalten die byzantinischen Werke eine Fülle stofflicher Poesie, einen unend¬
lichen Reichthum hoher Gedanken. Bedarf es zur Vollendung eines Gemäl¬
des nur solcher, so ist nicht abzusehen, warum wir nicht zu dieser Richtung
zurückkehren und das bekannte Malerbuch vom Berge Athos nicht blos als
eine archäologische Reliquie, sondern auch als praktisches Kunstbuch verehren.
Wahrlich, man wird zuletzt noch beweisen müssen, daß das Auge und nicht
die innere Vorstellung die malerische Schönheit erfasse.
Minder im Unrecht, aber doch auch im Unrecht sind die andern, welche
die selbstständige Geltung der Formenschönheit behaupten, und die Frage nach
dem Ideengehalt als etwas Gleichgiltiges behandeln. Unter den Idealisten
des alten Schlages besitzt diese Ansicht noch zahlreiche Anhänger. schwung¬
hafte Formen, fließende Linien, anmuthige Gruppirung. jenes einfache Maß
des Ausdruckes, welches die Aufmerksamkeit nicht von dem Genusse des äuße¬
ren Wohllautes der Zeichnung abzieht, eine plastische Composition endlich,
nicht in dem Sinne, daß die einzelnen Figuren sich vom Grunde abheben,
rund und voll erscheinen, sondern in der andern Bedeutung des Wortes, daß
die Gestaltenbildung auf das ursprünglich Reine, allgemein Giltige, formell
Ebenmäßige zurückgeht, bedingt nach ihrer Meinung ausschließlich den künst¬
lerischen Werth eines Gemäldes. Die Lüge steckt aber schon darin, daß man
alle diese Eigenschaften ohne einen lebensvollen Inhalt möglich, sie unab¬
hängig existirend glaubt. Der trockene Begriff, der schale Einfall. der un¬
lebendige Gedanke wird alle diese Schönheiten nicht etwa blos sür den Be¬
schauer zerstören, er wird auch den schaffenden Künstler an ihrer Verkörperung
hindern. Es ist nicht die Form, es ist der Gedanke, welchen seine Phantasie
zuerst gebiert, an dem Gedanken erst schießen die äußeren Formen empor; zu
welchen er nicht die stärksten Triebe, eine unmittelbare Nöthigung in sich
schließt, diese werden nimmermehr an den Tag treten. Oder lassen sich denn
die idealen Formen, der hohe Stil nach einem für alle Fälle feststehenden
trockenen Schema auf jeden beliebigen Inhalt ankleben? Das wäre ja der
leibhaftige Zopf, wie er nicht ärger in seiner glorreichsten Zeit bestand. Die
Zopftünstlcr waren der formellen Bildung, der geschulten Hand keineswegs so
bar, wie man gewöhnlich annimmt. Sie besaßen einen offenen Sinn sür
das formell Schöne, für das Plastische, eine große Verehrung sür die Antike.
Weil sie aber, während sie die Forme» schufen, den Einfluß der kalten, nüch¬
ternen, unlebendigen Gedanken, die ihre Phantasie erfüllten, nicht abwehren
konnten, so verwandelte sich ihnen unter der Hand das Anmuthige in das
süßliche, das Schöne in das Gezierte, das Erhabene in das hohl Pathe-
tische. Grade das bedingt ja Carstens Größe, daß er vom leeren Formalis¬
mus sich abtehrte, in schwerer Geistesarbeit sich den Ideenkreis der Antike
aneignete und von hier aus das Formengcrüste reformirte. Auf Grundlage
der Antike gebildete Formen und ein antiker Ideenkreis gehören nothwendig
zusammen. Grade die Empfänglichsten für den Oenuß der ersteren würden
am lautesten ihr Entsetzen kundgeben, wollte man das Eine von dem Andern
trennen. Welchen Grad von Unmittelbarkeit besitzt aber für uns noch die
antike Ideenwelt? Wir bezweifeln nicht die Fähigkeit einzelner Künstler, sich
in dieselbe so zu vertiefen, daß sie nahezu mit Naivetät Motive und Gestal¬
ten derselben verkörpern, ein kleiner Kreis von Auserwählten wird auch stets
eine innige Empfänglichkeit für sie bewahren, dem eigentlichen Volksbewußt-
sein ist sie aber so weit fern gerückt, das; es nicht die unmittelbare Empfin¬
dung sür ihre Reproductionen bereit hält. Selbst die Luftbrücken, welche ehe¬
dem die falsche Sehnsucht nach dem idyllischen Naturzustande, der Republika¬
nismus und Imperialismus zwischen dem Alterthum und der Zeitbildung
geschlagen hatten, sind zerstört. Unser gegenwärtiges Leben hat einen posi.
tiven. ernsten Inhalt, der uns vollständig erfüllt, der unsere Interessen, unser
Denken und Empfinden absorbirt, den wir auch in unsern künstlerischen An¬
schauungen vertreten wissen wollen. Schon die verhältnißmäßig streng objec¬
tive Natur unserer Erkenntniß des classischen Alterthums dürste dafür bürgen,
daß es unser unmittelbares Gefühl nicht in Anspruch nimmt. Der stolze,
selbstzufriedene Künstler dürste sich vielleicht mit dem Beifall einiger wenigen
' Auserwählten begnügen, auf die Theilnahme der xlvbs freiwillig verzichten,
und die Mission der Kunst, auf das Volt im Großen zu wirken, ihm das
vergeistigte Spiegelbild seines Wesens entgegenzuhalten, gering anschlagen.
Er kann aber, unzertrennlich vom Volksganzen, wie er dasteht, nicht die Ge¬
fahren für seine eigne, auf die Antike gerichtete Phantasie beseitigen, nicht ver¬
hindern, daß das feinere Empfindungsvermögen abgestumpft vom kühlen Ver¬
stände sich ersetzen und ihn nur oberflächlich das Wesen der Antike berühren
läßt. Vergessen wir auch nicht die Winselstellung zwischen dem in seiner Eigen¬
thümlichkeit entwickelten malerischen Scheine und der antiken Formenbildung.
Es ist nicht grade nöthig, die Formhäßlichkeit, wie dies zuweilen bei Rem-
brandt und Velasquez. den beiden größten Farbenkünstlern der Vergangenheit
vorkommt, als Princip auf die Fahne zu schreiben, jedenfalls wird sich der
Colorist in der feineren Individualisirung. in der Schilderung selbst der leise¬
sten Empsindungsregungen. wozu ihn seine Ausdrucksmittel auffordern, beengt
fühlen durch die Rücksicht auf das plastische Maß. der dem classischen Ideal
huldigende Künstler wieder wird einer Kunstweise fluchen, die ihn zwingt,
die Mehrzahl seiner Vorzüge, die feste Contourenzeichnung. den einfachen Wohl¬
laut der Linien in den Hintergrund zu drängen.
Hätte Cnrstens zur Verkörperung seiner wunderbar antiken Gedanken das
vollständige Farbenmaterial angewendet, schwerlich würden wir ihn in so scharfer
Weise Mengs einerseits und den spätern Akademikern andererseits entgegenstellen.
Grade der Verzicht auf jede malerische Wirkung, die Koch in seinen Copien
Carstenscher Zeichnungen nicht zum Vortheil derselben einigermaßen retten wollte,
sicherte dem Meister die naive Sicherheit und Reinheit in der Auffassung der
Antike. Die gleichzeitigen Franzosen wollten dies antike Wesen nicht auf Ko¬
sten der eigentlichen Malerei in die neuere Kunst einführen und erzielten als
Resultat das Ungenügen nach beiden Richtungen hin und das Ausleben der
Schule, noch ehe ihr Gründer gestorben war. Carstens unmittelbaren Nach¬
folgern, welche seinen Musterformen einen schärferen malerischen Ausdruck ver¬
leihen wollten, erging es nicht besser, und eben das Gefühl, daß der inner¬
halb der Grenzen der Antike eingeschlossene Idealismus nicht befriedigen,
nicht lebendig erhalten werden könne, rief die bekannten Bestrebungen
von Cornelius und seinen Genossen auf. Gcnelli. auf welchen sich
Carstens Natur am reinsten vererbt hat, greift zu dem gleichen Auskunfts-
mittel. laßt sich durch den Vorwurf, er besitze kein Farbenverständniß und
mache aus der Noth eine Tugend, nicht irre machen, und beharrt mit Recht
bei primitiven Ausdrucksmitteln. Bendemann in seinem anheimelnden Bilde
der Nausikaa erkannte gleichfalls als die entsprechende Form für seinen Gegen¬
stand eine relicfartige Composition und eine mit dem Fresco an Eintönigkeit
wetteifernde Färbung. Rahl in Wien ist wol gegenwärtig der einzige, wel¬
cher den Ruhm eines tüchtigen Coloristen und eines treuen Anhängers des
traditionellen Idealismus zu vereinigen erstrebt. Die Anlage zum Farben¬
künstler besitzt er in hohem Grade, seine Porträts bürgen dafür, die über¬
raschenden Leistungen seiner zahlreichen Schüler zeigen die bewußte Beherr¬
schung jener Anlagen. Aber grade das Bild, welches wir von ihm auf der
Ausstellung erblicken^ Odysseus bei König Alkinoos. und das die erwähnte Ver¬
mittlung anschaulich machen soll, offenbart Nabis Vorzüge in geringerem
Grade. Es fehlt Lust zwischen den einzelnen Personen und insbesondere dem
Helden an Bestimmtheit des Ausdruckes. Das Kolorit ist schwer und dumpf
und selbst die Zeichnung werden strenge Idealisten schwerlich scharf genug
finden. Sind wir auch von der Ueberzeugung durchdrungen, daß der auf
Grundlage der Antike ausgebildete Idealismus (eine Verwahrung, als ob wir die
Herrlichkeit der Antike und den Werth ihres Studiums gering achteten, brauchen
wir wol nicht einzulegen) nur geringe Aussichten aus die Herrschaft in der
Malerei habe, so folgt daraus noch keineswegs, daß wir alles, was diesem
Idealismus zuwiderläuft und mit dem Namen des Realismus ganz wider¬
rechtlich prunkt, gutheißen und unsere Sympathien diesem entgegentragen.
Akademische Hohlheit wird vom wahren Idealismus getrennt, ebenso sollte
man ordinäre Modelle mit einigen Costümfetzen behängen nicht mit realisti¬
scher Schilderung gleichbedeutend halten. Der Cultus historischer Größe ist
der beste Zug in unserer Bildung, der Wunsch, auch die bildende Kunst möge
demselben sich weihen, daher keineswegs verwerflich. Wenn die Leistungen
der letzteren einen Wiederhat! in unsern Herzen wecken sollen, so müssen auch
sie ihrerseits einen offenen Sinn bewahren für alles, was uns erregt, ergreift.
begeistert. Der Beweis, daß die sogenannte Profangeschichte der poetischen
und malerischen Stoffe eine große Fülle in sich berge, bedarf wol nicht an¬
getreten zu werden, dagegen muß die Forderung Wut werden, daß in der
Schilderung unserer Vergangenheit nicht blos äußere Treue, sondern auch
innere Wahrheit herrsche, die Charakteristik vor sicherer Individualisirung nicht
zurückschrecke, vor allem aber den Ausdrucksmitteln der Malerei, die allein
das Innere der dargestellten Helden bloßlegen und unsere Empfindung packen,
die höchste Aufmerksamkeit zuwenden werde.^ Die weisen Männer der Kritik,
die sich blöd darüber wundern, daß sür die Beurtheilung von Gemälden so
viel vom Maler gesprochen wird, müssen wissen, daß es sich hier nicht etwa
blos um ein größeres oder geringeres Maß technischer Geschicklichkeit handle,
sondern daß jene Farbenpoesie gemeint ist. welche in die Schilderung erst die
rechte Stimmung bringt und die Charaktere über die gewöhnliche Alltäglich¬
keit erheöt.
Für viele uuserer Künstler besitzt aber die Vergangenheit leider keinen
andern Reiz, als daß sie die Flucht aus der Gegenwart erleichtert. Von
Kindesbeinen an werden wir gelehrt, die ästhetische Seite unseres Lebens ge-
nng zu achten, die absolute Unfähigkeit der Gegenwart zur künstlerischen
Verklärung .wird feierlich zum Dogma erhoben, Verspottung derselben als
das richtigste Merkmal feinerer artistischer Bildung angesehen. Daß die Wahr¬
heit eines solchen Glaubens uns überhaupt das künstlerische Vermögen rau¬
ben würde, und alle diese üblen Eigenschaften der Gegenwart dem Künstler,
auch wenn er sich in die fernsten Zeiten zurückslüchtct, auf dem Fuße nach¬
folgen möchten, hat man noch niemals bedacht. Besäßen unsere Historienmaler
nur die Hälfte des Muthes, der unsere Landschaftsmaler auszeichnet, hätten
sie die Energie, unbefangen zu beobachten und abgegriffene ästhetische Begriffe
zu vergessen, es würde sich die Meinung über den künstlerischen Werth des
gegenwärtigen Lebens bald anders stellen und die Ueberzeugung, nur in Plu¬
derhosen oder Brustharnisch sei eine männliche Gestalt malerisch brauchbar,
zum Wanken gebracht werden. Zeigt denn diesen „Gewandhubern". die die
Malerei zur Costümdarstcllung herabsetzen, nicht der einfache Volksinstinct die
falsche Fährte, die sie eingeschlagen? Wie kommt es. daß alle diese Conra-
dins und Tillys, diese Fürsten, die sich das Todesurtheil verkündigen lassen
oder aus der Haft entlassen werden, nicht zünden, nicht nur keine Theilnahme,
sondern nicht einmal die äußerlichste Aufmerksamkeit auf sich ziehen, daß auf
aydern Seite z. B. des trivialen Feuermüllers oder des doch wahrlich
künstlerisch nicht hochstehenden Flüggen Schilderungen weite Kreise fesseln.
d>e Sympathie anregen/ die Phantasie der Beschauer mit sich reißen? Das
Volk, dankbar, daß es selbst, seine lebendigen Glieder zum Gegenstand der
künstlerischen Darstellung gewühlt wurde, vergißt auch die Trivialität und den
geringen Kunstauswand und findet darin zwar getrübte, aber doch kenntliche
Spiegelbilder seines Wesens. Wenn einmal der Mann kommt, der unser Volk bet
der rechten Seite seines Wirkens und Leidens erfaßt, so werden wir staunen
über unsere Blindheit, die dort nur Prosa und geisttötenden Materialismus
wnhnte, die Trivialität der Darstellung unabwendbar glaubte und die Quellen
reicher lebendiger Poesie nicht erblickte. Schon auf dieser Ausstellung stoßen
wir auf ein treffendes Zeugniß, daß auch unmittelbar gegenwärtige Motive,
wenn sie nur ein echter Künstlergeist ergreift, die Idealität des Gedankens
nicht ausschließen. PH. Foltz hat eine Bauerfrau mit ihrem Kinde in un¬
gewöhnlich großen Dimensionen gemalt. Eine junge Mutter war mit dem
Säugling ihrem Mann auf die Wiese nachgcwandert. Hier auf dem Grase
gelagert, hatte sie den prächtigen Jungen sich an der Brust satttrinken lassen.
Wir sehen sie im scharfen Profil, wie sie trunken vom Glücke jauchzend ihr
Kind erhebt, es hoch in der Luft zappeln läßt und die volle Seligkeit des Mutter-
gefühlcs genießt. In der Ferne, an die Sense gelehnt, in einem Augenblicke
der Rast, steht der Gatte, voll Antheil an dem wonnigen Schauspiel. Diese
Bauerngruppe ist auch eine heilige Familie, der Born von Poesie, den die
Anschauung der Mutterliebe und des Mutterglückes gewährt, tief erschöpft,
der Ausdruck der Holdseligkeit unübertrefflichwiedergegcben. Für dieses Bild
aus dem Volke gibt jeder Unbefangene die hochtrabenden Scenen aus dem
Mittelalter, dem Bauernkriege u. s. w. (schon in dieser Wahl ganz allgemei¬
ner nichtssagender Situationen gibt sich die Nüchternheit der Auffassung kund)
willig her. Wer es mit dem Realismus redlich meint, kann gegen diese seelen¬
losen, trockenen Schauscenen — historisches Genre nennen es höfliche Leute
— nicht scharf genug sich aussprccheii. Für alle die zahlreichen Enttäuschungen,
welche die Betrachtung profangeschichtlicher Bilder bietet, kann nur die An¬
schauung des Wirklich großen Fortschrittes, den grade dieser Zweig der
Malerei in dem letzten Jahrzehnt erfahren hat, Ersatz gewähren. Wir können
auch gegenwärtig auf kein vollendetes Werk in dieser Richtung hinweisen;
wenn wir aber die jüngsten Leistungen der Historienmalerei mit den berühm¬
ten Werten der früheren Jahrzehnte vergleichen, so fühlen wir, daß eine
ernste, vielversprechende Entwicklung hier sich offenbart. Man braucht gar
nicht Kochs Landsturm, oder Tischbeins Conradin heraufzubeschwören, man
stelle nur berühmte historische Bilder aus den dreißiger und vierziger Jahren
mit Pilotys Gründung der Aga, Die dz' Zerstörung von Heidelberg. Menzels
Ueberfall bei Hochkirch, Leutzes (auf der Ausstellung leider nicht vorhandenen)
Washington zusammen, um die mächtige Entwicklung, welche dieser Kunstzweig
in kurzer Zeit erfahren hat, zu erkennen. Wo hatten wir denn die Augen,
als wir Rubens Columbus und vollends gar Schorns Wiedertäufer als be¬
deutende Leistungen bewunderten? Das letztere Bild mit seinen farblosen
Physiognomien, seiner schülerhaften Zeichnung, seinen allgemeinen Blondinen
und Brünetten, seinen hier mit rothem Bart, dort mit schwarzem Bart mas-
kirten Modellen erregt gegenwärtig nur Lachen. Sage man ja nicht, die Werth¬
schätzung solcher historischer Gemälde hänge von der Mode ab und was wir heute
über Schorn stellen, werde morgen ebenso verspottet werden. Die neueren Bilder
sind nicht blos Mders, sondern wesentlich besser als ihre Vorgänger. Die
Auffassung ist ernster und wahrer, die Charakteristik lebendiger und eingehender,
die Phrase, die abstracten allgemeinen Kopfe, die bloßen Costümsigurcn min¬
der vorherrschend geworden. Die Gruppe des Blinden.und der auf den
Treppensteig Flüchtenden in dein Bilde von Dietz. das lebendige Getümmel
der aufwärts ziehenden französischen Scharen, einzelne Köpfe (freilich nur von
Nebenfiguren) auf Pilotys Gemälde sind nicht blos relativ gut, sondern an
und für sich vortrefflich. Könnten diese Männer sich von dem Aberglauben frei
machen, jedes Kunstwerk verlange stilistische Einschiebsel und blos raumaus-
süllende Figuren, könnten sie die Chorknaben, die Pagen und Knappen, die
nichts thun als langweilig dareinschauen. und den besten Raum wegnehmen,
aus ihrer Phantasie verbannen, hätten sie keine lächerliche Furcht vor naivem,
lebendigem Erfassen der Situation, vor dramatischer Concentration der Hand¬
lung, der Fortschritt wäre noch größer, die Freude und der Genuß des un¬
befangenen Beschauers noch rückhaltloser. Jedenfalls, wenn man das Schick¬
sal des Idealismus seit Carstens und die Fortschritte des Realismus seit
zwanzig Jahren zusammenhält, kann man gar nicht zweifelhaft sein, für welche
Richtung die Götter streiten, wo allein der energische, stetige Fortschritt sich
kundgibt, und wo eine lebendige, ernste und energische Entwicklung mit Be¬
stimmtheit erwartet werden kann.
Wollte man in einer Art Tribuna die Perlen der Ausstellung vereinigen,
und unter Kunstkennern wie im übrigen Publicum die Stimmen sammeln,
um zu erfahren, welchen Werken die allgemeine Meinung den Preis der Voll¬
endung zugesteht, so würden über gar manche Bilder die Meinungen schroff
auseinandergehen. An Gustav Richters Auferweckung von Jairus Töchter¬
lein, z. B. preisen bekanntlich die Einen die Humanisirung der religiösen
Geschichte; der Ausdruck unendlicher Liebe und wahrhaft göttlichen Erbarmens
im Christuskopfe, die jeden äußern Gegenstand durchdringen, zu sich emporziehen
und mit dem eignen Leben verschmelzen, dünkt ihnen musterhaft für die künst¬
lerische Behandlung des an sich spröden und unsinnlichen Motives, die Andern
jucken mitleidig die Achseln über den „Magnetiseur". zu dem Christi Gestalt
herabgewürdigt wurde, und meinen, der auf theologischen Gebiet längst be¬
ugte Rationalismus habe Zeit und Mittel schlecht gewählt, um sich in die
Kunst einzunisten. Die hier wahrgenommene Auffassung biblischer Scenen
kann zwar nicht den Ruhm unbedingter Neuheit für sich in Anspruch nehmen,
unter den Franzosen ist dieselbe schon lange eingebürgert, außer andern na¬
mentlich von Ary Scheffer in zahlreichen Werken bethätigt worden, bei uns
geht aber die Vorliebe für religiöse Stoffe mit gläubiger Gesinnung so regel¬
mäßig Hand in Hand, daß es nicht wundern darf, wenn die entgegengesetzte
Schilderungsweise Aufsehen erregt und über der Erörterung der Principien¬
frage die Anerkennung der tüchtigen Malkraft, die sich vielleicht noch vollendeter
in einem ausgestellten Frauenbildnisse G. Richters offenbart, vergessen wird.
An einem andern Werte wird die Wahl des Motives an und für sich schon
die Parteileidenschastcn anfachen. Pilotys Gründung der Liga kann so
wenig die Sympathien der Protestanten für sich erwerben, als Jaroslav
Czermaks Schilderung, wie im siebzehnten Jahrhundert der Katholicismus
in Böhmen wieder eingeführt wurde, hoffen darf, trotz der seltenen technischen
Gewandtheit und der naiven Charakteristik der durch Heiligenbilder verführten
Hussilenkiuder die kirchlich Gläubigen zu befriedigen. Niedels Genrefiguren,
die kokette Sakuntala, die sauber gewaschene neapolitanische Fischerfamilie u. a.
werden zwar von Vielen mit Bewunderung betrachtet werden, sie sind an¬
genehm dem Auge, strengen den Geist nicht an, und erfüllen vollkommen alle
Bedingungen, welche triviale jUmstfreunde an die Malerei stellen, schwerlich
werden sie aber den Preis vor jenen erlangen, welche den Maler nicht mit
dem Theaterschneider verwechseln, und das Geschick, dasselbe Modell heute in
dieses, morgen in ein anderes Costüm zu hüllen, von poetischer Begabung
trennen. So wird in zahlreichen Fällen bald das Motiv, bald die malerische
Form Anstoß erregen, das Urtheil unsicher hin- und herschwankten. Ein Werk
jedoch wird nicht allein von allen, sondern auch von allen zuerst als die Perle der
Ausstellung genannt und mit Jubelruf auf den Ehrenplatz getragen werden.
Das ist sah Wirth Verkörperung des Märchens von den sieben Raben und
der Neuen Schwester. Schwind hat bekanntlich von der artistischen Variation
des Sprichwortes: Irren ist menschlich, von dem unveräußerlichen Künstler-
rechte, auch einmal schwache Werke zu schaffen, keinen allzukargen Gebrauch .
gemacht. Noch sein letztes Gemälde: der Grabritt Rudolfs von Habsburg
bereitete seinen Freunden keine geringe Verlegenheit. Sie zweifelten nicht an
der genialen Kraft seiner Phantasie, sie bewahrten ihre Ueberzeugung, daß
Deutschland keinen größer» Künstler besitzt; aber diesem hölzernen Kaiser, die¬
sen hölzernen Rittern und Bauern gegenüber konnten sie im besten Falle nur
stumm sich verhalten. Doch wer denkt jetzt noch daran, wem ist noch im An¬
gesicht des Rabenmärchens die Muße gegeben, sich des illuminirten Ritter
Kurt, der tarikirten Sänger aus der Wartburg, der langweiligen Einweihung
des freiburger Münster zu erinnern. Die sieben Raben Schwinds erzählen
nicht blos ein Zauberniärchen. sie sind selbst ein Zauberwert. daß den Sinn
gefesselt hält und jeden, der seine Kreise betritt, alles Uebrige in der Welt
vergessen inachi. Wir vernehmen, daß Schwind bereits vor fünfzehn Jahren
sich mit diesem Bildmotive beschäftigt hat. ohne aber gleich die reckte Form
der Verkörperung zu finden. Erst bis ihm auch die feinsten Züge des Mär¬
chens lebendig vor der Phantasie standen und seine Empfindung das geheim-
nißvolle Wesen des Motives vollkommen bewältigt hatte, schritt er an die
Ausführung, die in überraschend kurzer Zeit zu Ende gebracht wurde. Auf dieje
Art kam die reise Weisheit und die unmittelbare Begeisterung gleichmäßig zu
ihrem Rechte, im vollkommnen Gleichgewicht finden wir sie auch in dem Werte,
dem besten, das Schwind bis jetzt' geschaffen. Wir kannten schwind schon
längst als einen Meister naiver Schilderung, wir schätzten in ihm und Ludwig
Richter, der leider auf der Ausstellung nicht den ihm gebührenden Raum — und
ein Ehrenplatz mühte es sein — einnimmt, die seltene Befähigung, einen recht
volksthümlichen Ton einzuschlagen, und ihre Gestalten aus unserem besten
Marke zu schneiden. Schwind halte sich noch den rechten Humor gerettet, der
das Kleine erhebt, ohne das Große zu verlästern, ihm war vor allem die
Gabe verliehen, zu unserm Herzen zu sprechen und unsere Empfindungen
lebendig zu erregen. Charaktere, die ein rauhes Schicksal etwas aus dem
Lotse gebracht, welche aber in ihrer abgeschlossenen Besonderheit doch noch
feststehen, versteht niemand so wahr und ergreifend zu schildern wie Schwind.
Aber die Fvrmsrcudigkeit. den Sinn für großartige oder rein anmuthige Be¬
wegungen hat Schwind niemals noch so glänzend entfaltet als in dem Rabcn-
märchen, niemals auch alle seine positiven Eigenschaften und Vorzüge so har¬
monisch vereinigt, wie diesmal.
Das erste Bild des aus fünfzehn Feldern bestehenden Aquarcllcyklns zeigt
uns oben, leicht skizzirt die einleitenden Scenen des Märchens, unten eine
Märchcnerzählerin. umringt von einem reichen Zuhörerkreise, von dem wir ver¬
muthen, daß in ihm der Meister alle seine Lieben verewigt hat. Diese gemalte
Widmung fällt vielleicht ein wenig aus dem Nahmen, der das Ganze um-
spmrm. heraus, doch respectiren wir sie als eine wahrhaft innige Herzens-
ergießung und halten mit jeder weitern Bemerkung zurück. Bei der Verviel¬
fältigung des Werkes im Stiche, die uns hoffentlich nicht lange wird vorent¬
halten bleiben, dürfte ohnehin das erste, blos für den engern Freundeskreis
des Künstlers bestimmte Bild ausfallen. Das zweite Bild hebt die Geschichte
der getreuen Schwester, die ihre Brüder durch beharrliches Spinnen und
Schweigen erlöst, von dem verhängnisvollen Augenblicke an. wo die Einsame
"on den, nahenden Jagdzuge entdeckt wird. Wir lassen den lustigen Jäger-
^oh an uns vorübereilcn. verweilen aber desto länger bei dem dritten Felde.
Schilderung des Königssohnes. der mitten im Waldesgrün die reizende
Jungfrau aussuchet. Walther von der Bogelweide kann nicht zarter und seelen-
voller von der minniglichen Mädchenschönheit singen, als sie hier Schwind in
-*
einfachen, aber unendlich anziehenden Zügen zeichnet. Keusch und sittsam, in
ihr goldenes Haar gehüllt, sucht sie sich den Blicken, in welchen bereits Liebes¬
feuer entglimmt, zu entziehen. Doch vergebens. Im nächsten Bilde sehen
wir die Jungfrau bereits, von den Armen des Jünglings gestützt, ihr Versteck
verlassen, geleiten sie weiter in dasKönigsschloß und wohnen der Brnutschmückung
bei. Ueber alle diese Bilder weht ein Hauch der Anmuth und der Lieblich¬
keit, alle Formen und Bewegungen durchzieht ein Wohllaut, wie er kaum besser
und reiner gedacht werden kann. Gleich einer h. Elisabeth gewahren wir im
siebenten Felde das junge Königsgemal am Arme des (vielleicht nicht genug
individualisirten) Gatten Almosen austheilen. War es in den vorangehenden
Bildern der lautere Schönheitssinn, den wir an dein Meister bewunderten, so
fesselt uns hier die ergreifende Charakteristik der Bettlergruppe. Hunger und
Elend, körperliche Krüppelhaftigkeit und geistige Verwahrlosung treten uns in
schneidenden Gestalten entgegen. Welch entsetzlicher Jammer blickt nicht na¬
mentlich aus den Zügen des vordersten Bettelknaben! Nur ein Nest von
menschlicher Form ist ihm übriggeblieben, um die Verthierung, die Stumpf¬
heit desto unheimlicher hervorzuheben. Aus der grellen Wirklichkeit führt uns
das nächste Bild in eine nächtliche Kummcrwelt. Das beharrliche Schweigen
hat die getreue Schwester schon längst verdächtigt, selbst der Gatte kann sich
des Mißtrauens kaum erwehren, als er sie in nächtlicher Stille, statt an sei¬
ner Seite ruhend, emsig die Spindel drehend gewahrt. Geistreich ist hier in
der Färbung ein grauer, nebelhafter Ton angeschlagen, indem er das Geister¬
hafte der ganzen Erscheinung andeutet, und so die späteren Vorgänge, die
Nachgiebigkeit des Königssohnes gegen die Ankläger der Zauberin motivirt.
Im neunten Bilde tritt die Katastrophe ein. Die schweigsame Königin hat
ein Zwillingspaar geboren, unter den Händen der Hebamme fliegen sie aber
als putzige Naben empor. Schrecken und Entsetzen malt sich in den Zügen
der Umstehenden. Während die Einen überrascht von der ungeahnten Ver¬
wandlung furchtsam die ungeschickten Nabenjnngen abwehren, haben die An¬
dern bereits den bösen Zauber gerochen und ihr Urtheil über die unglückliche
Mutter, die im Hintergrunde ruht, und resignirt zur herbeigeeilten Fee blickt
gefällt. Die zahlreichen Beschauer, die namentlich dieses Bild mit stets frischer
Theilnahme betrachten, glauben zuerst, es gehe nichts über die Lebendigkeit
und echt dramatische Kraft der Schilderung der vordem Gruppen. Erblicken
sie aber die Wöchnerin, die, noch verschönt durch das Muttergefühl, so still
und innig ihrem Schicksal entgegenharrt, bei welcher selbst der Kampf zwischen
Mutter und Schwesterliebe nicht die ursprüngliche Holdseligkeit trüben kann,
so begreifen sie nicht, wie sie noch für eine andere Gestalt auf dem Bilde ein
Auge haben können. Je länger sie aber in der Anschauung beharren, und
nur gewaltsam kann man sich von dem Werke trennen, desto klarer wird die
Ueberzeugung von der Einheit der Komposition, von der tiefen Wechselwirkung
der beiden Handlungen. Das ist es eben, was wir an diesem Meisterwerke
so hoch preisen, daß Schwind niemals seine Kraft mißbraucht, seine besonde¬
ren Vorzüge nicht auf Kosten der Wahrheit voranstellt, die Einfachheit in Ge¬
danken und Formen nicht verschmäht. Es folgt das Vehmgericht. der rüh¬
rende Abschied vom Geliebten und die Vorbereitung zum Tode. Bei aller
Sympathie für die verfolgte Unschuld wird man die Gestalt des dicken Kerker¬
meisters nicht ohne Befriedigung betrachten können. Nur eine einzige Stunde
fehlt noch, um die sieben Jahre voll zu machen und die verzauberten Brüder
zu befreien. Die Fee mi,t dem Stundenglase erscheint in den Lüften und spricht
der Bedrängten Muth zu. Eine gute Hilfe leisten nun aber die Bettler, die
ihre Wohlthäterin nicht verlassen mögen. die Kcrkcrthür stürmen und dem
Vollzuge der Hinrichtung ein mächtiges Hinderniß entgegensetzen. Es sind die¬
selben Gestalten und Köpfe, die wir schon auf. dem siebenten Bilde erblickten,
aber das Abstoßende und Unheimliche ist dennoch verschwunden, die Dankbar¬
keit hat die Züge verklärt, die Hoffnung, retten zu können. Hunger und Elend
und Siechthum vergessen lassen. Dank dieser Verzögerung verrinnt die letzte
Prüfungsstunde, die Raben werden mit den von der getreuen Schwester ge¬
sponnenen Hemden bekleidet, entzaubert und eilen nun auf milchweißen Rolfen,
von der Fee. einer wunderbar mächtigen, stolzschöncn Gestalt geführt, herbei,
um die Schwester vom Brandpsahle loszuhauen. Das sturmgleiche Heran-
brausen der Brüder, der Liebesschmerz des Königssohnes, der am Fuß des
Scheiterhaufens in sich verloren kniet und wenn auch nur vom Rücken ge¬
sehen, dennoch eine der sprechendsten Gestalten bildet, der Volksjubel über die
Befreiung, die komische Hast der flüchtenden Henker, all das Wogen und
Drängen, der plötzliche Wechsel in den Empfindungen sind trefflich wiederge¬
geben und stempeln dieses Bild zum würdigen Schlußsteine des ganzen
Werkes.
Man kann dasselbe zwar keiner der bestehenden Facultäten einordnen,
es zeigt weder anatomische Kenntnisse.'noch philosophische Gelehrsamkeit, noch
theologische Mystik. Dafür wird es von jener Weisheit getragen, die das
einfach kindliche Gemüth, wie die gereiste Lebenserfahrung gleichmäßig erfreut.
Kein reicher Verstand spricht aus demselben, desto reiner waltet in ihm die
"aive Phantasie; keine glänzenden Phrasen schmücken dasselbe, dagegen besitzt
^ den Reiz inniger Poesie und eines freudigen frischen Sinnes für die leben¬
dige Realität, die wir beinahe schon verloren wähnten. Mit einem Worte,
Schwind hat uns mit einem Kunstwerk beschenkt, das uns in die besten
Zeiten der, Vergangenheit zurückversetzt, und besser als alle andern berühmten
Schöpfungen unsrer Tage die Eigenthümlichkeit und Stärke des deutschen
Kunstgeistes offenbart. Der Jubel, den es in allen Beschauern hervorruft,
die ganz allgemeine Begeisterung, die es wirkt, gehört zu den tröstlichen Zei¬
chen der Zeit, und beweist, daß für das echt Schöne und wahrhaft Künstlerische
unser Sinn trotz der Irrungen, denen er ausgesetzt war und bleibt, nicht er¬
st
Es kann als ein charakteristischer Unterschied zwischen den Anlagen der
englischen und französischen Seesestungcn gelten, daß England seine Verthei-
digungswerke so erbaue, daß sie den unmittelbaren Eingang in den Hafen
und diesen selbst nach allen Seiten mit Geschützfeuer bestreichen. während die Ver¬
theidigung der vorliegenden Rhede hauptsächlich den Schiffen überlassen bleibt,
daß man diese also so spät wie möglich in den Hafen einschließt, während
Frankreich schon die Rhede durch detachirtc Forts zu vertheidigen sucht und
seine Schiffe vor überlegenen Flotten zeitig im Hafen birgt. Die Briten
legen fast nie Batterien auf den Enden der Molen oder Hafendnmme an,
während dies die Franzosen überall thun; die Briten halten das Feuer der
Schiffe dem der Landbattcrien, die Franzosen das letztere dem ersteren überlegen,
und nach den neuesten Erfahrungen möchte man ihnen hierin Recht geben. Von
diesem Gesichtspunkt aus müssen wir auch Portsmouth und seine Rhede von
Spsthead betrachten, um den charakteristischen Unterschied zwischen der Anlage
dieser Festung und der von Cherbourg aufzufinden. Portsmouth. der größte
britische Kriegshafen am Kanal, ist gegen die Angriffe einer feindlichen Flotte
durch die Natur so geschützt, wie so leicht kein zweiter, und zwar durch die
vorliegende Insel Wight, welche die ganze Fronte desselben deckt. Schon Hein¬
rich III. richtete seine Aufmerksamkeit auf diesen Hafen, und seit dieser Zeit
ward er nach und nach das, was er jetzt ist. und selbst in der neuesten Zeit
hat man viel gethan, ihn zu verstärken. Die Einfahrt in denselben kann
nur von Osten oder Westen aus erfolgen, auf beiden Seiten ist sie großen
Schiffen nur zur Zeit der Flut und trotz der ausgelegten Boyen nur mit Hilfe
von Lotsen möglich. Vertheidige ist sie von detachirten kasemattirten Forts,
die sowol ans Wight als auch auf dem Festland von England liegen und
das Wasser mit rasirendem Feuer bestreichen. — Die Festung selbst besteht
aus drei selbstständigen Theilen. Portsmouth. Portsea und Gosport. die so
angelegt sind, daß sie sich gegenseitig vertheidigen. Die Werke nach der Land¬
seite sind theilweis mit nassen Gräben umgeben, und überhoben das »in¬
liegende Terrain innerhalb der Kanonenschußweite. Die nach dem Hafen zu
bestehen aus soliden taseinattirten Batterien, die sich so secundirenj und das
Wasser so vestrcichen. daß eine Einfahrt in denselben nicht möglich ist. >o
lange sie nicht in Trümmer gelegt sind, was um so schwieriger ist. als ihre
Hauptfronte dem directen feindlichen Feuer gänzlich entzogen ist. Hafen und
Rhede von Spithead sind so geräumig, daß die größten Flotten Platz finden,
die Arsenale so vollständig, daß man Schiffe mit allem Nothwendigen ver-
sehen kann, nur sind die Geschütze, womit die Werke armirt sind, etwas zu
leicht, da in den letzten Jahren alle Seemächte sichs angelegen sein ließen. ih>c
Schiffe so schwer als mögliey zu bewaffnen. Die Erfahrungen, welche man
im letzten russisch-türkischen Kriege machte, benutzend, hat man viele deta-
chirte Batterien auf Wight angelegt, von denen eine der größten unweit der
Needles liegt. Sollte eine feindliche Flotte bis hierher vordringen, so würde
doch die Schwierigkeit des Fahrwassers, das, wenn die Bouen zurückgenom-
men und keine Piloten zu bekommen sind, kaum zu finden sein dürfte, ihre
weiteren Fortschritte hemmen. Es bliebe in diesem Falle dem Feinde nichts
übrig, als sich der Insel Wight zu bemächtigen, und von ihr aus. nachdem
die Strandbatterien genommen sind. Rhede und Hasen zu beunruhigen.
Wollte Frankreich diesen Hasen paralysiren. so mußte es mit ungeheuren
Kosten einen seiner Küstenpunkte in dieser Gegend befestigen. Dies ist ge¬
schehen. Cherbourg war schon seit lange bestimmt, ein französisches Ports¬
mouth zu werden, und es hat sein Muster und Borbild sogar übertroffen. Es
ist ein Seehafen ersten Ranges errichtet, der England die Herrschaft im Ka-
nal streitig zu machen geeignet ist. Cherbourg kann als Sammelpunkt für
offensiv vpenrenoe Flotten benutzt werden und zugleich als Rückzugsplatz für
geschlagene dienen, und seine Seenrsenale sind so ausgerüstet, daß sie nicht
»ur defecte Schiffe wieder herzustellen vermögen, sondern daß sie alle Mate¬
rialien und Anstalten enthalten, um neue zu bauen, ohne deshalb der Hilfe
anderer Werften in irgend einer Weise zu bedürfen. Wir sagten, der Zweck
dieses Hafens sei ebenso gut ein offensiver als ein defensiver. Hätte man blos
das Letztere erreichen wollen, so würde man ihn nicht mit so ungeheuren Ko¬
sten in so großer Nähe der englischen Küsten angelegt haben, gewiß nicht
größten britischen Kriegshafen Mnkittelbar gegenüber, gewiß nicht an
dem vvlsvnngcndsten Punkte der Küsten der Bretagne. Namentlich macht
die Eisenbahnverbindung, so wie die Einrichtungen, die offenbar getroffen'
sind. Truppen nicht blos möglichst rasch heranzuziehen, sondern auch mit
Leichtigkeit und Bequemlichkeit einzuschiffen, den Eindruck einer Offensiv-
festung; denn bei der Stärke der Fvrtisicationen an und für sich bedarf man
ersterer Anstalten zu ihrer bloßen Vertheidigung wahrlich nicht. — Die Be¬
festigungen umschließen die Stadt vqn allen Seiten, es liegt diese in einer
Ebene am User und hat rings Höhen hinter sich. Westlich von der Stadt
liegt, diese an Ausdehnung bei weitem übertreffend, der Kriegshafen mit
seinen Docks und Arsenälen, im Centrum die Rhede mit den sie schützenden
Molen, östlich ein hoher grauer Felsen, La Route, auf dem die Citadelle er¬
baut ist. welche die ganze Festung. Hafen und Rhede beherrscht. Ein ba-
stionirter Wall umgibt in Form eines Halbcirkels die Hafenetablissemcnts nach
der Landseite und lehnt sich mit seinen Flanken an das Meer; er hat nach
ersterer nur ein sehr stark befestigtes Thor. Das große, 70 Fuß tiefe Bassin
ist künstlich durch Aufsprengen von Felsen hergestellt, und hat an seinen
Seiten sieben Docks, welche durch Schleußenthore mit ihm in Verbindung
stehen, und die sowol zur Ausbesserung als zum Neubau von Schiffen benutzt
werden können. Der Molo, welcher die innere Rhede abschließt, ist ein wahres
Riesenwerk, er dient nicht blos dazu, die hinter ihm vor Anker liegenden
Kriegsschiffe vor Sturmfluten zu schützen, sondern ganz wesentlich die An¬
näherung feindlicher Flotten zu hindern, zu welchem Zwecke vier starke Forts
auf ihm angelegt sind, deren drei mit 60, das vierte mit 35 Geschützen be¬
waffnet ist.
Jedes dieser Forts hat zwei Etagen Kasematten, eine dritte Reihe Ge¬
schütze feuert von der Plattform aus. Hierbei ist ein Hauptvortheil, den sie
gewähren, nicht zu übersehen. So lange sie nämlich nicht vom Feinde genom¬
men sind, wird es diesem unmöglich, den Kriegshafen selbst und die daran
stoßenden Marineetablissements zu beschießen und zu zerstören. Den Eingang
des Hafens selbst vertheidigen mehre stark armirte Forts. Das Kaliber ihrer
Geschütze ist ein sehr schweres; ganz analog den Ansichten des Kaisers, die
er in dem Werke über Artillerie aussprach, und die er auch bei den Feld¬
geschützen durch Vergrößerung der Kaliber in Anwendung brachte, siud es
nur 64psündige Kanonen und ivzöllige Mörser. — So große Geschütze
mcmipuliren sich allerdings etwas schwer, doch haben sie gegen Schiffe eine
sehr bedeutende Wirkung. Die englischen Küstenbatterien sind viel leichter be¬
waffnet, in der Regel nur mit langen Zweiunddreißigpfündern, ja mit noch
kleineren Kanonen, während die englischen Schiffe größere Geschütze tragen.
Man findet in Portsmouth, Dover und Weymouth Batterien, die blos mit
Achtzehn- oder kurzen Vierundzwanzlgpfündern bewaffnet sind. Man sieht den
Fehler, den man damit beging, jetzt ein, und von Woolwich werden jetzt so
viele Achtundsechzigpfünder dahin abgesendet, als man eben vorräthig hat
oder fertig machen kann.
Sämmtliche Forts in Cherbourg sind so angelegt, daß sie ebenso wol
sich selbst flankircn, als auch die Außen- und Jnncmhede und den Hafen mit
kreuzenden Feuer bestreichen, und die Citadelle la Route kann ihre Geschiitz-
massen auf jeden beliebigen Punkt richten. — Der Ausgangspunkt der Eisen¬
bahn mit seinen Etablissements liegt am Fuße dieses Felsens, gänzlich unter
dem Feuer der Batterien der Citadelle. Ebenso wie Cherbourg durch diese
mit Paris, ist Portsmouth durch eine solche mit London verbunden und kann
namentlich dadurch, daß diese nahe an dem Lager von Aldershott vorüber¬
führt, von da rasch Truppen zu seiner Verstärkung heranziehen. Indeß hat
die Verbindung mit London darum weniger Werth als die Chcrbourgs mit
Paris, weil letzteres befestigt und ein militärischer Centralpunkt ist. während
London, eine offene Stadt, Schutz und Hilfe von seinen Festungen verlangt,
diesen aber leine Unterstützung zu gewähren vermag. Wir komnTen hier
auf den Werth von Centralfestungen zurück, ohne welche Secscstungeu bedeu¬
tend am Werthe verlieren. Immer sind diese, mögen sie noch so stark be¬
festigt sein, überlegenen feindlichen Angriffen ausgesetzt, und werden denselben
endlich unterliegen, wenn sie nicht vom Lande aus gehörig unterstützt wer¬
den. — Hierfür ist die Belagerung von Sebastopol das beste Beispiel; es
wurde sogar trotz dieser Unterstützung, die stets von der nordöstlichen Seite
aus erfolgte, genommen. Fehlen nun Centmifestnngen gänzlich, wie hierin
England, so muß der Fall einer Scesestung von den traurigsten Folgen be¬
gleitet sein. Das Land liegt alsdann den Fortschritten des Feindes offen,
eine Verlorne Feldschlacht gibt es dem Feinde Preis, denn die geschlagene
Armee findet keinen geschützten Sammelplatz, keine befestigten Depots, um
ihre Verluste an Mannschaft und Kriegsmaterial zu ersetzen, und es ist unter
diesen Umständen nur zu leicht möglich, daß'sie gänzlich vernichtet wird. Der
Einwand, daß im Jahre 1806 die Festungen Preußen durchaus nicht geschützt
hätten, ist nicht maßgebend, denn sie wurden größtenteils gar nicht, oder
sehr schlecht vertheidigt; nnr wenige machten davon eine rühmliche Ausnahme.
Napoleon I. wußte dies sehr wohl und deshalb mußte Carnot sein Werk über
Vertheidigung von Festungen schreiben. — Die vorspringende Landzunge, auf
welcher Cherbourg liegt, bildet die östliche Grenze der Bucht von Se. Michel,
in deren Hintergrund das stark befestigte Se. Malo liegt, das nothwendig ist.
um die Bucht selbst zu decken und die vorspringende Landzunge der Bretagne
zu flankiren. Dieser Bucht gegenüber liegt der zweite groHe britische Kriegs¬
hafen. Plymouth. Die Mündung des Pipa und Tamar bilden hier eine
breite Bucht, welche befestigt als Hafen benutzt wird. Vor dieser liegen die
5-^0 Fuß langen Molen, welche, da sich auf ihnen keine Forts befinden,
nur den Zweck haben, die Rhede vor Sturmfluten zu schützen. Der über eine
englische Meile breite Hafen dürfte einer feindlichen Flotte schwerlich,, ohne Unter¬
stützung der eignen, bedeutenden Widerstand leisten, er ist mehr eine Flottcn-
station, als eine Seefeste, und seine Arsenale sind einzig und allein zum
Ersatz erlittener Schäden, nicht aber zum Neubau von Kriegsschiffen bestimmt.
Weiter westlich befindet sich weder ein englischer, noch ein französischer Kriegs¬
hafen am Kanal.
Die Engländer nehmen jetzt an, daß sie von drei Seiten aus gegen Cher-
bourg operiren könnten, und zwar mit Hilfe der, Flotten von Plymouth,
Portsmouth und Shecrneß, daß sie infolge dessen auf concentrischen Opcrativns-
linien vorgehen würden, während die Franzosen bei einem Landungsversnch
von hier aus zwischen diese gerathen, folglich in eine sehr unangenehme Lage
kommen würden. Dies beruht aber auf einer Täuschung; denn auch die Fran¬
zosen haben zwei äußere starke Punkte, von denen sie aussegeln können,
DünlirchHn und Brest, welche die Engländer wieder auf innere Operations¬
linien zurückwerfen. Bis jetzt hat allerdings die französische Flotte die eng¬
lische an Macht und Größe nicht erreicht, dafür ist sie aber auch nicht ge¬
nöthigt, in so vielen Meeren Kriegsschiffe zu halten und sich infolge dessen
so zu zerstückeln, als letztere, und daß sie in der Neuzeit euren riesigen Auf-
schwung genommen hat, kann niemand in Abrede stellen; ebenso wenig kann
man voraussagen, wenn Frankreich mit dieser neuen Schöpfung aufhören
wird; vor der Hand hat es durchaus nicht den Anschein, als sollte dies so
bald geschehen.
Sobald das englische Gouvernement diese Nothwendigkeiten nicht einsieht,
wird c's früher oder später alle Ursache haben, die Vernachlässigung zu bereuen.
Man weiß, daß die Allianz zwischen den Cabincten von London und Paris
in den Herzen der Böller nicht Wurzel geschlagen hat, daß der alte National-
haß nicht erloschen ist, und wenn die Presse irgend der Ausdruck der Gefühle
der Nationen ist, so braucht man nur die Zeitungen beider Länder zu lesen,
um sich von der Wahrheit unserer Ansicht zu überzeugen. Der Besuch in
Cherbourg, die bei dieser Gelegenheit gewechselten Reden stoßen diese nicht
um, und fast möchten wir sagen, daß man jetzt schon auf den Punkt ge¬
kommen ist, wo man sich die Zähne weist; denn gleich nach der Rückkehr der
Königin, erhielt das Arsenal in Woolwich Befehl, so rasch als möglich schwere
Geschütze nach den Festungen und Forts an der Südküste abzusenden.
Wir sagten, England müsse zuerst seine Dampfflotte verstärken, wir haben
dafür folgende Gründe. Um die Küsten, wo sie auch immer angegriffen
werden mögen, möglichst rasch unterützen zu können, und das feindliche Opera-
tionsobject möglichst schnell zu erreichen, bedarf man solcher Schiffe, die sich sehr
rasch bewegen'können und vom Winde möglichst unabhängig sind, folglich
der Dampfschiffe; man muß aber auch mit überwiegenden Kräften an solchen
bedrohten Punkten erscheinen können, um die feindliche Flotte zu schlagen und
eine Landung zu verhindern, folglich bedarf man einer großen Anzahl der¬
selben. — Alte Segelschiffe in Dampfschiffe umzuwandeln, hat sich in den
meisten Fällen als unpraktisch herausgestellt, und kann man diese viel besser
als eine Flottenreserve in Portsmouth vereinigt halten, weil sie von hieraus,
ziemlich in der Mitte des Kanals, den kürzesten Weg nach jedem bedrohten
Punkte hin zurückzulegen haben. Die Dampfflotte bildet dann die eigentliche
Manövrirflotte. ihre leichten Schiffe sind als Beobachtungsposten gegen die
französischen Häfen vorzuschieben, und um jede Bewegung der Flotten dieses
Landes rasch melden zu können, müssen ihnen Avisodamvscr beigegeben sein;
das Gros der Dampfflottc muß einer aussegelnden feindlichen dann rasch
entgegengehen und sie entweder zurückzutreiben oder doch so lange aufzuhal¬
ten suchen, bis es ihr möglich ist. sie mit Hilfe der herbeigekommenen Neserve-
flotte zu schlagen; letzterer sind auch die Dampfkanoncnbootc zuzutheilen, doch
haben diese sich immer mehr am Ufer zu halten, da sie in einer Seeschlacht
auf offenem Meere nur von wenig Nutzen sein würden, während ihre Wirk¬
samkeit bei Vertheidigung angegriffener Küstenstriche viel wesentlicher ist. Ist
über die Flotte in dieser Weise disponirt. so würde eine feindliche In¬
vasion sehr erschwert sein, weil ihr immer eine Seeschlacht vorausgehen
müßte.
Wenn wir sagten, daß die Küstenbefestigungen verstärkt werden müssen,
so wollen wir natürlich nicht eine Befestigung nach Art der chinesischen Mnner
damit gemeint haben, sondern wir meinen einfach, daß Dover und Folkstoue,
welche gute Häfen besitzen und einer feindlichen Landung sehr ausgesetzt sMd.
besser befestigt werden müßten, namentlich auch, weil sie London so nahe lie¬
gen und'von Boulogne und Dünkirchen aus bedroht sind. Bei Dover befindet
sich ein stehendes, bei Folkstone ein befestigtes Lager, mithinsind dort immer
Truppen zur raschen Einschiffung bereit. — Sich zur Abwehr einer Invasion
ganz allein auf die Flotte zu verlassen, halten wir nicht für gerathen. Die
Oberherrschaft auf dem Meere hat oft gewechselt, kleine Mariner haben sie
viel zahlreicheren streitig gemacht, ein sehr fähiger Admiral, vom Glück be¬
günstigt, gibt selbst einem sehr schwachen Geschwader eine große Ueberlegenheit,
und warum sollte nicht auch in Frankreich ein solcher erstehen können? Genue-
sen. Portugiesen, Spanier und Holländer haben nach und nach die Meere
beherrsch^ mithin kann in einer Welt, wo alles dem Wechsel unterworfen ist.
diese Herrschaft auch einst den Engländern verloren gehen. Frankreich macht
alle Anstrengungen, seine Marine zu heben, während man in England der
Hauptsache nach bei dem Bestehenden verblieb, und mit dem Bau von Dampf¬
kriegsschiffen viel zu langsam vorwärts schritt.
Je schwächer eine Armee an Zahl ist, desto mehr bedarf sie der Stütz¬
punkte, und in einem Lände, wo es natürliche Wälle und Gräben, als große
Ströme, unübersteigliche Gebirge nicht gibt, müssen künstliche hergestellt wer¬
den. Viele Festungen schwächen, wegen der ihnen nöthigen Garnisonen, die
im Felde operirende Armee, und es ist unmöglich, sie in gehöriger Stärke her¬
zustellen, will man die Finanzen des Landes nicht zu sehr beschweren. Wie
der Ttaud der Dinge in England ist, würden einige Centralfcstungen, in
deren Schutze sich bewaffnete Lager befänden, den Zweck, einen vordringenden
Feind aufzuhalten, bis man die Armee verstärkt, d. h. die Miliz eingezogen
hat, vollständig erreichen. Die strategische Lage derselben ergibt sich ganz genau
aus den Bedingungen, welche sie zu erfüllen haben, und diese sind Unter¬
stützung der Sceftstungen, Schutz der Hauptstadt und der hinter ihnen liegen¬
den Theile des Landes, bis die Arme« concentrirt ist. Sie müßten demnach
vor der Linie Bristol-London angelegt werden. Werfen wir einen Blick auf die
Karte, so würde im Osten des Reiches Chntham als solche gelten können, wenn
die Landseiten stärker befestigt würden. Eine zweite müßte sich bei Farnham
befinden, ungefähr da, wo jetzt das Lager von Aldershott liegt. Die dritte
müßte am Kenne- und Avonkanale angelegt werden. Könnte man eine vierte
in der Gegend von Taunton errichten, so würde dies höchst vortheilhaft sein.
Diese Festungen richtig benutzt, würden das Vordringen des gekanteten Fein¬
des unendlich erschweren; auch verlangt die Heercsverfassung Englands gebie¬
terisch eine solche Jnnenbefestigung für den Fall, daß es dem Feinde möglich
wurde, einen überraschenden Angriff zu machen, und diesen Hauptfactor zum
Siege würden sich im Kriegsfall die Franzosen nicht entgehen lassen, das
beweist die ganze Anlage der Festung Cherbourg.
Die numerische Schwäche der königlich englischen Armee, ihre Zerstreuung
über alle Theile der Welt, machten schon früher die Organisation von Streit-
krüsten nöthig, welche die Vertheidigung des Mutterlandes mit übernehmen
müssen. Diese Streitkräfte bilden die Milizen und die Acomanrykavalerie,
die seit dem letzten russisch-türkischen Kriege mehrfach einberufen wurden, und
gegenwärtig wegen der indischen Wirren zum Theil noch unter Waffen stehen.
Ein Nebenzweck der Miliz ist. durch freiwilliges Engagement aus ihr Ersatz
für die königliche Armee zu erhalten, die wegen des herrschenden Werbcsystems
oft Mangel an Rekruten leidet. Die Milizen sind nach den Provinzen ein¬
getheilt und werden von diesen gestellt; sobald sie bei der Fahne sind, stehen
sie in allem der königlichen Armee gleich; ist ersteres nicht der FallH so ist nur
ein Capitän und das Musikcorps besoldet. Ihre Offiziere werden von den
Lordlieutenants der Grafschaften ernannt, und haben keine weitere militärische
Ausbildung, als daß sie die nöthigen Bewegungen nach dem Reglement aus¬
zuführen verstehen. — Die Milizen müssen von den Grafschaften gestellt werden,
wie wir schon sagten, doch findet auch hier eine Art des Loskaufcns statt, und
zwar kann sich ein junger Mann gegen Zahlung von 10 Livres Sterling von
diesem Dienst befreien. Ihre Anzahl ist sehr bedeutend und mag 200,000
Mann erreichen, die aber der Hauptsache nach erst kurz vor oder während
eines Krieges einberufen werden, wo die Zeit fehlen wird, sie gehörig zu exer-
ciren und mit den verschiedenen Pflichten eines Soldaten bekannt zu machen.
Sie werden mehr oder weniger immer ein Heer von Rekruten sein, das von
mehr als mittelmäßigen Offizieren befehligt wird. Man darf wol annehmen,
daß es unter Zeit von vier Wochen unmöglich sein wird, diese Milizen so ein¬
zuüben und so zu concentriren, daß man sie gegen den Feind führen kann.
Was kann aber in derselben Zeit nicht alles verloren gehen? — Der Feind
wiro festen Fuß gefaßt und sich verstärkt haben, er wird auf die Depot-
und Sammelplätze der Milizen losgehen, die, da sie nicht befestigt sind, keinen
bedeutenden Widerstand zu leisten vermögen, und wird letztere auseinander-
treiben. Hieraus geht hervor, daß England gar sehr nöthig hat, ein kampf¬
bereites starkes Heer im Mutterlande zu halten. Die Zeiten sind vorüber,
wo man an die Unüberwindlichkeit seiner Heere und Flotten glaubte, und es
wird wohlthun, sich in deren gegenwärtigem Zustand nicht allzusehr auf sie
zu verlassen. England stellt sich die Möglichkeit einer Invasion nicht ernst
genug vor; hin und wieder hat es wol.eine dunkle Ahnung davon, und man
kann nur wünschen, daß es zum klaren Erkennen seiner Lage komme, ehe es
S
Was in den letzten Wochen in Berlin vorgefallen ist, wird einem künftigen
Geschichtschreiber einen interessanten Stoff bieten, und vielleicht ist die Zeit nicht
fern, die eine solche Geschichtschreibung möglich macht. Vorläufig begnügen wir uns,
d>e Resultate festzustellen, die im Wesentlichen einen erfreulichen Eindruck machen.
In der Negentschaftssragc hat man sich nach langem Sträuben entschlossen, auf den
Weg der Verfassung einzulenken, der diesmal auch der Weg der natürlichen Logik
'se- Ob in dem genügenden Umfang, das werden die nächsten Tage lehren; wenig¬
stens hat man sich zu der Einsicht durchgearbeitet, daß eine Monarchie eines wirk¬
lichen-Regenten bedarf, daß zwei Regenten nebeneinander ein Unding sind, und daß
es für Preußen, wenn es nicht seine Selbstständigkeit einbüßen will, die höchste Zeit
ist, eine unabhängige Regierungsgewalt zu constituiren. Ein noch wichtigeres Re¬
sultat haben die Confiscationen der liberalen Blätter hervorgebracht. Die Justiz
hat sich endlich ermannt, der Polizei, die um des „allgemeinen Besten" willen sich
unter Umständen der bestehenden Gesetze überheben zu können glaubte, eine' ernste
Mahnung zuzurufen, und da diese Mahnung von günstigem Erfolgs begleitet ist,
so dürfen wir hoffen, daß auch hier, wo es am dringendsten nöthig war, der Weg
des Rechts wieder wird betreten werden. Aber diese Hoffnung darf uns nicht ein¬
schläfern, sie muß uns vielmehr auffordern, alle Kräfte aufzubieten, um für die un-
unterbrochnc Fortdauer des Rechtszustandes sichere Garantien zu gewinnen. Das
Wichtigste sind die bevorstehenden Landtagswahlen.
Die Nationalzeitung bringt ein Programm, in welchem sie erklärt, „den besten
und sichersten Entwicklungsgang unseres öffentlichen Lebens darin zu erblicken, daß
die Verfassung kräftig vertheidigt und mit größeren Eifer als bisher aus- und durch¬
geführt wird." Natürlich stehen wir darin mit ihr auf gleichem Boden und bil¬
ligen noch entschiedener das Schlußwort-
„Die eigenthümliche Aufgabe der nächsten Sitzungen wird eine Reinigung der
sittlichen Atmosphäre sein, es wird gelten, den durch eine wüste Reaction verschüt¬
teten Quell altprcußischcr Gewissenhaftigkeit und Nechtsliebe zu befreien. Auf den
zurückgelegten hochtrabenden Zeitraum, wo jeder den Staat retten wollte und sich
bei diesen Großthaten von den kleinen Rücksichten auf seine rechtlichen Schranken
entbunden hielt, muß das schlichtere Losungswort folgen, daß es um den Staat
nur gut bestellt ist, wenn jedermann an seinem Orte das Recht zu üben sich be¬
müht und sich bescheidet. Zu verbannen ist die Willkür aller Staatskünstlcr und
Gaukler, auf welchem Felde immer sie sich niedergelassen haben; wieder herzustellen
und gegen Uebergriffe zu schützen ist die persönliche Freiheit, die Selbständigkeit
der Gerichte und aller Verwaltungsbehörden. Die Abgeordneten, die jetzt zu wählen
sind, haben ihre ganz besondere Aufgabe. Die Wühler brauchen nicht zu wissen,
ob künftig Herr v. X. oder Herr v. Z. Minister des Innern sein wird und ob ihre
Vertreter sich zu des Herrn Ministers Anhängern oder Gegnern setzen sollen. Sie
mögen nur Männer wählen, welche das Ende jeder Willkür wollen, und das Wei¬
tere der Zukunft überlassen." — Wir können diesen Wünschen um so unbefangener
beipflichten, da wir sie vor einiger Zeit bereits selber ausgesprochen haben.
Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, erörtert nun die Nationalzcitung die Frage,
inwieweit sie ihren politischen Freunden, der demokratischen Partei, rathen soll, Kan¬
didaten der constitutionellen Partei zu unterstützen. Die Frage hätte vielleicht in
einem schicklicheren Ton erörtert werden können, indeß soll uns das nicht anfechten,
da wir in den praktischen Resultaten übereinstimmen. In der That hat die kon¬
stitutionelle Partei meistens die Neigung, zu vermitteln, auch da, wo eine Vermitt¬
lung nicht möglich ist- es liegt das nicht blos in dem Charakter der zufälligen Ver¬
treter dieser Partei, sondern in der Natur der Bildungsschicht, aus der sie hervor¬
gegangen ist. Zwar glauben wir — und darin weichen wir von der Nationalzcitung
>ab — daß es Entwicklungsperioden gibt, wo die Politik der Transaction die allein
richtige ist, wo es daraus ankommt, den Strom der augenblicklich herrschenden
Richtung über sich hinbrausen zu lassen, damit nicht das Ganze aus den-Fugen
gehe; aber wir theilen die Ueberzeugung der Nationalzcitung, daß die gegenwärtige
Periode nicht in diese Kategorie fällt, daß vermittelnde Naturen in die gegenwärtige '
Session nicht gehören, daß es vie l in ehr darauf ankommt, Männer zu finden, die
mit unbeugsamen Willen das Unrecht überall aufdecken und für seine Beseitigung
sorgen.
Wenn wir nun unsrerseits unsern politischen Freunden, der konstitutionellen
Partei, einen Rath ertheilen sollen, inwieweit Kandidaten der demokratischen Partei
zu unterstützen sind, so wäre es folgender. Haben die Constitutionellen die Neigung,
zu viel Rücksichten nach Oben zu nehmen, so haben die Demokraten die ebenso be¬
denkliche. Rücksichten nach Unten zu nehmen. Sie haben, verleitet von dem Dogma
der Bolkssouvcränetät, nicht selten den Willen des Volks über das Gesetz gestellt,
sie haben diesen Willen in dem Geschrei wüster Pöbcimasscn gesucht und die Barri¬
kade als eine Rechtsquelle behandelt. In der übertriebenen Empfindung ihres Gegen¬
satzes gegen die bestehenden Zustünde haben sie eine organische regelmäßige Entwick¬
lung für unmöglich gehalten und das Mittel des Fortschritts ausschließlich in Revo¬
lutionen gesucht, während doch nach der Erfahrung aller Zeiten jeder Revolution,
weil sie in ihren Sprüngen der Natur voreilt, einen natürlichen Rückschlag herbei¬
führt, der das Volt weiter zurückdrängt, als es anfangs stand. Wenn wir in
Preußen auch im Ganzen weniger erlitten haben, als wir hätten erleiden können,
so hat doch die Nationalzcitung selbst das ganz richtige Gefühl, daß unrecht Gut
nicht gedeiht, da sie im Gegensatz gegen die gegenwärtigen Zustände, die Früchte der
Revolution, fortwährend das altprcußische d. h. vvrmärzliche Rechtsbewußtsein hervor¬
hebt. Noch auf eins müssen wir hinweisen, was freilich nur den kleinern Theil der
Demokratie trifft, der in der Wuth des Nivellirens zuweilen alles preußische Gefühl
verleugnete und über die Herabdrückung dieses Staats wol gar eine tückische Schaden¬
freude empfand! Belege finden sich nicht blos in der Paulskirche, sondern auch in
der berliner „Reform" und ähnlichen Zeitschriften.
Demokratische Kandidaten hat man also (nach dem Ausdruck der National¬
zcitung) zunächst „aufs Korn zu nehmen", ob sie sich auch von diesen schlechten
Neigungen völlig lossagen; wo nicht, so kaun ihnen ein Eonstitutionciler seine
Stimme nicht geben. Wenn sie sich dagegen dem Programm der Nationalzeituug
anschließen, wenn sie aus dem Boden der Verfassung und in dem Geist derselben
jeder Willkür rücksichtslos entgegenzutreten verheißen, und wenn ihr Charakter diese
Verheißung verbürgt, so verdienen, -sie die Unterstützung aller Freunde des Vater¬
landes, gleichviel welchen Namen sie der Partei geben, die sie zu vertreten gedenken.
i t Dramen. — Brachvogel, der mit seinem Narciß eine so außerordent-
> )e Wirkung auf die Bühne ausgeübt, erscheint mit einem neuen Trauerspiel vor
dem Publicum- Adelbert vom Babenberge (Leipzig, Costenoble); es ist kein Fort-
schritt, — Wilhelm Wolfsohn gibt seine gesammelten dramatischen Werke heraus
(Dresden, Kuntze); die beiden ersten Bände enthalten: „Zar und Bürger" und
„Nur eine Seele". Fehlt bei Brachvogel in der Erfindung alles Maß, so möchte man
hier eine größere Kühnheit wünschen; die Tendenz ist durchaus wohlmeinend, —
Julius Mosen im „Sohn des Fürsten" (Oldenburg, Berndt) behandelt die Jugend-
geschichte Friedrich des Großen; die Haltung ist ganz idealistisch und nimmt auf den
Ton der Zeit keine Rücksicht. — Ludwig Eckardt hat sich die schwierige Aufgabe
gestellt, den Tod des Sokrntcs zu einem Trauerspiel zu verarbeiten (Jena, Hoch¬
hausen). Der sterbende Sokrates verkündet den gekreuzigten Erlöser, und so dient
auch dies dramatische Spiel dem Lebenszweck des Verfassers, den Theismus wieder
herzustellen. —
Neue Gedichte. Venus im Exil, ein Gedicht in 5 Geh. von Robert
Hcimerling. (Prag, Kober), sucht die verschiedenen Gestalten, in der die Göttin
erscheint, zu eiuer mystischen Einheit zu verbinden. — Barbarossas Erwachen, ein
Gcistcrspiel von Maxim illam John (Berlin, Plcchn), verheißt dem „edlen Preußen-
Aar" den Sieg, — Ferner zeigen wir an: die Haidcblumen von Martin Weihe
(Leipzig, Friese), die Gedichte von Carl Stelle.r (Leipzig, Cnvbloch), von Rudolf
Günther (Jena, Ncucnhahn), von Maria Clausnitzer (Leipzig, Hunger), von
A, G. v. Thüren (Bremen, Schünemann); das Album lyrischer Originalien von
Friedrich Oser (Basel, Schweighäuser), und schließlich das .allerliebste „Näthscl-
büchlein" von or. Mifes (Leipzig, Schlicke). —
Musik. Da auch in der Musik in der letzten Zeit die Productivität nicht sehr
ausgiebig ist, so bleibt es ein großes und unschätzbares Verdienst, die guten Werke
der alten Zeit durch billige und gut ausgestattete Ausgaben dem größern Publicum
zugänglich zu machen. Mit großem Vergnügen zeigen wir zwei neue Unterneh¬
mungen dieser Richtung an, indem wir uns vorbehalten, im weitern Verlauf daraus
zurückzukommen. — Hallbcrgcrs Prachtausgabe der Klassiker Beethoven,
Clementi, Haydn, Mozart, in ihren Werken für das Pianoforte allein. Neu heraus¬
gegeben mit Bezeichnung des Zeitmaßes und Fingersatzes von M oschclcs. Vollstän¬
dig in circa 400 Notenbogcn, im Subscriptionsprcis den Bogen zu 1 Ngr. (also
das Ganze zu ungefähr 13 Thlr.; bei der vortrefflichen Ausstattung ein sehr billiger
Preis,) — Stuttgart, Hallberger. — Ferner Jllustrirte, Ausgabe erlesener
musikalischer Meisterwerke: Bach, Händel, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven,
mit einem Porträtstableau in Stahlstich, den Biographien der sechs Meister und
Bemerkungen über den Vortrag der einzelnen aufgenommenen Stücke. (Leipzig,
Gumprecht.) Diese Sammlung zerfällt in zwei Abtheilungen : Classisches Pianofortc-
album und classisches Sopranalbum, jede zu 0 Lieferungen. Die Auswahl ist sehr
verständig, die zweite Abtheilung zeichnet sich vorzüglich durch die Übersetzung der
Texte aus, die mit Rücksicht auf die Declamation und den musikalischen Perioden-
bau ausgeführt ist. — Für die Kenntniß der neuesten Leistungen sorgt eine dritte
Sammlung: Das Pianoforte. Ausgewählte Sammlung älterer und neuerer
Originalcompvsitioncn, unter Redaction von Franz Liszt. (Stuttgart, Hallberger).
Wir glauben die Aufmerksamkeit des Lesers, welche der vorliegende
Gegenstand im hohen Grade verdient, von vornherein, nicht besser fesseln zu
können, als wenn wir den Kern der Beschlüsse d-es Kongresses unserer Dar¬
stellung der Verhandlungen desselben voranstellen.
Die Versammlung deutscher Volkswirthe beschloß
Die Versammlung beschloß:
Die vom ständigen Gewerbeausschuß zu seiner Ergänzung noch
hinzugewühlten Mitglieder sind:
III. Der Congreß beschloß öffentlich zu erklären:
Endlich trügt die Section darauf an:
Wenn wir uns diese Beschlüsse genau betrachten und einen Vergleich mit
den Bestrebungen für das Volkswohl bei,unsern Nachbarvölkern anstellen,
so können wir wol mit einigem Stolz auf diese gemeinsame Wirksamkeit
deutscher Volkswirthe Hinblicken. Wir hörten da nichts von den phrasenhaften
Exclamationen über den einreißenden Pauperismus, welche z. B. bei dem
Inland Wohlthätigkeitscongreß von Herren in weißer Cravatte bei Cham¬
pagner und Trüffeln zu Markt getragen wurden. Wir vernahmen nichts von
Mer socialistischen Systemen, denen z. B. Frankreich zum großen Theil seine
^deenverwirrung und den Despotismus, unter dem es jetzt seufzt!, verdankt,
auch nichts vom „Recht auf Arbeit", nichts von der „Nothwendigkeit
der Vernichtung des Capitals", nichts von Arbeiterwerkstättcn, nichts von
Phalansterien, nichts von Regelung des Handels und der Industrie durch
den Staat, — kurz nichts von allen jenen verderblichen Theoremen, welche
einst zehntausend Arbeiter auf die pariser Schlachtbank geschickt haben.
Nicht die Einfälle ungebildeter Leute, deren Blick nicht über ihren
eigenen Horizont und ihre persönliche Erfahrung geht, die nicht wissen, daß
es lange" bevor sie zu denken begannen, eine Wissenschaft gab, der die Lösung
der sogenannten socialen Frage zur Aufgabe gestellt ist, — nicht die Hirn-
gespinnste solcher Socialisten waren es, von welchen die erste Versammlung
deutscher Volkswirthe beherrscht war, — sondern die Gesetze der Wissenschaft,
welche durch die Erfahrungen der ganzen Weltgeschichte sanctionirt find. Es
war eine Versammlung wissenschaftlich und practisch gebildeter Männer, von
deren klarem Blick jeder socialistische Wahn sofort in der Geburt erstickt wurde.
Wir haben alle Ursache, um so größeren Werth auf diese Thatsuche zu legen,
daß die erste gemeinsame wirthschaftliche Agitation in Deutschland von be¬
währten Vertretern der Wissenschaft geleitet wurde, als eben das furchtbare
Elend, welches Frankreich betroffen hat, vorzugsweise dem Umstand beizu¬
messen ist, daß die Anregung und Agitation zur Reform des socialen Organis¬
mus von unwissenden Dilettanten, von wissenschaftlich ungebildeten Phantasten
ausgegangen ist, während die Männer der Wissenschaft sich anfänglich zurück¬
hielten und erst dann einsahen, wie nothwendig es sei, daß die Wissenschaft
ins Volksleben thätig eingreife, als es bereits zu spät war.
Dieses Gefühl, diese Ueberzeugung, welche sich bewußt oder unbewußt,
mit mehr oder weniger Klarheit der Mehrheit der Versammlung be¬
mächtigt hatte, mochte dazu beigetragen haben, dem Kongreß eine Phy¬
siognomie auszuprägen-, die wir noch bei wenigen deutschen Versammlungen
beobachtet hatten. In summarischer Behandlung der formellen Theile der
Geschäfte konnte die Versammlung jedem amerikanischen Meeting kühn zur
Seite gestellt werden, während die Sachkenntniß in der Behandlung des Stoffes
selbst einem Parlament nur zur Ehre gereicht hätte. Die Mehrzahl der Mit¬
glieder war von der Ueberzeugung durchdrungen, daß sie einen wirklich frucht¬
baren Boden betreten und daß der Weg, den man eingeschlagen, noch zu.
großen und ersprießlichen Erfolgen und Früchten führen müsse. Deshalb
trafen wir auch eine Resignation, ein Zurücktretenlasscn aller persönlichen Rück¬
sichten und Motive, welches die Formulirung der Anträge, die Verständigung
und' die Beschlußfassung ungemein erleichterte.
Zuerst machte sich dieser Geist geltend bei der Berathung der Gewerbe¬
frage. In der Vorbehalte über diesen Gegenstand waren Mittheilungen über
die Zustände der Gewerbe und der Gewerbcverfassung in verschiedenen deut¬
schen Ländern gemacht worden, und hatte zuerst Dr. Boehmert in frischen
Farben die grellen Widersprüche dargestellt, welche die Zunftverfassung in
Bremen hervorrief, hinsichtlich deren interessanten Details wir auf die steno¬
graphischen Berichte verweisen müssen. Dr. Kreuzberg aus Prag machte
nach einem historischen Rückblick auf die gewerblichen Verhältnisse Oestreichs
die erfreuliche Eröffnung, daß die Gcwcrbefrage in seinem Lande bald die
praktische Lösung finden werde, und Crusius. Buchbindermeister aus'Leipzig,
entgegnete aus die wider das „Handwerk" gerichteten Bemerkungen Boehmcrts,
daß nicht alle Uebelstände auf Rechnung des Zunftzwanges zu bringen seien,
daß eine wesentliche Ursache des Nichtfortschreitens der Zünste darin liege, daß
Seitens der Regierungen zu wenig für die Fortbildung der Handwerker geschehe.
Prince-Smith aus Berlin nahm Bodenart lebhaft in Schutz: nicht das
Handwerk sei angegriffen worden; das Handwerk, das Werk der Hand, der
Stolz des Menschen müsse geehrt werden; nur gegen die Einengung des Hand¬
werks protestire man. N. D. Wichmann aus Hamburg wies an einzelnen,
Thatsachen nach, daß die Verhältnisse in Hamburg um nichts besser als die
in Bremen seien. Die Bemerkung des Herrn Beck, des Vertreters des
Handwerkervereins in Magdeburg, daß die Gewerbe seit Einführung der Ge¬
werbefreiheit im Jahr 1807 in Preußen gelitten hätten, veranlaßte die Herrn
Stadtrath Dr. Woeniger und Präsident Leite von Berlin zu einer gründ¬
lichen Darlegung der gewerblichen Entwicklung in Preußen in diesem Jahr¬
hundert, deren Thatsachen wenig zu Gunsten der Zunftverfassung sprachen. Die
Argumente dieser Redner wurden noch verstärkt durch die statistische Angabe or.
Otto Hübners aus Berlin, daß von den infolge der die Gewerbefreiheit wieder
einschränkenden Gesetzgebung im Jahr 1849 eingesetzten sechsundneunzig Ge¬
werberäthen nur noch acht beständen und nur einer von diesen acht noch in
Thätigkeit sei. Advocat Braun aus Wiesbaden erwähnte über die Verhält¬
nisse des Herzogthums Nassau, daß von 1819 bis 1849 Gewerbefreiheit be¬
standen habe, welche seit 1849 einem Zwitterding gewichen sei, das man weder
Zunftzwang noch Gewerbefreiheit nennen könne. Aus dem Gesetz von 1849 hob er
einen Paragraphen hervor, welcher die absurde Bestimmung enthält, daß „ein
Handwerksgewerbe dasjenige ist. von welchem der Bezirksrath beschließt, daß es
als solches zu betrachten ist," — und daß der Bezirksrath auch die Grenzen jedes
Handwerks bezeichnen kann, wodurch, da achtundzwanzig Bezirksräthe in Nassau
existiren, eine achtundzwanzigsache abweichende Gesetzgebung in dieser Beziehung
stattfinden kann. Regierungsrath Dr. Engel aus Dresden wies auf den
eigenthümlichen Widerspruch der Zustände in Sachsen hin. wo neben der
Gewerbefreiheit in der einen Gegend, noch entschiedener Jnnungszwang in
der andern existire. wodurch Verwicklungen oft der seltsamsten Art entständen.
z. B. statten sich zur Zeit als die SchuhMttschuhe auskamen nicht weniger
als vier Zünfte über das Recht sie anzufertigen. Die Bewegung im Lande
für Gewerbefreiheit. an deren Spitze das rührige Chemnitz stehe, nehme fort-
während zu. Dr. Boehmert fügte hinzu, daß der roßwciner Gewerbevercin
sich ausdrücklich für Gewerbefreiheit erklärt habe. Dr. Malß berichtete über
die eignen Mißbräuche, zu welchen die Zunftverfassung in Frankfurt a. M. An¬
laß gibt. A. Lammers machte nach einer Schilderung der Verhältnisse in
Hannover die Bemerkung, daß auch dort die Richtung'für Gewerbefreiheit
mehr u.ut mehr sich Bahn breche. Advocat Bolde aus Rostock lieferte ein
Bild der Zustände seiner Baterstadt, welches zeigte, daß neben der Handels¬
freiheit dort noch ein tüchtiges Stück Zunftzwang existirt. Webermeister
Rewitzer aus Chemnitz ergänzte in einem klaren und eingehenden Vortrag
die Mittheilung über Sachsen und wies namentlich auch auf- den Mißstand
widersprechender Entscheidungen der Localbehörden gewerbcfreier und zünftiger
Bezirke hin. Zu Gunsten der Gewerbefreiheit führte er namentlich die Gegen¬
den der freien gewerblichen Entwicklung an, welche sich am entschiedensten für
allgemeine Gewerbefreiheit aussprechen.
Dr. Ri cake aus Nordhausen führte an einzelnen Beispielen aus, wie die
Gewohnheit die Zunftschranken durchlöchert habe, wie z. B. der sogenannte
Bier- und saure Gurkcnzwang in Torgau dadurch gebrochen worden sei, daß
man den Bedarf des Militärs von auswärts einzuführen verstattete. Professor
Biedermann gab, nachdem er angeführt, daß der Fortschritt der gewerblichen
Bewegung in Chemnitz vorzugsweise das Verdienst des Herrn Rewitzer sei,
eine Darstellung der Verhältnisse in Weimar, woraus hervorging, daß dort
dasselbe Mißverhältniß zwischen freien und zünftigen Gewerben wie in Sachsen
bestehe, und knüpfte daran die Mittheilung, daß die Negierung entschieden für
Gewerbefreiheit sei und nur auf die Mitwirkung andrer Regierungen warte,
um auf dem Wege der gesetzlichen Reformen vorzuschreiten.
Nachdem hierauf die Specialdiscusfion geschlossen war, ergriff Dr. Boehmert
als Berichterstatter der Section das Wort, um folgende Anträge derselben zu
rechtfertigen:
Die Section für Reform der Gewerbegcsetzc erkennt in der Befreiung der
Arbeit von den bestehenden Beschränkungen ein Mittel zur Hebung des
Gewcrbestandes und beantragt: die Versammlung wolle beschließen, mit allen
ihr zu Gebote stehenden Mitteln für Beseitigung der bestehenden Hemmnisse
der Arbeit, namentlich dahin zu wirken:'
1) daß die Gewcrbs- und Handelsthätigkeit von denjenigen ausschließen¬
den und beschränkenden Befugnissen, welche bisher bestimmten Korporationen
oder Einzelnen zugestanden haben, befreit werde;
2) daß die Gcwerbs- und Handelsthätigkeit nicht länger durch Lehrzwang.
Wanderzwang, Befähigungsnachweis und Ertheilung von Concessionen be¬
schränkt werde;
3) daß den Regierungen nur aus Sarnath-, oder Feuer-, oder Wasser-
oder sonstigen polizeilichen Rücksichten eine Einmischung sin den Betrieb ein¬
zelner Gewerbe eingeräumt werde;
4) daß im Uebrigen auch im Gewerbe- und Handelsbetrieb nur die all¬
gemeinen bürgerlichen Gesetze, z. B. bezüglich der Dispositionsfähigkeit zur
Geltung kommen.
Separatantrag des Dr. Böhmert.
1) Die Versammlung wolle sich speciell gegen den Versuch einer Zusammen¬
legung der Gewerbe erklären und ihre Ueberzeugung dahin aussprechen, daß
die Reform der Gewerbegesetze eine gründliche und rasche sein müsse, weil ein
langsames Absterbenlassen des hinsiechenden Veralteten ein Siechthum auch in
die neuen Verhältnisse legt, und weil nur die volle Freiheit der wirthschaft¬
lichen Bewegung einen Ersatz für die unhaltbaren Privilegien bietet und ein
Vorwärtsschreiten im Gewerbe, so wie die zeitgemäße Veränderung der bis¬
herigen Betriebsweise ermöglicht. 2) Die Versammlung wolle beschließen, die
in der Gewcrbefrage gefaßten Beschlüsse mit gründlicher Motivirung und mit
besonderer Berücksichtigung der thatsächlich'er historischen und statistischen
Mittheilungen aus den verschiedenen Ländern in möglichst weiten Kreisen zu
verbreiten und zugleich dahin zu wirken, daß diese Grundsätze womöglich in
der Form eines allgemeinen deutschen Gewerbegesetzcs uach Art des Wechsel-
gesctzes und des angestrebten Handelsgesetzes, wo aber nicht, in der Form
von Sozialgesetzgebungen der einzelnen deutschen Länder zur Geltung ge¬
bracht werden. ^
Die Section hatte sich in ihrer entschiedenen Mehrheit für Abschaffung
der Meisterprüfungen ausgesprochen. Zur Aufrechterhaltung der letzteren stell¬
ten die Herren Senator Doll aus Gotha und Buchbinder Crusius aus
Leipzig einen Separatantrag, welcher vom Senator Doll gerechtfertigt wurde.
Als im Verlauf dieser Discussion die Aeußerung siel, daß man ebenso gut
wie die Meisterprüfung auch die Prüfung der Juristen und Mediciner abschaf¬
fen könne, bemerkte Prince-Smith, daß sin England, wo es gewiß tüchtige
Juristen gäbe, ein juristisches Examen nicht bestehe. Die Discussion wurde
hierauf durch einen die Sectionsantrnge ausschließenden Vorantrag der Herren
Wolfs und Braun abgeschnitten, welcher nach kurzer Verhandlung zu dem
oben stehenden Beschluß zu Gunsten unbedingter Gewerbefreiheit führte.
Die Verhandlungen über die Angelegenheit der Associationen, wofür
der Kongreß den deutschen Ausdruck G en o ssenschasten adoptirte, führte zu
einem wahren Triumph des Herrn Schulze-Delitzsch, welcher um so er¬
freulicher war, als die Bestrebungen des verdienstvollen Mannes eine Reihe
von Jahren hindurch ganz vereinzelt dagestanden hatten. In der Section,
Wo Professor Huber die englischen und französischen Associationen vorzugs¬
weise als Vorbild hingestellt wissen wollte, sand Schulze die Anerkennung,
daß die nachher vom Kongreß angenommenen Anträge, in welchen die Sanc¬
tion seiner Bestrebungen liegt, nicht von ihm selbst, sondern von dritter Seite
ausgingen und die einmüthige Beistimmung sämmtlicher Mitglieder erhielten.
Obgleich in der Section eine ganz entschiedene Verwahrung gegen einzelne
von den Schulzeschen Genossenschastseinrichtungen abweichende Associationen,
wie z. B. gegen die des erfurter Vereines, weil derselbe der Speculation die
Thür öffne, eingelegt worden war, so erhielt Schulze doch die fernere Ge¬
nugthuung, daß ihm als Berichterstatter unbeschränkte Vollmacht zur Recht¬
fertigung der Antrage ertheilt wurde, in welcher letzteren er der soeben erwähn¬
ten Verwahrung nur mit weiser Mäßigung gedachte. Diese Rechtfertigung
selbst war ein Meisterstück von Beredtsamkeit, das mehr durch das Gewicht
der Thatsachen, als der Worte die Versammlung zur Begeisterung hinriß.
'
Die Wirkung dieser Rede, auf deren Einzelnheiten einzugehen wiruns
leider aus Mangel an Raum hier versagen müssen, die aber sowol in den
im „Arbeitgeber" erscheinenden stenographischen Berichten wie in Schutzes
neuestem Buch, „die arbeitenden Classen und das Associationswesen in Deutsch¬
land" nachgelesen werden können, —war so groß, daß die Versammlungsich
mit einmüthigem Beifall erhob und durch den Präsidenten ihren Dank aus¬
sprach. Ein Antrag auf Annahme der Anträge <zu dive wurde nur deshalb
verschoben, um der Ruhe und Gründlichkeit der Verhandlungen keinen Eintrag
zu thun. Nachdem hierauf Finanzprocurator Hallbauer aus Meißen über
die Einrichtung des dortigen Vorschußvereines, End er über den Creditverein
in Königsberg Bericht erstattet, Dr. Adami aus Bremen Einwendungen gegen
die solidarische Haftbarkeit der Genossen aus seinen Erfahrungen in Bremen
gemacht, Freiherr von Eberstein aus der Provinz Sachsen dagegen ange¬
führt hatte, daß die großen Actiengesellschaften einer Handelsstadt mit den
Genossenschaften kleinerer Orte nicht zu vergleichen seien; nachdem Herr von
der Leyen aus Hamm noch bemerkt hatte, daß die Unterstützung der Ge¬
nossenschaften durch Hilfe der bemittelteren Classen doch nicht ausgeschlossen
sein solle, wurden die Anträge der Section rasch ohne weitere Discussion, und
nur mit einer kleinen von Prince-Smith vorgeschlagenen Aenderung, welche
eine strengere Ausschließung des Staats (dessen Mitwirkung Finanzrath Hopf
aus Gotha gewahrt wissen wollte) ausdrückt, angenommen.
Aus den Verhandlungen über die Anträge der Zollscction haben wir nur
zwei Momente hervorzuheben, das eine, daß Dr. Kreuzberg aus Prag,
welcher sich offen als Schutzzöllner bekannte, die Mitglieder des gewählten
Zollausschusses ersuchte, daß sie, da sie lediglich aus Männern des freihändlerischen
Bekenntnisses beständen, um der gründlichen, unparteiischen Beurtheilung wil¬
len auch Vertreter der entgegenstehenden Ansicht zu ihren Berathungen zu¬
lassen sollten. Das andere Moment bestand darin, daß die Befürchtung gel-
tend gemacht wurde, der Bestand des Congresses möchte gefährdet werden,
wenn schon bei der nächsten Versammlung zu Frankfurt, wo wahrscheinlicherweise
die Schutzzollpartci stärker vertreten sein werde, ein entschiedener Freihandels-
zolltarifentwurf zur Verhandlung käme. Diese Erwägung führte zur Annahme
des von Bennigsen gemachten Zusatzes, wonach es der ständigen Deputa¬
tion überlassen bleiben soll, ob sie den Gegenstand auf die Tagesordnung des
nächsten Congresses stellen solle oder nicht. «
Zum nächstjährigen Versammlungsort wurde Frankfurt a. M. gewählt.
Zum Schluß müssen wir noch eines überaus durchgreifenden Momentes
erwähnen. Herr Professor Hub er holte sich nämlich bereit erklärt, im Ge¬
werbeverein einen Vortrag über seine auf einer zweiten Reise in England
und Frankreich über die Associationen geschöpften Beobachtungen zu halten.
Um Zeit und die Wiederholung desselben Vortrags zu sparen, waren aus
Wunsch des Redners die Mitglieder des Congresses zu der Versammlung ein¬
geladen wordew. welche sehr zahlreich besucht war. Professor Hub er entrollte
ein überaus anziehendes und getreues Bild namentlich der englischen Genossen¬
schaften zu Rochdale und Leeds, welches nicht, wenig zur Vorbereitung für
die Entscheidung der wichtigen Associationssrage beitrug. Der Vortrag war
so umfassend, daß wir auch hier auf die stenographischen Berichte, so wie
auf die bereits im deutschen Gewerbeblatt (Innung der Zukunft) über
diesen Gegenstand erschienenen Artikel verweisen müssen.
Der Eindruck, welchen dieser Vortrag gemacht hatte, wurde noch über¬
boten durch die mächtige Wirkung, welche ein darauf folgender Vortrag von
Schulze-Delitzsch hervorbrachte, und welcher eine kräftige Appellation des
Redners an das Ehrgefühl des Gewerbestandes enthielt. Derselbe führte den
Gewerbetreibenden das Beispiel ihrer Vorfahren vor Augen; er bewies ihnen
ander Hand der Geschichte, daß die Zünfte im Mittelalter in ihrer Zeit ein
wirthschaftlicher und politischer Fortschritt waren. daß sie dem Sonderbetrieb
aus dem Lande damals entgegenstanden, wie die heutigen Genossenschaften
den Zünften, daß den großen Vorrechten der Zünfte ebenso so große Pflichten
gegenüberstanden, daß die heutigen Zünfte nicht die Pflichten, sondern nur
die Vorrechte wollten. Schulze forderte die Handwerker auf. sich zu ermannen,
wenn sie nicht vom Großbetrieb erdrückt werden wollten, sich statt auf die
HUfe des Staates auf sich selbst zu verlassen, statt nach Schutz zu rufen auf
^ eigne Kraft sich zu stützen, damit es nicht einst heiße, die deutschen Hand¬
werker bedürfen vor allem des Schutzes gegen sich selbst. — Die allgemeine
Begeisterung auf der einen und die Resignation, welche diese Rede auf der
andern Seite hervorrief, war so-seltener Art. daß sie gewiß von nachhaltiger
Wirkung auch in weitern Kreisen sein wird.
Und so rufen wir den deutschen Volkswirthcn zu ihrem jungen Werke
ein fröhliches. Glückauf! zu.
cilriala: vue- xagö ä'I>i8loir>z du MuvornLMent i'LvrüsLirtg.til' en ?iemont.
rurin, 1863. —
Wir haben dies Buch, obwol es breit und in schlechtem Französisch ge¬
schrieben ist, mit lebhaftem Interesse gelesen, denn der Gegenstand ist von
eigenthümlicher Anziehungskraft für jeden, der die Entwicklung des freien Ver¬
fassungslebens in Europa verfolgt. Ein kleiner Staat, der freiwillig in eine
neue Bahn tritt und nach einem kühnen aber unglücklichen Kampf gegen
einen übermächtigen auswärtigen Gegner dieselbe beharrlich festhält und sich
vor Ausschreitungen nach rechts wie nach links zu wahren weiß, der den
Muth behält, sich an einem großen europäischen Kampf, welcher seine Inter¬
essen nicht unmittelbar berührte, zu betheiligen und neben den Großmächten
in den Kongressen sitzt, muß in der That die Aufmerksamkeit des Politikers
auf sich lenken. Man hat Piemont das Preußen Italiens genannt, und wirk¬
lich finden sich viele Analogien in der Stellung beider zu dem Gesammtvater-
land, indeß wenn man von Preußen sagen kann, daß eine ernste Verwirklichung
der repräsentativen Negierung dem Scheinconstitutionalismus der Mittel- und
Kleinstaaten gegenüber es hoch in Deutschland heben wird, so ist dies noch
in viel höherm Grade der Fall bei Sardinien, welches das einzige nicht des¬
potisch regierte Land der apenninischen Halbinsel ist. Und nicht blos der
Gegensatz der italienischen Verfassungsformen kommt für Piemont in Betracht,
sondern mehr noch, daß eine der wichtigsten Provinzen, welche noch dazu
sein Grcnznachbar ist, unter der Botmäßigkeit einer auswärtigen Macht steht.
Diese äußern Verhältnisse sind so schwerwiegend, daß sie auf die innere Po¬
litik des Staates den entschiedensten Einfluß haben müssen, und wiederum hat
die innere Politik mehr als in vielen andern Staaten Bedeutung nach außen.
Die repräsentative Frage hat in Sardinien deshalb eine doppelte Seite, es
ist einmal die Entwicklung im Innern, ihr Verlauf und ihre Aussichten für
die Zukunft zu betrachten, andrerseits die Stellung, welche das Land dadurch
zu Oestreich und dem übrigen Italien eingenommen hat.
Die Besitzungen, welche Oestreich im vorigen Jahrhundert in Oberitalien
behauptete, waren vereinzelte Vorlande, die schlecht mit dem Reichsiörpcr zu¬
sammenhingen, durch den wormser Frieden (1743) verlor es noch Stücke der
Lombardei, Tortona und Norera an Piemont. und der Tessino vom Lago
Maggiore bis an den Po ward die Grenze gegen seinen westlichen Nachbar.
Venedigs Gebiet war noch unangetastet. Die Revolutionskriege änderten diese
Lage. Piemont ward das Opfer sür die Koalition und gleichmäßig von Frank¬
reich und Oestreich mißhandelt, letzteres dagegen breitete sich aus und wurde
hier für seine Verluste in Deutschland und den Niederlanden entschädigt; nach
wechselndem Kriegsglück ging es beim Frieden mit dem Erwerb Venedigs und
Dalmatiens hervor, wodurch seine italienischen Besitzungen eine compacte. mit
den übrigen Provinzen wohl zusammenhängende Masse wurden, und so da¬
stehend wurde es als Großmacht der tonangebende Staat der apenninischen Halb¬
insel. Nur zögernd und weil es dies nicht hindern konnte, gab es die Ver¬
einigung des genuesischen Gebiets mit Piemont zu, jede Vergrößerung nach
Osten, die sür seine Eroberungen nur schwach compensirt hätte, wußte es zu
verhindern, mit dem übrigen Italien hing es nur durch die'schmale parme¬
sanische Grenze zusammen. Chiala citirt ein Memorandum, welches der sar¬
dinische Gesandte. Graf d'Aglio. aus dem wiener Congreß Lord Castlereagh über¬
reichte, in dem die Stellung Piemonts erörtert wurde. „Man hat," heißt es in
demselben, „dem turiner Hofe den Wunsch sich zu vergrößern vorgeworfen, aber
wenn der wiener Hof in seiner Absicht beharrte. alle Gebiete zu behalten, die
er jetzt in Italien innehat, würde er denselben Vorwurf verdienen. Die
Fürsten des Hauses Savonen zwischen zwei mächtige Nachbarn, welche stets
ihre Staaten eifersüchtig bewachen, gestellt, haben natürlicherweise nach Mitteln
suchen müssen, sich zu verstärken und zu vergrößern, je mehr sich ihre Nach¬
barn ausdehnten und je mehr das Militärsystem sich in einem Maße aus-
bildete, wie das in frühern Jahrhunderten unbekannt war. Früher hatte
Piemont, gegen Frankreich durch die Alpen einigermaßen sicher gestellt,' wenig¬
stens auf der italienischen Seite durch die Schwäche seiner Nachbarstaaten
keinen Grund der Beunruhigung. Allerdings war auch damals das Haus
Oestreich ein mächtiger Nachbar, aber weder durch die Ausdehnung seiner Be¬
sitzungen, noch durch deren Lage furchtbar. Das Herzogthum Mailand war
von den andern östreichischen Erbstaaten getrennt, die Zahl der Truppen wäh¬
rend des Friedenszustandes gering, in Kriegszeiten aber machte diese Entfer¬
nung es Piemont möglich, sich in Vertheidigungszustand zu setzen. Wenn
nun aber jetzt eine schon furchtbare Macht die Absicht kundgibt, sich den besten
und größten Theil Italiens anzueignen und sem Gebiet bis zur Grenze Pie-
monts auszudehnen, so darf man die Anstrengungen, die der turiner Hof machen
würde um eine Gebietserweiterung und Hilfsquellen, welche der Gefahr, von
der er bedroht ist, entsprechen, nicht als Begehrlichkeit bezeichnen. In diesem
Fall ist Vergrößerung nicht Ehrgeiz, sondern eine Garantie, ein unentbehr¬
liches Mittel, seine Unabhängigkeit zu bewahren. Dagegen sind die Absichten
Oestreichs durch keine Nothwendigkeit gerechtfertigt und berühren weder seine
Sicherheit noch seine Unabhängigkeit. Man darf selbst weiter gehen und ohne
Zaudern behaupten, daß die in Frage stehende Vergrößerung, obschon an sich
beträchtlich, kein andres Resultat haben würde, als die Knechtung (Ässorvikso-
iriöirt) Italiens und die Zerstörung des Gleichgewichts in Südeuropa, ohne
Oestreich wahre und dauernde Vortheile zu bringen. Diese Behauptung, so
auffallend sie auch scheinen mag, ist ans Vernunft und Erfahrung gegründet;
die natürlichen Grenzen zwischen Italien und Deutschland sind zu klar, als
daß diese beiden Länder jemals zu einem verschmolzen werden könnten. Die
Bewohner der Oestreich untergebenen italienischen Provinzen können sich heute
so wenig als vor hundert Jahren den Deutschen assimiliren." — Trotz dieser
gewichtigen Gründe und ungeachtet der Bemühungen des sardinischen Gesand¬
ten in Petersburg, Grafen de Maistre, vollzog sich die Vertheilung, welche
den heutigen Besitzstand ergab. Es ist wahr, daß die schroffe Reaction und
Priesterherrschaft, welche in Sardinien der Wiedereinsetzung des alten Königs-
hauses folgte, gegen seine Wünsche einnahm, und Oestreich beutet« diesen Um¬
stand geschickt nach beiden Seiten aus, indem es den andern Mächten zu
verstehen gab, die Lombardei wolle nicht unter solchem Regiment stehen, und
indem es andrerseits durch seinen Einfluß auf die Geistlichkeit festen Fuß in
Piemont faßte; dazu kamen fürstliche Familienvcrbindungen. Doch würde
man sich täuschen, wenn man glaubte, daß die sardinischen Ultras, so sehr sie
im Innern das retrograde System aufrechthielten, sich in Bezug auf die
Gefahr, welche dem Staate durch Oestreich nach außen drohte, einschläfern
ließen. Der Graf de la Marguerita, dessen Neactionsstarrhcit so verrufen ist,
schrieb als auswärtiger Minister 1835 dem sardinischen Gesandten in einem
Circular: „Die östreichische Politik hat sich nicht geändert, sie verfolgt immer
dieselben Ziele, ihr Ehrgeiz ist noch größer als früher. In demselben Augen-
blick, da sie die päpstlichen Legationen begehrt, wirft sie. einen verlangenden
Blick aus das rechte Ufer des Tessino, den sie wieder überschreiten möchte, um
ihre Grenzen über die hinauszuschieben, welche die Verträge von Worms und
Aachen feststellten. Wenn Genua Sardinien einverleibt ist, so sind wir Oest¬
reich sicher nicht dafür verpflichtet, sicher hat es uns auf dem wiener Kongreß
nicht unterstützt. Glauben Sie ja nicht, daß wir irgend eine Verbindlichkeit
gegen eine Macht hätten, die uns nur das Gute gewährt, was sie nicht hin¬
dern kann. Darnach ist abzunehmen, mit wie großem Mißtrauen man alle
Freundschaftsbethcuerungen und alle Anerbietungen, welche in unserm Interesse
gemacht scheinen, aufnehmen muß. Den Worten der östreichischen Gesandten
darf kein Glaube geschenkt werden und ihren Versprechungen kein Vertrauen."
Und Oestreich täuschte sich über diese Lage der Dinge nicht. Graf d'Hcmsson-
ville erzählt, daß Fürst Metternich dem französischen Botschafter zu Wien 1830
sagte, für ihn sei die Frage Piemonts die Frage von ganz Italien. Doppelt
mußten die Anzeichen beunruhigen, welche 1847 eine neue Ordnung der Dinge
in Sardinien verkündeten. Der Kampf, den letzteres 1843 und 49 unternahm
und seine Ergebnisse sind bekannt, Oestreich war Sieger geblieben, aber die
Grenzen waren nicht verrückt. Zwei Dinge waren es, die Piemont retteten,
einmal die Eifersucht der europäischen Mächte, welche nicht geduldet hätten,
daß Oestreich sich in Turin festsetzte, und zweitens die Aufrechthaltung der
liberalen Institutionen. Durch sie war die Regierung, wie sich nicht leugnen
läßt, zum Kampf getrieben; nach dessen unglücklichem Ende wäre es nicht zu
verwundern gewesen, wenn diese Institutionen gefallen wären, und wenn
Oestreich nicht in Turin war. konnte dann doch sein Einfluß dort allmächtig
werden. Die Loyalität und der gesunde Blick des jungen Königs verhinderten
dies, er sah ein, daß die Aufrechthaltung dieser Grundverschiedenheit von der
lombardischen Regierung ein moralischer Schlagbaum gegen Oestreich sei, und
blieb seinem Eide treu. Umsonst versuchte das wiener Cabinet ihm die Nieder¬
lage von Novara und selbst die Abdankung seines Vaters als die Niederlage
des revolutionären Geistes darzustellen und ihm mit der Wiedererlangung der
unumschränkten königlichen Gewalt zu schmeicheln; er zog es vor, als mit
seinem Volk besiegt zu erscheinen, statt durch die Oestreicher die Revolution
zu besiegen. Dank diesem Muthe ist Sardinien eine Macht in Italien ge¬
blieben, es repräsentirt noch mehr als zuvor in der nördlichen Halbinsel die
Möglichkeit eines unabhängigen Italiens. Nicht mehr Erfolg hatte Oestreich
bei den Männern der äußersten Rechten in Piemont, welche den neuen In¬
stitutionen sewdlich gesinnt waren, sie sind reactionär. aber vor allem doch na¬
tional, und wollen Ueber in ihrem Lande dulden, was sie als Unrecht ansehen,
als sich auf auswärtige Hilfe stützen. Nur der Klerus ist Oestreich zugethan,
Weil er ohne Nationalität ist; aber so antivstrcichisch ist die Stimmung, im
ganzen Volk, daß er nur mit vieler Vorsicht die Vertheidigung der lombar¬
dischen Zustände unternehmen kann. Endlich machte das wiener Cabinet noch
einen Versuch, mit Frankreich insgemein die repräsentativen Institutionen in
Sardinien zu gefährden. Als nach dem Staatsstreich vom 2. Decbr. 1852
die Reaction auf der Höhe in Europa stand, stellte Oestreich dem Prinzpräsi¬
denten Sie Gefahren vor. welche beiden Ländern durch die Flüchtlinge und
die freie Presse in Sardinien erwüchsen. Der Marquis d'Azeglio beauftragte
seinen Gesandten in Paris, der französischen Regierung die Uebertreibungen
zu zeigen, welche Oestreich sich hierbei zu Schulden kommen ließ, und wie es
damit nur einen Schlag aus Piemonts Regierung zu führen gedenke, um sei¬
nen Einfluß unbeschränkt in Italien herrschen zu machen, wodurch es eben
den Frankreichs gänzlich vernichten würde. Das Cabinet der Tuilerien theilte
diese Auffassung und lehnte die angetragene Kooperation mit Oestreich ab, es
wollte die neuen Institutionen Frankreichs nicht Sardinien zum Vortheil Oest¬
reichs aufdrängen. Eine freie Tribüne in Turin ersparte Frankreich ein Be¬
obachtungscorps am Fuße der Alpen. Zugleich brach das Ministerium, dem
Azeglio vorstand, jenen Anschuldigungen die Spitze ab, indem es einige der
gefährlichsten Flüchtlinge auswies, andere auf den Wunsch Frankreichs intcr-
nirte, und trotz heftigen Widerstandes der Kammer ein Gesetz über die Presse
durchführte, welches die Beleidigung fremder Souveräne dem Urtheil der
Geschwornen entzog und jene Fürsten so mehr beschützte als den eignen König.
Die Negierung zeigte darin eine weise Nachgiebigkeit und keine Feigheit; denn
die Staaten zweiten Ranges können sich dem Einfluß großer Nachbarn, mit
denen sie auf gutem Fuße.leben wollen, nicht entziehen. Frankreich erklärte
sich durch diese Maßregeln befriedigt, und als sein Gesandter H. de Butcnval
in Turin auf eigne Hand einen zu hohen Ton annahm, ward er abberufen.
Der bedeutsamste Act, durch den dann später Sardinien in die europäischen
Fragen eingegriffen hat, ist bekanntlich sein Zutritt zur westlichen Allianz gegen
Rußland. Man hat dieselbe vom rein politischen Gesichtspunkt vielfach ge¬
tadelt und gefragt, was hat sie dem Staate eingebracht? Materiell allerdings
nichts; sie hat vielmehr Geld und Blut gekostet, moralisch hat indeß Sar¬
dinien gewiß Vortheil davon gezogen. Es ist immerhin etwas, ebenbürtig an
der Seite der Großmächte und Oestreich zum Trotz auf den europäischen Con-
gressen zu erscheinen und seine Vertreter in allen Commissionen sitzen zu haben,
welche sich mit der Ordnung der schwebenden Fragen beschäftigen. Sardinien
hat hier nach dem alten Satz eines seiner Fürsten gehandelt, der seinem
Nachfolger sagte: surtout vo^sx, quo rien ne i'-Wo <in Lurorxz, sans eins
von« ^ und diese active Politik hat es namentlich den andern italie¬
nischen Regierungen gegenüber gehoben, welche in träger Unthätigkeit verharr¬
ten, ja Neapel sah die westmächtlichen Gesandten infolge des pariser Friedens
abberufen, während Sardinien als eng mit diesen Mächten verbunden erschien.
Darauf aber, durch sein Beispiel die öffentliche Meinung in den andern Staa¬
ten Italiens zu gewinnen, kommt für Piemont alles an. bei jeder Maßregel,
die es nimmt, wird es sich fragen: welchen Eindruck wird sie in Italien
machen? Nicht daß wir die Lenker seiner Regierung für revolutionär halten,
im Gegentheil glauben wir, daß dieselben und namentlich Gras' Cavour
allen umstürzenden Pinnen feind sind und eine Einheit Italiens dermalen für
unmöglich halten. Sie wünschen aber aus Italien einen Staatenbund zu
machen, in welchem ihr Staat die' Hegemonie Hütte, zu diesem Zweck wollen
sie die Bevölkerungen gewinnen und durch ihr Beispiel einen moralischen
Druck auf die Regierungen üben. Letzteres ist allerdings bisher noch wenig
gelungen, ovwol sich nicht sagen läßt, was durch dies Beispiel verhindert ist;
in seinen Zwistigkeiten mit Toscana, dem Kirchenstaat und Neapel ist Sar¬
dinien nicht glücklich gewesen, in der letzten Angelegenheit, der des Cagliari,
gab Neapel geflissentlich England nach, um nicht den Anschein zu haben, dem
verhaßten turiner Cabinet zu weichen. Indeß kann sich das letztere hierüber
trösten, den ersten Zweck, die Popularität in Italien, erreicht es desto vollstän¬
diger; wo ein namhafter Mann von den despotischen Regierungen verfolgt
wird, geht er nach Piemont und dasselbe hat dadurch einen Zufluß von hervor¬
ragenden und reichen Leuten erhalten, der es nur heben kann.
Besondere Erwähnung verdienen noch die Zwistigkeiten mit Rom, weil
sie einen kirchlichen Charakter haben. Vor 1843 war Sardinien ein so ge¬
segnetes Priesterland wie Spanien. 1341 war mit dem päpstlichen Stuhl
ein Concordat abgeschlossen, welches die Geistlichen von den ordentlichen Ge¬
richtshöfen eximirte. der Artikel 24 des Verfassnngsstatutes hob alle außer¬
ordentliche Gerichtsbarkeit auf und damit auch die der Geistlichen. Der Justiz¬
minister Graf Sclopis. der dies besonders in einem Circular hervorhob, zeigte
sich zugleich bereit, wegen dieser Frage mit dem päpstlichen Stuhl zu ver¬
handeln; aber trotz der schlimmen Lage, in welcher derselbe war. lautete die
Antwort wenig entgegenkommend, die Unterhandlungen wurden von päpst¬
licher Seite lau geführt und eine besondere Sendung des Grafen Siccardi
führte zu nichts. Der Papst erklärte, daß jene Maßregeln, welche die geist¬
lichen Privilegien modificiren sollten, sein Herz wie die Kirche gleich verletzen
müßten. Das Anerbieten Piemonts nach der Flucht des Papstes, ihn wieder
nach Rom zu führen und dort zu vertheidigen, ward kühl abgewiesen. Man
mußte einseitig vorgehen. Das Siccardische Gesetz, dessen Urheber Minister ge¬
worden, ward mit 130 gegen 27 Stimmen angenommen. Dies ward der
Ausgangspunkt großer Schwierigkeiten, sowol gegenüber demOberhaupt derKirche
wie gegenüber dem Klerus, und das Gesetz über die Civilheirath erhöhte diese Mrß-
helligkciten noch. Die Geistlichkeit hatte bei dem letzteren einen Schein von Recht
für sich, indem der erste Artikel des Statutes die katholische Religion für die
Staatsreligion erklärt. Man wird aber nach der ausführlichen und unbefan¬
genen Darstellung Chialas. der im Gegentheil vielleicht etwas zu sehr auf
die klerikale Seite neigt, der sardinischen Regierung die Gerechtigkeit wider¬
fahren lassen, daß sie alles Mögliche gethan, das gute Einvernehmen mit
Rom wiederherzustellen und daß grade ihre gemnßigsten Borschläge den
^euigstm Erfolg bei dem Papste gehabt haben.
Der Raum mangelt uns hier, um die innere repräsentative Geschichte,
welcher das Buch Chialas vornehmlich gewidmet ist, im Einzelnen näher zu
Verfolger, ah^ man wird sie mit Interesse lesen, namentlich wird jeder
Preuße bei der Beobachtung, wie eine neu eingeführte Volksvertretung in einem
Lande, das mit Preußen so manche Aehnlichkeit hat, sich bewährt hat,
etwas von dem ein rss agitui- fühlen. Alan muß Sardinien Glück
wünschen, daß es eine Reihe bedeutender Männer gefunden, w,elche sich um
die neuen Institutionen geschart haben, besonders aber auch, daß es einen
König hat, welcher dieselben gedeihen läßt. Man sagt, er beschäftige sich
nicht viel mit den innern Angelegenheiten, indeß wir glauben, daß dies für
einen konstitutionellen König eher empfehlend als tadelnswert!) ist. Wie dem
aber sei. er hat in kritischen Momenten nicht nur die größte Loyalität, son¬
dern auch deu gesundesten Blick gezeigt. Ein glänzendes Beispiel hierfür ist
folgendes. Als nach dem unglücklichen Frieden das Ministerium durch die
demokratische Majorität heftig angegriffen ward und infolgedessen die Kam¬
mer auflöste, erließ der König eine Proklamation an sein Volk. „Durch die*
Auflösung," sagte er darin, „laufen die Freiheiten des Landes keine Gefahr,
sie sind durch die Erinnerung an meinen erlauchten Vater beschützt und der
Ehre des Hauses Savoyen anvertraut. Ich habe in einer frühern Proclama-
tion den Wählern ans Herz gelegt, das Statut nicht unmöglich zu machen,
aber die Kammer ist feindlich gegen die Krone aufgetreten. Es ist ihr Recht,
aber ich darf von ihr deshalb strenge Rechenschaft fordern, ich habe mit Oest¬
reich einen ehrenhaften und nicht zu nachteiligen Frieden geschlossen, das
Staatswohl forderte es, und die Ehre des Landes wie mein Eid forderten
getreue Erfüllung. Meine Regierung verlangte die Zustimmung der Kammer
dazu, und diese fügte eine Bedingung hinzu, welche ihre Zustimmung un¬
annehmbar machte. Ich habe geschworen, die Gerechtigkeit und die Freiheit
eines jeden nach seinem Rechte aufrechtzuerhalten, ich habe diese Verspre¬
chungen erfüllt, indem ich eine unmöglich gewordene Kaminer auflöste und
eine andere berufen habe. Aber wenn das Land, wenn die Wähler mir ihre
Unterstützung verweigern, so fällt die Verantwortlichkeit für die Zukunft nicht
mehr auf mich, sie werden sich über sich selbst allein zu beklagen haben." —
Kann man ehrenhafter und verständiger sprechen? Die Ansprache verfehlte ihre
Wirkung nicht, und die Wahlen gaben dem Ministerium eine ansehnliche
Mehrheit.
Drei Männer sind es vorzüglich, die unter denen, welche sich seit der
neuen Ordnung der Dinge ausgezeichnet, hervorragen. Azcglio, Cavour und
Natazzi. Azeglio hatte schon vor 1848 einen Namen in ganz Italien. Aus
alter Familie entsprossen, hatte ihn der vornehme Müßiggang des Militär¬
lebens im Frieden abgestoßen; er widmete sich der Malerei und zeichnete sich
als Landschafter aus, zugleich schrieb er in längern Zwischenräumen die drei
historisch politischen Romane Ettore Fieramosca, Nicola de Lassi und die Casi
ti Romagna, in welchen unter geschichtlicher Einkleidung ebenso warm die
Unabhängigkeit Italiens verfochten, als die revolutionären Sympathien zurück-
gewiesen waren. Als Pius IX. die Amnestie gab. veröffentlichte Azeglio den
Entwurf eines Programms für die öffentliche Meinung Italiens und im Ja¬
nuar darauf, nach den blutigen Auftritten in Mailand: die Kämpfe der Lom.
bardei. Als der Krieg erklärt war, nahm er den Degen in die Hand und
empfing bei Vicenza eine schwere Wunde. Wiederhergestellt kämpfte er in Tos-
cana vergeblich gegen die Revolution und ward, nach Turin zurückgekehrt, in
die Kammer gewählt. Im Mai 1849 berief der König Victor Emanuel ihn
als Ministerpräsidenten, und man dürfte wol sagen, daß sein Name allein ein
Programm war. Es war die erste Wendung zum Bessern. Genua ward durch
einen glücklichen Handstreich Lamarmoras unterworfen, der Friede mit Oestreich
unterzeichnet und mit der neugewählten Kammer der Weg ernster aber ruhigerer
Debatte betreten, die tumultuarischen Scenen erneuerten sich nicht mehr, sein
Ruf als Patriot und seine unangezweifelte Ehrenhaftigkeit gaben ihm das all¬
gemeine Vertraue». Der ideenreiche Schnftsteller, der feinsinnige Kunstlieb¬
haber zeigte sich als praktischer Staatsmann, er wußte zu warten und zur
rechten Zeit zu handeln, „zieht das Korn nicht an den Aehren," sagte er ein¬
mal, „ihr würdet es ausreißen und man müßie es nochmals säen." Wenig
bellen und oft beißen, erklärte er ein andermal als seinen Grundsatz. Als
er von seinem Posten zurücktrat, durfte er sich sagen, seinem Lande unschätz¬
bare Dienste geleistet zu haben.
An seine Stelle trat Graf Camillo Cavour. der kurz zuvor wegen einer
Differenz aus dem Cabinet geschieden war. Der europäische Ruf des Man¬
nes wird einige nähere Mittheilungen über ihn rechtfertigen. Aus alter Fa¬
milie entsprossen, war er wie Azeglio kein Freund vom Müßiggehen; sein scharfer
, Verstand warf sich aus die exacten Wissenschaften und Volkswirtschaft. Da
hierfür in Piemont unter dem alten Staatsw'eher kein Raum war, ging er
ins Ausland, um seine Studien zu verfolgen. Ein Artikel von ihm über Jr-
land zog die Aufmerksamkeit zuerst auf sich; erbereiste England und hielt sich
mehre Jahre in Paris auf. Bei seiner Rückkehr nach Sardinien half er die
Associazione Agraria mit begründen, welche unter diesem Namen nationale
Tendenzen nährte. Ende 1847 nach den ersten Reformen gründete er die Zei¬
tung Risorgimento und unterzeichnete die Adresse an den König, welche um
Gewährung einer Verfassung bat; als das Statut erschien, trat er als Ab¬
geordneter in die Kammer ein. und ward wegen seines Widerstandes gegen das
damalige demokratische Ministerium sehr unbeliebt. In der neuen Kammer
unterstützte er das Ministerium Azeglio auf das lebhafteste und ward von dem¬
selben bei einer Vacanz dem König lebhaft als Handelsminister empfohlen.
Victor Emanuel hatte nichts gegen ihn. aber sagte mit seinem gesunden Takt
auf diesen Vorschlag dem Minister des Innern: Aber sehen Sie nicht, daß
dieser Mann schließlich Sie alle ausstechen wird? — Die Folge gab ihm Recht
Cavour verstärkte das Cabinet wesentlich durch seine Talente, sein Einfluß
innerhalb desselben wuchs rasch, und er war es, der die Verbindung des
Ministeriums mit dem linken Centrum vermittelte oder richtiger, Azeglio zu
bewegen wußte, dessen Unterstützung anzunehmen. Wegen einer Differenz mit
dem Minister des Innern trat er aus und ward, wenn auch nicht Gegner des
Cabinets, so doch demselben unbequem; zu den Zwistigkeiten mit Rom kamen
finanzielle Schwierigkeiten für das Ministerium, es gab seine Entlassung und
Cavour ward Präsident des neuen Cabinets mit dem Portefeuille der Finan¬
zen. Diese Stellung bekleidet er noch, indem er fast stets ein anderes Mini¬
sterium act inteiim verwaltet, manchmal sogar zwei, das des Innern und
der auswärtigen Angelegenheiten. Seine ungeheure Arbeitskraft scheint jeder
Aufgabe gewachsen, er hat die dornige Aufgabe, die hart bedrängten Finan¬
zen zu bessern, nach Kräften durchgeführt, eine freisinnige Handelspolitik be¬
gonnen und durch Verträge mit Oestreich, England, Frankreich, Belgien ?c.
befestigt, das Eisenbahnnetz vollständig gemacht und dem ganzen Verkehr einen
großen Aufschwung zu geben gewußt. Er ist die Seele des westmüchtlichen
Bündnisses gewesen, und hat offen die Fahne einer italienischen Politik ent¬
faltet, er hat aus dem pariser Congreß seine Stimme für Italien erhoben
und bei allen Berathungen dem Land, welches er' vertrat, durch seine Ta¬
lente, das Freunde wie Gegner bewundern mußten, Achtung zu verschaffen
gewußt. In der Kammer ist er aus heftigen Debatten als Sieger hervor¬
gegangen, so daß alle Parteien ihn als Mann der Situation haben aner¬
kennen müssen. Cavour ist nicht eigentlich ein Redner, sein Organ ist scharf
und unangenehm, der oratorische Schwung fehlt ihm, aber niemand weiß eine
Sache klarer auseinanderzusetzen, niemand ist fertiger zur Erwiederung, nie¬
mand schärfer und kaustischer un Witz als er, er gleicht in dieser Beziehung
Thiers. Zuerst macht er den Eindruck eines behäbigen Bourgeois, aber ob-
wol er an der Spitze des dritten Standes in Piemont steht, so merkt man,
noch ehe er geredet, an dem feinen ironischen Lächeln den überlegenen Welt¬
mann, welchen seine Unterhaltung stets zeigt. Ehrgeizig ist Cavour gewiß,
aber wir glauben weniger persönlich als für die Ideen, welche er versieht,
wenigstens kann ihm niemand nachweisen, daß er aus persönlichen Motiven
geschwankt; lange ehe er ins öffentliche Leben eintrat, hatte er dieselbe poli¬
tische Grundanschauung, die ihn später geleitet, gewonnen und die Verbindung
mit dem linken Centrum, welche ihm lebhaft vorgeworfen ward, war der
einzig mögliche Weg, mit der Kammer zu regieren.
Der Führer dieser Linken war Natazzi. Er trat 1S48 ins öffentliche
Leben mit dem Nus eines bedeutenden Rechtsgelehrten, und Redners ein, ging
zuerst weit links und machte große Fehler in der italienischen Frage. Er ward
dann Minister unter Gioberti, dessen Herrschaft bekanntlich nur kurz war, mit
einem Worte sein erstes Auftreten war durchaus verfehlt und unglücklich. Er
fand aber' seine Stellung nachher als parlamentarischer Redner und Führer
und ward nach lebhafter Opposition erst Vicepräsident. dann Präsident der
Kammer. Allmälig kam es zur, Vereinigung zwischen ihm und Cavour, in
dessen Ministerium er nach San Martins für das Innere eintrat und bis
Anfang dieses Jahres blieb; er ist ein gewandter und bedeutender Kops, doch
Die Erscheinung dieses Werkes, dessen erster Band hier vorliegt, sällt in
eine für die Wiederbelebung der Händelschen Hinterlassenschaft ungemein thä¬
tige Zeit; in Leipzig bereitet eine Gesellschaft nach Art des Bachvereins, an
deren Spitze Chrysander steht, die Herausgabe sämmtlicher Werke Handels
vor. und für das Händeldcnkmal in Halle wird viel Thätigkeit entfaltet, so-
wol in der Gcburtsstadt des Meisters selbst, als auch an andern Orten, so
daß der Plan seiner endlichen Verwirklichung entgegengeht. Jederzeit bleibt
jedoch die allgemeinere Verbreitung der Werke durch die Herausgabe das
beste Denkmal — so hat das Studium und die Würdigung Bachs ohne
Frage einen großen Aufschwung genommen, seit seine Werte auch in Hände
gelangt sind, welche sich bei den bisherigen theuern Preisen und der Selten¬
heit der Drucke und Handschriften oft genug vergebens danach geöffnet haben
mögen. Ueberdies regt sich in ganz Deutschland mit wunderbarem Eifer eine
große Thätigkeit sür Wiederaufnahme von Werken alter Kunst, nicht nur ver¬
einzelt bei Sammlern und Geschichtschreibern, sondern mit dem wirklichen
Bestreben, diese verborgenen Schätze auch weiteren Volkskreisen zugänglich zu
machen, und ein populäres Verständniß derselben anzubahnen.
Da unsre Kunst in der unmittelbaren Gegenwart bis jetzt noch zu keinen
maßgebenden Resultaten über die Vergangenheit hinaus gelangt ist. sondern
«se an der Erweiterung ihrer Ideenkreise arbeitet, so ist das Bestreben, durch
Popularisirung in sich vollkommener Werke ^abgeschlossener Perioden
auch im Boll einen sichern Grund zum höhern Weiterbau zu legen, wol
in keiner Weise anzufechten. Wer die Vergangenheit mit einiger Kenntniß und
Aufrichtigkeit betrachtet, kann bestimmt nicht zu der Meinung gelangen, man
müsse die in ihr zum Abschluß gelangten Ideen völlig abschütteln, um so im
Stande zu sein, Neues unmittelbar aus sich selbst herzustellen; dennoch ist
diese Täuschung heute, besonders unter Künstlern nicht so selten. Ebenso¬
wenig kann sich auch die Ansicht bilden, die Kunst hatte überhaupt ihre Be¬
stimmung erfüllt und würde bei den bis jetzt erreichten Resultaten stehen blei¬
ben, das heißt, ihrem Verfall entgegengehn. Das ist aber gradezu gegen die
ganze Kunstgeschichte, wie überhaupt wieder die Natur der unendlichen Fort¬
bewegung und Weiterbildung des Geistes im Menschen und in der ganzen
Welt. In der ganzen Entwicklung der Kunst, selbst in den unproductivsten
Uebergangsperioden, hat dieser Geist unablässiger Fortbewegung zum Höheren
auch nicht einen Augenblick geruht. Allemal, wenn die höheren Ideen einer
Zeit vollkommen Gemeingut geworden, und so das ganze Volk auf eine höhere
Stufe erhoben und für das Empfängnis; neuer Ideen befähigt haben, sind neue
und weitere Aussichten in das Reich des Geistes eröffnet worden, bis auch diese
erreicht sind, und der Proceß der geistigen Entwicklung sick so ins Unendliche
fortsetzt. Wenn der Zeitpunkt eintritt, daß das Erbtheil unsrer großen Bor¬
fahren in der Kunst nicht mehr vereinzelter Besitz, sondern allgemein geistiges
Eigenthum ist, nicht mehr in einseitiger Betrachtung und halbem Verstehen
als abgethan angesehn und so des wirklichen Einflusses auf einen wahr¬
haften Fortschritt beraubt wird, dann können wir unbesorgt einer sicheren
Weiterentwicklung der Kunst entgegensehen; sie ist noch nie ausgeblieben, und
wird auch in heutigen Tagen nicht ausbleiben.
Somit darf man in dem Bestreben, die alte Kunst als etwas für unsern
Fortschritt Lebenskräftiges hinzustellen, keineswegs das Verlangen, in alte
Formen und Anschauungen zurückzukehren, erblicken, sondern nur die Absicht,
einen festen und sichern Boden zu erhalten, aus dessen Bearbeitung die Keime
einer neuen und immer höheren und reicheren Blüte emporstreben sollen.
Namentlich sür die Kirchenmusik bedürfen wir so fester, in ihren Ideen und
Formen bestimmt abgeschlossener Vorbilder, wie sie uns die alten Meister
gegeben, wenn dieselbe nicht ihr ideales Reich verlassen und durch die
gezwungene Verbindung sich gegenseitig negirendcr Stoffe und Ausdrucks¬
mittel für die Kunst nur zu einem Scheinleben herabsinken soll. Die
Kirchenmusik, welche in dem Verhältniß des Menschen zur höchsten
Vernunftidee — dem göttlichen Wesen — ihre Stoffe findet, darf einer
einseitig sinnlich unklaren Gefühlspoetisirerei ebenso wenig verfallen, wie
einer unselbstständigcn Verstandesnachahmung ausgelebter Formen. In der
heutigen Zeit, in der gewiß der Drang lebt, die durch Formenwesen ver¬
dunkelte Religionsanschauung zur reineren Klarheit herauszustellen, ohne bis
jetzt zu einem Abschluß gelangt zu sein, ist auch die Kirchenmusik, wenn man
überhaupt von einer solchen sprechen kann, ebenso häusig einer unklaren Ge¬
fühlsschwärmerei wie dem abstracten Verstandesformalismus verfallen. In
den Werken altkircblicher Kunst bis zu ihren Gipfeln Bach und Händel, ist
Stoff und Ausdruck untrennbar, völlig Eins, wie es in der Kunst sein soll,
überall in sich die vollkommenste Wahrheit, wenn auch die Ausdrucksform durch
die Anschauungsweise des Zeitalters bedingt. Deshalb ist das Studium der
alten Meister für die religiöse Musik unserer, über deren Standpunkt sehr
unklaren Zeit, das beste Kräftigungsmittel; jedoch auch nur dann, wenn es
die innern Beziehungen zwischen der äußern Erscheinung und der darin
ruhenden Idee aufzudecken, und durch unsere heutige Anschauung modificirt. in
uns ganz verständlicher Weise wieder herauszustellen sucht, sich aber nicht mit
bloßer Betrachtung und Nachahmung der äußerlichen Form begnügt.
Indem wir noch flüchtig den Nutzen berühren, welchen in dieser Beziehung
die Ausgabe der Bachgesellschaft gestiftet hat. wenn man auch mit deren die
Folge der herausgegebenen Werke betreffenden Anordnung allerdings keines¬
wegs einverstanden sein kann — wollen wir der Händelgesellschast nur Glück
wünschen, daß sie einen so vorzüglichen Kenner seiner Sache, wie Chrysander
an ihrer Spitze hat. Andrerseits macht die allgemeine Vortrefflichkeit seiner
Händelbiogrciphie das Verlangen rege, daß auch eine ähnliche Lebensbeschreibung
Bachs die Herausgabe seiner Werke begleiten mochten. Eine Biographie
Bachs muß man fast ooch für eine größere Aufgabe halten; sein Leben und
Schaffen, sehr in sich gekehrt und nach außen hin weniger bewegt wie Han¬
dels, hat für uns etwas Mystisches, grade wie seine Werke, deren Stoffe,
wenn auch mit den kirchlichen Satzungen seiner Zeit im engsten Zusammen¬
hang, doch durch seine allumscisseude Geisteskraft in den mannigfachsten Formen
einen unendlichen allgemeinen Jdeeninhalt gewonnen haben. Bei dem kräf¬
tig nach außen hin lebenden Händel, dessen ganzer Entwicklungsgang klarer
zu übersehn und mit seinen Werken in Einklang zu bringen ist, kommt dem
Geschichtschreiber auch mannigfaches biographisches, freilich der Sichtung sehr
bedürftiges, Material zu Gute; über Bach weiß man aber sehr wenig. Bei
keinem Meister ist die Person vor den Werken mehr in den Hintergrund ge¬
treten. Die Kraft und Liebe, mit der Chrysander seinen Meister studirt und
sich in ihn hineingelebt hat, die außerordentliche Richtigkeit und Gesundheit
des Urtheils lassen in ihm einen Musikgeschichtschreiber erblicken, wie die heu-
tigeHeit unter den Lebenden kaum eines zweiten sich rühmen kann. Ob aber auch
Bach durch ihn seine ganz gerechte Würdigung erlangen würde, müßte noch
durch seine von Natur aus innige Stellung zu Händel in Frage gestellt
bleiben.
Am Schluß des ersten Capitels spricht der Verfasser die Worte aus:
.,Die Bescheidung eines solchen Lebens höherer Begabung muß bestrebt sein,
jeden Schritt seiner Entwicklung, von der traulichsten Umfriedung der Familie
aus bis zum höchsten aufsteigend, verständlich darzustellen." Diesem Aus-
Spruch ist er unermüdlich treu gewesen; die große Sicherheit, mit welcher
Chrysander seinen ganzen Stoff übersehn und geordnet hat. Beziehungen
aufdeckt, das Dunkel erhellt, mit dem frühere Händelbiographcn manche
Ereignisse überschattet haben, Thatsachen zu erklären und in Einklang zu
bringen weiß, können nur ein Resultat des ernstesten Fleißes in der Forschung
und der freudigsten Hingebung an die Sa'che sein. Allerdings ist auch nicht
zu übersehen, daß diese an sich ganz natürliche Hingabe an eine so macht¬
volle Künstler- und Menschengestalt wie Händel, dessen schöpferische Kraft und
innere Gcmüthsreinheit so untrennbar Eins waren, daß alle Lebensstürme sie
nicht wanken machen konnten — leicht zur Unterschätzung der Zeitgenossen
und anderer Richtungen führt, daß das Bestreben, Person und Thätigkeit stets
im Einklang hinzustellen, leicht veranlaßt, Erklärungen zu finden, wo man sie
finden will, und so, wenngleich in der besten Absicht, die Treue der rein histo¬
rischen Darstellung etwas' zu trüben. Daß Chrysander, namentlich in seiner
Position Handels Bach gegenüber wol etwas zu weit geht, desgleichen die
Hamburger Zeitgenossen sehr dunkel färbt. um den Helden aus diesem Schatten-
complex desto reiner hervorstrahlen zu lassen; andrerseits auf Händel unmittel¬
bar wirkenden Künstlern, wie Stcsfani. eine zu hohe Stellung einräumt, ist mehr
vom Gesichtspunkt der künstlerischen Darstellung wie der historischen Strenge
zu rechtfertigen. Die Form der Biographie gewinnt allerdings dadurch außer¬
ordentlich um Klarheit, daß Händel überall seine Zeitgenossen mit einem
künstlerisch und ethisch so verklärten Licht, in das alle Strahlen der damaligen
Geistesbewegung in der Kluft zusammenfließen, so überglänzt, daß selbst Bach
ihm nur als Nebensonne beigeordnet erscheint. Die Klarheit und Bestimmt¬
heit, mit welcher der Verfasser alle früheren Erscheinungen auf Händel selbst hin¬
deutend und alles Gleichzeitige in ihm als in die Erfüllung aufgehend darstellt,
läßt den ganzen ungemein umfassenden Stoff wie ganz von selbst in einem
Punkt die Vereinigung finden, so daß auch ein mit der Sache wenig ver¬
trauter Leser von Handel selbst und zugleich von seiner Zeit ein in höchster
Vortrefflichkeit concentrirtcs, lebensvolles Bild bekommt. Dazu trägt die ein¬
fache, aber höchst kernhafte Darstellungsweise nicht wenig bei — jedes Wort¬
pathos und jede an Stelle von Gedanken tretende Phrase ist dem Verfasser
von Natur aus > unmöglich, deshalb auch überall die logische Richtigkeit.
Kommt man in dem Werk auf einen Punkt, in dem die eigene Ansicht mit
der Chryscmders nicht übereinstimmen kann, so wird man doch nie auf etwas
stoßen, was sich in sich selbst widerspräche, oder nur so obenhin gesagt wäre.
Eine höchst gründliche und umfassende Kenntniß der musikalischen Satzkunst,
und sein immer wacher und scharfer Blick in die beurtheilten Partituren,
lassen ihn stets aus d<in Werken und Quellen selbst, aus denen er allein
seine Ansicht entwickelt, ost an sich unscheinbare Merkmale finden, woraus sich
jedoch winklige Resultate für seine ganze Schilderung ergeben. Schon
durch diese wahrhaft tüchtige Sachkenntnis- hat Chrysander einen unendlichen
Vorsprung vor der fast gesammten Musikschrislstellerci der heutigen Tage, der
es, Gott seis geklagt, oft genug an positiver Kenntniß und folglich an tüch¬
tig sachlicher Beurtheilung fehlt, sonst würden in der neuesten Musikliteratnr
sich nicht eine Masse Fragen herumtreiben, zu deren Erledigung es. bei aller¬
dings gründlichem Studium, in vielen Fällen nur einer zwanglos freien, un¬
mittelbar von der Sache selbst, nicht von selbstgefälligen Hypothesen aus¬
gehenden Fixirung bedürfte. Die unendliche Phrasenmacherei. welche in der
heutigen Musiklit'eratur sich breit wacht, und öfter ein Erzeugnis; persönlicher
Eitelkeit wie reeller Sachkenntniß ist. verwirrt den Gegenstand, auf den sie sich
wirft, statt ihm Klarheit zu verleihen. Unsere meisten Musikschriftsteller
können von Chrysander lernen, und ihm für sein Vorbild dankbar sein. —
Der vorliegende erste Land der Biographie umfaßt Handels Jugend und
Lehrjahre in Deutschland 1685—1706, und seine Wanderungen in Italien
und England bis zur Rückkehr vou Cannons 1720. Händel röurde 1685 zu
Giebichenstein bei Halle geboren; alle edeln Gemüthseigenschaften, welche sich
später in ihm entwickelten, findet Chrysander schon in seiner Mutter. Tochter
des Pastor Taufe zu Giebichenstein. vorgebildet: „den hellen Geist, die tiefe
Frömmigkeit und Bibelkenntniß, die starke Liebe zu den Eltern, die geringe
Neigung zur Heirath eben in der Blüte der Jugend, die Tüchtigkeit im ge¬
stimmten Tagewerk, den Ernst und die Sittsamteir. das alles hat sie mit ihm
gemein, hat'sie ihm eingebildet und eingeboren." Und in ähnlicher Weise
besaß der Vater „etwas von dem kühnen Drange nach außen und aufwärts,
von dem unbeugsamen Willen und der bis ins höchste Alter ungeschwächten
Kraft, von jenen Eigenschaften also, durch welche der Sohn die Bewunderung
der Zeitgenossen erregte, und seinem Genius nach langem Kampf zum Sieg
verhalf." Der damals in Deutschland allgemeine Widerwille gegen „die Pro¬
fession der Musik" wohnte auch Handels Vater inne, er wünschte, daß der
Sohn etwas Gutes lernen, und sich zu einem tüchtigen Juristen bilden möge,
deshalb durfte er die Kunst, für welche er von der Natur vorausbestimmt
war. im elterlichen Hause anfänglich nur heimlich und später zwar geduldet
ausüben, aber ihr keineswegs ganz angehören. Als er in Halle die lateinische
Schule bezog, wurde er jedoch dem Organisten Zachau (1663—1712) auch als
Schüler in der Tonkunst überwiesen. Wenngleich Zachau keine selbstständige
Bedeutung in der damaligen Kunstentwicklung gewann, und Händels Natur
von der seinigen grundverschieden war. so „trafen sie sich doch in der glück¬
lichen Zeit, wo Zachau noch frisch, und Händel seiner abweichenden Art sich
noch nicht bewußt war," und es ist anzunehmen, daß ervtüchtiger als Lehrer
Wie als Componist. Handels Studien eifrig und geschickt geleitet habe. Das
Componiren ging Händel.schnell von der Hand „Orgelstücke und Kirchencan-
taten waren das Gewöhnliche, anch mühte Wache für Woche etwas Neues
aufgetragen werden." Auf einem Ausflug nach Berlin 1696 lernte Friedrich I.
den Knaben kennen, und wollte ihn auf seine Kosten in Italien ausbilden
lassen; weil aber seine lebenslängliche Abhängigkeit vom preußischen Hos da¬
durch bedingt worden wäre, lehnte seine Familie das Anerbieten ab. Schon
1697 starb Händels Vater, dennoch hielt der Sohn dessen früheren Wunsch,
ihn auf einer wissenschaftlichen Bahn zu sehen, heilig, und bezog 1702 die
Universität zu Halle als Student der Rechte. „Das äußere Leben mit dem
innern in Einklang zu bringen, ist das Bestreben jedes kräftigen Menschen,
und wie sehr 'mußte unser Händel danach Verlangen tragen! dennoch hat er
solches niemals eigenmächtig oder vorzeitig durchsehen mögen. Bei allem
übermächtigen Genie, das in ihm lebte, hat er seinen Eltern nie durch Genie¬
streiche kummervolle Nächte gemacht. Erst als er ein gesetztes Alter und jene
wunderbare innere Reife erlangt hatte, bog er mit aller Einwilligung in die
Bahn ein, weiche der eingeborne Beruf ihm anwies." Am 13. Mai 1702
wurde der Studiosus Händel „als geschicktes Subject" zum Organisten bei
der Schloß - und Domkirche zu Halle förmlich installirt; wahrscheinlich schlug
man die guten Lebensregeln, welche die schriftliche Bestattung würzten, so hoch
an, daß der Gehalt sich nur auf quartaliter 12 Thlr. 12 Sgr. belief. Grade
genug für so ein „Subject," um dabei zu verhungern—kommt heutigen Tages
auch noch vor. Gelegenheit zum Componiren und Fantasiren hatte er hier
genug, aber die Stelle legte er nach Ablauf eines Jahres nieder, mit ihr auch
für immer das Corpus juris, und wandte sich nach Hamburg, 17 03.
Hier blühte die Musik in jener Zeit wie nirgend anders in Deutschland —
und zwar besonders die Oper. Die ersten Versuche im Musikdrama um 1600
in Italien entwickelten sich langsam in Ausdruck und Form, schon 1638 jedoch
bildete sich zu Venedig eine stehende Opernbühne. 1660 wurde die Oper durch
Cavalli nach Frankreich verpflanzt. In Deutschland schuf Heinrich Schütz 1628
das erste deutsche Singspiel, welches, die Festopern seit 1650 abgerechnet, keine
Fortbildung fand, bis 1678 von einigen Privatpersonen in Hamburg ein öffent¬
liches, deutsches Opernhaus errichtet wurde, welches jedermann zugänglich war.
Trotz den Ungewittcm und rhetorischen Wasserfluten, welche von den Kanzeln und
in Druckschriften der Geistlichkeit dagegen losgelassen wurden, faßte das Unter¬
nehmen Fuß im Volte, und die Bühne stund von 1692—1703 in hoher Blüte.
Die Künstler waren angesehen und in Ehren gehalten. Reinhard Keiser schrieb
von seinen 120 Opern die meisten für Hamburg, er war der Held des Tages;
an musikalischen Genie reich, von natürlicher Melodicfülle überströmend, ist er
durch die Frische und Naturwüchsigkeit seiner Erscheinung der Entwicklung der
Hamburger Oper fördernd gewesen. Seine Sittlichkeit jedoch beschränkte sich
so ziemlich auf „eine staute Tugend", und deshalb konnte sein ganzes Wirken
weniger auf Veredlung und Erhebung der Kunst, als auf augenblickliches
Genügen gerichtet sein. Matthesou. damals erster Tenorist am Theater und
ausgezeichneter Klavierspieler, nahm Händel unter seine Fittige und that sich,
seinem eiteln Charakter gemäß, allerdings nicht wenig darauf zu gut. Händels
Thätigkeit wandte sich hier, eine Passion nach Johannes ausgenommen, der
Oper zu; daß er aber sür die Dauer in diesem, allerdings geistig höchst be¬
wegten . aber auch durch Lascivität und Gemeinheit befleckten Treiben keine
volle Befriedigung finden und seine Entwicklung nicht zur Reife bringen
konnte, ist natürlich. Trotz seiner nahen Beziehungen zum Theater lebte er
von demselben zurückgezogen und erwarb durch Fleiß und Sparsamkeit die
Mittel zur Reise nach Italien. Auch hier bewahrte sein reiner und hoher
Geist 'die Unabhängigkeit; seine tieft Moralität und sein nur aufwärts gerich-
teter Genius ließen ihn aus dem galanten, das heißt liederlichen und frivole«
Treiben der Hamburger Künstler und Musensöhne unberührt hervorgehen, und
nur das in sich aufnehmen, was seiner Entwicklung förderlich war. Chryscmder
gibt von dem Hamburger Künstlerthum ein Bild von unvergleichlicher Plastik,
wenn auch mit etwas zu grellen Farben und zu tiefen Schatten; Händels
Gestalt ragt mit einer wahrhaft idealen Einfachheit und Kraft aus dem Ge¬
wirr kleinlicher und niederer Leidenschaften hervor.'
Er trat mit ungetrübter innerer Reinheit seine Reise nach Italien an.
welches seit hundert Jahren als die Hochschule der Musik galt, wenngleich zu
Händels Zeit die Wanderungen dorthin nachließen, weil die Musik in Deutsch¬
land bei dem gewonnenen neuen Boden die classische italienische Schule ent¬
behren zu können glaubte. Das Theater stand in Italien in höchster Blüte,
in den Jahren um 1700 wott'das musikalische Schaffen zu einer wahren Ge¬
meinthätigkeit geworden „es bildete sich nach und nach sür die musikalische
Kunst ein fester Kanon, der um bildender Kraft der Antike nichts nachgab.
Italien wirkte nur auf Händel, wie das Alterthum auf Italien gewirkt hatte."
Ehrysandcr legt mit Recht großen Werth auf Händels Studien und Reisen
in Italien, indem diese Lebensperiode auf seine ganze spätere künstlerische Ent¬
wicklung von großem Einfluß gewesen ist. Deshalb ist auch nichts übersehen,
was ein Licht auf diese Periode werfen könnte. kein Punkt und keine Einzeln¬
heit, noch so geringfügig erscheinend, ist abgefertigt, ohne zur möglichsten Er¬
kenntniß des richtigen Ganzen etwas beigesteuert zu haben. Die Handschrift,
d»s Wasserzeichen des 'Papiers haben den Autor oft aus Schlüsse geführt,
^lebe mindestens große Wahrscheinlichkeit sür sich beanspruchen.
Höchst interessant zeigt sich schon hier wie später bei Betrachtung seiner
Werke die stete geistige Fortentwicklung Händels in der Art und Weise, wie
er sowol eigne Melodien und Motive, als auch von andern Meistern ent-
lehnte, vielfach umbildete und vervollkommnete, und in dieser neuen und voll¬
endeteren Gestalt späteren Werken einfügte. Chrysandcr läßt uns „einen Blick
in die Werkstatt" des Meisters werfen: „Seine eignen Gedanken, so lange
sie noch unerschöpft und mangelhaft gestaltet waren, unterlagen derselben Um¬
bildung, die er denen andrer Tonmeister angedeihen ließ. Was er angriff
wurde sein eigen. Man kann in seinen Werken fremde Quellen nachweisen,
aber nicht fremde Gedanken. Ohne eine wirkliche geistige Uebermacht würde
auch das größte musikalische Geschick ihn dazu nicht befähigt haben. Auf
solche Weise hat er die Entlehnung fremden Gutes gerechtfertigt, zugleich auch
die betreffenden Meister, und damit wesentlich die ganze Musikgeschichte vor
ihm mit einer Schärfe und Gerechtigkeit beurtheilt, von der man heutzutage
wol weit entfernt sein muß, da für diese große That Handels sogar das Ver¬
ständniß fehlt." Damit erscheinen diese „Plagiate.", welche Händel an andern
Meistern begangen haben soll, in der That erledigt — unsere Gegenwart muß
diese Rechtfertigung sehr wohl gelten lassen; denn wenn sie selbst alles verdam¬
men sollte, was nicht unmittelbar neu in ihr entstanden ist, so würde ihr
leider wenig unoerurtheilt übrigbleiben. Davon sind die Kunstrichtungen,
welche gradezu die Vergangenheit negiren und sich als selbstständig aus der
Zeit emporgewachsen hinstellen wollen, um allerletzten ausgenommen. Durch
Vervollkommnung und Erweiterung des Ueberliefeiten hat die Kunst, mit der
Weiterbildung des menschlichen Geistes Schritt haltend, ihren Entwicklungs¬
gang zum Höhern genommen; unmittelbar neu vom Himmel gefallen ist nichts.
Auf die Entlehnung eines Motives kommt es auch nicht an, sondern auf die
vollkommnere Gestaltung desselben zu einem Gedanken, ein und dasselbe Motiv
kann durch die Entwicklung vollkommen neu werden.
Auch in Italien wurde das eigentliche Feld der Thätigkeit für Händel
die Oper, in der Kirchenmusik hatte Italien „einen Kanon, von dem die ita¬
lischen Komponisten nicht abwichen. Das möglichst genaue Eingehn daraus
mußte für Händel Pflicht sein, wenn er hier durchdnngen wollte, dennoch hielt
er hier an seiner Weise, wie an seiner Confession fest." Die liturgischen Sätze
boten ihm nicht das Lehrreiche wie die Oper, und „er war nicht nach Italien
gegangen, um seine Gottesfurcht zu bethätigen, sondern um in der Kunst
Neues zu lernen."
Händel besuchte Florenz, Venedig. Rom und Neapel und erweckte überall
seiner Kunst Bewunderung und seinem Charakter Achtung. Alle sinnlichen
Reizungen Italiens vermochten nicht, seinen aufwärts gerichteten Blick vom
Höchsten abzulenken — ein Werk II Irionko äst lemxc» e act visiuMirno,
in welchem die Schönheit die Verlockungen der Sinnlichkeit abweist und noch
in vollster Blüte sich, zur Weisheit wendet, ist bezeichnend genug für sein
Wesen. Er hat diesen, mit ihm so eng zusammenhängenden Gedanken stets
Miss neue umgewandelt und erweiternd veredelt, er bildete auch den Schlu߬
stein seines Wirkens „er arbeitete zu allerletzt daran, in den wenigen Augen¬
blicken, welche die Tage seiner Blindheit erhellten, bis in sein 72. Jahr."
Auch Versuche ihn zum Katholicismus zu bekehren mißlangen natürlicherweise.
Aus der Oper Agrippina. 1708, ging eine in die Oper Pyrrhus von Scarlatti
aufgenommene Arie nach England über — die ersten Töne, welche von Hän¬
del nach England drangen und auch sogleich Wurzel schlugen. In Venedig
lernte er Kielmannsegge und Steffan kennen, ging mit ihnen nach Deutsch¬
land, wurde Kapellmeister zu Hannover, und trat im Spätherbst 1710 seine
erste Reise nach London an.
„Wenn irgend etwas in seiner an großen Zügen so reichen Wanderung,
so ist diese Fahrt über eine Kunstreise gewöhnlichen Schlages erhaben. Sie
war folgenreich für sein ganzes Leben, indem sie seine Neigungen so sehr an
dieses Land fesselte, daß er demselben fortan fast ausschließlich seine Kräfte
weihte; und sie war im höchsten Maße bedeutsam für die englische Musik¬
geschichte, da mit Handels Auftreten eine neue Periode, die eigentliche Glanz¬
zeit beginnt."
Man sah Handel mit großer Erwartung entgegen, der Ruf von seinen
ungemeinen Fähigkeiten war ihm schon vorausgegangen. Die MusiMebc war
während der letzten Jahre sehr gewachsen, entbehrte aber noch des eigent¬
lichen Führers; im Volk lebte wol das Verlangen, sich auf eine höhere
Kunststufe zu schwingen, aber nicht die dazu nöthige productive Kraft. Getöse
Purcell, der reichbegabte Vorgänger Handels. vermochte nicht, trotz Gesund¬
heit, Vielseitigkeit und dramatisch einheitlicher Gestaltungskraft, die englische
Oper zur Vollendung zu führen. Aber das in sich kraftvolle, poetisch damals-
hochstehende Volk mit einer neu aufblühenden Literatur und vielem Kunst¬
drang, war der geeignete Boden, in dem die durch Purcell gepflanzte und durch
Händel zur Reise gebrachte Frucht wohl gedeihen konnte. Der junge Theatcr-
director am Heumarkt, Aron Hill, ein vielseitig gebildeter junger Mann voll
Phantasie und Feuer, aber ebenso voll Unsicherheit und heißblütiger Unbe¬
ständigkeit bei Ausführung seiner verschiedenartigsten Pläne, empfing Händel
mit offenen Armen. Die Oper Rinald kam in vierzehn Tagen durch Händel
zu Stande und brachte ihm Ehre und Ruhm in Italien, Hamburg und. mit
Ausnahme des Widerspruchs bei Addison und Steele, auch in England.
Am Schluß der Saison ging er nach Hannover, um das Kapellmeister-
"'ut. welches sein berühmter Vorgänger Agostino Steffan, geb. 1V55 zu
tastet franco niedergelegt hatte, anzutreten. Die ausführlichen Mittheilungen
Chrysandcrs über Steffan sind von Interesse, da im Ganzen über Stcffanis
Werke und Wissen wenig bekannt ist. Auf die Entwicklung der Oper als
dramatisches Kunstwerk im Ganzen hat er keinen großen Einfluß geübt; die
vorzüglichen Duetten, wodurch er die schalen Zwischengesänge verdrängte, und
deren viele auch außerhalb der'Oper entstanden, sind sein größtes Verdienst.
Auch als Schriftsteller erließ er ein, von Chrysander zu hoch geschätztes Schrift¬
chen, in welchem die Begründung der Musik als Kunst und Wissenschaft dar-
gethan wird. Es läßt sich denken, daß Steffani sowol als Künstler, als
auch durch manches in seinem Betragen auf Händel vortheilhaft gewirkt hat.
Dieser kehrte bald nach England zurück; seine londoner Erlebnisse mannig¬
facher Art, der Erfolg seiner neuen Opern (mit dem Ertrag der ersten Abende
nahm Herr Swiney, der Director, Gelegenheit davon zu laufen) sein Leben
beim Grafen Burlington, sein wechselndes Verhältniß zum Hof, fügen sich
zu einem reich bewegten Lebensbild. Ein Ausspruch Popes, dem er bei
Burlington begegnete, ist interessant, Händel war ihm besonders als Deutscher
von Genie „ein Phänomen, welches er erklärt wünschte." Sein unmusikalisches
Ohr ließ ihn beim Anhören der feinsten englischen Klavierstücke sagen: es
nehme sie mit derselben Gleichgiltigkeit auf, wie die Melodien der Straßen¬
balladen.
Als König Georg nach Hannover ging, begleitete ihn Händel, und hier¬
her fällt die Composition der Brockesschen Passion, an der Keiser schon zum
Kirchencomponisten geworden war; Mattheson und Telemann bearbeiteten sie
gleichfalls. Der Text, den Winterseld im Auszug mittheilt, sucht an Geschmack¬
losigkeit und schwülstig phrasenhaftem Pathos seines Gleichen. Das Urtheil,
welches Chrysander bei Gelegenheit dieser Passion über Bach ausspricht, er¬
scheint beengt durch seine außerordentlichen Händelstudien, und die naturver¬
wandte Vorliebe für diesen Meister. Er sagt zwar ganz richtig, „es ist ein
müßiger Wunsch, wenn man dem einen das noch zugesellen möchte, was den
Hauptwerth des andern ausmacht;" aber es scheint auch fast ein müßiger Aus¬
spruch, daß Bach von den drei Elementen des Händelschen Kunstchnrakters
nur eins!, „die deutsche Frömmigkeit, den kirchlichen Sinn und Tiefsinn mit
einem Anflug subjectiver Mystik" in seinen Werken offenbart haben soll, aller¬
dings „in einer Innigkeit und Stärke, daß seine Schöpfungen über das Zeit¬
alter der Geschmacklosigkeit, in dem der Meister doch befangen blieb, und über
den Mangel gestaltenblldender Kraft ebenfalls zu unvergänglicher Dauer hinaus¬
gekommen sind." In der Passion hätte Bach, sagt Chrysander, einem pieti¬
stischen Prediger seiner Zeit um so viel naher gestanden, wie Händel den
historischen Passionsgestalten; Bibelwort, und Choral vertraten bei Bach die¬
jenige Gestalt, die bei Händel frei und ursprünglich wie eine neue Schöpfung
emporwuchs. „Hierin sehen wir den Fortgang von Händels Passion zu Bach,
namentlich zu dem Werke nach Matthäus, und später von Bachs Passionen
zu Händels Oratorien." Diese Rangordnung, welche einige der größten und
unmittelbarsten Werke Bachs zwischen ein noch ganz unentwickeltes Werk Hält-
dets. eben jene Passion, und seine Oratorien hineinstellt, erscheint mehr ge¬
schickt construirt, als wahr, und nicht unabhängig.von dem Einfluß, den der
Meister aus seinen Biographen geübt hat. Solch ein Urtheil, welches Bach
in sehr enge vom Pietismus gezogene Grenzen hineinbannt, steht von der
unter Laien noch keineswegs ausgetilgten Meinung, .er sei nur ein contra-
punktistischer Formkünstlcr gewesen, nicht sehr weit entfernt. Ein allgemeines
Urtheil über diese beiden Meister wird erst dann möglich, wenn die Ausgaben
der Werke beider vollständig da und in die Hände des gebildeten Volkes
übergegangen sind; bis dahin werden immer nur vereinzelte, mehr oder we¬
niger durch Naturrichtung und Individualität bedingte Meinungen, durch
größere oder geringere Beweiskraft «unterstützt, entstehen und auch gelten
müssen. Ein wahrhaft allgemeines Urtheil wird wol den Streit darüber,
wer von beiden höher steht, ganz bei Seite werfen, und beide Meister als
zwei sich ergänzende gleiche Größen feststellen. Man findet es. besonders
unter Musikern oft bestätigt, und in der eignen Entwicklung hat es mancher
durchgemacht, daß die Neigung für Händel bei einer ernsteren Beschäftigung
mit Bach zurücktritt. Wenn man durch den gesunden, kraftvollen Realismus
Handels einen festen Grund gewonnen hat. wird das Eindringen in Bachs
Ideen und Gestaltcnkreise eine das ganze fernere Leben mit Befriedigung er¬
füllende Aufgabe. Bach beschäftigt neben dem Combinatwnsvermögen mehr
die Empfindung und Phantasie wie Händel, deshalb ist die Neigung derer,
die der Kunst als Künstler, nicht als Gelehrte angehören, stets mehr auf Bach
gerichtet. Der Forscher wird durch Handels Klarheit und Prägnanz der For¬
men unbedingt mehr belohnt, er findet mehr zu erklären, vermag die Ent¬
wicklung seines Lebens und seiner Werke erfolgreicher darzustellen — bei Bach
ist vieles in Dunkel gehüllt, vieles bleibt in seinen Werken dem Wort un¬
erklärbar. Handels Schöpfungen umfassen ein größeres Gebiet, die Oper und
das Oratorwm, Bach hat nur die Kirchenmusik, aber in ihr einen ebenso un¬
endlich allgemeinen Inhalt und Formenrc.ichthum offenbart, daß sie, trotz der
oft allerdings pietistischer Texte über diese selbst und jede zeitweilige Neligions-
anschauung- zur reinsten Idealität sich erheben. Was aber die rein musika¬
lischen Werke kleinerer Formen, als Sonaten. Orgelsugen u. tgi. anbelangt,
so wird es heute keinem Menschen mehr einfallen, Händel darin höher wie
Bach zu stellen.
1716 ging Händel wieder nach England zurück, und wurde Musikdirektor
des Herzogs von Chandos zu Cannons; der Tod seiner Schwester. 1718. ver¬
anlaßte ihn zu einem jedoch erst später ausgeführten Besuch der Seinigen in
Deutschland. Ehrysander schließt mit dem ersten Band auch den ersten Lebens-
abschnitt, den der Studien und der Entwicklung, um uns hoffentlich bald in
den zweiten, den der Reife und des völlig freien und selbstständigen Schaf-
sens, einzuführen. „Händel selbst, der diese beiden Lebenshälstcn und ihren
Charakter sehr klar übersah, schied sie voneinander und setzte einen Denkstein
in das Jahr 1720, indem er sagte: Man muß lernen, was zu lernen ist,
und dann seinen eignen Weg gehen."
Somit sei dieses vortreffliche Buch zu jedermanns Händen aufs beste em¬
pfohlen, Künstler und Laien tonnen sich genußreiche Stunden damit bereiten
und sehr viel daraus lernen.
Ebenso Gutes läßt dieses Werk von Chrysandcrs Leitung der Händelaus¬
gabe durch die leipziger Händelgessllschaft sicher voraussagen; es ergehe des¬
halb der Aufruf an das kunstliebende Publicum Deutschlands, dieses Unter¬
nehmen durch lebhafte Theilnahme'recht kräftig zu unterstützen.
Das Händeldenkmal, wofür besonders Robert Franz und der Verein in
Halle aufs thätigste wirken (es .steht wiederum eine große Ausführung des
Judas Maccabäus bevor) geht zwar allmülig seiner endlichen Verwirklichung
entgegen, doch fehlt noch immer viel dazu. Es ist Sache des Volkes, dazu
beizutragen, deshalb mögen diejenigen Städte und deren Musikvereine, welche
sich noch nicht thätig daran betheiligt haben, durch Concerte und Aufführungen
daran mithelfen, daß wenigstens diese geringe Dankbarkeitsschuld gegen einen
der größten Meister der Tonkunst bald ausgeglichen werde. In Leipzig ist
der Niedelsche Verein mit gutem Beispiel vorangegangen, doch sollte man mit
allem Recht eine Nachfolge ante.rer hiesiger Kunstinstitute erwarten können.
Beinahe der dritte Theil der ausgestellten Bilder gehört dem landschaft¬
lichen Facke an (von 174t nahezu 500), ein Achtel der ganzen Summe hat
die sogenannte Genremalerei beigesteuert. So groß diese Zahlen vielleicht
erscheinen mögen, so drücken sie noch immer nicht hinlänglich das richtige
Verhältniß namentlich der landschaftlichen Schöpfungen zur modernen Kunst-
production aus. Die gute Hälfte unserer künstlerischen Thätigkeit ist der Pflege der
Landschaftsmalerei gewidmet. Sollen wir dieses Vordrängen der beiden genannten
Kunstzweige mit der Ueberflutung unseres Tonsinns durch Salvnmusik in
eine Paralelle stellen und dann ähnlich wie hier auf eine Abnahme unseres
künstlerischen Vermögens schließen? Kein Zweifel, daß diese Frage von Vielen
bejaht und der Aufschwung der Landschafts- und Sittenmalerei aus der Be¬
quemlichkeit, mit welcher sich solche Gemälde in unsern Stuben zwischen
Blumentischen und Etageren unterbringen, aus der Leichtigkeit, mit welcher
dieselben dem übrigen Zimmerschmuck sich einordnen lassen, erklärt wer¬
den wird. Mögen aber auch manche Kunstfreunde und Bildertaufcr van
solchen Rücksichten sich leiten lassen: so folgt daraus noch keineswegs,
daß die Künstler in gleicher Weise fremdartigen, niedrigen Zwecken nach¬
gehen und mit der Rolle einfacher Decoration sich begnügen wollen.
Aus der schlechten oder unwürdigen Verwendung darf man noch Keines¬
wegs auf den geringern inneren Kunstwerth schließen. Wir zweifeln
nicht an der vollkommnen Ebenbürtigkeit der Landschafts- und Genremalerei
mit den übrigen Kunstzweigen; poetische Kraft und malerischer Blick finden
auch hier einen reichen Wirkungskreis und sind die wesentliche Bedingung zum
Gelingen des Werkes. Ueberdies liegen die ästhetischen Anregungen unserer
Bildung vorzugsweise in dieser Richtung und befördern die Lebendigkeit der
Anschauungen bei dem Künstler, die Unmittelbarkeit des Verständnisses bei
dem Beschauer. Offenbar werden die Kreise der Landschafts- und Genre¬
malerei von der Gunst der Zeit getragen, fragen wir nun, welchen Gebrauch
die auf der Münchner Ausstellung vertretenen Maler von dieser Gunst
machten?
Die Vergleichung der modernen Kunst mit jener früherer Jahrhunderte
wird von den wohlwollenden Freunden der ersteren nicht allzueifrig empfohlen.
Bleibt doch gewöhnlich als Resultat die Ueberzeugung übrig, daß hentzutage
dem Künstler Fehler und Irrthümer ungleich näher liegen und lockender er¬
scheinen, als die einfache, wahre Schönheit. In einem einzigen Punkt allein
scheuen wir uns nicht, die Unterschiede zwischen Jetzt und Sonst aufzusuchen.
Er betrifft die Bildungsverhältnisse unserer Künstler. Wer eine längere Reihe
holländischer Genrebilder ohne Unterbrechung nacheinander betrachtete hat
gewiß die Einförmigkeit der Motive, und in der Wahl der wenigen, die stets
wiederkehren, das Walten eines nicht immer seinen Sinnes beobachtet.
Ausnahmen gibt es nach der einen und der andern Nichtigung. Bei Jan
Steen z. B. überrascht grade die große Mannigfachheit der Motive, bei an¬
deren ist die elegante, zierliche Formengebung nur der Ausdruck entsprechen¬
der Vorstellungen. Von der Mehrzahl niederländischer Genremaler jedoch kann
man weder die reiche Erfindungskraft loben, noch behaupten, daß die rauchenden
und trinkenden Bauern, die Zahnbrecher, die wasscrveschauenden Aerzte, die Ge¬
müsehändlerinnen und ähnliche Vorwürfe eine gehobene Lebensanschauung ver¬
rathen. Unsere Maler dagegen geben uns am wenigsten Grund, sie der
Lässigkeit im Erfinden anzuklagen; jeder strengt sich an. durch Originalität zu
glänzen und den ihm eigenthümlichen poetischen Sinn schon in der Wahl der
Motive offen zu legen. Vor allem hat der Kreis des Komischen eine reiche
Vertretung gewonnen. Ob gemalte Witze und Anekdoten als sachliche Be¬
reicherung unserer Kunst angesehen werden können, steht dahin, es fehlt aber
auch nicht an wirklich drastischen Situationen und mit gesunder Komik auf¬
gefaßten Charakterschilderungen. Menschliches S.entkehen, niedliche in Farben
und Linien erzählte Novellen haben gleichfalls in der Münchner Ausstellung
Raum gefunden. Wenn Kirner uns die Toilette eines Bahnwärters am Kirmeß-
tag schildert —- er hatte eben nur Zeit gefunden, sein Barbiergeschäft zur
Hälfte zu vollenden, als schon die Locomotive heranbraust und er sich ge¬
nöthigt sieht, mit einer eingeseiften Wange, die er natürlich abwendet, den
Zug nach bairischer Landessitte militärisch zu salutiren —, wenn Enhuber uns
gleichfalls die ähnliche Toilette eines Wanderers auf freiem Felde vorführt,
so lohnt der „Spaß" schwerlich die aus dessen Verkörperung verwendete Mühe.
Die Pointen lassen sich hier wie in so vielen andern Füllen nicht mit der
Spitze des Pinsels hineintragen, dieses ist die Illustration der komisch, ge¬
dachten Vorstellung, aber in sich selbst ohne bedeutende komische Kraft. Wirk¬
lich komisch in der Situation traten uns dagegen viele andere Genrebilder
und zwar insbesondere der Münchner Schule entgegen, welche, wie es scheint, für
einen lustigen Schildcrungston eine ungleich größere Vorliebe besitzt, als die noch
von sentimentalen Traditionen genährte düsseldorfer Künstlergruppe. Als Bei¬
spiele führen wir nur Enhubcrs unterbrochene Spielpartie, Rambergs Fen-
sterln und Spaziergang, Flüggens Kirchenmusik u. a. an. Wir begegnen da
bald glücklich reproducirten Charakterfiguren, bald mit natürlichem Humor aus¬
gemalten Situationen. Der aus dem Seminar eben entlassene Hofmeister
auf Rambergs Bild, der seine Zöglinge auf den Spaziergang führt und die
Lust der letzteren, sich in das Spiel ungezügelter Straßenjungen zu mischen,
mit pedantischer Geberde abwehrt, der Dorfheld bei Enhuber, dessen Kame¬
raden hastig das Kartenspiel verstecken und der selbst die Flucht unter den
Tisch nicht verschmäht, um dem ersten Strom der Gardinenpredigt seiner bessern
Hälfte auszuweichen, die mit eingeklemmten Armen die Schwelle der Wirths¬
stube betritt, machen der Phantasie der Künstler alle Ehre. Auch in den
novellistischen Schilderungen stoßen wir oft auf sinnige Züge und lernen eine
seine Beobachtungsgabe kennen, gros ist vor allem die Mannigfaltigkeit der
Motive. Ländliche Wallfahrer, eine appenzeller Stickerin und Blanteneserinnen
am Brunnen, ein Mönch, der einer Trauung in der Klosterkirche zusieht, In¬
dianer in Südamerika, französische Marquisen, Schatzgräber und Alchy¬
misten. Landsknechte und Bürgerwehrmänner, Bauern und Kavaliere gehen
in bunter Reihe an uns vorüber. Einzelne Paradcscencn wiederholen
sich zwar: Verlobungen, die durch den Eintritt alter verlassener Geliebten gestört
werden, Spieler, denen die Gattin zu Gewissen redet u, s. w., im Allgemeinen
ist aber für die Kurzweil der Beschauer gut gesorgt und das Prädicat der
Originalität und reicher Erfindungsgabe für unsere Genremaler wohlverdient.
Hätten sie nur nach einer andern Seite hin sich minder genügsam erwiesen
und sauberes Jlluminiren mit der Kunst zu malen nicht für gleichbedeutend
genommen.
Den Genrebildern entsprechen auf einem andern Kunstgebiet ziemlich
genau die kleinen dramatischen Spiele und einactigen Bluetten des modernen
Bühncnrepertoirs. Alle Welt ist darüber einverstanden, daß bei diesen die
geistreiche Führung des Dialoges, die gewandte und spannende Schürzung
des an und für sich ziemlich gleichartigen Knotens vorzugsweise den Erfolg
sichert und auch das wesentliche Verdienst des Dichters bildet. Niemand würde
zweifeln, daß in Bezug auf die Genremalerei ein ähnliches Verhältniß gilt,
und aus die malerische Durchführung der Hauptnachdruck gelegt werden muß,
wäre nicht die Irrlehre verbreitet, unsere Maler seien vorzugsweise Dichter,
die Betonung der malerischen Form aber würde diesen Vorzug nicht klar und
deutlich genug erscheinen lassen. Warum greifen dieselben aber dann nicht
lieber gleich zu dem rechten Material und schreiben Gedichte, und überlassen
nicht Menschen, die auf den Ruhm, als Universalkünstler zu glänzen, bereit¬
willig verzichten, die Malerei? Die Verwirrung ist noch gestiegen durch die
absichtliche Verwechslung der technischen Geschicklichkeit mit eigentlicher Farben-
Poesie. Wenn jemand die letztere als Erforderniß des vollendeten Abbildes
aufstellt, so zucken die angeblichen Vertreter des wahrhaft Dichterischen in
der Malerei mitleidig die Achsel über den armen Wicht, der sich von der brillan¬
ten Technik blende» läßt, denunciren ihn wol auch mit salbungsvoller Miene
als Materialisten und behaupten, er wolle die Kunst zur Künstelei herabziehen.
Ja, wenn es möglich wäre, auf dem mechanischen Weg, wie man eben ein
Handwerk erlernt, diese Fertigkeit im Künsteln sich anzueignen: die Zahl der
Verächter der Farbenpoesie würde rasch abnehmen. Weiß man ja doch, daß
das drückende Bewußtsein, darin unfertig, nur halbausgebildet zu stehen — und
bei der schlechten Erziehung uuserer Künstler wäre es ein Wunder, wenn dies
anders sich verhielte — Trost sucht in der Geringschätzung des Unerreichbarem,
und daß der geheime Cultus nicht der Farbenpocsie etwa, sondern ganz ordinä¬
rer technischer Recepte, nirgend so viele Anhänger zählt, als in den Werkstätten
unsrer Künstler. Diese, wenn sie aufrichtig sind, müssen lachen über die Com-
Plimente, die ihrer dichterischen Phantasie gezollt werden. Ist doch die male-
^sche Durchführung ihre Hauptsorge, die gelungene Bewältigung der Form
insgeheim ihr größter Stolz. Freilich kommen sie selten zum Genuß des
letzteren, und deshalb bleibt von ihrer Seite die Versicherung: in der Malerei
sei das Malm nur-Nebensache, ohne Widerspruch. Wie der Musiker in Tönen
denkt, so drückt des Malers Empfindung die Farbe aus, sie versinnlicht nicht
blos deutlicher seine Gedanken, sondern verleiht denselben erst die rechte
Stimmung.
Unger tu Göttingen wagte jüngst den Versuch einer malerischen Harmonie¬
lehre und meinte, Accorde, Tonarten, den Satzbau, wie er im Kreise der Musik
nach bestimmten Gesetzen sich regelt, auch im Gebiet der Malerei nachweisen
zu können, nicht blos in nbstracter Theorie, sondern an concreten historischen
Erscheinungen. Giorgivnes, Ban Dycks, Ostades Kolorit sollte gewissen Ton¬
arten entsprechen, in einzelnen Bildern bestimmte Accordfolgen sich offen¬
baren. Der Versuch mißlang, zunächst weil de°r feinere Farbenmesser und eine
malerische Notenschrift mangelt, die Umschreibung von -Farbennuancen durch
das bloße Wort immer unklar und nebelhaft bleibt. Aber mit dem Grund¬
gedanken, mit der Annahme eines musikalischen Elements in der Malerei
hat es seine volle Nichtigkeit. Die alten holländischen Genremaler offenbaren
dasselbe in der glänzendsten Weise und verleihen dadurch ihren Werken einen
poetischen Schein, welcher durch kein stoffliches Interesse ersetzt werden könnte.
Der Farbcnwohllaut ist nicht etwa das einfache Resultat technischer Anstrengung,
kein bloßes Kunststück, durch berechnete Verdunklung des Ateliers, Oberlichter
zu erzeugen, sonst würden wir unter den modernen Belgiern lauter Ostades
zählen, sondern der Ausfluß der specifisch malerischen Phantasie, die sich im
Geurefach am wenigsten gebunden fühlt, hier am liebsten sich bethätigt. Auf
der Münchner Ausstellung wird ein harmonisch gestimmtes Kolorit, eine cha¬
rakteristische, ausdrucksvolle Farbe das Auge selten erfreuen. Es ist dies um
fo mehr zu bedauern, als grade die deutsche Anschauung den kräftigsten An¬
satz zum Humor, in sich birgt, dieser aber, wie überhaupt die bis zur feinsten
Besonderheit des Charakters fortgehende Schilderung, im Colorit das beste
Ausdrucksmittel besitzt. Der Glaube an die alleinseligmachende Schönheit
der Pifferari und Minctten ist glücklicherweise gelockert. Die wenigen Proben,
welche die Ausstellung von italienischen Genrebildern aus den frühern Jahr¬
zehnten ausweist, überheben uns der Mühe, ausführlicher gegen diese Richtung
zu spreche». Auch jetzt noch könnte der Blick unsrer Künstler für das kern¬
hafte unmittelbare Leben ihrer Umgebung an Schärfe zunehmen; aber so völlig
abgesperrt von demselben, so vollkommen besangen in der Atelierästhetik, die
über gelungene Posen abgegriffener Modelle nicht Höheres kennt, sind sie lange
nicht mehr. Die trockene Manier älterer düsseldorfer Genremaler findet gleich¬
falls nur noch wenige Bewunderer. Wir freuen uns über harmlose Gedanken,
wenn aber auch die malerische Charakteristik die Harmlosigkeit so weit treibt,
daß sie den Dilettantismus nicht verschmäht, so kehren wir uns ab von der¬
selben. Uebrigens ist in Düsseldorf selbst, wie namentlich Vautier beweist,
ein mächtiger Fortschritt bemerkbar. Eine andere Unart dagegen scheint 'noch
immer das Feld behaupten zu wollen, eine bis zum Geleckten glatte Malerei,
eine kalte Sauberkeit der Durchführung, für welche holländische Hausfrauen,
nicht aber die alten holländischen Maler das Vorbild geliefert haben mögen,
und was das Aergste ist, eine falsche Koketterie der Charakteristik, die alle'
naive Wahrheit zerstört.
Wir werfen Riedel, Pollack, Amerling und andern das Gleißnensche in
ihren Charakterfiguren vor. Riedels Fischersamilie. Amerlings schlafende Kinder
sind vom Kopf bis zur Zehe erlogen, und werden darin höchstens von Pollacks
berühmten Hirtenknaben in der Campagna. bei Porzcllanmalcrn ebenso beliebt,
wie ohne Rubens Ave Maria lebende Bilder gar nicht gestellt werden können,
übertroffen. Schade, daß dieser Hirtenknabe uns in der Münchner Ausstellung
nicht vorgeführt wird. Zur Beurtheilung der Kunstzustände der dreißiger Jahre
bietet er einen wichtigen Anhaltepunkt. Nur die große Vernachlässigung der
malerischen Form in jenen Tagen erklärt es, daß man sich von jenem ober¬
flächlichen Schein blenden ließ, seelenlose Glätte und triviale Farbeneffecte
für Anmuth und Fnrbenpvcsie nahm. Es wäre gar nicht wunderbar, wenn
in Kunstbcrichten aus jener Zeit von einem wiedergeborenen Murillo gesprochen,
ja Pollack und Riedel vielleicht der Vorzug vor dem spanischen Meister ein¬
geräumt worden wäre. Heutzutage übt man eine lobenswerthe Vorsicht in
der Crthcilung solcher Complimente. Man sollte aber auch Billigkeit üben,
und wenn man gegen jene Maler den Vorwurf erhebt, daß sie das Sybantcn-
thum fördern, die auch sonst weit verbreitete Unart nicht unerwähnt lassen,
durch eine glatte Eleganz den Mangel an individueller Charakteristik und nai¬
ver Wahrheit ersetzen zu wollen. Schöns Alpcnmädchen, Meyerheims Mutter
und Kinder, Waldmüllers Bauern, sind gleichfalls nur zierlich geputzte Puppen,
die allem andern eher entsprechen, als dem Titel, den sie führen: Lebens- und
Volksbild. Und diesen Mustern eifern gar viele Künstler nach, dieser Richtung
wird noch in gebildeten Kreisen, als wäre sie die Vollendung des Malnischen,
gehuldigt!
Gar wohlthuend wirkt auf diese gemalten Gassenhauer die Anschauung
einiger harmloser Genrezeichnungcn. die aber das Verdienst individuellen Aus¬
drucks, voller Charakterwahrhcit und lebendiger Schönheit besitzen. Die eine
hat nach dem Katalog einen sonst unbekannten August Richter in Dresden
zum Schöpfer, die andere rührt von Grünewald in München (wenn mir
nicht irren, einem Würtenberger) her. Von Richters Composition gibt viel¬
leicht die Bezeichnung, sie bilde das nordische Gegenstück zu Leopold Roberts
Schnittern, den besten Begriff. Richters Erntczug entwickelt natürlich die
Züge bacchischer Freude in geringerem Grade. Die einzelnen Gestalten fesseln
nicht durch die plastische Formenschönheit. Ueber die ganze Gruppe, voran
die Schnitter, auf dem hohen von Ochsen gezogenen Fruchtwagen der Haus¬
vater mit seiner Familie, Hintennach-das jubelnde Gesinde, lagert sich aber
ein so heiterer Freudenschein, jeder Einzelne ist so sehr mit ganzer Seele bei
dem Fest, daß ähnlich wie in Roberts Schilderung eine gehobene Stimmung
aus der reichen Gruppe spricht, zumal als auch ein schöner Linienfluß beob¬
achtet wurde und die einzelnen Figuren in einfacher, wohlthuender Weise sich
zu einem geschlossenen Ganzen aufbauen, Grünewald führt in einer Fries¬
skizze das menschliche Leben in den vier Jahreszeiten vor. ein uraltes Motiv,
dem aber der Maler so viele frische und sinnige Züge entlockt, daß man Mühe
hat, sich von dem Werk zu trennen. Die große Freude, die es erregt, in
jüngern Kreisen vielversprechende Kräfte zu erblicken und richtige Grundsätze, vor
allem die so lange verachtete Einfachheit und Wahrheit hier geltend anzu¬
treffen, darf jedoch gegen die Verdienste anerkannter und längst berühmter
Künstler nicht verblenden.
Im Landschaftsfach haben die letzteren ihre alte Anziehungskraft be¬
währt, die Palme, die ihnen längst schon gereicht wurde, bleibt noch immer
in ihren Händen. Die bekannten Lieblinge des Publicums,- die beiden Ueber-
hand, und Weber in Düsseldorf, Schirmer in Karlsruhe, Alb. Zimmermann,
Schleich, Morgenstern u. a. in München, Hildebrandt in Berlin sind auch im
Münchner Glaspalast mächtige Anziehungspunkte, Wenn neue Namen den¬
selben sich anschließen, wie jener Marcos und Raffalts aus Wien, so gehören
dieselben nicht dem jüngern Geschlecht an, sondern bewährten Männern,
deren Wirksamkeit sich nur in einem minder zugänglichen Kreise bewegte. Die
jüngern tüchtigen Kräfte, an denen es keineswegs mangelt, folgen willig den
Spuren der Meister und wissen nichts von dem tiefen Zwiespalt, der auf den
übrigen Gebieten der Malerei die letzte Künstlergeneration von der früheren
trennt. Auch die Flucht in das Ausland, zunächst technischer Zwecke willen,
die bei unsern jüngern Historienmalern immer allgemeiner wird und jedenfalls
Beachtung verdient, kommt hier so gut wie gar nicht vor, und wenn sie
vorkommt, wie z. B. bei dem frankfurter Maler Buruitz, regt sie keines¬
wegs die Zurückgebliebenen zur Nachfolge an. Den Einwirkungen, die Jaros-
lciv Czermak. falls er der deutschen Künstlerwelt angereiht werden kann. Kraus,
Henneberger und theilweise auch Piloty der Fremde verdanken, läßt sich im
Kreise der Landschaftsmalerei nichts zur Seite stellen. Es fehlt auch hier
nicht an Gegensätzen. Zwischen Ueberhand und Schirmer liegt eine ganze
Welt, ebenso sind Ueberhand und der Berliner Hildebrandt, Schirmer und die
Münchner Stilisten weit getrennt, trotzdem daß sie eine gleichnamige Richtung
verfolgen. Die Entwicklung der modernen Landschaftsmalerei geht vorzugs¬
weise auf das Malerische. Auch diejenigen Meister, deren Bilder durch den
bedeutsamen Bau der landschaftlichen Formen, durch Linienschönheit wirken,
und symbolische Beziehungen auf menschliche Verhältnisse in sich bergen, be¬
nutzen das Colorit als Ausdrucksmittel und würden, obgleich sie sich selbst
den Idealisten beizählen, von den ältern Anhängern dieser Nichmng wahr¬
scheinlich mit demselben Spottnamen beschenkt werden, den David für den
„Gemüsehändler" Ruysdael bereithiclt. Hat sich ihre poetische Kraft ab¬
geschwächt, weil sie nicht wie die Landschaftsmaler der ältern Generation harte
Umrisse stehen lassen, nicht jede Form.scharf abgrenzen und mit trockener Deut--
lichkeit die Structur der Landschaft schildern? Daß dort die einzelnen Motive
die Spuren der Erfindung kräftiger offenbaren, kann nicht füglich als größeres
Verdienst hervorgehoben werden, da ja dieselbe im Wesentlichen auch nur
eine Reproduction früher geschauter Naturformen ist und das Hineintragen
von charakteristischen Empfindungen und symbolischen Beziehungen in die letz¬
teren bei sogenannten Stimmungsbildern gleichfalls vorkommt. Nur bleibt
hier dieses Geschäft dem Beschauer überlassen, während in den stilisirten Land¬
schaften der Künstler selbst dies thut.
Schlimm wäre es um die poetische Bedeutung eiuer Landschaft bestellt,
wenn erst die Staffage über ihren Charakter Aufschluß gäbe und jedenfalls
gereicht es z. B. den vier biblischen Landschaften Schirmers, welche die Ge¬
schichte des barmherzigen Samariters erzählen-, nicht zum Schaden, daß sie
auch an und für sich eine große Wirkungskraft üben und das Gemüth des
Beschauers sich angezogen fühlt von der charakteristischen Schilderung des fri¬
schen, zur Wanderung in die Ferne reizenden Morgens, der schwülen Mittags¬
luft und des friedlichen/zur Ruhe einladenden Abends, der dem Ermüdeten
Erquickung gewährt, ähnlich wie der Samaritaner durch seinen Balsam dem
Verwundeten Labsal spendet. Daß es nicht unumgänglich symbolischer Be¬
ziehungen bedarf, um eine Landschaft poetisch zu gestalten, beweist Schirmer
selbst, dessen Bilder: Ein Sonnenblick vor dem Regen und Überschwemmung
nicht blos durch die Wahrheit der Darstellung auffallen, sondern auch durch
die tiefe Empfindung entzücken, und von vielen über seine biblischen (in Oel
gemalten) Landschaften, von allen diesen gleichgestellt werden dürsten. Ob
Schirmer seine großen Erfolge den von ihm befolgten allgemeinen Grund¬
sätzen oder der durch einen reichen Studienkreis erworbenen Formen- und
Farbenkenntniß verdanke, wird von verschiedenen Seiten verschieden beantwortet
werden, an der Thatsache selbst wird niemand zweifeln.
Wären alle bedeutenderen Landschaftsmaler nur annähernd so vollständig
in München vertreten, wie Schirmer, so würde nicht allein die Erkenntniß
der mannigfachen Wandlungen unserer Kunst an Tiefe gewonnen, sondern
"und mancher Streitpunkt seine Erledigung gefunden haben. Leider sind grade
"uf diesem Gebiet die größten Lücken bemerkbar. Am meisten zu beklagen
ist die gänzliche Abwesenheit Lessingscher Landschaften, die einen so großen
Einfluß auf die Richtung der düsseldorfer Schule gewonnen haben, wenn sie
auch gegenwärtig mehr als den Reiz der Neuheit einbüßten. Auch die andern
düsseldorfer Meister sind ungenügend vertreten. A. Achenbachs Hochflut bei
Ostende offenbart uns die energische Kraft des Meisters, der das tobende Ele¬
ment mit klarem und festem Auge überblickt, seine Ansicht von Carleone be¬
weist seine große technische Gewandtheit, die anschaulichen Belege für seine
merkwürdige Vielseitigkeit fehlen jedoch, und ebenso wird man durch die vier
ausgestellten Landschaften über das Eigenthümliche seiner Naturanschauung
und seiner vielfach nachgeahmten Malweise schlecht unterrichtet. Auch sein
Bruder, Oswald Ueberhand ist besser, als ihn die drei in München vorhandenen
Bilder erscheinen lassen. Daß Flaum und Kalkreuth gänzlich fehlen, wird
zwar bei dem minder ausgedehntem Ruhm der beiden Künstler in weiteren
Kreisen nicht ausfallen, doch bleibt die Abwesenheit besonders des ersteren bei
seiner seltenen malerischen Begabung und seinem frischen Blick für die Schönheit
der italienischen Natur immerhin bedauerlich. Oswald Ueberhand und Flaum
bilden glücklicherweise nicht die einzige, wol aber eine der glänzendsten Aus¬
nahmen von dem herrschenden Wahne Coloritwirkungen lassen sich nur durch
schreiende Lichteffecte erzielen. Die glänze Palette über die Leinwand zu schmie¬
ren, ist nicht, wie viele meinen, der Anfang, sondern das Ende der künst¬
lerischen Weisheit, auch das Augenblendcn keineswegs das Ziel der Land¬
schaftsmalerei. Wir begreifen vollkommen den Ursprung dieser Manier. Es
galt, den Reiz der landschaftlichen Schilderung durch das stoffliche Interesse,
das sich an die gewählten Motive knüpft, zu erhöhen. Unser Sinn schweift
gern in das Weite, unsere Empfänglichkeit umfaßt weitere Kreise, unser Ver¬
ständniß erstreckt sich auf eine kaum mehr begrcnzbare Welt von Erscheinungs-
' formen. Die Landschaftsmalern wollte nicht hinter der Bildung unserer Zeit
zurückbleiben und that recht daran. Wenn wir aber auch im Allgemei¬
nen zugeben, daß dem Beschauer zumeist erst das stoffliche Interesse den Weg
zum Verständniß der künstlerischen Form bahnt, und die Ueberzeugung hegen,
daß der schaffende Künstler selbst für das gegenständlich Gleichgültige die volle
Begeisterung nicht bereithalten kann und diese Gleichgiltigkeit auch in der
Formengebung sich offenbaren muß: so verlangen wir doch von ihm, daß er
sich von dem stofflichen Interesse nicht gefangennehmen läßt, vielmehr über
dasselbe hinaus zum Begreifen und zur Bewältigung der malerischen Formen
gelangt. Im Angesicht der zahllosen Schilderungen seltsamer Naturphänomene
und frappanter Lichterscheinungen können wir uns in der Regel des Glaubens
nicht erwehren, als hätte auch den Maler die bloße Neugierde an das Motiv
gefesselt und erwarten in jedem Augenblick den langen Stab des Erklärers
vor unsern Augen schwingen zu sehen, der uns auf die Raritäten aufmerksam
macht. Nicht das eine oder das andere Individuum, nicht diese oder jene
Schule trägt die Schuld davon. Grade die große Gunst, welche diese Rich¬
tung genießt, lockt zu Uebertreibungen und laßt die letztern allenthalben erstehen.
Das trübe Jahr, welches Preußen in eine so zweifelhafte Lage zu den übrigen
europäischen Mächten gebracht, hat nun endlich einen glücklichen Ausgang gesunden.
Durch die Proclamation der Regentschaft ist die einheitliche und unabhängige Negie¬
rung, deren der Staat dringender bedürfte als je, hergestellt und durch die politisch
correcte Form, in welcher dieser Act vor sich gegangen ist, das Rechtsbewußtsein des
Volks wieder aufgefrischt worden. Alle Intriguen sind vereitelt und wir können
einer Zukunft entgegensetzn, die wenigstens klarer sein wird als die verflossenen
zehn Jahre. Ueber die materiellen Veränderungen, welche dieser Regierungswechsel
mit sich bringen wird, können wir natürlich für jetzt noch keine Vorstellung haben,
aber ein äußerst günstiges Zeichen ist die neue Besetzung des Ministeriums des In¬
nern, welche an demselben Tage stattgefunden hat. Grade diese Gleichzeitigkeit ist
das Erfreulichste daran. Denn daß auf die Länge das gegenwärtige Bcaufsichtigungs-
system sich nicht halten würde, war freilich vorauszusehn. Wir glauben, daß.man
die Bedeutung des Herrn von Westphalen in der politischen Entwicklung der letzten
Jahre zu gering angeschlagen IM Es kommt gar nicht darauf an. wie viel Geist,
Scharfsinn und Bildung an dieser Stelle aufgewandt wird, ein zäher Wille, der
kein Bedenken kennt, der an ein enges System geknüpft, in unablässiger Geschäf¬
tigkeit »ach dieser einen Seite hin arbeitet, richtet im Lauf der Jahre mehr aus,
als die feinste Intrigue. Das System, welches durch den Eintritt des Herrn von
Westphalen in das Ministerium indicirt wurde, das absolute Polizeircgimcnt im Inter¬
esse der feudalistischen Partei, hätte keinen wirksameren Träger finden können; mit
welcher Unverdrossenst und wie allseitig es ins Werk gesetzt worden, darüber
werden wol bald interessante Enthüllungen folgen. Der glänzendste Erfolg dieses
Systems war der Landtag, der in einigen Tagen zum letzte» Mal zusammentritt und
die stauncnswürdigste Leistung des Systems war die Rede, mit welcher der Herr
geheime Regierungsrath Hahn im Dienst des Herrn von Westphalen diesen Erfolg
mit völligster Unbefangenheit der Kammer verkündete. Es wäre zeitgemäß, diese
Rede wieder ins Gedächtniß zurückzurufen.
Der Name des Mannes, welchem die interimistische Vertretung dieses Ministe¬
riums anvertraut ist, bürgt dafür, daß die schon früher, aber immer nur heimlich
angekündigte Versicherung des Prinzen von Preußen, die neuen Wahlen sollten ohne
willkürliche Einmischung der Polizei vor sich gehn, jetzt zur Wahrheit werden wird.
Ein Staatsmann aus der altpreußischen Schule, an gesunden Menschenverstand und
an Rechtschaffenheit der Amtsführung gewöhnt, wird er dafür sorgen, daß man mit dem
Gesetz nicht spielt. Das Resultat der Wahlen ist also in die Hand der Wähler
gegeben; es wird sich jetzt zeigen, ob das preußische Volk zur constitutionellen Ver¬
fassung reif ist.
Eine freilich sehr unerquickliche aber durchaus nothwendige Aufgabe des neuen
Landtags wird nun sein, die Wirksamkeit und die Folgen des jetzt zu Grabe ge¬
tragenen Systems ausführlich zu Tage zu bringen. Es mag zu beklagen sein,
daß die Verfassung sür den unbestimmten Begriff der ministeriellen Verantwortlichkeit
keine gesetzlichen Formen gefunden hat, aber es handelt sich hier anch nur darum.
die Wiederkehr der Uebelstände zu verhüten, unter denen wir so schwer gelitten
haben, und dazu genügt eine offene, unumwundene und vollständige Darlegung
des Sachverhalts, um den Regenten, das Volk und vor allem anch den Bccunten-
stand in Kenntniß davon zu setzen. Der größere Theil unseres Beamtcnstandcs lebt
noch in der altpreußischen Tradition und hat keine Ahnung von dem bisherigen
Walten des Systems. Es wird im hohen Grade nützlich sei», ihm die Augen zu
offnen und den Beweis zu liefern, daß eine schriftliche Aufzeichnung der Gesetze noch
lange nicht genügt, daß es anch darauf ankommt sie auszuführen. Eine zweite Auf¬
gabe des Landtags wird freilich fein, die Unbestimmtheiten der gesetzlichen Fassung
wegzuschaffen, die der Willkür einen so großen Spielraum gelassen haben und auch
hier sind wir überzeugt, daß die Regierung mit der Volksvertretung Hand in Hand
liike ÄNÄ 'UorKs ot Oostne, LKöteliLs ot Ins iuicl
LontLw.xora.riL8, trou xulzlisüscl ana unxudlisIreÄ sourcLs. Lz^ (!-l. II. 1^<z>on!!z.
tüoxMgnt säition. Lsooncl eäition, roviseä dz^ tue Kursor. 2. LÄ. I^six/ig,
DrooI<Irans. — Dies bedeutende Werk, über dessen Vorzüge und Schwächen wir
uns bei Gelegenheit der Uebersetzung von Frese bereits ausführlich ausgesprochen
haben, sei anch in dieser Form dem deutschen Publieum dringend empfohlen. Die
Ausstattung ist elegant und dem innern Werth des Buchs angemessen. '
Das Insekt. Naturwissenschaftliche Beobachtungen und Reflexionen über das
Wesen und Treiben der Insektenwelt. Von I. Michelet. Mit einem Vorwort von
I. H. Blasius, Professor. Braunschmeig, Fr. Vieweg und Sohn. 1858. — Ein
Seitenstück zu dem „Vogel" des Verfassers, welches wie dieser beweist, daß man sehr
geistvoll und vorzüglich sehr phantasiereich sein kann, ohne deshalb den Beruf zu haben,
das Verständniß der Natur zu fördern. Die Naturwissenschaften vertragen am
wenigsten eine dilettantische Behandlung, und Michelet ist durchaus Dilettant. In
zwei, drei einfachen Vorstellungen findet er die Bürgschaft für einen Zusammenhang
aller Einzelnheiten des Gebiets, das er behandelt. Diese Vorstellungen verfolgt er
mit einer lebhaften Einbildungskraft bis zu den äußersten Grenzen der Erfahrung
und so entsteht ein subjectives Bild, welches lediglich für diese Subjectivität einiges
Interesse erregt. —
Im ersten Artikel über die Münchner Ausstellung muß es Seite 7, 8
und 9 Wächter statt Wächter heißen.
Am 30. September wurde die venerische Kammer aufgelöst, nachdem sie
erst am 25. desselben Monats zusammengetreten, noch nicht einmal formell
eröffnet und eben erst in ihrex Constituirung begriffen war. Zum ersten Prä¬
sidenten hatte sie, wie in allen Sessionen seit 1849 den Grafen Hegnenberg-
Dux ernannt, zu Secrctüren mit derselben konservativen Konsequenz die
ebenso lange fungirenden, von der Regierung wahrend und wegen ihrer wohl¬
gefälligen parlamentarischen Wirksamkeit zum Regierungsrath und zum Consi-
storialrath beförderten ehemaligen Bürgermeister nar und Maier. Den zweiten
Präsidentensessel besetzte sie mit dem, nach Auflösung der Gesetzgebungsaus¬
schüsse von seiner Würzburger Professur, trotz aller Gegenpctitionen zum cich-
städtcr Appellationsgericht als Rath versetzten Dr. Weiß. Daß jene Beförderung
nicht als Gunsterweis zu gelten hatte, läßt sich nur daraus schließen, daß
der jetzige Ministerpräsident Dr. Ludwig Freiherr v. d. Pfordten, wie dessen
offiziöse Biographien ausdrücklich sagen, unter dem Ministerium Abel seiner
damals mißliebigen politischen Ueberzeugungen halber ebenfalls von seiner
Würzburger Professur an das Appellationsgericht Aschaffenburg versetzt worden
war, weshalb er den Ruf nach Leipzig angenommen habe und solchermaßen
seinem engeren Vaterland mehre Jahre lang entzogen geblieben sei. Demnach
wird die höchst überraschende Kammerauflösung, seit 1848 die dritte, selbst
schon in den telegraphischen Depeschen an die Wahl des Dr. Weiß zum Vice-
präsidenten gebunden.
In unsrer parlamentarisch ernüchterten Zeit ist eine Kammerauflösung
^ so gewaltsamer Schritt, daß es beinahe blos eine Blasphemie der betannt-
hch immer wühlenden Propaganda des Umsturzes sein kann, wenn einer er¬
leuchteten und starken Regierung dafür ein so untergeordnetes Motiv unter¬
geschoben wird. Man hat daher gewiß den Grund viel tiefer zu suchen, man
hat sicherlich diese Auslösung als Ausgangspunkt einer gewaltigen und un-
ausgleichbaren Principiendifferenz zwischen den gesehgebenden Gewalten Baierns
zu betrachten. Dies besonders, da bekanntlich die königlich baierische Negierung
unter der Leitung des Freiherr» v. d. Pfordten und durch seinen Mund schon
oftmals die bewundernde Aufmerksamkeit Europas dadurch in Anspruch nahm,
daß sie es seit zehn Jahren vermocht hat, ohne rettende Thaten, Oxtroyi-
rungcn u. f. w. zu herrschen, obgleich bekanntlich der Novemberbundesbcschluß
von 1855 den Regierungen für Abänderung der Verfassung keine bestimmten
Grenzen vorzeichnet und dadurch principiell feststellt, daß nicht Negierung und
Stände durch Vereinbarung, wol aber die alleinige Regierungsgewalt zu
Verfassungsänderungen befugt ist. Diesem Princip entsprechend begutachtete
damals laues die bundestägliche Commission und sanctionirte den Bundcs-
bcschluß (bei Gelegenheit der hannoverschen Verfassungsfrage), daß man aus
Untersuchung einzelner ständischen Beschwerden nicht einzugehen brauche, wenn
dieselben dahin gingen, daß eine Regierung mit ihren Verfassungsänderungen
noch hinter die Bundesnormen >vom 23. Aug. 1851 zurückgegangen sei. Da
dieser Grundsatz besteht, so ist es allerdings weit mehr Gnade der Macht¬
haber, als etwa grundgesctzliches Recht, wenn überhaupt eine Negierung der
Verfassung nachkommt und diese nicht mit beliebigen administrativen Verord¬
nungen außer Kraft erklärt. Die baierische Verfnssungsbeharrlichkeit ist sonach
ein, Gnadengeschenk des jetzigen Ministeriums.
Dies hatte die 1849 gewühlte baierische Kammer'sich wol gesagt, ehe
noch jener Buudesbcschluß erschien. Die sogenannte Lerchenfeldschc Majorität
verwahrte sich zwar immer feierlichst dagegen, daß sie die Principien der Re¬
gierung theile, stimmte aber unfehlbar für deren Vorlagen in jedem einzelnen
Fall. Nur beim Landtag 1854—55 stellte sich einige praktische Differenz bei
Gelegenheit eines Wahlgcsetzentwurfs heraus, welcher detaillirte ständische
Gliederungen zu Grundlagen des activen und passiven Wahlrechts machte,
vollberechtigte Staatsbürger wegen ihres Glaubens davon ausschloß, die
Wahlfähigkeit anderer an vexative Voraussetzungen band und dem admini¬
strativen Crmessen vollständige Grenzenlosigkeit seiner Herrschaft zuwenden
wollte. Von da an beginnt die Verstimmung zwischen den gesetzgebenden
Gewalten, und es mag nicht ohne Interesse sein, die letzten parlamentarischen
Jahre Baierns bei der heutigen Veranlassung wenigstens in allgemeinen Um¬
rissen zu recapituliren.
Im Januar 1855 war es, daß der erwähnte Wahlgesetzentwurf zur De¬
batte gestellt wurde. Man kam schon mißgestimmt dazu zusammen. Denn
unmittelbar vorher hatte die Kammer — es war noch immer jene mit der
ehemals so absolut gefügigen Majorität unter Herrn v. Lerchenfelds Leitung —-
sich des vom betreffenden Ausschuß zur Verwerfung begutachteten Antrags enge-
nommer, welcher Gesetzes- und Rechtsschutz forderte gegen die administrative
Willkür, womit die rheinpfälzische Kreisregierung über tausend unbescholtene
Männer, welche „eine Stütze' der Ordnung gewesen, als alles erschüttert war",
von den Gemeinderäthen ausgeschlossen hatte. Weiter hatte die Negierung
ihre Nachforderungen für die außerordentlichen Militärkosten der kurhessischen
Expedition zurückziehn müssen, um'selbst nur mit einiger Hoffnung auf Ge¬
währung der Creditfordcruug von 15 Millionen Thalern hervortreten zu können,
womit „die Vorbereitungen für die Bcrcithaltung der Armee zur Movilisirung"
getroffen werden sollten. Denn unter deu damaligen orientalischen Kriegs¬
verhältnissen erachtete es Herr v. d. Pfordten für eine „Pflicht Baierns und
Deutschlands, diejenigen Vorbereitungen zu treffen, ohne welche den Ereig¬
nissen nicht beruhigt entgegengesehen werden könne." Man möge sich dabei
erinnern, daß Baiern damals mit an der Spitze der bcunberger Politik und
Coalition stand.
Daß bei solchen Ruck-, An- und Aussichten dem Ministerium v. d. Pfordten
die Annahme des oben erwähnten Wahlgesetzes sehr erwünscht gewesen
wäre, kann gewiß nicht bezweifelt werden. Dagegen meinte die Kammer,
welche sich auf ihre sechsjährige treue, folgsame und ehrliche Dienstleistung be¬
rief, der neue Wahlgesetzentwurf sei wie ein schlechtes Leumundszeugniß sür
sie, dessen Mitunterzeichnung ihr doch nicht zugemuthet werden könne. Neben¬
bei bemerkte sie, die Negierung verfahre sich damit in allerlei Inconsequenzen
ihrer früheren „unumstößlichen Principe" und „heiligsten Ueberzeugungen",
weil sie ihrem eignen Gesetz über Judenemancipation durch die Wahlbestim¬
mungen ins Gesicht schlagen und nur in privilegirten Ständen die moralisch,
politisch und intellectuell fähigen Vertreter des Landes erblicken wolle. Man
bemerkte gehorsamst, wolle die Negierung die Constitution umstoßen, so möge
sie die Kammer auflösen und ein neues Wahlgesetz octroyiren, allein der
jetzigen Landesvertretung. die sich auf ihr gutes Gewisse» berufe, möge sie
nicht zumuthen, den Ursprung ihres eignen Maubads zu verleugnen. Der
Gesetzentwurf ward verworfen/
Diese Aeußerung der loyalitätsbewußten Landesvertrcter wurde von der
Negierung in gutem Gedächtniß bewahrt. Noch bevor daraus die Konsequenz
der Verwerfung der Wahlgesetzvorlage erwuchs, erhielt die Kammer eine Be¬
lehrung über ihre Hinweisungen auf angebliche Inconsequenzen der Regie¬
rung, eine Art von Programm der innern Politik des Herrn v. d. Pfordten.
M^n könne — sagte der beredte Staatsmann — bequem auf Consequenz
pichen, so lange man in der Minorität sei. Damit schien er eigentlich blos
auf die Minorität der Macht hindeuten zu wollen, denn diesmal war die
Negierung in der Minorität der Meinungen, und er fuhr dennoch fort: Die
Regierung, im Sturm der Revolution ans Ruder gekommen, habe nur ihr
Ziel, nicht die Stationen ihres Weges vorauswissen können; Consequenzen-
reiterei sei einem praktischen Staatsmann unmöglich. Wenn die Kammer
ihren eignen revolutionären Ursprung nicht verleugnen wolle (man darf nicht
vergessen, daß sie nach einer Kammerauflösung gewählt wurde, welche Herr
v. d. Pfordten selbst vollzogen), so beweise das zu viel, darum nichts als eben
„den sympathischen Zug der Zeit nach dem Revolutionären".
* Allein die Kammer blieb trotzdem unempfänglich für diesen Panegyrikus
auf die Inconsequenz staatsmännischer Praxis und beharrte bei ihrem Be¬
schluß. Das Votum erschien um so bedeutsamer, als die Drohung mit einer
Octroyirung durchaus nicht undeutlich gefallen war. Daß es indessen der
Kammer nicht um Oppositionsmacherci oder Consequenzenreiterei zu thun war,
wie ihrer Mehrheit"vom Ministcrtische Schuld gegeben wurde, zeigten mehre
folgende Beschlüsse, bei denen die alte Praxis befolgt wurde, der Regierung
den Willen zu thun, ohne mit ihren Principien übereinzustimmen. Allein
der alte harmlose Friede blieb dennoch getrübt, die alte Willfährigkeit nicht
mehr fraglos. Im Februar 1850 hatte Herr v. Lerchenfeld, welcher zufolge
der Augsb. Allg. Zeitung „der liebenswürdige Staatsmann" Mr xrMrenee
ist, bei Gelegenheit der parlamentarischen Behandlung des baierischen Pre߬
gesetzes die Behauptung aufgestellt, daß die baierische Presse sich in den Hän¬
den von „Buben" befinde. Diese Zeit war 1855 lange vorüber, auch schrieb
Herr v. Lerchenfeld keine Artikel mehr, und blos in der Allg. Zeitung finden
sich noch seine Kammerreden, aus dem stenographischen ins Deutsche über¬
setzt, als ebenso ungetrübte wie endlose Glanzbreiten. Er'war es nun. der
mit edler Selbstüberwindung eingestand, wie sehr man sich damals getäuscht
habe, als man das baierische Preßgesetz nach der Regierungsvorlage ange¬
nommen hatte. Es war nämlich eine Klage an die Kammer vom Redacteur
des „Nürnberger Couriers" gelangt, welcher mit monatelang consequent fort¬
gesetzten Confiscationen, von denen keine einzige von der richterlichen Be¬
hörde als gerechtfertigt anerkannt wurde, zu Tode gemaßregelt worden war.
Die Kammer erkannte die Klage für begründet und beschloß nahezu einstim¬
mig den Antrag auf deren Abstellung. Dagegen meinte der Minister des
Innern, diese ganze systematische Polizeiwillkür gehöre gar nicht zur Compe-
tenz der Kammer, „da kein Verfassungsgesetz verletzt sei". Ja, um dies den
Landesvertretern recht praktisch zu demonstriren, wurden bereits am andern
Tage (24. u. 25. Jan. 1855) durch das ganze Königreich alle Zeitungen be¬
schlagnahmt, welche in selbstständigen, wenn auch rein rcferirenden Artikeln
diese Kammerdebatte mittheilten. Nur M gewärmte A. A. Zeitung entging
vorsichtig demselben Geschick, indem sie das officielle sogenannte Mutterproto¬
koll und einen Auszug vom Ausschußbericht veröffentlichte.
Auch diese Zwischenfälle trugen nicht grade zu freundlichster Ueberein-
Stimmung der Landesvertretung mit dem Landesrcgimcnt du. Die Milch der
frommen Denkungsart begann stark zu sauern, und zwe^ nicht blos im Ler-
chenfeldschen Centrum, sondern auch in der streng katholischen Rechten, welche
dem Ministerium ihrerseits nicht vergab, daß dasselbe einen Antrag zu Fall
brachte, welcher einen Versassungsartitcl, wonach die Zinsenüberschüsse reicher
Kirchen „unter Mitwirkung des Staates" zu den Bedürfnissen dürftiger Ge¬
meinden'concurriren, ganz beiläufig hatte beseitigen wollen. Nun kam es an
die wichtigste Frage, an die oben berührte Creditforderung für die Armeeent¬
faltung Baierns, „ohne welche den Ereignissen (des orientalischen Kriegs)
nicht beruhigt entgegengesehen werden könne". Und hier war es Herr v, Lerchen-
feld. welcher als Berichterstatter der Commission mit hoch überraschendem
Nachdruck und einerlei ihm unerhörten Energie die Maßlose Verschwendung
der Kriegsverwaltung Schwarz auf Weiß so überzeugend nachwies, daß die
Kammer ohne alle materielle Discussion und mit großer Mehrheit
(97 gegen 25 Stimmen) nach dem Commissionsantrag die angesonnene Summe
auf die Hälfte herabsetzte. Was aber das Allerbedenklichste, das war die Art
selbst dieser Bewilligung. Herr v. d. Pfordten hatte nämlich die Mahnung,
daß die baierische Politik sich national erweisen und in der orientalischen An¬
gelegenheit an Oestreich anschließen solle, mit gewohnter Redefertigkeit benutzt,
um zu erklären: entweder vertraue man der Regierung und dann bewillige
man ihr, gleichviel ob viel ob wenig; oder man vertraue ihr nicht, dann
solle man auch keinen Kreuzer geben, die Minister würden als Ehrenmänner
wissen, was sie zu thun hätten. Diese in jeder Session wiederholte und
niemals vollzogene Drohung mit einem Rücktritt des Ministerpräsidenten
war allerdings praktisch, nach den bisherigen Ersahrungen, keine Alternative
zu der Gefahr, daß jede Bewilligung, die größte, wie die kleinste, ein spe¬
cielles Vertrauensvotum involvire. Man wünschte also jedenfalls gegen letz¬
tere Voraussetzung zu Protestiren, und so erklärten nach und nach die Führer
aller selbstständigen Fractionen einzeln, indem sie für den Commissions¬
antrag stimmten, dem gegenwärtigen Ministerium damit durchaus kein Ver¬
trauensvotum ertheilen zu wollen.
In den gouvernementalen Kreisen war dadurch die Entrüstung so hoch
angeschwollen, daß selbst die offiziöse Presse gegen die Kammer plaidiren
wußte; nicht gegen die irn speciellen Fall kundgegebenes Ansichten, sondern
gegen den ganzen Geist und ihre gesammte Haltung. Dieselben Elemente,
welche seit sechs Jahren als wohldenkend und wahrhaft patriotisch gepriesen
Worden waren, erlagen- jetzt plötzlich — der inspirirter Presse zufolge, in
welcher sich namentlich die von Dr. Jäger geleitete Pfälzer Zeitung durch
wohldicnerische Schmähsucht auszeichnete — der Verführung durch die
am-g. xoxularis, der parlamentarischen Eitelkeit, verdächtigen und verband-
tilgenden Einflüssen, oder sie litten an der bekanntlich von Zeit zu Zeit epi¬
demisch grassirenden^eschränktheit des Untcrthancnverstandes. Noch höher
steigerte sich aber die gouvernementale Verstimmung, als auch die Kammer der
gebornen und ernannten Reichsrathe, trotzdem Fürst Thurn und Taxis, der
Sieger von Bronnzell, mit voller Rüstung für die unverkürzten Militärforde-
rungen einsprang, so vollkommen im Princip mit der „untern Schwester¬
kammer" zusammenstimmte, daß der Ministerpräsident, um wenigstens deren
materielle Zugeständnisse zu retten, selber die Zustimmung zu ihrem Beschluß
befürwortete (12. Febr.). Eiligst wurde das Gesetz promulgirt, schon am
6.- März das Anlehen zur Subscription zum Cours von 94^ mit 4'/^ Proc.
aufgelegt und als Vertrauensvotum des Publicums für die ministerielle Po¬
litik verkündet, daß am 18. desselben Monats die Zeichnungen bereits ge¬
schlossen worden seien. Von dem lucrativen Geschäft, welches damit die Kapita¬
listen in dieser geschäftslosen Zeit machten, geschah keine Erwähnung; man
begrüßte alle Zeichnungen wie lauter Loyalitätsadressen.
Es war freilich auch überaus nothwendig. Denn während das Publi¬
kum sich mit diesem Speculationsgeschäft abgab, erörterte die Kammer das
Armeebudget, das Lottvwcsen und die Staatsrechnungcn in einer Weise, daß
eine Vertagung auf unbestimmte Zeit oder eine Auflösung und „Appellation
an das Volk" tagtäglich als offenere oder verdccktere Drohung in die Öffent¬
lichkeit gesendet wurde. Allein die Kammer war sich ihrer Aufgabe be¬
wußt und beeilte sich eben nicht allzusehr, für das erst am 8. März vorge¬
legte Budget pro 1855—61, welches abermals mit einem Deficit von ö Millionen
Gulden abschloß, ihre materiellen Bewilligungen zumachen, und gab bei jeder
einzelnen Position'ihre Bedenken gegen die Verwaltungspraxis und ihre
Wünsche für bessere Organisation kund. Die Erörterung der Staatsabrcchnungen
und speciell des Kriegsministeriums verwandelte die bisherigen Differenzen
endlich in einen entschiedenen Bruch. In den Armeeausgaben, wie bei an¬
dern Positionen waren die Budgetansätze weitaus- überschritten. Nirgend aber
standen die Überschreitungen in so rücksichtsloser Weise, so ohne Rechtferti¬
gung und Entschuldigung in die Abrechnungen aufgenommen, als in denen
des Kriegsministeriums. Der eingehaltenen Form nach hätte man füglich
daran zweifeln können, ob überhaupt ein Normalbudget existire. Hierbei zu¬
erst, aber auch desto energischer, machten sich die Beschwerden über die wie
absichtlich zur Schau getragene Geringschätzung der Verwaltung gegen die con-
stitutionellen Institutionen Luft. Man erkannte zwar schließlich die Militär¬
rechnungen von 1849—52 an, nicht aber die Überschreitungen im Pen¬
sionsetat.
Dadurch ward der .Kriegsminister in eine so unhaltbare Stellung gebracht,
daß sein (am 25. März erfolgender) Rücktritt eine unausweichliche Nothwen-
digkcit wurde. Bevor jedoch derselbe zur Ausführung kam, hatte sich die par¬
lamentarische Kritik gleichermaßen einschneidend, sowol in materieller als prin¬
cipieller Beziehung auch gegen das Gewähren des Ministeriums des Innern
gewendet. In principieller Beziehung entflammte sich aber der Kampf ganz
speciell bei den sogenannten „unbenannten Ausgaben". Es ist bekannt, daß
der größte Theil derselben zur Subvention der officiösen und officiellen Presse
dient. Hierbei ward ganz namentlich hervorgehoben und betont, wie die ge-
sammte Haltung dieser einheimischen Blätter und der leicht erkenntlichen Ar¬
tikel ihrer Besoldeten in ausländischen Zeitungen vollkommen grundgesetzfeind¬
lichen Charakters sei. Habe man darin die Ansichten der Regierung zu
erblicken, so müsse man gradezu an eine Bedrohung und absichtliche Untergra¬
bung des gesammten constitutionellen Lebens durch die auf die Constitution
verpflichteten, für ihre Ausführung verantwortlichen Organe glauben, es bleibe
der Landesvertretung nichts übrig, als sich direct an das Staatsoberhaupt
zu wenden. Umsonst suchte die Negierung. wie noch immer, jede Solidarität
mit dem nichtamtlichen Theil der officiellen Blätter, vollends aber jeden Zu¬
sammenhang mit den als inspinrt und subvenirt geltenden Journalen und
Artikelschreibern abzulehnen; umsonst versprach man auch vom Ministertisch
Verbesserungen in der Organisation der officiösen Journalistik. Der Damm
der Zurückhaltung war zusammengebrochen, und alles, was die Kammer seit
sechs Jahren in dem Bestreben, mit dem Ministerium zu gehen, unter Ueber¬
windung ihrer besseren Ueberzeugungen zurückgedrängt, brach sich jetzt Bahn.
Die späte Vorlegung des Budgets spielte keine geringe Rolle; man betrachtete
sie als eine Absichtlichkeit, darauf berechnet, dem Landtag, dessen Mandat
am 24. Juli zu Ende ging, keine genügende Zeit zur speciellen Prüfung der
einzelnen Ansätze zu lassen. So erfolgte der Antrag von 25 Mitgliedern des
Centrums, unter Führung des Herrn v. Lerchenfeld, daß eine Adresse an
den König erlassen werde, worin die Bitte enthalten sein solle, das Budget
blos aus zwei Jahre feststellen zu dürfen (20. März.).
Doch -nicht dies allein. Vielmehr solle die- Adresse dem König zugleich
darlegen, wie die Kammer während ihrer sechsjährigen Wirksamkeit nur un¬
vollständig ihre Aufgabe habe erfüllen können. Daraus seien in verschiedenen
Zweigen der Staatsverwaltung, insbesondere in der Justiz, schwere Mißstände
heunisch geworden; endlich sei auch das vorgelegte Budget bis zum Endter¬
min des Kammermandats unmöglich zu erledigen. Trotz des am Mimster-
tlsch bis zum Aeußersten gesteigerten Widerstandes ward der Antrag auf eine
solche Adresse nach verhältnißmäßig kurzer Debatte mit 78 gegen 37 Stim¬
men genehmigt und sofort (Abends) ein Adrcßausschuß gewählt, welcher den
Präsidenten der Kammer mit der Abfassung des Schriftstückes beauftragte.
Nachdem aber die Versammlung wenige Tage nachher zum Schluß ihrer vor-
österlichen Thätigkeit die Abrechnungen von 1849—52 mit bestimmten Vor¬
behalten genehmigt hatte, entgegnete ihr die Negierung mit einem Auflösungs-
decret. Dieses motivirte natürlich die überraschende Maßregel mit keiner Silbe.
Dagegen sagte die officielle N. Münchner Zeitung: Wenn der Landtag mit
einer Thronrede eröffnet werde, hätten regelmäßig die Kammern Adressen an
den König gerichtet. Werde aber der Landtag ohne Thronrede eröffnet, so
sei das Adrcßerlassen nicht gebräuchlich, noch weniger aber herkömmlich, wäh¬
rend des Laufes der Verhandlungen von einer Kammer allein eine Adresse
an den Thron zu richten. Man wolle in solchen Adressen „nur seine Ansichten
und Wünsche in aufregender Weise" geltend machen, sie seien immer nur in
leidenschaftlich bewegten Zeiten und von den Führern der Opposition gestellt
worden. Gleiches sei auch vom jüngsten Adrcßantrag zu befürchten gewesen,
deshalb habe die Regierung guten Grund gehabt, „eine Discussion abzuschnei-
den, welche nachtheilig, wahrscheinlich aber auch im höchsten Grad auf¬
regend gewirkt haben würde."
Deutschland war damals viel zu sehr in Anspruch genommen vom orien¬
talischen Kampf und den immer weiter greifenden Betheiligungen der gesamm-
ten Culturwelt daran, um diesen baierischen Vorgängen besondere Aufmerk¬
samkeit zuzuwenden. Baiern selbst setzte zugleich seine Kriegsrüstungen mit
einer auffallenden Energie und in einem Umfang ins Werk, wie keiner der
andern Mittelstaaten,, als gälte es, die bürgerlichen Mahnungen der zweiten
Kammer an das Mißverhältniß zwischen den Militärkosten und den Stants-
krüften, so wie die reichsräthlichen Warnungen vor militärpolitischer Gro߬
mannssucht durch die soldatische Praxis gleichermaßen zu dementiren. Dieser
Anschein wuchs, da auffallenderweise zu diesen Anläufen nach einer activen
Machtstellung die politischen Ausführungen der inspirirter und „gutunterrich¬
teten" Presse und Publicisten den schroffsten Gegensatz bildeten, indem sie die
absolute Neutralität des Bundes und alle jene Principien, welche die nationalen
Wünsche und Bedürfnisse am meisten verleugneten, mit emphatischer Berufung
auf die materiellen Vortheile einer unbetheiligten Stellung Deutschlands ver¬
fochten. Man konnte also im Lande, wie außerhalb desselben in dieser mili¬
tärischen Entfaltung nichts weiter sehen, als ein absichtliches Zurschautragen
vollster Geringschätzung für alle parlamentarischen Kundgebungen grade Hin-
sichtlich des Militärwesens. Eben dadurch wuchs jedoch die Mißstimmung
über die »erfochtene orientalische Politik im gesammten Publicum so hoch,
daß man sich endlich zu journalistischen Erläuterungen veranlaßt sah. 'Die¬
selben erfolgten „auf Grund von Mittheilungen von unterrichteten und zuver¬
lässigen Personen" unter der Form der Ableugnung „einer entschiedenen Hin¬
neigung Baierns zu Preußens Politik und der gegentheiligen Haltung gegen
Oestreich". Namentlich wurde in Abrede gestellt, daß Baiern, „zu Preußens
Ansichten sich bekennend, in einem Separatvertrag mit dieser Großmacht zu^
gemeinschaftlichem Vorwärtsgehen gegen Oestreich sich verpflichtet habe."
Diese officielle Berichtigung einer „nach allen Anzeichen vielfach verbrei¬
teten Meinung" bezeugt lauter, als wenn wir die anklagenden Stimmen sprechen
lassen würden, die Hohe des Mißtrauens im Publicum gegen die Tendenzen
und Neigungen der gouvernementalen Politik. Man war sich dessen in den
leitenden Kreisen auch recht wohl bewußt und hegte deshalb über die Anordnung
von Neuwahlen für die Kammer vorläufig lebhafte Besorgnisse. Um nähere
Einsicht in die Stimmungen der einzelnen Provinzen zu gewinnen, griff man
zu dem auffälligen Mittel, sämmtliche Regierungspräsidenten des Königreichs
in München zu versammeln (April 1855). Die N. Münchner Ztg. berichtete
darüber in einer officiellen Notiz: „Dieselben (Regierungspräsidenten) hatten
Gelegenheit, über die wichtigsten Fragen der innern Verwaltung die Regierungs¬
grundsätze zu vernehmen und zugleich ihre Erfahrungen und Ansichten hierüber
darzulegen. Zu diesem Behuf haben mehrfache Conferenzen derselben mit
den Staatsministern, von denen eine unter der persönlichen Leitung Sr. Maj.
des Königs stattgefunden. Jnskünstige sollen sich diese Zusammentritte all¬
jährlich wiederholen. Der dadurch gewonnene mündliche Ideenaustausch
unter den obersten Beamten der innern Verwaltung kann das lebensthütige
Eingreifen der Negierung zur Förderung der Interessen des Landes und seiner
Bewohner nur in wohlthätigster und erfreulichster' Weise fördern.
Dieses „lebensthütige Eingreifen" sollte sich sofort bewähren. Verordnungen
und Circularschreiben der Regierungspräsidenten, worin die Beamten und selbst
die untersten Schichten der Amts- und Kanzleibediensteten wiederholt, unter
drohenden Mahnungen aufgefordert wurden, amtlich wie außeramtlich darauf
hinzuwirken, daß nur conservative Männer gewählt würden, erfüllten die
nächsten Wochen. In Erlassen gleichen Sinnes scharfem sämmtliche Bischöfe
und evangelische Kirchenbehörden der Weltgeistlichkcit und den Pfarrern ein,
daß ein wesentlicher Theil ihres Seclenhirtenamtes in der Sorge für die Wahl
gouvernemental gesinnter Abgeordneten bestehe. Den Offizieren ward durch
ein Kricgsministerialrescript die Theilnahme an den Wahlen kurzweg untersagt,
weil sie von dem 1348 geleisteten Vcrfassungseid entbunden worden seien,
jeder Wähler aber auf diesen Eid verpflichtet sei. Da die Zeitungen diese
und ähnliche Thatsachen blos unter äußerst vorsichtigen Formen an die Oeffent-
lichkeit stellten, und ihre Zweifel, ob auf diese Weise das Staatsgrundgesetz
eingehalten werde, welches jede amtliche Einwirkung auf die Abgeordneten¬
wahlen ausdrücklich untersagt, nicht einmal äußern durften, so bekam das
»deutsche Ausland" natürlich keinen Begriff davon, in welcher Weise ein sol¬
ches „lebensthätiges Eingreifen der Regierung" die „Interessen des Landes
und 'seiner Bewohner nur in wohlthätigster und erfreulichster Weise fördern"
konnte. Jedenfalls bildete das Wahlausschreiben vom 15. Mai, welches die
Vorwahlen auf den 20.., die Abgeordnetenwahlen auf den 30. Mai festsetzte,
mit seinen Worten einen seltsamen Gegensatz zu diesen gouvernementalen Prä¬
ventivmaßregeln. Denn seine Schlußworte lauteten: „Wir erwarten von allen
Behörden gewissenhafte Erfüllung ihrer beschworenen Pflichten, Leitung der
Wahlverhandlungen mit rücksichtsloser Unbefangenheit, Beschirmung
der Freiheit der Wahlstimmen vor Einschüchterung oder Bestechung, und
pflichtgetreue Enthaltung von Beschränkung der Wahlfreiheit."
Bei der Wahlhandlung selbst mußte es auch nach solchem königlichen Befehl
auffallend genug erscheinen, daß die Acten derselben, wie Stimmlisten, Wahl¬
protokolle und tgi. nicht, wie bisher, an die Communalbehörden, sondern an
die Polizeistellen abgeliefert werden mußten. Man schloß daraus, daß Sieber
Polizei gewissermaßen als „schätzbares Material" zu politischen Conduiten-
listen über Einzelne und ganze Gemeinden dienen sollten. Auch mußte die
officiöse Pfälzer Zeitung (zweite Hülste des Juni) das Eingeständnis) machen,
daß z. B. denjenigen Wahlbezirken/welche nichtgouvernementale Vorwahlen
getroffen hatten, sofort angekündigt wurde, „sie würden in diesem Sommer
keine Tanzmusiken halten dürfen" (A. Allg. Ztg. 1855 No. 167.). Noch
viel schlimmere Thatsachen enthält aber das damals auch in weiteren Kreisen
bekannt gewordene „Streiflicht auf die pfälzer Wahlen im Jahr 1855 ". welches
die wohlgesinnten Gegner wol zu beschimpfen und zu verdächtigen, doch in seinen
Thatsachen nirgend einer Unwahrheit zu zeihen vermochten. Diese Einzelheiten
kommen indessen hier nicht in Betracht, es galt nur daran zu erinnern, in welcher
Weise der königliche Befehl von den königlichen Behörden und zwar unmög¬
licherweise ohne Billigung der königlichen Staatsregierung in Ausführung
gebracht wurde.
Halten wir uns an das factische, rein statistische Resultat der Kammer¬
wahlen. Unter den 145 neuen Abgeordneten befanden sich allerdings blos
44 Mitglieder der aufgelösten Kammer, von denen 27 für und 9 gegen die Adresse
gestimmt hatten, wegen welcher die Auslösung eingetreten, 8 nicht anwesend
gewesen waren. Von den übrigen 101 Abgeordneten traten an 90 überhaupt
zum ersten Mal in die Kammer. Das büreaukratische und klerikale Element
erschien gegen die vorherige Diät außerordentlich vermindert, das communale
grundbcsitzende,, gewerbtreibende sehr verstärkt. Ueberwiegend ministeriell hatte
blos die Rheinpfalz gewählt — es sollte sich bald zeigen, wie dieser vermeint¬
liche Sieg sich in eine schwere moralische Niederlage der Behörden verwandelte.
Wie aber officiell versichert wurde, benutzte die Regierung die Zeit bis zum
Zusammentritt des neuen Landtags zu einer Revision des Budgets, durch
welche die früher vorgelegten Ansätze herabgemindert werden sollten. Man
gestand also damit ein, daß die aufgelöste Kammer materiell im vollen Recht
gehandelt, und daß ausschließlich der formelle Ausweg einer Jmmediateingabe
an den König ihre Auflösung veranlaßt habe. Da sie aber ihre Bedenken
gegen viele Zweige der innern Verwaltung, ihre Beschwerden über die finan¬
ziellen Ausschreitungen im Kriegsdepartement, ihre Klagen gegen die Hintan¬
setzung der konstitutionellen Institutionen durch die Verwaltung und gegen den
grundgesctzfeindlichen Geist der gouvernementalen, vom Staat subvenirten Pre߬
organe aus keine andere Weise zu wirksamer Geltung bringen zu können über¬
zeugt war, so erschien grade erst jetzt die Auflösung als Mittel, die Stimme der
Landesvertretung vom König fern zu halten, die Ueberzeugungen der Landes-
vertrcter mundtodt zu machen, dem gouvernementalen Ermessen alle grund¬
gesetzliche Rechte und Befugnisse der Landesvertretung unterzuordnen.
Geschichte der Revolutionszeit von 1789 bis 1795. Von Heinrich von Sybel.
Dritter Band, erste Abtheilung. Düsseldorf, I. Buddeus.
Es gibt wenig Begebenheiten in der neuern Geschichte, die von der öffent¬
lichen Meinung so allgemein gebrandmarkt wären, als die Theilung Polens
und der Friede von Basel. Hört man die gewöhnlichen Urtheile, so sollte man
annehmen, in der Politik des achtzehnten Jahrhunderts habe sonst die voll¬
kommenste Sittlichkeit geherrscht, und nur durch jene beiden Thatsachen sei
der böse Geist des Macchicwcllismus in die europäischen Zustände eingeführt
worden. Beide Mal ist es Preußen, dem man die Last dieser schweren Ver¬
antwortlichkeit aufbürdet. Etwas Richtiges liegt so allgemein ausgesproche¬
nen Ansichten immer zu Grunde. Die Theilung Polens ist zwar nicht un¬
moralischer als irgend ein anderer Ausdruck des Arrondirungssystems, welches
un achtzehnten Jahrhundert für die Politik der Fürsten maßgebend war und
maßgebend sein mußte, wenn man sich aus dem verwickelten, lebensunfähigen
Rechtssystem des siebzehnten Jahrhunderts freimachen wollte, aber die Form,
,^n der sie ausgeführt wurde, ist allerdings cynischer als irgend etwas, das
sonst nach dieser Richtung geschehn ist. Außerdem hat sie für die Theil-
nehmer bittere Früchte getragen, namentlich für Preußen, welches dies fremd¬
artige Element nych immer nicht hat absorbiren können, und dadurch in Ver¬
bindungen verstrickt ist, die seinen wahren Bedürfnissen widersprechen. Der'''''"'
Friede von Basel setzte zwar nur fort, was die deutschen Fürsten seit dem
dreißigjährigen Krieg begonnen hatten, aber er war allerdings der erste ver-
hüngnißvolle Schritt, durch welchen jener französischen Uebermacht Bahn ge¬
brochen wurde, die zwanzig schwere Jahre auf Deutschland gelastet hat. Jene
beiden Ereignisse zu rechtfertigen, sie ga< als wohlthätig sür die neuere Ent¬
wickelung nachzuweisen, wird kaum gelingen, aber bei einer detaillirten Dar¬
stellung kommt man bald zu der Ueberzeugung, daß ein Schritt den andern
bedingte und daß in dem Naturproceß, der darin waltet, die Schuld des Ein¬
zelnen und namentlich Preußens kaum in Betracht kommt.
Diese innere Nothwendigkeit klar gemacht zu dabey, ist eines der vor¬
züglichsten Verdienste des Geschichtschreibers, dessen Werk uns zu diesen
Bemerkungen veranlaßt. Mit einer Reife der Bildung, einer Vollständigkeit
und Unbefangenheit der Forschungen und einer kalten Besonnenheit des Ur¬
theils, wie sie sich unter unsern Schriftstellern sehr selten findet, verbindet
Heinrich v. Sybel eine Rechtschaffenheit des Gefühls, die ihn davor be¬
wahrt, was er begreift auch zu billigen. Die Verwickelung der Umstände hat
eine sehr weitreichende Macht, aber der Wille des Menschen, durch das Ge¬
wissen gekräftigt, ist doch sähig sich darüber zu erheben, und sast überall wird
sich zeigen, daß die Hochherzigkeit der Gesinnung, die im Stande ist, die Ver¬
hältnisse groß aufzufassen und die kleinen Motive des augenblicklichen Erfolgs
dem Gefühl der Pflicht und des allgemeinen Berufs unterzuordnen, auf die
Dauer auch in der Politik den richtigsten und namentlich auch den sichersten
Weg weist. Die traurigste Rolle aber spielen diejenigen Charaktere, die, in
eine kritische Zeit gestellt, wo es darauf ankommt, mit. schnellem Entschluß den
Augenblick zu ergreifen, von verschiedenen Motiven erregt werden, und bald
der Pflicht und der Ehre, bald dem Interesse Gehör geben. Eine solche Rolle
hat Preußen seit dem Tode Friedrich des Großen sast ununterbrochen gespielt
und sie würde seinen Untergang herbeigeführt haben, wenn nicht die unversieg-
liche Lebenskraft in den natürlichen Grundlagen dieses Staats auch aus den
ungünstigsten Verhältnissen immer neue Nahrung zu ziehn wüßte.
Seit dem dreißigjährigen Krieg war der preußisch-brandenburgische Staat
durch den großen Kurfürsten in die europäische Politik eingeführt worden. Er
hat nicht blos seinen Staat in die Hohe gebracht, er hat auch das völlig
zerrüttete und in seinem Lebensnerv angegriffene, dem allgemeinen Schimpf
und Hohn ausgesetzte Deutschland, so weit es unter den traurigen Umständen
möglich war, wieder in seine Fugen eingerenkt. Schon damals begann Oest¬
reich, mit den scheinbaren Rechten und Pflichten der alten Kaiserwürde aus¬
gestattet, jene Politik, die es Preußen gegenüber stets aufrecht erhalten hat:
es benutzte den frisch aufkeimenden, in seinen inneren Verhältnissen geordneten
tüchtigen Kriegcrstaat, dem Feind die entscheidenden Schläge, beizubringen,
dann aber wachte es mit eifersüchtiger Sorgfalt darüber, daß dem gefährlichen
Nebenbuhler keine Vortheile daraus zuflössen, die seine Macht bedenklich er¬
weiterten. Spielte auch im Krieg der jüngere Staat die Hauptrolle, so blieb
im Frieden der ältere doch der mächtigere, und er verschmähte es nicht, auch
Deutschlands Vortheil den öffentlichen Feinden Preis zu geben, wenn es zugleich
der Vortheil seines Nebenbuhlers war. Der große Kurfürst empfand diese
Lage mit bitterm Unmuth, aber er ließ sich dadurch nicht verleiten, von dem
geraden Weg der Politik abzugehn. So wohl er es verstand, seinen eigenen
Vortheil wahrzunehmen, blieb er doch deutscher Reichsfürst und hielt zu Oest¬
reich, auch wo dieses ihn schwer kränkte, in der festen und vollkommen begrün¬
deten Ueberzeugung, dieser gerade Weg werde ihn trotz aller Eifersucht Oest¬
reichs am sichersten dem Ziel zuführen, dem der Ehrgeiz seines Hauses ent-
gegenstrebte.
Was der Gründer des preußischen Staats mit Plan und Einsicht durch¬
führte, weil er die Verhältnisse groß auffaßte, setzten seine beiden Nachfol¬
ger aus Schwäche sort. Allein diese Schwäche hat die Entwickelung des
Staats nicht beeinträchtigt, weil die Politik in der geraden Linie blieb. Preu¬
ßen war innerlich gekräftigt und fiel schwer in die Wagschale der Entscheidung,
als Friedrich der Große bei seiner Thronbesteigung plötzlich die angestammte
Politik seines Hauses aufgab und seine Macht mit raschem Entschluß gegen
Oestreich wandte. Dies ist nun eine von jenen kritischen Zeiten, in denen
man das Urtheil über eine That nicht nach der Idee abmessen darf, die der¬
selben zu Grunde lag, sondern nach der Kraft, die dabei verwandt wurde.
Die Politik der Jahre 1740' bis 1745 wäre die Politik eines vermessenen
Abenteurers gewesen, wenn sie nicht die Politik eines der größten Männer
war, die die Weltgeschichte kennt. Uebermächtigen Intriganten gegenüber,
denen jedes Mittel recht war, hatten bis dahin die schwächeren preußischen
Fürsten langsam Erfolge erreicht, indem sie ehrlich den Weg der Pflicht vor
sich hingingen; Friedrich erreichte einen schwindelnden Erfolg, indem er sie an
Rücksichtslosigkeit überbot. Er hat durch die Größe seiner Thaten, durch den
Segen, den sein Vaterland, durch den Ruhm, den das ganze deutsche Volk
ihm verdankt, das Frevelhafte seines Unternehmens längst in Vergessenheit
gebracht. Aber nur er, der gewaltige eiserne Mann, der immer nur eins
wollte, und der an Charakterstärke ebenso über seinen Zeitgenossen stand, wie
ein Einsicht, Genie und Reichthum des Geistes, konnte es in Vergessenheit
bringen; dieselben Maximen würden einen Charakter, der nicht ganz von Ei-
scn ist, schmählich zu Grunde richten. Man sollte neuerdings in der Empfeh¬
lung der altenfritzeschen Politik vorsichtiger sein; denn sie war eben nur für
den alten Fritz gemacht.
Nun wollte das Unglück, daß unter seinem schwachen Nachfolger bald
die eine, bald die andere Richtung der altpreußischen Politik in den Vorder¬
grund trat. Friedrich Wilhelm II. war intellectuell keineswegs so unbedeutend,
als man gewöhnlich annimmt. Bei seiner lebhaften allseitigen Empfänglich¬
keit, bei seinem schnellen Verständniß, bei seinem Sinn für das Höhere, konnte
man ihm selbst das Prädiccit eines geistvollen Mannes nicht versagen. Frei¬
lich ließ er sich durch die Sitten des Hofes von Versailles mehr bestimmen,
als sich mit der preußischen Ueberlieferung vertrug, freilich verkehrte er zu viel
mit Geisterbannern und andern Individuen jener Classe, die man später als
Romantiker bezeichnete, aber er dachte auch viel über Staatsangelegenheiten
nach, er beschämte augenblicklich manche seiner Diener durch eine seine Auf¬
fassung der Verhältnisse, er hatte einen Willen, der sich unter Umständen sehr
energisch durchzusetzen wußte, er besaß Ehrgeiz und Ehrgefühl. Er dachte
wie seine Vorfahren an seine Pflichten als Reichsfürst und bemühte sich im
Interesse Deutschlands mit Oestreich Hand in Hand zu gehn. Er fühlte ritter¬
lich 'für die französische Königsfamilie und verabscheute die Jakobiner aus
moralischen Gründen. Er hatte Sinn sür die Entwickelung eines freien Volks-
wcsens, wie sie sich in der polnischen Cqnstitution von 1791 vorzubereiten
schien. Er fühlte lebhaft den Beruf, den die Großthaten seines Oheims ihm
hinterlassen hatten, und er war nicht schwach genug, die Intriguen Oestreichs
gleichmüthig hinzunehmen. Das alles waren wesentliche Gesichtspunkte, nur
leider widersprachen sie einander, und da bald der eine, bald der andere in
seinem Gemüth in den Vordergrund trat, so kam dadurch in seine Politik
ein Schwanken, das leicht hätte verhängnißvoll werden-können und das un¬
ter seinem Nachfolger auch verhängnißvoll wurde. Diesem unsteten Willen
gegenüber spielt Oestreich die alte Rolle fort, nur daß die frühere Besorgniß
gegen den rivalisirenden Staat noch durch einen Haß gefärbt wurde, der sich
aus dem Andenken an den siebenjährigen Krieg leicht erklärt. Hütten die öst¬
reichischen Staatsmänner einen großen Blick gehabt, so hätten-sie schon da¬
mals eingesehn, daß nur eine feste Allianz mit Preußen ihre Bahn ebnen
konnte, und daß sie weit entfernt, die Vergrößerung Preußens durch Intriguen
zu hintertreiben, um dieser Allianz willen alles daransetzen mußten, den jun¬
gem Staat zu kräftigen. Aber Thugut. der in der Periode von 94 den Aus¬
schlag gab, verband mit einer scharfen Einsicht und einem zähen rücksichtslosen
Willen eine kleine Seele und fachte die alte Eifersucht in einer Weise an, die
auch das ruhigste Gemüth erbittern und endlich zur ausgesprochenen Zwie¬
tracht führen mußte.
Noch hatte Friedrich seinem Staat ein verhängnißvolles Erbtheil hinter¬
lassen, das russische Bündniß. Für seine unmittelbare Lage war es freilich
ein Meisterstück, daß er die russisch-östreichische Allianz löste, die ihn hätte er¬
drücken müssen. Man spricht häufig von der Unmöglichkeit, daß Oestreich und
Nußland sich miteinander verständigen könnten; für den Augenblick ist frei¬
lich durch menschliche Motive zwischen beiden Staaten eine Entfremdung ein¬
getreten, die nicht leicht zu beseitigen sein wird, aber van einer Unmöglich¬
keit ist nicht die Rede. Freilich strebte Nußland seit langer Zeit nach dem
Besitz Polens und der Türkei, und Oestreich hatte gerechten Grund, sich die¬
sem Streben zu widersetzen; allein die Habgier konnte es leicht bestimmen,
sich durch einen Antheil an der Beute beschwichtigen zu lassen. So geschah
es bei der ersten Theilung Polens, und diese Politik erneuerte sich 1790. als
beide Mächte sich einigten, die Türkei zu theilen. Der Erwerb der Türkei war
der leitende Gedanke der russischen Politik. Für ihn benutzte man bald Preu¬
ßen, bald Oestreich. Um hier freie Hand zu haben, trieb Katharina II. die
beiden deutschen Mächte in, den Ritterkrieg gegen die französische Republik, der
ihr allein zu Gute kam und sie doch keine Opfer kostete. Das Verhältniß Ru߬
lands zu Preußen war ein ganz anderes als das Oestreichs. Von Eifersucht
und Haß war keine Rede, es war nur die Geringschätzung, welche aus dem
Gefühl brutaler Uebermacht und größerer Verschmitztheit hervorging. Wie ge¬
ringschätzig man bei der zweiten Theilung Polens mit Preußen umging, ha¬
ben am deutlichsten die Memoiren des Grasen Siepers gezeigt; zuletzt hatte
man sich doch verständigt. Aber die neue Jnsurrection der Polen gab zu
neuen Reibungen Veranlassung.
Friedrich Wilhelm hatte den Krieg gegen Frankreich aus Rittcrpflicht über¬
nommen, gegen die Ueberzeugung der meisten seiner Rathgeber. An diese
Rittcrpflicht wurde er fortwährend von den Russen höhnisch erinnert, wenn
man einen Augenblick zu bemerken glaubte, daß er im Interesse seines Lan¬
des bereit war, ihn aufzugeben. In diesem Krieg lag der ganze Idealismus
seiner Politik: freilich gehörte er zu sehr dem achtzehnten Jahrhundert an, um
nicht auch einen Vortheil daraus ziehn zu wollen. Er ließ sich von den Eng¬
ländern für die Truppen, die er ihnen am Rhein zur Verfügung stellte, be¬
zahlen, und verlangte von den Russen, da er in Frankreich selbst nichts er¬
obern wollte, eine Entschädigung an der Weichsel. Oestreich hatte seinen Krieg
von vornherein positiver aufgefaßt, und Thugut nahm keinen Anstand, seiner¬
seits mit den Franzosen jene Unterhandlung einzuleiten, die später seine Publi-
cisten. als sie von Preußen durchgeführt wurde, als einen Verrath an der
deutschen Sache bezeichneten. Diese Wendung der Politik wurde dadurch her¬
beigeführt, daß die Entscheidung in Polen in demselben Augenblick eintrat,
am Rhein und in Belgien die Franzosen überraschende Erfolge davon trugen.
Ganz getrennt von der Entwickelung des Innern hatte sich in den Kriegen eine
Soldateska gebildet, die von kriegslustigem Eifer erfüllt, für die Republik
schwärmte, die ihr reiche Lorbeern und ausgelassenes Leben verhieß, und bald
der Schrecken aller Gegner wurde. Kein Gefühl der Pflicht, erzählt Sybel,
war in ihnen angeregt, und so wandten sie auch der Republik den Rücken,
sobald ein noch lorbcerrcicherer Führer erschien und richteten endlich auch die¬
sen zu Grunde durch die Habgier und Selbstsucht, welche einst neben allem
Nuhincsdurst die Revolution in ihrem Herzen groß gezogen hatte. Ihre tech¬
nische Ausbildung blieb in den wenigen Uebungsmonaten allerdings mangel¬
haft. Es fehlte noch immer wie im vorigen Herbst an Manövrirfähigkeit und
an standhafter Ruhe in der Vertheidigung. Die Führer sahen es wol, aber
empfanden wenig Sorge darüber. Wenn die deutschen Truppen rascher ihr
Feuer wiederholten, so mahnten die französischen Offiziere zum stürmenden
Anlauf mit dem Bajonett, der Lieblingswaffe, sagten sie, der Republikaner.
stoben einmal ihre ungeübten Haufen in plötzlichem Schrecken auseinander,
so zuckten sie gelassen die Achseln, weil die Flüchtigen sich doch auch ebenso
plötzlich zu neuem Angriff ernannten. Wenn ihre Soldaten bei jeder künst¬
lichen Evolution in Verwirrung geriethen, so lehrten sie ihnen Verachtung
aller Künstlichkeit und blindes Vertrauen allein in den vorwärtsdrängenden
Muth. Nur keinen Augenblick Ruhe, unablässige Strapaze in Wind und Wet¬
ter, unaufhörliche Belästigung des Feindes im kleinen Krieg, unablässiges
Anstürmen in hellen Haufen, mag fallen was will, die Republik hat Men¬
schen genug, um daß sie siege, daß die Truppen, der Feind, die Nation es
lerne, Frankreichs Heer könne niemals geschlagen werden. So mahnten die
Generale das Heer, so die Negierung die Generale. Mit höchster Ungeduld
kamen die Anfragen aus Paris, wie lange es noch dauern könne, bis man
den Feind überraschend im Felde erscheine, nichts als Muth und Bajonette
seien zur Offensive erforderlich, mit Energie und Henkersbeil sei Süumniß und
schlechter Wille zu überwinden. Dieses verwilderte Kriegssustem wurde da¬
durch deu Feinden furchtbar, daß in den Wohlfahrtsausschuß ein Mann ein¬
trat, der mit wirklichem organisatorischen Talent ausgestattet, wenigstens in
diesem einen Zweig der Verwaltung der liederlichen Jakobinerwirthschast ein
Ende machte. In der Charakteristik dieses interessanten Menschen folgen wir
Sybel.
Carnot war 17 53 zu Nolay, einem kleinen Städtchen der Bourgogne
geboren, Sohn eines mit achtzehn Kindern- gesegneten Advocaten, in schlich¬
ten Verhältnissen und sorgfältiger Erziehung herangewachsen. Seinen mili¬
tärischen Sinn verrieth er schon als zehnjähriger Knabe, indem er im Thea¬
ter zu Dijon bei dem Anblick eines kriegerischen Schauspiels zu großer Er¬
heiterung des Publicums die Aufführung durch heftiges Rufen unterbrach, man
solle die Soldaten und Kanonen anders stellen, sonst gebe man dem Feind
alles in die Hände. Diese Lebhaftigkeit des Ergreifens zeigte er dann auf
allen Stufen des Unterrichts und entwickelte sie rasch zu Selbstständigkeit der
Auffassung und Wärme des Urtheils. Sehr früh zeigte er den eisernen Fleiß, wie
er überall aus dem echten Bedürfniß geistiger Unabhängigkeit entspringt: er
zog Verweise und Strafen auf sich, weil er gegen die Schulordnung auch in
der Spielstunde unablässig thätig war. Jeder Eindruck rief in ihm ein leiden¬
schaftliches Arbeiten hervor; er vermochte nicht zu ruhen, bis er ein klares,
seinem innern Standpunkt gemäßes Ergebniß gewonnen hatte. So brachte
er z. B. aus dem elterlichen Hause eine fromme und naive Religiosität nach
Paris in die militärische Vorbereitungsschule mit, und sah sich bald wegen
seines kirchlichen Sinnes den Spöttereien seiner jungen Genossen ausgesetzt.
Eine Weile trug er es, unberührt iU seinem Innern; einmal aber in seinem
Gefühl gestört, beschloß er eine gründliche Prüfung, und studirte nun einige
Jahre lang neben Mathematik und Kriegswissenschasten mit sachmäßigem Ei¬
fer Theologie, bis er sich mit jedem Zweifel auseinandergesetzt und dann frei¬
lich von seinem kindlichen Glauben nicht viel mehr erhalten hatte. Bei die¬
ser Arbeitskraft und Gründlichkeit entwickelte sich bald bei ihm ein Eigensinn
des Geistes, welcher in mannigfaltiger Folge strahlendes Licht und tiefen
Schatten auf seinen Charakter warf. Er war nicht abzuschrecken durch die
Schwierigkeit einer großen Aufgabe, aber auch unfähig, einem einmal in das
Auge gefaßten Hirngespinnst den Rücken zu kehren. Jahre lang wandte er
Zeit und Kraft vergebens auf das Problem, den Luftballon willkürlich zu
lenken, und fühlte sich für das Mißlingen kaum entschädigt, wenn er mit drei¬
undzwanzig Jahren zum Jngenieurhauptmann, zum geachteten Schriftsteller,
Zum Entdecker eines großen mechanischen Gesetzes gestiegen war. Sonst hatte
er keine Leidenschaft, als.die des Erkennens; es gab für ihn keine äußerliche
Verlockung; Mäßigkeit und Uneigennützigkeit verstanden sich seiner nur nach
Wissen durstenden Natur von selbst. Nicht minder sicher stand bei ihm, für den
es keinen Reiz als die Wahrheit des Gedankens gab, die Festigkeit, jede Ueber¬
zeugung zu wahren und zu bekennen; während alle andern Güter der Welt
ihn gleichgiltig ließen, fiel ihm an dieser Stelle Pflicht und Genuß, Ehrgeiz
und Selbstachtung ohne weiteres zusammen. So lebte und webte er, ohne
irgend eine Rücksicht auf seine äußeren Verhältnisse, in Studium und Wissen¬
schaft. Er hatte nichts dagegen, wenn seine lebenslustigen Kameraden ihn
das Original, den Philosophen nannten; er ließ es über sich ergehen, daß
seine Vorgesetzten die selbstständige'eit seiner Kritik einmal durch längere Haft
"> der Bastille ahndeten. Aber wo seinen Ansichten und Grundsätzen ein
Widerspruch in den Weg trat, da rührte sich seine schwere, heiße Natur in
ihren Tiefen. Seinem Geist fehlte jede Art von Biegsamkeit; er vermochte
"und nicht auf Augenblicke einen fremden Standpunkt zu verstehen, und jeder
Gegner schien ihm also mit bösem Willen an der unleugbaren Wahrheit
selbst zu freveln. Um Politik hatte er sich bis dahin nur einmal und bei¬
läufig bekümmert, als er in einer Lobrede auf Marschall Vauban dessen
System eines der Armuth günstigen Stcuerwesens feierte und dabei nach¬
drücklich die Barbarei der bestehenden Mißbräuche verurtheilte. Seine durch¬
aus nach Innen gekehrte Natur hatte wenig Interesse für die verwickelten
Ausgaben des praktischen Staatslebens; dies berührte ihn nur, wo es zugleich
ein allgemein menschliches Gefühl in ihm anregte. So gewann ihn, dessen
ganzes Wesen ein einziger Drang nach Unabhängigkeit war, die Revolution
sogleich und vollständig für die große Sache der Freiheit, Gleichheit und
Bruderliebe. 1791 kam er als Abgeordneter von Calais in die gesetzgebende
Versammlung, schloß sich nach jener allgemeinen Stimmung der Linken an,
und hielt nun mit der ganzen Konsequenz des Mathematikers oder wenn man
lieber will, mit der vollen Ungelenkigkeit des Gelehrten an dem einmal er¬
griffenen Standpunkt fest. Es war in der That wieder 'die Macht der Theorie,
die ihn ausschließlich bestimmte. Er beharrte aus den für wahr erkannten
Principien, ohne einen Blick auf die täglich furchtbareren Folgen, ohne einen
Gedanken an thatsächliche Bedingungen oder Störungen des Gelingens, ohne
eine Ahnung, daß die Politik nicht blos mit Lehrsätzen, sondern mit Kräften
und mit Leidenschaften abzurechnen hat. Grade die sittliche Festigkeit seines
Wesens machte auch seine doctrinüre Zähigkeit ganz unerschütterlich. Er, der
selbst kein Opfer achtete und keinen Kummer kannte, wo es auf eine Ueber¬
zeugung ankam, er hätte mit ehrlichem Herzen in Robespierres Worte ein¬
stimmen können: möge das Land zu Grunde gehen, aber die Principien
bleiben. So stimmte er, der geschulte Offizier, für die Rüstung des Pöbels
mit Piken, für die Entbindung der Soldaten vom blinden Gehorsam, für die
Schleifung aller Citadellen in den Festungen, damit sie nicht zu Zwingburgen
der Städte würden. So gab er, sonst der gerechteste und gewissenhafteste
Mensch, sein Votum für die Hinrichtung des Königs, trat in Robespierres
Wohlfahrtsausschuß, und schloß sich hier in besonderem Verständniß an Collot
und Billaud, an die Faction der Hebertisten. Denn so wenig er sonst deren
innere Gemeinheit theilte, so fand er bei ihnen lebhaftem Eifer für Krieg
und Kriegswesen, als.bei irgend einer andern Partei, und mochte ihre rohe
Brutalität als rückhaltlose Hingebung an die Principien entschuldigen. Immer
unterschied sich seine persönliche Haltung von der ihrigen trotz des Bündnisses.
Ein einziges Mal war er im Club der Jakobiner, und hörte eine Rede, daß
es sonst keine echten Patrioten gäbe als die Mitglieder des Clubs: er" war
sofort entschieden, den Fuß nicht mehr in die Gesellschaft zu setzen. Während
rings um ihn her alle selbstsüchtigen Leidenschaften tobten, hatte er keinen
Gedanken an sich selbst; er, der Generale ein- und absetzte, blieb nach wie
vor Hauptmann, rückte erst nach zwei Jahren im Dienstalter zum Major auf,
und gab nach jeder Reise die unverbrauchter Diäten gewissenhaft der Staats¬
kasse zurück, zum Aerger der Finanzbeamten, welche in ihren Einnahme-
registern dafür keine Rubrik hatten. So auf die Sache ohne alle persönliche
Rücksicht gewandt, kam er allmälig dahin, im Interesse der Sache dem
Fanatismus seiner Genossen hier und da zu widersprechen. Er wiederholte
unaufhörlich, daß man den Krieg gegen die Vendöe nie beendigen würde,
wenn man ihn nicht menschlicher führte. Er unterfing sich, die Generale der
Heere und selbst die Offiziere eines Bureaus ohne Rücksicht auf Geburt und
Partei, allein nach Verdienst und Fähigkeit zu wählen. Er wagte es, hier
und da Edelleute zu besetzen und sogar zurückgekehrte Auswanderer anzu¬
stellen. Es hieß das, dem glühendsten Haß seiner Partei in das Gesicht
schlagen; diese Gefahr aber war für seine Unbeugsamkeit nur ein Reiz mehr,
das Rechte zu thun.
Es war nicht das Schreckcnssystem an M, welches den Sieg der fran¬
zösischen Truppen herbeiführte, sondern die Verbindung eines Mannes mit
demselben, dem es wirklich um das Vaterland zu thun war und der Einsicht
und Energie genug besaß, die entscheidenden Mittel zu ergreifen. Mehr noch
trug zu diesem Erfolg die Uneinigkeit der Verbündeten bei. Die Engländer,
denen es wirklich Ernst mit dem Kampf war, hatten doch die entschiedene
Neigung, die preußischen Truppen wie Soldnerscharen zu ihrem Dienst zu
verwenden, und die Oestreicher hintertrieben sogar die Fortsetzung des Sub-
sidienvertrags, durch den Preußen allein befähigt wurde, den Kampf fortzu¬
setzen; ja sie gebrauchten schon damals die Taktik, den kleinen deutschen
Höfen zu insinuiren. die preußischen Truppen seien mehr gegen sie als gegen
die Franzosen gerichtet. Hatte man es früher für eine moralische Unmöglich¬
keit gehalten, mit dem jakobinischen Regiment in Unterhandlungen zu treten,
so machte man sich mit diesem Gedanken immer vertrauter, je mehr es sich
befestigte. Auf Robespierres Namen häufte sich zwar in der öffentlichen
Meinung der ganze Fluch der Revolution, aber er schien auch am ersten dazu
geeignet, die Ordnung wieder herzustellen. Es war der Sturz Robespierres,
der Thugut bestimmte, sich von den.Unterhandlungen mit Frankreich wieder
zurückzuziehen.
Diesen Fall des Schreckenssystems hat Sybel wieder mit vollendeter
Meisterschaft dargestellt. Früher sah man in der That des 9. Thermidor
den Sieg der Gutgesinnten über die Terroristen; spätere Paradoxenjäger haben
die Vorstellung umgekehrt und Einzelne sind so weit gegangen. Robespierre
ein Opfer der guten Sache zu betrauern. Die Sache liegt sehr einfach.
D>e Fortsetzung des Schreckenssystcms und der Blutherrschaft wollten beide
Parteien, aber Robespierre wollte das Leben sämmtlicher Bürger in seiner
Hand haben und die Bergpartei wollte ihm gegenüber gesichert sein; sie über¬
ließ ihm alle Köpfe, die irgend verlangte, nur ihren eigenen nicht. Robes-
Pierre^wollte einen schweigenden Despotismus, wie den Philipps II.. seine
Gegner wollten die Fortsetzung des revolutionären Lärms. Beide Parteien
in der bestimmten Voraussicht, daß es zum Bruch kommen müsse, wandten
sich an die Gemäßigten um Hilfe. Diese zögerten lange, weil sie wohl
wußten, daß die beiden radicalen Parteien stets geneigt waren, auf ihre Un¬
kosten Frieden zu schließen, bis sie sahen, daß es Ernst war. Dann traten
sie entschieden auf die Seite der Anarchisten gegen die Dictatur. Als nun
die Anarchisten das Schreckensregiment fortsetzen wollten, sahen sie plötzlich,
daß die Macht, die sie gegen die Dictatur zu Hilft gerufen, die öffentliche
Meinung, übermächtig geworden war, und so war mit dem Dictator auch der
Schrecken gefallen.
Während der französische Krieg ohne Energie weiter geführt wurde, be¬
stimmte der Ausbruch der polnischen Jnsurrection die drei östlichen Mächte,,
ihre Aufmerksamkeit ausschließlich nach dieser Seite zu wenden. Dieser Auf¬
stand bietet ein ebenso klägliches Bild als die Jakobinerherrschaft in Frank¬
reich. Die Polen wetteiferten mit den Nüssen und Preußen in der Zweck-
losigkeit ihrer Unternehmungen. Nur zwei bedeutende Charaktere treten in
diesem Gewühl blinder Leidenschaften hervor, Kosciusko und Suwarow. Da
über den letzteren in diesen Tagen eine ausführliche Monographie erschienen
ist, behalten, wir uns vor, aus diese höchst interessanten Erscheinungen zurück¬
zukommen.
Im, Anfang hatte Preußen die polnische Sache in seiner Hand; es hatte
allein ein größeres Heer in jener Gegend und hätte, da die polnischen
Truppen noch ohne alle Disciplin waren, durch Eroberung der Hauptstädte
der Sache leicht ein Ende machen können. Der factische Besitz des Landes
würde dann den Unterhandlungen mit Rußland einen größeren Nachdruck ge-.
geben haben. Aber eine kurzsichtige Weisheit kam auch hier dazwischen.
Von dem bösen Willen der Russen überzeugt, wollte man das Heer, dessen
man vielleicht nach dieser Seite bedürfen würde, nicht in nutzlosen Kampf
gegen die Polen opfern; zudem lag dem König noch immer seine Ritterpflicht
gegen die Franzosen im Sinn. Nichts konnte den Russen gelegener kommen.
An dem endlichen Sieg über den Aufstand hatten sie keinen Zweifel und so
setzten sie den Preußen durch ihre Intriguen so lange zu, bis diese endlich ganz
von Warschau abzogen; was dann von Nußland so ausgelegt wurde, als ob sich
Preußen dadurch aller Ansprüche begebe. Suwarow kam und machte mit seiner
gewöhnlichen Entschlossenheit dem Kampf ein Ende. Zur factischen Besitz
Polens eröffnete nun Rußland seine Unterhandlungen mit Oestreich, das es
für seine türkischen Pläne gewinnen wollte und beide Kcriserhöfe ordneten die
Art der Theilung Polens, wobei Preußen nur ein schmaler Bissen zufiel. Als
Preußen erklärte, daß es unter diesen Umständen gegen jede Theilung Polens
protcstire, wurde es mit Hohn zurückgewiesen und der Theilungsvertrag zwischen
Oestreich und Rußland einseitig abgeschlossen. Die Möglichkeit war also vor¬
handen, daß Preußen seine Ansprüche gegen die beiden übermächtigen Nach¬
barn mit den Waffen in der Hand werde durchsetzen müssen und wer sich
unter diesen Umständen noch darüber wundert, daß das positive Interesse,
welches dringend den Frieden mit Frankreich forderte, endlich über die ver¬
meintliche Ehrenpflicht den Sieg davon trug, der hat keinen Begriff von
geschichtlicher Logik. Was nun den Gesammteindruck dieser Ereignisse betrifft,
so geben wir Sybel das Wort, der in besonnener Abwägung aller in Betracht
kommender Momente sich auf den höhern geschichtlichen Standpunkt erhebt.
So schloß in'völligem Untergang die letzte Gcsnmmterhebung der polni¬
schen Nation. Es trat ein, was geschehn mußte, nachdem ein großes und
begabtes Volk den politischen und sittlichen Selbstmord durch zwei Jahrhun¬
derte hindurch an sich vollzogen hatte. Es brach herein mit erschütternder
Gewalt, über Schuldige und Unschuldige, eine Katastrophe, wie sie die Welt
seit der Zerstörung Jerusalems nicht furchtbarer gesehn hatte. Man würde
bei einem solchen Bild den Blick verhüllen, und an Recht und Vorsehung
verzweifeln, sähe man nicht auch hier, daß die Nationen nur dann altern und
sterben, wenn sie vorher sich selbst zu Grunde gerichtet haben. So hat Polen
geendet, durch die eignen Sünden außer Stande, den geharnischten Nachbarn
zu widerstehn. Was aber diese betrifft, so sollten sie auf der Stelle erfahren,
was es sterblichen Menschen bedeutet, sich zu Werkzeugen einer richtenden Vor¬
sehung auszuwerfen. Sie sahen sich jetzt auf der Höhe des Erfolges, ein
jeder im Besitz weit ausgedehnter Provinzen des geopferten Landes. Aber
an der Beute klebte ihnen unlösbar das Gift der eignen und der fremden
Schuld, und mit dem Gewinn kam im Augenblick des Ergreiscns auch über
sie die Vergeltung. Sie kam aus dem bittern unlöslichen Zwiespalt, der sie
untereinander seit dem Ursprung des Krieges trennte, der im Verlauf desselben
immer tiefer, immer heißer geworden war, und jetzt im plötzlichen Ausbruch
die gesammte seit'fünf Jahren Europa belastende Krisis zu unseliger Entschei¬
dung führen sollte.
Dagegen ist der Münchner Künstlergruppe eigenthümlich die Vorliebe für
einen übermäßig reichen Formenapparat. Berge werden auf Berge gehäuft,
Felsen über Felsen gestürzt, kein Baum in seiner natürlichen Lage gelassen,
Gießbäche und Waldstrome ausführlich geschildert, auch die Luft wird mit
schweren Wolkenmassen erfüllt, dies alles aber in ungewöhnlich großen Di¬
mensionen dargestellt. Der Zusammenhang mit der früher allgemein in Mün¬
chen herrschenden Kunstweise liegt offen zu Tage. Der monumentale Cha¬
rakter sollte annähernd auch der Landschaftsmalerei eingehaucht werden. Daß
es in einzelnen Fällen gelang, zeigen Rottmanns Werke, nicht die im Glas¬
palast ausgestellten — nach diesen zu schließen wäre Rottmann ein gewöhn¬
licher Manierist gewesen, der alle Kraft einsehe, eine schreiend grelle Feuer¬
kugel auf die Leinwand zu bringen und dadurch alle Farbenharmonie zu zer¬
stören — sondern die berühmten griechischen Landschaften in der neuen Pina¬
kothek und vielleicht in noch höherem Grade die Bilder unter den Arkaden.
Dagegen treten uns in Alb. Zimmermanns anspruchsvoll gemalten Land¬
schaften blos Werke von dccorativcm Werth entgegen, und auch da bleibt es
zweifelhaft, ob die Wirkung eine dauernd angenehme sein wird. Verdienstlich
ist immerhin Zimmermanns. Energie, und wo die Natur des Motives es mit
sich bringt, wie z. B. in der Schilderung einer norddeutschen Ebene, fehlt es
auch nicht an der ausdrucksvollen Farbcnstimmung. Ein desto größeres Recht
hat aber dann die Kritik, auf den in andern Fällen eingeschlagenen Irrweg
hinzuweisen. Es scheint im Allgemeinen die Münchner Sitte, in Alpenland¬
schaften die Studien zu holen und daselbst Auge und Hand zu bilden, auf
die jüngern Künstler keinen günstigen Einfluß zu üben. Den schönen duftigen
Luftton. der an den fernen Alpenhöhen bemerkbar wird, eignen sich dieselben
zwar rasch an, wie denn selbst mittelmäßige Münchner Maler z. B> Haushofer,
in der Behandlung des Hintergrundes Treffliches leisten, dagegen fehlt thuen
regelmüßig der Sinn für das malerische Erfassen des Nahen, und ebenso be¬
mühen sie sich vergeblich, das massenhafte Detail harmonisch zu ordnen und dem¬
selben eine tiefere, an die Empfindung sprechende Gesammtstimmung abzuge¬
winnen. Wol nicht zufällig ist in der reichen Münchner Landschaftsschule nur.
ein einziger Landschaftsmaler, der durch seine Sonnenuntergangsbilder auch
sonst bekannte Zwengauer. durch ein feineres Gefühl für Horizontallinien aus¬
gezeichnet, dem sich in einzelnen Gemälden M. Zimmermann und Schleich an¬
schließen. Als Schulcharakter kann man füglich den Abgang dieses Gefühles,
so wie den Mangel an harmonischer Farbcneinheit, welche die einzelnen klei¬
nen Effecte in der Gesammtwirkung aufgehen läßt, angeben. Wahrhaft
mustergültig in letzterer Beziehung fanden wir dagegen einige aus Berlin ge¬
sendete Landschaften.
Nicht zum Tadel, sondern zu großem Lobe gereicht es W. Schirmer,
daß sein Sonnenuntergang mit dem Reflex auf dem Wasserspiegel an die besten
Zeiten Turners erinnert. Wir kennen Turners Wirken nur aus den Berichten
,
über seine letzten wahnwitzigen Einfälle, deren Schilderung allerdings indem
Mann einen Bewohner von Bettern vermuthen läßt. Treten wir den Ori¬
ginalen^ selbst gegenüber, so wird zwar unser Urtheil nicht milder, wir erken¬
nen aber die Quelle seiner Irrthümer. Diese aber verdient wahrlich keinen
Spott. Daß Turner zuletzt auf alle Gegenständlichkeit verzichtete und die
Farbentöne selbststündig setzte, ist nur der Ausfluß eines übertriebenen Strebens
naH Farbenharmonie. Ehe sich dasselbe in Einseitigkeit verlor und zur Ma¬
rotte wurde, schuf Turner Werke, die ihn den größten Landschaftsmalern der
Vergangenheit an die Seite setzen. An diese nun gemahnt W. Schirmers
Schilderung in der merkwürdigsten Weise. Neben Schirmers Bild fesseln in
der Ausstellung das Auge zwei holländische Winterlandschaften von Ed. Hilde-
brandt, zunächst durch die vollendete Treue der Schilderung, dann aber auch
durch die feinsinnige Abtönung des Kolorits, wodurch alles Staunen über
das von xlus ultra, des Naturalismus in den Hintergrund gedrängt und für
- einen echt künstlerischen Genuß Raum gewonnen wird.
Das Resultat, das sich aus der vergleichenden Betrachtung des Sonst
und Jetzt in der Landschaftsmalerei ergibt, daß unsere Künstler nicht allein
an Fülle der Anschauung, sondern auch an malerischem Blick und Geschick
gewonnen haben, ohne deshalb ihre poetische Begabung — die Poesie steckt
eben in der Malerei — einzubüßen, würde gewiß eine wohlthätige Ergänzung
gefunden haben, wenn die Gattung der Porträtmalerei, an welcher Fortschritt
oder Verfall des Kunstsinnes am deutlichsten sich offenbart, eine reichere Ver¬
tretung gefunden hätte. Aber hier vollends gewahrt man eigentlich nur die
Lücken der Ausstellung. Und so müssen wir uns damit begnügen, den Er¬
folg, den aus dem jüngern Künstlerkreise Röling in Düsseldorf und Correns
in München errungen haben, zu constatiren und zu berichten,'daß auch in
diesem Fach das Beste aus Berlin stammt. Das schon früher erwähnte
Fraucnbildniß von Gustav Richter liefert nicht allein das Zeugniß von den
ungewöhnlichen malerischen Anlagen des Künstlers, sondern ist auch an und
für sich ein tadelloses Werk, das an die berühmten Leistungen der Vergangen¬
heit nahe heranreicht. Sollte der Versuch einer historischen Ausstellung in
spätern Jahren sich wiederholen, was wir herzlich wünschen und hoffen, so
würden wir die reichere Vertretung dieses Faches, die Anordnung einer förm¬
lichen historischen Porträtgalerie dringend empfehlen. Wo, wie hier, die Ge¬
genstände der Darstellung gleichartig sind, läßt sich über den formellen Werth
die sicherste Entscheidung treffen. Darauf aber kommt es bei einer Ausstel¬
lung, die uns die Entwicklung unserer Kunst anschaulich machen soll, wesentlich an.
Die müncher Ausstellung trägt neben dem Titel einer historischen noch
den zweiten einer allgemeinen deutschen Ausstellung. Sie soll uns nicht allein
die Wandlungen der deutschen Kunst im Laufe der letzten sechzig Jahre an-
schaulich machen, sondern auch ein übersichtliches Bild der gegenwärtigen
Kunstthätigkeit entwerfen und den Antheil, welchen die verschiedenen „Schulen"
an dem deutschen Kunstleben nehmen, enthüllen. Für sich allein erfüllt sie
diese Aufgabe wegen der ungleichmäßigen Vertretung der einzelnen Künstler¬
gruppen nur mangelhaft; nimmt man jedoch die Erinnerung zu Hilfe und er¬
gänzt die auffallendsten Lücken in Gedanken, so wird man die richtige
Schätzung der drei Hauptorte deutscher Kunstthätigkeit: München, Düsseldorf,
Berlin und der Kunststättcn zweiten Ranges: Dresden, Karlsruhe, Frankfurt,
Wien wol treffen.
An Kunstschulen in dem ehemals giltigen Sinn des Wortes darf man
natürlich nicht denken. Die Abgeschlossenheit lokaler Cultur, worauf die¬
selben früher beruhten, ist gebrochen, die selbstständige Kunstentwicklung in
engen Kreisen, die sich gegeneinander spröde verhalten, durch unsere Vildungs-
zustände beseitigt. Ueberdies lehren die Thatsachen, daß wir unter unsern
Kunstschulen zunächst nur äußere Sammelpunkte künstlerischer Wirksamkeit
begreifen dürfen. Wollten wir den gleichen Maßstab, wie er an die florentinische,
oder kölnische Schule gelegt wird, z. B. aus Düsseldorf anwenden, so würden
sofort die zahlreichen norddeutschen Elemente, die in dieser Schule verborgen
sind, jede Ableitung von rheinischen Einflüssen verwehren. Wie viel kommt
bei den dresdner Künstlern auf den altheimischen Charakter, wie viel auf die
unmittelbaren ^Einwirkungen der düsseidorfer und Münchner Schule, die durch
Hühner, Bendemann und Schmorr hier vertreten ist? Von den schroffen Gegen¬
sätzen, in welche sich die wiener Künstlergruppe spaltet, welcher hat Anspruch,
als Ausfluß der östreichischen Natur zu gelten? Daß die monumentale Münchner
Kunst mit dem bairischen Volksthum wenig oder nichts gemein hat, ist längst
anerkannt, u. s. w. Dennoch geht die Zerfahrenheit nicht so weit, daß wir
nur eine endlose Summe isolirter Individuen zu betrachten hätten. Die viel¬
jährige stetige Kunstübung an einem und demselben Orte hat allmälig eine
Tradition geschaffen, eine allgemeine Grundlage gebildet, auf welcher die ein¬
zelnen Künstler fußen und wie auf gemeinsamem Boden sich bewegen. Ost
überspringt sogar diese Solidarität die richtigen Grenzen und verkürzt die
Rechte der Individualität. In Düsseldorf z. B. hat das Zusammenleben der Maler
eine Schulmanier licrvorgerufen, . welche alle Unmittelbnrkeit und das frische
Leben aus ihren Werken verbannte. Jedenfalls kann die Berechtigung, unsere
Künstler in größeren Gruppen zusammenzufassen, nicht angefochten we.rden.
— Keine Kunstschule erregte die öffentliche Neugierde in so hohem Grade,
wie die bis jetzt eigentlich nur aus Zeitungsberichten bekannte Wiener Schule. Nur
äußerst selten hatte man in deutschen Ausstellungen Gelegenheit, östreichische
Bilder zu schauen. Man hatte wol gehört, daß die elegante Portrütirkunst
eines Lawrence in Wien eine Reihe Nachfolger gesunden, die streng katholische
Kunstrichtung hier einen weiten Raum gewonnen, eine anschauliche Kenntniß
aber von diesen Bestrebungen niemals erworben, auch bei der Geringschätzung,
mit der in Oestreich selbst die heimische Kunst betrachtet wurde, keinen Impuls
dazu empfangen. In den letzten Jahren machte nicht die wiener Kunst, da¬
gegen der Streit der wiener Künstler und Künstlervereine untereinander viel
zu reden. Also gibt es doch in Wien eine Künstlerschaft, obgleich 5le, polizei¬
gerichtlichen Enthüllungen — denn vor dem Forum der Polizei werden theil¬
weise diese Kämpfe ausgefochten — kein glänzendes Licht auf ihre artistische
Bedeutung werfen. Erst jetzt in München treten die Wiener zum erstenmale
vor die deutsche Welt, ihre Zerwürfnisse offen zur Schau tragend durch die
Absonderung des Künstlervereins zur Eintracht von der Akademie und dem
mit dieser verbundenen Dürerverein. Unter dem Schutz der Akademie wer¬
den uns die Werke älterer Künstler, das wahrhaft entsetzliche Faustbild von
L. Schmorr, das seiner Zeit als eine unsterbliche Schöpfung gepriesen wurde,
Führichs trauernde Juden, die der Schmerz nicht in Stein, sondern in Holz
verwandelt hat, ein paar gelenkte Bilder von Amerling, die geistlosen aber
angenehmen Porträts von Schrotzberg u. s. w. vorgeführt. Auch mehre
in Italien wirkende Maler, wie der langweilig stilifirende Landschafter
Marco in Florenz und Blaas in Venedig, dessen pomphaft angepriesener
Raub venetianischer Bräute ein schwaches Product ist, eintönig in der Kom¬
position, ohne Haltung in der Zeichnung und fade in der Farbe, haben hier
Platz gefunden. Unter den jüngeren, der Akademie zugewandten Kräften wird
uns Wurzinger als die bedeutendste geschildert. In der That überragt sein
Bild: Kaiser Ferdinand II. wird durch Dampierres Kuirassire aus der Gewalt
der Rebellen befreit, nicht allein durch seine Dimensionen, sondern auch durch
innern Werth die benachbarten Werke. Es ist das ein anerkennungswerther
Versuch, ein historisches Motiv individuell lebendig darzustellen und von der
banalen Manier, Geschichte zu malen, abzugehen. Wurzingers Leistung
würde noch mehr als unsere bloße Achtung gewinnen, wenn nicht die Mühe,
die es dem Künstler gekostet hat, die Charaktere zu erfinden und den einzelnen
Gestalten Bewegung und Ausdruck zu geben, so deutlich aus dem Bild spräche,
und wenn die Anstrengung, die auf die frappante Wiedergabe von Sammt
und Seide verwendet wurde, glücklicher verwischt wäre. Stoffmalerei, der man
den schwerfälligen.Ursprung ansieht, verliert alle Wirkung.
Unter der Fahne der „Eintracht" scheint sich die Mehrzahl der selbststän¬
digen Künstler Wiens gesammelt zu haben, Künstler, die von der deutschen
Culturbewegung mächtiger ergriffen wurden und mit dem, was „draußen im
Reiche" die Kunst bedeutet, ziemlich vertraut sind. Ob Naht das anerkannte
Haupt d.ieser Gruppe ist, wissen wir nicht, jedenfalls bildet er die hervor¬
ragendste Erscheinung; auch übt er auf mehre jüngere Maler einen sichtlichen
Einfluß. Die Liebe und das Verständniß der Venetianerfarbe. das N'ahi aus¬
zeichnet, hat er auch seinen Schülern mitgetheilt und ein lebendiges Gefühl
für Harmonie in ihnen geweckt. Sie gehen in ihrer Nachbildung des Vcnc-
tianercolorites nicht so weit wie Feuerbach, der zum Kopisten herabsinkt und
lieber alle Selbststündigkeit aufgibt, als daß er einen Schmuzflcck seiner Vor¬
bilder zu» reproduciren vergäße. Sie unterscheiden richtiger zwischen Studien
und eignem Schaffen und werden nur häufig durch das Streben, durch das
Colorit zu modelliren, zu einer unbestimmten Charakteristik verführt. Immer¬
hin kommt durch diese Richtung ein frisches und entwicklungsfähiges Element
in die östreichische Kunst, die seit sechzig Jahren hin- und hergeworfen von
französischen und englischen Einflüssen, nacheinander der duseligste» Romantik
und dem Nazarcnerthum Unterthan, der endlichen ruhigen und sicheren Ent¬
wicklung gar sehr bedürftig ist.'
Füger in Wien und Mathäi in Dresden zeigen uns die Gleichgiltigkeit
deutscher Kunstanschauungen im Anfang des Jahrhunderts. Während aber
seitdem in Wien wie auch sonst an den meisten Büttelpunkten des artistischen
Wirkens die gewaltigsten Sprünge in der Entwicklung bemerkbar werden, zeigt
>die dresdner Künstlergruppe eine gewisse Zähigkeit und hat sich, wenn wir
Hübners Versuche, in Porträtfiguren Geschichte zu malen, ausnehmen, von den
jüngsten Zeitströmungen ziemlich sern gehalten. Zunächst hängt dies von zu¬
fälligen äußern Verhältnissen ub, welche den sächsischen Künstlern ein kühneres
Aufdrehen verwehren. Das Wort: Kunst gibt Gunst, gilt auch umgekehrt:
Gunst gibt Kunst, und wo die erstere mangelt und der künstlerischen Thätig¬
keit kein großer Spielraum gegönnt wird, hat diese alle Hände voll zu thun,
das Erworbene zu wahren. Dann aber findet auch nirgend wieder die ältere
Weise so liebenswürdige Repräsentanten wie hier. L. Richter als Erzähler
deutschen Familien- und Volkslebens gehört nicht zu den Alten, das Neue und
Neueste wird längst antiquirt sein und diese reinen und frischen Schöpfungen
noch immer ihre Jugend bewahren; aber als Landschaftsmaler reiht er sich
durch die Schärfe, mit welcher er alle Formen zeichnet, und die geringe Be¬
tonung des eigentlich Malerischen der frühern Künstlergencration an. Doch
auch hier spricht sich eine so tiefe gemüthliche Innigkeit aus, über der Erfin¬
dung der Einzelmotive hat Richter so wenig die sinnige, seelenvolle Auffassung
vergessen, daß man gern vor diesen Werken, wie z. B. vor der Abendland¬
schaft (aus dem Jahr 1842 mit der knorrigen Eiche im Vordergrund) weilte.
Gäbe es in der Malerei etwas Analoges mit dem Volksliede, so würde un¬
bedingt Richter als der Vertreter dieser Gattung zu bezeichnen sein.
In Karlsruhe währt das Kunstleben eine viel zu kurze Zeit, als daß
sich bereits.ein bestimmter Charakter hätte ausbilden können. Vorläufig ruht
auf Schirmer die ganze Last der Vertretung, da Koopmann und Descoudres
keine Bedeutung in Anspruch nehmen können, Frankfurt zählt schon seit
vielen Jahren als ein Sammelpunkt deutscher Kunstthätigkeit und erfreut sich
reicher Bildungsmittel, ohne aber bis jeizt irgend welchen Einfluß auf unsre
Kunst erringen zu können. Vielleicht diesem Zustand ist es zuzuschreiben, daß
bei jüngeren frankfurter Künstlern die Flucht in das Ausland so häufig vor¬
kommt. 'Nicht immer zu ihrem Vortheil. Wie das gewöhnlich geht, wird
die fremde Weise nur in manierirter Uebertreibung wiedergegeben und
die erworbene Fertigkeit in der Nachahmung fremder Äußerlichkeiten nicht
ohne einen gewissen Hochmuth dein Publicum gewiesen. Daß es nicht die
Talentlosen sind, die diesem Irrweg verfallen, geben wir bereitwillig zu, auch
die Hoffnung nicht auf, daß die maßvolle Sammlung später sich wieder gel¬
tend machen könne. Am wenigsten der manierirten Charge hold erscheint
Hausmann, dessen Pilger in der Campagna in Ton und Haltung zu den
trefflichsten Bildern der Ausstellung gehören, wogegen freilich seine überlebens¬
großen Domherrnköpfe sich als ein leidiges Bravourstück darstellen. Größere
Noth wird die unstreitig reichbegabte Natur Schreyers haben, sich zur gesun¬
den Einfachheit wieder zu erheben. Wenn man alles in einen graubraunen
Nebel hüllt, gewinnt man freilich einen einheitlichen Farbenton, aber die rechte
Harmonie wird nicht durch Umgehung der Natur, sondern durch das tieft
Eindringen in ihre Erscheinungsformen geschaffen. Wenden wir uns zu den
drei anerkannten Hauptschüler unsrer Kunst. Der düsseldorfer Kunst-
schöpfungen Betrachtung erweckt keine sonderliche Freude. Der Sonnenschein,
der ehedem über Düsseldorf erglänzte, hat trüben Wolken Platz gemacht, die
große Rolle, die es früher spielte, ist nahezu ausgespielt. Von diesem Ver¬
fall sind natürlich die zahlreichen Künstler, die blos für einige Zeit in Düssel¬
dorf einkehren, wenig berührt, auch der Zweig der Landschaftsmalern hält
noch in alter Rüstigkeit vor; aber die eigentlichen Helden der düsseldorfer Kunst
und die ihnen nächststehenden Schulen offenbaren ein für den Bestand der
Schule bedenkliches Sinken. Man kann zugeben, daß nicht die Mode allein
vor zwanzig und fünfundzwanzig Jahren die Beliebtheit der Düsseldorfer be¬
dingte, daß sie damals wirklich dem Leben näher traten, und was die Gemü¬
ther bewegte und fesselte, im Bilde festhielten. Wie hat sich aber das Leben
seitdem verändert, wie wenig sind Maler, die den alten Standpunkt bewahrt
haben, befähigt, uns noch zu befriedigen, wie doppelt unlebendig muß ihr Sinn
geworden sein, der alle Anregungen nicht blos nicht für sich, sondern gradezu
gegen sich hat. Und was das Schlimmste ist, diesen Männern, die für ihren
Kunstbcruf viel zu lange leben oder (wie wir verbessern wollen, um nicht in
den Geruch unchristlicher Gesinnungen zu gerathen) wirken, ist die Bildung
der jüngern Kräfte anvertraut. Lehrer wie Mücke, Hildebrandt, Schadow,
können auf entwicklungsbedürftige Talente unmöglich förderlich wirken. Was
wäre aus Niessen z. B. Großes geworden, einem der bestbegabten düsseldorfer
Künstler, wäre ihm eine gesunde Pflege zu Theil geworden, wie bald Hütte
unter andern Verhältnissen Mintrop Kindliches mit Kindischem nicht zu ver¬
wechseln gelernt! Auch der alte Krebsschaden Düsseldorfs: Die geringen Berüh¬
rungen mit einem großen und reichen Leben, das Dasein auf einer Künstler¬
insel, wo die persönlichen Gegensätze zwar sich scharf reiben^ die künstlerischen
dagegen keinen natürlichen und vollen Ausdruck erlangen, macht sich jetzt, wo
das Volk ernstere Ansprüche an die Kunst macht und die letztere anderwärts
mit vollen Zügen den Geist lebendiger Wirklichkeit einathmet, mit verdoppelter
Gewalt geltend. Es ist, eine alte Beobachtung, daß düsseldorfer Bilder in
ihrer Heimath betrachtet, und dann in der Umgebung von fremden Kunstwerken
in einer andern Luft geschaut, einen ganz verschiedenen Eindruck machen, hier
die Mehrzahl ihrer Vorzüge einbüßen. Ganz natürlich, da bei der Abgeschlossen¬
heit des düsseldorfer Künstlerlebens jeder einzelne den Maßstab nur an den
Werken des nächsten Nachbarn hat und von ihnen nimmt, die Gelegenheit,
seine Kraft im weitern Kreise zu prüfen, ihm entzogen bleibt. Selbst ener¬
gische Naturen gewöhnen sich allmälig an diese gemüthliche Beschränktheit
und verlieren ihre Spannkraft. Daher ist denn auch Leutzes bevorstehender
Weggang von Düsseldorf im Interesse des Künstlers keineswegs zu beklagen.
Ein großer Wurf kann auch hier gelingen, das hat Leutzc durch sein Washington¬
bild bewiesen, um aber dauernd das Höchste im Auge zu behalten und
nachhaltig anzustreben, dazu bedarf es eines bewegteren, größeren Bodens,
als die rheinische Provinzialstadt bietet. Mag aber auch die Wandlung, die
unsere Kunst in der letzten Zeit erfahren hat, Düsseldorfs Ruhm und führende
Stellung bedrängen; die großen Verdienste, die sich Düsseldorf um die Ent¬
wicklung deutscher Kunst erworben hat, wird deshalb niemand übersehen. Es
hat zahlreiche Künstler erzogen, für die Popularisirung der Malerei, für die
Verbreitung regen Kunstsinnes in weiten Kreisen Großes geleistet. Vielleicht
Größeres als München, das ehedem neben Düsseldorf eine gewisse aristokra¬
tische Stellung einnahm, in seinem hochfliegenden Streben um die Kleinen
und Geringen sich zu bekümmern keine Muße fand. Was München in
frühern Jahrzehnten für die deutsche Kunst bedeutete, ist weltbekannt, welche
Stellung es gegenwärtig einnimmt, darüber herrscht namentlich in München
nichts weniger als Einigkeit. Viele lieben es, in München seit dem Weggang
von Cornelius und dem Rücktritt des Künstlerkönigs Ludwig, die trauernde
Witwe zu erblicken, die nur in den glorreichen Erinnerungen ihres vergange¬
nen Glückes lebt. Es mag sein, daß jetzt in München weniger auf Staats¬
kosten gemeißelt und gemalt wird, ob aber die Meinung, das gegenwärtige
Kunsttreiben daselbst, das sich in ziemlich veränderten Geleisen bewegt, sei ein¬
fach vom Uebel, von den spätern Geschlechtern werde bestätigt werden, steht
dahin. Merkwürdig genug wird zwar allgemein von der altern Münchner
Kunst das besonders gerühmt, daß die großen Kreise der bildenden Künste
wieder in engere Beziehungen zueinander traten, und namentlich zwischen der
Architektur und Malerei ein festes Band der Verschwisterung gewebt wurde.
Für die kritische Beurtheilung jedoch soll dieses Verhältniß nicht gelten, da
wird zwischen den einzelnen Kunstgattungen die schärfste Grenze abgesteckt und
jeder Versuch, Bedeutung und Schicksal der ältern Münchner Kunst im Ganzen
als gemeinsam aufzufassen, mit Unwillen zurückgewiesen. Vergeblich, dieses
Wechselverhältniß besteht dennoch, und der Urtheilsspruch, der über die ältere
Münchner Baukunst mit seltener Einstimmigkeit ergangen ist, trifft auch die
Malerei. Cornelius ist allerdings eine ganz andere Persönlichkeit als Klenze.
noch viel weniger, als Klenze durch Bürklein, den Architekten der Maximilians¬
straße ersetzt wird (dies wird er übrigens in der That und reichlich) kann einer
der jüngern Führer in der Malerei sich mit dem Altmeister an Fülle der Be¬
gabung messen. Es gilt ja aber nicht eine Schätzung der einzelnen Indivi¬
dualitäten. Wird blos die Entwicklung der Münchner Schule in das Auge
gefaßt, so tritt auch die Wahlverwandtschaft der älteren Münchner Maler und
Baumeister unverkennbar an das Licht. Hier wie dort gleitet die Betrachtung
allmälig vom einfachen Genusse des Werkes zur Bewunderung der reichen
Bildung seines Schöpfers, hier wie dort ist die Fomiensvrache einer nicht un¬
mittelbaren lebendigen Welt entlehnt, deren Abgeschlossenheit aber durchbrochen
und nach subjectiven Ermessen des erfinderischen Künstlers gedehnt und ge¬
streckt wird, hier wie dort wird die culturgeschichtliche Seite der Kunst nicht
verstanden oder nicht beachtet, die in unmittelbarem Volksbewußtsein ruhenden
Elemente, die einer künstlerischen Verklärung fähig sind, nicht aufgesucht, hier
wie dort waltet endlich auch das gleiche Schicksal. Die weitere Entwicklung
benutzt nicht das so Erworbene als Basis, um daran weiter anzuknüpfen und
die Richtung fortzusetzen, sondern bricht dieselbe ab und sucht neue Grundsätze
und Grundlagen für das künstlerische Schaffen aus. Fühlen nun auch die
bessern Künstler unsrer Generation die Nothwendigkeit, Umgang zu nehmen
von der ältern Anschauungs- und Formenweise, so ist es doch natürlich, daß
sie nicht mit einem Mal ihre Erinnerung verschließen können, von einer Kunst,
die ein ganzes Mensch'matter lang als Münchens unsterblicher Ruhm geprie¬
sen wurde. Diese Traditionen drücken sie und rauben ihnen theilweise die
Freudigkeit und Sicherheit des Schaffens, verführen sie, in ihre Werke Motive
aufzunehmen, die an einem andern Orte ganz an ihrem Platze, hier als fremde
Eindringlinge stören und den Eindruck der naiven Schöpfung vernichten. Selbst
Piloty ist nicht frei von solchem Amalgamirungsstrcben, bei den ältern Histo¬
rienmalern herrschen sie vollends vor.
In dieser Beziehung besitzt Berlin nicht unerhebliche Vortheile. Keine'
lastende Tradition drückt die Künstlerkraft nieder, kein Kampf gegen eine ruhm¬
reich herrschende Richtung geht dem Ergreifen des eignen Standpunktes voran,
kein schneidender Gegensatz verkümmert die frische Ursprünglichkeit des Schaffens.
Es wurden zwar auch in Berlin ähnliche Weisen, wie sie in München bewun¬
dert wurden, versucht oder dorthin verpflanzt. Der unterdessen ernüchterte
Volkssinn wies ihnen aber gleich anfangs die rechte Stelle ein und ließ sich
nicht mehr blenden. Auch wer keine Kunde davon hatte, daß an Schinkels
Museumsfresken Bettina mit componirt hatte, fand darin ein willkürliches,
aus phantastischen Einfällen zusammengesetztes Gedankenspiel. Diesen Um¬
ständen ist es wol zuzuschreiben, daß der berliner Künstlergruppe im Ganzen
ein frischerer Muth und ein leckerer Geist innewohnt, als dies sonst in Deutsch¬
land bemerkbar ist. Sie sind die Neuerer, die den andern stets einen Schritt
vorangehn, zuweilen übertreiben, aber niemals Mangel an Zuversicht ver¬
rathen. Wir würden zwar gegen unser Gewissen reden, wollten wirSchrader
als großen Farbendichter preisen. Auch sein in München ausgestelltes Wert:
Esther vor Ahasver leidet an der Ueberladung mit einzelnen Coloriteffetten
und an einer gezwungenen Gesuchtheit des Ausdrucks. Das Verdienst bleibt
aber Schrader, daß er unter den ersten, wenn nicht gar der erste war, der
das von düsseldorfer Historienmalerei genährte deutsche Publicum mit kräftiger
individueller Charakteristik bekannt machte. Eine ungleich größere Begabung
verräth Gustav Richter. Mag auch gegen seine Auffassung religiöser Mo¬
tive principiell Einsprache erhoben werden, vom rein artistischen Stand¬
punkt ist an seiner Auferweckung von Jairus Töchterlein wenig auszusetzen.
Eine solche Gewalt nicht über die handwerksmäßige Technik allein, sondern
auch über die poetische Wirkungskraft des Kolorits, eine so maßvolle und doch
durch und durch wahre, durch ihre Lebendigkeit ergreifende Charakteristik, wie
sie, auf einzelnen Figuren des Bildes sich offenbart, läßt die künftige Meister¬
schaft des Künstlers mit Zuversicht erwarten. Bei Adolf Menzel muß das
stoffliche Interesse ergänzend hinzutreten, um über die formellen Flüchtigkeiten
hinübcrzuhelfen. Doch sind die letzteren keineswegs so bedeutend, daß sie uns
vergessen ließen, wie folgenreich Menzels Versuch, das achtzehnte Jahrhundert
nicht blos in dem obligaten Schäfergewand, sondern in würdigem Ernst als
ein Jahrhundert von Männern, von großen Männern zu schildern, wirkte.
Mit dein Selbstvertrauen der berliner Künstlergruppe hängt es wol zu¬
sammen, daß in Berlin die nichtdeutsche .Kunst mit wohlwollenderem Auge
betrachtet wird, als dies in andern deutschen Kunststädten der Fall ist. Die
Furcht, das nationale Gepräge unsrer Kunst könnte durch freundliche Berüh¬
rungen mit den fremden verwischt werden, äußert sich minder stark, vielleicht
weil man es für unverwischbar ansieht.
Die Münchner Ausstellung bietet natürlich eine vielbcnutzte Gelegenheit,
französische und deutsche Kunst vergleichend gegeneinander abzuwägen. Nach
dein Schein darf man nicht schließen, um wenigsten die große pariser Kunst¬
ausstellung mit dem Münchner Unternehmen zusammenstellen. Die erstere
enthielt allein an Oelgemälden lebender französischer Meister mehr als die
Summe der in München einen sechzigjährigen Zeitraum schildernden Kunst¬
werte überhaupt beträgt. Die französische Regierung trug Sorge dafür, daß
die möglichst größte Zahl an heimischen Kunstschöpfungen ausgestellt werde,
während in München es dein guten Willen der Einzelnen und dem Zufall -
überlassen blieb, für die Vollständigkeit der Ausstellung zu sorgen. Man darf
ferner nicht vergessen, daß die Centralisation der französischen Kunst in Paris
die Vollständigkeit der Ausstellung wesentlich erleichterte, während bei uns die Viel¬
heit artistischerMittelpunkte das gemeinsame Wirken hemmt, und daß endlich Paris
als Weltstadt reichere künstlerische Kräfte an sich heranzieht, die natürlich
der französischen Schule beigezählt werden und die Ausdehnung und den
Nuhm der letzteren nicht unbedeutend verwehren. So erklärt sich das glän¬
zende Bild, das wir vor drei'Jahren von der gegenwärtigen französischen
Kunst schauten. Gehen wir aber vom Schein aus die Wesenheit zurück, so
haben wir keine Ursache, neben dem Glänze der französischen die schöne Innig¬
keit unsrer Kunst gering zu achten. Für viele Künstler und Kunstwerke geht
freilich der Maßstab der Vergleichung ab. Wir können in der französischen
Kunst z. V, Schwind und Ludwig Richter nichts Aehnliches entgegenstelle»,
und grade diese beiden Männer und die durch sie bewirkte Einkehr in das
Volkstlmm möchten wir den Franzosen als die köstlichste Frucht unsers neueren
Kunststrebens entgegenhalten. Auf der andern Seite besitzt auch wieder die
französische Kunst Eigenthümlichkeiten, für welche uns das unmittelbare Ver¬
ständniß ziemlich mangelt. Wenn wir uns aber damit begnügen, die beiden
Kuustweisen nur im Ganzen und Großen aneinanderzuhalten, so ist das Ueber-
gewicht entschieden auf unsrer Seite. Wir geben zu, daß die Franzosen Dank
dein romanischen Vinde, das in ihren Adern fließt, für die sinnliche Schön¬
heit eine große Empfänglichkeit von Haus aus besitzen und das Unmalcrische
oder wol gar das Malerischwidrige viel schärfer und unmittelbarer als wir
erkennen und von sich weisen. Auch das müssen wir einräumen, daß Frank¬
reich seit 60 Jahren eine größere Zahl nicht blos berühmter, sondern wirklich
bedeutender Maler geboren hat, als wir ausweisen können. Trotzdem halten
wir den Fortschritt unsrer Kunst für viel gesicherter und ihre Zukunft sonnen¬
heller. Unsre Entwicklung war und ist eine langsamere. Die Kämpfe, die
Frankreichs Kunst vor dreißig Jahren durchgefochten hat, beginnen erst bei
uns, wenn auch unter verändertem Namen. Aber die französischen Künstler
haben längst vergessen, sich eine feste und klare Entwicklung zu sichern, tag¬
täglich wird es deutlicher, daß an die Stelle der Entwicklung ein müßiges
Haschen und Springen nach Neuem getreten, der Glaube an sich selbst, der
sittliche Ernst mangelt. Eine Erscheinung jagt die andere, jede Richtung und
Manier wird einen Tag lang auf den Thron erhoben, um am nächsten im
Kothe geschleift zu werden, und das Ende des Kreislaufes ist — Ermüdung.
Man kann nicht einmal mehr sagen, diese trübe Schilderung beziehe sich blos
auf die Zukunft, drücke Befürchtungen und nicht Wahrnehmungen aus. Wer
die französische Kunst seit einem Jahrzehnt genauer beobachtet, wird eingestehen
müssen, daß leider diese Befürchtungen schon theilweise eingetroffen sind, und
für die Koryphäen der französischen Kunst, die eben in den letzten Jahren so
merkwürdig rasch vom Schauplatz abtraten, keine Ersatzmänner auch nur an¬
näherungsweise sich zeigen. Nichts charakterisirt den Stand der Dinge in
Frankreich und Deutschland besser, als die Thatsache, daß Frankreich in der
Gegenwart keinen Bildhauer besitzt. Die bessern Talente verlassen diesen Zweig
und flüchten in die Malerwerkstätte. Sie verzweifeln daran, innerhalb der
Grenzen dieser Kunstgattung und ohne die Gesetze derselben zu'verletzen, eine
lebendige Plastik begründen zu können. Und doch können die Franzosen sich
rühmen, früher als wir die Kunst mit lebendigen Interessen vermählt zu haben.
Uns wirft man, und theilweise auch nicht mit Unrecht vor, daß wir der Kunst
ein Reich nicht von dieser Welt bauen und unvermögend sind, dem wirklichen
Leben, dem gegenwärtigen Geiste poetische Anregungen abzulauschen. Und
dennoch haben wir grade in der Plastik, Dank Rauch und Ritschel, diese
Fähigkeit am glänzendsten dargethan. Ein tiefer Ernst ist bei uns eingekehrt,
wir haben Vertrauen zum Leben, Liebe zum Volksthum, einen Glauben an
die Zukunft. Das sind Dinge, die auch dem Künstler zum Frommen dienen
und die rechte Stellung der Kunst im großen Volksorganismus wieder herbei¬
führen werden. Wir finden nicht allein, wenn wir den Blick auf die Entwick¬
lung unsrer Kunst zurückgleitcn lassen, die durchschnittliche Tüchtigkeit unsrer
Künstler im Wachsen begriffen, das erklärt sich einfach aus der längeren stetigen
Kunstübung, soudern auch die Grundsätze, die nach der Ueberzeugung aller Ein¬
sichtigen und Unbefangenen den Aufschwung und die dauernde Blüte der
Kunst bedingen, in den Künstlerkreisen immer fester anerkannt und kräftiger durch¬
geführt. Der Glaube an eine absolute Kunst, die durch keine Schranken und
Gesetze gebunden wird und die Willkür des Subjectes zur einzigen Richtschnur
nimmt, verliert sichtlich seine Anhänger, die Beziehungen zum Volksthum
werden nicht mehr gemieden, sondern eifrig ausgesucht, die Ueberzeugung, daß
in den bildenden Künsten die Formenpoesie vorzugsweise wirkt, ist allgemein
verbreitet, vor allem aber die Wahrheit, daß zwischen dem Material, dem
Ideenkreise und dem Formengcrüste ein festes Band und ein bestimmtes
Wechselverhältniß besteht, das nicht ungestraft umgangen werden kann, in ihr
altes Recht wieder eingesetzt. Diese frohe Erkenntniß in den Einen befestigt,
in den Andern geweckt zu haben, ist das unbestrittene Verdienst der allgemei¬
nen Münchner Ausstellung. Nicht hoch genug kann man diesen Gewinn an¬
schlagen und darum auch der deutschen Künstlerschaft für den Muth, ein so
großes Unternehmen gewagt zu haben, trotz der unleugbaren mannigfachen
Mängel, welche die Durchführung desselben begleiteten, nicht innig genug
danken
In Bezug auf die bevorstehenden Landtagswahlen beginnt allmälig eine er-
. sreuliche Regsamkeit; es haben in Königsberg, in Bromberg und an andern Orten
vorbereitende Versammlungen der Liberalen stattgefunden und der Ausschuß der con-
stitutionellen Partei für Schlesien hat bereits ein vollständiges Wahlprogramm ver¬
öffentlicht. Da es nun wünschenswerth ist. daß die Opposition in allen Provinzen
möglichst von einheitlichen Principien geleitet wird und da uns das schlesische Pro¬
gramm geeignet scheint, überall zu Grunde gelegt zu werden, so unterziehn wir das¬
selbe einer ausführlichen Besprechung.
Mit Recht hebt das Programm im Eingang die monarchische specifisch preußische
Gesinnung der Partei hervor. Bei Unterrichteten hat zwar über diese Gesinnung
niemals ein Zweifel obgewaltet, aber namentlich bei den letzten Wahlen hat man
durch die raffinirtesten Mittel die Menge zu täuschen und ihr einzureden gesucht,
der Liberalismus sei ein Feind des Königs und des Königthums. Je zuversicht¬
licher von den Agenten des Feudalismus diese Behauptung ausgestellt wurde, desto
cntschicdncr müssen wir sie als das bezeichnen, was sie ist, als eine Verleumdung.
Die monarchisch-conservative Gesinnung schließt die treue Anhänglichkeit an die
Verfassung, nicht blos an den Buchstaben, sondern an den Geist derselben in sich.
Zwar läßt sich nicht verkennen, daß die Verfassung mancher Reformen fähig und
bedürftig ist und wir hätten lebhaft gewünscht, daß die liberale Partei sich über ein
Princip per neuen Organisation geeinigt hätte. Allein wir haben uns von der
Unausführbarkeit dieser Einigung unter den obwaltenden Umständen um so mehr
überzeugt, da von demokratischer Seite bereits Wünsche über die Wiederherstellung
allgemeinen Wahlrechts laut geworden sind. Bei dieser Sachlage wird es das
Zweckmäßigste sein, diese wichtige Frage für die nächste Session zu vertagen und
wir billigen das Verfahren des schlesischen Programms, daß es seine Candidaten nur
darauf verpflichtet, jeder Veränderung des Wahlrechts im Sinne ständischer Glie¬
derung Widerstand zu leisten. Die einzelnen Punkte des Programms kommen fast
durchweg darauf hinaus,^daß aus den Worten der Verfassung Wahrheit werde.
1) Sicherstellung der Freiheit der Wahlen, so weit dies irgend durch die Gesetz¬
gebung möglich ist; namentlich Feststellung der Wahlbezirke durch-das Gesetz. >— Wie
wichtig der letztere Umstand ist, hat sich bei den letzten Wahlen gezeigt, wo durch
künstliche Zusammenlegung von Wahlkreisen einem großen Theil der Wähler unmög¬
lich gemacht wurde, das Wahlrecht auszuüben. Jeder Conservative wird dafür sein,
daß in den Grundlagen des Verfassungslebcns in die Wahlbezirke eine größere Sta¬
bilität eingeführt wird und jeder Feind der Willkür wird die Regelung derselben
durch ein Gesetz verlangen.
2) Umbildung der Provinzial- und Kreisverfassung, der Gemeinde- und Städte¬
ordnung im Sinne freierer Selbstverwaltung.
'3) Aufhebung der gutsherrlichen Polizei. — Dieser Punkt hängt unmittelbar
mit dem vorhergehenden zusammen. Die Experimente der äußersten Rechten zur Wieder¬
herstellung patriarchalischer Zustände, denen gegenüber sich die Regierung nur zu
fügsam erwiesen hat, müssen als völlig unvereinbar mit dem Geist unsrer Verfas¬
sung — nicht blos der Verfassungsurkunde von 1850, sondern der Gesetzgebung
von 18»3 -— bis auf die letzte Spur wieder beseitigt werden. Nur auf kräftig
entwickeltem Gemeinde- und Municipallcben blüht die politische Freiheit auf.
4) Beseitigung der bisher bestandenen Befreiung von der Grundsteuer. — Im
Princip treten wir bei, jedoch unter der Voraussetzung, daß diese nothwendig ge¬
wordene Maßregel möglichst schonend ausgeführt werde. Ein schneller Umschlag der
Vermögensverhältnisse widerspricht nicht blos den Interessen einer Classe, sondern
den Interessen des Staats.
5) Erlaß eines Gesetzes über die Verantwortlichkeit der Minister. — Principiell
nothwendig, wenn mir auch die praktische Wirkung eines solchen Gesetzes nicht hoch
anschlagen. Es ist wichtiger, Maßregeln zu finden, die den Uebergriffen der Ver¬
waltung steuern, als Strafen für die Uebertretung festzusetzen, denn der Eintritt
der letztern setzt eine allgemeine Erschütterung des politischen Lebens voraus, die sich
der gesetzlichen Norm entzieht. Indessen ist es wichtig, daß durch eine Verfassungs-
bestimmung den Ministern die Grenze ihrer Befugniß vor Augen gehalten wird.
V) Revision der Gesetze über die Presse zum Schutz der Presse und des Buch¬
handels, gegen die bisherige Anwendung des Gewerbegcsctzes von 1845. ^-Bekannt¬
lich bestand der schwerste Druck, der auf der Presse lastete, bis jetzt darin, daß, wenn
man auf richterlichen Wege nichts durchsetzte, man die Druckerei zu schließen drohte,
so daß also der Drucker genöthigt wurde, in eignen Interesse das Censoramt aus¬
zuüben. Es wäre zweckmäßig, wenn die locale Anwendung dieser vermeintlichen
Befugniß durch einzelne Verwaltungsbehörden nachträglich ans Licht gebracht würde.
7) Erlaß eines neuen Unterrichtgesetzcs auf Grund der Bestimmung: die Wissen¬
schaft und ihre Lehre sind frei. — Es versteht sich wol von selbst, daß dadurch das
Aufsichtsrecht des Staats über die Schulen, dem wir in Preußen die heilsamsten
Erfolge verdanken, nicht aufgehoben werden darf. Dieses Recht ist nicht blos
den kirchlichen Lehranstalten, sondern auch den Gemeinden gegenüber von Wichtigkeit,
die noch keineswegs überall so weit sind, die Initiative des Staats entbehrlich zu machen.
8) Ausführung des §. 12 der Verfassung: der Genuß der bürgerlichen und
staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekenntniß. — In dieser
Beziehung wird es nothwendig sein, um einerseits dem Gewissen der Geistlichen
keinen Zwang anthun zu dürfen, andererseits die bürgerliche Rechtsordnung von
dem Gewissen der Geistlichkeit unabhängig zu machen. Die hauptsächlichsten Con¬
flicte finden auf dem Gebiete des Ehcrechts statt und es gibt zur Beseitigung der¬
selben nur ein Mittel, die Civilehe.
ö) Revision der Gesetzgebung über die Zulässigkeit des Rechtsweges und das
Recht der Verwaltungsbehörden, durch Execution eine Handlung oder Unterlassung
zu erzwingen, über deren Zulässigkeit durch die Gerichte rechtskräftig erkannt worden. —
Dies ist unter allen Punkten der wichtigste, wobei wir freilich noch hinzusetzen müssen,
daß die Kammern noch die Hauptaufgabe haben, die wirkliche Durchführung der Ge¬
setze zu überwachen. In dieser Beziehung hat in den letzten zehn Jahren auch auf Seiten
der Opposition eine Schüchternheit obgewaltet, die wir gänzlich zu verbannen
wünschten. Wenn dem Parlament alle übrigen Rechte genommen werden, so ist die
Redefreiheit noch ein so wichtiges Privilegium, daß bei einem Staat, dessen Grund¬
lagen im Uebrigen gesund sind, auf diesen'Punkt allein schon die Hoffnung
einer allmäligen Verbesserung gebaut werden kann. Aber freilich kommt es dar¬
auf an, daß man auch den Muth und die Entschlossenheit besitzt, sich ihrer zu be¬
dienen und darum billigen wir aus vollem Herzen das Schlußwort des Programms:
„Wir fordern und erwarten von den Abgeordneten, daß sie wie ehrliche Männer
den Muth haben werden, auf der Handhabung von Gesetz und Recht unerschütter¬
lich zu bestehn und nicht aus schwächlicher Nachgiebigkeit nach oben und unten etwas
Recht zu heißen, was nun einmal Unrecht und Willkür ist."
Wir sind ferner mit dem Programm darin einverstanden, daß es sich ausschlie߬
lich an die Verfassungsfragen hält, und andere ebenfalls sehr wichtige Angelegenheiten,
z. B. den Staatshaushalt und die auswärtige Politik vorläufig unberücksichtigt läßt.
Was aber das letztere betrifft, fo ist es zweckmäßig, von Zeit zu Zeit daran zu er¬
innern, daß wir noch immer auf den alten Ueberzeugungen stehn, und insofern
haben wir mit großer Freude die Festrede eines der edelsten Vertreter unsrer Wissen¬
schaft, des greisen Böckh, begrüßt, der darauf aufmerksam macht: eine Vereinigung
von Staaten gleicher Nationalität mit verschiedenen Dynastien sei eine Abschwächung
der Kraft jedes einzelnen Staats; es müßte denn sein, daß ein Staat die unbe¬
strittene Hegemonie übernähme; ein Staatenbund könne nur unter republikanisch
geordneten Staaten zur Blüte gelangen. Auch wohne allen Staaten mit verschiede¬
nen Dynastien und gleicher Nationalität das Streben inne, zu einer innigeren
Vereinigung sich zu verschmelzen und in dieser Verschmelzung eine Macht zu erlangen,
welche der loseren Verbindung eines Staatenbundes fehle. — Wenn für den Augen-'
blick nach dieser Richtung hin nichts zu wirken ist, so darf man doch über der
Gegenwart die Zukunft nicht ganz vergessen und muß von Zeit zu Zeit ruiner
Wieder an die alte Tradition erinnert werden, auf der der dauernde Fortschritt beruht.
Es gereicht den östreichischen Blättern zur Ehre, daß sie sich durchweg über
die neue Wendung der Dinge in Preußen mit aufrichtiger Theilnahme aussprechen.
Sie haben auch Grund dazu, denn manche neue Umstände können sie darauf
aufmerksam machen, daß trotz des unbestreitbaren allgemeinen Aufblühens Oestreich
in manchen Punkten im Rückschritt ist. Jeder Fortschritt in Preußen begünstigt
auch die liberale Sache in Oestreich und der wahre Wetteifer zwischen den beiden
Staaten beruht darin, daß jeder von ihnen so viel Kraft und Freiheit als möglich
entwickelt. Wir theilen mit den östreichischen Blättern die Ueberzeugung, daß das
neue Regiment in Preußen wie die liberale Partei von dem aufrichtigsten Wunsch
beseelt sind, mit Oestreich Hand in Hand zu gehn; zugleich sind wir aber durch
die nächste Vergangenheit berechtigt, die Wendungen der östreichischen Regierung mit
großer Wachsamkeit zu verfolgen, und wenn es darauf ankommt, einer Anmaßung
Oestreichs gegenüberzutreten, so wird die liberale Partei in Preußen viel entschiedener
auf Seiten der Regierung stehn, als die reactionäre, die bisher die Kammern be¬
h
Die Expedition in die Seen von China, Japan und Ochotsk, unter Kom¬
mando von Commodore Colin Ninggold und Commodore John Rvdgers, im Auf¬
trage der Regierung der Vereinigten Staaten unternommen in den Jahren 1853
bis 1856, unter Zuziehung der officiellen Autoritäten und Quellen. Deutsche Ori¬
ginalausgabe von Wilhelm Heine. 1. Band. Leipzig, H. Costenoble. 1858. — Der
Gegenstand dieses Werkes ist die Fahrt eines Geschwaders der Vereinigten Staaten,
welche zu gleicher Zeit mit Pcrrys bekannter Expedition nach Japan unternommen
wurde. Die Hauptausgabe der mit dieser Fahrt Beauftragten war, die von ame¬
rikanischen Kauffahrern am meisten besuchten Seewege sorgfältig zu vermessen, in
Japan mit Perry zusammenzutreffen, die von diesem etwa erlangten Vortheile weiter
zu verfolgen, die Küsten Japans, so weit es irgend möglich, zu untersuchen und
sodann die See von Ochotsk, diesen wichtigen Schauplatz der amerikanischen Wal¬
fischfänger, so wie die Behringsstraße und die arktischen Gewässer zu durchsegeln
und zu vermessen. Das Ganze wird drei Bände bilden und mit 16 vom Verfasser
(richtiger Zusammensteller) nach der Natur gezeichneten Ansichten, Porträts und land¬
wirtschaftlichen Maschinen nebst vier Karten ausgestattet sein.. Der erste Band er¬
zählt die Reise von Norfolk in Virginien nach Sidney, Batavia, Gaspar und Sin-
gapore, dann schildert derselbe den Besuch der Amerikaner in Schanghai, in der
Mündung des Peiho und im gelben Meere, auf den Bonininseln, aus Formosa und
verschiedenen andern Inseln jener Meere und theilt im zehnten Capitel die
Vorfälle bei Ratification des amerikanisch-japanischen Vertrags mit. Vieles von dem,
was der Herausgeber bringt, ist bekannt, Manches neu, Einiges z. B. der Sturm
im gelben Meer und das Abenteuer in der Wildniß von Tanjong Brckat zugleich
unterhaltend. Der Anhang, ebenso stark als die fortlaufende Erzählung, enthält
Landwirthschaftliches über Madeira, das Kap der guten Hoffnung, die Insel Mau¬
ritius, Ceylon und Singapore, so wie verschiedene mehr oder minder ausführliche,
teilweise werthvolle Berichte von Mitgliedern der Expedition über den Ackerbau in
China und Japan, japanische Schiffahrt, die Peelinsel u. a.
Von besonderer Wichtigkeit sür die Geographie ist die genaue Untersuchung der
von Formosa bis Kiusiu und Nipon sich erstreckenden Inselkette. Dieser Expedition
verdanken wir die erste richtige Kenntniß von Ousima. einigen Häfen von Kiusiu, so
wie von mehren kleinern dazwischen liegenden Inseln, welche Stimpson, der Naturforscher
der Expedition, geographisch beschrieben hat. Das Buch ist dem Prinzen Adalbert
von Preußen gewidmet. Die Arbeit Herrn Heines daran beschränkt sich darauf, daß
er die Erlebnisse und Erfahrungen anderer in geeigneter Auswahl und Zusammen¬
stellung wiedergab, zu welchem Zweck ihm die Tagebücher und andere Papiere von
dem Befehlshaber der Expedition, so wie von verschiedenen andern Offizieren zur
Verfügung gestellt wurden. Sehr richtig scheint, was Herr Heine in der Einleitung
sagt, nachdem er sein Bedauern ausgesprochen, daß es ihm nicht vergönnt gewesen
sei, diese Reisen unter der Flagge Deutschlands zu machen. „Es scheint mir," fährt
er fort, „unerklärlich und unglaublich, daß 40 Millionen der intelligentesten Be¬
völkerung der Erde mit einer blühenden Industrie und einem regen Handel, als
Mitglieder des Welthandels sich mit einer fo untergeordneten Stellung begnügen
können.' In beinahe allen Häfen, die ich bei meiner Reise um die Erde besucht,
fand ich eine achtbare deutsche Bevölkerung, deutsche Handelshäuser und auf den
Märkten deutsche Waaren, nur keine deutsche Flagge, kein deutsches Kriegsschiff. Die
mir bekannt gewordenen preußischen, östreichischen und andern Konsuln in jenen
Gegenden nehmen nur eine untergeordnete Stellung ein, da es ihnen an jeder Macht
fehlt, um ihren Ansprüchen Gewicht und Geltung zu verschaffen. Diplomatische
Depeschen reichen bei uncivilisirten oder halbcivilisirten Völkern wie in China und
im spanischen Amerika nicht aus, so daß manche achtbare deutsche Handlungshäuser
den nicht sehr rühmlichen Ausweg ergreifen mußten, englische Compagnons zu hal¬
ten und sich so unter den Schutz des britischen Löwen und seiner Kanonen zu
stellen.
Als ich von dem Vorhaben Oestreichs hörte, eine Expedition zu einer Reise um
die Erde auszurüsten, wurden große Erwartungen in mir rege, die jedoch nur zu
bald wieder verschwanden. Der eigenthümliche Umstand, daß eine einzige Fregatte,
selbst ohne begleitendes kleineres Schiff, die ganze Expedition bildete, so wie der Un¬
fall, daß schon auf der kurzen Reise von Madeira nach Rio Janeiro, wo frische
Lebensmittel in genügender Menge zu haben waren, der Scorbut an Bord ausbrach,
flößten mir von vornherein die lebhafteste Besorgniß für jene Zeit ein, wenn die
Expedition sich viele Monate lang ohne frische Vorräthe in den endlosen Strecken
und zwischen den noch unvollkommen bekannten Inseln des stillen Oceans befinden
würde, wo unbekannte Riffe einem so großen Schiff stete Gefahr drohen, sollte es anders
jemals in diese Gewässer gelangen. (Ist geschehen; denn die neuesten Berichte von der
Novara melden, daß dieselbe bereits auf dem Wege nach Australien ist, ohne daß ihr
ein erheblicher Unfall zugestoßen wäre.) Warum entsendet nicht Preußen ein Expe¬
dition dieser Art? Schiffe hat es mehr als genug. Die Seeleute des nördlichen Deutsch¬
land gehören zu den tüchtigsten, die es gibt, und in dem Eifer für wissenschaftliche,
Forschungen werden die Deutschen von keinem Volk der Erde übertroffen. Ich
weiß sehr wohl, daß eine Fregatte und Korvette weder Japan' noch das himmlische
Reich erobern können, und selbst gegen kleinere Reiche dürfte nur nach langen frucht¬
losen Versuchen und Unterhandlungen, um sich endlich Recht zu verschaffen, feind¬
liches Einschreiten anzurathen fein. Allein dies ist nur äußerst selten nöthig, In
den meisten Fällen genügt schon die bloße Gegenwart eines Kriegsschiffes, um lange
obschwebcnde Verhandlungen zu einem günstigen Ende zu bringen." — Im fernen
Osten ist jetzt eine rege Zeit. Japan hat bereits, unfähig dem Drang der Civili¬
sation zu widerstehn, die so lange gegen alle Fremden ausgeübte entwürdigende
Politik aufgegeben, und das so lange hermetisch verschlossene Reich ist eröffnet.
Dasselbe gilt in noch ausgedehnterem Maß von China. Auch die vierzig Millionen
Deutschen hätten bei diesen großen Wcltvertrngen zugegen sein können. Die Gegen¬
wart einer Fregatte, vielleicht begleitet von einer Brigg oder einem Dcnnpscr und
mit einem bevollmächtigten Gesandten an Bord hätte einen genügenden Einfluß aus¬
üben können.
Shaksperes Werke herausgegeben und erläutert von Nicol. Delius.
Vierter Band. Elberseld, Fridcrichs. — Durch die Vollendung des vierten Bandes
(Heinrich VI. Richard III. und Heinrich VIII.) ist dies ausgezeichnete Werk, das schon
so viel dazu beigetragen hat, dem deutschen Publicum das Studium Shakespeares
zu erleichtern, wieder einen Schritt weiter geführt. Es sind noch drei Bände
im Rückstand, welche die Lustspiele, die Gedichte und die Biographie enthalten
werden.
Archäologischer Katechismus. Von Heinrich Otte. Leipzig, T. O. Weigel.
1859. — Belehre mit Rücksicht auf das in Preußen der Jnvcntarisativn der kirch¬
lichen Kunstdenkmäler zu Grunde gelegte Formular von Fragen über die Baukunst
des Mittelalters, so wie über die Ausschmnckungsgcgenständc der Kirchen, Geräthe,
Gefäße, Gewänder u. f. w. Bcigegeben sind 88 Holzschnitte, welche die einzelnen
Theile der romanischen und der gothischen Kirche darstellen. —
Naturgeschichte in Bildern. Herausgegeben von Dr. H. Ramses, Pro¬
fessor. München, Braun und Schneider. — Ungemein talentvoll gezeichnete und
vortrefflich geschnittene und gedruckte Xylographien, auf 30 Tafeln mehre hundert
Gegenstände aus den drei Reichen der Natur vom Menschen bis zum Stein dar¬
stellend. Besonders wurde vom Herausgeber die Möglichkeit ins Auge gefaßt, das
Aehnliche zu vergleichen. Sodann aber bemühte sich der Zeichner — Ernst Fröhlich
— mit dem Bilde des Thieres, so weit es thunlich war, auch den Charakter desselben
auszudrücken, was dieser Galerie einen wesentlichen Vorzug vor andern Werken der
Art verleiht, von denen manche in der That aussehen, als wären sie nach aus¬
gestopften Thicrbälgcn gezeichnet. Der Text besteht in einer kurzen Einleitung und
einer Erklärung der Tafeln. —
Nachgelassene Schriften von E. L. v. Aster. 3. und 4. Band. Berlin,
I. Guttentcig. — Der berühmte preußische Gcnicgcneral spricht hier zunächst seine
Gedanken über eine systematische Militärgcographie aus und gibt dann eine kurze
Geschichte des Erziehungswesens, so weit dasselbe militärische Unterrichts- und Bil-
dungsanstalten betrifft. Beiden Abhandlungen sind zahlreiche Anmerkungen bei¬
gegeben, welche die Belesenheit des Verfassers bekunden. Eine Karte des westlichen
Deutschland und eine andere vom ehemaligen französischen Roerdcpartcment ver-
sinnlichen die Ideen des Verfassers von der Weise, wie die Grenzen der Operations-
landschaftcn im Großen anschaulich zu machen seien.—
'"
Berthold Auerbach gibt in dem „deutschen Volkskalendcr" (Stuttgart,
Cotta) jedesmal eine Reihe interessanter Beitrüge, von denen wir hier zwei
musterhafte Novellen: die Stiefmutter (1858) und der Bierbrauer von Culm-
bach (1859) hervorheben; die kräftige Charakteristik geht mit feiner Reflexion
Hand in Hand. Gelegenheitsstücke wie „Gellerts letzte Weihnachten" und „Friedrich
der Große von Schwaben" sollte er lieber Andern zu schreiben überlassen. Der
Kalender wird noch durchvschönc Holzschnitte von L. Richter und A.v. Ramberg
geziert. — Von B. Auerbachs gesammelten Schriften (Stuttgart. Cotta), auf die
wir noch ausführlich zurückkommen, zeigen wir hier wenigstens das Erscheinen an.
In dem Roman „Heinrich Falk" (3. Bd., Breslau. Trewendt) erregt Otto Ro-
qnette die Aufmerksamkeit des Lesers zu Anfang durch eine ehrliche und gewissenhafte
Charakterschilderung, die Figuren sind der Natur abgelauscht und haben doch eine au¬
tonome Bewegung. Der Verlauf erfüllt die Erwartungen nicht ganz; der Dichter
macht es sich mit der Composition zu leicht, die Erzählung wird in Sprüngen fort¬
gesetzt, die manche zum Verständniß nothwendige Momente übergehn, und der Aus¬
gang streift ans Melodramatische.
„norddeutsche Volksbibliothek," herausg. von or. Harn. Schiff. 1. Bd.:
Regina oder das Haus Todtcnstein (Mona, Verlagsbureau). Die Erzählung muß
jeden Leser in Verwirrung setzen; das große Talent des Dichters, das er in frühern
Novellen entwickelt, zeigt sich auch hier unverkennbar; der Stoff und die Auffassung
aber erinnert an die romantische Periode von 1790: „und Uffo nahm die Locke
des Enthaupteten und sprach mit hohler Stimme u. s. w."
„Marianne oder um Liebe leiden," Roman von Heinrich König (2. Bd.,
Frankfurt a. M., Meidinger). — Bei den besten Intentionen behält dieser Dichter
in seiner Form immer etwas unnatürlich Gespreiztes, das die Lectüre unbequem
Macht. Es ist merkwürdig, wis wenig er sich seit „Regime" und „Veronika" ge¬
ändert hat. In den culturhistorischen Romanen empfindet man die Unnatur weniger,
"der man schiebt sie in die dargestellte Zeit; bei einem einfach bürgerlichen Stoff ist
^s aber nicht möglich.
Anspruchsloser und darum ansprechender ist ein Roman von Caroline von
Göhrcn: „Aus dem Salonlebcn". Die einfachen Verhältnisse sind einfach ent¬
wickelt und von einer gesunden Empfindung beleuchtet.
„Gepflastert mit Gold, oder Roman und Wirklichkeit der Straßen Londons.
Von den Gebrüdern Mayhew. Unter Autorisation der Herrn Verfasser ins
Deutsche übertragen von A. Lcißm ann. 4 Bd., mit vielen Illustrationen. — Cassel,
Vollmann. — Es sind 75 Jahre, daß von dem berühmten Stifter der Erziehungs¬
anstalt zu Schnepfenthal, dem Pastor Salzmann, ein Roman erschien- „Karl von
Karlsbcrg oder über das menschliche Elend" (zehn Jahr nach Werther), der damals
ungeheures Aussehn erregte, den man aber später, als der Idealismus sich der deut¬
schen Poesie bemächtigte, als den Gipfel der Geschmacklosigkeit zu bezeichnen pflegte.
Es scheint, als seien wir wieder aus dem Standpunkt Karlsbcrgs angelangt. Seit¬
dem Bulwer im Paul Clifford die Gattung des Schelmenromans, den er freilich nicht
erfunden, aber durch moralisch-philosophische Würze für den veränderten Geschmack
des Zeitalters zurechtgemacht, wieder in Cours gesetzt hat, wetteifern die englischen,
/französischen und deutschen Schriftsteller, das Publicum mit den Mysterien der Winkel¬
gassen bekannt zu machen. Acsthetisch ist das Genre nicht zu rechtfertigen, aber es
gewinnt doch eine Bedeutung für die Literatur, wenn es von einer so erstaunlichen
Sachkenntniß und dabei von einer so feinen Psychologischen Bildung getragen wird,
als hier der Fall ist. Schon in der frühern Schrift I^onäcm I-abour amal^onäon
?vor wird man durch die Reichhaltigkeit des bedeutendsten Materials fast erdrückt,
und in dem neuen Roman paart sich mit dem ernsten Studium ein novellistisches
Talent, das zwar den Gegenstand nicht grade erfreulich machen kann, ihm aber doch
eine viel größere Spannung verleiht, als es Bulwer im NiZKt -ruck Norning oder
Dickens in Oliver Toise gelungen ist, die beide einen ähnlichen Gegenstand behan¬
deln. —
„Wolkcnkukukshcim." Humoristisches Genrebild von Herman Prcsber.
Frankfurt a. M., Meidinger. — Auch diesmal zeichnet der Dichter von „Ideal und
Kritik" eine Reihe glücklich angeschauter Züge aus dem Leben der Schule und Uni¬
versität-, auch diesmal verkümmert er sein Talent durch eine künstliche Unordnung
der Komposition, die nach dem Vorbild älterer Dichter die humoristische Kunstform
darstellen sollen. —
„Neue Novellen" von Ernst Willkomm. 2 Bd., Nordhausen, Büchting.
Erdballen: Der Siebeneck; Opfer der Armuth; Auf und unter der Düne; Nur ein
Knecht. — Der Ton der Erzählung ist im Ganzen gelungen; die Neigung zu psy¬
chischen Anomalien ist die alte. —
„Erinnerungsblätter" von A. v. Sternberg. 4. Bd. Leipzig, Brockhaus. —
Schildert Berlin im Jahr 1848; ein anziehendes Geplauder, im Ganzen unbefangen
genug, aus dem man freilich nicht viel Neues erfährt. —
Das Lob einer deutlichen, correcten und nicht uninteressanter Erzählung (ein¬
zelne melodramatische Effecte abgerechnet) verdient A. Schraders „Lebensbild",
„Am See, oder die Speculanten;" (Leipzig, Luppe). — Auch hier ist. wie bei den
meisten modernen Novellisten, die Exposition das Beste; eine naturgemäße Auflösung
ist nicht gelungen. — Noch mögen erwähnt werden: „Studentenfahrtcn" von
Fr. Friedrich (Jena, Dcistung) und „Reich und Arm", Erzählungen für Kinder
von Adelaide, von Großmann (Leipzig, Schlicke). —
Zur Auslösung, der römischen Nationalreligion, einem Proceß, der sich in
den beiden letzten Jahrhunderten der Republik vollendete, haben am meisten
griechische Einflüsse beigetragen. Griechische Vorstellungen hatten in den römischen
Cultus schon seit sehr früher Zeit Eingang gefunden und nicht blos auf sein Wesen
vielfach modificirend eingewirkt, sondern es war auch eine Reihe griechischer
Gottheiten in Rom neu eingeführt worden. Diese wurden größtentheils mit
nationalen Göttern identificirt, wie Artemis mit Diana, Hera mit Juno u. s. w.
Dies führte aber nicht sowol zu einer Verschmelzung der beiden verschiedenen
Glaubenssormen, als zu einer immer zunehmenden Verflüchtigung und Ver¬
dunklung der römischen. Die römischen Götter waren wesenlose unpersönliche
Abstractionen, die sich gegenüber den lebensvollen, zu voller Individualität
ausgebildeten Gestalten der Olympier nicht behaupten konnten. Je mehr die
Kenntniß griechischer Literatur und Kunst in Nom-allgemein ward, desto mehr
verblaßten in dem Bewußtsein der Gebildeten die nationalen religiösen Vor¬
stellungen. Ein großer Theil der von den Vätern verehrten Götter verlor
seine Persönlichkeit und sein Wesen an die griechischen, mit denen sie eine
scheinbare oder wirkliche Verwandtschaft hatten und wurde von ihnen verdrängt,
die übrigen geriethen theils in Vergessenheit, theils wurden sie unverständlich,
Und die Gelehrten machten sie zu Gegenständen ihrer antiquarischen Unter¬
suchungen. „Wenn schon die gelehrten Forschungen des Varro." sagt Mar¬
quardt a. a. O. S. 78, „einen tiefen Blick thun lassen in das gänzlich wankende
und über seinem versinkendem Fundament zusammenstürzende Gebäude der
römischen Theologie, so gibt von diesen Zuständen ein noch viel gvclleies Bild
die dilettantische Bearbeitung des römischen Festkalenders von Ovid, die man
mit Recht eine Caricatur des Heiligen nennen könnte. Gleich am Anfang
weiß der Dichter nicht, wer Janus ist, weil er kein Analogon in der griechi¬
schen Mythologie hat. Was für ein Gott, soll ich sagen, daß du seist, zwei-
gestaltiger Janus, fragt der Dichter; denn Griechenland hat keine Gottheit,
die dir gleich ist. Darauf erscheint Janus selbst, um zwei verschiedene Ver¬
muthungen über sein eignes Wesen aufzustellen und seine ihm selbst lächer¬
lichen Beinamen zu erklären." Auf Summanus, einst einen der prächtigsten
Götter, der aber' ganz aus dem Cultus verschwunden war, läßt sich der
Dichter gar nicht ein, sondern fertigt ihn mit einem: wer er auch sein
mag — ab, u. s. w."
Mehr als der positive Inhalt der griechischen Religion zur Verdrängung,
wirkten die negativen Tendenzen griechischer Philosophie und Theologie zur
Zersetzung des römischen Glaubens. Schon Ennius, der Zeitgenosse des Sie¬
gers von Zama und des alten Cato übersetzte das Werk des Messeniers
Eucineros (aus der Diadochenzeit), worin alle Götter für Menschen, die sich
durch Weisheit, Macht, Tapferkeit und andere Vorzüge die Anbetung der
Nachwelt erworben, erklärt, und ihre Gräber beschrieben wurden. In andern
seiner Werke vertrat Ennius die Auffassung, welche die Personen der Götter
in abstracte Naturpotenzen verwandelte. Auch die epikurische Philosophie, die
wenigstens den Zusammenhang der Götter mit der irdischen Welt durchaus
in Abrede stellte, untergrub den positiven Glauben, und der Versuch, die Staats¬
religion durch die stoische Theologie mit den Forderungen des gebildeten Be¬
wußtseins in Einklang zu setzen, konnte nur beschränkte Wirkungen üben.
Während diese und ähnliche Einflüsse den Unglauben verbreiteten, wurde
der Verfall der Staatsreligion auch äußerlich dadurch beschleunigt, daß das
Priesterthum seinen -kirchlichen Charakter und der Cultus sein Ansehn verlor.
Namentlich seit die Priesterthümer'durch Volkswahl besetzt wurden, standen
sie den übrigen Staatsämtern völlig gleich. „Hiermit siel die letzte Stütze,
die dem Cultus noch übrig war. Die positiv und äußerlich gegebene Religion
der Römer hatte ihren Halt an dem Priesterthum, eine umfangreiche schrift¬
liche Ueberlieferung sicherte den Ritus, und eine mündliche Tradition erhielt in
den Priestercollegien, so lange diese sich zum Theil aus denselben Familien
durch Wahl der Mitglieder ergänzten, ein sicheres Bewußtsein von der Bedeu¬
tung und den Erfordernissen des Gottesdienstes, an- welchem, wenn es leben¬
dig und frisch geblieben wäre, das Volk wie in alter Zeit eine Quelle der
Anregung und Belehrung gehabt haben würde. Aber diese Wissenschaft, an¬
statt ein Gegengewicht gegen die eindringenden poetischen und philosophischen
Aufklärungen zu gewähren, erlag dem Interesse der Priester; die Gesetze des
Cultus, noch mehr aber die alten Vorstellungen von den Göttern wurden den
Tragendes Glaubens selbst unklar und gleichgiltig" (a. a. O. S. 730.).
Von den Auspicien war in Ciceros Zeit nur noch ein Scheinbild übrig und
die Lehre derselben selbst den Augurn unbekannt geworden. In den letzten
Zeiten der Republik blieben hohe Priesterthümer aus Mangel an Bewerbern
kürzere oder längere Zeit unbesetzt.
Dieser Verfall der Religion gab sich zu Ende der Republik auch äußerlich
in Nichtachtung und Vernachlässigung der Heiligthümer kund. Tempel, Ka¬
pellen, heiliges Land und heilige Haine lagen wüst und wurden von Privat¬
personen widerrechtlich in Beschlag genommen; schon in Pyrrhus Zeit schrieb
man eine Epidemie dem Zorn der Götter über solche Sacrilegien zu, und
stellte, um sie zu versöhnen, sorgfältig ihre Besitzrechte her, doch wiederholten
sich die Eingriffe in heiliges Eigenthum immer von neuem. Viele Tempel
standen leer, die Götterbilder waren von Rauch geschwärzt, Spinnweben über¬
zogen die Wände, auf dem Boden wuchs Gras, ja die heiligen Räume wur¬
den mit Schmuz besudelt. Im Jahre 90 v. Chr. sah eine vornehme Matrone
die Juno Sospita im Traum ihren Tempel verlassen, weil er durch die schnö¬
deste Verunreinigung entweiht war; unter dem Bilde der Göttin hatte eine
trächtige Hündin ihr Lager. Andere Tempel sänken in Ruinen, oder wurden
durch die in Rom so häusigen Brände in Schutt gelegt, ohne daß man an
ihre Wiederherstellung dachte. Dem äußerlichen Verfall des Cultus trat August,
seit er mit dem obersten Pontisicat seine Leitung und Aussicht übernommen
hatte, durch eine energische Restauration auf den umfassendsten Grundlagen
entgegen. Er sorgte zunächst für die Herstellung der Heiligthümer in gro߬
artiger Weise. Nach seiner eignen Angabe stellte, er im Jahr 28 v. Chr.
auf Senatsbeschluß nicht weniger als 80 her, wobei kein Gebäude, das wirk¬
lich einmal dem Gottesdienst bestimmt gewesen, Übergängen worden sei, einen
Theil der von ihm unternommenen Bauten vollendete erst Tiber. Andere
Restaurationen geschahen auf seine Veranstaltung von den Nachkommen der
Stifter. Er besetzte die leer gewordnen Priesterstellen, errichtete neue, ver¬
mehrte ihre Einkünfte und erhöhte ihre Würde. Als bei der bevorstehenden
Neuwahl einer Bestalln viele Eltern um die Erlaubniß nachsuchten, ihre Töch¬
ter nicht mit losen lassen zu dürfen, erklärte August mit einem Eid, er würde
eine von seinen Enkelinnen zu diesem heiligen Dienste anbieten, wenn sie das
gesetzliche Alter hätten; freilich sah er sich trotz dieses Versuchs, den religiösen
Eifer wieder zu beleben, genöthigt, Töchter von Freigelassenen zu Vestalinnen
ZU ernennen, was früher nie geschehn war. Manche in Vergessenheit gerathene
heilige Gebräuche und Götterfeste erneuerte er und sorgte dafür, daß sie in
angemessener Weise gefeiert würden.
Wie August haben auch alle folgenden Kaiser das Amt des obersten Ponti-
fex verwaltet, selbst die ersten christlichen haben die Leitung des heidnischen
Cultus beibehalten, trotz des unlösbaren Conflicts, in den sie dadurch mit
ihrenz eignen Glauben geriethen; erst Gratian legte sie im Jahr 382 nieder.
Bis zum entschiedenen Siege des Christenthums und noch langer bestand der
Staatscultus im Wesentlichen unvermindert fort. Jahr für Jahr wurden die
heiligen Feste mit Opfern. Processionen, Schmäusen und Schauspielen gefeiert.
An jedem dritten Januar wurden von allen Staatspriestern Gelübde und
Gebete für das Wohl des Staates und des Kaisers veranstaltet. An jedem
ersten März erneuerten die jungfräulichen Priesterinnen der Vesta das ihrer Obhut
anvertraute heilige Feuer, und nach wie vor wurde Verletzung ihrer Keusch¬
heit mit der schaudervollen Strafe des Lcbcndigbegrabens bestraft. Nach wie
vor sangen die salischen Priester'ihr uraltes mit der Zeit völlig unverständlich
gewordenes Lied, nur daß neben den Namen der Götter darin auch manche
kaiserliche aufgenommen waren, und hielten ihren berühmten Schmaus, der
wie alle Priestermahlzeiten in den Annalen der antiken Gastronomie eine aus¬
gezeichnete Stelle einnahm. Doch die interessantesten Belehrungen über die
unveränderte Fortdauer alter Cultusformen bis in die kleinsten Einzelnheiten
erhalten wir aus zahlreichen Resten von Steintafeln, auf welche die amt¬
lichen Protokolle der Arvalbrüdcr eingegraben sind und die bis in das dritte
Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung hinabreichen/) Diese Priesterschaft
hatte den Beruf, für das Gedeihen der Feldfrüchte öffentliche Opfer
zu veranstalten. Die meisten der erhaltenen Protokolle beziehen sich auf ein
dreitägiges Fest, das sie im Mai zu Ehren einer sonst nie genannten Göttin
Dia begingen, ein Name, unter welchem nach uraltem Brauch die mütterliche
Göttin der Erde, die Spenderin des Fruchtsegens angerufen wurde. Von der
Feier des ersten Tages sei hier nur erwähnt, daß an diesem ein Festmahl
stattfand, an welchem das Couvert 100 Denare (etwa 25 Thaler) kostete; fiel
, dasselbe aus, so wurde jedem Mitglied der Betrag in Geld ausgezahlt.
Von der Feier des zweiten Tages, die ebenfalls bis in die' kleinsten Einzeln¬
heiten in den Acten mit scrupulöser Genauigkeit verzeichnet ist, wollen wir
einige Hauptmomente mittheilen. Sie fand in einem Haine der Göttin Dia
statt, der fünf Miglien weit von Rom an der campanischen Straße lag und
mit verschiedenen Tempeln, Zelten und einer Rennbahn versehn war. Hier
begannen sie die Feierlichkeit mit einem Reinigungsopfer von zwei Ferkeln,
welches bestimmt war den Hain zu entsühnen. Denn jede Arbeit in dem
Haine, z. B. das Beschneiden oder Fällen der Bäume, das Hineintragen
eines Messers entweihte den Hain und machte ein Sühnopfer nöthig. Hierauf
folgte das Opfer einer weißen Kuh an einer andern Stelle, und andere Ge¬
bräuche, über deren vorschriftsmäßige Vollziehung sogleich Protokolle aufgenom-
men wurden. Nachdem sie die beiden Ferkel zum Frühstück verzehrt, legten
sie ihren Ornat, eine mit Purpur gesäumte Toga, weiße Kopfbinde und Aeh-
renkranz wieder an, und nun folgten neue Opfer. Nach diesen stellten sie sich
vor dem Tempel auf, in den Händen ein Gefäß mit Wein und ein Gefäß
mit Weihrauch haltend, und ließen durch zwei Mitglieder, die von den ihnen
beigeordneten Staatssklaven begleitet wurden, die Feldfrüchte, welche das um¬
stehende Publicum herbeigebracht hatte, abnehmen, so daß der einsammelnde
Priester sie mit der rechten Hand an einen der in der Reihe aufgestellten gab,
dieser sie mit der linken Hand nahm und weiter reichte, bis endlich die Skla¬
ven sie wieder «n sich nahmen. Nach Vollziehung mehrer andrer Riten zogen
sie sich in den Tempel zurück, wo sie bei geschlossenen Thüren einen Tanz
tanzten und dazu den Text des Arvalenliedcs sangen, den sie von den Skla¬
ven schriftlich erhielten. Diese Litanei, das älteste bekannte Denkmal der
römischen Sprache, ist uns auf einer Stcintnsel aufbewahrte die ein Arvalen-
protokoll aus der Zeit Elogabals enthält; sie ist jetzt in der Wand eines Korri¬
dors eingemauert, der in Se. Peter aus der Kirche nach der Sacristei führt.
Nicht viel weniger als ein Jahrtausend mochte damals vergangen sein, seit
dies Gebet zum erstenmal am Fest der Göttin Dia von den Arvalbrüdern ge¬
sungen worden war. Die ungeheuersten Schicksale hatten in so viel Jahr¬
hunderten die, Gestalt der Erde immer von neuem umgewandelt. Die Tiber¬
stadt war aus einer unbedeutenden ladinischen Ansiedlung zum Mittelpunkt der
Welt geworden, nun war ihr Morgen und Mittag vergangen, ihr Abend
dämmerte heraus. Auf dem Thron, den der Sieger bei Antium errichtet hatte,
saß ein Sonnenpriester aus dem so oft gedemüthigten und so tief verachteten
Syrien. Und noch immer tönte das alte Lied, dessen Worten vielleicht schon die
Könige Roms mit Andacht gelauscht hatten, und das nun für die Sänger
sicher ebenso viel Räthsel enthielt als heute für die Gelehrten:
Uns Lasen (d. i. Laren) helfet! ,
Nicht die böse Seuche Mars, Mars, laß einstürmen auf mehre!
satt sei, grauser Mars!"
Wenn sich die Formen eines Cultus, der dem Volksbewußtsein längst
entrückt war, mit einer so zähen Lebenskraft behaupteten, so regenerirte' sich
auch die Volksreligion trotz aller zerstörenden Einflüsse immer wieder von
neuem , freilich nicht ohne immer von neuem ihre Gestalt zu wechseln. Neben
Indifferenz und Unglauben, neben Atheismus und Pantheismus erwies sich
der aus Mischung römischer und griechischer Religion entstandene Polytheis¬
mus als unzerstörbar, weil er mit tausend Wurzeln in dem geistigen Leben
von Millionen festgewachsen war, und verbreitete sich in alle Theile der Welt.
welche griechisch-römische Cultur erhielten. In allen Theilen des römischen Reichs
stiegen Opfer und Gebete zum höchsten gütigsten Jupiter auf, dem Himmels¬
gott, dem Herrn der Wetter, dem Blitzschleudrcr, dem Rcgensender, dem
Schützer, Erhalter, Sieger, Rächer, Friedenbringcr, dem höchsten allmächtigen
Lenker göttlicher und menschlicher Dinge, dem Entscheider der Geschicke. Ueberall
richtete der Kaufmann seine Gelübde an Mercur, den Geber und Erhalter des
Gewinnes, der Feldbauer an Ceres, die höchste gütige Nährerin, der Kranke,
der an einer Heilquelle Genesung suchte, an Apoll und die Nymphen, überall
dankte der Hergestellte dem Aesculap und der Hygiea. Der Reiter empfahl sein
gutes Pferd dem Schulz der Pferdegöttin Epona, die Bewohner eines Orts,
der von bösen Ausdünstungen heimgesucht war, bauten der Göttin Mephitis
einen Altar. Jede Provinz, jede Stadt, jede Körperschaft glaubte sich unter
der Obhut eines Genius, aber auch jeder Ort und jedes Gebäude hatte nach
dem Volksglauben seinen Schutzgeist, Häuser, Straßen, Märkte, Bäder, Spei¬
cher. Theater, Archive u. s. w., und der Gläubige, der dort aus und einging,
verfehlte nicht, dem Genius seine Ehrfurcht zu beweisen.
Die Veränderungen, Trübungen und Erweiterungen, die der römisch-grie¬
chische Götterglaube erfuhr, erfolgten durch seine Berührung und Vermischung
mit fremden Quellen. Jeder Polytheismus ist seiner Natur nach zur Tole¬
ranz und Anerkennung fremder Religionsformen geneigt: entweder findet er
in den fremden Göttern seine eignen wieder, oder er trägt mindestens kein
Bedenken, sie auch als fremde zu verehren. Die Religionen der alten Cultur¬
länder in Asien und Afrika haben zum Theil bereits seit früher Zeit auf die
römische Götterverehrun.g influirt. Dieser Einfluß steigerte sich seit dem An¬
fang der christlichen Zeitrechnung ungeheuer, so daß die orientalischen Ele¬
mente in der Göttermischung der spätern Jahrhunderte immer mehr die vor¬
wiegenden wurden. Dagegen hat sich der Einfluß der Cultur in den nor¬
dischen und westlichen Ländern, die eine Cultur entweder erst von den Römern
erhielten oder doch die ihrige gegen die römische eintauschten, nicht über die
Grenzen dieser Länder hinaus erstreckt. Die dort angesiedelten Römer verehr¬
ten die Landesgötter allerdings, aber wenn auch hin und wieder ein aus
diesen Provinzen heimkehrender Kolonist. Soldat oder Handelsmann den Cul¬
tus der Gottheiten fortsetzen mochte, denen er in der Fremde guten Erfolg
oder Errettung vor Gefahr zu verdanken geglaubt hatte, so blieben solche
Fälle vereinzelt und die Götter Galliens, Germaniens, Spaniens und Bri¬
tanniens auf ihre Länder beschränkt. Zahlreiche Monumente in all diesen
Ländern zeigen, daß die römischen Provinziellen sich an dem einheimischen
Gottesdienst eifrigst betheiligten. Sie beteten aller Orten zu den Localgöttern,
erbauten ihnen Tempel und Altäre und brachten ihnen Opfer. Es sind haupt¬
sächlich die römischen Inschriften, aus denen wir die Namen dieser Götter
kennen, die zum Theil mit den Ortsnamen identisch sind, wie der Gott Ne-
mausus zu Nismes, Vesontius in Behar^on und die Göttin Celeia in Cilli
u. s. w.; andere wie der Bemilucius in Paris, der Jntarabus in Trier, die
Göttin Nehalennia in Frankreich und in den Niederlanden u. s. w. lassen
keine locale Beziehung erkennen. Der letztem dankt z. B. ein römischer Kauf¬
mann, der von England nach Holland mit Kreide Handel trieb, in einer In¬
schrift für die Erhörung eines Gebetes. Mehre von diesen Göttern haben die
Römer mit ihren eignen identificirt, namentlich mit Mars. Wir finden einen
Mars Lacavus zu Nimes, einen Mars Vincius zu Venae in Südfrankreich,
einen Mars Tuliorix zu Wiesbaden, Mars Albiorix zu Avignon, Mars
Belutucadr und Mars Kocid (beide in Cumberland) Mars Laherennus zu
Toulouse u. s. w. und ebenso sind mehre römische Gottheiten mit den Local-
göttern der Provinzen identificirt worden. Auch der Name der „Mütter" oder
„Matronen" für die Geister des Feldes, von deren Verehrung durch die Rö¬
mer in Deutschland, England und Frankreich zahlreiche Spuren zeugen, ist
durch den Versuch entstanden, die dortigen religiösen Vorstellungen den römi¬
schen zu assimiliren.
Während also die Götterdienste des Nordens und Westens auf den rö¬
mischen Polytheismus so gut wie, keinen wesentlichen Einfluß übten, wirkten
die des Südens und Ostens um so vielfacher und nachhaltiger auf ihn ein.
Es ist bekannt, daß auch die griechische Religion durch die Berührung mit
Culten Vorderasiens und Aegyptens, und durch die Hinübernahme zahlreicher
Elemente aus denselben i!br Wesen völlig änderte und in eine neue Phase
trat. Doch vermochte sie mit der Kraft, die allen Manifestationen des grie¬
chischen Geistes eigenthümlich ist, das Fremde so weit umzugestalten, daß aus
der Verbindung der ursprünglich heterogenen Theile ein neues organisches
Ganze hervorging. Diese gestaltende Kraft ging dem römischen Glauben ab.
Theils vermochte er nicht, seine eignen Principien und Vorstellungen gegen¬
über den fremden zu behaupten (wie denn die griechischen Götter die römi¬
schen in den Hintergrund drängten); theils erfolgte die Aufnahme der fremden
Elemente ganz äußerlich, so daß der Polytheismus der'spätern römischen Zeit
kein in sich zusammenhängender Organismus, sondern ein chaotisches Aggre¬
gat aus den verschiedenartigsten Bestandtheilen geworden ist.
Schon am Ende des zweiten panischen Krieges war der orgiastische Cul¬
tus der großen Göttin, die in Phrygien und den angrenzenden Ländern von
entmannten Priestern verehrt wurde, auf den Rath der sibyllinischen Bücher
feierlich in Rom eingeführt worden: aber ihr Dienst blieb den Fremden über¬
lassen, den Bürgern war er durch Senatsbeschluß ausdrücklich verboten. Ein
Phrygier und eine Phrygerin versahen diesen Dienst. Die Priester zogen mit
dem Bilde der Göttin in Prozession in einem besonders bunten Ornat um-
her, sangen griechische Hymnen unter einer wilden Musik von Flöten, Hör¬
nern und Pauken und sammelten Geld ein. Verrufen und verachtet, fänden
diese Eunuchen nur bei Abergläubischen Zutritt, die sie hier und da durch
drohende Prophezeiungen zu einem Geschenk bewogen. Doch in der Zeit
der zunehmenden Superstition stieg das Ansehn auch dieses Cultus, er breitete
sich im Westen aus. und die Monumente bezeugen die Betheiligung sehr vor¬
nehmer Personen, sowol Männer als Frauen. In der spätern Kaiserzeit fin¬
den wir das Fest der großen Göttin, das in dem Festkalender Ovids noch
als ein sehr geringes erscheint, als ein sehr glänzendes, das fünf Tage dau¬
erte. Es siel in die Zeit der Frühlingsnachtgleiche, und seine Ceremonien be¬
zogen sich auf den Mythus des Atys (seiner Entmannung, seines Todes und seiner
Auferstehung), in dem man eine Pcrsonificirung der Sonne, wie in der großen
Mutter die der Erde fand. Am 22. März wurde die heilige Pinie, unter
der sich Atys entmannt haben sollte, mit Wolle umwickelt und mit Veilchen¬
kränzen behängt, von einer Brüderschaften Procession in den Tempel der Göt¬
tin getragen. Der 24. März war der sogenannte Tag des Blutes, an dem
die Eunuchcnpriester ihre Arme ritzten und mit wildem Geheul,und rasenden
Geberden unter dem Schall der Instrumente den Atys beklagten; die Andäch¬
tigen fasteten an diesem Tage. Am folgenden Tage verwandelte sich die aus¬
gelassene Trauer in eine ebenso ausgelassene Freude, das Fest hieß die Hila-
rien. Am 27. wurde der schwarze Stein, der das Symbol der Göttin war,
mit einem silbernen weiblichen Kopf bedeckt, auf einem Wagen an das Flüß-
chen AImo gefahren und dort gebadet, worauf die Feier mit abermaligen Freu¬
denfesten und einer Art von Karneval schloß.
Nicht minder orgiastisch war der Dienst einer andern asiatischen Göttin,
die aus Canara in Kappadozien in den mithridatischen Kriegen nach Rom
verpflanzt und von den Römern Bellona genannt wurde. Ihre kappadozischen
Priester hielten ebenfalls wilde Aufzüge in schwarzen Kleidern, wobei sie unter
lärmender Musik sich mit asiatischen Doppelbeilen Arme und Schenkel ver¬
wundeten, da ihre Verzückung sie angeblich gegen jeden Schmerz unempfind¬
lich machte und sich überhaupt einer völligen Raserei überließen. Doch scheint
dieser Cult auch in der spätern Zeit kein Ansehn gewonnen zu haben, seine
Priester und Priesterinnen bestanden aus Gesindel; ausgediente Gladiatoren
ließen sich z. B. unter sie aufnehmen. Dasselbe gilt wol von der Verehrung
der syrischen Göttin, die niemals wie die der Bellona und der großen Mutter
eine Aufnahme unter die vom Staat geduldeten Culte gefunden hat. Nicht
blos der Spötter Lucian, sondern auch der fromme Apulejus schildert die auf
dem Lande herumziehenden Priesterlicinden der syrischen Göttin als den Aus¬
wurf der Menschheit, die unter dem Deckmantel ihres Cultus die größten
Schandthaten begingen. Die Gebräuche desselben glichen den vorher gesehn-
derem: weibischer bunter Aufputz, wilde Musik, rasende Tänze, Geißelungen
und Verstümmlungen, und zum Schluß Einsammeln von Geld oder Eßwaaren;
gelegentlich verübten sie Diebstähle und andere Verbrechen. Nichtsdestoweniger
hatte auch diese Göttin im römischen Reich zahlreiche Verehrer, die Spuren
ihres Dienstes sind bis Britannien hin verstreut, und Nero, der alle übrigen
Götter aufs äußerste verachtete, hing lange Zeit an dieser einen, bis sie bei
ihm durch einen andern Aberglauben verdrängt wurde. In diesen Kreis der
vorderasiatischen Culten gehört auch der der „Himmelsgöttin" von Karthago,
der aus Phönicien stammte. Von Afrika aus, wo er sich bis in die Zeit der
Vandalen erhielt, verbreitete er sich in alle Provinzen, Elogabal brachte sie
nach Rom, um sie mit dem Sonnengotts von Emesa zu vermählen.
Wie diese Culte, welche unter wechselnden Namen und Formen sich theils
auf dieselbe orientalische Naturgottheit, die syrische Astarte oder Asteroth des
alten Testaments, theils auf verwandte Gestalten beziehen, fand auch nach
und nach die Verehrung des semitischen Baal, des Sonnengottes, im Westen
Eingang. Die Römer identificirten ihn mit ihrem Jupiter. Die syrischen
Kaufleute, die in Puteoli, dem Haupthafen für den morgenländischen Handel
ansässig waren, setzten dort ihren einheinüschen Gottesdienst fort, von da kam
der „Jupiter von Heliopolis" nach Rom und weiter, wie er sich denn z. B.
in Nismes findet. In Heliopolis (Baalbeck) baute Kaiser Antoninus Pius
diesem Gott einen neuen kolossalen Tempel, der als ein Weltwunder gerühmt
wird und noch in seinen Ruinen Staunen erregt. Eine andere Personification
des vorderasiatischen Sonnengottes ist der Jupiter von Dolicha (im nördlichen
Syrien), dessen Verehrung erst im zweiten Jahrhundert in den Westen ein¬
gedrungen zu sein scheint, gegen dessen Ende sie aber bereits eine ungeheure
Ausdehnung gewann und über ganz Europa sich verbreitete. Der schon er¬
wähnte Sonnengott von Emesa, Elogabal (von dessen Verehrung sein kaiser¬
licher Priester den Beinamen erhielt, bei dem er gewöhnlich genannt wird)
wurde unter dem Symbol eines schwarzen Steines angebetet; er erhielt un¬
gefähr 220 n. Chr. einen Tempel zu Rom, in den der Kaiser auch das Palla¬
dium, das Feuer der Vesta und andere Heiligthümer bringen ließ. Einen
neuen Tempel baute dem Sonnengotte Aurelian, der ihm anch ein eignes
Priesterthum stiftete.
Aber ungleich weiter verbreitet und tiefer gewurzelt war in den Zeiten
des sinkenden Reichs die Verehrung des persischen Sonnengottes Mithras,
dessen Cult die Römer in einer sehr getrübten Ueberlieferung durch die cili-
cischen Seeräuber erhielten, welche die Küsten des Mittelmeeres beunruhigten und
plünderten, bis Pompejus ihrem Treiben ein Ende machte. Die Arbeit der
äußerst zahlreichen auf diesen Cultus bezüglichen Monumente, die sich in allen
Provinzen des römischen Reichs finden, gehört fast durchweg der Periode der
sinkenden Kunst und zeigt, daß seine eigentliche Ausbreitung"erst in den Zei¬
ten der Antonine begann. Gegen hundert mithrische Inschriften und Kunst¬
darstellungen sind gegenwärtig bekannt, woraus man auf die Masse der ehe¬
mals vorhandenen schließen kann, von denen ein großer Theil ohne Zweifel
noch unter der Erde liegt. Die Schauplätze dieses räthselhaften Gottesdienstes
waren natürliche oder künstliche Höhlen, an deren Hinterwand sich eine Re-
liefdarstellung befand. Die zahlreichen Exemplare der Mithrasreliefs stimmen
in allem Wesentlichen überein. Immer erscheint Mithras als ein Jüngling in
phrygischer Tracht, der auf einem Stier kniet und dessen Kopf emporrichtend
einen Dolch in die Kehle stößt, ein Hund, eine Schlange und ein Scorpion
nähren sich von dem Blute des Opfers, aus dessen Schweif Aehren sprießen.
Ein auf- und niederfahrcnder Wagen bedeuten Sonne und Mond, zwei Jüng¬
linge in phrygischer Tracht, der eine mit erhobener, der andere mit gesenkter
Fackel, Morgen- und Abendstern. Diese räthselhaften Darstellungen erhalten
auch durch die Inschriften keine genügende Erklärung, in welchen Mithras
außer den Beinamen „Sonnengott" auch den des „Unbesiegter" zu führen
pflegt. Die große Mithrashöhle zu Rom wurde im Jahr 377 von dem Stadt-
präfecten Gracchus geräumt und ihre Bildwerke zerstört, in Alexandrien wurde
über dem dortigen Mithreum eine christliche Kirche gebaut, doch erhielt sich
der Cultus, wie die Denkmäler bezeugen, noch mindestens bis zum Ende des
Jahrhunderts.
Neben Mithras, Baal, Astarte und den übrigen Naturgöttern des Ostens
fand auch der Jehovah der Juden im Westen zahlreiche Anbeter. Wie groß
schon gegen das Ende der Republik die Menge der Juden in Rom war, ist
aus Ciceros Rede für Flaccius bekannt, nach welcher Muth dazu.gehörte, dieser
eng zusammenhaltenden Masse Trotz zu bieten: während des ersten Jahrhun¬
derts lassen verschiedene Nachrichten (namentlich von Maßregeln, die gegen sie
ergriffen wurden) eher auf eine Zu- als Abnahme der jüdischen Bevölkerung
schließen. In Horazens Zeit waren diejenigen Römer schon nicht selten, welche
am Sabbath kein Geschüft verrichteten; ein Fall unter Tibers Regierung zeigt,
daß die Bekehrungen zum Judenthum damals schon in den höhern Ständen-
stattfanden, namentlich (wie schon früher erwähnt) unter den Frauen, wie
z. B. Neros Gemahlin Poppäa zu den Anhängern dieser Religion gehörte.
Unter Nero konnte Seneca, wenn auch ohne Zweifel mit Uebertreibung, sagen,
daß der Cultus „dieses höchst verderblichen Volkes" bereits in allen Ländern
eingeführt sei. Wiederholte spätere kaiserliche Erlasse, die den Uebertritt zum
Judenthum oder die Beschneidung verbieten, zeigen die Fortdauer der Bekeh¬
rungen. Vermuthlich waren diese in den meisten Fällen sehr äußerlich, und
hie Convertiten begnügten sich mit Beobachtung gewisser Ceremonien, nament¬
lich mit strengem Halten des Sabbaths, an dem sie fasteten und beteten und
ihre Wohnungen mit Kränzen und brennenden Lampen schmückten; andere be¬
suchten auch Synagogen und schickten'die Tempelsteuer nach Jerusalem. Daß
es in der Zeit der vollendeten Göttcrmischung Heiden gab, welche mit Götzen¬
diensten aller Art auch eine Christusverehrung verbanden, würde schon das
Beispiel des Kaisers Alexander Severus beweisen, der die Stifter aller Reli¬
gionen in seiner Hauskapelle ausstellte, wo neben Orpheus und Apollonius
von Tyana auch Abraham und Christus Platz fanden.
Als die ehrwürdigsten, geheimnißvollsten und wunderbarsten Gestalten
ragten unter diesem bunten Gemisch die uralten Götter Aegyptens hervor.
Vergebens wurde die Einführung ihres Dienstes in Rom durch wiederholte
Senatsbeschlüsse verboten. Ais einer derselben die Zerstörung der Isistempel
in Rom befahl und keiner der dazu bestellten Arbeiter dem Befehl Folge zu
leisten wagte, wcckf der Consul Aemilius Paullus (wahrscheinlich der Besieger
des Perseus) die purpurbesüumte Toga ab, ergriff das Beil und führte selbst
den ersten Hieb auf die Tempelpforte. Trotz aller Verbote und Maßregeln
breitete sich dieser Cult mehr und mehr aus, und im Jahr 43 v. Chr. er¬
bauten die zweiten Triumvirn bereits den ersten öffentlichen Tempel der Isis
in Rom, deren Verehrung sich namentlich unter den Frauen mit reißender
Schnelligkeit^ ausbreitete. In den Liebcselcgien der Augustischen Zeit wird
oft ihrer Andachten gedacht, die zwar häusig ihren Verehrern Gelegenheit
gaben, sie zu sehen und zu sprechen, oft aber auch wegen der dabei zu beob¬
achtenden Enthaltsamkeit verwünscht wurden. Der Isistempel in Pompeji ist
ein Zeugniß von der Ausbreitung des Dienstes außerhalb Roms im ersten
Jahrhundert. Laut der Inschrift hat ein N. Popidius Celfinus ihn nach der
Zerstörung durch das Erdbeben im Jahr 63 neu erbaut. Eine Statue der
Isis in einem florartigen Gewände. Nauchpfanncn. Becken zu Waschungen,
Hieroglyphentnfeln, Gemälde, welche die Andacht der Gläubigen vor einem Tem¬
pel darstellen, auf dessen Stufen Sphinxe lagern. Instrumente, die bei der
rauschenden Musik gebraucht wurden, die diesen Gottesdienst begleitete, Klapper¬
bleche und Krotalien: diese und andere Ueberreste fordern die Phantasie auf,
sich die Scenen zu vergegenwärtigen, deren Schauplatz diese Räume waren.
Neben Isis wurde Osiris. der (ursprünglich nicht ägyptische) Todes- oder
Sonnengott Serapis. der hundsköpfige Anubis (den die Römer mit Mer-
cur identificirten) und das geheimnißvolle Kind der Isis und des Osiris Ho-
rus oder Hnrpokrates verehrt. Schon im ersten, am meisten aber im dritten
Jahrhundert gingen mehre Kaiser mit dem Beispiel eifriger Betheiligung an
diesem Dienst voran. Der eigenthümliche und fremdartige Pomp, mit dem
er sich umgab, trug ohne Zweifel nicht am wenigsten zu seiner Ausbreitung
bei. Appulejus schildert eine Procession an einem Jsisfest in Korinth. Sie
wird eröffnet durch einen Maskenzug. Soldaten, Jäger, Gladiatoren, ge-
schmückte Damen, Beamte mit ihren Jnsignien, Fischer und Vogelsteller: ein
zahmer Bär in weiblichem Costüm wird auf einem Tragsessel getragen, ein
Affe stellt mit phrygischer Mühe und goldnem Becher den Ganymed vor, ein
Esel mit Flügeln paradirt als Pegasus, daneben geht ein alter Mann als
travestirter Bellerophon. Dann folgen Dienerinnen der Isis, in weißen Klei¬
dern, bekränzt, sie streuen Blumen und wohlriechende Essenzen und machen
Geberden mit Spiegeln und Kämmen, als wenn sie der Göttin behilflich
wären sich zu schmücken; dergleichen Ceremonien wurden z. B> auch in den
Tempeln der Minerva und Juno auf dem Capital zu Rom vor den Götter¬
bildern vollzogen. Nach ihnen kommt ein Zug aus Personen beiderlei Ge¬
schlechts bestehend, die Fackeln, Lampen und Wachskerzen tragen, gefolgt von
weißgekleideten Sängern und Spielern. Hinter diesen gehen die Eingeweihten
einher, alle in reinen linnenen Kleidern (der unerläßlichen "Tracht, da sie sich
nicht durch Berührung thierischer Stoffe verunreinigen dursten), die Männer
mit glattrasirten Köpfen, die Frauen gesalbt und in Schleierer: alle schwingen
Sistren (Klapperbleche). . Nun erst erschienen die Priester, die Lampen, Palm-
zweige, Altäre, allerlei Gefäße, ein Bild des hundsköpfigcn Anubis, eine schwarze
Kuh u. f. w. trugen, zuletzt das Symbol der Göttin selbst, eine eigenthüm¬
lich geformte, mit hieroglyphischen Bildern bedeckte Urne.
Außer den hier geschilderten Culten könnten noch manche andere genannt
werden (z. B. die Verehrung der vergötterten Kaiser), aber es genügt, die
verbreitetsten und für die religiösen Zustände des spätern Alterthums vorzugs¬
weise charakteristischen hervorzuheben, um die Revolution anschaulich zu machen,
die der römisch-griechische Götterglaube während der ersten nachchristlichen
Jahrhunderte erlitt. Im ersten (reden die Erscheinungen der Göttermischung
nur vereinzelt auf, einige Dienste von Frcmdgöttern erscheinen noch garnicht,
andere wenig verbreitet, im zweiten drängen sie sich bereits massenhaft in
den Vordergrund, im dritten erreicht dieser Proceß seinen Höhepunkt. Die
rohe Häufung heterogener Culte hat Lucian mehr als einmal witzig verspottet.
In einer Göttervcrsammlung soll Hermes aus Zeus Befehl die Götter nach
der Kostbarkeit und dem Kunstwerth ihrer Bildsäulen ordnen, dann wird den
goldenen vor den marmornen der Vorzug eingeräumt und so kommt es, daß
Bendis, Anubis, Atyis, Mithrcis und ein asiatischer Mondgott die obersten
Plätze erhalten, bei einer Göttermahlzeit dagegen werden Atyis und Saba-
gios „die zweifelhaften und aus der Fremde angezogenen Götter" untenan
neben Pan und die KorybanKn gesetzt. Ein andermal gehn die Götter zu
Rath über die Menge neuer Eindringlinge von zweifelhafter Berechtigung,
Momos meldet sich zum Reden und kritisirt unter andern die orientalischen
Gottheiten. Mithras im medischen Kaftan und Tiara gehöre nicht in den
Olymp: er könne nicht einmal griechisch und verstehe nicht, wenn man ihm
zutrinke. Noch weniger seien die Aegypter zu dulden; der hundsköpfige bel¬
lende, in seinen Sindon gekleidete Anubis, der Orakel ertheilende Stier Apis,
und vollends die Ibisse, Affen und Böcke. Momos stellt daher den Antrag,
in Erwägung, daß sich viele unberechtigte, kauderwelschende Leute aus allerlei
Ländern unter die Götter eingedrängt haben, Ambrosia und Nektar auszugehn
anfängt, und das Maß bei der starken Nachfrage bereits auf eine Mine ge¬
stiegen' ist. serner die fremden Eindringlinge sich unverschämt vordrängen und
die alten Götter ihrer Plätze berauben: eine Commission von sieben vollbe¬
rechtigter Göttern einzusetzen, welche die Legitimation jedes einzelnen prüfen soll.
Zeus bringt diesen Antrag nicht zur Abstimmung, da er voraussieht, daß die
Majorität dagegen sein werde, sanctionirt ihn aber ohne Weiteres und weist
die sämmtlichen Götter an. zu der bevorstehenden Prüfung sich die nöthigen
Nachweise zu verschaffen, als Namen der Eltern, Angaben woher und auf
welche Weise sie Götter geworden seien u. s. w.
Doch diejenigen, die sich wie Lucian gegen allen Götterglauben negirend
verhielten, haben ohne Zweifel in der Zeit der überhandnehmenden Super¬
stition nur eine verschwindend kleine Minorität gebildet. Die große Masse
wurde sich schwerlich der Widersprüche bewußt, die in der Durcheinanderwir-
nmg der Religionen lagen, und begrüßte vielmehr jeden neuen Cultus als
eine Ergänzung ihrer noch unvollständigen Erkenntniß der unendlichen Götter-
Welt. Aus dem Bedürfniß der Anbetung so vieler verschiedenartiger Mächte
ging eine eigenthümliche conipendiarische Form von Idolen hervor, die soge¬
nannten Pantheen, wo ein Götterbild mit den Attributen vieler andern aus¬
gestattet wurde und diese zugleich mit repräsentirte.
Wenn aber auch die große Mehrzahl der Glaubensbcdürftigen ohne zu
reflectiren die widersinnige Häufung und Vermischung der Göttcrdienste hin¬
nahm und mit der Beobachtung unverstandener Ceremonien der verschiedensten
Culte die Pflichten der Frömmigkeit zu erfüllen glaubte, so strebten die Ge¬
bildeten und Denkenden um so eifriger nach einer Lösung der Widersprüche,
nach einer Vergeistigung der seltsamen und vielfach widerwärtigen oder lächer¬
lichen Formen, nach einer höhern Auffassung, die in Harmonie verwandeln
sollte, was dem nüchternen Sinn als ein wüstes Gewirr erschien. Diese
Tendenz äußerte sich auf mehr als eine Weise. Theils erklärte man die ver¬
schiedenen Götter als Ausdrücke eines und desselben göttlichen Wesens, wie z. B.
Isis, die „millionennamige". in jenem Roman des Appulejus ihrem Verehrer
sich selbst als identisch mit den Hauptgottheiten aller Völker darstellt, und die
Monumente (besonders Amulete) sind zahlreich, auf denen Zeus. Hades, Seraprs
und der Sonnengott für einen und denselben erklärt werden. Theils faßte
man die Götter des Volksglaubens als Wesen auf. die zwischen der Schöpfung
und der höchsten Gottheit in der Mitte stehen sollten, und mit dieser Auffassung
die im Neuplatonismus ihre umfassendste Ausführung, fand, ging eine alle¬
gorische Erklärung des Volksglaubens Hand in Hand. Mit dieser Richtung auf
eine höhere Auffassung und Vergeistigung der Götter verband sich sehr natürlich
das Streben, den Farmer der verschiedenen Culte durch Symbolisirung eine
tiefere Bedeutung beizulegen, die äußerlichen Bußen und Sühnungen zu Mit¬
teln einer innern Reinigung und Heiligung zu erheben. Diesem Bedürfniß
einer innigern Gottesgemeinschast verdankten die Mysterien eine Wiedergeburt.
Zu den altberühmten Tempeln, in denen geheimnißvolle Weihen stattfanden,
strömten wieder die Andächtigen, die durch Theilnahme an den hier verheiße¬
nen Offenbarungen einer höhern Seligkeit im Jenseits theilhaft zu werden
hofften, namentlich haben die eleusinischen Mysterien ihr Ansehn bis in die
letzte Zeit des Alterthums behauptet. Die Vorstellungen von dieser Seligkeit
werden freilich bei den meisten materiell genug geblieben sein. Ein kürzlich
wieder entdecktes Grabgewölbe in der Nähe von Rom enthält Gemälde, die
das andere Leben derer darstellen, die in die Mysterien des Sabagios eingeweiht
waren. Eine Figur mit der Beischrift: der gute Engel (ein Beispiel, wie jü¬
dische und christliche Vorstellungen sich in die universelle Theokratie der spätesten
Zeiten verwebt haben) führt eine Verstorbene zu einem Gastmahl von sechs
Seligen von verschiedenem Alter und Geschlecht, denen Knaben Speisen vor.
setzen, über diesen Figuren liest man: die durch das Gericht der Guten gerich¬
teten. Ein anderes Bild zeigt ein ähnliches Mahl, an dem „sieben fromme
Priester" (des Sabagios und Mithras) Theil nehmen. Wie die morgenlän-
dischen Gottesdienste überhaupt, so traten auch ihre Mysterien in den religiö¬
sen'Zuständen der letzten Jahrhunderte am meisten in den Vordergrund. Hier
wurde von den Einzuweihenden Enthaltsamkeit und Bußen, sogar Ascese
gefordert, und grade diese Strenge gab ihnen ohne Zweifel die meiste An¬
ziehungskraft für die Gemüther der Gläubigen, weil diese glauben durften,
durch die gebrachten Opfer der Gemeinschaft der Gottheit und der Seligkeit,
nach der sie strebten, würdiger geworden zu sein. Die Natur der Mysterien
bringt es mit sich, daß wir wenig von ihnen wissen, am meisten von den
beiden angesehensten, denen der Isis und der Taurobolien. Von den erstem
theilt Appulejus in dem mehrerwähnten Roman etwas mit, dessen Held, durch
Isis' Gnade aus der Eselgestalt entzaubert, sich zu ihrem Diener weihte. Die
Priester verhießen den Theilnehmern sogar schon im irdischen Leben ungetrübtes
Glück; wen die Göttin in ihren Schutz genommen habe, der sei den Wechsel¬
fällen des Schicksals entzogen und wie in sicherm Hafen geborgen. Die Auf¬
nahme unter die Eingeweihten wird als sehr schwierig dargestellt. Wer sie
wünscht, darf sie nicht eher hoffen, als bis die Göttin ihm im Traum ihre
Zustimmung zu erkennen gegeben hat, und eben so wenig darf sie ein Priester voll¬
zieh», ohne auf dieselbe Weise.den Befehl dazu erhalten zu haben, wer es
ohne diesen wagte, würde eine Todsünde begehen. Hatte die Göttin ihren
Willen kundgegeben, so begannen die Ceremonien mit der Eröffnung geheimni߬
voller, mit Hieroglyphen bedeckter Bücher; aus diesen theilte der Priester dem
Einzuweihenden mit, welche Vorbereitungen er zu machen habe, T)ann folgte
ein Bad, abermalige geheime Eröffnungen, eine zehntägige Enthaltsamkeit von^
Wein, gewissen Speisen und Wollust, Beim Anbruch des zur Weihe bestimm-*
ten Tages wurde der Prosclyt von seinen Freunden beschenkt, und nun in
einer Hülle von grober Leinwand ins Innere des Tempels geführt. Was
hier vorging, darf der Verfasser natürlich den Lesern nicht verrathen. Nur
so viel deutet er an. daß man symbolisch sterben mußte, dann aber durch die
Gnade der Göttin, in deren Hand die Schlüssel des Todes und des Lebens
liegen, aufs neue geboren wurde, um die Bahn des Heils zu betreten. „Ich
betrat die Grenze des Todes, und nachdem ich Proserpinens Schwelle beschüt¬
ten, kehrte ich durch alle Elemente hindurchgetragen, zurück. Um Mitternacht
sah ich die Sonne mit Hellem Licht strahlen, ich schaute die Götter der Unter¬
welt und des Himmels von Angesicht zu Angesicht und betete sie an." Am
Morgen wurde der Neugeweihte vor das Bild der Göttin in der sogenannten
olympischen Tracht gestellt, in welche allerlei Thiere, als indische Drachen und
Greifen eingestickt waren; in der Rechten hielt er eine brennende Fackel, über¬
dies trug er einen Kranz von Palmblättern, die sein Haupt gleich Strahlen
umgaben. Später begibt sich der neue Jsisdicner nach Rom. wo er auch in
die Mysterien des Osiris aufgenommen wird. Abermalige Träume, aber¬
malige Bezahlungen von Gebühren (die nicht unbedeutend gewesen zu sein
scheinen) finden dabei Statt. Wie viel man bei jenen Andeutungen über die
Isismysterien einer überreizten Phantasie, wie viel den Phantasmagorien
(die ohne Zweifel dabei stattfanden) zuschreiben soll, wie viel dabei symbolischer
Ausdruck ist. das wird natürlich ein ewiges Räthsel bleiben.
Noch .viel strenger als die Büßungen der Jsisdicner waren diejenigen,
die der Aufnahme in die Mithrasmysterien vorausgingen, Fasten, Geißelungen
und andere selbstaufgelegte Martern verschiedener Art, die zum Theil auf den
Reliefs der Mithreen dargestellt sind. Die Eingeweihten rückten nach und nach
Zu verschiedenen Stufen vor, es gab einen Grad der Löwen, der Naben, der
Väter; die Vorsteher der einzelnen scheinen Väter der Löwen u. s. w. geheißen
ZU haben.
Auch die Taurobolien und Kriobolien (Stier- und Widderopser) stellten
symbolisch eine Wiedergeburt durch eine Reinigung dar. Das Opfer des Stiers
6alt zunächst der großen Mutter, das des Widders dem Atys, aber die Cere¬
monie wurde auch mit andern Culten, namentlich dem des Mithras in Ver¬
bindung gesetzt. Der Einzuweihende stieg in einer' bestimmten Tracht mit
einem goldnen Kranze in eine Grube, die mit einem durchlöcherten Breterbodcn
bedeckt war, auf diesem Boden wurden die Opfer geschlachtet, deren Blut nun
durch die Löcher hinabrinnend den unten Stehenden benetzte. Zahlreiche
Monumente, die von Eingeweihten zur Erinnerung an diese ihre „Wieder¬
geburt für ewig" gesetzt worden sind, lassen die Ausbreitung dieser Mysterien
vom Anfang des zweiten Jahrhunderts bis ans Ende des vierten verfolgen.
Wir schließen diese skizzenhafte Uebersicht der wesentlichsten Erscheinungen,
welche die Mischung der Religionen in den letzten Jahrhunderten des Heiden-
thums charakterisiren, mit der Betrachtung, die I. Burkhardt (a. a. O. S. 279)
an den Schluß seiner ausführlichen Darstellung gesetzt hat. „Ziehen wir die
letzten Resultate aus dem Bisherigen, so findet sich, daß nicht nur die Zersetzung
des Heidenthums als solche dem Christenthum im Allgemeinen günstig war,
sondern daß die einzelnen Spuren derselben mannigfach eine Vorahnung des
Christenthums, eine Annäherung an dasselbe enthielten. Vor allem war die
Göttermischung an sich ganz geeignet, einer neuen Religion den Boden zu
ebnen. Sie cntnationalisirte das Göttliche und machte es universell; sie brach
den Stolz des Griechen und Römers auf seinen alten einheimischen Cultus;
das Vorurtheil zu Gunsten alles Orientalischen mußte nach langem Herumirren
im bunten Gebiet des Wahns am Ende auch zu Gunsten des Christenthums
durchschlagen. Sodann war der wesentliche Inhalt der spätheidnischen An¬
schauungen dem Christenthum gradezu analog; der Zweck des Daseins wird
nicht mehr aus das Erdenleben, seine Genüsse und Schicksale allein beschränkt,
sondern auf ein Jenseits, ja ans eine Vereinigung mit der Gottheit ausgedehnt.
Durch geheime Weihen hoffen die Einen sich der Unsterblichkeit zu versichern;
die andern wollen sich durch tiefe Versenkung in die höchsten Dinge oder auch
durch magischen Zwang der Gottheit aufdringen; alle aber-huldigen dem
wesentlich neuen Begriff der bewußten Moralität, die sich sogar bis zur Kasteiung
steigert und wo sie nicht im Leben durchgeführt wird, doch wenigstens als theo¬
retisches Ideal gilt. Die Spiegelung hiervon findet sich wieder in dem philo¬
sophischen Wegschaffen und Andenken der griechischen Mythen, welche zu jenem
Standpunkt nicht paßten. Dem Monotheismus nähert sich das sinkende Heiden-
thum wenigstens stellenweise durch merkwürdige Aufschwünge, mochten dieselben
sich auch bald in den Netzen des Dämonenglaubens verfangen. Ob die Heiden
sogar bis zu einem Bewußtsein der Sünde durchdrängen, mag sehr zweifelhaft
erscheinen; die Voraussetzungen dazu aber sind deutlich vorhanden in der neu-
platonischen Lehre, welche das Eintreten der Seele ins irdische Leben als einen
Fall, ihren Austritt als eine> Art Erlösung bezeichnet."
„Das Christenthum mußte guf die Länge siegen, weil es alle diese Fragen,
um deren Lösung sich jene zählende Zeit so sehr bemühte, ohne allen Ver¬
gleich einfacher und in einem großartigen einleuchtenden Zusammenhang
beantwortete."
Durch die Kammerwahlen waren allerdings die gouvernementalen Hoff¬
nungen nicht positiv im erwarteten Maß erfüllt worden. Ader man schmei¬
chelte sich, mit der zusammentretender Kammer insofern leichteres Spiel zu
haben, als mit der vorhergehenden, weil man mindere Discussionen um con-
stitutionelle Principe erwartete. 31 Gutsbesitzer. 10 Handelsmänner, 14 Ge-
werbsmeister und 14 Oekonomen. zusammen 68 Personen, vermeinte man so
ziemlich durch materielle Concessionen d. h. Sparsamkeitsversprcchungen der
Regierungspartei versichern und eventuell als Kopfzahl zu den sonstigen Gou¬
vernementsfreunden rechnen zu dürfen. Die gutgesinnte-Presse war auch eif¬
rig bemüht, den gewordenen Herren Deputaten recht sorgfältig zu demon-
striren, wie mit Principienrciterei nichts, dagegen mit einer „aus dem Leben
stammenden Praxis" die größten Vortheile erreicht würden. Neunzig ImininsK
novi waren auch nicht zu verachten. Man durfte glauben, daß dieselben
durch die Lectüre der wüstendürren Mutterprotokolle und der sehr spät erschei¬
nenden stenographischen Berichte an den vorhergehenden Kammerdebatten
auch nicht so intimen Antheil genommen, um zu wissen, wie die Kammer sich
keineswegs vorzugsweise in theoretischer Principicnreiterei und doctrinärer Con-
sequenzenmacherci umhergetrieben, sondern mit den beweisenden Zahlen und
unleugbaren Thatsachen in der Hand zu so scharfen Conflicten mit der gou-
vernementalen Praxis und zu so schweren Klagen gegen die administrativen
Uevcrgriffe gelangt war.
Immerhin förderte man jedoch das „conservative Interesse" auch noch
durch besondere Maßregeln. Dahiir rechnen wir nicht die grundgesetzwidrige
Polizeiliche Revision, resp, präventive Zurückhaltung ausländischer Zeitungen,
welche durch die Postämter an ihre baienschen Pränumcrcmten hätten gelangen
sollen. Auch die Verurtheilung auswärtiger Redacteure und Verleger wegen
Preßvergehen zu vierjähriger Gefängnißstrafe, während andere Staaten sich
^>r Uebung eines solchen exterritorialen Straftcchts nicht befugt erachten,
ändern sich mit Fernhaltung der ihnen anstößige» Blätter von ihren Grenzen
^ungen. welche in Baiern ebenfalls geübt wird — sei nicht hierher gezählt.
Mo-n ging positiver zu Werte. Die Regierung veranlaßte nämlich die hervor¬
ragenderen Mitglieder des Adels jeder Provinz, sich unter sich, wie auch mit
dem Adel der andern Regierungsbezirke zu verständigen, um gemeinsame
Wünsche und Entwürfe zu formuliren. damit „Schritte zur Reorganisation der
Aristokratie von innen heraus" gethan werden könnten — wie die officielle
N, Münchner Zeitung sich ausdrückte. Als wünschenswerte Ziele dieser Reor¬
ganisation bezeichnete sie! Förderung der Gründung von Fideicommissen und
Majoraten, Vermehrung des Grundbesitzes der genossenschaftlichen Familien,
Stiftungen für die Ausbildung der adeligen Söhne und für standesgemäße
Versorgung der unverehelichten Fräuleins, Theilnahme an den allgemeinen
Landesinteressen, wie an den Bezirks- und Gemeindeangelegenheiten, „im Sinn
eines echten Conservatismus." Außer etwelchen Konferenzen adeliger Grund¬
besitzer erfuhr man seitdem freilich nichts über den segensreichen Fortgang
dieser officiell protegirten Adclskette. Jedenfalls entfaltete sie ihre Wirksam¬
keit auch nicht vollkommen auf parlamentarischem Felde. Denn der damals
gewählte Landtag, in dessen zweiter Kammer 13 adelige Gutsbesitzer Platz
nahmen, ist eben der am 30. Sept. 1853 aufgelöste. Und selbst die Reichs¬
rathskammer, welche so viele grundbesitzende hochadelige Elemente zählt, ist
seit 1849 dem Ministerium Pfordten niemals so schroff begegnet, als grade
in der Session von 1855—56.
Am 1. Sept. 1855 trat der neue Landtag zusammen, erst am 15. er¬
öffnete ihn die Thronrede des Königs. Die Constitnirungsarbeiten zeugten
bereits dafür, daß man doch wol zu früh über die wohlgelungene Komposition
der neuen Landesvertretung gejubelt hatte. Das Bureau des unveränder¬
lichen Neichsraths blieb natürlich genan das frühere. Doch weniger wohl¬
gefällig erschien der Conservatismus der zweiten Kammer, welche den frühern
ersten Präsidenten, Graf Hegncnberg-Dux, einen der schärfsten finanziellen und
Kriegsverwaltungskritiker, neben ihm seinen Kampfgenossen, Dr. Paur aus
Augsburg, aus den Präsidentensessel berief. Et-was versöhnend wirkte die Sc-
cretariatswahl, welche sich wiederum den wohlbeliebten Herren nar und Maier
zuwendete. Dagegen die Ausschüsse— lauter unabhängige, constitutionelle
Männer, darunter die Führer der Opposition in der aufgelösten Kammer, kein
einziger der höheren Verwaltungsbeamten als Gegengewicht, auch die kleri¬
kalen Elemente meistens übergangen! Und von den pfälzischen Abgeordneten?
Kein einziger war gewühlt, weil man bereits die stärksten Bedenken gegen die
Gesetzmäßigkeit ihrer Wahl hegte.
Die Thronrede berührte die vorausgegangene Kainmerauslösung nicht ein¬
mal andeutungsweise, betonte dagegen namentlich die Tractanden materiellen
Charakters, nannte andere Aufgaben kaum vorübergehend. Mit der gewohn¬
ten Paraphrase der königlichen Worte antworteten die Reichsrathe; anders die
zweite Kammer. Lauter Mitglieder der früheren Opposition ernannte sie in
die Adressccommission, diese Herrn v. Lerchenfeld zu ihrem Referenten. Hatte
die ausgelöste Kammer, deren Principienreiterei vom Ministertisch mit so
ernsten Verweisen beehrt worden war, ihre eigentlichen Oppositionskämpfe
ganz speciell mit Thatsachen und Zahlen gefochten, so begann die gegenwär-
tige, welche man für so außerordentlich empfänglich für materielle und posi¬
tive Gegenstände hielt, ihre Thätigkeit sofort mit der Discussion von Princip-
fragen. Jedermann erinnert sich wol noch, mit welcher Freude ganz Deutsch¬
land den tapfern nationalen Sinn begrüßte, welchen sie in ihrer Adreßdebatte
sundgab. indem sie eine, ausschließlich vom Ministerpräsidenten mit zwei Pfar¬
rers »erfochtene, ganz farblose Erwähnung der Bundesverhältnisse abwies
und gegen blos zwei Stimmen den Satz beschloß: „Deutschlands Eintracht
und Stärke, die gedeihliche Entwicklung des Bundes kann nur dadurch für
alle Zukunft gesichert werden, daß die schon so lange sehnlichst erwartete und
feierlich verheißene Ausbildung der Bundesverfassung den Völkern Deutsch¬
lands die unschätzbare Wohlthat eines gesicherten Rechtszustandes gewährleiste,
ihrer Stimme auch am Bunde, wo ihre wichtigsten Angelegenheiten verhan¬
delt werden. Gehör verschaffe und Beachtung.sichere." Darüber vergaß sie
jedoch keineswegs, auch daran zu erinnern, wie manche Bereiche des baie-
rischen Staatswesens dessen bedürftig seien, daß darin „Ordnung und Rechts¬
sicherheit geschaffen und gewahrt werde." Was sich aber in den Sätzen
der Adresse blos in andeutenden Formeln kundgab, das nannte die Debatte,
ganz aus den Erörterungen der vorigen Session fortdauert, den Ministern
nicht blos klar und deutlich, sondern auch derb.
Unmittelbar nachher begannen die Wahlprüfungen. Indem man das
ganze Wahlverfahren mit den gouvernementalen Einwirkungen aus den ver¬
schiedensten konstitutionellen Standpunkten einer Kritik unterwarf, welche kaum
beschämender erdacht werden konnte, ging man doch bei der Wahlprüfung
selbst, wie es das Commissionsgutachten vorschlug, blos auf die formellen.
Unregelmäßigkeiten der angezweifelten Wahlacte ein. So wenig vermochte
aber die Regierung den Beweisen sür ungesetzliche Einwirkungen der Beamten
entgegenzustellen, daß sie nicht eine einzige der angegriffenen Wahlen aufrecht
erhalten konnte, das Versprechen zur Einleitung strengster Untersuchung be¬
schwichtigend abgab und endlich selber ein< Revision sämmtlicher pfälzischer
Wahlen beantragte. Die bereits zurückgewiesenen Abgeordneten waren sämmt-
lich Negicrungsccmdidaten. Noch suchten einige Übriggebliebenen derselben
Farbe aus der Pfalz gewissermaßen einschüchternd dadurch auf die Kammer
zu wirken, daß sie freiwillig ihren Austritt erklärten. Aber die Kammer
^lug das Gesuch ab. untersuchte auch ihre Wahlen und befand auch diese
"ugiltig. Die jetzt vollzogenen Neuwahlen, deren Ergebnisse noch vor dem
Jahresschluß (14. Dec.) als vollkommen regelmäßig anerkannt wurden, sielen
fast ausnahmslos auf frühere Deputirte. Von der verheißenen Untersuchung
gegen die bei den annullirten Wahlen betheiligten Beamten verlautete länger
als ein Jahr keine Silbe. Erst 1857 hieß es einmal beiläufig, daß die an-
gestellte Untersuchung kein ungesetzliches Verfahren nachgewiesen habe. Da-
gegen konnte die Pfälzer Zeitung schon vor Beendigung der Neuwahlen mit
Genugthuung von einem königlichen Handschreiben an die beiden Verwaltungs-
chess der Pfalz melden, „in welchem diesen bewährten Beamten für ihre alle
Zeit treue Pflichterfüllung die allerhöchste Anerkennung mit dem Bemerken aus¬
gesprochen wurde, daß Se. Majestät solche treue Diener zu schützen wisse und
dieselben jederzeit der königlichen Huld und Gnade versichert sein dürften."
Diese Wahlsragen hatten indessen die Kammer nicht gehindert, durch Vota
für provisorische Forterhebung der Steuern, für den Fortbestand des Lottos
bis zum Jahresschluß, für Anerkennung der Staatsabrechnungen von 1852—53
u. f. w., den nächsten Wünschen und laufenden Bedürfnissen der Staats¬
regierung in conscrvativster Weise Rechnung zu tragen. Indessen sollte das
alte Jahr nicht enden, ohne mit dem wieder eingebrachten Gerichtsvrganisa-
tionsgesetz die principiellen Kämpfe abermals auf die Tagesordnung zu stellen.
Diese Gerichtsorganisation war bekanntlich ein leidiger alter Streitpunkt, der
überdies eigentlich seit Jahren parlamentarisch erledigt und ganz ausschließlich
durch die Regierung noch immer hingeschleppt war. Denn schon 1850 war
das diesfällsige Gesetz nach langen, überaus unerquicklichen Verhandlungen da¬
durch zur Annahme gelangt, daß die damalige Lerchenfeldsche Majorität (des
Centrums). Um nur überhaupt nach dieser Seite hin eine Entwicklungsbewe¬
gung herzustellen, auf alle ihre principiellen Bedenken gegen den Regierungs-
cntwurf verzichtet und denselben mit höchst geringen Modificntionen zum Be¬
schluß erhoben hatte. Allein auch dies äußerste Maß parlamentarischer Nach¬
giebigkeit und Selbstverleugnung war erfolglos geblieben. Das Gesetz blieb
unausgeführt, nichts deutete darauf, daß selbst nur an die ersten Vorberei¬
tungen für sein Jnslebentreten gedacht werde. Umsonst waren auch mehrfache
ernste parlamentarische Mahnungen daran geblieben; man hatte sich selbst
nicht gescheut, die Person des Königs, seine persönliche Abneigung gegen die
Bestimmungen des Gesetzes den Angriffen ans die Staatsverwaltung als Schild
entgegenzuhalten und dadurch die parlamentarischen Mahnungen wie Feind¬
seligkeiten gegen die geheiligte Person des Staatsoberhauptes zu drapiren.
Unterdessen litt aber das Justizwesen unter den schwersten Mißstünden. Na¬
mentlich waren die Landgerichte, weil ohne bestimmte Begrenzung ihrer Kom¬
petenz, von einer solchen Unmasse der verschiedenartigsten und unerledigten
Geschäfte überflutet, daß selbst die offizielle und offiziöse Presse nicht in Ab¬
rede zu stellen vermochte, wie bei der Fortdauer dieser Zustünde ein allgemeiner
Geschäftsbankerott fast unausweichlich werde. Dennoch bedürfte es neuer und
energischer Mahnungen und der Drohung, die Budgetbewilligungen davon
abhängig zu machen, ehe ein revidirter Gesetzentwurf mit denjenigen Modi-
ficationen, welche die Staatsregierung für unumgänglich erklärte, der Kammer
vorgelegt wurde. An der Spitze des begutachtenden Ausschusses stand nun
einer der ersten Rechtsgelehrten des Landes, als solcher und als strengconser-
vativer Mann von den Regierungsorganen selbst bei den verschiedensten Ge¬
legenheiten anerkannt. Aber der neue Entwurf entsprach den einfachsten Prin¬
cipien, auf denen nothwendig jede Organisation der Gerichte beruhen muß,
so wenig, daß der Ausschuß positiv gar kein Gutachten abgeben konnte und
die Regierung (30. Jan. 1856) denselben zurückzog.
Während sie innerhalb dieses Ausschusses so erfolglos kämpfte, focht sie
auch vor der Kammer mit kaum größerem Glück. Bei den Discussionen über
die Personal- und die Capitalrcntensteuer vermochte sie weder den Modus
der, Besteuerung, noch besonders die beabsichtigte Beschränkung der Autonomie
der Steuerausschüsse durchzusetzen, obgleich sich die Reichsrathe hier mit ihren
Principien verbündeten. Nicht viel anders bei den Eisenbahngesctzen. Denn
obgleich schließlich die abermals für die annahm-salzburger Bahn geforderte
Summe bewilligt wurde, nachdem die früher bewilligten 10 Millionen aus
eigner Machtvollkommenheit der Minister für andere Zwecke verwendet worden
waren, so war doch dieser materielle Sieg in beiden Kammern von den
härtesten moralischen Niederlagen des Gouvernements begleitet. Auf Privat¬
wegen hatte man namentlich vor der Discussion in der zweiten Kammer die
erstaunlichsten Anstrengungen gemacht, die constitutionelle Majorität zu zersplit¬
tern, ihre einflußreichen Führer zu isoliren, den Troß zu verblenden oder ein¬
zuschüchtern. Dennoch war es nicht zu verhindern, daß Herr v. Lerchenfeld
während der dreitägigen Debatte, als Referent des Ausschusses, mit unge¬
wohnter Lebhaftigkeit und erschreckender Detailkenntniß der Verhältnisse die
gescnnmte Eisenbahnverwaltung des Staates zu wiederholten Malen einer
wahrhaft vernichtenden Kritik unterzog. Hatte aber dieser Redner sich an
materielle Mängel des baierischen Eisenbahnwesens gehalten, so verließen nach¬
einander die Herren Graf Hegncnberg und Dr. Paur ihre Präsidentenplätze, um
die specielle Frage vom constitutionellen Standpunkt zu erörtern. Werde es
so fortgetrieben — sagten sie —, daß die Regierung die Bewilligungen des
Landtags um Millionen überschreite, andere Millionen ohne alle Bewilligung,
noch andere zu ganz andern als den vorgegebenen Zwecken verwende, dann
sei es überhaupt höchst überflüssig, eine Landesvertretung zu versammeln,
diese werde blos lächerlich gemacht, herabgewürdigt. Da sich auch andere
Stimmen, selbst der äußersten Rechten, genau in demselben Sinn und noch
stärker vernehmen ließen, so würden wahrscheinlich die oben berührten außer¬
parlamentarischen Stimmenwerbungen ebenso wenig, wie eine zweistündige,
Wit Entschuldigungen, Staatsnothwendigkeiten, Einschüchterungen und prak¬
tischen Geringschätzungen der constitutionellen Principe durchflochtene Rede des
Ministerpräsidenten den gewünschten Erfolg gehabt haben, wenn nicht im
Momente vor der Abstimmung der abermals revidirte Gesetzentwurf über die
Gerichtsorganisation eingebracht worden wäre, dessen Zurückziehung bisher als
willkommene Gelegenheit zur abermaligen Vertagung dieser Frage betrachtet
worden war (8. Mürz.).
Allein die Freude über den materiellen Sieg des Gouvernements sollte
nur kurz sein. Denn schon wenige Tage nachher (15. März) sprachen bei der¬
selben Frage die Reichsrathe ihre politische Unzufriedenheit mit dem Mini¬
sterium nicht weniger demüthigend aus. Dies, theils im Ausschußreferat, theils
durch den Mund des greisen Grasen K. Seinsheim (Finanzminister unter Abel),
welcher nur der praktischen Sachlage zu Liebe auf eine Ministeranklage oder
WiederersatMagc zu verzichten, dagegen der Bewilligung die entschiedenste
Mißbilligung des ministeriellen Verfahrens und eine energische Verwahrung
gegen die Wiederkehr ähnlicher Vcrfassungswidrigkeitcn beizufügen rieth. Und
diese demüthigend motivirte Bewilligung wurde gegen blos drei Stimmen
beschlossen, obgleich der Ministerpräsident abermals eine Reue- und Entschul¬
digungsrede gehalten hatte.
Es stürmte jetzt aber von allen Seiten. Denn in der „untern Schwester¬
kammer" hatte unterdessen, nach rascher Erledigung mehrer Gesetze von mehr
localen Interesse, die Budgetdebatte ihren Anfang genommen. Bei allen ein¬
zelnen Positionen wurde die Regierung vor Großmannssucht ihrer äußern
Politik gewarnt, an sorgsame Gcbahrung mit den Staatsgeldern gemahnt.
Namentlich wurde auch nachgewiesen, als der Militäretat sich abermals er¬
höht zeigte, wie wenig die praktischen Resultate der stets in den Vordergrund
gestellten Reorganisation dem seit 1848 darauf verwendeten Mehr von 20
Millionen Fi. entsprächen; besonders da die angebliche Vernachlässigung des Heer¬
wesens vor 1848 durchaus nicht so arg gewesen sei, als man sie vom Minister¬
tisch zu schildern beliebe. Hier dem Unglauben an seine Worte begegnend
betonte das Gouvernement seine Bundesverpflichtungen desto stärker. Damit
beschwor es jedoch einen noch unliebsamen Geist, die deutsche Frage, Vaierns
Stellung zu ihr. So oft er letzterer gedenke, äußerte der Führer des Cen¬
trums, Herr v. Lerchenfeld, erfasse ihn der bitterste Schmerz. „Allein wozu
nutzlos reden? Man muß sich eben streng in das Unvermeidliche fügen, so
lange man es ertragen zu können glaubt." Der Führer der Linken, Fürst
Wallerstein, erinnerte das Ministerium an all die getäuschten Hoffnungen auf
Erfüllung seiner heiligsten Versprechen und zuverlässigsten Verheißungen für
Volksvertretung beim Bunde. Der Führer der äußersten Rechten, Herr v.
Lnssaulx. endlich nannte „nach all den gescheiterten Hoffnungen der Jahre
48 und 49" die Gründung des germanischen Museums zu München als ein¬
ziges Ueberbleibsel. Es sei gelungen, dem Volk alle Freude und Liebe an
nationaler Politik zu verderben, das politische Deutschland nicht aufkommen
zu lassen, man könne blos noch für das literarische seine Wünsche hegen. So
sprachen die Führer der drei großen Bestandtheile der Kammer — welche
Stimme blieb für die ministerielle Politik der Stellung Baierns zu Deutsch¬
land? Blos der Ministertisch. Welches aber war das praktische Ergebniß?
Abänderung aller Budgetpositionen um sehr bedeutende Summen, welche mit
Ausnahme des persönlich protegirten Armeebudgets auch von den Reichs-
räthcn gutgeheißen wurden. Aber grade im Armcebudgct blieb die Kammer
unbeweglich auf ihren Beschlüssen, sie hatte ein zu gutes Gedächtniß sür die
hierher gehörigen Vorgänge der letzten Session und wollte grade hierin von
neuem ihre Ueberzeugung für die wohlbegründeten Ausstellungen der aufgelösten
Kammer bezeugen. So kam kein Gesammtbeschluß zu Stande; und nach
der Budgetsession für die jetzt beendete sechste Finanzperiode erklärte, auf diese
Differenz fußend, später die Negierung im Landtagsabschied, daß sie „die
unabbrüchige Bestreitung der nothwendigen Ausgaben anordnen werde".'
Voraussichtlich erneut sich also beim nächsten Finanzlandtag auch wieder der
Streit um die Soldatentosten. Dies um so mehr, als sich die jährliche
Differenz zwischen der Negierungssorderung und der ständischen Bewilligung
auf mehr als 1 Million Fi. beläuft und selbst nach der parlamentarischen Ver¬
abschiedung des Gesammtbudgets ein jährliches Deficit von 1,799,415 Fi.
bleibt. (Iahresausgabe 41,396,862 Fi., Einnahme 39,597,415 Fi.)
Während die Budgetdebatten noch liefen, war nun das Gerichtsorga¬
nisationsgesetz zum zweitenmal' begutachtet worden. Der revidirte Regierungs¬
entwurf, weit entfernt eine wirkliche Gerichtsorganisation zu wollen, hatte nur
einzelne Justizgcbrechen beseitigt. Da die Verhandlungen mit der Regierung
diesmal ganz erfolglos blieben, emendirte der Ausschuß die Vorlage so voll¬
ständig, daß eigentlich von der Regierungsvorlage nichts übrig war. Der
Referent, Dr. Edel, motivirte dieses Verfahren in einem ebenso überzeugenden,
als schmucklosen, doch eben dadurch um so wirkungsvolleren Vortrage, welcher
zugleich nachwies, wie auch die Ausschußanträge sich selber keineswegs ge¬
nügten, sondern nur die Durchführung des lbereits praktisch Erreichbaren er¬
strebten, alles Uebrige einer günstigeren Zukunft überlassend (4. Juni). Ein¬
stimmig beschloß die Kammer, auf jede weitere allgemein principielle Debatte
zu verzichten, nachdem der Ausschuß ihre Ansichten so erschöpfend dargelegt
habe. Aber bereits der principielle 1. Artikel war wesentlich emendirt. Um¬
sonst focht das hart angegriffene Ministerium für seine Lorlage, umsonst er¬
klärte es, daß die Ausschußanträge die höchste Sanction nie und nimmer fin-
würden. Die Kammer genehmigte sie. Pflichtgemäß fragte der Präsident,
ob nach dieser ministeriellen Erklärung und dem Ausfall der Abstimmung
nicht überhaupt auf eine weitere Debatte zu verzichten und die Negierung zur
Zurückziehung des Entwurfs zu veranlassen sei. Die Minister erklärten sich
jedoch zu letzterem nicht ermächtigt, die Debatte oder vielmehr die specielle
Annahme aller einzelnen Artikel, wie sie der Ausschuß modificirt, wurde fort¬
gesetzt und schließlich der ganze Entwurf in dieser Form mit der ungeheuern
Mehrheit von 123 gegen blos 6 Stimmen zum Beschluß erhoben.
Konnte sich nun das Ministerium seine abermalige Niederlage in einer.
so überaus wichtigen und praktischen Frage in der zweiten Kammer nicht ver¬
hehlen, so blieb jetzt alle Hoffnung auf die Reichsrathe gestellt. Weniger,
weil man sie in so außerordentlicher Uebereinstimmung mit dem Ministerium
glaubte, als deshalb, weil eine wirkliche selbst unvollständige Gerichtsorga-
nisation verschiedene aristokratische Gewohnheiten und Machteinflüsse un¬
sanft berühren mußte. Einzelne Stimmen erhoben sich in der „obern Kam¬
mer" allerdings gegen die Beschlüsse und Grundsätze des Hauses der Ge¬
meinen (17. Juni). Aber sie waren zu schwach, um die Anerkennung der
wohlmodificirten jenseitigen Entschließungen zu verhindern und so erfolgte auch
h.ier die Annahme des Gesetzentwurfs, wie er aus jenen Berathungen hervor¬
gegangen war, mit so unwesentlichen Modificationen, daß bald nachher ein
parlamentarischer Gesammtbeschluß ohne alle weitere Debatte zu Stande kam.
Da nun unmittelbar darauf auch die königliche Sanction erfolgte, so erschienen
die lebhaften Zweifel, welche sich dagegen erhoben hatten, ob wirklich der vom
Ministcrtisch stets vorgeschobne königliche Wille die lange Hemmung dieser
Erledigung bewirkt habe, in der That mehr als gerechtfertigt. Factisch waren
damit wenigstens die ministeriellen Versicherungen vollkommen dementirt.
Wirklich schien auch die Uebereinstimmung beider Kammern bei der Frage
der München-salzburger Eisenbahn und der Gerichtsorganisation ihren ab¬
kühlenden Einfluß aus den Widerstand des Ministertisches gegen die parla¬
mentarischen Wünsche und Ueberzeugungen geäußert zu haben. Die Schlu߬
wochen der Session, welche die specielle Vorberathung der eingebrachten und
einzubringenden Gesetzbücher um besondere von den Kammern gewählte Gcsetz-
gebungsausschüsse übertrug, zeigten eine ruhigere Stimmung, obgleich in diese
Ausschüsse grade die unliebsamsten Vertreter strengconstitutivneller Grundsätze
(u. a. die Herrn v. Lerchenfeld, Dr. Weiß 0te.,) berufen worden waren. Man
konnte selbst an eine ziemlich vollständige Aussöhnung glauben, als der Land¬
tagsabschied (3. Juli), abgesehn vom oben erwähnten Vorbehalt beim Mili-
lärbudget, alle legislatorische Gesammtbcschlüsse sanctionirte. Nur die „gut-
unterrichtetcn" bairischen Publicisten grollten in der nichtbairischcn Presse mit
gelegentlichen Bemerkungen hinter dem Landtage her.
Im Anfang des Novembers 1856 wurden nun die Gesetzgebungs¬
ausschüsse berufen, konnten jedoch ihre Arbeiten erst am 1. Dec. beginnen.
Man kam von neuem mißgestimmt zusammen. Denn indem die Vorbereitungen
zur Einführung der Gerichtsorganisation getroffen wurden, zeigten die Aus¬
führungsverordnungen der Regierung, daß die beabsichtigte Minderung der
landrichterlichen discrctionären Machteinflüsse nicht nur nicht eintreten, son¬
dern sich beinahe in ihr Gegentheil verkehren sollte. Selbst die frühern Land¬
richter hatten nicht diejenige Gewalt und Befugniß, welche den neuen zugetheilt
wurde. Obgleich nun diese Frage mit der bevorstehenden „Strafrechts"- und
Polizeistrafgesctzgebung nicht in unmittelbarem Zusammenhange stand, so war
man doch durch ihre praktische Gestaltung um so mehr davor gewarnt, dem
Ermessen der Administration für die Modalitäten einer Gesetzesausführung
freie Hand zu lassen.
Die Aufgabe der Gesetzgebungsausschüsse bestand nun in der zur parla¬
mentarischen Abstimmung vorbereiteten Specialberathung einheitlicher und all-
gemeingiltiger Gesetzbücher an Stelle der mehr als dreißig verschiedenen Rechte,
welche jetzt in den verschiedenen-Landestheilen gelten. Verheißen war diese
Codification schon durch die Verfassung von 1818, aber seit vierzig Jahren,
obgleich sast jede Kammersession daran erinnert hatte, immer zurückgestellt ge¬
blieben. Nach der landtäglichen Geschäftsordnung haben die Ausschüsse, für
diesen Zweck eigens verstärkt, sogar die Befugniß, alle etwaigen Modisiccitionen
der Entwürfe so weit festzustellen, daß die Kammern ohne weitere Special-
debatte über die vereinbarten Artikel blos abstimmen. Einer Discussion in Miro
werden blos diejenigen Paragraphen unterworfen, über deren Fassung die Aus¬
schüsse sich untereinander oder mit der Regierung nicht zu verständigen vermögen.
Die Verantwortlichkeit der Gesetzgcbungsausschüsse dem Landtage und dem Lande
gegenüber ist also bei weitem größer, als bei jedem gewöhnlichen parlamentarischen
Conn6. Namentlich haben sie für die Principe der Gesetze und die logische
Konsequenz der einzelnen Bestimmungen fast ausschließlich einzustehn. Zu¬
nächst war das Strafgesetzbuch in Angriff genommen worden. Ist nun auch
aus den (im Juni 1857 veröffentlichten) Protokollen der Gang der speciellen
Verhandlungen nicht in allen Einzelheiten zu übersehn, so doch im Ganzen
und Allgemeinen. Gleichermaßen im Ausschusse der zweiten wie der ersten
Kammer machten die Rcgicrungscommissare nicht nur wegen principieller, son¬
dern auch schon wegen formeller Meinungsverschiedenheiten fast in jedem ein¬
zelnen Fall das Zustandekommen des ganzen Gesetzes von der umgeänderten
Annahme des Regierungsentwurfs abhängig. Dies führte zu um so größerer
Schroffheit der gegenseitigen Stellungen, als die Arbeit bereits mit den hart¬
näckigsten Kämpfen über Beibehaltung der Todesstrafe, der Prügelstrafen u. s. w.
begonnen hatte. Jene war von den Ausschüssen endlich principiell auf die
allerseltensten Fälle beschränkt, diese gänzlich verworfen worden. Da aber die
Negierung nur desto starrer aus ihren Tendenzen beharrte, so gestaltete sich
die Befürchtung täglich mehr zur Gewißheit, daß das ganze Unternehmen auf
eine Danaidenarbeit hinauslaufe und regierungsmäßig hinausgelenkt werde.
Einzelnen Ausschußmitgliedern, gegen welche sich eine persönliche Animosität
ganz offen kundgab, weil ihr auf Wissen und Unabhängigkeit ruhender Ein¬
fluß unbequem und dennoch nicht zu Paralysiren war, wurde ihr Beruf der¬
maßen verleidet, daß sie (wie z. B.Herr v. Lerchenfeld) ihren Austritt erklär¬
ten. Wenn man aber möglicherweise von gouvernementaler Seite eine
solche Wendung nicht ungern sah, so täuschte man sich wenigstens in der Er¬
wartung, nunmehr mit den Ausschüssen leichteres Spiel zu haben. Namentlich
harrte I)r. Weiß, unbeirrt durch persönliche Anfechtungen, auf seinem Posten
tapfer aus. Bereits der Sommer. 1857 sollte das Moment bringen, welches
eine weitere Nachgiebigkeit der Ausschüsse gegen die Regierung gradezu unmög¬
lich machte.
Letztere wollte nämlich die Strafbestimmungen über die Presse in das
Strafgesetzbuch aufnehmen. Nach dem Preßstrafgesetz vom 17. März 1850
besteht aber sür Preßprocesse' das System mildernder Umstünde. Von der
allgemeinen Aufnahme dieses Systems in das Strafgesetzbuch, davon ins¬
besondere, daß die Frage, ob solche Verhältnisse vorhanden, welche außer ge¬
minderter Zurechnungsfähigkeit ein Verbrechen oder Vergehen im geminderten
Grade strafbar erscheinen lassen, von den Geschwornen nebst der Schuldfrage
zu beantworten seien — davon machte der Ausschuß die Verschmelzung des
Preßgesetzes mit dem Strafgesetz abhängig. Die logische Argumentation lautete:
da im Preßgesetz das System mildernder Umstände besteht und die Negierung
die Preßsachcn dem allgemeinen Strafgesetz unterwerfen will, da ferner nöthig,
daß in einem so wesentlichen Punkt für Prcßsachen keine andern Grundsätze
als für andere Strafsachen gelten, da endlich dem Ausschusse einer Landesver¬
tretung nicht zugemuthet werden kann, daß er die den Geschworenen einge¬
räumte Kompetenz in Preßsachen Preis gebe, so bleibt nichts übrig, als das
sür Preßsachcn giltige System der mildernden Umstände generalisircnd aus alle
Strafsachen auszudehnen. Auf dieser Erklärung zu beharren, erschien aber
dem Ausschusse praktisch noch um so mehr geboten, als bereits bekannt war,
daß die Negierung dem nächsten Landtag ein neues Preßgcsetz mit allen jenen
Verschärfungen vorzulegen beabsichtige, welche frühere Sessionen glücklich ab¬
gewehrt hatten, sür welche aber das Bundespreßgesetz von 1853 allerdings
jeder Negierung die bequemsten Anhalte bietet. Daß nach dem neuen Pre߬
gesetz auch die Competenz der Geschworenen beschränkt werden soll, war eben¬
falls bereits bekannt.
Umsonst erwartete nun der Gesetzgebungsausschuß der zweiten Kammer
eine Antwort aus seine Erklärung. Anstatt dessen erfolgte ein königliches Decret
(et- Bad Brückenau. 30, Juli), wodurch die Gesetzgebungsausschüsse auf fünf
Monate, also bis zum Jahresschlusse vertagt wurden. Ehe aber dieser Termin
abgelaufen, wurde die Prorogation sogar bis 1. Mürz 1858 ausgedehnt.
Jetzt empfing sie die Negierung mit acht Punkten oder Fragen höchster prin-
cipieller Wichtigkeit und verlangte darüber nicht blos eine sofortige, genaue
und präcise Erklärung, sondern wollte auch von dieser das Zustandekommen
einer Verständigung überhaupt abhängig machen. Der Ausschuß der zweiten
Kammer dagegen, anstatt sich von diesem dictatorischen Verfahren übereilen
zu lassen, erörterte zunächst blos zwei Punkte, erklärte aber eine bestimmte
Beschlußfassung für jetzt als geschäftsordnungswidrig und formulirte auf
Grund seiner Berathung eine Reihe von Directiven für den Referenten für
das Strafgesetzbuch, damit er dieselben bei der Vorbereitungsarbeit für die
zweite Lesung benutze. Die Regierung wiederholte trotzdem ihr Verlangen
nach sofortiger Beschlußfassung über alle vorgelegte Principienfragen; und
nachdem der Ausschuß (unterm 13. März) ein Rechtfertigungsschreiben wegen
seines Verfahrens mit der Erklärung abgegeben hatte, daß er darauf beharren
müsse, erfolgte keine weitere Antwort. Dagegen erschien (20. März) eine königliche
Entschließung, welche die Sitzungen aufhob, „nachdem Wir uns aus der bis¬
her mit dem Gesetzgebungsausschusse der Kammer der Abgeordneten gepfloge-
nen Verhandlungen überzeugt haben, daß ein EinVerständniß über entschei¬
dende Grundlagen der genannten Entwürfe nicht zu erzielen ist."
So war also die Codification des Strafgesetzes und des Polizcistrafgesetzes
wieder auf unbestimmte Zeit vertagt. Professor Dr. Weiß, der Referent des
Ausschusses zweiter Kammer, ward von seiner Professur wegberufen, obgleich
die Stadt und Universität Würzburg um seine Belassung baten. Dagegen
stellte sich mit immer größerer Bestimmtheit heraus, daß die Negierung das
1855 verworfene Wahlgesetz mit Modificationen einzubringen beabsichtige, für
deren Annahme noch geringere Hoffnung, als vor drei Jahren. Die dama¬
lige Kammerauflösung^ hatte sich im gouvernementalen Sinn als ein verun¬
glückter Schritt documentirt. Die einzige Session der neuen Kammer hatte
dem Ministerium mehr materielle Mißtrauenszeugnisse und mehr principielle
Unzufriedenheitserklärnngen gebracht, als die gesammte Mandatsdauer der vor¬
her aufgelösten Kammer. Mit einer vollkommen unerwarteten Energie und
Majorität hatten außerdem die Reichsrathe sich grade bei höchst wichtigen
Fragen in Uebereinstimmung mit der Abgeordnetenkammer gegen das ministe¬
rielle Princip wie gegen die gouvernementale constitutionelle Praxis erklärt.
In der gesammten Landesvertretung hatte also das Ministerium sür seine
Interessen fürderhin keine Unterstützung zu erwarten, wenn es auf seinen bis¬
her theoretisch und praktisch vertretenen Principien beharrte.
Unter solchen Umständen ward nun der Landtag am 20. Sept. einberufen,
^e Nachricht der A. Allg. Ztg., daß das gesammte Ministerium dem König,
'"dem es die Kammerauslösung beantragte, die Alternative gestellt habe, cre-
o:der seine Entlassung oder das Auslösungsdecret zu unterzeichnen, hat sonach
che Wahrscheinlichkeit sür sich. Die Wahl des Dr. Weiß zum zweiten Präsi-
deuten der Kammer bot blos die Gelegenheit, um präventiv zu vollführen,
was jeder Wahrscheinlichkeit nach für alle Fälle beschlossen war. Aber auch
die praktische Consequenz kann schwerlich ausbleiben, wenn überhaupt die Aus¬
lösung denjenigen Erfolg haben soll, welcher nach dem Vorausgegangenen
einzig vom Ministerium gewünscht werden kann, nämlich die Entstehung einer
gefügigen Abgeordnetenkammer. Diese praktische Consequenz heißt: Octroyirung
eines Wahlgesetzes, dessen Grundlagen parlamentarisch verworfen sind und
dessen neue Bearbeitung man der Landesvertretung nicht einmal vorzulegen
wagte.
Roman in neun Büchern von K. Gutzkow 1. Bd. Leipzig. Brockhaus.
Lucinde ist die Tochter eines armen Schulmeisters in einem hessischen
Dorf, der seine starke Familie nur mit Mühe ernähren kann und der es da¬
her wie eine große Wohlthat begrüßt, als eine Dame aus der Residenz-seine
älteste Tochter entführt, um sie gewissermaßen zu adoptiren und ihr Glück zu
machen. Leider ist diese Dame eine zweite Chouette, die wegen ihrer Mi߬
handlungen gegen die Dienstboten so verrufen ist. daß sie in der Stadt keine
Magd findet und sich daher auf diese Weise eine vom Lande holt. Anderthalb Jahr
hindurch mißhandelt sie Lucinde auf jede erdenkliche Weise, hauptsächlich durch
Hunger: einmal muß sie sich mit Pflaumenkernen sättigen, wobei die gnädige
Frau ihr empfiehlt, Wasser nachzutrinken, damit sie im Leibe aufquellen; ein¬
mal wird auch angedeutet, daß sie sie mit Mäusen füttert, obgleich man über
diesen Umstand nicht ganz ins Klare kommt, da die Erzählung zuweilen un¬
deutlich ist. Jedenfalls hat die gnädige Frau die seltsame Eigenschaft, die
Mäuse auf dem Boden eigenhändig zu fangen und reihenweise an den
Schwänzen aufzuhängen. Endlich befreit die Polizei Lucinde von ihrer
Peinigerin, und sie tritt bei einer wohlhabenden Familie in Dienst, wo
sie fast wie ein Fräulein behandelt wird. Doch lernt sie bald die Schatten¬
seiten des Lebens kennen. So belauscht sie z. B. .eine vornehme Dame
die sich sehr stark aufs Stehlen legt und den Kaufmanns, der sie angeber
will, dadurch beschwichtigt, daß sie ihm ihre Gunst schenkt. Wegen einer
starken Neigung zur Koketterie wird Lucinde endlich der Familie lästg.
und es findet sich grade ein junger Commis, der ihr schon lange den .Hof
gemacht und der sie entführt. Bei dieser Gelegenheit nimmt er die Casse
seines Principals mit. wird endlich von den Häschern erreicht, anetirt
und ins Zuchthaus gesteckt; Lucinde gelingt es zu entspringen, sie
klettert in der Angst auf einen Baum, was sich um so seltsamer ausgenommen
haben muß. da sie im phantastischen Ballcostüm ist. Endlich sinkt sie im
Walde in Ohnmacht.
Beim Erwachen sieht sie einen seltsamen Mann vor sich. der sie in einer
fremden Sprache anredet und sie in ihren zerrissenen Kleidern als eine Wald¬
göttin anzubeten scheint. Dieser Mann ist ein Kammerherr von Wittekind, mit
dessen.Verstand es nicht recht richtig ist. und den sein Vater, der Kronsyndi¬
kus von Wittekind, deshalb einem Landpastor zur Pflege übergeben hat. In
diese Familie wird auch Lucinde aufgenommen, und der Herr Pastor findet
keinen Anstoß darin, daß sie eine Vagabundin ist. daß sie sich sehr bald als
arge Lügnerin herausstellt, daß sie von dem Kammerherrn sehr reiche Geschenke
annimmt und sich von ihm die Ehe versprechen läßt. Erst als sie bei der
Nachricht vom Tode ihrer Schwester gefühllos bleibt (beiläufig erfährt man
am Schluß etwa jedes zweiten Capitels den Tod irgendeines Familiengliedes,
bis endlich die letzten Brüder im Correctionshaus endigen), sieht der wackere
Geistliche ein, daß ihre Entfernung wünschenswert!) sei. Der Kronsyndikus
kommt, seinen Sohn abzuholen und ihn mit einem reichen Fräulein zu ver¬
heiraten, aber Lucinde findet Gnade vor den Augen des alten Epitureers,
und er schlägt ihr vor, anzugehn, zunächst solle sie in einem Pavillon des
Schlosses untergebracht werden, dann werde man schon „auf die eine oder
andere Weise" für sie sorgen.
In den Umgebungen des Schlosses erregt sie nun als „Elfenkind" ein
großes romantisches Interesse; Vater und Sohn verharren in ihrer Neigung,
dazu lernt sie aus einem Spaziergang einen Doctor Klingsohr kennen, den
Universitätsfreund des Kammerherrn, der aber jetzt mit der Wittekindschen
Familie zerfallen ist. weil sein Vater, ein ansehnlicher Patriot, das 'Landvolk
gegen den Gutsherrn aufwiegelt. Der junge Klingsohr imponirt Lucinden,
theils durch seine Bildung, theils durch die Glut seiner Anbetung. Er nennt
sie eine Heilige, eine Nymphe, eine Göttin und benimmt sich ganz wie sein
Nebenbuhler, der geisteskranke Kammerherr, nur daß er fortwährend Citate
aus Homer anbringt. Sie gibt ihm für einen Abend im Schloß ein Rendez¬
vous. An demselben Abend sprengt der Kronsyndikus höchst aufgeregt nach
Hause, schließt sich sodann in sein Zimmer ein, verbrennt die Kleider, die er
anhatte, befiehlt schleunigst eine Kalesche anzuspannen u. s. w. Endlich sieht er
den jungen Klingsohr ankommen, der sich aus Bequemlichkeit zu seinem Ren¬
dezvous im offnen Wagen begibt, obgleich es zum Schloß einen steilen Berg
hinausgeht. Im Anfang erschrickt der Schloßherr darüber aufs furchtbarste,
doch fällt ihm ein, daß der junge Mann wol zu einem Rendezvous komme,
er lobt Lucinde sehr, empfiehlt ihr, ihn festlich zu bewirthen, über¬
gibt ihr die Schlüssel zu Keller und Küche, weist die Domestiken an, ihr in
allen Dingen zu gehorchen, und reist darauf« mit seinem Sohn auf einem
andern Wege ab. Vorher hat er ihr eröffnet, daß Klingsohr eigentlich sein
Sohn ist und sie bevollmächtigt, ihm dies Geheimniß mitzutheilen.
Klingsohr wird zu seiner Verwunderung feierlich empfangen, Lucinde
läßt auftragen, was nur in Küche und Keller vorräthig ist, namentlich viel
Champagner, der zuletzt aus Biergläsern getrunken wird. Er declamirt Verse
aus Heine, sie entdeckt ihm das Mysterium seiner Geburt, die Lakaien warten
dazu auf. Endlich liegen beide schon unterm Tisch, da tritt bestürzt ein
Diener ein, der dem Doctor mittheilt, man habe seinen Vater ermordet im
Walde gefunden. Er sucht Lucinde aufzurütteln, aber sie ist so betrunken,
daß es ihm nicht gelingt; zuletzt läßt er sie auf dem beschmuzten Boden
liegen und eilt fort. Als sie erwacht, erfährt sie gleichfalls die schreckliche
Begebenheit und ist bald mit aller Welt davon überzeugt, daß der Kron¬
syndikus der Mörder sei: auch uns läßt der Dichter darüber kaum in Zweifel.
Den andern Tag kommt der Kronsyndikus zurück, und hat mit dem
Doctor eine Konferenz, wobei stark Burgunder getrunken wird. Diese endigt
damit, daß beide Arm in Arm sich zum Untersuchungsrichter begeben und ihm
die Sache so darstellen, daß sich gegen den Kronsyndikus kein Verdacht erhebt.
Der Hauptgrund des Verdachts liegt in einem Fetzen Tuch, den man bei dem
Ermordeten gefunden und den der Doctor heimlich auf die Seite zu schassen
weiß. Anstatt ihn aber zu verbrennen, verwahrt er ihn sorgfältig in einer
Brieftasche. Der Kronsyndikus erkennt nun die Verlobung der jungen Leute
(der verrückte Kammerherr ist in Gewahrsam gebracht) feierlich an, und schickt
beide, reichlich ausgestattet nach Hamburg, wo Lucinde ihre Bildung vervoll¬
kommnen soll, und wo der Doctor Vorlesungen über Aesthetik.und Geschichte
hält. Lucinde bewegt sich viel in feiner Gesellschaft und wird immer subter
gegen ihren Bräutigam, dessen Citate aus Heine ihr nicht mehr imponiren.
Infolge dessen sührt er mit seinen alten Universitätsfreunden ein ziemlich
dissolutes Leben. Hier trifft ihn eines Tages der Kammerherr, der seinem
Gewahrsam entsprungen ist, und prügelt den Entführer seiner Geliebten öffent¬
lich durch. Klingsohr fordert ihn auf Pistolen, obgleich er weiß, daß er sein
Bruder ist, und schießt ihn ohne Weiteres todt.--—
Er erhält dafür ein Jahr Festungshaft, die er sonderbarerweise — in
Kiel abzubüßen hat. Der Kronsyndikus, nun ganz weich geworden, (man er¬
fährt bei der Gelegenheit, daß er noch eine Frau in Italien hat und über¬
haupt in ebenso bunte genealogische Verwicklungen verstrickt ist, wie die Ritter von
Geist) — ermahnt Lucinde, den Doctor, der trotz des Brudermordes doch
ein guter Mensch sei, nach Kiel zu begleiten und ihm treu zu bleiben; sonst
wolle er seine Hand von ihr abziehn. ' >
In Kiel kokettirt sie nun viel mit Offizieren, selbst mit Prinzen, und der
Doctor, in beständiger Eifersucht, ergibt sich mehr und mehr dem Trunk und
raucht auch zuweilen Opium. Endlich verliebt sie sich in einen Schauspieler,
der schon halb und halb auf dem Sterbebett liegt, läßt sich von der gemeinen
Frau desselben ausbeuten, kündigt ihrem Doctor das Verhältniß ganz, begibt
sich mit der Schauspielerfamilie aus die Wanderschaft, bis ihr letztes Geld
verzehrt ist und beschließt dann in derselben Stadt, wo die gnädige Frau
Mäuse gefangen, als Jungfrau von Orleans zu debutiren. Sie macht Fiasco.
in derselben Nacht stirbt ihr Geliebter. Ohne das Grab ihrer Schwester zu
besuchen, („alles schien ihr Traum und Wahn: den Fuß gesetzt auf jeden
Nacken, der sich nicht beugen will! das schien ihr eine Aufgabe allein des
Lebens würdig,") geht sie nach Köln, wo sie eine Annonce liest, „man sucht
im orthopädischen Institut ein gebildetes junges Frauenzimmer katholischer
Confession, das der Sprachen und Musik vollkommen kundig sein muß/' Sie
tritt ein und wird deshalb katholisch; wir können uns also jetzt vorstellen,
wer der Zauberer von Rom sein wird. „Ihr Kinderseelen ringsum! Mögen
lichtgcborene, gute Engel über euch wachen, Hüter und Schirmer vor dem
nachtdunklen Gefieder, das an Lucindens Haupte wie einer Tochter Lucifers
dämonisch aufzurauschen scheint." So schließt der Dichter den ersten Band.
Der gewöhnliche Leser kann sich nun der Frage nicht erwehren, was
Gutzkow, ganz abgesehn von den übrigen Scenen im Geschmack Eugen Sues,
sich eigentlich bei dem Charakter seiner Heldin gedacht hat? Beinahe gleich
auf der ersten Seite zeigt sie die beiden Eigenschaften, die ein Mädchen
dieser Classe fast unausbleiblich zum Ende in einem unreinlichen Ort prüdesti-
niren: die Neigung mit dem Leben zu spielen und die Neigung das Leben mit sich
spielen zu lassen; Liederlichkeit und Faulheit. So gut wie sie anderthalb Jahr
bei der Mäusefängcrin aushielt, würde sie auch bei einer ältlichen Dame mit
gemalten Wangen aushalten, die ihr einmal die Mühe ersparte, ein Obdach
zu suchen. Der Dichter belehrt aber in der Vorrede seine Freunde und
Glaubensgenossen, daß solche Fragen nicht statthaft seien. „Nur schwarze oder
Weiße Menschen haben wir Engverbundene in unserm Erfahrungsbuche nie
finden können und . . . stelle doch, du gefallenes Titanengcschlecht. Mensch¬
heit genannt, dem Weltenrichter einst große Aufgaben! Sprüche urtiefcr Weis¬
heit fallen am jüngsten Tage, nicht Schulcensuren ..." — Der erste Band
enthält nur den „ersten schweren Jugendtraum eines in solcher Art gemischten
Charakters," „das junge Dämmerleben einer weiblichen Seele!" „Denn in
solchem Humor leben wir. All unser Denken und Handeln ahnt die Schatten
nicht, die es im Licht der Wahrheit wirst." — Ebenso sagt er bereits in
Werner, seinem ersten Drama nach dem Vorbild Kotzebues: „Wir alle sind des
Staubes schwache Söhne und niemand ist, der sich rühmen könnte, die Ge¬
danken Gottes zu errathen."
Aber der Dichter hat noch einen höhern Zweck. >
Der erste Band ist nur das Vorspiel: „die nachfolgende Dichtung will,
so weit dem Wort eine Wirkung zukommen kann, beitragen helfen, die vater¬
ländische Einheit zu fördern ... sie will einem großen sehnsüchtigen, auch
von ihr heilig gehaltenen Hang und Drang der christlichen Völker würdige
Ziele zeigen, sie will für jede heraufziehende Entscheidung den germanischen
Kampfesmuth schüren, tausendjährigen Siegerstolz nähren helfen" . . .
„Der Verfasser widmet das Buch seinem Volke und
seiner Zeit."
Also Einheit des Vaterlandes! höheres Christenthum! germanischer Kam¬
pfesmuth! --
Als Heine im Wintermärchen die Hamburger Zustünde bespricht, erzählt
er, wie ihn die Göttin Hammonia vor eine runde Oeffnung führt, in welche
er den Kopf stecken foll:
Was ich gesehn, verrathe ich nicht,
Ich habe zu schweigen versprochen,
Erlaubt ist mir zu sagen kaum,
O Gott! was ich gerochen — — —
Ich denke mit Widerwillen noch
An jene schnöden, verfluchten
Vorspielgerüche, das schien ein Gemisch
Von altem Kohl und Juchten u. f. w.
Es ist natürlich, daß, wenn ein Staat an einem Wendepunkt seiner Lauf¬
bahn angekommen zu sein scheint, denkende Männer die Frage erörtern, wel¬
ches ihr Fortgang sein wird. Diese Erörterung kann öffentlich oder geheim
geführt werden. Allgemeine Erwägungen über die Zukunft wird man in einem
wohlgeordneten Staatswesen in unserer Zeit schwerlich tadeln, sie sind der
unwillkürliche Ausdruck der geistigen Bewegung und nicht nur unschädlich,
sondern nothwendig. Anders verhält es sich mit bestimmten praktischen Vor-
-schlagen. dies zu thun und jenes zu lassen; zwar in großen und drängenden
Krisen spricht sich meist der politische Jnstinct des Volkes mit unwidersteh¬
licher Gewalt aus, und es Ware Vermessenheit, diese Stimme zu mißachten,
aber wo die Entscheidung nicht drängt, wo man blos daraus, daß eine an¬
dere Hand das Staatsruder erfaßt oder neue politische Factoren sich entwickeln,
folgert, es stehe ein Umschwung der Dinge bevor, da werden die verschiedenen
Rathschläge vorsichtig zu wägen sein, man wird vor allem fragen, wer ihr
Urheber sei. ob er besonders über die Verhältnisse unterrichtet, ob er praktisch
sich in Staatsgeschäften bewährt. mi< einem Wort, welches seine Autorität sei.
Wir haben deshalb auch die Reihe der anonymen Flugschriften, welche
die künftige Politik Preußens erörtern, mit einem gewissen Mißtrauen in die
Hand genommen. Wären sie Denkschriften, welche einem Fürsten Vorgelegt
werden sollten, so hätten sie wegen dieser Bestimmung schon Interesse, so
aber wird man sie als bloße politische Betrachtungen anzusehen haben, bei
denen es darauf ankommt, inwiefern sie richtig und zeitgemäß sind. Die
bedeutendste der Broschüren möchte die zuletzt erschienene sein: Das euro¬
päische Gleichgewicht der Zukunft. Berlin, Springer. Sie zeichnet sich
durch eine praktischere Behandlung und namentlich durch eingehendere ge¬
schichtliche Begründung aus. Obwol wie ihre Vorgängerinnen im beson¬
deren Hinblick auf Preußen geschrieben, ist ihr Horizont doch weiter, sie ist,
wie der Titel besagt, eine wirkliche Erörterung des Verhältnisses der euro¬
päischen Hauptstaaten; einige Capitel, z. B. die Geschichte der englischen
Seeherrschaft bieten ein vollständiges Bild und manches Neue, vielfach
finden wir glückliche Ausdrücke und treffende Schilderungen; aber obwol
in der Einleitung sehr richtig das Rufen nach einer englischen Allianz um
jeden Preis, ohne bestimmte Ansicht von deren augenblicklicher Zweckmäßig¬
keit, getadelt wird, obwol der Verfasser betont, man müsse die politischen
Machtfragen von dem Gesichtspunkt des Möglichen und Nützlichen behandeln,
so finden wir diesen Gesichtspunkt oft außer Augen gelassen. Wenn z. B.
S. 102 gesagt wird: eine engere und unlösbarere Vereinigung aller deut¬
schen Staaten unter einem Haupte, einem Oberhaupte sei nothwendig,
der Versasser aber stelle keineswegs von vornherein die bestimmte Ansicht
auf. daß dieses Oberhaupt Preußen und das preußische Regentenhaus sei
und nur sein könne, vielmehr sei es derjenige Staat, der es am geeig¬
netsten und füglichsten sein könne, so möge es nicht Preußen, sondern
Baiern. Hessen, Neuß, Lichtenstein, oder jeder andere Staat sein, wenn etwa
der eine oder der andere dieser Staaten dazu befugter, befähigter und geeig¬
neter sein sollte, nur einer solle und müsse es sein — so weiß man doch nicht,
ob der Verfasser sich das Verhältniß der deutschen Staaten klar gedacht hat.
Wie man auch nach dem flüchtigsten Blick auf die neuere vaterländische Gc-
schichte glauben kann, Preußen oder auch nur Würtemvcrg werde sich einem
mittel- oder kleinstaallichen Oberhaupt unterordnen, ist nicht begreiflich.
Der Verfasser führt zwar an, daß in einer Note vom 16. Novbr. 1814
die Bevollmächtigten von 29 Staaten feierlich ihre Bereitwilligkeit erklärt, zum
Besten des Ganzen auf jede nothwendige Beschränkung ihrer Souveränetät
eingehen zu wollen, wobei namentlich ein gemeinsames Bundesoberhaupt in
Aussicht genommen, welchem Vollziehungsgewalt, Bundesjustiz, Kriegsmacht
des Bundes ausschließlich übertragen sein solle, so daß dieses Oberhaupt als
erster Repräsentant der deutschen Nation nach Innen und Außen, als Garant
der Verfassung, als deutscher Freiheit A'egide sich darstelle. Aber er vergißt,
daß diese Anerbietungen, unter dem frischen Eindruck des jüngstvergangenen
Elends und der Befreiungskriege gemacht, nicht in das Gebiet des wirklichen,^
verbindlichen Rechtes übergegangen sind; die einzige einheitliche Spitze, welche
die Bundesverfassung kennt, ist der Oberfeldherr, der jedesmal wenn die Auf¬
stellung des Kriegsheeres beschlossen wird, von dem Bunde erwählt wird.
Seine Stelle hört mit der Auflösung des Heeres wieder auf (Art 13 der
Grundzüge der Kriegsverfassung des d. B.). Mein kann aber noch dazu kaum
sagen, daß die Sache praktisch geworden, da die Verhältnisse bei Ausbruch
des Schleswig-holsteinischen Krieges ganz exceptioneller Art waren und Oest¬
reich namentlich kaum eine Stimme hatte. Der Verfasser übersieht ferner,
daß selbst, wenn jene angebotenen Beschränkungen der Einzelsouveränetät for¬
melles Recht geworden wären, damit noch keineswegs gesagt wäre, daß sie
ins wirkliche Leben eingetreten wären. Das höchste Gesetz der Souveränetät
ist ihre Erhaltung, man kann sie vernichten, ihre wesentlichen Befugnisse kön¬
nen durch die Gewalt der Umstände suspendirt sein wie 1848, aber man kann
ihr dieselben nicht dauernd nehmen, ohne daß sie aufhört, sie selbst zu sein.
Die deutschen Staaten haben es in vierzig Jahren noch nicht dahin gebracht,
einen gemeinsamen Konsul zu haben, wie hätten sie sich einem Oberhaupt
untergeordnet! — Ein anderes Beispiel der Optimistik ist es, wenn der Ver¬
fasser hofft, Oestreich werde seinen ausschließlich östlichen Beruf erkennen und
verheißt, Deutschland werde ihm dabei treulich zur Seite stehn. Daß dies
die beste Auseinandersetzung zwischen Oestreich und Deutschland sei, bezweifeln
wir nicht, aber der Knoten liegt doch eben darin, daß Oestreich wol gewillt
ist, seine Macht nach Osten auszudehnen, aber seinen Einfluß auf Deutsch¬
land dabei so wenig aufgeben will, als den in Italien. So fest ist es da¬
rin, daß es kaum halb der Revolution Meister sich beeilte, das Programm
von Kremsicr zu widerrufen und biurqmö spielte, um jene Ausschließung
aus Deutschland zu verhindern. Wenn endlich S. 118 gesagt wird: „Oest¬
reich und Preußen könnten die Unabhängigkeit, die Sicherheit des deutschen
Bundes für immer begründen, durch einen Druck ihrer Hand, durch eine
That der Versöhnung und den Bund zu dem Range erheben, der ihm ge¬
bühre unter den Staaten Europas", so klingt das mehr begeistert als ver¬
ständig. Daß Oestreich und Preußen einig gegen das Ausland seien, kann
niemand lebhafter wünschen als wir, wir sind auch überzeugt, daß dann die
andern deutschen Staaten mitgehen müssen, aber dann sind es eben Preußen
und Oestreich, welche letztere zwischen sich nehmen und nicht der deutsche Bund,
was die Einheit nach außen macht.
Wenn das Parterre deutscher Hauptstädte das Wort eines neuen Schau¬
spiels mit Beifall begrüßt: „Oestreich sei das Schild und Brandenburg das
Schwert Deutschlands," so ist das erklärlich, aber für den praktischen Politiker
sind dergleichen Appellationen an das Gefühl werthlos.
Versuchen wir nun auf den Kern dieser Schrift, das europäische Gleich¬
gewicht einzugehen. Die Staaten sind wie die Individuen nicht gleich, sondern
ungleich um Ausdehnung und Kraft. Jenachdem nun entweder ein Stärkerer herrscht
oder seine Macht durch die Vereinigung mehrer Schwächern eingeschränkt wird,
findet eine Unterordnung oder eine Nebenordnung statt. Ersteres während
Roms-Herrschaft im Alterthum und in der Blütezeit des deutschen Kaiserthums;
um Rom und das deutsche Reich bewegten sich die andern Staaten wie Pla¬
neten um die Sonne.*) Die Gruppirung selbstständiger politischer Gemein¬
wesen nebeneinander ist die Ordnung der Neuzeit geworden, und hier hat sich
vermöge >des dynamischen Gesetzes, welches in der körperlichen wie in der sitt¬
lichen Welt gilt, das Bedürfniß eines Gleichgewichts, einer gewissen Vertheilung
und Abwägung der politischen Macht herausgestellt.
Nach diesem Gesetz kaun keiner der nebeneinanderbestehenden Staaten
die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit eines andern bedrohen, ohne' jenes
Gleichgewicht zu stören, und muß, falls letzteres eine wirkliche Nothwendigkeit
ist. so entschiedenen Widerstand der sämmtlichen andern Staaten erfahren, daß
er sich gezwungen sieht, von seinem Vorhaben abzustehn. Den Inbegriff
der als verbindlich anerkannten Bestimmungen, welche die Beziehungen der
unabhängigen Staaten zueinander regeln, nennen wir das Völkerrecht. Hierin
und in den wechselseitigen Verträgen ruht das Gesetz, welches die Staaten
untereinander verbindet. Aber während das Individuum im Staate d. h. des
Bürgers unter dem Schutz des Gesetzes steht, dessen Vollziehung die höchste
Gewalt sichert, steht über unabhängigen Gemeinwesen weder eine richterliche
noch eine vollziehende Macht. Alle Projecte einer solchen sind entweder von
philosophischen Träumern oder von schlauen Politikern, welche sie für ihre prak¬
tischen Zwecke benutzen wollten, ausgestellt, es hat ein europäisches Amphiktyonen-
gericht nie gegeben und wird nie eines geben. Aus ihre eigne Schwerkraft
und die natürliche- Entwicklung der Grundlagen, welche ihnen ihre Stellung
gegeben, sind also die Staaten angewiesen und Geschichte des europäischen
Gleichgewichtes heißt Entwicklung der Umstünde und Bedingungen, durch welche
sich das gegenwärtige Machtverhältniß der europäischen Staaten gebildet. Die
wichtigsten Ereignisse dieser Geschichte des Gleichgewichtes fallen unter zwei
Kategorien: einmal Störung des bestehenden Verhältnisses durch Ueberhebung
eines Staates und der Zurückweisung dieser Störung, sodann Verschiebung
der bisherigen Stellung.durch das Emporkommen neuer politischer Größen.
Im Beginn der Neuzeit standen als Hauptmächte da Frankreich, England und
die Habsburgische Hausmacht; letztere drohte zuerst sich zur Weltmonarchie zu
erheben, Frankreich hauptsächlich bekämpfte sie. Dann trat eine Reaction
ein gegen die drohende Ausbreitung der bourbonischen Macht, der Geruch der
Lilien ward zu stark in Europa, wie der große Kurfürst sagte, und England,
bisher durch seine Eifersucht auf Holland beschäftigt, übernahm seit Wilhelm III.
die Leitung des Kampfes gegen Frankreich, es gründete hierin seine Seeherr¬
schaft und sein Kolonialreichs aus dem es unermeßliche neue Hilfsquellen zog,
ohne seine Grenzen in Europa wesentlich zu erweitern. Inzwischen wuchs der
Verbündete des großen Oranien, Brandenburg, zu einer selbstständigen Macht
heran, und Rußland trat seit Peter I. handelnd in die Reihe der europäischen
Staaten ein, während Schweden, Holland und Spanien mehr zurücktraten.
Zur selben Zeit, wo ein gefährlicher Nachbar an seiner Ostgrenze erwuchs,
fand Deutschland, das seit dem westphälischen Frieden nicht mehr der posi¬
tive, sondern nur der negative Pol Europas war, einen nationalen Führer
und Vertreter, um den sich seine zerstreuten Glieder sammeln konnten, wie es
zum erstenmale im Fürstenbund geschah. Die Sündflut der napoleonischen
Kriege war ein Zwischcnact, nach welchem sich dies System nur noch klarer
auf dem Kongreß von Wien ausbildete. Unser Verfasser gibt in seinem Capitel >
„Profile" eine lebendige und gedrungne Skizze des europäischen Staaten¬
systems.
„In der Mitte Deutschland und Oestreich. Im eigentlichsten Mittelpunkt
Deutschland, in sich selbst ein Staatensystem, als dessen natürlicher Träger
Preußen erscheint, Oestreich an jenes sich anlehnend und eng mit ihm verknüpft,
mit seinem Rumpfe aber überwiegend nach dem Osten, nach dem Orient sich
senkend. Im Osten Europas Rußland mit seiner ungeheuern Masse hoch den
Norden füllend und tief den Süden. Im Westen Frankreich, jenseits frei und
kühn auf den Ocean blickend, diesseits Deutschland beschauend. Nordwestlich
endlich England, seeumgürtet, die Meere beherrschend. Das ist das Haupt¬
profil. Dasselbe ergänzend erscheinen in zweiter Linie im Norden die skandi¬
navischen Staaten, im Südwesten die pyrenäische Halbinsel, isolirt And schwach/
im Süden die apenninische Halbinsel, ihren schlanken Körper tief hinunter-
gerichtet, und im Südosten zweifelhaften Charakters. Das türkische Reich und
Griechenland, Holland und Belgien und die Schweiz füllen die Lücken. Das
sind die Außenwerke der Pcntarchie." — Diese Pcntarchie beabsichtigte man
in Wien zu einer Art europäischem Areopag zu erheben, welcher alle Streitig¬
keiten schlichten sollte, es war die Zeit der Congresse. aber die Sache mißlang,
schon seit England sich geweigert, der heiligen Allianz beizutreten, welche dies
System befestigen sollte. Die fünf Staaten beriethen allerdings europäische
Angelegenheiten miteinander; aber ohne ihre gemeinsame Zustimmung, ja sehr
gegen den Willen einiger von ihnen vollzogen sich Aenderungen des Systems,
wie die belgische Revolution, die Schöpfung Griechenlands, die Einverleibung
Krakaus u. s. w. Der Versasser gedenkt namentlich der Türkei und des viel¬
besprochenen Einflusses ihrer Zerrüttung auf Europa, er läßt aber einen sehr
wichtigen Factor außer Augen, die Vereinigten Staaten. Sie liegen zwar in
Amerika, aber ihr Einfluß auf das europäische Gleichgewicht ist sehr bedeutend,
und sie müssen bei jeder politischen Combination in Betracht gezogen werden.
Zwar zweifeln wir nicht, daß, wenn die Mächte der alten Pentarchie einig sind,
ihr Wille Gesetz wird, aber sie sind eben sehr oft nicht einig, und da wird
viel darauf ankommen, aus wessen Seite die Vereinigten Staaten stehen. Es
gibt unsrer Ansicht nach jetzt drei Weltmächte. Nußland. England und Nord¬
amerika, sodann drei große Staaten, Frankreich, Oestreich und Preußen, drittens
mittlere und kleine Staaten. Frankreich wird man in der zweiten Reihe den
ersten Rang nicht streitig machen können, Oestreich steht ihm an Ausdehnung
und Hilfsquellen am nächsten, aber seine disparaten Bestandtheile hindern
seine freie Bewegung. Preußen aber wird um so mächtiger sein, je natio¬
naler seine Politik ist. Vor allem aber vergesse es nicht, daß die wahre Kraft von
innen kommt, es baue sein Haus inwendig aus und steigere seine Entwicklung
zur höchsten Intensität; nach außen deutsch-national, nach innen echt liberal,
das ist die wahre Politik der Zukunft.
Es gehört zu den Schicklichkcitsrcgcln des konstitutionellen Staatsrechts, die
Person des Monarchen ganz aus dem Spiel zu lassen. Die Regel hat einen, guten
Grund, denn es widerstrebt dem Anstandsgefühl, da zu loben, wo ein Tadel unstatt¬
haft wäre. Da wir aber noch immer in einer Uebergangsperiode sind, wird es
vielleicht erlaubt sein, an einige Thatsachen zu erinnern, welche der allgemeinen
Hoffnung, daß Preußen in eine neue Aera seiner Entwicklung trete, eine größere Be¬
rechtigung zu geben scheinen, als sich sonst gewöhnlich an einen Regierungswechsel knüpft.
Die beiden Handlungen, die aus dem Leben des neuen Regenten bekannt ge¬
worden sind, beziehn sich auf den 18. März 1848 und auf die frankfurter Kaiser¬
deputation. Bei der ersten Gelegenheit wurde er allgemein als derjenige bezeichnet,
der am entschiedensten gegen den Abmarsch des Militärs geeifert, bei der zwei¬
ten als derjenige, der am entschiedensten darauf drang, Hand in Hand mit der
Nationalversammlung zu gehn. In beiden Fällen erregte er das Mißfallen der¬
jenigen Partei, die für den Augenblick das Uebergewicht hatte, und aus beiden Fällen
wird der Unbefangene jetzt wol erkennen, daß der Prinz von einer richtigen Ein¬
sicht ""oder einem richtigen Jnstinct geleitet wurde.
Denn der Barrikadenkampf des 18. März galt nicht einer geschlossenen Par¬
tei, zu deren Forderungen und Ansprüchen die Regierung ein bestimmtes Verhältniß
einnehmen konnte, sondern einer unorgcunsirtcn Menge, die, nachdem alles zuge¬
standen war, was die rechtmäßigen Vertreter des Volkes gewünscht hatten, die Ord¬
nung und das Gesetz in der Hauptstadt bedrohte.
Und in der wüsten Anarchie, die im Frühling 184!) in Deutschland eingebro¬
chen war, mußte man die frankfurter Nationalversammlung als die einzige consti-
tuirte bis auf weiteres von allen Regierungen anerkannte Gewalt begrüßen, die den
ernsten Willen zeigte, mit Preußen Hand in Hand zu gehen.
Auch was man weiter von der Haltung des Prinzen erzählt! gegenüber Ol-
mütz; in der orientalischen Frage und neuerdings bei den Intriguen zwischen der
russisch-französischen und der englisch-östreichischen Diplomatie, spricht dafür, daß er
in der auswärtigen Politik überall scharf den Kern der Sache zu finden wußte.
Daß er in allen diesen Fällen seine Ansicht der Ansicht des Königs unterord¬
nete und vielleicht grade um jeder Mißdeutung vorzubeugen, das Militär und die
Behörden sehr streng auf die Pflicht des Gehorsams hinwies, zeigt ebenfalls, daß
er von dem Grundsatz einer conservativen Monarchie durchdrungen war, nach wel¬
chem das Schlimmste, was einer Monarchie begegnen kann, die Unklarheit über den
natürlichen Schwerpunkt derselben ist.
Man sagt, daß ihm in früherer Zeit der Begriff des constitutionellen Staats
nicht zugesagt habe, er hat aber, was auch seine Ansichten gewesen sein mögen,
überall scharf markirt, daß das Recht über der subjectiven Ansicht des Monarchen
stehn müsse, und daß der Rechtszustand Preußens jetzt die constitutionelle Verfassung
sei. Die correcte Form, in welcher die Uebernahme der Regentschaft und die gesetz¬
lich damit verbundene Beschwörung der Verfassung vor sich gegangen ist, spricht am
deutlichsten für die vollständige Klarheit feiner Ueberzeugung.
Hier müssen wir noch auf einen Punkt eingehn , der in den vergangenen Wo¬
chen den Hauptpunkt der Debatte bildete. Wenn man auf der einen Seite die An¬
sicht vertrat, der Prinz habe die Regentschaft als ältester Agnat kraft seines durch
die Verfassungsurkunde bestätigten angebornen Rechts zu übernehmen, so wurde auf
der andern behauptet, sie könne nur durch Uebertragung des Königs zu Stande
kommen. Bekanntlich hat der Prinz bei seiner Uebernahme der Regentschaft beide
Motive zusammengestellt, und es ist ein unberechenbares Glück für den preußischen
Staat, daß er das konnte. Ein Conflict hätte zu den peinlichsten, ja zu den ge¬
fährlichsten Untersuchungen geleitet. Wie die Sache jetzt steht, kommt es nicht dar¬
auf an. das Verhältniß der beiden Motive zueinander zu zergliedern. Macaulay
hat bei seiner Analyse der Staatsvcränderung, welche Wilhelm 3. auf den Thran
erhob. sehr richtig nachgewiesen, daß es bei solchen Acten auf die rein äußerliche
formale Logik nicht ankommt. Auch jene Staatsveränderuug wurde durch zwei Mo¬
tive begründet, die ihrem Wesen nach einander widersprachen, Sie war hervor¬
gegangen aus dem Kompromiß zweier Parteien, von denen jede ihren eigenthüm¬
lichen Bestimmungsgrund geltend machen wollte, nud da beide zu dem nämlichen
Resultat führten, so konnte man es sich gefallen lassen. So ist es auch in unserm
Fall. Der Prinz übernimmt die Regentschaft, da die dauernde Behinderung des
Königs ärztlich constatirt ist, kraft seines Rechtes als ältester Agnat, und wie es
seinem Herzen ein Trost war, daß der König seinen Wunsch und Willen mit diesem
durch die Natur der Dinge gebotenen Ausgang vereinigte, so wird es für das ge-
sammte Volk eine Genugthuung sein, daß das Königshaus in voller Einstimmigkeit
gehandelt hat. Es versteht sich von selbst, daß für den Fall eines Aufhörens
der Regentschaft das nämliche Verfahren zu beobachten ist: das ärztliche Gut¬
achten, die Willenserklärung der beiden beteiligten Fürsten, die Sanction des Landtags.
So gerecht aber die Hoffnungen erscheinen, die man auf die Person des neuen
Regenten setzt, so hat die Times vollkommen Recht, wenn sie das preußische Volk
warnt, zu viel darauf zu bauen. Bei der gesunden Entwicklung eines Staats
reicht der edelste Wille eines Fürsten nicht aus, die Hauptsache hat immer das Volt
selbst zu thun. Wenn es aber jemals in die Hände des preußischen Volks gelegt
war, seine Reift für eine freie Verfassung nachzuweisen, so ist es der gegenwärtige
Augenblick, und darum sehn wir den bevorstehenden Landtagswahlen zwar mit Hoff¬
nung, ab'er auch mit ernster Sorge entgegen. Gelingt es auch diesmal nicht, das
Volk aus zehnjähriger Lethargie aufzurütteln, so hat Preußen für die Verzögerung
seines Fortschritts niemand anzuklagen als sich selbst.
Auch hier kommt die Regierung dem Volk hilfreich entgegen. Zwar ist uns der
Wortlaut des von dem provisorischen Minister des Innern an die Beamten, nament¬
lich an die Landräthe erlassenen Eirculars noch nicht bekannt, aber über die all¬
gemeine Fassung desselben ist wol kein Zweifel mehr. Die Beamten werden ange¬
wiesen, der gesetzlichen Freiheit der Wahlen kein Hinderniß in den Weg zu legen
und es wird zugleich der Wunsch ausgesprochen, daß nicht zu viel Verwaltungs¬
beamte, namentlich Landräthe ihrem natürlichen Beruf entzogen werden mögen.
Diese Verordnung bedarf eines Commentars.
Abstract betrachtet, gehört es zu den wichtigsten Bestimmungen aller wahrhaft
constitutionellen Staaten, daß die Wahl eines Beamten zum Volksvertreter die Re¬
gierung verpflichtet, ihm für diese Periode Urlaub zu ertheilen. Es wäre ebenso
unrecht, einen Beamten vom passiven Wahlrecht auszuschließen, wie irgend eine
andere Classe des Volks; es wäre in Preußen um so weniger rathsam, da im Be-
amtenstand, was man auch gegen denselben einwenden mag, immer noch die meiste
politische Bildung ist. Dennoch wird niemand die Berechtigung dieses Eirculars
verkennen, wenn man ins Auge saßt, was von Seiten des damaligen Ministeriums
des Innern vor drei Jahren geschehn ist.
Das constitutionelle Staatsleben hat bei den unendlichen Vortheilen, die es
dem Volk verschafft, auch einen erheblichen Uebelstand: es führt in der Regel zur
Partcircgicrung. Das jedesmalige Ministerium betrachtet sich als den Ausdruck einer
bestimmten Partei und besehe die sämmtlichen von ihm abhängenden Staatsämter
mit den Anhängern derselben. Nicht Geschäftskenntniß und Redlichkeit des Dienstes,
sondern Eifer für die herrschende Partei ist der Befördernngsgrund. Es wäre we¬
nigstens zu versuchen, ob Preußen, das bis 1847 durch das entgegengesetzte System
groß geworden ist, diesen Uebelstand nicht vermeiden könnte.
Bekanntlich waten wir in Preußen, ohne von den Früchten des constitutionellen
Lebens viel zu genießen, auf dem besten Wege zu einer einseitigen Parteiregieruug,
und nirgend hat sich dieselbe so unumwunden ausgesprochen, als in dem Eircular,
welches der Minister des Innern vor drei Jahren an die Landräthe erließ und in
der Rede, in welcher der geheime Regierungsrath Hahn diesen Erlaß als Ausfluß
der höchsten Staatsweisheit präkonifirte. In diesem Erlaß wurde nicht blos den
Landräthen aufgegeben, alle ihre Kräfte aufzubieten, die Wahl conservativer d. h.
reactioncircr Candidutcn zu Stande zu bringen, sondern es war ausdrücklich hinzu¬
gesetzt, daß der«Erfolg dieses Bemühens zugleich maßgebend für das Vertrauen sein
würde, welches die Regierung in die Wirksamkeit des Landraths zu setzen habe. Was
das heißen sollte, bedarf keines Commentars.
Infolge dessen hat sich nicht blos in den Landtag eine „conservative Phalanx"
von LandräthcnMeingefundei^, die wie auf Kommando mit Herrn v. Westphalen
und Herrn Geheimrath Hahn stimmten, sondern sie haben sich durchweg ihrem
Kreise als Agenten einer bestimmten Partei dargestellt. Es wäre möglich, daß sich
jetzt unter veränderten Umständen manche darunter finden, die „rechtsum kehrt"
machten, aber eine solche Erscheinung wäre für das Ansetzn der Regierung und
für die Ordnung des Staats überhaupt im höchsten Grade bedenklich. Wenn also nicht
bei der Besetzung der wichtigsten Aemter, bei welcher das conservative Princip, mit
andern Worten, die höchste Stabilität wünschenswert!) ist, der Parteicinfluß dominiren
soll, so muß diese Classe der Beamten im gegenwärtigen Augenblick möglichst von
allem Parteigctricbc ferngehalten und auf die formelle Ausübung ihres Amts be¬
schränkt werden.
Die neuen Landtagsabgeordneten werden alsdann die Reife des Volks am
sichersten dadurch bekunden, daß sie mit unerschrockener Energie darauf dringen, daß
die Verfassung eine Wahrheit werde, und daß sie ihr Bestreben auf diesen einen
Punkt beschränken. Wir haben bereits das schlesische Programm als den angemesse¬
nen Ausdruck dieser Aufgabe analysirt, und je strenger sich der Landtag an dasselbe
hält, desto mehr wird es ihm gelingen, der Regierung wie dem Volk Achtung ab-
zunöthigen. Unverdrossen und unerschütterlich in dem Nachweis dessen, was den
Verfassungsbestimmungen noch fehlt, um klar, evident und mit sich selbst in Ueber¬
einstimmung zu fein, und was in der Verwaltung noch verbessert werden muß, um
diesen Bestimmungen gerecht zu werden, wird er sorgfältig vermeiden, ans ander¬
weitige Wünsche einzugehn, die, an sich vielleicht völlig berechtigt, das gegenwärtige
Stadium unsrer Entwicklung nur in Verwirrung setzen können; wenn er seine Auf¬
gabe so begreift, so werden die nächsten drei Jahre die segensreichsten unsrer Ge¬
Das literarisch-artistische Eigenthum hat auf dem eben abgehaltenen inter¬
nationalen Congreß zu Brüssel nunmehr die umfassendsten Garantien für seinen
Schutz erhalten. Fast von allen europäischen, so wie von den Vereinigten
Staaten Nordamerikas sind Vertreter dort gewesen und haben die Bereit¬
willigkeit ihrer Regierungen zur gesetzlichen Durchführung der Beschlüsse des
Congresses zugesagt oder doch in Aussicht gestellt. Das geistige Eigenthum
hat somit gegründete Aussicht aus die Anerkennung der gesammten civilisirten
Welt und wird durch die von allen Staaten zu erwartende Gleichmäßigkeit
der zu seinem Schutz zu treffenden rechtlichen Bestimmungen günstiger gestellt
werden, als es bis dahin einem andern Institut des Privatrechts zu Theil
o ,orden — es wird nunmehr einen gleichsam völkerrechtlichen Charakter er¬
halten. Wir begrüßen diese Einigung der civilisirten Welt als einen weitern
Beleg für die fortschreitende Cultur unseres Jahrhunderts; wir erblicken darin
eine sichere Garantie, daß nun auch für die übrigen Institute von internatio¬
naler Bedeutung, vorab für den Handel, eine gleich allgemeine rechtliche Be¬
handlung möglich sein werde.
An den Regierungen der Einzelstaaten wird es jetzt sein, die Beschlüsse
des Congresses auf gesetzlichem Wege zur Ausführung zu bringen, oder etwa
noch aufsteigende Bedenken durch Verhandlungen unter sich auszugleichen.
Nicht weniger hat aber auch die Presse der Einzelstaaten das Rechet und die
Pflicht, die Bedeutung und Tragweite dieser Beschlüsse vor das Forum ihrer
nationalen Rechtsanschauung zu ziehn und etwaige Zweifel über ihre Zu-
lässigkeit zu constatiren oder zu beseitigen. Wir glauben wenigstens nur dieser
Pflicht zu genügen, wenn wir hier einmal die Frage über die Dauer des
geistigen Eigenthums einer nochmaligen Prüfung unterwerfen. Bekanntlich
hat eine Minorität auf dem Congreß mit äußerster Anstrengung das Princip
vertheidigt, den Rechten der Schriftsteller und Künstler an ihren geistigen Er¬
zeugnissen müsse eine ewige Dauer zugestanden werden, während die Majo-
Mit dieses Recht nur für die Lebenszeit des Autors und dessen Gattin, so
wie 50 Jahre lang nach deren Tod anerkannt hat. Wie stellt sich unser deut¬
sches Rechtsbewußtsein zu diesem Beschlusse der Majorität?
Man wende uns nicht ein, diese Frage sei grade für uns Deutsche durch
die bekannten Bundesbcschlüsse thatsächlich längst entschieden. Wir werden aus
der Geschichte dieser Bundesbeschlüssc, so wie aus den betreffenden Berichten
der Ausschüsse e.röchelt, daß der Bundestag bei allen seinen Beschlüssen diese
Frage stets umgangen hat, daß die Stellung, die er zum Recht der Schrift¬
steller und Künstler eingenommen, eine wesentlich andere war, als die des
Kongresses. Sollten wir also im Verlauf unserer Untersuchung uns sür die
Ansicht der Minorität erklären, so würden wir insoweit den Beschlüssen des
Kongresses nicht beitreten können, wir würden vielmehr von der Bundcsgesetz-
gcbung die entsprechende Erweiterung des Rechtsschutzes für die Erzeugnisse
der Wissenschaft und Kunst beanspruchen müssen.
Der Artikel 18 ä der Bundesacte vom 8. Juni 1815 bestimmt:
„Die Bundesversammlung wird sich, bei ihrer ersten Zusammenkunft,
mit Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Preßfreiheit und
Sicherstellung der Rechte der Schriftsteller und Verleger gegen den Nach¬
druck beschäftigen."
Zu dieser Beschäftigung hatte jedoch die Bundesversammlung lange keine
Zeit. Erst in der Sitzung vom 22. Juni 1813 wurde diese Angelegenheit
einem Ausschuß überwiesen, der dann in der Sitzung vom 22. Februar 181»
unter Vorlage eines vollständigen Gesetzentwurfs Bericht erstattete. Bemerkens¬
wert!) ist aus diesem Entwurf für uns nur die Bestimmung, daß die Rechte der
Schriftsteller und Verleger — nicht-aber deren Erben— einen zehn,.respective
fünfzehnjährigen Schutz genießen sollten, und sodann noch die Fassung des
Artikel 1, welcher lautete: „Jede Vervielfältigung der in den Staaten des deut¬
schen Bundes erscheinenden Druckschriften ze. durch den Druck :c. ohne die
Einwilligung ihrer Urheber :c. ist verboten. Jeder Eingriff dieser Art in die
Eigenthumsrechte der Verfasser und Verleger ist als strafbarer Nachdruck zu be¬
trachten." Mit Recht machte Preußen gegen die Fassung dieses Artikels
geltend: „daß durch die zu erlassende Verordnung nicht erst die Schriftsteller
und Verleger Rechte erhalten sollten, als wenn sie ohne eine solche Ver¬
ordnung gar keinen Anspruch auf dergleichen machen könnten;" es blieb mit
dieser Auffassung ziemlich isolirt. Die meisten Regierungen nahmen vielmehr
grade daran Anstoß, daß man durch ein für alle Bundesstaaten verbindliches
Gesetz die Rechte der Schriftsteller und Verleger ein für allemal feststellen und
nicht wie bisher den erforderlichen Schutz durch Privilegien gewähren wolle.
Von einzelnen Regierungen wieder gingen innerhalb der nächsten Jahre Jn-
structionen überhaupt nicht ein, und die Sache kam eben vollständig ins Stocken.
Man hatte sich nun aber doch einmal durch den Art. 18 ä der Bundesacte und
die bisherigen Schritte gebunden. Baiern stellte deshalb einen Vermittlungs¬
antrag, welcher im Wesentlichen darauf hinauslief, von einer Regelung der
hier fraglichen Verhältnisse durch ein förmliches Gesetz Abstand zu nehmen
und nur eine allgemeine Uebereinkunft abzuschließen, nach welcher jedem Ver¬
leger ein Privileg auf bestimmte Jahre zu geben sei, das dann im Umfang
des Bundes gleichförmig in Ehren gehalten werden solle. Zur Motivinmg
dieses charakteristischen Antrags hatte die vaicrische Regierung gesagt! „Der
vorgelegte Gesetzentwurf greife unverkennbar so tief in die Polizeigcwcilt,
so wie in die Civil- und Strafgesetzgebung ein, daß er für alle Bundesstaaten
in Beziehung auf ihre Souveräne tat, ihre besondern Verfassungen und
ihre Bundesgesetzgcbung unstreitig von höchster Wichtigkeit sei u. s. w." War
man aber bisher blos getheilter Meinung über den Gesetzentwurf gewesen, so war
man es nun auch noch über diesen Antrag Baierns. Die Sache selbst hatte
.unter beiden Vorschlägen zu leiden 'und die buntscheckige Gesetzgebung, oder
auch der Mangel jeder Gesetzgebung, über den Nachdruck blieb in den Einzel-
staaten nach wie vor. Um diesen unseligen Zustand wenigstens einiger¬
maßen zu lindern, brachte Preußen in der Sitzung vom 20. August 1829
einen Antrag ein, der darauf hinausging, „bei Anwendung der gesetzlichen
Vorschriften und Maßregeln gegen den Nachdruck den Unterschied zwischen den
eignen Unterthanen und denen der übrigen Bundesstaaten fallen zu lassen
unbeschadet jedoch des Fortganges der bisherigen Verhandlungen." ' Diesem
Antrag trat auch der Bund durch Beschluß vom 6. September 1832 bei. Viel
war jedoch auch hiermit nicht gewonnen, da die Staaten, welche nur auf er¬
theilte Privilegien hin die Rechte der Schriftsteller achteten, nach wie vor Sitz
der Nachdruckindustrie bliebw'.
In dieser Lage verblieb ti«i Sache bis zu den wiener Ministerconserenzen
vom Jahre 1834. Dort einigte man sich im Artikel 36 des Schiußprotokolls
wenigstens dahin: „daß der Nachdruck im Umfang des ganzen Bundesgebiets
zu verbieten, und das schriftstellerische Eigenthum nach gleichförmigen
Grundsätzen festzustellen und zu schützen sei." Die Bestimmungen dieses Ar-
tikels 36 kamen denn auch wörtlich -durch den Bundesbeschluß vom 2. April
1835 zur Ausführung. Hiermit waren endlich zwei Principien festgestellt
worden: das positive allgemeine Verbot des Nachdrucks und die Anerken¬
nung des schriftstellerischen Eigenthums. Die Differenz, ob durch ein
umfassendes Gesetz oder nur durch eine Einigung im Sinne des baierischen
Antrags die vollständige Regelung der unglücklichen Sache erfolgen solle, blieb
nach wie vor bestehn. Man wußte zuletzt beim Bunde selbst nicht mehr,
was man in dieser Beziehung eigentlich wolle. Da setzte Würde In¬
ders dem Bunde gleichsam die Pistole auf die Brust, indem es die einfache
Frage vorlegte, ob überhaupt noch von Bundeswegen gleichmäßige Bestim¬
mungen in dieser Sache getroffen werden sollten, oder ob man das Uebrige
den Einzelregierungen überlassen wolle. Der hierüber erstattete Ausschußbericht
erwog die Lage der Umstände und entschied sich dafür,'daß man sich auf
einige in sämmtlichen Bundesstaaten zur Anwendung zu bringende Haupt¬
grundsätze beschränken und daneben nur noch ausdrücklich sich dahin ausspre¬
chen solle, das Verbot des Nachdrucks müsse in jedem Fall in allen Staaten
zum Vollzug gebracht werden. Der Bundestag trat diesem Antrag durch Be¬
schluß vom 5. Sept. 1835 bei, und der Gedanke eines allgemeinen umfassen¬
den Gesetzes wurde somit aufgegeben. Nunmehr endlich erfolgte nach weitern
langwierigen Verhandlungen unter dem 9. Nov. 1837 der bekannte Bundes¬
beschluß, welcher die literarischen Erzeugnisse aller Art, so wie die Werke der
Kunst auf mechanischem Wege zu vervielfältigen verbietet, und den Rechten
des Urhebers ze.. so wie deren Erben zehn Jahre lang nach Erscheinen des
Werks seinen Schutz zusichert. ' .
i , Dies war also die Ausbeute zweiundzwanzigjähriger Berathungen und Ver¬
handlungen. Hören wir nun einmal, von welchen Gesichtspunkten der Bund bei
diesem Beschluß ausging. Der Ausschußbericht spricht sich hierübersolgendermaßen
aus: „Die Commission glaubt, daß der Schutz nicht zu weit auszudeh¬
nen sein dürfte, welcher den Schriftstellern und Verlegern von Seiten der Ge¬
sammtheit des Bundes zu gewähren ist. Da alle Bundesmitglieder mit dem
als allgemeingiltigen Grundsatz auszusprechenden Termin einverstanden sein
müssen, kann es sich ohnehin nur von einem Minimum handeln, das zu er¬
strecken jedem Bundesstaat unbenommen sein muß. Hierzukommt das Inter¬
esse des großen Publicums, das mit einem zu weit ausgedehnten
Schutz der Schriftsteller und Verleger unvereinbar wäre. Die unmittelbare
Folge eines solchen Schutzes würde eine unverhültnißmäßige Vertheue-
rung der Gegenstände des Buch- und Kunsthandels sein, indem die Schrift¬
steller und Verleger sich das ihnen ertheilte gleichsam unbeschränkte Mo¬
nopol zu Nutze machen und den Preis ihrer Waare willkürlich steigern
würden. Diesem Uebel könnte auch nicht durch ein Regulativ der
Bücherpreise entgegengewirkt werben, weil die Aufstellung eines, sol¬
chen Regulativs bei der unendlichen Verschiedenheit der im Buch- und Kunst¬
handel begriffenen Gegenstände ebenso schwierig als dessen Handhabung un¬
ausführbar sein würde. Die Commission betrachtet den Schutz, welcher den
Schriftstellern und Verlegern von Seiten des Bundes gegen den Nachdruck ge¬
währt werden soll, in dem Lichte eines Erfindungsp atentes, nach dessen
Erlöschen das betreffende Werk Gemeingut wird, und das daher auch nichts
zu weit gegriffen sein darf, wenn das große Publicum aus dem Er¬
löschen des Patentes den ihm gebührenden Vortheil ziehen soll.--
Dagegen ist die Commission der Ansicht, daß das Recht des Urhebers eines
Werks der Wissenschaft und Kunst gegen unbefugte Vervielfältigung wie jedes
ändere Eigenthum auf dessen Erben und Rechtsnachfolger übergehe."
Was die Geschichte dieses Bundesbcschlusses nicht schon längst deutlich er¬
zählt hatte, war hier auf einmal gradezu ausgesprochen: Man reglenien-
tirte polizeimäßig die ganze verdrießliche Angelegenheit, man stopfte den fa¬
talen Literaten und Verlegern endlich einmal den Mund. Der Gedanke, daß
man nicht etwa ein Recht zu geben, daß man vielmehr nur ein aus der
Natur der Verhältnisse hervorgewachscnes Recht anzuerkennen und Jahrhun¬
derte altes Unrecht zu beseitigen habe, daß man also nicht nach den Interessen
des „großen Publicums" und nach polizeilichen Gesichtspunkten die Dauer
dieses Rechts auf einzelne Jahre abmessen könne, vielmehr aus der Natur
dieses Rechts selbst die Frage zu entscheiden habe, welche Dauer ihm zukom¬
men müsse — diese ganze Auffassung, von welcher auf dem Kongreß zu Brüs¬
sel Minorität sowol, wie Majorität ausging, ist dem deutschen Bund bei
seinem Beschluß vom s. Novbr, 1837 nicht in den Sinn gekommen. Immer¬
hin war damit praktisch unendlich viel gewonnen. Vor allem war eine ge¬
meinsame Grundlage gegeben, auf der sich weiter bauen ließ. Ein weiteres
Fortschreiten auf der einmal gefundenen Bahn erfolgte denn auch schon durch
den Bundesbeschluß vom 22. April 1841, welcher die dramatischen und musi¬
kalischen Erzeugnisse zehn Jahre lang gegen unbefugte Ausführung schützte.
Diesen Schutz dehnte sodann der Bundesbeschluß vom 12. März 1857 aus
die Lebenszeit des Dichters und Componisten und noch weitere zehn Jahre
aus, nachdem schon durch den Bundesbcschluß vom 19. Juni 1845 der Schutz
der literarischen und artistischen Erzeugnisse auf die Lebenszeit der Schriftsteller
und Künstler und noch dreißig weitere Jahre erstreckt war.
Bei allen diesen weitern Schritten ist jedoch vom Bunde der Gesichts¬
punkt der Gnade, der obrigkeitlichen Fürsorge nicht aufgegeben worden. , Die
Ausschußberichte zum letzten Bundesbeschluß vom 12. März 1857 sprechen sich
hierüber noch grade so gönnerhaft willkürlich aus, wie es die Commission
zum Beschluß vom 9. November 1837 gethan hatte. Sie sagen z. B.: „der
Ausschuß muß es uns jedenfalls schon sür eine gerechte Verbesserung
der Lage der dramatischen und musikalischen Autoren in Deutschland und
für angemessen und wünschenswerth halten, wenn die beregte Bestim¬
mung zum Bundesbeschluß erhoben wurde." An einem andern Orte heißt
es: „Gleichwie in den Bundesbeschlüssen gegen den Nachdruck und die unbe¬
fugte Nachbildung literarischer und artistischer Werke allmäli'g zu dem durch¬
greifenden Princip des lebenslänglichen Schutzes der Autoren über¬
gegangen ist, ebenso dürfte es sich auch empfehlen, in Beziehung auf den
Schutz gegen unbefugte Aufführung musikalischer und dramatischer Werke zu
diesem Grundsatz mit der der Sache angemessenen Modification vorzu¬
schreiten. Ein solches allmäliges Fortschreiten an der Hand des
Bedürfnisses und der Erfahrung liegt in der Natur der Sache
begründet."
Wenn wir bei dieser Charakteristik der Auffassung des Bundes uns viel¬
leicht etwas länger aufgehalten haben, als es die Bedeutung derselben für
unsern Zweck erforderte, so mag uns hierbei die eigenthümliche politische und
culturgeschichtliche Bedeutung dieser. Auffassung als Entschuldigung dienen.
Es kann das Verhalten des Bundes zu unsrer Nation nichts treffender charak-
terisiren als dies halb großmüthige halb mißtrauische — Spielen mit dem
-Recht der Schriftsteller und Künstler; es kann die Höhe der culturgeschichtlichen
Stellung des brüsseler Congresses nichts so sehr veranschaulichen als ein Blick
vom Niveau der Auffassung des Bundestages. Wir wissen zwar recht wohl,
daß es einmal in der Wissenschaft streitig gewesen ist, ob der Schriftsteller
und Künstler an seinen Werken wirklich ein ausschließliches Recht habe, wir
wüßten sogar einzelne Juristenfacultäten namhaft zu machen, die das Recht
gradezu leugneten. Es dies aber^doch gottlob schon etwas lange her, und
wir glauben nicht, daß man heutzutage diesen abgeschmackten Zweiflern des
vorigen Jahrhunderts noch immer die Ehre anthut, dies Recht überhaupt
als zweifelhaft erscheinen zu lassen. Für die juristische Befähigung der be¬
treffenden Herrn Bundestagsgesandter wäre es wenigstens ein schlechtes Kom¬
pliment, wenn man annehmen wollte, sie zweifelten wirklich an der Existenz
eines-Rechts, zu dessen Schutz sie seit vierzig Jahren die außerordentlichsten An¬
strengungen gemacht, dem sie sogar den gewichtigen Namen „Eigenthum" bei¬
gelegt. Ueberdies spricht ja auch der Bund unausgesetzt von den Rechten
der Schriftsteller und Künstler, weshalb sollte er denn nicht auch ein Recht
derselben annehmen. Wenn der Bund trotzdem dies Recht nicht unumwunden
anerfcmnte, wenn er es vielmehr mit der bureaukratischen Papierscheere an¬
fangs in kleineren, allmälig aber „an der Hand des Bedürfnisses und der
Erfahrung" in größeren Portionen den Berechtigten vorgeschritten hat. so
müssen wir den Grund hiervon wo anders suchen. Der Bund war zu vor¬
nehm, um den armen Künstlern und Schriftstellern, er war zu gereizt und
zu mißtrauisch, um den verhaßten demagogischen Schreiern und Verlegern
an ihren Erzeugnissen ein absolutes Recht zuzugestehen, wie es andere ehrliche
Leute an ihren Arbeiten auch haben. Der Gedanke, daß Schriftsteller und
Künstler Rechte haben sollten, schien bedenklich; denn dann hätten politische
Schriftsteller auch Rechte haben müssen, und denen gestand man nicht einmal
das Recht der Existenz, geschweige denn Rechte zu, die ihre Existenz hätten
sichern können. Wer mochte wissen, welche politische Umwälzung durch, die
unumwundene Anerkennung des schriftstellerischen Eigenthums möglich werden
konnte — also vorsichtig! Man konnte es ja einmal mit zehn Jahren probiren,
nachher ließ sich immer noch ab- und zuthun. Bei dieser Auffassung konnte
also der Bund unmöglich zur Entscheidung unsrer Frage kommen, wie weit
denn wol nach der Natur des geistigen Eigenthums der Rechtsschutz ausgedehnt
werden, ob nicht vielleicht dieses Recht eine ebenso lange Dauer haben müsse,
als das körperliche Eigenthum auch. —
Das Haus, das ich gebaut, geht in den Privatbesitz meiner Erben und
deren Rechtsnachfolger ungehindert über und wird als Gegenstand des Privat¬
rechts anerkannt, so lange es überhaupt existirt. Das Buch, das ich geschrieben,
soll für meine Erben nur fünfzig Jahre lang Gegenstand des Privatrechts sein,
von da ab soll sich sein privatrechtlicher Charakter verflüchtigen, es soll von
da ab Gemeingut aller werden. Wie rechtfertigt sich diese'Verschiedenheit der
rechtlichen Behandlung? Sie rechtfertigt sich überhaupt nicht, hat die Minorität
des brüsseler Kongresses gesagt, es ist Mißhandlung der Rechte des Schrift¬
stellers; denn es gibt keinen Unterschied zwischen körperlichem und intellectuellen
Eigenthum. „Eure Argumente sind die Argumente von Communisten" hat
Jules Simon, der geistreichste Wortführer der Minorität, gerufen, „und ich
sage Euch, diese Argumente werden sich eines Tags gegen Euch selbst kehren.
Wenn Ihr die freie Verbreitung Nossinischcr Melodien mit dem Grunde recht¬
fertigt, die Menschheit muß Melodien haben, so werden Euch die Arbeiter
«nes Tages sagen, wir müssen Brot haben, rend Ihr werdet ihnen nichts
hierauf erwidern können." Und was hat die Majorität hierauf erwidert?
Es gibt nur ein Eigenthum an körperlichen Sachen, ein intellectuelles Eigen¬
thum ist ein wissenschaftliches Unding; die geistigen Erzeugnisse siud'geschöpft
aus dem allgemeinen geistigen Fonds der Menschheit, sie müssen später auch
wieder dahin zurückkehren; ein dauerndes Einzeleigenthum an der geistigen
Schöpfung würde dieselben der Willkür des jeweiligen -Besitzers überantworten
wo wäre die Erfindung der Buchdruckerkunst hin, wäre sie in das Eigen¬
thum eines fanatischen Mönchs gefallen!
Das sind die Argumente der Majorität gewesen. Schützen sie wirtlich
gegen den scharfen Vorwurf Jules Simons, und geben sie eine befriedigende
Lösung der erregten Zweifel? Ein rechtliches Princip - muß sich einem jeden
Unbefangenen fast ebenso streng beweisen lassen wie ein mathematischer Satz,
oder es taugt nichts. Uns dünkt, das große Rcchtspnncip, das die Majori¬
tät des Kongresses der civilisirten Welt verkündet hat, sei mehr mit dem Jn-
stinct als mit dem zwingenden Verstand entschieden worden.'
Man wird nicht weit damit kommen, will man das Princip der Majori¬
tät mit dem Satze der Schule rechtfertigen: Es gibt nur ein Eigenthum an
körperlichen Sachen. Das sind Wortklaubereien, würde man uns entgegen¬
halten; das unumschränkte und ausschließliche Dispositionsrecht über einen
körperlichen Gegenstand heißt körperliches Eigenthum, das unumschränkte und
ausschließliche Dispositionsrecht über ein geistiges Erzeugniß heißt geistiges
Eigenthum. Das erste hat der Erbauer eines Hauses, das zweite hat der
Schöpfer eines geistigen Werks. ' Kannten die Römer und die altgermanischen
Völker ein solches geistiges Eigenthum nicht, so lag das an ihrer geringeren
Culturentwicklung. Die heutige civilisirte Welt kennt es aber .und deshalb
stellen wir das geistige Eigenthum dem körperlichen gleich.
Heißt das aber nicht auch mit dem Wort gefochten? Ist dieser Schluß
nicht etwa blos deshalb möglich, weil man das Recht des Autors auf sein
Erzeugniß „Eigenthum" zu nennen beliebt hat? — So ist es allerdings. In
Rechtsfragen argumentire aber blos der Dilettant mit Worten und Schulsätzen,
der tüchtige Richter entscheidet immer nur aus der Natur der Sache. Gehen
deshalb auch wir einmal von den Worten ab und auf die Natur der Sache.
Müssen wir uns bei genauer Betrachtung der Eigenthümlichkeit beider Rcchts-
objecte gestehen, daß wirklich ein wesentlicher Unterschied zwischen körperlichen
Sachen und den Schöpfungen unsers Geistes existirt, dann — aber auch'nur
dann — wird auch das Recht einen Unterschied statuiren dürfen.
Wir argumentiren indeß bei diesem letzten Schluß mit einem Satz, dessen
Richtigkeit wir zwar nicht wissenschaftlich streng beweisen wollen, dessen Be¬
deutung und Eigenthümlichkeit wir jedoch erst noch etwas näher glauben ent¬
wickeln zu müssen. Die unendliche Verschiedenheit der Rechtsverhältnisse und
Rechte hat ihren Grund nicht etwa in der unendlichen Verschiedenheit der
Menschen und deren Charakteren und Situationen. Die Menschen sind viel¬
mehr im Recht — dies ist wenigstens die Regel — alle gleich, sie kommen
alle nur von der einen Seite in-Betracht, ob sie einen Willen haben oder
nicht, ihre übrigen Verschiedenheiten, wie z. B. Geschlecht, Alter, Amt sind
im Recht völlig gleichgiltig. In unserm obigen Beispiel kann also das frei
vererbliche Recht des Hauserbaucrs an seinem Hause und das beschränkt ver-
erbliche Recht des Schriftstellers an seinem Werke nicht darin seinen Grund
haben, weil der erste etwa ein Zimmermann und der zweite ein Dichter ist.
Was unser Recht so verschiedenartig gestaltet, das sind — jedoch auch wieder
nur im Großen und Ganzen — die Objecte unsrer Rechte und deren unend¬
lich verschiedene Eigenschaften. Diese Verschiedenheit der Eigenschaften der
Rechtsobjecte bedingt nämlich im einzelnen Fall naturgemäß und nothwendig
auch ein ganz verschiedenes Verhalten des Menschen gegen dieselben, d. h.
also ganz verschiedene Rechtsverhältnisse, ganz verschiedene Rechte. Die Ver¬
pflichtung eines dritten, irgend etwas sür mich zu thun, ist z. B. ein Nechts-
object für mich; das Landgut, dessen Eigenthümer ich bin, ist gleichfalls ein
Nechtsobject sür mich. Zwischen beiden besteht aber offenbar ein ganz un¬
geheurer Unterschied und folglich auch zwischen meinem Recht am einen und
am andern. Ein Landgut ist sodann wieder ein ganz anderes Ding als eine
Taschenuhr. Die letztere kann ich überall hin mit mir transportiren, das
Landgut muß ich wol liegen lassen, wo es liegt. Diese Verschiedenheit des
Landguts von der Taschenuhr wirkt aber wieder auf unser Verhalten zu bei¬
den, auf unser Recht an beiden zurück.
Dies wird genügen, um die Natur und Bedeutung dieses Princips klar
zu stellen. Beweisen wollen wir, wie gesagt, dasselbe nicht, es ist dies von
der Wissenschaft längst geschehen. Nehmen wir also einmal den Satz als
feststehend an: die Verschiedenheit der Rechtsobjecte hat stets auch ein ver¬
schiedenes Verhalten der Menschen zu den Nechtsobjecten und dies eine Ver¬
schiedenheit der Rechte selbst zur Folge, und treten wir mit diesem Satz ein¬
mal an unser obiges Beispiel heran.
Das Object vom Recht des Hauserbauers ist ein großes, sichtbares, greif¬
bares Ding, das er bewohnt, das ihm eine Rente abwirft, das er vielleicht
noch verschönert, das er in Bau und Besserung erhält; das Object vom Recht
des Dichters ist ein unsichtbares, blos für den Geist wahrnehmbares Gebilde
der Phantasie, das er in Druck und Verlag gibt, das ihm Ruhm, Ehre
und Geld einbringt, das er vielleicht noch verändert und verbessert. Wir
sehen, bis jetzt ist noch kein großer Unterschied im Verhalten beider zu
ihren Rechtsobjecten sichtbar, der Thätigkeit des Hauserbaucrs correspondirt
un Allgemeinen fast vollständig die Thätigkeit des Dichters. Dem Dichter
für seine Person hat ja aber auch die Majorität des Kongresses ein un¬
beschränktes Recht zugestanden, nur die Erben des Dichters sollen dies un¬
beschränkte Recht nicht mehr haben. Betrachten wir uns daher einmal die
Erben beider Personen. Der Erbe des Hauserbaucrs bewohnt das Haus,
es wirft ihm eine Rente ab, er verschönert es vielleicht noch, er erhält es in
Bau und Besserung, genug, es gibt keine Thätigkeit seines Erblassers, die er
nicht unbeschadet der Integrität des Hauses auch ausüben könnte; der Erbe
des Dichters gibt das Drama in Druck und Verlag und es bringt ihm da¬
durch Geld ein. Verändern und verbessern kann er es nicht, denn dann bleibt
es nicht mehr das Werk seines Erblassers; Ruhm und Ehre bringt es ihm
auch nicht ein, denn die hängen ausschließlich an der Person des Dichters.
Aber indem er das Drama in Druck und Verlag gibt, erhält er es doch?
Nein, er erhält es auch nicht. Denn^gäbe man den Druck frei, so brauchte
es der Erbe gar nicht in Druck und Verlag zu geben, und es bliebe doch
"halten, vielleicht noch besser als so. Nur auf eine Weise kann der Erbe auf
das Schicksal des Dramas Einfluß gewinnen: er. kann jede neue Auflage
unterlassen und dadurch das Werk seines Erblassers allmälig in Vergessenheit
bringen und unterdrücken. Wir sehen, der Erbe des Dichters kann in keine
der Thätigkeiten eintreten, die sein Erblasser in Bezug auf das Drama cnt-
wickelt hatte, er unterscheidet sich also hierdurch wesentlich von den Erben des
Hauserbauers.
Welche Folgen für das Recht dieser beiden Personen muß dies verschiedene
Verhalten derselben zu ihrem Nechtsobject haben?
Es gibt drei wohlbekannte Rechtssätze, die lauten ungefähr so: Wer sich
drei oder zehn Jahre lang um sein Eigenthum nicht kümmert, der hat es ver¬
loren; wer dreißig Jahrelang seine Forderung gegen den Schuldner nicht geltend
macht, hat sie verloren; der adelige Grundherr, der sein Gut an seinen
Bauern zu Lehn gab, hat sein Gut verloren. Wie kommt es denn, daß
man auf einmal diese wohlerworbenen Rechte nicht gelten lassen will? Sie
haben ihr Recht verwirkt, sagt unser Rechtsgefühl, sie haben keine der Thätig¬
keiten entfaltet, die nach meiner Ansicht dazu gehören, um mir den Gedanken
wach zu erhalten, daß sie ein Recht an diesen Sachen haben. Es ist eben
ein eigen Ding um unser Rechtsgefühl. Es ist das keine leblose Theorie,
die man in Formen und Recepten Jahrhunderte lang aufbewahren könnte.
Es ist vielmehr ein sehr reales Ding, das überall auf den wirklichen Ver¬
hältnissen seine Grundlage haben will real, wie das Leben selbst, in dem
es sich bewegt. Mit eignen Augen will es sich überzeugen, ob der Einzelne
in dem Verhältniß zu seinem Nechtsobject stehe, das allein ihm ein Recht
daran geben und sichern kann, und Bescheinigungen, die eine frühere Gene¬
ration über dies Verhältniß ausgestellt, werden nicht allzusehr hierbei berück¬
sichtigt. So mögen in unsern Bespielen die Eigenthümer und der Fordcrungs-
berechtigte mit noch so vielen Documenten beweisen können, daß ihre Väter
und Großväter, ja sie selbst das fragliche Recht unbestritten gehabt, unser
Rechtsgefühl weist sie doch zurück: sie sind ihm eben mit ihrem Recht aus
dem Gedächtniß gekommen.
Wenn aber unser Rechtsgefühl ein vollkommen wirksam bestehendes Recht
deshalb gradezu aufhebt, weil der bisherige Inhaber die Thätigkeit hinsicht¬
lich seines Ncchtsobjects nicht entwickelt hat, die zur Erhaltung seines Rechts
nothwendig war, um wie viel weniger wird es dann geneigt sein können,
sich für die Fortdauer eines Rechts zu entscheiden, dessen Gegenstand seiner
eigenthümlichen Natur nach für einen jeden andern als den ersten Berechtig¬
ten die erforderliche Thätigkeit unmöglich macht. Dies letztere ist aber, wie
wir sehen, bei dem literanschcn und artistischen Eigenthum der Fall, und die
Majorität des Congresses hat daher mit gutem Grund das Princip der ewigen
Dauer dieses Rechts verworfen.
Es kam uns bei unserer Ausführung allein darauf an, den zwingenden
Rechtsgrund bloß zulegen, auf dem diese Entscheidung der Majorität beruht.
Es wird deshalb, nachdem dies geschehen, nicht ganz unangemessen sein, auch
einmal den Werth der allgemein menschlichen Momente zu prüfen, die mit
ihrem pathologischen Gehalt dem'Laien in der Regel einen Rechtssatz erst so
ganz mundgerecht machen. Wenn die Wortführer der Majorität hervorgeho¬
ben haben, das Schicksal, ja die Existenz einer geistigen Schöpfung, an der
vielleicht Hunderttausende sich ergötzen und erheben, könne nicht in die Will¬
kür eines Einzelnen gelegt werden; wenn der deutsche Bund, etwas weniger
zart, die allzugroße Vertheuerung der Büchcrpreise gegen die dauernde Berech¬
tigung eines Einzelnen geltend gemacht, so mögen diese Gründe für diesen
oder jenen, je nach Charakter und Individualität, immerhin als Mittel die¬
nen, sich die Gerechtigkeit unserer Entscheidung anschaulich zu macheu —recht¬
fertigen, dem kühlen, strengen Rechtsgefühl gegenüber rechtfertigen, können sie
jedoch unsere Entscheidung nicht. Wenn ich ein Recht habe, so gibt mir dies
auch die Befugniß, mit dem Object desselben anzufangen, was ich will; wenn
ich ein Recht habe und ein anderer will davon Genuß ziehen, so mag ich
immerhin den Preis hierfür so hoch stellen, als das Interesse des andern
reicht. Es wird immer eine Verletzung meines Rechts und meiner Persönlich¬
keit bleiben, wenn man mir die freie Disposition über'das Object meines
Rechts entzieht, wenn man den Preis desselben mir octroyirt. Hätte der Erbe
Guttenbergs auch wirklich die Erfindung seines Erblassers wieder vernichtet
^ so unermeßlich dieser Verlust sür die Menschheit gewesen, es wäre jeder
Versuch, ihn daran zu hindern, eine Verletzung seines Rechts geblieben, wenn
man ihm überhaupt eins daran zugestand. Weshalb denn auch dem zweiten
und dritten Berechtigten auf einmal Fesseln anlegen, wenn man sie beim
ersten nicht für gerechtfertigt hält? Oder konnte nicht auch Guttenberg selbst seine
Erfindung der Welt wieder entziehen, kann nicht auch der Dichter selbst den Preis
sür sein Drama so hoch treiben, als es ihm beliebt? Ein Recht bleibt des¬
halb nicht weniger ein Recht, weil seine Ausübung einem dritten unbequem
ist und vor dem Ernst und der Wahrheit dieses Satzes zerstieben alle solche
Argumente vager Billigkeit, wie Spreu vor dem Wind. Vor unserm Rechts-
gefühl wird immer nur deshalb die Entscheidung der Majorität Stich halten,
weil die eigenthümliche Natur vom Object des Rechts des Schriftstellers und
Künstlers für einen jeden andern, als den geistigen Schöpfer selbst, die Thä¬
tigkeit nicht zuläßt, die nun einmal von einem jeden und unter allen Um¬
ständen gefordert wird, wenn seine ausschließliche Macht über einen Gegen¬
stand die allgemeine Anerkennung finden, wenn er ein Recht daran haben
soll. Erst wenn wir vom Standpunkt dieses Princips, das alle Rechte trifft
und deshalb keines verletzt, die Entscheidung der Majorität betrachten, können
wir uns mit ihr aussöhnen; denn nur dann unterliegt sie dem Stempel der
Gleichheit, der die charakteristische Eigenschaft alles menschlichen Rechts von
jeher war und für alle Zeit bleiben wird.
Es wird uns jetzt nur übrig bleiben, einigen Einwendungen zu begcg-
nen, die man unsern Deductionen vielleicht noch entgegenhalten könnte. Wir
sind nämlich bisher immer nur von der Person des Rechtsnachfolgers unsers
Dichters ausgegangen, wir haben bis dahin nur nachgewiesep, daß es für
diesen keine Rechtsverletzung sei, wenn ihm ein ausschließliches Recht an dem
Werke seines Erblassers nicht zugestanden wird. Wenn aber der Rechtsnach¬
folger ke'in Recht hat unbeschränkt zu erben, hat deshalb auch der Dichter kein
Recht, sein Erzeugnis) frei zu vererben? Ist es also nicht eine Verletzung seines
Rechts, und wenn das nicht, ist es nicht wenigstens eine Mißachtung seiner
Persönlichkeit, oder doch ein Mangel an der ihm schuldigen Pietät, wenn
man ihm die Möglichkeit entzieht, die materiellen Vortheile seines Werks
seiner Familie für alle Zeit zu erhalten? Das Recht des Dichters an seinem
Drama ist ein Vermögensrecht; Vermögensrechte gehen aber auf die Erben
über, und nur die Communisten leugnen dies, wird uns Jules Simon vorhalten.
Und doch hat die Majorität des Kongresses dem Recht des Dichters alle
die Achtung erwiesen, die er für sein Recht sowol, wie für seine Persönlichkeit
um irgend beanspruchen kann. Das Recht des Dichters auf den ausschlie߬
lichen Verlag seines Dramas ist ein Vermögensrecht, aber — ein indivi¬
duelles Vermögensrecht. Die eigenthümliche Natur vom Object dieses
Rechts bleibt für den Dichter selbst ebenso zart und duftig, wie sür
seinen Rechtsnachfolger, und es steht nicht in seiner, wie in keines Menschen
Macht, diese Natur zu verändern. , Sie wirkt deshalb auch nothwendig auf
den Dichter und sein Recht ebenso bedingend und gestaltend zurück, wie jedes
andere Nechtsobject in seiner Weise dies auch thut. Sein Drama ist
und bleibt ein geistiges Product, das des zähen Stoffs nun einmal entbehrt,
der für die Producte unserer Handarbeit die Möglichkeit des freien Ueber¬
gangs auf jeden dritten gewährt. Nur dem geistigen Erzeuger bequemt sich
das geistige Product zu der Rolle des Gelderwerbcns, nur ihn erkennt
es an als den Herrn und Meister, der Macht hat über sein* Geschick. Mit
' dem Tode dieses seines Herrn schwingt es sich wieder aus zu den Höhen des
Lichts und der Freiheit, aus denen der Dichter, der Künstler es herabholt.
Dies ist keine Demüthigung sür den Dichter, dies ist, wie uns dünkt, erst
der rechte Triumph für ihn. Hierin erst zeigt es sich, daß er höher steht als
der Handwerker, als der Industrielle, daß der Geist es war, und nur der
Geist, mit dem er geschaffen und für den er geschaffen. Die Bestimmungen
also, welche die Majorität des Congresses gegen die Natur des Rechtes
zum Vortheil der Witwe und der Erben des Schriftstellers und Künstlers 'ge¬
troffen, sie sind nicht etwa eine unzulängliche Anerkennung eines Rechts dieser
Personen, sie sind vielmehr ausschließlich der Ausfluß der persönlichen Ver¬
ehrung und der Pietät, die über das Grab hinaus den großen Todten der
Nation gezollt wird.
Wir sind am Schluß. Es sei uns jedoch noch gestattet, wenigstens mit
einigen Worten die Bestimmungen des bei uns geltenden Rechts mit den
Bestimmungen des Congresses, so weit sie die Dauer des geistigen Eigen¬
thums betreffen, zu vergleichen. Der deutsche Bund hat in das Bereich seiner
Fürsorge die Gattin des Schriftstellers und Künstlers nicht gezogen, und es
lag sür ihn hierzu auch keine Veranlassung vor, weil es dem Schriftsteller
und Künstler jederzeit frei steht, seine Gattin zu seiner Erbin zu ernennen. Es
sei jedoch fern von uns, gegen die Galanterie des Congresses irgend etwas
zu sagen. Bei der Uebertragung dieser Bestimmung auf unser deutsches Recht
wird es nur nöthig sein, das Verhältniß des Rechts der Gattin zu dem der
Erben etwas genauer zu fixiren, da beide sonst vielleicht miteinander collidi-
ren könnten. Wir müssen sodann auch die Partei des Bundes insoweit er¬
greifen, als er nur für dreißig Jahre die Rechte des Erblassers bei den Er¬
ben anerkannt hat. Dreißig Jahre ist ein Menschenalter, und dieser Zeitraum
dünkt uns ein ganz passender Abschluß. Nachdem jedoch der brüsseler Kon¬
greß sich für.den größern Zeitraum eines halben Jahrhunderts entschieden
hat, können wir nur wünschen, daß der deutsche Bund diese Erweiterung der
Rechte der Erben ebenfalls eintreten lasse, wie wir denn überhaupt den auf¬
richtigen Wunsch hegen, die Bestimmungen des internationalen Congresses
Aus dem wunderbaren Schönheitssinn der Griechen ist ihre Baukunst
hervorgegangen, in welcher das Ansprechende mit dem Zweckmäßiger — die
sonst oft gegeneinander im Widerspruch stehen — glücklich vereint ist. Die
unnachahmlich edle Einfachheit jene-s Volkes ließ auch hier seine Künstler,
ohne Ueberschwenglichkeit und Verkünstelung, das Wesen in den Formen tref¬
fen und, gleichsam ohne Schweiß und Mühe, zu demjenigen gelangen, was
der eigenthümliche Ausdruck der Sprache als Kalokagathia bezeichnete, das
Gute, das durch sich selbst auch ebenso das Schöne ist, Aber auch die Natur
des Wohnortes kam dabei zu Hilfe. Das milde Klima forderte im Ganzen
wenig Schutz gegen die Witterung, keine starken Mauern gegen Frost oder
glühende Hitze. Eine über die Menschen und die Götterbilder sich erhebende
Decke, welche sie gegen Regen und die Strahlen der Mittagssonne schützte.
entsprach dem wichtigsten Bedürfnisse. So stellte sich griechischer Architektur
dem Wesen nach die Aufgabe, die Last der Decke emporzuhalten. Dies lei¬
stete die Säule. In der Säule und Säulenordnung sieht man also mit
Recht den Kern und Charakter dieser Kunst. Wurde auch der innere Raum
zu weiteren Schutze noch umschlossen — die Mauer blieb immer unwesent¬
lich, sie verdeckte und verschlang nicht, wie meist in unserer neuern Baukunst,
die Säulenreihe, diese war es, welche, frei rings um die Tempel laufend,
die Decke trug und dem ganzen Bau Charakter und Form gab. Ebenso wenig
hebt der Umstand, daß mitunter Tempel ohne Dach gebaut wurden, die all¬
gemeine Geltung des Gesagten auf.
Anfangs empfand die Architektur schwer das Drückende der Last. Dieser
schob man die stämmige, dorische Säule unter, welche dick und kurz, einem
einfachen, starken Baumstamm ähnlich, die Schwere dessen, was sie zu tra¬
gen hatte, dem Beschauer handgreiflich vor Augen stellte/ Indeß das Materiell-
Schwerfällige mußte dem geistigen Wesen des Griechen bald widerstreben, der
alles zu erklären verstand und, liebenswürdig-leichten Sinnes wie er war, den
Drang haben mußte, das Lästig-Plumpe zu überwinden und, wenigstens dem
Schein nach,'leicht zu machen. Auch hatte Erfahrung ihn belehrt; übertrieb
man anfangs die Mittel, um den Zweck so sicherer zu erreichen, nahm man
zu Decke und Giebel dickes Material, machte man die Stütze recht umfang¬
reich, um alles fest und dauerhaft sein zu lassen, so lernte man allmälig,
Druck und Gegendruck genauer gegeneinander abwägen. Man hob die Last
geschickter und leichter empor und ließ sie hoher im lustigen Raume schweben.
So folgte auf die dorische die jonische Säule und aus dieser ging die schlan¬
kere korinthische hervor, bei welcher schon das Laubwerk, in das der Stamm
auslief, zu genügen schien, um das Darübcrliegende vor dem Fall zu schützen.
Die griechische Säule wurde gewissermaßen lebendig in der Form der At¬
lanten und Karyatiden, von welcher indeß nur mitunter und mit Maß
Anwendung gemacht wurde. Da wo erstere die Wucht des Gebälkes, wie
nach der Mythe Atlas das Himmelsgewölbe, gebeugt, mit den Schultern und
emporgestreckten Händen tragen, entsprechen sie der festen, dorischen Säule.
Wo aber Frauengestalten als Träger ausreichen, um den Einsturz zu hindern,
da vermag ihre Kraft nur etwa die korinthische Säule zu ersetzen.
Die griechische Architektur, nebst dem aus ihr hervorgegangenen, oder
durch ihren Einfluß umgebildeten römischen Stil, hat sich vorherrschend in
Europa eingebürgert. Die Verzierungen, welche selbst in der bürgerlichen Bau¬
kunst an der Fronte der Häuser angebracht werden, Säulen und Pilaster,
pflegten jener entnommen zu sein. Zwar herrscht neben ihr auch der ganz
anders gestaltete gothische Bau, aber doch meist zu kirchlichen Zwecken. Er
tritt so gleichsam aus dem weltlichen Gesichtskreise zurück. Man hat sich dem-
nach im Allgemeinen an den Gedanken gewöhnt, daß, was die Griechen lei¬
steten, der höchste und siegende Ausdruck der architektonischen Idee sei. Indeß
kann man dies nur mit der nöthigen Einschränkung gelten lassen. Denn
theils ist die Architektur noch anderer Formen fähig, theils kann sich hier ein
geographisches Moment als maßgebend geltend machen.
Fassen wir zunächst die Säule, als solche, ins Auge, so liegt, wie schon
angedeutet, der griechischen die Form des Baumstammes zu Grunde. Das
schneckenförmige Capitäl der^ jonischen und das mit Blättern geschmückte der
korinthischen legt den Gedanken nahe, baß man zuerst nur den Stamm allein
verwandte, und daß, indem man ihn dann höher abschnitt und noch einen
Theil der starken Zweige, oder gar auch des Laubwerkes daran ließ, dies
der jonischen oder korinthischen Ordnung den eigentlichen Ursprung gab. Die
künstlerische Entwicklung, welche in der Gestaltung der Capitäle eintrat, ver¬
änderte allmälig die erste natürliche Form und verdeckte sie durch angebrachte
neue Zierrathen, aber doch nicht so sehr, um sie für aufmerksame Betrachtung
ganz zu verwischen. Denn daß den Griechen der Baum nicht nur das Vor¬
bild der Säule gab, sondern daß sie ihn selbst in der That dazu benutzten,
ist bekannt, da steinerne Säulen erst später in Anwendung kamen. Ja, man
möchte vielleicht annehmen dürfen, daß man bei den ersten, rohen Anfängen
der Baukunst sich, wo es nicht nöthig war, gar nicht die Mühe gab, den
Baum erst umzuhauen und dann als Säule aufzurichten, sondern daß man
ihn, wo er an Ort und Stelle recht stand, an seinem Platze und Mit der
Wurzel in der Erde ließ. Dies scheint in der bekannten Stelle bei Homer
Unterstützung zu finden, wo Odysseus die erste Anlage seines Hauses beschreibt.
Ein Oelbaum von der Dicke einer Säule blieb innerhalb desselben stehen.
Erst nachdem die Decke gezimmert war, wurde die Krone umgehauen, an der
Wurzel des Baumes aber noch die Bettstelle unbeweglich eingearbeitet.
Gibt nun nicht blos das Verhältniß der Höhe zum Umfang, sondern
auch die Gestaltung des Capitals, der Säule ihren besondern Charakter, so
durste sie nicht nur den Baum überhaupt darstellen, sondern es konnte ja
die Art desselben sich aussprechen, auch andere Pflanzenformen gewählt, und
dadurch ein neuer und charakteristischer Schmuck gewonnen werden. Dies ge¬
schah zwar in Griechenland nicht. Dagegen finden wir in Aegypten den
Knauf der Säule der Palme entnommen, ein ander Mal stellt er die Lotus¬
blume, oder andere Pflanzenarten dar, und es tritt daselbst außerdem eine
große Mannigfaltigkeit in der Bearbeitung > der Eapitäle, nach Dimension
und' andern Verhältnissen, ein. Eignen sich serner auch Thiergestalten zum
Tragen, wie Rinder, welche das eherne Meer im Salomonischen Tempel tru¬
gen, Löwen und Elephanten, welche in den indischen Sculpturen vorkommen,
so ließen sich dergleichen (vielleicht indeß minder passend) auch bei den Capi-
täten verwenden, was in der That bei der persischen Säule zu Persepolis, wie
bei der indischen der Fall ist.
Aber die Säule bildet gar nicht überall, wie in der im Ganz>en leichten,
griechischen Bauart, wenn man so sagen darf, die leitende Hauptformel der
architektonischen Berechnung. Sie kommt im gothischen Stil allerdings auch
vor, aber nicht draußen, als Schmuck und Charakterausdruck des Gebäudes,
sondern im Innern, um als Ausgangspunkt für die zusammenlaufenden Li¬
nien der Spitzgewölbe zu dienen und sich in denselben gleichsam fortzusetzen.
Sie fällt ganz fort, wo der Bogen des Gewölbes ausreicht, um sich selbst
und die Decke zu tragen. Es ist bekannt, mit welcher Kühnheit alte italie¬
nische Architekten ihre weiten Wölbungen spannten, indem sie durch die ge¬
naueste Berechnung und Ausführung den Nothbehelf der Säule überflüssig
machten. In solchen, kolossaler angelegten Gebäuden kommt die Mauer
selbst zu ihrem vollen architektonischen Recht. Wegen ihrer Höhe schon an
sich selber eine bedeutende Last tragend, also in ihrer Stärke beim Ausgange
vom Grunde bedingt, und zum Tragen schwerer steinerner Decken oder hoher
Gewölbe bestimmt, wird sie um sich bedeutsam, während sie im griechischen
Bau nur eine ganz beiläufige, untergeordnete Rolle spielt.
Man konnte sich demnach schon im Alterthum, da wo nich? die Säule,
sondern die volle Mauer zur Anwendung kam, die Frage vorlegen, in
welcher Weise ihre weite, kahle Fläche zu schmücken Seil. Bei der vorherrschen¬
den bürgerlichen Architektur der neuern Zeit kann zu dieser Frage um so weni¬
ger Anlaß sein, da meist Haus neben Haus steht und wir nur die eine, vor¬
dere Seite zu sehen bekommen. Diese ist aber nicht Mauer, sondern wesentlich
eine Reihe von Pfeilern, die durch dazwischen gespannte Bogen die Fenster-
brüstuugen tragen, und oft, mehr oder minder geschmackvoll, als Pilcister aus¬
geführt sind. Durch die Fenster selbst, Thorwege und Thüren bietet sich schon
so viele Mannigfaltigkeit dar, daß nur wenig dazu gehört, um den noch
bleibenden Raum architektonisch zu zieren. Aber wo größere öffentliche Gebäude
ringsum frei stehen, kann sich hier eine schwer zu lösende Schwierigkeit zeigen,
wie z. B. das dem Schlosse in Berlin gegenüberliegende alte Museum zwar
in der Säulenreihe der Vorderseite seinen griechischen Schmuck erhielt, jedoch
an den andern Seiten kahl emporsteigt, ein Uebelstand, der, wie jedem Beschauer,
so gewiß auch dem berühmten Architekten des Gebäudes, und ihm zuerst
auffiel, aber nicht leicht zu beseitigen war. Auch selbst bei Wohnhäusern, die
an dem Durchschnitt zweier Straßen liegen, ist man in Hinsicht der fenster¬
losen Seite in Verlegenheit, bei der man sich durch sogenannte „blinde Fenster"
hilft, die schwerlich als ein wahrer, architektonischer Schmuck gelten können.
Die uns vor Augen stehende gothische Architektur hat nun den dürren
Anblick, welchen glatte und kahle Flächen gewähren, glücklich zu vermeiden
gewußt, indem sie die gerade Linie der Mauern mannigfach unterbricht, das
Gebäude in Kreuzesform aufführt, kleinere und größere Thürme an seinen
Seiten hervortreten laßt, und so dem Ganzen einen verschiedenartigen, pitto¬
resken Anblick gibt.. Diente die älteste gothische Baukunst mehr nur dem
Zweck der Festigkeit, ohne auf die Schönheit der Form sehr zu achten, so
hat die sogenannte neugothische Architektur, etwa seit dem Beginn des
11. Jahrhunderts, das Gigantische mit dem Schönen wohl vereinigt. Ob
und inwieweit dieselbe manches aus der maurischen und arabischen Bauart
angenommen, oder selbst aus ihr, wie behauptet wird, hervorgegangen, diese
Frage, lassen wir hier auf sich beruhen. Aehnlich wie der Grieche im korinthi¬
schen Stil, suchten anch die Araber, aber mit ganz andern Mitteln, die Schwere
vergessen zu machen, indem sie in hohen Bogen die Last gleichsam der An¬
schauung entrückten und die durchbrochnen Wände mit Blumen umflochten.
Dies Durchbrechen der Steinmauern, zumal an vorgebauten Thürmen, daß
sie klar und durchsichtig erscheinen, ist eben auch dem neugothischen Stil eigen,
wie überhaupt das Erstreben der Leichtigkeit. Durch die vielen Spitzen, kleinen
Thürme, durchbrochenen Wände und vorspringenden Verzierungen von außen,
durch den kühnen Aufschwung schlanker, scheinbar zum Tragen ganz unfähiger
Säulen im Innern, durch den hohen Flug himmelanstrebender Thurmbauten,
wird das Ganze gleichsam emporgehoben, und diese Richtung nach auswärts
hebt die zum Grunde gewandte Schwere anscheinend auf. Und doch liegt in
den Spitzgewölben und in der massenhaften Anlage des Ganzen wiederum
so sehr der Ausdruck der Festigkeit und Sicherheit, daß zwei* widersprechende
Eigenschaften hier kunstvoll , ausgesöhnt sind. Dem gothischen Stil ist diejenige
Symmetrie nicht eigen, die wir im griechischen bewundern, und doch wird
niemand ihm Regellosigkeit vorwerfen. Auch in der Landschaft, wenn sie unser
Auge entzückt, herrscht Symmetrie, aber nicht nach den genan gemessenen
Linien griechischer Kunst. Ohne Wage und ohne Mcßschnur dehnt die Natur
ihre Flächen aus und häuft sie ihre Massen, läßt sie ihre Ströme rauschen
und ihre Meere wogen und doch passen ihre Theile zusammen und ordnen
sie sich zu einem die Seele erhebenden Ganzen, so daß wir dem alten, bibli¬
schen Naturfreund nachfühlen, wenn er prophetisch begeistert ausruft, Gott
habe das Wasser mit seiner Hand gemessen, mit der Spanne die Himmel
geordnet und nach Gewicht und Maß den Erdenstaub geschüttet, die Hügel
und Berge vertheilt. Gewissermaßen jenem großen Beispiel nacheifernd und
die Symmetrie der Kunst und Natur vermittelnd, verschmäht auch der gothische
Bau die gleichen Höhen und Weiten, ohne aber doch im Großen und Ganzen
dem symmetrischen Gesetz und Bedürfniß sich zu entziehn, das wir in uns
tragen.
Gehen wir ins Alterthum zurück, so kam die volle massive Mauer in der
ägyptischen Architektur durchgreifend zur Anwendung, wenn auch neben ihr
die Säule gleichfalls eine überaus wichtige Rolle spielte. Nicht nur die Tempel
selbst haben Mauern aus großen Steinblöcken, sondern vor jenen stehen noch
die dem ägyptischen Baustil eigenthümlichen Pylone, thurmartige Flügel zu
beiden Seiten des den Tempelraum schließenden Thores, die quadratisch-pyra¬
midal emporsteigen. Hier bot sich nun die Aufgabe, diese weit sich hinbrei¬
tenden Mauerflächen nicht kahl und schmucklos zu lassen. Diesem Zweck ent¬
sprachen die Sculpturen, welche jeden Theil auch der Außenseiten dieser kolossalen
Bauten bedecken. Dieselben bestehen theils in Schildereien mannigfacher Art,
theils in Inschriften, welche gleichfalls, da auch die hieroglyphischen Zeichen
Bilder von Gegenständen sind, ein malerisches Ansehen haben. Um an einem
Beispiel zu zeigen, welche unendliche Mühe diese Sculpturen noch erforderten,
nachdem die herkulischen Arbeiten bei der Aufrichtung des Gebäudes selbst
beendet waren, so hat man ja berechnet, daß an den Hieroglyphen eines jener
vielen Tempel (des Tempels zu Ehr6) ein Steinmetz 50,000 Tage (das ist fast
137 Jahre) lang hätte arbeiten müssen.
Diese Sculpturen entsprechen durch ihre gigantischen Formen der Gro߬
artigkeit der architektonischen Anlage selbst. Sie geben hohe Göttergestalten,
religiöse Processionen und Ceremonien, große Schilderungen von Land- und
Seegefechten, wie auch Bilder von den Beschäftigungen des Landbaues und
häuslichen Lebens. Obschon noch ohne Kenntniß und Anwendung der Per¬
spektive, verstanden die ägyptischen Künstler es doch vollkommen, in Miene
und Bewegung 5er Figuren den deutlichen Ausdruck dessen zu legen, was sie
sein und sagen sollten.
Aber um ihre architektonischen Schöpfungen nicht einförmig, kahl und
wüst erscheinen zu lassen, ergriffen die ägyptischen Baukünstler noch ein anderes
Mittel: es war die Mannigfaltigkeit und das Complicirte der ganzen Anlage.
Vor dem Tempel oder Palaste selbst standen Obelisken, kolossale Statuen,
herrliche Säulenhallen, gingen große Alleen von Sphinxen her und vor dem
Ganzen erhob sich ein erhabenes Thor zwischen imposanten Pylonen. Und
zu diesem malerischen Ensemble von baulichen und Sculpturarbeiten bildete
der im Westen des Nilthales steil aufsteigende libysche Bergrand den an¬
gemessenen Hintergrund, von welchem jene Werke sich vortheilhaft abhoben,
gleichsam einen Rahmen, der die Perspective begünstigte und großartig ab¬
schloß. Es ist bereits in dem Werke der französischen Künstler und Gelehrten,
welche die Expedition Napoleons nach Aegypten begleiteten und die Herrlich¬
keiten dieses Landes zum ersten Mal ausschlossen, ein Vergleich zwischen dieser
Architektur und der griechischen angestellt worden. Auch der schönste griechische
Tempel würde, nach dem dort ausgesprochenen Urtheil, unter dem ägyptischen
Himmel, wie vor dieser geographischen Begrenzung der Landschaft, winzig und
schattenlos erscheinen. In dem milden Griechenland, in seinen anmuthigen
Thälern, auf seinen leuchtenden, weit in ein belebtes Meer Hinansschauenden
Vorgebirgen, welche die Strahlen des segenspendenden Helios gern und dank¬
bar aufnahmen, da waren die dortigen Tempel an ihrem Platz. Von glän¬
zendem Marmor, in dem vollsten Ebenmaß aller Theile, luftig und leicht wie
hingezaubert, krönten sie gleichsam die glückliche Landschaft und freudige Men¬
schen zogen bekränzt zu ihren Festen. Aber unter dem wolkenlosen Himmel
Aegyptens und der sengenden, blendenden Glut jener Sonne, wo die Natur
selbst den Nil entlang in der drei bis vierhundert Fuß hohen libyschen Mauer
einen Maßstab gegeben, hier stellten sich dem Baukünstler ganz andere Forde¬
rungen. In dieser Umgebung, Glut und Beleuchtung konnte nur das massen¬
haft Großartige, das Schattenreiche, als genügend erscheinen und eines Effects
sähig sein.
Machten also die Griechen an ihre Architektur, wie an alles, was sie
dachten und leisteten, die Anforderung der Schönheit, erlaubte hier die voll¬
kommene Harmonie der Theile keine Ausschreitungen, welche die gegebene, ein¬
fache Schönheitslinie störten, so war dagegen das Kolossale und ein gigan¬
tisch geordneter Wechsel der nothwendige Charakter der ägyptischen Baukunst.
Dort waltete die Freude, hier die Ehrfurcht. Auch in den ägyptischen
Monumenten herrscht und siegt in gar wunderbarer Weise das Gesetz der Har¬
monie und Schönheit, aber nach viel weitern Maßen, so daß manches, wiez. B.
die Verschiedenheit der die Decke tragenden Säulencapitäle, aufgenommen
werden konnte, was in einem griechischen Werke störend wäre, hier sich aber
der unermeßlichen Größe des Ganzen gefälUg unterordnet.
Die gewaltige Arbeit, vor welcher der ägyptische Architekt nicht zurück¬
schrecken durste, war eine dreifache: das Losarbeiten und Herbeischaffen des
kolossalen Materials, das Ueberwältigen desselben, um das geforderte Werk
herzustellen, wobei wir keine Einsicht mehr in die mechanischen Mittel haben,
die sich damals zu Gebote stellten, um die ungeheure Last dieser Steinmassen
aufzurichten und emporzuheben, da schon die Aufrichtung eines ägyptischen
Obelisken in Europa die complicirteste Mechanik erfordert. Endlich blieb,
wenn schon das ganze Werk sertig war, die Sculpturarbeit übrig, die im
Innern und Aeußern dieser unermeßlichen Höhen und Weiten fast keinen leeren
Raum duldete. Alles war so eingerichtet, um Jahrtausende zu überdauern
und wie ein Wunder vor den wechselnden Geschlechtern der Erde dazustehen.
Manche dieser Bauten sind noch so wohlerhalten, als wären sie gestern erst
entstanden. Das Material, aus welchem sie bestehen, und welches aus den
Bergen zu beiden Seiten des Nil gehauen wurde, ist theils ein schöner, dauer¬
hafter Sandstein, theils ein vorzüglicher, rosenrother Granit (Syenit), der sich
zu beiden Seiten der Nilkataratte bei Syene (Assuan) findet. Aus diesem letztern,
harten, der herrlichsten Politur fähigen Steine wurden namentlich hohe Säu¬
len, Statuen, Obelisken, Kolosse, alle aus einem Stück gehauen. Diese
Monolithen, so wie die großen, durch ihre Schwere allein zusammenhaltenden
Quaderblöcke zu den Mauern der Tempel und Paläste mußten also an den
Nil geschafft, auf Flößen an Ort und Stelle gebracht, dort ausgehoben und
bis zur Höhe des Bauplatzes gezogen werden.
Das crstaunenerregendste Ensemble jener Werke bietet sich bekanntlich auf
dem Areal des alten Theben dar, der von Homer sogenannten hundertthorigen
Stadt. (Indeß ist „Hekatompylos" nach einer Bemerkung Diodors nicht
von Stadtthoren, sondern von den obenerwähnten Pylonen als Tempcl-
thoren, zu verstehen.) Hier, in den jetzigen vier Dörfern Medinat-Habu und
Kuma auf der westlichen, Luxor und Karnak aus der östlichen Seite des Nil
findet man jene oft beschriebenen Tempel und Paläste, jene Obelisken, aus
einem Steine von 70 und 90 Fuß Höhe, die beiden berühmten Memnon-
kolosse, 01 Fuß hoch, welche, je aus einem Granitblock bestehend, aus der-
Mitte der Ebene ihre riesigen Schatten bis fast an die libysche Felswand werfen.
Hier fand man den in das britische Museum gebrachten, sehr schönen Kopf
eines Kolossen. Man mußte, wie ein Autor bemerkt, eine Höhle graben, um
das Lächeln dieses Mundes auszudrücken. Hier sind die Trümmer des Mem-
noniums, auch Grabmal des Osymandyas genannt, so wie der berühmte Palast von
Karnak. An ganzen Reihen von hohen Pylonenthürmen, an Tempeln, Säulen¬
hallen vorüber, durch Alleen von Sphynxtolosscn gelangt man an den Palast,
in welchem sich jener Saal befindet, dessen aus gewaltigen Steinblöcken gefügte
Decke von etwa 140 Säulen getragen wird, welche, bei einer Höhe von 65
bis 70 Fuß, je einen Durchmesser von 10—11 Fuß haben, so daß, wie man
berechnet hat, aus jedem Capital dieser Säulen hundert Menschen stehen könn¬
ten. Ueber dieses Werk sagt Champollion: „Ich will es nicht wagen, eine
Schilderung davon liefern zu wollen; denn entweder würden meine Worte
nur den tausendsten Theil von dem ausdrücken, was man über solche Gegen¬
stände sagen muß, oder wenn ich ja davon eine schwache Skizze nur mit
blassen Tinten entwerfen wollte, würde man mich für einen Schwärmer, viel¬
leicht auch für einen Narren halten. Genug, kein Volk alter oder neuer Zeit
hat das Wesen der Baukunst nach einem so erhabenen, umfassenden und gro߬
artigen Maßstab aufgefaßt, als die alten Aegypter. Sie machten Entwürfe,
wie Menschen, die hundert Fuß hoch sind, und die Einbildungskraft, die in
Europa über unsere Säulenhallen sich wol noch emporschwingen kann, hemmt
ihren Flug und sinkt ohnmächtig zu Boden vor dem von 140 Säulen getra¬
genen Saal von Karnak." — Welchen Eindruck mußten diese nunmehr theil¬
weise zertrümmerten und versandeten Werke auf den Fremden unversehrt, in alter
ägyptischer Zeit machen! Hier und dort sieht man auf den Terrassen der Tem-
pel arabische Hütten, gleichwie Vogelnester, ja ein ganzes Dorf angebaut, das
mit seinem Vieh, seinen Ställen und hundertjährigem Schutt einen widrigen
Maßstab für die auch aus solchem Schmuz noch siegend hervortretende Schön¬
heit des kolossalen Baues gibt.
Es ist im Frühern von den sogenannten Atlanten und Karyatiden die
Rede gewesen, welche die Griechen öfter an Statt der gewöhnlichen Säule in
Anwendung brachten. In der ägyptischen Architektur findet sich ein ähnlicher
Gedanke ausgeführt. Es sind nämlich gigantische Götterfiguren, die nicht
selbst das Gesimse tragen, sondern nur an die Säulen lehnen und deren maje¬
stätische Miene und Haltung, wie die französischen Gelehrten sagen, dem
Nahenden ein unbeschreibliches, tief ergreifendes Gefühl der Ehrfurcht ein¬
flößt.
Eine allerdings"dem gewöhnlichen Zweck entsprechende, aber doch nach
Entstehung und Zusammenhang verschiedene Anwendung fand die Säule in
den indischen Felsenarbeiten. — Mau könnte die Kunst der Excava-
tionen gewissermaßen als eine negative Architektur bezeichnen. Das Bauen
erfordert ein regelrechtes Aufrichten und Uebereinanderschichtcn früher beweg¬
lichen Materials, daß es in der ihm gegebenen Gestalt und Gesammtheit
nunmehr aus Beweglichen zu Festem werde. An der Stelle, wo vorher nichts
als Grund und' Boden war, erhebt sich eine neue Schöpfung von Menschen-^
Hand, indem der Baukünstler, Stein zu Steinen fügend, sich immer höher
in den freien Luftraum emporarbeitet. 'Diesem positiven Herbeischaffen und
Ordnen gegenüber hat die Kunst der Excavationen die Aufgabe, von dem be¬
reits an Ort und Stelle Bestehenden das Meiste wegzuschaffen und nur
weniges, dem Plane gemäß zu lassen. Solche Felsenarbeiten, die sich tief in
das volle, harte Gestein des Berges hineingruben und da Räume schufen,
wo die Natur alles felsenfest ausgefüllt, finden wir in mehren Ländern.
Hierher gehören die großartig angelegten Grabeskammern in Palästina, ferner
die schönen Königsgräber bei Persepolis, besonders aber die unzähligen An¬
lagen in der ägyptischen Thebais, mit welchen die libysche Felswand durch¬
brochen ist. Man hat keinen Anstand genommen, diese ägyptischen Kata¬
komben den dort über der Erde stehenden Werken an Größe und Pracht,
wie an Umfang gleich zu stellen. Da sind weite Säle, tief hinabgehende
Treppen, alles mit Malerei und Sculpturarbeiten überdeckt, so daß man in
einem der Gänge allein 22,000 hieroglyphische Zeichen zählte, worunter 180
Figuren in Lebensgröße. Diese unermeßlichen Räume, die in einer Strecke
von zwei Stunden sich an der Bergwand hinziehen, sind übrigens später von
Lebenden als Wohnung in Anspruch genommen worden und haben so in
ihren dunkeln Tiefen eine dreifache Bevölkerung wechseln gesehen. Zuerst
kamen die durch Jahrtausende von trauernden Aegyptern hierher getragenen
Mumien, die hier ein weites, stilles Todtenreich bildeten. Ihnen folgte eine
lebende Generation von christlichen Einsiedlern, welche die Ueberbleibsel heid¬
nischer Vorzeit in den Wandsculpturen mit Gyps überdeckten und auf den¬
selben Heiligenbilder malten. In neuester Zeit wohnen hier bisweilen Familien
von Arabern mit ihren Herden. Die Grabeskammern dienen ihnen als Ställe,
die Mumicnsärge und Todtengebeine zur Feuerung, um ihre Speisen zu be¬
reiten. —.
Aber ein noch größeres Interesse, als die ägyptischen, gewähren die
Felsenarbeiten Indiens. Nicht die Trauer, sondern wie es scheint religiöse
Mystik drang hier tief in den Schoß der Berge ein, um nicht Gräber, son¬
dern Tempel, Priesterwohnungen, ja eine ganze heilige Priestcrstadt zu schaffen.
Es gibt Menschen, die an dem leicht Auszuführenden kein Genügen finden,
sondern von einer ungemessenen Willenskraft beseelt, nur von dem Schwierigsten,
scheinbar Unmöglichen angelockt, in seiner Bewältigung allein sich gefallen.
Der Art waren die Unternehmer dieser Werke. Sie befriedigte die cyklopische
Arbeit nicht, den Berg abzutragen und aus seinen Felsen Mauern aufzuschichten.
In einem theilweise so harten Gestein, daß es nur mit dem härtesten Stahl
zu bearbeiten war, grub man sich erst einen Gang ins Innere, um von hier
aus den vollen Berg bei Ellora einen Halbkreis, dessen Durchmesser eine halbe
Meile beträgt — gleichsam zu entkernen und aus ihm selber herauszuschaffen.
Nur seine Rinde und seinen obersten Theil ließ man als Ringmauer und als
Decke an ihrem Platze und im Innern so viel, als man zu den verschiedenen
Mauern und Säulen brauchte. Die Säule nun wurde hier nicht auf¬
gerichtet, um die ihr entsprechend eingerichtete Last der Decke zu em¬
pfangen, sie blieb, zusammenhängend und aus einem Stück mit dem
Grunde und dem oben lastenden Berggipfel, um dessen weit gesprengte Wöl¬
bung vor dem Einsturz zu schützen. Auch die Zwischenmauern der verschie¬
denen Tempel und Anlagen dienten demselben Zweck. Außerdem ließ man
das Gestein an seinem Orte, wo nach dem Plane Obelisken, Kolosse, Treppen,
Brücken hinkommen sollten, wie auch ganze Kapellen, deren Felsstück also im
Innern wieder zur Höhlung umzuarbeiten war. Man nahm auch überall
Rücksicht auf die anzubringenden Sculpturen. Allmählig gewann alles Ge¬
stalt und Charakter, es entstanden nebeneinander, oder in verschiedenen, theil¬
weise zusammenhängenden Stockwerken übereinander, große Tempel, in deren
Innern sich wieder kleinere Tempel oder Kapellen erhoben, mit Vorhöfen,
Säulengängen, Teichen, Obelisken, es entstanden unzählige kleine Grotten, als
Wohnungen für Priester, oder auch für Pilger. Die Säulen erhielten Capi¬
tale, welche Elephanten, die Lotusblume, oder anderes darstellten. Die
Wände der Tempel, etwa von den Dimensionen einer großen gothischen Kirche,
sind durchweg mit Reliefs geschmückt, deren Gestalten zum Theil ganz von
der Felsenmauer sich ablösen und nur an dem Rücken mit derselben noch zu¬
sammenhängen. Sie stellen Göttergestalten, Götterfamilien und deren Gefolge,
mythologische Scenen und dergleichen dar. Elephantenreliefs sind unten an der
Wand angebracht, als wenn die Mauer von ihnen getragen würde. Diese gi¬
gantischen Felsenarbeiten finden sich besonders auf den Inseln Salsette und Ele-
phante und im Innern der indischen Halbinsel bei Ellora, wo sie die früher
angedeutete, große Ausdehnung haben. Es gibt auch noch andere Anlagen,
wo nicht nur das Innere des Berges in der geschilderten Weise, sondern auch
sein äußerer Umfang entsprechend gestaltet worden, als hätte die Erde aus
sich selber Tempel hervorgehen lassen.
Wandelte hier der Mensch natürliche Berge in Hohlen um, so faßte gegen-
theils ein altes Geschlecht ägyptischer Herrscher oder Tyrannen den kühnen
Entschluß, erst Berge zu schaffen, um in ihnen Höhlen zu gewinnen. Das
sind die Pyramiden Aegyptens, etwa 400 bis fast 500 Fuß hoch und eben¬
so breit in der Quadratfläche, die der Fuß des Baues bedeckt. Wir gehen
indeß in die Betrachtungen, zu welchen diese außerordentlichen Werke, so wie
andere Leistungen der Architektur Anlaß geben, sür jetzt nicht weiter ein.
Die Natur ist es zunächst, welcher der Mensch diese Kunst verdankt; der
Baum gab das Bild der Säule, die Höhle den Gedanken des Gewölbes,
dem gothischen Stil schwebte der Dombau des Waldes vor. Wo viele Hände
zum großen Werke sich einigten, da vermochten sie selbst Berge zu versetzen,
oder künstlerisck umzuwandeln. Doch vermag ein Einzelner noch Herrlicheres
und Bewundernswertheres, als jene zahlreich Schaffenden, zu bauen, wenn
er es versteht, das eigene Herz zum Tempel des Guten und des Schönen
Die Ethnographie, unter den Einflüssen der Entdeckungsreisen des
18- Jahrhunderts ins Leben getreten, ist in neuester Zeit mit besonderer Liebe
angebaut worden. Es haben sich Gesellschaften von Sammlern für sie ge¬
bildet, zahlreiche Entdeckungsfahrten haben ihr ein massenhaftes Material zu¬
gebracht, und sie ist jetzt bedacht, dasselbe zu systematisiren. In der Reihe
der Erfahrungswissenschaften hat sie ihren Platz bei der Naturbeschreibung und
der Physiologie organischer Körper genommen. Ihr wissenschaftliches Princip
geht dahin, die einzelnen Völker in der Richtung auf das menschheitliche
Ganze nach physiologischen Grundeigenschaften zu classificiren. Sie ist hin¬
aufgestiegen zu dem Nacentypus und hat auch wol die Ueberlieferung von
einem primitiven Stammpaar des Menschengeschlechts mit der Genesis einer
Verschiedenheit der Racen in Einklang zu bringen gesucht.
Die Ethnographie auf das rein Physiologische beschränken zu wollen, ist
nicht die Meinung sämmtlicher Pfleger dieser Wissenschaft. Es ist vielmehr
ausgesprochen wordeu, daß das gesammte Sein und Leben der Völker, wie
es in der Gegenwart sich darstellt, darin anschaulich zu machen sei. Mit
dieser Erweiterung ihrer Grenzen stellt sie sich auf den Boden historischer Wissen¬
schaften und als ihr wissenschaftlicher Gehalt erscheint die Nationalität,
erwachsen aus physiologischen und historischen Elementen. Alle Ehre nun vom
Gesichtspunkt des gestimmten Fachgebäudes der Wissenschaften der Ethnographie
in ihrer naturhistorischen Haltung und in ihrer Erweiterung in das Gebiet der
historischen Wissenschaften; nicht minder dem glücklichen Griff, den nicht mit
seiner Naturgeschichte des Volks als socialer Ethnographie gethan hat. Wie
sehr aber auch diese als dankenswerthe Belebung und Befruchtung der naturhisto¬
rischen Bildergalerie der Ethnographie anzuerkennen ist, so fühlt doch die
Geschichte sich berufen, gegen die Ethnographie, insofern sie sich auf die bloße
Gegenwart stellt, einen Aneignungsproceß anzustellen. Mag es erlaubt sein,
hier mit fremder Zunge zu reden (Augsb. A. Z. 1353, Ur. 37): „In der
Regel können wir uns mit einer bloßen Darstellung der Gegenwart eines
Volkes nicht begnügen, sondern wir wünschen auch zu wissen, wie und wo¬
durch es so ward, wie es ist . . . Als nicht vor einigen Jahren die Alt-
baiern schilderte, vermied er noch die Frage, durch welche Einwirkungen seit
alter Zeit der Charakter jenes interessanten Nolksstammcs sich so ausgebil¬
det. Als er aber neuerdings sich den Pfülzern zuwandte, da hielt er es für
nöthig, auf die Franken, die Alemannen, ja die Römer und die Kelten zurückzu¬
greifen ... In der That kann es keinem Zweifel unterworfen sein, daß die
Urgeschichte, welche uns gewissermaßen die Ulstoffe zeigen soll, aus denen die
gemischten Nationalitüten der Gegenwart entstanden sind, für die Ethnographie
. . . vom höchsten Werth ist." Was hier im Betreff von Urgeschichten ge¬
sagt ist, gilt von der Geschichte überhaupt in ihrem Verhältniß zur Ethno¬
graphie. Ihr genügt nicht die Erweiterung der Ethnographie zu einer Dar¬
stellung der gesammten Fülle der Nationalität in der Gegenwart; sie macht
Anspruch auf einen ihr gebührenden weit gewichtigern Antheil an der Ethno¬
graphie mit der Behauptung, daß die Gegenwart der Nationalitäten als
Resultat eines Bildungsprocesses, in welchem nicht das physiologische Gesetz
allein, sondern menschliche Freiheit und Vernunftthätigkeit neben und mit
jenem agirt, darzustellen sei. Wie bei dem menschlichen Individuum und dem
gesammten Menschengeschlecht die Wechselwirkung zwischen Naturzwang und
Freiheit als Princip von Leben, Bewegung und Veränderung und wiederum
einer gewissen Stetigkeit im Wechsel waltet, so bei einer Nation. Die Ge¬
schichte kann also mit einer Absonderung des eben Vorhandenen von den
vorhergegangenen Zuständen einverstanden sein. Schon ist sie in der Geo¬
graphie, nach mehrmaliger Abweichung von deren inniger Verbindung mit
der Geschichte durch Karl Ritters Meisterhand in die tiesbegründcte Blutsver¬
wandtschaft mit jener zurückgeführt worden. Die Chartographie hat ein eif¬
rig bearbeitetes Feld in historischen Atlanten, selbst die rothen Reisebücher
Bädeckers u. s. w. haben historische Zuthat. Da nun alles, was außer Gott
ist, auch geworden ist, das Gewordensein der Völker aber nicht blos nach
naturhistorisch-physiologischen Maßstab, nach Abwandlungen von Körperbil¬
dung, Haar-, Augen- und Hautfarbe u. s. w. zu messen ist, so mahnt dies
gebieterisch an die Anerkennung des historischen Elements in der Ethnogra¬
phie. Die Liebhaber der Gegenwart ohne Rückblick auf die Vergangenheit
haben nicht Ursache, sich aus die Stimme des Volkes zu berufen; dieses hält
die historische Vergangenheit in Ehren und weilt gern bei ihr, wäre es auch
nur in der Sage; es ist wider die Natur und Bestimmung des denkenden
Menschen, von heute und gestern zu sein.» Wo aber dies sich verleugnet, ist
die Erscheinung um so greller, je näher tue Hinweisung aus Cultur liegt. So
wenn am Ende des vorigen Jahrhunderts ein alter Major bei dem Vortrage
eines Geschichtslchrers an einem Cadettenhause sich wunderte, daß es nicht
immer so gewesen sei wie unter dem alten Fritz.
Lassen wir nun den physiologischen Puristen der Ethnographie ihre Abneigung
gegen die Geschichte, und wenden uns zu der historischen Ethnographie als der
Wissenschaft, welche die gegenwärtig vorhandenen ethnographischen Größen von
dem Gesichtspunkt der Freiheit aus ebenso gut als dem der physischen Nothwen¬
digkeit ins Auge saßt und was ihnen eigen ist, in genetischer Folge von den
Ursprüngen einer Nation bis zur Gegenwart darlegt. Demnach wird zu der
bisherigen Expansion der Ethnographie in die Weite und Breite eine histo¬
rische Längendehnung kommen. Bei dieser wird einer nicht geringen Zahl,
ja der Mehrheit von Menschengruppen, die auf naturhistorischen Grund in
den Volk'ergalericn figuriren, aber von einer Nationalität nur rohe Anfänge
darbieten und eines historischen Bildungsprocesses erstes Stadium noch nicht
durchlaufen haben, nur ein bescheidenes Plätzchen eingeräumt werden. Bei
den Völkern ceder, welche als Culturträger erscheinen, ergibt sich das rechte
und volle Verständniß der Gegenwart nie ohne die Kunde von dem Gewor¬
densein. Je größer der Reichthum verschiedenartiger Erscheinungen in diesem
und je lebhafter die Bewegung des Wechsels, um so schwankender das Wesen des
Gegenwärtigen. Selbst Product historischer Entwicklung hat es nimmer die
Stetigkeit, welche es fernerem Wechsel entrückte. Es kommt also darauf an,
das Stetige und Charakteristische, das die Brücke von den naturgegebenen
Ursprüngen bis zu der mit That und Werk der .Vernunft erfüllten Gegenwart
bildet, zum Maßstab für letztere zu nehmen; es kommt darauf an, auszumit-
teln, was von der uralten Natur an Mitgift durch alle Veränderungen in Zeit
und Raum geblieben ist, was für Eigenschaften unter den Einflüssen der
Cultur sich abgeschwächt, was für welche erst durch diese sich belebt haben und
mündig geworden sind. Erst in dem Facit solcher Abwägung der Conflicte
zwischen Natur und Cultur wird sich das Capital der echten und wahren Na¬
tionalität ergeben. In dem bunten Wechsel der Erscheinungen darf es nicht
irren, wenn die Progression einmal innehält, wenn es Schwankungen und
Rückschritte gibt, wenn Abweichungen von dem ursprünglichen Normalcharattcr
stattzufinden scheinen. Das echt nationale Schrot und Korn, das sich in dem
gesammten Bildungsgange als probehaltig bewiesen hat, wird durch derglei¬
chen in seiner Währung nicht gemindert. Für manches übrigens, was der
Wurzel angehört, was aber seinen Wuchs nicht bis in die Gegenwart fort¬
gesetzt hat, darf man der in Herstellung ihres Rechtes nie ermüdenden Natur
vertrauen. Was für Winke und Mahnungen aus solcher Verfolgung natio¬
naler Lebensstufen sür die Staatsverwaltung, die einer Nationalität gerecht
werden will, sich ergeben, wie bedeutsam die Stimme des historischen Rechts
darin sei. wie gar oft dagegen dessen Wesen verkannt und ihm mit antinatio¬
nalen Statuten Gewalt angethan wird, und wie das natur- und vernunft¬
mäßig Erwachsene sich aus innerem Triebe gegen das Ausgezwungene sträubt,
wie aus eine Nationalität nicht achtenden Ideen nur zu oft auf Sand ge¬
baut wird, davon gibt es zahlreiche Belege zu der Behauptung, daß unsere
Zeit die volle Reise zur Gesetzgebung noch nicht erlangt habe.
Ist nun die Ethnographie in dem bezeichneten Grund und Maß der
Geschichte zugeeignet, so bedarf es noch eines Worts über ihren Platz in den
weiten historischen Räumen. Insofern sie, aus ihren naturhistorischen Schranken
heraustretend, den gesammten Gehalt nationalen Lebens der Gegenwart als
ihr angehörig betrachtet, geht sie über in eine Culturstatistik; als Geschichte
der Nationalitäten wird sie integrirendcr Bestandtheil der Culturgeschichte.
Doch ist sie weder nach Anfangs- noch Ausgangspunkt identisch mit dieser;
sie ist in ihr begriffen, verfolgt aber eine besondere Bahn. Den Anfangs¬
punkt, die Grundlage der mechanischen Natur, haben beide miteinander ge¬
mein; man kann die Culturgeschichte, wenn sie principielle Ideen vorausschickt,
nicht als eine rein geistig geborene der Geschichte der Nationalitäten als einer
erdgeborenen entgegensetzen. Indem nun beide von dem Gebiet des Natur¬
gesetzes übergehen in das weitumsängliche und gliederreiche menschlicher Frei-
heit und Vernunftthätigkeit, ergibt sich eine Sonderung der Bahnen, die Ab¬
weichung dieser voneinander erweitert sich in zunehmendem Maß in der Rich¬
tung auf verschiedene Endpunkte. Wenn der Unterbau gemeinsam war, so
stehen mindestens die Giebelfelder weit voneinander ab. Eine Culturgeschichte
hat die Summe der gestimmten Entwicklungsstufen und Errungenschaften eines
Volks als ein der Vernunftthätigkeit vorzugsweise verdanktes großes Capital
darzuthun. Wol kommt bei ihr auch der Grundstamm naturwüchsiger Natio¬
nalität in Anschlag, aber nur wie er. durch die Actien der Cultur ausgebeutet
und gehoben, dieser zu gut gekommen ist. Ihre Aufgabe ist Progression und
Amplisication von den Realitäten der Natur zu den Ideen der Vernunft, sie
verallgemeinert und sucht die Beziehungen nationaler Bildung zu der gemeinsam
menschheitlicher nachzuweisen. Sie hat ihre Ausgänge in den unermeßlichen
Räumen des Reichs der Vernunft, sie preist die erhabensten Gipfel menschlicher
Bildung als ihre theuersten Kleinode, unter welchem Nationalitätsgcpräge sie
auch erstiegen werden mögen; sie hebt vorzugsweise die Koryphäen jener als
Repräsentanten des großen Gesammtccipitals der Vernunft aus den Völker-
gruppcn hervor. Wo sie im weitesten Abstand von dem naturhistorischen
Typus dieser gipfelt, hat sie die stolzeste Flora. — Anders die historische
Ethnographie, die Geschichte von Nationalitäten. Diese geht immerfort auf
die charakteristischen Merkmale nationaler Naturwüchsigkeit, das Besondere,
das Individuelle, als ihr leitendes Princip zurück und verfolgt die Verzwei¬
gung der Cultur in jene als etwas Zugebrachtes. Angebildetes, womit das
aus natürlichem Stammtriebe Erwachsene sich belebt und befruchtet; sie ver¬
geistigt sich nicht in den idealen Größen der Cultur, sondern haftet an den
Gestaltungen des von der Naturnothwendigkeit stammenden Substrats der
Nationalität. Sie sucht sür diese nicht in dem Gebiet der Cultur einen Platz
zu bestimmen, wo solche ihre Selbstständigkeit höheren Gebot unterzuordnen
hätte, sondern nimmt aus der Schatzkammer des großen menschheitlicher Capitals
die Barren edlen Metalls sür ihre Sonderhallen und drückt ihnen hier ihr
Gepräge aus. Diese Währung des Besondern ist durch allen Wechsel, Um-
und Aufschwung allgemeiner Bildung immerfort der Appell, der sie aus ihren
Posten ruft.
Bei dieser Aufgabe nun. das specifisch Nationale aus der es überfluten¬
den Weltcultur zu sondern, scheint die Arbeit auf enge Grenzen und nicht eben
belohnende Ausbeute angewiesen zu sein. Das Gebiet der gemeinsamen
menschlichen Cultur hat sich zu einem schwer übersehbaren Umfang ausgedehnt,
das Angestammte der Nationalitäten ist mehr und mehr zurückgewichen, das
Individuelle wird bedroht mit zunehmender Verflachung. mit der Gefahr unter
den Formen genereller Cultur zu verschwimmen. Nach dem, was aus älterer
Zeit dem Völkerleben mehr oder minder gemeinsam geworden und zum Theil
geblieben ist — Christenthum und Islam. Hierarchie, Ritteradel mit zuge¬
spitztem Ehrgefühl, Romantik und Courtoisie, Handhabung des Pulvergeschützes
und der Buchdruckerkunst, humanistische Studien, Reformation und Gegen¬
reformation, Seefahrten mit Magnet zu Entdeckung und Colonisation, Fern¬
rohr, Barometer, Thermometer, Rückwirkung des Colonialwesens auf das
materielle Leben mit Gewürz, Tabak, Kartoffeln, Zucker, Kaffee, Thee, Baum¬
wolle u. f. w., Gebrauch des Französischen bei conventionellen Begegnungen,
des Englischen im gewerblichen Weltverkehr, Tagesblätter, Weltmannsbildung
— haben die jüngsten Menschenalter unter und nach den Stürmen der um¬
stürzenden und bahnbrechenden Revolution, Siebenmeilenstiefel zur Verbreitung
der Cultur angelegt. Dämonische Mächte der Natur in des Menschen Dienst,
Elektricität, Dampf und Magnetismus mit fabelhafter Beschleunigung und
Vervielfältigung des Weltverkehrs, haben die zwischen den Nationen vorhan¬
denen Klüfte von Raum und Zeit überbrückt; auf den starkbelebten Bahnen
d<!r Begegnung und Mittheilung gilt Austausch und Mischung nationaler Eigen¬
thümlichkeit unter allgemeingültigen Verkehrsnormen.
Diese Weltmächte mit ihrem drangvollen Gefolge der Gewinnspeculation
des Papiergelds und Acticnschwmdels, des Bank- und Creditwesens, der
Börsenmanöver haben in die Räder specifischen Nationalgetriebs der Reihe
nach wetteifernd in einem Maß eingegriffen, daß nur die noch in primitivem
Embryoncnstande befindlichen, in entlegenen oder unzugänglichen Nccessen
wohnhaften Erdbewohner davon unberührt geblieben sind. Also, scheint es,
ist naturwüchsig Nationales und national Eigenthümliches zu einem Minimum,
Gemeinsamkeit der Cultur aber in der Mehrzahl der,Lebensrichtungen vor¬
herrschend geworden. . Dennoch behauptet es gegen das Uebergewicht jener
Macht sein Recht, und bei der Frage, in welcher Art es jenes geltend gemacht
habe und wie viel unter dem Stempel der Cultur von ihm übriggeblieben sei,
wiederum wie es die Culturgaben sich angeeignet und nationalisiert habe, ist
das Ergebniß wahrlich kein geringes. Lassen wir nun auch die Stereotypie des
Natürgepräges, aufweiche die Schöpfungen der Cultur nur geringen oder gar kei¬
nen Einfluß üben können, desgleichen die durch locale Physik bedingten Gewerbs-
arten und Lebenseinrichtungen bei Seite, und beachten nur das Gesellschafts¬
leben unter den Einflüssen freier Vernunftthätigkeit, so darf die Musterung nicht
blos bei dem sogenannten Volk, dem Bürger und Bauer, Befriedigung erwarten,
sie findet solche auch in höhern Kreisen. Allerdings ist dort das Hergebrachte
reichlicher und dauernder als in diesen zu finden und die Zähheit in dessen
Festhaltung dort zu Hause. Wiederum ist in den höhern Kreisen der Gesell¬
schaft das Salonleben der vornehmen Welt, überhaupt aber die Gestaltung
des socialen Lebens mit weitverbreiteter Gewöhnung an früherhin unbekannte
Bedürfnisse und Genüsse, Kaffee, Thee, Brantwein u. s. w. nicht auf ein
Nationalität beschränkt geblieben. Aber Bürger und Bauer allein machen es
nicht aus. Beschränkung der Ethnographie auf diese mahnt an die Dorfgeschich¬
ten, wenn diese für die souveräne Gattung der Novelle gelten wollen. Wie aber
diese sich ungemeiner Gunst erfreuen, so haben ethnographische Zeichnungen
sich vor allen gern mit Gebräuchen und Sitten des Familienlebens, Braut-
Werbung. Hochzeit, Geburth- und Begräbnißfeier u. f. w. beschäftigt und die
naturhistorische Ethnographie hat sich mit dergleichen als Beiwerk ausgestattet.
Es ist wahr, das Nationale individualisirt sich hier am meisten. Es hat
seine Nachhaltigkeit selten kraft ursprünglich naturgebotener Bedingungen; aber
diese haben eine Hilfsmacht in der Gewohnheit, und Gewohnheit kann zur
andern Natur werden. Manches reicht allerdings hoch ins Alterthum hinauf.
norddeutsche Bauern trieben noch vor kurzem die Schweine zur Abwehr der
Bräune durch ein Feuer, das durch Reibung von- Hölzern sich entzün¬
det hatte — das altsächsische Niedfeor; in Frankreich werden hier und da
zu gewissen Zeiten Katzen verbrannt — vielleicht eine Erinnerung an die
Menschenopfer der heidnischen Gallier. Wohl ist von dergleichen das Locale
zu unterscheiden, das durch zufällige Ereignisse ohne nationalen Trieb Brauch
geworden ist, so die zahllosen Denkfeiern von Wasser- und Feuersnoth
u.s. w. Verweilen wir bei der niederen Sphäre des Nationallebens, so gibt
die Speiseordnung eine Menge Beispiele, die spanische Olla Potrida, der
westphälische Pumpernickel, der Marschkloß der Dithmarsen, die süddeutsche
Dampfnudel, die italienischen Maccaroni und Polenta, das östreichische Back-
hähnel, der schottische Haferbrei, die russische Schtschi u. s. w. Wir verfolgen
dies nicht weiter mit Anführungen von nationalen und provinzialen Trachten '
und Häuserbauten u. s. w. Bei weitem mehr besagt der Ton des geistig-
sittlichen Lebens, von dem man gewöhnlich die Grundzüge des National¬
charakters entnommen hat. Liebe, Ehe und Familienton geben die bedeut¬
samsten Nuancen innerhalb des gemeinsamen Kreises der Civilisation zu er¬
kennen; die Thorheiten des Liebesrausches sind bei dem Engländer anders
als bei dem Spanier; die deutsche Hausfrau ist einzig in ihrer Art. So be¬
haupten sich unter den drastischesten Einwirkungen der Civilisation oder auch ihres
Widerspiels der englische Spleen, die englischen Whims und Oddities. so im Verkehr
die chinesische und italienische Pfiffigkeit, die rastlose Geldmächesucht des Yankee
u. s. w. Aber auch in den staatlichen Gestaltungen, die vom Naturwüchsigen
sich am meisten entfernen, ist nicht geringe Ausbeute. Allerdings hat hier
das Nationale den allgemeinen Einflüssen der Cultur sich dergestalt unter¬
worfen, daß das Eigenthümliche selten unberührt davon geblieben und fast
nur als Modalität jenes zu fassen ist. Je freier aber die Vernunstthütigkeit
in diesen Gebieten sich über die Naturbedingungen erhebt, um so bedeutsamer
wird das Nationale, das einer universellen Nivellirung zu widerstreben ver-
mag. So wird bei der Musterung staatlicher Gemeinwesen das Maß der
Willigkeit des Volkes zu leidendem Gehorsam, des Sinns für Vertheidigung
angestammter Rechte, die Art des Widerstandes gegen rechtskränkende Willkür,
der Befangenheit vom Nimbus der Hoheit u. s. w. auf der Völkertafel nicht
unwesentliche Ungleichheiten darbieten. Nicht anders in der gesellschaftlichen
und staatsrechtlichen Ordnung der Stände, der Haltung des Adels, der Bürger
und Bauern zueinander, der Hoffärtigkeit, Liebedienerei und Rangsucht. Da¬
bei ist die Frage, in welchem Stande sich die Nationalität am prägnantesten dar¬
stelle und die höhere Frage von Gemeingeist, nationalem Bewußtsein und
Stolz, von Patriotismus als vergeistigtem und in Activität gesetztem National¬
sinn, vom Festhalten am Bestehenden und von Liebe zu Neuerungen, von
Neigung zum Ausländischen und spröden Festhalten am Vaterländischen, von
Einhäusigkeit und Heimathsliebe, von Fahrlust und Touristenfieber. Ferner
die Stellung einer Nationalität, die frcmdbürtigem politischem Verbände ver¬
sallen ist, das Verhältniß des nationalen Charakters zum politischen. Endlich
gewisse nationale Antipathien als der Portugiesen gegen die Spanier, der Si-
cilianer gegen die Neapolitaner. Im Rechtswesen haben kanonische Satzungen
des Kirchenthums, Raffinement römischer Jurisprudenz und der Geist der Auf¬
klärung und Humanität, welcher im Criminalrecht aufgeräumt hat, das ur¬
alte Volksrecht bis auf die Wurzel angegriffen; dennoch steht dieses noch in
manchen ehrwürdigen oder auch mißgestalteten Trümmern da. und, um mit
Savigny zu reden, auch in nachgckommenen Rechtssatzungen bewährt sich wol
noch, daß das Volksrecht ein Theil des nationalen Körpers ist und nicht
gleich einem Rock an und abgelegt werden kann. Von den monotheistischen
Religionen liegt es im Wesen des Christenthums und des Islam, die
Schranke der Nationalität zu überschreiten; doch wird diese nicht ausgehoben;
neben den unwesentlichen Varietäten der liturgischen Formen gibt es ein un¬
gemein reiches Magazin nationaler Eigenthümlichkeit in der Auffassung ein
und desselben Glaubens, in dem Maß der Blindgläubigkeit, des orthodoxen
Rigorismus und Fanatismus, des Einflusses der Gläubigkeit auf Sittlichkeit
im Leben und Handeln; der Katholicismus des Jtalieners und des Münster-
ländcrs oder Vierwaldstädters, der Calvinismus der Züricher und der Schotten
liegen weit auseinander. Das Heerwesen hat seine nationalen Eigenthümlich¬
keiten auch bei der Gemeinsamkeit modernen Waffenthums oder früher des
mittelalterlichen Ritterthums, nie dergestalt eingebüßt, daß nicht das Maß
des kriegerischen Sinnes, das Geschick für einzelne Waffengattungen und tgi.
Unterschiede machte. Aehnliches gilt vom Seewesen. In ihrer ansprechendsten
Gestalt erscheint die Nationalität endlich in dem Gebiet, dessen Hervorbringungen
für das geistige Leben ebenso zur Allgemeinheit internationaler Mittheilung
und zu Austausch des Genusses berufen sind, wie im materiellen Leben die
Güter der Production und Fabrication, die Waaren des Verkehrs und Han¬
dels. Wir meinen die Sprachbildung, das Dichten und Wissen und die Kunst.
Die Sprache an sich wird in ihrem natürlichen Bau immerfort als das sinn¬
vollste Merkmal und wesentlichste Kleinod der Nationalität gelten müssen.
Aber auch wo sie zum Organ freier Vernunftthätigkeit in Wissenschaft und
Dichtung wird und sich auf den gemeinsamen Blüten- und Fruchtseloern der
Poesie und Literatur bewegt und wo der Verkehr mit dem Ausland den
vielfältigsten Austausch geistiger Schöpfungen und eine gewisse Gemeinsamkeit
des Denkens und Empfindens angebahnt hat, behauptet jede Nation ihr
Eigenthum in Schöpfungen nachhaltiger Originalität. So was dem Volksleben
am nächsten liegt, das Sprichwort, der Volkswitz, das Volkslied; das fran¬
zösische Vaudeville, die spanische Romanze, die englisch-schottische Ballade, das
italienische Sonett zeigen dies aus höherer Stufe. Auf der höchsten aber be¬
kunden ein Cervantes und Montaigne, Shakespeare, Calderon und Corneille,
Ariost und Camoöns, Voltaire, Diderot und Lessing, Goethe und Schiller,
Walter Scott u. a. bei der vollkommensten geistigen Unmittelbarkeit ihre
Nationalität. Die Musterung der Kunstschöpfungen ist, weil sie eben der Sprache
ermangeln, nicht im gleichen Maße ergiebig; doch wenn sie nur theilweise
nationalen Charakter haben — deutsche, italienische, spanische, niederländische
Malerei — deutsche Baukunst aber weit über ihr (muthmaßlich nicht eigentlich
deutsches) Geburtsland hinaus erhabene Werke schuf, so tritt das Nationale
in volles Recht bei persönlichen Kunstdarstellungen, Gesang, Tanz, Mimik der
Boleros und Fandcmgo, die Polonaise und Mazurka, die italienische (leider
zu Grabe gegangene) eommeclig, alsit' arts, das italienische Carneval u. dergl.
sind durch die innigste Wahlverwandtschaft des Nationalcharakters und der
freien Kunst an ihren heimathlichen Boden gebunden und außerhalb dieses
nur gleich verpflanzten Topfgewächsen.
Als Endurtheil ergibt sich, daß die Individualität des nationalen, wie
sehr unter Hobel, Bürste und Sammthandschuh der Cultur genommen und
wie geneigt, sich auf der Weltbühne in die herrschenden Formen zu fügen,
dennoch innere Lebenskraft genug hat, auch in den höheren Potenzen des
Völkerlebens ihr eigentliches Palladium und ihre prägnantesten Merkzeichen
durch alle Culturgrade zu behaupten, und daß grade ihre Fortdauer inmitten
gemeinsamer Culturformen und die Art, wie diese sich »rationell gliedern, zu
Der Oberhofprediger Ehrenberg, der ehemalige Religionslehrer des jetzigen
Regenten, hat mit Einwilligung desselben das Glaubensbekenntnis;, welches der Prinz
bei seiner Konfirmation abgelegt, der Oeffentlichkeit übergeben. Es ist ein schöner
Gedanke, daß der edle Fürst in dem Augenblick, wo ihm die Macht über so viele
Millionen gegeben ist, sich diese Grundsätze seiner Jugend wie einen Spiegel vor
Augen hält, um sich gleichsam noch einmal zu binden gegen Gott und gegen die
Menschen. Denn das ist der Sinn dieser Veröffentlichung- nicht die Zufriedenheit
mit früher gehegten Gedanken, sondern die Erneuerung derselben mit dem vollen
Bewußtsein, daß sie für die Nachwelt das Maß sein werden, die Handlungsweise
dessen zu richten, der in seiner Jugend so gefühlt und so gedacht hat. Von den
edlen Grundsätzen dieses Glaubcnsbckcnntnsscs heben wir nur einige hervor. „Ich
weiß, was ich als Mensch und als Fürst der wahren Ehre schuldig bin. Nie will
ich in Dingen meine Ehre suchen, in denen nur der Wahn sie finden kann." —
„Meine Kräfte gehören der Welt, dem Vaterland, ich will unablässig in dem mir
angewiesenen Kreise thätig sein, meine Zeit auf das beste anwenden und so viel
Gutes stiften, als in meinem Vermögen steht." — „Ich will keinem Menschen Un¬
recht thun, keinem hart sein. keinen kränken- oder demüthigen und wo ich darin
fehlen sollte, es eingestehen und auf alle Weise wieder gut zu machen suchen."
„Doch will ich meiner Pflicht gemäß alles aufbieten, daß das Werk der Heuchelei
und Bosheit zerstört, das Schlechte und Schändliche der Verachtung Preis gegeben
und das Verbrechen zur verdienten Strafe gegeben werde. Davon darf mich kein
Mitleiden zurückhalten." — „Verderbte Menschen und Schmeichler will ich entschlossen
von mir weisen. Die besten, die aufrichtigsten sollen mir die liebsten sein. Die
willnch für meine wahren Freunde halten, die mir die Wahrheit sagen, wo sie mir
mißfallen könnte." — Mit Recht setzt der Geistliche hinzu: „Zu den Fürsten drängen ^
alle sich hin, die Schlechtesten am meisten; ihrer Gunst möchten sich alle erfreun,
und die pflegen sich um dieselbe am eifrigsten zu bewerben, die sie zu ihrem eignen Vor¬
theil, zu der Fürsten und Völker Verderben mißbrauchen wollen. Das beste Herz
ist nicht hinlänglich gesichert vor dem schädlichen Einfluß des vertrauteren Umgangs,
die festesten Grundsätze wanken diesem Einfluß." — Der gerade, echt deutsche Sinn
des Prinzen wird dieser Gefahr entgehn, und mit vollem Herzen stimmen wir dem
Schlußwort des würdigen Geistlichen bei: „Gott befestige Eure königl. Hoheit in
diesen Grundsätzen, helfe Ihnen nach denselben Ihr ganzes Leben einrichten und zu
seiner Ehre führen, und lasse Sie den herrlichen Segen derselben allzeit erfahren."
Der alte Landtag hat mit der Anerkennung der Regentschaft seine dreijährige
Laufbahn, .die nicht die ruhmvollsten Seiten unserer Geschichte füllen wird, glück¬
lich beschlossen. Er ruhe in Frieden und sein Andenken möge bald durch bessere
Nachfolger ausgetilgt werden. Wenn aber der letzte Act seines Lebens d. h. sein
Schweigen von Seiten der Nationalzeitnng getadelt wird, so sind wir nicht im
Stand, diese Vorwürfe zu verstehn. Ganz abgesehn davon, daß Adressen und An¬
reden, die keinen bestimmten Zweck haben, am besten unterbleiben, daß es sich von
selbst versteht, daß man von einem Regierungswechsel das Beste erwartet und daß
man es daher nicht erst ausdrücklich sagen darf: was konnte dieser Landtag, nachdem
er drei Jahre lang seine Grundsätze hinlänglich'an den Tag gelegt, jetzt Besseres
thun als schweigen? Oder wünschte die Nationalzcitung etwa, daß dieser Landtag
dem neuen Regenten seine Wünsche und Erwartungen über das, was nun ^n thun
sei, unterbreiten sollte? Völlig ungerechtfertigt ist der Vorwurf gegen die Opposition,
die eine sehr kleine Minorität des Landtags bildet und daher nicht in der Lage war,
eine Adresse vorzuschlagen; die sich ebenso wenig veranlaßt sehn konnte, nicht aus¬
gesprochene Einwendungen gegen die Regentschaft zu widerlegen. Die Einwendungen
der Kreuzzeitung gehören nicht vor das Forum des Landtags, sondern vor das
Forum der Presse.*)
Die Publication, die „im allerhöchsten Auftrage" vom Ministerium des Innern
in Bezug auf die Wahlen erlassen ist, kann alle billigen Erwartungen befriedigen.
Wem manches darin nicht deutlich genug gesagt sein sollte, der nehme die Kreuz¬
zeitung zur Hand, deren Commentar das Nöthige enthält. Wir wollen nur auf
einen Punkt aufmerksam machen. Das Circular ermahnt die Landräthe, sich,
bevor sie eine Wahl annehmen, die ernste Frage vorzulegen, ob sie auch mit der
Regierung werden gehn können? Nicht ungeschickt fragt die Kreuzzeitung: mit wel¬
cher Regierung denn? da man doch noch nicht weiß, welches Ministerium dem Land¬
tag gegenübertreten wird. Aber das ist ja eben der Punkt! Die conservative Pha¬
lanx des Herrn von Westphalen soll sich daran erinnern, daß Herr von Westphalen
nicht mehr Minister ist, und daß möglicherweise in der Zwischenzeit noch andere
Veränderungen eintreten können; und sie soll deshalb ernsthaft erwägen, was unter
diesen Umständen ihr wohlverstandenes Interesse, ihre Ehre und ihre Pflicht erheischt.
Es ist, wie wir schon früher auseinandergesetzt, kein Attentat gegen die durch die
Verfassung garantirte Wahlfreiheit der Beamten, kein Eingriff im Sinne des Herrn
v. Westphalen und des Geheimen Regierungsrath Hahn, sondern nur eine wohl¬
gemeinte Erinnerung, daß sich in den factischen Voraussetzungen einiges geändert hat.
Was die neue Umlegung der Wahlbezirke betrifft, so enthalten wir uns eines
Eingehens aus das Detail; da die Zeit so sehr drängte, so läßt sich billigerweise
nicht erwarten, daß allen Uebelständen abgeholfen sein wird., Aber eins haben wir
bei dem motivirten Gutachten der „Preußischen Korrespondenz" schmerzlich vermißt.
Wir setzen voraus, daß eine der ersten Vorlagen der Regierung an den neuen Land¬
tag eine gesetzliche Feststellung der Wahlbezirke sein 'wird. Aber warum ist nicht
schon jetzt die Preußische Korrespondenz 'bevollmächtigt worden, diesen Vorsatz der
Regierung anzuzeigen? Die bestimmte Aussicht, daß die Regierung in dieser hoch¬
wichtigen Angelegenheit die Initiative zu ergreifen gedenke, würde auf die Wahl¬
berechtigten den heilsamsten -Eindruck hervorgebracht haben.
Vielleicht ist in dem Augenblick, wo wir dieses schreiben, die Ministcrkrisis schon
entschieden. Wir wiederholen, daß es uns mehr auf die Sache als ans die Per¬
sonen ankommt, daß jede verfassungstreue Regierung, welche jedem Bürger und
jedem Stande sein Recht zu Theil werden läßt, dem Ausland gegenüber die Ehre
Preußens energisch vertritt und namentlich in der Handelspolitik, die vielleicht für
die nächste Periode in den Vordergrund treten wird, die Interessen des Staats ein¬
sichtsvoll und consequent wahrnimmt, in derjenigen Schicht des Volks, aus der die
Opposition der letzten neun Jahre hervorging, einer loyalen Haltung begegnen wird,
gleichviel ob sie aus ehemaligen Mitgliedern der Rechten oder der Linken, oder auch
aus solchen Beamten zusammengesetzt ist, die sich an dem bisherigen Partcitrcibcn
gar nicht betheiligt haben. Fest überzeugt, daß der Regent bei der Besetzung der
wichtigsten Stellen nach gründlicher Prüfung der betreffenden Persönlichkeiten vor-
schreiten wird, werden wir in der Kritik zurückhaltend sein, bis sich ein bestimmter
Gang der Politik erkennen läßt. Nur zwei Wünsche haben wir auszusprechen.
Der erste betrifft unsere Parteifreunde, die Mitglieder der bisherigen Opposition.
Wir glauben nicht, daß für den Fall einer partiellen Veränderung des Ministeriums
es für die gedeihliche Entwicklung des Staatslebens heilsam wäre, wenn sie sich
neben die Männer setzten, die sie bisher principiell bekämpft. Was auch Gutes in
administrativer Beziehung daraus hervorgehn konnte, die politische Haltung ist doch
ebenso wichtig, und für diese sind noch andere Motive entscheidend als augenblickliche
Zweckmäßigkeitsmaßrcgcln.
Unser zweiter Wunsch ist, daß das neue Ministerium, wer es auch sein mag,
dem Landtag mit vollem Vertrauen entgegenkommen und ihm durch eine bestimmte
Darlegung seiner politischen Grundsätze die Direction geben möge. An diesem Ver¬
trauen hat es nicht blos das Ministerium Brandenburg-Manteuffel fehlen lassen,
sondern auch die drei ihm vorangegangenen Ministerien des Jahres 1848, und an
diesem Umstand hängt vieles, was die damalige sogenannte Nationalversammlung,
sür die wir wahrlich nicht eintreten wollen, wenigstens entschuldigen kann.
Die Hauptsache bleibt immer, wie die jetzigen Wahlen ausfallen. Zwar hat
die Nationalzeitung vollkommen recht, wenn sie es als einen Uebelstand beklagt, daß
die Wahlen ausgeschrieben sind, bevor ein neues Ministerium den Beamten in Be¬
zug auf ihre Wahlbeteiligung eine stärkere Direction, den Wühlern ein Bild von
dem, was sie zu erwarten haben, gibt. Allein nach, unserer Ansicht hat die Presse
jetzt eine ganz andere Aufgabe, als auf solche Uebelstände hinzuweisen, die am Ende
doch nicht so groß sind, als es scheint. Die Presse, die nicht für die Regierung,
sondern das Publicum geschrieben wird, hat vielmehr die heilige Verpflichtung, es
auszusprechen und Tag für Tag zu wiederholen: daß in diesem Augenblick jede
Theilnahmlosigkeit. an dem wichtigsten Act des Staatsbürgers eine politische Ehr¬
losigkeit wäre; daß derjenige, der in diesem Augenblick nicht alle seine Kräfte auf¬
bietet, um sür die Sache der Freiheit zu wirken, der seine Trägheit damit beschö¬
nigt, daß der Herr Landrath oder sonst wer vielleicht noch immer so dächten wie
vor einem Monat, daß ein solcher, auch wenn er in seinem Pult ganze Stöße von
Freiheitsgedichtcn verschlossen hält, auch wenn er die Faust im Sack ballt gegen die
Tyrannen, auch wenn er von einer kommenden Revolution träumt, vermittelst wel¬
cher ihm die gebratenen Tauben der Freiheit in den Mund fallen werden: daß ein
solchen verdient ein Knecht zu sein und zu bleiben. Wenn ein Volk unter
den gegenwärtigen Umständen nicht im Stande ist, sich aus gesetzlichem Wege selbst
Die Bereisung Hocharmenicns und Elisabethopols, der Schckinschcn
Provinz und des Kasbek im Centralkaukasus von F. A. Kolenati. Mit zehn Holz¬
schnitten. Dresden, R. Kuntze. 1858. — Eine sehr in das Detail eingehende, auf
den gründlichsten Untersuchungen beruhende Schilderung der genannten Theile des
transkaukasischen Rußland, von der man nur wünschen möchte, die einzelnen Auf¬
sätze, aus denen sie besteht, wären chronologisch, oder wenn das sich nicht empfahl,
nach den Gegenständen zusammengestellt. Der Verfasser ist Arzt und Naturforscher,
und fo erhalten wir namentlich über die Fauna und Flora des Kaukasus und seiner
Nachbarschaft vieles ungemein Werthvolle. Dahin gehört, was er über das Ka-
meel, über die Weine und die Bienenzucht, den Fischfang und die Kaviarbercitung
in den von ihm bereisten Landstrichen, dahin ganz vorzüglich das, was er über den
Seidenbau sagt. Er interessirt sich aber zugleich sür Gegenstände der Ethnographie,
und auf diesem Gebiet ist besonders seine Schilderung d-r deutschen Niederlassungen
bei Tiflis, aus der wir.später einen Auszug mittheilen werden, dankenswerth. Nicht
ohne Interesse ist dann seine kleine Grammatik der tatarischen Sprache, obwol sie
nur praktische Bedürfnisse im Auge hat. Endlich bekommt man auch manches hüb¬
sche Bild von den großen und kleinen Orten Armeniens "und Grnsiens, auch ist zu
erwähnen, daß der Verfasser den Kasbek, den zweithöchsten Berg des Kaukasus be¬
stiegen hat. Wir erlauben uns für Damen die folgende „Meditation über ein sei¬
denes Kleid" aus dem Buche aufzuheben.
Es dürfte nicht ohne Interesse sein, zu wissen, wie viele Wesen ihren Fleiß,
ihre besten Säfte und endlich ihr Leben hingegeben haben, um den Stoff zu einem
seidenen Kleide zu liefern.
Im Jahre 17 n. Chr. verbot Kaiser Tibenus seidene Gewänder. Im Jahre
173 n. Chr. durften sich unter der Regierung Marc Aurels nur hohe Damen in
Seide kleiden. Im Jahre 218 n. Chr. bekleidete sich der Syrier Heliogabal zuerst
damit. Im Jahre 270 n. Chr. verweigerte Kaiser Aurelian seiner Gemahlin ein
seidenes Kleid, da es mit Gold aufgewogen wurde. Auch heutzutage ist ein seide¬
nes Gewand zuweilen das Zeichen der vornehmen Dame.
Es ist bekannt, , daß zu einem seidenen Kleide ohne Schleppe 15^2 Ellen eines
V» Ellen breiten, oder 26 Ellen eines V» Ellen breiten Stoffes mit Schleppe er¬
forderlich sind. Auf eine Elle kommt es gewöhnlich, wie bekannt, den Damen-
fcbncidern nicht an und es ist jeder Dame anzurathen, lieber eine oder zwei Ellen
mehr der Schere zu opfern, als an ihrem Umfange beeinträchtigt zu werden. Nun
wiegt ein leichter Seidenstoff auf ein Kleid I6V2 Loth, ein schwerer Seidenstoff
1 Pfund 3V« Loth, wenn man auch sür die Farbe (was allenfalls nur bei gelben
durch Bleioxyd gefärbten Stoffen Anwendung erleidet) 5—8 Loth auf ein Pfund
Seidenstoff in Abzug bringt. Zu einem Loth Seide sind 90—95 Cocons nach
Abzug allen Verlustes durch Abfälle und Krankheiten der Seidenwürmer erforderlich;
daher sind zu einem Pfund 2880 bis 3040 Cocons nöthig. Somit haben zu
einem leichten seidenen Kleide, dessen Stoff 16 Loth wiegt, 1445—1547 und zu
einem schweren seidenen Kleide, dessen Stoff 1 Pfund 3°/» Loth wiegt, 3177—3348
'
Seidenraupen spinnen müssen. Wollen wir nun den Verlust durch Fehlschlagen
und anderweitige Beschädigungen auch noch mit in Anschlag bringen, so können
wir 4000 Seidenraupen rechnen. — Um 4000 Seidenraupen zu erhalten, braucht
man nach Abrechnung des Verlustes durch Fehlschlagen ein Quentchen Seidcnrau-
pencicr (genannt Graius) oder die Eier von 10 Pärchen Scidcnschmcttcrlingcn. —
Da eine einzige Seidenraupe während ihres Lebens etwas mehr als 2 Loth Blätter
vom Maulbeerbaum verzehrt, so brauchen die 4000 Seidenraupen 2^/2 Centner Laub.
Nun gibt ein zwanzigjähriger kräftiger Maulbeerbaum durchschnittmäßig 90 Pfund
Blätter. Wenn wir nun auch hier den Verlust der Abfälle mit in Anschlag brin¬
gen, so werden drei solche kräftige zwanzigjährige Bäume dadurch so in Anspruch
genommen, daß sie das andere Jahr nicht so viel Laub geben dürsten. Um daher
die Gleichförmigkeit der jährlichen Lcmbproduction ebenfalls mit einzurechnen, so sind
vier bis sechs zwanzigjährige Bäume dazu erforderlich oder sechsmal so viel zwölf¬
jährige Bäume, d. i. 24 Stück. — Davon hat aber der Rohproducent nicht den
Hauptnutzen; denn 344 getrocknete Cocons gehen aus ein Pfund, 250 lebende
Cocons gehen auch auf ein Pfund und zehn Pfund Cocons geben ein Pfund ab¬
gehaspelte Rohseide (Greze). Ein Pfund getrocknete Cocons verkauft der Producent
höchstens zu 9 Fi. C.-M. und ein Pfund Greze verkauft er höchstens zu 12 Fi.
C.-M. Der Fabrikant, welcher erst die Seide zu Kcttcnseide (Organsin) und zu Durch-
schlagscide (Traum) moulinirt, hält ein Pfund Organsin im Preise von 18 und
ein Pfund Traum im Preise von 16 Fi. C.-M. Ein Pfund Scidcnwaare kostet
durchschnittlich 34 bis 130 Fi. C.-M. Somit stellt sich das Verhältniß der rohen
Seide zur moulinirtcn Seide und zur Scidcnwaare wie 12-18: 34 oder wie
12: 18: 130 oder wie 1: IV-'- 3 oder wie 1: 1'/-- 12 heraus.
Auch das Terrain wollen wir berücksichtigen. Ein Quentchen Graius braucht,
wenn die Raupen ausgekrochen sind, in der ersten Lebensperiode IV» Quadratfuß,
in der zweiten 2'/--, in der dritten KV», in der vierten 7 Quadratfuß Zimmer¬
raum. — Sechs zwanzigjährige Bäume erfordern einen Gartenraum von V» Quadrat¬
joch und von der Heckcnzucht würde Vs Quadratjoch erforderlich sein.—
Die Expedition in die Seen von China, Japan und Ochotsk unter
Commando von Kommodore Ninggold und Kommodore Nodgers in den Jahren
1853—1856. Deutsche Originalausgabe von W. Heine. Leipzig, H. Costenoble,
1859. Zweiter Band. — Dieser Theil des von uns bereits ausführlich angezeigten
Werkes schildert vorzüglich die Beobachtungen der Engländer und Amerikaner in den
japanischen Häfen Hakotade, Simoda und Nangasaki. Dann folgen die Forschungen
und- Erlebnisse der Amerikaner an der Küste von Kamtschatka, am Gestade Sibi¬
riens und auf der wüsten Insel Fadens. Viel wesentlich Neues enthalten die Ca¬
pitel über Japan nicht; doch wird manchem das im Anfang mitgetheilte Tagebuch
eines chinesischen Gelehrten aus Kanton, welcher die Amerikaner nach Japan beglei¬
tete, mit seiner theilweise recht originellen Auffassung der Dinge interessant sein.
Die beigegebenen Bilder, Porträts, Landschaften, Volksgruppen in Tondruck sind
sehr hübsch. Sie sind wol auch die Hauptsache im ganzen Werke. —
Geo gnosti sehe Beschreibung der preußischen Oberlausitz, theilweise
mit Berücksichtigung des sächsischen Antheils. Entworfen von E. Fr. Glockcr. Mit
50 Figuren in Holzschnitt und mehren Karten. Görlitz, Heynsche Buchhandlung.—
Eine sehr gründliche Arbeit, die der görlitzer naturforschenden Gesellschaft, die sie
veranlaßte, und dem bekannten Geologen, der sie ausführte, gleich viel Ehre macht,
und die wir allen, die ein Interesse an der Geognosie nehmen, schon deshalb leb¬
haft empfehlen, weil für die Oberlausitz preußischen Antheils bis jetzt in dieser Be¬
ziehung wenig gethan worden ist, deren Boden aber an vielen Punkten Schätze
enthält, die man früher hier nicht suchte. Der Verfasser hat'nichts von Bedeutung
Übergängen und auch die technische und ökonomische Benutzung der vorkommenden
Gesteine und Metalle in Betracht gezogen. So empfiehlt sich das Buch außer dem
Gelehrten auch dem gebildeten Landwirth und Industriellen. Die beigegebenen Holz¬
schnitte sind gut ausgeführt und rein gedruckt. Die Karten — eine geognostische
und eine land- und forstwirtschaftliche — sind zwar verhältnißmäßig klein, doch
thut dies der Deutlichkeit keinen Eintrag. >—
Wandkarte der europäischen Staaten von Ewald. Darmstadt, Jong-
haus und Vcnators kartographisch-artistische Anstalt. — Diese Karte ist im Ma߬
stab von 1: 3,600,000 entworfen und enthält die Bezeichnung der Eisenbahnen und
Telcgraphenlinien, der Hauptstraßen und Kanäle. Die Ausführung ist sehr zu loben.
Die Karte entspricht durch reichen Inhalt und durch Correctheit jeder einigermaßen
billigen Anforderung. Sehr gut gewählt find die Farben- tiefes Blau für Meer
und Flüsse, Braun für Gebirge, Schwarz für Eisenbahnen, Kanäle, Straßen, Noth
für Lcmdcsgrcnzen. Gebirge, Meer und Flüsse treten dadurch sehr übersichtlich vor
das Auge. So ist die Karte nicht- blos ein gutes Lehrmittel sür Schulen (die aller¬
dings nebenbei noch eine andere bedürfen werden, auf der die Grenzen der Länder
verschiedenfarbig bezeichnet sind, wenn letzteres nicht vom Käufer selbst bewerkstelligt
werden kann), sondern auch eine vorzügliche Ucbcrsichtskartc für kaufmännische Comp¬
toirs, Postbchördcn, Bahnhöfe und Lesezimmer. — Wir knüpfen hieran die Anzeige,
daß von dem in demselben Verlag erscheinenden, ebenfalls von Ewald herausgege¬
benen „Handatlas der allgc meinen. Erdkunde, der Länder- und Staa-
tenkunde", über den wir nach Vollendung des Ganzen ausführlich berichten wer¬
den, wieder einige neue Lieferungen herausgekommen sind, von denen wir namentlich
auf die der ethnographischen Section (Sprachenkarten, Religionen-, Völker- und
Raccnkarten) so wie auf die der mathematisch-geographischen und Physikalischen
Section (Sonnen- und Mondfinsternisse, Tages- und Jahreszeiten, Luftströmungen und
Niederschlüge, Höhen und Tiefen, Veränderungen der Erdoberfläche in historischer
Zeit, vulkanische Bildungen, Entstehung von Koralleninseln, von Flußdeltas, Strand-
und Düncnanschwemmungcn, Glctscherbildungcn u. a.) als sehr instructiv hinweisen.
Von der statistisch-topographischen Section sind neuerdings die Schweiz, Griechen¬
land, Ostindien, China und Japan und Kleinasien mit Armenien und Syrien er¬
schienen. Die Ausführung ist sehr schön, das Hauptstrcben des Herausgebers: mög¬
lichste Anschaulichkeit und Übersichtlichkeit in nicht gewöhnlichem Grade erreicht. Die
Vollendung des Werkes soll noch in diesem Jahre stattfinden. —
Neue Lieferungen von geographischen Werken: Von Dr. Böttgcrs
Mittelmeer (Leipzig, G. Mayer) ist die vierte und fünfte Lieferung, von Ed.
Schaucnburgs Reisen in Centralafrika die fünfte erschienen. Ersteren ist eine
Karte vom westlichen Theil des Mittelmeerbeckens beigegeben, letzterer ein Porträt
Richard Laubers. Beide Werke empfehlen wir wiederholt als werthvoll.
Das Zchntrccht der evangelischen Landeskirche in Siebenbürgen.
Eine rechtsgeschichtliche Abhandlung vom Gymnasialdirector T eutsch in Schäßburg.
Schäßburg, Habcrsang. — In das öde, menschenleere Siebenbürgen berief König
Gcisa II. um die Mitte des 12. Jahrhundcrs deutsche Einwanderer, treu dem Prin¬
cip seines Hauses, das .seit die Magyaren Pannonien eingenommen, fortwährend in
Kolonisten ein Mittel der Machtstärkung gesehn. Diese Kolonien bevölkern und
schützen mit ihren Burgen das Land vom untern Mieresch, von West nach Ost ein
großes stehendes Heerlager, viele Meilen bis an den Alt und das Seklerlcmd. Zwei
Menschenalter später vergabte König Andreas II. im Südosten Siebenbürgens den
deutschen Rittern das Burgenland zu dem klar ausgesprochenen Zweck des Grenz¬
schutzes; als sie wenige Jahre daraus (1225) das schöne Besitzthum, das sie der
Oberhoheit der ungarischen Krone zu entziehen versucht, verlassen mußten, blieben
doch die deutschen Einwanderer darin zurück, um das Werk der Ritter nicht unwür¬
dig sortzuscizcu. So kamen in wenig mehr als zwei Menschenaltern zahlreiche
deutsche Kolonien nach Siebenbürgen, die in der Folge zum sächsischen Volk, zur
dritten ständischen Nation des Landes zusammenwuchsen, in dem sie sich mit tief¬
gehendem Einfluß auf seine Entwicklung erhalten haben, fast wunderbar in der
ganzen Eigenthümlichkeit des deutschen Volksthums bis auf diesen Tag. Von den
Institutionen, unter deren Schutz ihnen so Großes gelang, ist als Glied in der
Kette ihrer kirchlichen Verfassung das Zchntrccht eine der bedeutendsten: jene deut¬
schen Kolonisten waren keinem Bischof zchutpflichtig, also auch dem siebenbürgischen
nicht, dem sie ursprünglich gar nicht unterstanden, sondern entrichteten den Zehnten
ihren eignen cremten Pfarrern. Die ganze Rechtslage bietet so viel Eigenthümlich¬
keiten dar, die Verfassung der neuen deutschen Kirche am äußersten Ende der abend¬
ländischen Christenheit ist vom gemeinen Recht jener Zeit so sehr verschieden, daß
eine Darstellung derselben als ein wichtiger Beitrag für die Kulturgeschichte im All¬
gemeinen betrachtet werden kann. —
Geschichte der Staatsverändcrung Norwegens im Jahr 18 14.
Vom Amtmann G. P. Blom. Mit Ackerstücken. Leipzig, I. I. Weber. — „Mehr
als vierzig Jahre, „sagt der Verfasser", sind verflossen, seitdem Norwegen mit Schwe¬
den verbunden, und von demselben Könige, doch nach seiner sich selbst gegebenen
Verfassung, regiert worden ist, und jetzt ist die Zufriedenheit mit diesem Verhältniß
allgemein. Zwar hegten mehre im Anfang hinsichtlich der Absichten Schwedens mit
Norwegen Argwohn; zwar konnte der alte eingewurzelte Nationalhaß nicht augen¬
blicklich erlöschen; allein allmälig verschwand der Unwille, und die Bestrebungen
mehrer, sowol schwedischer als norwegischer Publicisten, Mißtrauen einzuflößen, waren
vergebens. Die Conflicte, welche die verschiedenen Verhältnisse zwischen beiden Na¬
tionen veranlassen konnten / wurden immer mehr und mehr gelöst, und jetzt erfreut
man sich einer brüderlichen Harmonie, da man einsieht, daß die Vereinigung zur
gegenseitigen Sicherheit und zum Glück sührt. — Norwegen hat in dieser Periode
nach allen Richtungen hin unberechenbare Fortschritte gemacht. In der langen Reihe
von Fricdensjcchrcn haben sein Handel, die Schiffahrt und alle übrigen Nahrungs-
zwcigc geblüht. Der Staat hat keine Schulden, keine realen Steuern werden auf¬
erlegt, sein Geldwesen ist auf festen Fuß gestellt, sein Geld steht dem Hamburger
Banko gleich, und den Einwohnern sind bedeutende Capitalien zugeflossen. Die Be¬
völkerung schreitet bedeutend vorwärts, und ein jeder erkennt jetzt, daß das Jahr
1814 das segensvollste in der Geschichte Norwegens war. Der Verfasser hatte schon
1823 eine Geschichte dieser Periode ausgearbeitet. Er fühlte sich um so mehr dazu
aufgefordert, da er als Mitglied der constituirenden Versammlung zu Eidsvvld,
welche Norwegen seine gegenwärtige Verfassung gab, Gelegenheit hatte, die Begeben¬
heiten und ihre Motive genau zu untersuchen. Er ließ die Arbeit von dem Histo¬
riker I. Chr. Berg durchsehn, schob aber die Herausgabe bis zum gegenwärtigen
Augenblick auf, wo er als der einzige noch lebende Repräsentant jener Versammlung
sich dieser Verpflichtung nicht länger entziehn zu können glaubte. — Die Freiheit in
der norwegischen Verfassung steht unter den europäischen Staaten so einzig da, daß
ein Bild von der Entstehung derselben auch in Deutschland lebhafte Theilnahme er¬
wecken wird. —
Briefe des nachmaligen königlich.preußischen Legationsraths K. F. Oelsner
an den herz, oldenb. Justizrath G. A. v. Halem, von Paris aus geschrieben in den
Jahren 1790 —1792. Wortgetreu aus dem Originalmanuscript herausgegeben von
or. Merzdorf. Berlin, Springer. — Die Briefe geben namentlich über die
Theaterverhältnisse jener Jahre erwünschten Ausschluß. In politischer Beziehung steht
der Verfasser auf dem Standpunkt Mirabeaus, dessen genauere Beziehungen zum
Hof er jedoch nicht kannte. —
Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mittendes
13- Jahrhunderts. Von W. Wattenbach. Archivar zu Breslau. Eine von
der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen gekrönte Preisschrift.
Berlin, Hertz. — Die Anerkennung, die dieser Schrift von cvmpetenter Seite zu
Theil geworden ist, will um so mehr sagen, da sie der Idee der gestellten Preis-
aufgabe nicht ganz entsprach: eine kritische Geschichte der deutschen Historiographie
bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts. Das Publicum wird dem Verfasser Dank
wissen, daß er sich durch jene Aufgabe nicht hat irren lassen. Er sagt in der Vor¬
rede darüber: „Ein Handbuch der Quellenkunde für die Geschichte Deutschlands im
Mittelalter wird seit langer Zeit vermißt und begehrt; je mehr einerseits das Ge¬
schichtsstudium an Lebhaftigkeit gewinnt und andrerseits die alten Ausgaben durch
neuere Arbeiten und Entdeckungen völlig unbrauchbar gemacht werden, desto mehr
begehrt man. nach einem Leitfaden. Vortrüge, welche ich in Berlin über diesen
Gegenstand hielt, wurden fleißig gehört und regten zuerst den Gedanken an, die ge¬
sammelten Materialien für den Druck zu verarbeiten. Die Rücksicht auf das prak¬
tische Bedürfniß der Zuhörer war bei den Vortrügen maßgebend gewesen, und sie
'se es auch bei der Ausarbeitung dieses Buchs geblieben. Es kam darauf an, eine
Uebersicht zu geben und die Wege zu weiterer eigner Forschung zu weisen." Mit
diesen Worten hat der Versasser die leitende Aufgabe seines Werks festgestellt: es ist
ein Buch zum Nachschlagen für diejenigen, die sich über die Glaubwürdigkeit und
sonstige Beschaffenheit der einzelnen historischen Quellen unterrichten wollen. Er
hat diese Aufgabe, die um so schwieriger war, da es galt vollständig zu sein und
doch jede unnöthige Weitläufigkeit zu vermeiden, glücklich gelöst. Die ganze Einrich-
tung ist bequem, und es ist doch die Arbeit eines echten Gelehrten. Aber er hat
noch mehr geleistet, er hat eine bestimmte Seite unseres Culturlebens in deutlicher
übersichtlicher Folge und in einem so durchsichtigen Zusammenhang entwickelt, daß
sie für jeden Freund der Geschichte eine anziehende Lectüre bildet. So tritt das
Buch als verdienstliche Ergänzung in die Mitte zweier Werke, die beide mit Recht
die Aufmerksamkeit des Volks auf sich gezogen haben, die deutsche Übersetzung
der mittelalterlichen Geschichtschreiber und Gicsebrcchts Kcnscrgeschichte, die neuerdings
in Berlin den Preis gewonnen hat. > Die historische Kenntniß wird nur dann im
Volke Wurzel schlagen, wenn es nicht blos erfährt, was geschehn ist, sondern auch
wie man sich über diese Ereignisse unterrichtet hat. —
'
I,it'<z ot Koorgs WÄSuinAton, 07 >V Irving-. ^utor. Läition.
Vol. IV, I^oipAg, l^uLliuiti!. (volle etiori ok Lritislr ^utlrors, '1'g.uelrniti!
Läitivu). — Das Leben G. Washingtons von W. Irving, Herausg. von Prof.
Butan. Leipzig, Lorck. — Der vierte Band dieses ausgezeichneten Werks führt
das Leben des siegreichen Feldherrn bis zu seiner Präsidentenwahl. „Der Plan
unsers Werks," sagt der berühmte Verfasser zum Schluß, „machte es nothwendig, aus¬
führlich die Feldzüge der Revolution zu behandeln, selbst wo Washington nicht selbst
aus dem Schauplatz der Begebenheiten anwesend war; aber sein Geist durchdrang
und leitete das Ganze, und eine allgemeine Kenntniß des Ganzen ist unentbehrlich,
um den Scharfblick, die Voraussicht, die ausdauernde Seelenstärke und die umsichtige
Weisheit zu würdigen, mit der er den Krieg führte. Bei der Darstellung der Re¬
volution haben wir uns bemüht, was wir für ihren eigenthümlichsten Zug halten!
die Größe des Ziels und die Kärglichkeit der verwendbaren Mittel, gebührend hervor¬
zuheben. Wir haben uns bemüht, den vorherrschenden Mangel an Hilfsquellen,
die sträfliche Vernachlässigung, die Noth und den Jammer aller Art, mit denen ihre
Helden auf ihren Zügen durch pfadlose Wildnisse oder dünn bevölkerte Landstriche,
im sengenden Sonnenbrand oder im unbarmherzigsten Unwetter, auf ihren durch
blutige Fußspuren über Schnee und Eis zu verfolgenden Wintcrmärschen, in ihren
unwirthlichen, durch Entblößung und Hunger noch unwirthlichcr gemachten Winter¬
lagern zu kämpfen hatten, beständig ans Licht zu stellen. Die Geduld und Seelen-
stärke, mit welcher eine halbdisciplinirte Miliz, freiwillige Verbannte von ihrem
heimathlichen Herd, ohne die Aufregung, welche der stolze Prunk und Glanz des
Krieges hervorzubringen geeignet sind,, und nur von ihrem Patriotismus getrieben,
an den Tag legten, sind die edelsten und rührendsten Eigenthümlichkeiten dieses gro¬
ßen Kampfes für Menschenrechte. Diejenigen thun seiner moralischen Größe Unrecht/
welche seinen militärischen Operationen durch wohlfeile Uebertreibung einen melo¬
dramatischen Effect und falschen Schimmer verleihen und ihre größten Triumphe
auf dem Schlachtfeld suchen wollen. Lafayette zeigte ein richtigeres Verständniß der
Eigenthümlichkeit des Kampfes, als Napoleon, der gewohnt, seine ehrgeizigen Ziele mit
Hunderttausenden von Truppen und Zehntausenden von Erschlagenen zu verfolgen,
über die winzige Armee der amerikanischen Revolution und ihre Schlachten hohn-
lüchcltc. Sire, gab er treffend zur Antwort l es war ein Kampf um die großartigste
Sache, gewonnen durch Vorpostengefechte und Scharmützel." —
Zehn Jahre sind verflossen seit der Eroberung Wiens durch die Kroaten,
neun Jahre seit der Kapitulation Komorns, dieser letzten Scene des ungarischen
Revolutionsdramas. Die Gefallenen sind zum großen Theil vergessen, die Ein¬
gekerkerten fast alle in Freiheit gesetzt, die Verbannten in bedeutender Anzahl
zurückgekehrt; der Belagerungszustand hat in Ungarn wie in den übrigen Theilen
des großen Kaiserstaates aufgehört, und mit dem Aufheben des Paßwesens
haben Spionage und Angeberei, diese unzuverlässigsten und dennoch zumeist
gehütschelten Diener der Reaction, den Laufpaß bekommen. Die Gemüther sind,
wenn auch nicht beruhigt, so doch ruhig; Erzherzog Stefan war in
Wien, ohne daß die Ungarn die mindeste Demonstration machten, und
die Geburt des Kronprinzen Rudolf, der nach dem ersten Bade zum Inhaber
eines ungarischen Regimentes gemacht wurde, ist im Magyarenlande mit
Wohlthätigkeitsstiftungen und andern loyalen Kundgebungen gefeiert worden,
daß selbst der Kreuzzeitung das Herz darüber jubelte.
Wir können also mit vollem Recht sagen: In Ungarn ist die Revolutions-
periode von 1848 zum Abschluß gebracht. Das alte Ungarn ist mit der oben
erwähnten Kapitulation von Komorn zu Grabe gegangen, und kann nie wieder
in dieser Gestalt zur Auferstehung kommen. Wie immer die Geschichte der
europäischen Staaten und Völker sich entwickeln mag: das alte Ungarn mit
seinem halb unbeschuhten, halb goldgeschnürten, halb der asiatischen, halb der
französischen Civilisation angehörenden Adel, mit seiner revolutionären Aristo¬
kratie und seinem streng monarchischen Volke, seiner liebenswürdigen Confusion
und seiner confusen Liebenswürdigkeit, kann nie und nimmermehr zurück¬
gebracht werden; denn es gehörte schon längst einer in Europa überwundenen
Culturperiode an, und die Jahre 1848 und 49 waren allenfalls stark genug,
um eine solche Abnormität sür immer zu beseitigen.
Dies ist jetzt die ungetheilte Ansicht aller Denkfähigen in Ungarn, sie mö-
gen früher welcher Partei immer angehört haben, und sie mögen für die Zu¬
kunft eine rein nationale oder mehr kosmopolitische Entwicklung für ihr Vater¬
land anstreben.
Wir können also mit kaltem Blut, mit der Ruhe und Unbefangenheit
der historischen Beobachtung auf die Entwicklung der politischen Zustände in
Oestreich und Ungarn während der letzten zehn Jahre zurückblicken und uns
die Aufgabe stellen, zu untersuchen, was das schöne Land zwischen den Karpa¬
then, was der große Kaiserstaat, mit dem dieses Land infolge der jüngsten
Ereignisse näher verbunden wurde, seit zehn Jahren gewonnen oder verloren
haben.
Ungarn war vor 1848 eine Monarchie, welche durch eine aristokratische
conservative Verfassung beschränkt wurde. Dem König gehörte die Ausübung
der Gesetze mit allen sonstigen Attributen der Souveränetät, wie: das Ober-
commando des Heeres, die Ernennung der hohen Würdenträger und Staats¬
beamten, — von einem eigentlichen Ministerium wußte die zu Anfang des
dreizehnten Jahrhunderts entstandene Verfassung so wenig als die um sieben
Jahre ältere «ünartg. maMli. der Engländer — das Begnadigungsrecht, das
Recht der Adels- und Ordensverleihungen ze. Hierzu kam noch ein der Legis¬
latur gegenüber unbeschränktes Veto und das Recht den Reichstag zu schlie¬
ßen und neue Wahlen anzuordnen. Das Volk besaß diesem gegenüber: die
durch ein unbeschranktes Veto sehr beschränkte legislative Macht, welche es
in zwei Kammern ausübte und das Recht der municipalen Selbstregierung,
deren Schauplatz die einzelnen Comitate und freien Städte waren.
Schon nach diesen Hauptumrissen zu urtheilen war die ungarische Con-
stitution eine sehr beneidenswerthe Errungenschaft vergangener Jahrhunderte,
und der englischen nicht ganz, unähnlich. Daß sie im Laufe der Zeit nicht
das leistete und leisten konnte, was die maMÄ Lin^re^ dem Volke Albions,
ist nicht blos der Verschiedenheit der geographischen Lage und der Abstam¬
mung der beiden Völker, sondern auch und vorzüglich zweien Umständen zu¬
zuschreiben, welche als die wunden Punkte des altungarischen Staatslebens
betrachtet werden müssen.'
Das ungarische Volk, welches dem Monarchen gegenüber den zweiten
Factor in der Staatsmaschine bilden sollte, machte nur ungefähr den siebzehn¬
ten Theil der ganzen Bevölkerung des Landes aus. Ungarn mit den an
seiner Verfassung Theil nehmenden Nebenländern zählte beim Ausbruch der letz¬
ten Revolution an fünfzehn Millionen Einwohner, worunter neunmalhunderr-
tausend Adelige; und die letzteren genossen eigentliche politische Rechte, bildeten den
„xorMu8" der Konstitution, während die übrigen vierzehn Millionen theils nur
in den Communen einige bürgerliche Rechte ausüben dursten, theils aber blos
als Herrenfutter — „misera, xleds eontribuens" nennt sie das Lorxus M'is "
betrachtet wurden. Bei dem Umstand, daß ein großer Theil des Adels ohne
Besitz und noch mehr ohne Bildung war. mußte die in seine Hand gelegte
ausschließliche Ausübung aller politischen Rechte viele von den Mängeln eines
Kastenregiments ohne die Vortheile erzeugen, welche eine eigentlich aristokratische
oder oligarchische Regierung mit sich bringt.
Von Seiten Oestreichs waltete ein nicht minder verderblicher Umstand ob,
in der Verschiedenheit der Regierungsformen der sogenannten Erbländer und
Ungarns. Seit 1527 regierten die Fürsten aus dem Hause Habsburg-Lothrin¬
gen als Könige in Ungarn. In den Erbländern dieses Hauses waren die
ständischen Landtage im Laufe der Jahrhunderte zu bedeutungslosen ceremo-
niellen Aufzügen herabgesunken, alle municipale Selbstständigkeit durch eine
in allen Zweigen der Verwaltung streng durchgeführte Centralisation aufge¬
hoben, und die Regenten konnten sich füglich als absolute Herrscher betrachten.
Nur in Ungarn, wo der Handhaber der Constitution, der Adel, sehr zahlreich
und ein bedeutender Theil desselben auch vesitzreich war, wo schon infolge der
Anncxation des Landes an ein fremdes Reich ein hoher Grad von Mißtrauen
und Eifersucht geweckt, und durch mehre von Oestreichs Feinden begünstigte
Revolutionen und Kämpfe wach erhalten würde, erhielt sich die alte Verfassung
in ihren Hauptzügen bis auf die neueste Zeit. Dies mußte für die Entwick¬
lung des östreichischen Kaiserstaates sowol als für die gedeihliche Entfaltung
des ungarischen Verfassungswesens sehr mißliche Uebelstände erzeugen. Oest¬
reich betrachtete Ungarn als einen revolutionären Staat im Staate, als ein
Hinderniß seiner politischen Abrundung und Gleichförmigkeit, und sah sich
daher bewogen, durch oft wiederholte Eingriffe in die Constitution die Sonder¬
stellung des Magyarenlandes allmälig aufzuheben. Dadurch wurden die Un¬
garn noch mehr mißtrauisch gemacht, noch mehr zum Festhalten an ihrer Natio¬
nalität und Verfassung, ja selbst an den Mängeln der letzteren bestimmt.
So entstand ein nur selten unterbrochener Kampf zmischen dem Gro߬
staate und einem seiner wichtigsten Theile, welcher endlich zum offnen Krieg,
zum Krieg um Sein und Nichtsein führen mußte. Oestreich ist siegreich aus
diesem Kriege hervorgegangen, und es ist das Recht des Siegers, seinen
Sieg nach den Gesetzen der Billigkeit und politischen Zweckmäßigkeit zu seinem
Vortheil auszubeuten.
Unmittelbar nach der Beendigung des ungarischen Revolutionskampfes
war in Ungarn die Ansicht und Hoffnung fast allgemein, daß der junge
Monarch selbst im Siege die Kraft und Bedeutung des Besiegten nicht unter¬
schätzen und die noch aufgeregten Gemüther durch einen Act fürstlicher Gro߬
muth beruhigen, erst wahrhaft besiegen würde. Die Hoffnung fand ihre
Berechtigung in einigen Antecedentien in der ungarischen Geschichte sowie in
dem Bewußtsein des ganzen Volkes, daß der Kampf nur durch das Aneinander-
Hetzen der Nationalitäten zu seiner verderblichen Größe herangewachsen, und
daß der letzte und unsinnigste Act der revolutionären Negierung in Debreczin
— die definitive Losreißung des Landes von Oestreich — blos das Werk
einiger sich selbstüberschätzenden und den ganzen Reichstag tyrannisirenden
politischen Drathzieher war und in den Gemüthern des Volkes nicht den
mindesten Anklang fand.
Wir wissen, wie bald und wie schmerzlich diese Erwartung durch die Er¬
nennung Haynaus zum Gouverneur von Ungarn vereitelt wurde, und das
Land sah in stummer Apathie der Entwicklung seiner Zukunft entgegen.
In Oestreich machten sich damals über die Wahl der zu ergreifenden
Maßregeln zur Neugestaltung des Reichs außerhalb der Regierungskreise fol¬
gende zwei Ansichten geltend. Die Einen meinten, Oestreich, welches durch
seine geographische Lage und heterogene Zusammensetzung am meisten dazu geeig¬
net und auch verpflichtet ist, die Civilisation im Osten zu verbreiten, muß,
nach den in neuester Zeit gemachten Erfahrungen, selbst den Weg der Revo¬
lution betreten und alle in dem Boden einer vergangenen Culturperiode
wurzelnde Separatverfassungen, Frohnverhältnisse. Städteeinrichtungen, Zunft-
Vorrechte u. s. w. mit einem Machtwort aufheben. Der große Kaiserstaat
muß von nun an ein untheilbares Ganzes bilden, die alten Namen der ein¬
zelnen Theile müssen verschwinden, und eine neue Eintheilung von Bezirken
nach geographischen und staatsökonomischen Maßgaben vorgenommen werden.
Die deutsche Sprache muß im ganzen Reich als das Organ der Regierung
und des Gesetzes gelten, und eine Verfassung, die sogleich zu pr.oclamiren ist,
die aber erst nach vollendeter Umgestaltung des Reichs nach den eben aus¬
gesprochenen Principien ins Leben zu treten hat, muß alle Einwohner Oestreichs
zu einem großen, freien Volk vereinigen, welches in dem großen Ganzen sein
Heil und die sichersten Garantien für seine Errungenschaften und sein ferneres
Gedeihen finden soll.
Hiermit hätten zwar alle die größern und kleinern Nationalitäten des
Kaiserreichs mit einem Mal den Todesstoß erhalten, und manche nationale
Thräne wäre gefallen, manches nationale Herz gebrochen; aber die Welt hätte
mit Bewunderung aus Oestreich geblickt, welches den glücklichen Ausgang
eines verhängnißvollen Kampfes zum Ausgangspunkt einer erwartungsreichen
Zukunft gemacht, und selbst in den Ländern, welche so ihre Scheinautonomie
verlieren mußten, hätten sich viele gefunden, die sich sogleich oder im Laufe
einiger Jahre mit den neuen Zuständen ausgesöhnt hätten. Nach zehn
bis zwanzig Jahren hätte man sich so sehr an das neue vom Hauch der ge¬
setzlichen Freiheit und des Fortschritts durchwehte Staatsleben gewöhnt, daß
nur wenige — es gibt Menschen, die keine Bourbonen sind, und dennoch
nichts lernen und nichts vergessen — die alte Zeit mit ihrem aristokratischen
Prunk und ihren bureaukratischen und feudalen Mißständen zurückgewünscht
hätten. In diesem Falle wäre auch der militärische Aufwand und die kriegerische
Kraftentwicklung Oestreichs während der letzten Zeit als gerechtfertigt erschie¬
nen und mit einem solchen Staate, in dem deutsches Wesen, deutsche Wissen¬
schaft und deutsche Bildung die Hauptfactoren sind, hätte Oestreich sich mit
vollem Recht als die erste deutsche Großmacht geriren können, und das deutsche
Volk hätte ihm aus Dankbarkeit für solche Kräftigung und Weiterausbildung
seines Volksthums gern diese Stellung eingeräumt.
Andere meinten hingegen: Oestreich, welches sein Entstehen und sein
Wachsthum einer conservativen und ausharrenden Politik verdankt, und welches
soeben der revolutionären Hydra auf den Kopf getreten, kann unmöglich selbst
den schwankenden Boden der Revolution betreten wollen. Im Gegentheil:
Oestreich kann nur aus dem Boden des altbewährten historischen Rechts sich
gedeihlich entwickeln, und es muß alles als nichtig und unzulässig betrachten,
was die letzten zwei Jahre in den verschiedenen Theilen der Monarchie hervor¬
gebracht, weil es eben mit dem historischen Recht der Monarchie sowol als
der einzelnen Nationalitäten im Widerspruch steht. Demnach müssen die König¬
reiche ihre prunkhaften Krönungsfeste. Ungarn seine Scheinautonomie, seine
Grcnzzölle und seinen bevorzugten Adel, die. übrigen Provinzen ihre ceremo-
niellen Landtage u. s. w. zurückerhalten. Mit einem Wort: es muß Kehr¬
aus gemacht werden mit allem, was die Revolution erzeugt; denn die Mon¬
archie schöpft ihre Berechtigung aus der Geschichte und kann nur den
Fortschritt zulassen, der sich auf historisch normalem Wege in den vom histo¬
rischen Recht gesetzten Schranken entwickelt; und Oestreich zieht es vor, seine
Völker mit bedächtigem Schritt, im Geiste des streng monarchischen Princips
dem materiellen Wohlstand und der moralischen Veredelung entgegenzuführen,
als sie gewaltsam und vielleicht gegen ihren eignen Willen in neue, gefahr¬
volle Bahnen zu lenken.
Auch in diesem Fall hätte sich Oestreich des Beifalls sehr vieler Poli¬
tiker, und selbst derjenigen erfreuen müssen, die dem historischen Recht
gar keine Stelle in dem Entwicklungsproceß der Völker einräumen wollen;
denn das Princip des historischen Rechts ist ein altes, von manchem in der
Civilisation und bürgerlichen Freiheit weit vorgeschrittenen Volk hochgeachtetes,
und einer monarchischen Regierung, die sich streng an dieses Princip halten
will, kann selbst der eifrigste Demokrat seine Achtung nicht versagen. — Nur
hätte sich Oestreich dann entschließen müssen, seinen Schwerpunkt außerhalb
Deutschlands zu setzen und sich blos auf jene Nationalitäten zu stützen, die
ihm den Vollgenuß ihrer freien Entwicklung und die Sicherheit ihrer histo¬
rischen Sonderstellungen verdanken/
Wir wissen, daß Oestreich bis jetzt keinen dieser beiden Wege eingeschlagen
hat und auch fernerhin keinen derselben einschlagen wird. Nach zehn Jahren
äußern und innern Friedens steht das Problem eines neuen Oestreich
noch ungelöst da; die Idee eines Gescimmtöstreich muß den Machthabern in
Wien selbst unausführbar erscheinen', sonst hätte man unmöglich so lange mit
der definitiven Organisation desselben zögern, unmöglich so oft und so viel
hin und herschwanken, unmöglich in Ungarn und anderwärts Maßregeln er¬
greifen können, die das Volk, und selbst die besser Unterrichteten irre machen
müssen.
Unmittelbar nach der Revolution glaubte man in Schwarzenberg den
Mann zu sehn, der Oestreich seine neue Gestaltung geben, der ein wirkliches
Gesammtöstreich ausbauen würde. Wir wollen dem dahingeschiedenen Staats¬
mann seine Verdienste nicht schmälern und gestehen gern, daß er durch seine
unerschütterliche Festigkeit gegen die aus ihre Leistungen pochenden Generale
im Innern den Staat vor einer Prätorianeranarchie bewahrt und durch sein
an Rücksichtslosigkeit streifendes unabhängiges Auftreten in der äußern Politik
der durch die russische Hilfe etwas gab-emüthigten Großmacht ihre frühere
Stellung im Rathe der europäischen Völker wieder errungen hat. Allein diese
glänzenden Leistungen dürfen den historischen Beurtheiler nicht verblenden,
und wir können die Rathlosigkeit, welche noch heute in östreichischen Negie-
rungskreisen in Betreff der Reorganisation des Staates herrscht, nur dem
zur Last legen, der das Nuder desselben lenkte zu einer Zeit, wo diese Reor¬
ganisation am leichtesten und schnellsten zu bewerkstelligen war.
Schwarzenberg war mit all seiner Energie und trotz seines Abgehcns
von der engherzigen Abspcrrungspolitik Metternichs, ein Staatsmann aus der
alten östreichischen Schule. Er wollte vorerst dem Staate, an dessen Kraft
Europa und die eignen Völker zu zweifeln angefangen, durch ein strenges ab¬
solut monarchisches Regiment und eine starke wohldisciplinirte Armee nach
innen und außen Achtung verschaffen. Die Völker sollten vor allem begreifen
lernen, daß Oestreich groß und stark sei; dabei sollten sie sich an einen un¬
bedingten Gehorsam und eine starke Negierung gewöhnen, bevor sie zu einem
thätigen Antheil an der Neugestaltung des Staates berufen werden. — Eu¬
ropa, welches damals mit Siebenmeilenstiefeln der Reaction in den Rachen
lief, sollte Oestreich in diesem langsamen Reorganisationsproceß nicht stören,
und der absolute Monarch mit seinem kricgsgeübten und sorgsam gepflegten
Heer auch nur wenig von etwaigen Schwingungen in der europäischen Politik
zu fürchten haben.
In einer normalen Zeit könnte man wol eine solche Politik eine ener¬
gische, eine thatkräftige nennen; in unserm Falle aber, wo der Gährungs-
proceß eines ganzen Welttheils unerwartete Resultate erzeugt hat, wo die Welt
fast aus ihren Fugen gegangen, und man berufen ist sie einzurichten, muß
ein solches Borgehen uns unwillkürlich an den wohlbekannten Schritt der östreichi¬
schen Landwehr erinnern. Der östreichische Staat, wie er aus dem Glühofen der
Revolution hervorging, war ein geschmeidiger Stoff und konnte damals wol
in jede beliebige Form gehämmert werden; aber mit dem Erkalten wurde der
Stoff täglich spröder, und er kann brechen unter dum ersten Hammerschlag.
Auch kann man vielleicht einen bereits organisirten Staat mit den Zügeln
der absoluten Herrschaft und einer genügenden Anzahl Bayonette für eine
Zeit in den geregelten Bahnen erhalten, doch einen Staat mit Hilft dieser
Potenzen einer langsamen Organisation entgegenführen wollen, ist jedenfalls
ein gefährliches Experiment. ,
Man ist allgemein der Ansicht, daß die östreichische Regierung seit
Schwarzenbergs Tod an Energie und Thatkraft bedeutend verloren habe, und
besonders glaubte man während des russisch-türkischen Krieges behaupten zu
dürfen, daß Schwarzenberg — „die Welt soll noch über meine Undankbarkeit
staunen" wurde ihm bekanntlich in den Mund gelegt — einen thätigen An¬
theil an diesem Wettkampf genommen hätte. Wir wollen hier keine speculativen
Untersuchungen über eine vergangene Möglichkeit anstellen, doch glauben wir,
daß die von Schwarzenbergs Nachfolgern beobachtete Politik den Vorwurf
der Energielosigkeit oder gar der Erschlaffung durchaus nicht verdiene.
Daß nach Schwarzenbcrgs Tod die äußere Politik Oestreichs weniger
herausfordernd, die Angriffe gegen Preußen und die Anläufe gegen den Zoll¬
verein gemäßigter wurden, daß die Maßregelung der besiegten Provinzen
weniger schroff, die Zügel der Negierung weniger stramm ungezogen wurden,
liegt ganz in der Natur der Sache, ja ist selbst Naturgesetz. Aus jede über¬
mäßige Spannung muß ein gewisser Grad von Erschlaffung folgen, und selbst
die soldatischen Landesgouverneure mußten endlich des ewigen Maßregclns
müde werden. Hierzu kamen noch die Umstände, daß Schwarzenberg den
Moment versäumt hatte, wo eine summarische Umgestaltung des alten Oestreich
möglich und geboten war, daß gleich nach seinem Tod (1852) vom Westen her
der französische Kaiseradler mit seiner flatternden Friedensdevise, und bald
darauf vom Osten her die orientalische Frage das europäische Gleichgewicht
mit einem jähen Zusammensturz, und im Innern die von Schwarzenberg
überkommenen zerrütteten Finanzen mit ihren stereotypen Deficits den Staat
mit einem verderblichen Bankrott bedrohten, wodurch natürlich die Thätigkeit
der Regierung von den eigentlichen Reorganisationsarbeiten abgeleitet wer¬
den mußte.
So kam es, daß eine Arbeit, die, zur rechten Zeit und mit der erforder¬
lichen Kraftentwicklung vorgenommen, nicht mehr als eines Jahres bedurft
hätte, jetzt nach zehn Jahren noch immer nicht fertig ist, daß der spröde Stoff,
aus dem ein Gesammtöstreich gesonnt werden soll, noch seines Meisters harrt,
ja daß ein gemeinsames Rechtsbewußtsein, dieses einzig feste Band jeder
staatlichen Organisation, die Völker Oestreichs noch nicht beseelt.
Nur eine Seite des Staatslebens hat die Schwarzenbergische, und noch
mehr die ihr folgende Regierung Oestreichs mit besonderer Vorliebe gepflegt,
nämlich die Seite der materiellen Interessen, und wir wollen hier näher be¬
zeichnen, wie viel unserm lieben Ungarn von den Früchten dieser Pflege wie
von den Uebelständen eines zu lange ausgedehnten Provisoriums zugekommen.
Für andere Kronländer wollen wir diese Arbeit solchen überlassen, die mit
ihren heimathlichen Verhältnissen und Bedürfnissen so vertraut sind als wir
mit den unsrigen.
Ungarn hat unstreitig seit 1849 theils durch die Entlastung des Bodens
und die Aufhebung der Zwischenzölle, theils durch neugeschaffene oder ver¬
besserte Communicationsmittel, an Productivität und dadurch an materiellem
Wohlstand, bedeutend gewonnen. Mit einigen Ausnahmen, die wir weiter
unten bezeichnen wollen, hat die Production der Bodenerzcugnisse nicht nur
numerisch, sondern auch an Werth zugenommen; denn durch die Aufhebung
der Zwischenzölle wurde die ganze östreichische Monarchie zum Absatzmarkt
für ungarische Producte gemacht, und in Gegenden, wo diese früher wegen
des kostspieligen Transports durch weglose Steppen und Moräste keinen, oder
nur zu äußerst niedrigen Preisen, Käufer fanden, haben sie jetzt bei den bessern
und vermehrten Communicationsmitteln Preise erreicht, die früher selbst in
jenen Theilen Ungarns nur, selten erzielt wurden, die an Oestreich grenzten
oder mit demselben durch gute Straßen verbunden waren.
Die Befreiung des Bodens von grundherrschaftlicher Abhängigkeit
und ftohndienstlichen Leistungen — diese einzige, von der Reaction verschonte
Errungenschaft der Revolution — hat übrigens nicht nur die Arbeitskraft des
Bauers und seinen materiellen Wohlstand gesteigert, sondern auch in mora¬
lischer Hinsicht bereits schöne Resultate geliefert. Das Bewußtsein der Unab¬
hängigkeit und des unantastbaren Besitzes hat in dem Bauer einen gewissen
Grad von Selbstständigkeit und Selbstachtung erzeugt, welche auf seine geistige
Entwicklung, und diese rückwirkend wieder auf seinen materiellen Wohlstand
den wohlthuendsten Einfluß ausüben. Haben schon die neuen Ideen, welche
die Revolutionszeit für den Bauer entfaltete, ihn für die Ereignisse der ihm
bisher ganz fremden Außenwelt empfänglicher gemacht, so mußten die neuen
Bedürfnisse, die ihm aus seiner neuen Stellung zu seinem frühern Grundherrn
erwuchsen, ihm die Nothwendigkeit eines selbstständigen vernünftigen Wollens
und Handelns aufdringen. Früher war es der Grundherr, der ihm alle höhern
Fragen des Lebens mit seinem Lichte beleuchten mußte. Im Glück wie im
Unglück, in der Freude wie im Schmerz mußte er sich an diese mächtige Eiche
— die ihm immer die mächtigste der Erde schien — stützen, um das Gleich-
gewicht nicht zu verlieren. Jetzt aber, wo er diese Stütze verloren hat, ist er
mehr auf seine eigne Kraft angewiesen; er muß sich in seinem Verhältniß zum
Steueramte, zur Finanzwache, zur Polizei — ein bis jetzt ihm gänzlich un¬
bekannter Factor in der gesellschaftlichen Maschine — in Proceß-, Erbschafts-
und Nekrutirungsangclcgenheiten mit seinem eignen Verstand durchhelfen:
er sucht sich daher auf alle mögliche Weise zu unterrichten, und wenn dies
bei ihm nicht ganz zum Zweck führt, die Erziehung seines Sohnes so ein¬
zurichten, daß er in seinem Alter nicht in die Lage kommen möge, über täglich
vorkommende Dinge rathlos dazustehn.
'
Es ist factisch,daß seit 1848 die Zahl der Zeitungsleser und Bücherkäufer
unter dem Landvolk in Ungarn in einer viel größern Proportion zugenommen
hat, als sonst in einem Lande Europas. Nicht minder ist es gewiß, daß der
Lauer in Ungarn jetzt den landwirtschaftlichen Reformen nach wissenschaft¬
lichen Ergebnissen viel zugänglicher geworden, und daß die große Anzahl von
landwirtschaftlichen Maschinenfabriken, welche in den letzten Jahren in
Ungarn errichtet wurden, einen großen Theil ihres Fabrikats an nichtadelige
Grundbesitzer, an Bauern und Juden absetzen.
Hiermit haben wir auch alle Vortheile, aufgezählt, welche Ungarn aus
seiner neuen Stellung zu Oestreich erwachsen sind, und diesen gegenüber haben
wir manche Zustände zu beklagen, die sich ebenfalls aus dieser neuen Stellung
ergeben, und die für den Fortschritt des schönen Landes auf dem Wege der
Civilisation, ja selbst für ein engeres Anschließen desselben an die Gesammt-
monarchie sehr bedenkliche Folgen haben müssen.
In erste Reihe müssen wir hier die unverhältnißmäßige Besteuerung des
Landes überhaupt, und besonders des Adels stellen. Ungarn war stets, und
ist noch jetzt, trotz der Reichthümer seines Bodens, ein geldarmes Land; die
vormärzliche Besteuerung war, trotzdem eine ganze und zwar die reichste
Classe der Bevölkerung von aller Besteuerung ausgeschlossen blieb, eine sehr
geringe; eine plötzliche und hohe Belastung aller Erwerbsquellen — manche,
von ihnen ist doppelt und dreifach belastet — muß also sehr drückend sein.
Wir haben die Besteuerung des Adels besonders hervorgehoben, nicht als
wollten wir etwa der alten Steuerfreiheit dieses Standes das Wort reden,
sondern weil diese Besteuerung evident eine zu den Einkünften und Nutznie¬
ßungen der Gutsbesitzer durchaus unverhältnißmäßige ist, und weil daraus
ein Uebel erwächst, welches tief in das Staatsleben, ja selbst in das gesell¬
schaftliche und Familienleben des Landes eingreift. Dadurch nämlich, daß
der Adel so unverhältnißmäßig besteuert ist — bei manchem erreicht die
Steuer 30—40 Procent seines ganzen Einkommens —und ihm zur Vermeh¬
rung seiner Hilfsquellen die früheren Frohndienste und die Unterstützung eines
geregelten Creditwesens fehlen, geht der kleine und auch ein Theil des grö-
ßerr Adels, der seine Ausgaben nicht nach dem verminderten Einkommen ein¬
richten will oder kann, täglich mehr der Verarmung entgegen. Der verarmte
Adelige, der kein Handwerk, kein Geschäft und keine Kunst gelernt, ist mei'
seems darauf angewiesen, seine verblichenen Ueberreste von juridischen Kennt«
rissen, die früher dem ungarischen Edelmann nur selten fehlten, aus der
Rumpelkammer der Vergessenheit hervorzusuchen, diese aufzufrischen und mit
einigen Studien im östreichischen Rechtsverfahren zu ergänzen, und dann um
eine Anstellung bei der Regierung anzusuchen. Die Regierung sieht es gern,
daß der bisher widerhaarige Adel nun gedemüthigt zum Kreuze kriecht, und stellt
gewöhnlich solche Supplicanten auch an. Mit diesen halbgebildeter, oft sehr
heruntergekommenen Individuen werden die alten Willkürlichkeiten und kava¬
liermäßigen Ungezogenheiten in die Aemter wieder eingeführt, und oft bekun¬
den diese Neubekehrten eine so totale Unkenntnis; des neuen Geschäftsganges,
und einen so übel angewendeten Loyalitätseifer, daß sie auf jedem Schritt
Anstoß geben, die Jntentioncy der Regierung in Mißcredit bringen, und be¬
sonders die untern Volksclassen sehr häufig zum Aeußersten treiben.
Wir hören oft von Bauern die Aeußerung aussprechen, daß sie es vor¬
ziehen möchten, ihrem frühern Herrn zwei Tage Robot zu leisten als einmal
auf ein kaiserliches Amt zu gehen. Dieser scheinbar übertriebene Widerwille
gegen alles, was den Amtsadel trägt, ist bei näherer Betrachtung leicht er¬
klärlich. Früher wurden alle Comitats- und Bezirksämter durch Wahlen be¬
setzt, die nach einer gewissen Anzahl von Jahren erneut wurden. Die Be¬
amten, welche bei der nächsten Wahl in ihr jetziges oder in ein höheres Amt
gewählt zu werden wünschten, waren bestrebt, sich in ihrer Gegend wenigstens
einigermaßen den Ruf der Respectabilität und selbst der Popularität zu ver¬
schaffen. Denn obwol ihre Wiedererwählung blos von dem Adel abhing,
so stand doch dieser, besonders in seinen niedern Schichten in so naher Ver¬
bindung mit den Bauern, daß ein allgemeines Verdammungsurtheil der letz¬
tern auch auf den erstern nicht ohne Einfluß blieb. Außerdem hatte der Bauer
stets eine Zuflucht, eine Art letzte Instanz, an seinem eignen Grundherrn.
Wie wir oben bereits erwähnt haben, war der Grundherr der natürliche Vor¬
mund und Nothhelfer seines Unterthanen, und der Edelmann setzte einen ge¬
wissen Stolz darein, seinen Bauern oder Juden gegen Bcamtenwillkür zu
schützen, und seine adeligen Vorrechte gaben ihm auch die Mittel dazu in die
Hand. Nun aber steht der gemeine Mann der Beamtentyrannei gegenüber
rath- und schutzlos da; die Wege der Appellation sind ihm theils unbekannt,
theils unerreichbar, und entschließt sich ja Einer unter Tausenden zu dem
schweren Schritt, so findet der betreffende Beamte leicht die Mittel, ihn als
Rebell und Aufwiegler darzustellen, und er bringt meistens einen Bescheid »ach
Hause, der andern die Lust zu einem ähnlichen Vorgehen sürimmer benehmen muß.
Nicht minder fühlbar als die hohe Besteuerung ist die Militärconscrip-
tion. Im vormärzlichen Ungarn war der Militärdienst für die große Mehr¬
heit des Volkes eine nur wenig fühlbare Belastung. In Friedenszeiten hatte
Ungarn mit seinen Nebenländern alle zehn Jahre so viel Rekruten zu stellen,
als zur Completirung der ungarischen Regimenter nach Abgang der Kapitulanten
nöthig war. Diese Zahl variirte zwischen dreißig und funfzigtausend Mann,
was also einer jährlichen Rekrutenstellung von drei bis fünftausend Mann
gleich kommt. Jetzt werden jährlich alle Altersclassen der dienstpflichtigen Ju¬
gend zur Assentirung gezogen, eine beliebige Anzahl zum activen Dienst ge¬
nommen, und die übrigen für die nächsten Jahre zurückgelassen. Dies macht
nach zuverlässigen Berechnungen eine jährliche Aushebung von mehr als 20,000
jungen arbeitsfähigen Männern. Hierzu kommt noch, daß früher der Preis
eines Ersatzmannes bei den niedern Preisen aller Lebensmittel und Dienst¬
leistungen, und bei dem viel kleinern Bedarf von Ersatzmännern, ein viel ge-.
ringerer war, und einem fleißigen, talentvollen Handwerker oder dem Sohn
eines wohlhabenden Bauern fehlten selten die Mittel, sich vom Militärdienst
zu befreien; jetzt aber, wo ein Ersatzmann nur für 12—1500 Gulden zu
haben ist, werden dem Ackerbau und den Gewerben oft die nöthigsten und
schönsten Kräfte entzogen, und bei der langen östreichischen Capitulationszeit
(acht Jahre activer, Dienst und zwei Jahre Reserve), wo der Soldat, wie
Dickens sagt, täglich mehr Soldat und stündlich weniger Mensch wird, blei¬
ben diese Kräfte auch in den meisten Fällen für ihre ursprüngliche Bestim¬
mung verloren.
Als folgend in der Zahl der fühlbarsten Neuerungen können wir füglich
das Tabakmonopol hinstellen. Wir wollen hier nicht des Weitern erörtern,
wie drückend es sein muß, in einem Lande, wo der Tabak in ausgezeichneter
Qualität erzeugt wird, seine Pfeife für theures Geld mit schlechtem Kraut
füllen zu müssen, denn dieser Gegenstand wurde in Deutschland, als von der
Einführung eines solchen Monopols im Zollverein die Rede war. zur Genüge
besprochen, das aber dürfte dem deutschen Publicum weniger bekannt sein,
daß nämlich das Tabakmonopol in Ungarn der Negierung nur wenig oder
gar'nichts einträgt, da die zur Betreibung dieses Monopols erforderlichen
Aemter, und besonders das zur Ueberwachung des Tabakbaues aufgestellte
Corps der Finanzwache den größten Theil des Gewinnstes verschlingen. Wie
von Tabakrauchern allgemein behauptet wird, würden sie lieber eine directe
Tabaksteuer von ein oder zwei Gulden jährlich bezahlen, als sich in schmu-
zigen Trafiken durch Beize zubereiteten und vom Trafikanten befeuchteten Ta¬
bak oder schlechtgedrehte mit allen möglichen Abfällen gefüllte Cigarren holen
zu müssen. Daß eine derartige directe Besteuerung der Tabakraucher, deren
Einkassirung wenig oder gar keine Kosten verursachen dürfte, der Regierung
mehr Gewinn brächte als das Tabakmonopol, ist unzweifelhaft; und diese
Belastung erhält dadurch den Charakter einer willkürlichen Bedrückung und trägt
gewiß nicht dazu bei, die Maßregeln der Regierung populär zu machen.
Aber aus dem Tabakmonopol erwächst noch ein anderer Uebelstand, der
in nationalökonomischer Hinsicht einer besondern Erwähnung bedarf. Nach
der Bestimmung des Monopolreglements muß jeder, der den Tabakbau fort-'
setzen oder beginnen will, dies bei der Regierung anzeigen. Seine Pflanzung
wird hierauf unter die Aufsicht der Grenzwache gestellt, damit der ganze Er¬
trag nach beendigter Ernte der Regierung zur Verfügung gestellt werde, die
denselben nach eignem Gutdünken abschätzt und ausbezahlt. Dem Pflanzer
ist nur gestattet, für jede in seiner Familie j>der Behausung lebende, Tabak
rauchende Person eine gewisse Quantität zurückzuhalten, und er darf von
dieser Quantität seinen Freun-den kein Geschenk machen, wenn er nicht sich selbst
und den Empfänger in Strafe bringen will. Daß bei der Mißliebigkeit der
Maßregel selbst, und bei der Lästigkeit einer solchen Überwachung, Conflicte
und andere Unannehmlichkeiten für die Pflanzer unvermeidlich sind, versteht
sich von selbst; die Tabakpflanzung verliert dadurch viel von ihrem früheren
Reiz, und ist seit der Einführung des Monopols immer mehr im Abnehmen
begriffen. Bei dieser Abnahme leidet die Production der edleren Gattungen
.am meisten, da diese meistens von den wohlhabenden und gebildeten Classen
cultivirt wurden, und diese am allerwenigsten geneigt sind, sich mit rohen
Grenzwächtern und aufgeblasenen Bureaukraten herumzustreiten.
Auch der Weinbau, diese edelste Blüte in dem reichen ^Garten Ungarns,
soll nach zuverlässigen Berechnungen seit der Einführung der Weinsteuer eine
nicht unbeträchtliche Verminderung erlitten haben.
Schließlich wollen wir noch einer Maßregel gedenken, die im Ausland
zwar mehr als hinreichend besprochen, aber in Bezug auf Ungarn noch nicht
genügend gewürdigt worden ist. Ungarn zählt bekanntlich im Verhältniß zu
seiner Gesammtbevölkerung die meisten Religionssekten im östreichischen Kaiser¬
staat. Katholiken (ungefähr der vierte Theil), Lutheraner, Calvinisten (zu¬
sammen ebenfalls ein Viertheil), unirte und mchtunirte Griechen, Juden, Ar¬
menier und Unitarier lebten in den letzten Decennien vor der Revolution
meistens friedlich und duldsam nebeneinander. Man konnte oft in einem
Städtchen fünf bis sechs verschiedene Bekenntnisse mit ebenso vielen Kirchen
und Seelsorgern finden, ohne daß dieser Umstand die mindeste Reibung er¬
zeugte. Die Kämpfe der Matholiken gegen die Eingriffe der östreichisch-katho¬
lischen Partei waren verklungen; derartige Fragen wurden nur noch manchmal
in den Reichstagen verhandelt, und da keins der genannten Bekenntnisse in
überwiegender Mehrheit war, so führte schon das Interesse eines jeden zur
gegenseitigen Toleranz. In der octroyirten Verfassung vom 4. März 1849
war volle Religionsfreiheit für alle Bekenntnisse ausgesprochen, und obwol
diese Verfassung nie ins Leben trat, so glaubte doch niemand.- daß von dieser
Seite ein bedeutender Rückschritt zu fürchten wäre. Man denke sich nun die
Ueberraschung, ja den Schrecken, der die Akatholiken Ungarns befallen mußte,
als das Concordat mit seiner schweren Wucht! wie ein riesenhafter Meteor¬
stein aus heiterem Himmel auf ihre Häupter niederfiel. Wir glauben, daß
das Concordat selbst in Oestreich mit seiner überwiegend katholischen Bevöl¬
kerung sich nur weniger Verehrer erfreut; aber für Ungarn ist diese Maßregel
ein vielschneidiger, widerhakiger Pfeil, der dem Herzen des Volkes unheilbare
Wunden schlägt. Und schon machen sich die Folgen dieses in unserem Jahr¬
hundert beispiellosen Sieges der ultramontanen Partei in allen Schichten des
Staats- und gesellschaftlichen Lebens schmerzlich fühlbar. Spitäler, Gefäng¬
nisse, Waisenhäuser und alle andern der leidenden oder fehlenden Menschheit
gewidmete Anstalten sind theils der unbeschränkten Verwaltung, theils der
Ueberwachung der katholischen Geistlichkeit übergeben; gemischte Ehen zwischen
Katholiken und Nichtkatholiken werden nicht nur nicht zugelassen, sondern die
bereits bestehenden als Concubinate betrachtet; die durch ihr Machtwort ent¬
stehenden Normetage werden Gemeinden aufgedrungen, in welchen die Katho¬
liken einen kaum merkbaren Bruchtheil bilden; und das Schulwesen, diese
Pflanzung, von der die Zukunft ihre schönsten Früchte erwartet, und die der
Mensch so gern mit seiner herzinnigsten Fürsorge, nach seiner eigensten Ueber¬
zeugung hegt und pflegt, ist ihr in einer Weise in die Hand gegeben, die
alles fürchten läßt. Wir haben in Ungarn bis jetzt manche Mängel im Er-
ziehungswesen zu beklagen gehabt; aber durch die unbeschränkte konfessionelle
Freiheit und die daraus folgende geistige Concurrenz ist manches Gute und
Schöne gefördert worden, und stand Besseres und Schöneres von der Zu¬
kunft zu erwarten. Zudem fand jeder eine wohlthuende Beruhigung in dem
Bewußtsein, daß der freie Wille, der schon manches Fehlerhafte ausgeglichen,
das Unvollkommene seiner Vervollkommnung näher bringen wird. Mit dem
Concordat ist uns diese schöne Aussicht genommen, ist unser ganzes geistiges
Leben in eine fremde, feindliche Mhn geschleudert, wo es kläglich unter¬
gehen muß.
Daß das Concordat, und besonders das Aufgeben des seit Jahrhunderten
bestandenen ?Iaeewm reZium, sich mit den Principien einer conservativen Re¬
gierung, und noch mehr mit der Idee eines Gesammtöstreichs nicht verträgt,
ist selbst in unsern Regierungskreisen bereits zur Anerkennung gelangt, und
diese Maßregel ist in ihrem Ursprung und in ihren Folgen so verhängnißvoll,
daß mit ihr weder von einer geregelten Verwaltung noch von der Organisa¬
tion eines wirklichen Gesammtstaates die Rede sein kann.
Als Resum6 unserer Betrachtungen können wir Folgendes feststellen. Die
wenigen materiellen Vortheile, die Ungarn aus seiner neuen Stellung zu Oest¬
reich erwachsen sind, wiegen die Uebelstände nicht auf, die sie in ihrem Ge¬
folgemitbrachten. Ungarn mit seinem halb ungarisch uniformirten halb deutsch
gemaßregelten, seinem halb unwissenden und halb pedantischen Beamtenthum,
mit seinen von Gendarmen wimmelnden und dennoch von Räubern beun¬
ruhigten Wäldern und Steppen, mit seinen alten Mißbräuchen und neuen
Plackereien, mit seinen in hohen Kreisen sehr beliebten nationalen Auf¬
zügen, mit seinen paradirendcn Adeligen, Jazygen und Cumaniern mit
seinen Comitaten, Stuhlrichtern, Diensthusaren und andern woll-, seide-
und goldbeschnürten historischen Ueberresten. !ist noch kein organischer Theil
eines organischen Ganzen geworden, welches wir „Gesammtöstreich" nennen
könnten. Dieses Gesammtöstreich ist bis jetzt nur ein Wort, zu dem der Be¬
griff noch gänzlich fehlt, und Ungarn sieht mit ängstlicher Sehnsucht dem Mo¬
ment entgegen, wo der jugendliche Monarch und die Männer, die seinen
Rath bilden, eine folgerichtige Politik einleiten und den großen Kaiserstaat
einer Neugestaltung entgegenführen, bei welcher die Gesammtheit sowol als
die einzelnen Theile ihre gerechten Ansprüche befriedigt, ihre billigen Erwar¬
t
Man hat an die Thronbesteigung des Kaiser Alexander II. weit aus¬
sehende Hoffnungen geknüpft, die sich zwar in mancher Beziehung als illuso¬
rischerweisen werden, da ein Reich, wie Rußland nicht ohne weiteres nach dem
Willen-des Einzelnen seine Physiognomie' umwandelt, die aber doch keines-
Wegs aller Begründung entbehren. Man sieht an der auswärtigen Politik,
an dem Entwurf eines großen Eisenbahnnetzes, an den Versuchen die Leib¬
eigenschaft aufzuheben, daß jetzt eine andere Hand den Zügel führt; man
sieht es aber auch an der Presse. Die oben genannten Bücher sind zwar im
Ausland gedruckt, aber die Mehrzahl derselben haben einen russischen Staats¬
rath zum Versasser, das eine ist sogar dem Kaiser gewidmet, und wenn man
die Freimüthigkeit betrachtet, mit der über höchste und allerhöchste Personen
gesprochen wird, wahrend es bis jetzt z. B. als ein Majestätsverbrechen galt,
wenn ein Geschichtschreiber daran zweifelte, daß alle russischen Kaiser eines
natürlichen Todes gestorben, so kann man sich nicht darüber wundern, daß
die neuen Schriftsteller etwas den Mund voll nehmen. Wie dem auch sei,
die Aufhellung jener merkwürdigen Perioden durch urkundliche Zeugnisse ist
für unsere Geschichtskenntniß ein unberechenbarer Gewinn, und mehr als das,
denn wir lernen durch die detaillirte Zeichnung jene seltsame Mischung asia¬
tischer Wildheit und moderner Civilisation versteh», die doch noch einmal in
der allgemeinen Geschichte eine nicht unbedeutende Rolle spielen dürfte.
Wir haben uns über die drei ersten Bände von Siepers' Leben bereits
ausführlich ausgesprochen; der vierte Band, mit dem das Werk geschlossen
ist, enthält des Interessanten noch sehr viel. Der Verfasser gibt in demselben
auch eine Charakteristik der Kaiserin Katharina II. und ihres Sohnes,
deren Werth freilich weniger in den eignen Reflexionen als in den mitgetheilten
Belegen liegt. Wenn er Katharina eine echt deutsche Natur nennt, so fühlen
wir uns versucht, drei Kreuze zu schlagen; aber folgende Erklärung des Kanz¬
lers Woronzow, die sich noch aus der Zeit vor ihrer Thronbesteigung her¬
schreibt, leuchtet uns vollkommen ein: „Die Großfürstin ist romanhaft, leiden¬
schaftlich, sie hat ein glänzendes Auge und den Blick eines wilden Thiers.
Ihre Stirne ist hoch und irre ich mich nicht, so steht auf dieser Stirn eine
lange und furchtbare Zukunft geschrieben. Sie ist zuvorkommend, freundlich,
nähert sie sich mir aber, so bebe ich zurück aus einem Jnstinct, dessen ich nicht
Herr werden kann. Ihre Hand kommt mir wie eine Tigerkralle vor, ihr
ewig lächelnder Mund ist verzerrt, macht mir Furcht, sein Lachen verwundet
wie eine Drohung." Noch bezeichnender sind die Charakterzüge von Kaiser
Paul.
Das Heer konnte ihm keiner zu Dank einüben, als er selbst. Er war
darin der größte Kleinmeister, uni> mochte sich und die Truppen Tage lang
mit seinem Kamaschendienst abplagen. Als er einstmals ein Reiterregiment
lange eingeübt, siel ihm ein, demselben in gestrecktem Galopp nach einem Ziel
vvrauszuspreugen. Seis nun, daß er im Eifer Befehl zu geben vergessen, oder
der Oberst ihn nicht gehört hatte, der Kaiser rief plötzlich Halt, und bemerkte
nun mit Verdruß, daß ihm niemand gefolgt war. Wüthend kehrte er um
und schickte in seinem Grimm das ganze Regiment vom Excrcierplatz aus
nach Sibirien. Als dies drei Tage marschirt war, holte es endlich ein Courier
wieder zurück.
Paul verbrachte häusig die Abende bei einer Geliebten, da sie dann
öfter allein speisten. Die Geliebte zog, so oft es die kaiserliche Laune er¬
laubte, einen Franzosen dazu, den er besonders gut leiden mochte. Dieser
ein Bouffon, Namens Feauchere, unterhielt beide aufs köstlichste durch Erzäh¬
lungen, Witze, Schnurren, und wol auch durch förmliche Ausführungen von
Possen. Eines Abends, da der Kaiser besonders heiter war, verlangte die
Geliebte, daß Feauchere einen betrunkenen Offizier vorstelle. Paul gab die
Erlaubniß und der Franzose war gleich bei der Hand. Er nahm einen Hut
und ging ins Nebenzimmer, in dessen Thür er alsbald taumelnd erschien.
Der Hut entfiel seinen Händen und seine vergeblichen Anstrengungen ihn auf¬
zuheben, waren so komisch, daß die beiden Zuschauer nicht aus dem Lachen
kamen. Plötzlich erhascht er den Hut, mit dem er die köstlichsten Bewegungen
macht, bis er ihn endlich mit beiden Händen aus den Kopf schwingt. In
demselben Augenblick stürzt der Kaiser, wüthend, daß jemand in seiner Gegen¬
wart den Hut aufzusetzen wagte, wie ein Tiger über den armen Franzosen
her. Er packt ihn bei der Gurgel und hätte ihn erdrosselt, wenn ihn nicht
die Geliebte Pauls Händen entriß. Hier haben wir das Bild des ganzen
Mannes vor uns wie er leibt und lebte. Wir begreifen die strengen Anord¬
nungen, ihn zu grüßen, so daß man sogar mit dem Wagen bei seinem Vor¬
überfahren halten und aufsteigen mußte; die Form der Hüte; die Sucht alles
in Uniform zu schnüren; seine Abschließung des Reichs gegen das Ausland,
und seiner Residenz gegen das gesammte Reich.
Nebenbei erfahren wir. daß der Kaiser, wenn es ihm einfiel, einen hoch¬
gestellten Mann öffentlich eine Ohrfeige gab und dieser sollte so thun als wäre nichts
geschehn. Freilich wird diese Charakteristik durch'die Abneigung gefärbt, mit
welcher der Verfasser.den ungnädigen Gebieter seines Helden betrachtet, aber
im Ganzen ist sie wol richtig, und wir können uns den Schlagfluß, an wel¬
chem Paul verschied, pathologisch leicht erklären.
Der dritte Band schloß mit der ungnädigen Abberufung Siepers' von sei¬
nem polnischen Botschafterposten. Bald darauf gingen unter seinem bru¬
talen Nachfolger Jgelström die Unruhen wieder an und Sivers schrieb an die
Kaiserin, die ganze Schuld liege an der Habgier und der Ungeschicklichkeit
des neuen Botschafters. „Die jungen Minister und Glücksritter von Gene¬
ralen wollen den Krieg; da liegt das Uebel. Wenn Ew. k. M. dem Jgel¬
ström schreiben, daß, wenn in sechs Wochen nicht alles ruhig ist, Sie ihm
den Oberbefehl entziehn, ich wette meinen Kopf, es wird alles ruhig sein."
„Sie haben Recht, antwortet ihm eigenhändig die Kaiserin, ich bin oft
sehr schlecht bedient worden, ganz ebenso von den Alten als von den Jungen.
Wenn die jungen Minister und die Glücksritter von Generalen, wie Sie be¬
haupten, zum Krieg geneigt sind, der oft unvermeidlich ist, so haben die alten
Minister und die Generale von hoher Abkunft einen andern Nachtheil, daß
nämlich unter ihren Händen die Swapgeschäfte tänzeln, woraus folgt, daß
sie nicht sehr fortschreiten; wenn sie nun nicht fortschreiten, so gehn sie meiner
Meinung nach rückwärts, und grade dies hat mich die Erfahrung darin ge-
Kh»t.">i6 ^ni<fmgÄ»oÄL'«,l>j? et'lKÄ?»,^^) um yj .tchnitj^
Siepers blieb ohne Anstellung und, was das Unbequemste war, man
ließ ihn längere Zeit in Geldverlegenheit, bis ihm endlich in dieser Be¬
ziehung die Sonne der Gnade wieder leuchtete. Er benutzte den günstigen
Augenblick sofort, sich mit seinen Rathschlägen der Kaiserin wieder zu nahen,
und diese sind namentlich in einer Beziehung lehrreich,' sie zeigen uns, was
Preußen sich von seinem mächtigen Nachbarn zu versehn hat. So schreibt er
einmyl 5. Jan. 1795, es sei nothwendig, Polen ganz zu theilen, da jeder
kleine Zwischenstaat nur einen Zankapfel bilden und der Eifersucht der übri¬
gen Mächte gegen Rußland Veranlassung geben würde sich zu bethätigen.
„Der Preuße ist am gierigsten und verfänglichsten, gegen ihn möchte ich keine
anderen Grenzen als Flüsse oder gerade Linien, oder endlich keine Grenzen."
Ebenso dringend spricht er sich sür die Einverleibung Kurlands aus. „Ew.
k. M. kennen die Ränke Preußens, um die Politik des armen Herzogs irre
zu führen; ich wiederhole es, die kleinen Zwischenstaaten taugen nichts zwi¬
schen großen Reichen, wenn man sie vermeiden kann. . . . Herr Lithauens,
Samogitiens und Kurlands, von dem es nicht einen Zoll breit abtreten dürfte,
würde Nußland den gesammten Handel von Memel und Königsberg durch
einen sehr wahrscheinlichen Kanal ableiten." —
Obgleich nicht mehr in den höchsten Spitzen der Verwaltung beschäftigt,
blieb Siepers doch immer in einem Wirbel von Geschäften. Kaiser Paul
war ihm zu Anfang sehr günstig, aber einige Zeit darauf verdroß ihn eine
vermeintliche Eigenmächtigkeit des Grafen so, daß er ihm April 1800 einen
ungnädigen Abschied ertheilte. In derselben Zeit kehrte Suworow von seiner
glorreichen Siegerlaufbahn aus Italien-zurück. In Petersburg erwarteten
ihn bei seinem Einzug die größten Ehren; aber der wankelmüthige Herrscher
ließ sich gegen ihn aufhetzen und den Tagesbefehl unter Trommelschlag ver¬
künden: der Generalissimus habe durch Nichtbefolgung allerhöchster Befehle
strengen Tadel und des Kaisers Ungnade verdient. Dies vernahm der alte
Held in Riga. Schon angegriffen genug, ward er von Stund an ernstlich
krank; doch setzte er die Reise fort; unterwegs traf ihn das kaiserliche Verbots
nach der Residenz zu kommen. Der Fürst antwortete ruhig, er sei sterbend
und gehe heim. Er ließ sich im Weiterfahren nicht stören, und kam in der
Dunkelheit nach Petersburg, wo er bei einer Nichte Wohnung nahm. Der
Volksjubel über die Rückkehr des Helden ließ sich nicht unterdrücken, aber die
Höherstehenden mieden ihn — war er doch in Ungnade! Mit Mühe erlangten
die Großfürsten von ihrem Vater Erlaubniß, ihn zu besuchen. Siepers eilte
sogleich zum angekommenen Freund und fehlte keinen Tag, bis er dem Ster¬
benden am 18. Mai die Augen zudrückte.
Dieser größte Held, den Rußland in den letzten Jahrhunderten hervor
gebracht, ist nun der Gegenstand einer ausführlichen Monographie, die, vor-
trefflich bearbeitet und auf das reichhaltigste Material gestützt, uns schon in
den beiden vorliegenden Bänden die wichtigsten Aufschlüsse gibt. Man lernt
aus ihr nicht blos die öffentliche Laufbahn des berühmten Generals, sondern
auch den innern Kern seines Charakters kennen. Sehen wir in Siepers den
kalten verschlagenen Staatsmann, der am meisten auf dem Parket des> Hofes
zu Hause war, und den eisernen Griff, womit er seine Opfer faßte, hinter den
weichsten Handschuhen versteckte, so tritt uns in Suworow der wilde rauhe
Kriegsmann entgegen, der unter Umständen die asiatische Barbarei nicht ver¬
leugnete , aber doch dahinter ein warmes Gemüth verbarg. Der Sohn des
Lagers fühlte sich bei Hof stets unbehaglich, die Intriguen waren ihm fremd,
er mochte nur mit Seinesgleichen verkehren. Die meisten von den russischen
Generalen betrachteten den Krieg nur als Mittel, in der Gunst der Kaiserin
emporzusteigen und sich Reichthümer und Ehrenstellen zu erschwindeln; Suwo¬
row war nur Soldat, fast ohne alle Bedürfnisse und daher persönlich ganz
uneigennützig; er führte den Krieg um des Kriegs willen. Eine solche Natur
hat innerhalb eines Reichs, wo alles aus verwickelte Intriguen und auf die
schwer zu berechnenden Launen^des Monarchen gestellt ist, einen schweren
Stand. Um sich Sichler zu stellen, wandte Suworow ein seltsames Mittel alt-
er trug eine Maste, die ihn als unschädlich erscheinen ließ. Um nicht Gegen¬
stand der Intriguen zu sein, spielte er den Hanswurst; indem die großen
Hosmänncr über ihn lachen konnten, glaubten sie ihn nicht fürchten zu dürfen
und ließen ihn im Ganzen seinen Weg gehn. Freilich kann man sein Leben
hindurch nicht eine Rolle spielen, zu der man nicht in seiner Natur die nö¬
thigen Elemente vorfindet, und so war es auch mit Suworow. Die Neigung
zur Bousfoncrie liegt tief im russischen Charakter. Rußlands größter Kaiser
war zu Zeiten ein arger Possenreißer und bei ihm war es gewiß nicht Maske,
sondern innerste Natur. Die Bouffonerie war das beste Mittel, sich dem
gemeinen Mann verständlich zu machen, und wenn die Soldaten sich im
Lager über die Schwänke des Generals unterhalten konnten, so durfte er, wo
es nothwendig war. streng, ja grausam sein, ohne ihre Liebe zu verscherzen.
Mit ihnen war er aufgewachsen, ihre Sprache und ihr Benehmen war zu
seiner Natur geworden. Dreizehn Jahr alt war Suworow 1742 als Gemeiner
eingetreten', und erst nach zwölfjährigem Dienst 1754 erhielt er eine Lieutenant¬
stelle. Dann stieg er zwar schneller, aber seine eigentliche Bildungszeit ver¬
floß doch in der nächsten Berührung mit dem gemeinen Mann. Schon im
siebenjährigen Krieg zeigte er seine gerade Soldatennatur. Friedrich der Große
verdankt viel aber nicht alles seinem Genie, seine Erfolge wurden durch die
Unfähigkeit und Eifersucht seiner Gegner beschleunigt. Jedem der verbündeten
Völker kam es darauf an, so wenig als möglich zu leisten, den andern so
viel als möglich zu überlassen. Von dieser kleinlichen Art hatte Suworow
keinen Begriff, er behielt immer klar und fest das Ziel des eigentlichen Kam¬
pfes vor Augen und ging auf dem geradesten Wege darauf los. alle klein¬
lichen Nebenrücksichten bei Seite setzend. In einer Zeit, wo man sich viel
mit der Kricgswisscnschaft zu thun machte, pflegte man über Suworow ebenso
die Achsel zu zucken wie später über Blücher: er sei kein Taktiker, sondern
nur ein tapfrer Haudegen, ein Naturalist. Suworow pflegte darauf zu ant¬
worten, er kenne allerdings den Krieg nicht, aber der Krieg kenne ihn. Die
berühmten Taktiker verfallen gewöhnlich in den Fehler, mit ihren künstlichen
Schachzügen alles ausmachen zu wollen, während diese doch nur die Vorberei¬
tung sein können, da die eigentliche Entscheidung nur durch Muth und Ent¬
schlossenheit herbeigeführt wird. Wenn man denjenigen einen großen General
nennen kann, der sein Heer so in Ordnung zu halten und moralisch so zu
durchgeistigen versteht, daß er ihm die härtesten Opfer, die unglaublichsten
Anstrengungen zumuthen» und es mit seiner starken Willenskraft, wie einen
Theil seines eignen Körpers betrachten kann, denjenigen, der im Augenblick
den entscheidenden Punkt herauscrkennt und in demselben Augenblick mit Con-
centration aller Kräfte darauf losgeht, so verdient Suworow aus beiden
Gründen diese Bezeichnung. Als Vorbild kann man ihn freilich nicht ohne
weiteres aufstellen: die verschwenderische Art. mit der er mit Menschenleben
umging, würde Wellington in seinem spanischen Feldzug vcmichtet haben;
dagegen wäre er im siebenjährigen Krieg ein viel gefährlicherer Gegner Fried-
.richs gewesen, als Daun, der berühmte Taktiker.
Auf den siebenjährigen Krieg folgte der polnische Conföderationskrieg
1768—1772; gegen das Ende desselben wurde Suworow, ganz seiner Natur
zuwider, zu Unterhandlungen benutzt; wie unbequem sie ihm waren, zeigt ein
drolliger Brief an Bibikofs: „Geben Sie mir irgend einen ruhigen Platz, wo
niemand mich beneidet; hier, seit vier Jahren, habe ich oft davonlaufen
mögen. Gott vergebe es ihnen; ich bin grob geworden, und man ist ergrimmt
auf mich, zankt mit mir., Ich bin ein gutmüthiger Mensch, verstehe nicht,
es ihnen wiederzugeben. Auch fürchte ich hier die Nachbarn Jesuiten. Ver¬
zeihen Sie, es ist Zeit, daß ich ausrufe: ich. ein ordentlicher Mensch, habe
schon seit langer Zeit nicht einmal die Strümpfe ausziehn können. Denken
Sie etwa, mich zu einem Politiker zu machen? Ich bitte, schicken Sie einen
anHern, denn der Teufel wird mit ihnen.fertig."
Der türkische Krieg 1773—47 gab Suworow schon mehr Gelegenheit, seine
militärischen Talente an den Tag zu legen. Eine Regel, die er aus diesem
Krieg abstrahirte, war, nie vertheidigungsweise zu verfahren, sondern, wie
groß auch die Ueberlegenheit der'Türken sein mochte, kühn ihnen entgegenzu-
gchn. Bei ihnen hat der Angreifer schon den halben Sieg; wer sie erwartet,
ist halb geschlagen. Dasselbe System hat Suworow denn auch gegen andere
Gegner in Anwendung gebracht; zunächst in dcmAufstand Pugatschews 1774—75.
Ueber alle diese Verhältnisse gibt der Verfasser sachgemäße Erörterungen. —
Der neue Türkenkrieg 1787 gibt ihm zu einer Charakteristik Potemkins
WOvwlvwvluZ' »6Ü til,in ,et»H? .5i!ki,et, nu?!t dei> j'D.K^Mivl^i'kS. 7^ um
Der Fürst war von männlicher Schönheit, von stolzem gebietendem Aeu-
ßern und starkem Körper. Wunderbar war sein Gedächtniß: er behielt alles,
ohne es zu vermengen; über die verschiedenartigsten Gegenstände hatte er
Kenntnisse und einzig durch mündliche Unterhaltung erworben; denn er las
nickt, war aber unermüdet im Fragen. Eine solche Bildung ist zwar um¬
fassend, aber selten tief, weil ihr die wissenschaftliche Grundlage abgeht. Vor¬
züglich liebte er, Männer verschiedener Fächer in seiner Gegenwart sich unter¬
reden zu lassen, um das Gehörte sich aneignen zu können. So brachte er es
zuletzt dahin, daß er mit Gelehrten aller Art, mit Theologen und Rechts¬
kundigen, mit Naturforschern und mit Kriegsmännern, mit Kaufleuten, Künst¬
lern, und selbst mit Handwerkern und Bauern von ihren eigenthümlichen
Beschäftigungen sich unterhalten konnte, ohne eine Blöße zu geben. Vornehm¬
lich liebte er die Theologie, vielleicht infolge seiner ersten Bestimmung; und
trotz seiner weltlichen Gesinnungen war er nicht blos gläubig, sondern selbst
abergläubisch und von einer ganz speciellen Protection seines Schutzheiligen
überzeugt. Man konnte zu jeder Zeit gewiß sein, ihn zu interessiren und von
andern Dingen abzuziehn, wenn man ihn von den Streitigkeiten der griechi¬
schen und lateinischen Kirche und den zu ihrer Beilegung gehaltenen Conci¬
lien unterhielt, denn hier konnte er seine ganze Gelehrsamkeit entfalten, und
that es mit besonderm Wohlgefallen. Bei jenem glücklichen Gedächtniß besaß er
einen schnell beweglichen Geist, aber einen trägen Körper. Dadurch entstanden
die schroffsten Widersprüche. Es war nichts Ungewöhnliches, ihn von den
angestrengtesten Thätigkeit zur äußersten Unthätigkeit übergehn zu sehen. Dann
brachte er Wochen lang zu Hause hin, ausgestreckt auf seinem Sopha, im
Schlafp-lz, den Hals aufgeknöpft, die Füße nackt; mit bewölkter Stirn und
ohne ein Wort zu sprechen. Zog ihn hierauf eine besondere Leidenschaft an,
so erhob er sich plötzlich aus seiner Unthätigkeit, warf sich mit verdoppeltem
Eiser in die Geschäfte, um bald nachher sie abermals zu vernachlässigen.
Daher lagen die Hindernisse zum Gelingen großer Entwürfe einzig nur in
ihm. Er legte die umfassendsten Pläne an, berechnete mit Scharfsinn alle
Mittel der Ausführung, und wenn es nun zum Handeln kam, so scheiterten
sie an der Trägheit seines Charakters. Die kleinste Zerstreuung zog ihn ab,
er überließ die Ausführung untergeordneten Beamten, hielt oft ohne Ursache
wochenlang eine Entscheidung zurück, und der günstige Augenblick ging un¬
widerruflich vorüber. Die Ungleichheit seiner Laune gab auch seinen Wünschen
und Absichten, seinem ganzen Leben die größte Ungleichheit. Bald wollte'er Her¬
zog von Kurland werden, dann König von Polen, und dann wieder Bischof
oder gar Mönch. Er sing einen Palast zu bauen an und verkaufte ihn. ehe
er vollendet war; heute träumte er von Kampf und Krieg und umgab sich
mit geschickten Kriegern; morgen dachte er nur an Politik, und wollte das
türkische Reich theilen; dann vergaß er alles über dem Hof, und dachte nur
an Feste. Glanz und Pracht. Nie war er der Gleiche. Die widerstreitendsten
Eigenschaften vereinigten/ sich in ihm: er war geizig und verschwenderisch,
herrisch und leutselig, hart und gütig, stolz und vertraulich, furchtsam und
verwegen, je nach der Stimmung des Augenblicks; und dieselbe Stunde sah
ihn oft in der entgegengesetzten Laune, bald heiter lächelnd, bald ernst nach¬
denkend; muthwillig scherzend und verdrießlich gähnend; rasch Befehle gebend,
um sie gleich darauf zurückzunehmen. In Gesellschaft schien er verlegen und
machte er verlegen: verdrießlich gegen die, welche ihn,fürchteten, war er
freundlich mit denen, welche dreist und unbefangen mit ihm umgingen. Da¬
her mußte man, um seine Freundschaft zu gewinnen, ihn nicht zu fürchten
scheinen, ihn vertraulich anreden, und Zwang und Verlegenheit ihm ersparen,
indem man selbst zwanglos und unbefangen war. Er zeigte sich öffentlich
zwar stolz, hochfahrend, fast unnahbar, aber es geschah nur, weil er sich un¬
behaglich fühlte und dies hinter einem kalten, stolzen Wesen verbergen wollte;
in der Vertraulichkeit war er freundlich und liebkosend. Seine Seele bedürfte
zu ihrer Nahrung großer Schwierigkeiten, großer Hindernisse, um in der
Spannkraft zu bleiben, sonst versank sie in Gleichgiltigkeit und Trägheit.
Dann erlag er unter der Last des Glücks, unter der Menge der Würden,
Ehrenstellen, Reichthümer, Genüsse. Dann wurde ihm das Dasein eine
Bürde. Ueberdrüssig dessen, was er besaß, begierig nach dem. was ihm ver¬
sagt war, nach allem verlangend und aller Dinge satt, erschien er wie ein
Verzogenes Kind des Glücks, das eben durch das Uebermaß des Glücks höchst
unglücklich ist. Sein^Egoismus war bisweilen empörend; um zu seinen Zwe¬
cken zu gelangen, schien ihm jedes Mittel gut, und diese Zwecke waren nur
zu oft ganz selbstisch. Das Recht war ihm nichts; nur das U)in Nützliche
war ihm immer auch das Rechte. Alles was Verdienst zeigte, oder ihm im
Wege stand, suchte er zu entfernen oder niederzudrücken; je größer und beten-
tenter jemand war. um so eher hatte er Demüthigung von ihm zu erwarten.
Daher fürchteten ihn die Mächtigsten, und eben gegen sie jbowies er den grö߬
ten Stolz. Empörend war oft sein Uebermuth. Gegen niedrigere dagegen
war er freundlich, herablassend, selbst vertraulich, ohne sich etwas zu ver-
gMn!.f -ilttw" H-z ilAß .niimv^L' ,!^'.i«!i'/)/>'i')tilli sjttimlWuV ^nu-Ili n
Es war Potemkin, dessen Ehrgeiz den neuen Türkenkrieg 1787 Hervor¬
ries. Dieser Krieg veränderte bekanntlich durchaus die bisherige Konstellation
der europäischen Mächte. Ganz gegen sein natürliches Interesse schloß sich
Oestreich den Eroberungspläncn der russischen Politik an, während England
und Preußen ihr entgegenwirkten. Wegen des Letzteren macht der Verfasser,
der durchweg den russischen Standpunkt festhält, dem damaligen Leiter der
preußischen Politik. Hertzberg, die bittersten Vorwürfe. Dem Urheber des
Kriegs sollte auch die Ehre zu Theil werden, ihn zu führen. Aber Potem¬
kin war mehr Hofmann als Soldat; er überließ die Hauptsache Suworow.
der freilich, wenn er selbstständig handeln wollte, sich die empfindlichsten Ver¬
weise gefallen lassen mußte. Von dieser Zeit beginnen die Briefe Suworows
an seine zehnjährige Tochter Natalie. die einen ähnlichen Eindruck machen,
wie die Briefe Mozarts an seine Cousine. Als Probe möge hier der eine
derselben stehn; der Ton ist in allen der nämliche.
Geliebte Natalie. Du hast mich jenn Deinem Briefe vom 9. Nov. er¬
freut, noch mehr wirst Du mich erfreuen, wenn man Dir das weiße Kleid
(im kaiserlichen Fräuleinstift) anziehn wird und am allermeisten, wenn wir
zusammenleben werden. Fürchte Gott, führe Dich gut auf und ehre Deine
Mutter Sophie Jwanowna (die Vorsteherin im Stifte) sonst zupft sie Dich
bei den Ohren und setzt Dich auf Zwiebäcklein und Wasser. Ich wünsche,
daß Du glücklich die Weihnachten hinbringst. Jesus, unser Erlöser, bewahre
Dich das neue und viele andere Jahre. Ich habe Deinen früheren Brief aus
Mangel an Zeit nicht gelesen, sondern an Schwester Anna Wassijewna ge¬
schickt. Wir haben hier etwas härtere Sträuße gehabt, als wenn ihr euch
an den Haaren zerret, wir haben hübsch tanzen müssen, (bei Kinburn man.
lich): in der Seite ein Kartätschenschuß, im linken Arm ein Löchelchen von
einer Kugel und unter mir dem Pferde das Schnäuzlein weggeschossen: mit
Mühe stiegen wir nach acht Stunden vom Theater ins Kämmerlein. Ich bin
eben erst zurückgekommen; habe in sechs Tagen an 800 Werst zu Pferde ge¬
macht, und zwar am Tage nur. Wie angenehm ists auf dem schwarzen Meer.
Ueberall singen die Schwäne, die Enten, die Schnepfen; auf den Feldern Ler¬
chen, Finken, Füchslein, im Wasser Sterlette, Störe in Unzahl. Leb wohl,
meine Freundin Natascha; ich hoffe Du weißt schon> daß mich meine Mutter,
die Kaiserin, mit dem Andreasbande für Eifer und Treue begnadigt hat. Ich
küsse Dich. Gottes Segen mit Dir. Dein Vater Alexander Suworow.
Jetzt beginnen die Erfolge, die Suworvw zum gefeierten Helden Ru߬
lands machten, die Schlachten von Fockschani und vom Rymnik 1789 und
die Erstürmung von Ismail. In der ersten Schlacht sollte er gemeinsam mit
der östreichischen Armee unter dem Prinzen von Koburg operiren, aber er wich,
weil er die östreichische Langsamkeit scheute, jeder vorhergehenden Unterredung
mit den östreichischen Feldherrn aus, und begann die Schlacht aus eigne Hand^
Diese Eigenmächtigkeit ließ Koburg, weil er seinen Verbündeten wirtlich ehrte,
nicht blos hingehn. sondern er ward von da an sein treuster Freund. Die '
heldenmüthige Erstürmung von Ismail 1790 gab ihm auch gegen Potemkin
ein stärkeres Selbstgefühl und er wagte dem allmächtigen Günstling offen zu
trotzen, was er freilich bald zu bereuen Ursache hatte, denn die Kaiserin, die
gttgen ihn eingenommen war, schickte ihn nach Finnland, wo er seinen un¬
gestüme» Thatendrang in gezwungener Unthätigkeit verzehren mußte. Erst die
polnischen Unruhen gaben ihm wieder Gelegenheit, den wahren Schauplatz
seines Wirkens zu finden.
Die polnischen Angelegenheiten werden sehr ausführlich und im Ganzen
geistvoll, wenn auch von einem sehr einseitigen Standpunkt dargestellt. Daß
der Verfasser die zweideutige Politik Preußens bitter verurtheilt, wollen wir
ihm nicht verargen, ebenso wenig seine Geringschätzung gegen den polnischen
Nationalcharakter, der, stets zu einem heftigen Anlauf bereit, sobald es eine
dauernde Anstrengung galt, erschlaffte. Aber daß er von der Konstitution
von 1791 nur die Schattenseiten hervorhebt, und den wichtigen Fortschritt
verkennt, den sie, ehrlich durchgeführt, in der nationalen Entwicklung herbei-
geführt haben würde, ist doch gar zu russisch.
Suworow war in seiner Unthätigkeit allmülig so wild geworden, daß er
schon ernstlich daran dachte, in fremden Dienst zu treten. Für die Intrigue
war er nicht gemacht und wenn ihn für einen Augenblick Ossian. der ins
Russische übersetzt und ihm zugeeignet war, so begeisterte, daß er in seiner
Manier Briefe schrieb, so konnte doch dieser Trost nicht lange anhalten. Aber
als die Zeit der Intrigue vorüber war, und es auf ein ernst durchgreifendes
Handeln ankam, mußte man sich wieder des Helden von Ismail erinnern.
Die Darstellung dieser Begebenheiten bleibt den, folgenden Band vorbehalten.
Der Verfasser dieser Monographie hat in früherer Zeit eine Geschichte
der polnischen Jnsurection von 133t geschrieben. Seitdem sind ihm wichtige
Beiträge zum Verständniß der militärischen Operationen zugegangen, die er
nun gesammelt dem Publicum mittheilt. Das Wichtigste darunter ist das
Tagebuch des Feldmarschall Diebitsch, die Anklageschrift des General Toll,
Chef des Generalstabs) gegen seinen zweiten Oberbefehlshaber Paskewitsch
und die Antwort desselben. Es ergibt sich daraus, daß Diebitsch ein besserer
General war, aber vom Glück weniger begünstigt, während Paskewitsch, der
mit übertriebener Vorsicht den ganzen Feldzug durch taktische Schachzüge zu
erledigen hoffte, die Lorbeern einerntete, die eigentlich jenem gebührten. Aus
den verschiedenen Angaben der Feldherrn bemüht sich der Herausgeber mit
Umsicht und Wahrheitsliebe den echten Thatbestand herzustellen.
General Löwenstern, der Liefländer, ist in allen Punkten das Gegen¬
bild zu Suworow. Geb, 1777 innerhalb der vornehmen Aristokratie, mit allen
Neigungen derselben reichlich ausgestattet, beliebt bei den Damen, schon als
halber Knabe mit dem tollsten Hazardspiel vertraut, wurde er einmal von
einer russischen Gräfin aus der Gesellschaft gewiesen, weil er sein Haar zu
stark mit Helivtroppomade gesalbt hatte. Charakteristisch ist sür die russische
Aristokratie, daß seine Mutter ihm beim ersten Feldzug ein Amulet mitgab,
um ihn kugelfest zu machen. Seine erste Beförderung verdankt er Tanten
und Cousinen, er wurde auch zum Handkuß bei der Kaiserin zugelassen. In
dem Feldzug in der Schweiz 1799 mußte er einmal einen Auftrag beim Feld¬
marschall Suworow vollzieh«: „Ich sunt den Helden in einem Dorf, wie er,
umgeben von einem Theil des Generalstabs und auf einem tragbaren Sessel
sitzend, eben damit beschäftigt war, seine Digestion los zu werden. So gut
ich diesen Gebrauch aus Erzählungen kannte, so war es mir doch ein seltener
Anblick, ihn ächzend und stöhnend sitzen zu sehen, während ihn der Stab mit
ernsten schweigenden Mienen umgab. Ein hochgewachsener Ordönanzkosllk
stand mit gravitätischer Miene neben dem Stuhl und hielt ein Päckchen Papier
in der linken Hand, woraus er - mit der rechten dem ruhmbekränzten Greis
von Zeit zu Zeit zureichte, während dieser halblaut dazwischen rief: Hurrah!
Hau! stich! jag! Die Sitzung dauerte geraume Zeit, und vielerlei Geschäft
ward dabei abgemacht." Wenn uns gewöhnlich in militärischen Denkwürdig¬
keiten nur das officielle Geschäft vorgeführt wird, weiht uns Löwenstern in
die Mysterien des Lagerlebens ein. Der liebenswürdige junge Offizier hatte
ebenso viel Glück in der Liebe wie im Spiel, und selten, verfloß eine Woche
ohne eine neue Eroberung, die dann immer artig beschrieben wird. Nach been¬
digtem Feldzug wollte Löwenstern mit seiner kranken Frau eine Reise nach Ita¬
lien machen, sie starb ihm aber unterwegs, er gab seine Fahrt auf und nahm
als Freiwilliger an der Schlacht von Wagram Theil. Nach Petersburg, zurück¬
gekehrt, ließ er sich in neue Liebesabenteuer ein, gewann im Lauf von vier
Monaten 4 50,000 Rubel, die er aber bald wieder verspielte. Beim Ausbruch
des französischen Kriegs nahm er wieder Dienste und gewann die Gunst des
Oberfeldherrn Barklay de Tolly. aber er wurde des Verständnisses mit dem
Feind verdächtig und als Arrestant nach Moskau geschickt, bis endlich seine
Unschuld an den Tag kam. Dort lernte er Rostopschin kennen, den berühm¬
ten Urheber des großen Brandes. — Seine Tafel war eine heitere Vereini¬
gung geistreicher Unterhaltung. Er gehörte seiner Bildung nach dem älteren,
dem königlichen Frankreich an. Sein natürlicher Scharfsinn war früh zu
beißenden Antworten geübt worden und die Energie seines Charakters verlieh
den Witzfunken seiner Rede, besonders wenn er gereizt ward, die Heftigkeit
eines tödtlichen Geschosses. Besonders waren es die Emporkömmlinge der
Revolution, die sein Witz verfolgte. Ueber alle geschichtliche Wahrheit sprach
er sich skeptisch aus und Salomos Ausspruch: alles ist eitel! war seine Lieb¬
lingswendung. Später schrieb er für eine Dame einen scherzhaften Aussatz,
„meine Memoiren". Das eine Capitel lautete: ich habe verschiedene Rollen
gespielt, den zärtlichen Liebhaber, den Mann von Anstand, den großmüthigen
Vater, aber nie den Bedienten. AIs seine Grabschrift schlug er vor: lei vn
s. doxoss xour 86 roxossi-, avse uns ame blas^ö, un coeur 0Mis6 et un
corps us6, un vieux Siable trsxassö. Nesäames et Nessieurs, xassvx!
Als Barklay auf das Andringen der altrussischen Partei vom Oberbefehl
entfernt wurde, versah Löwenstern bei seinem Nachfolger Kutusom die Stelle
eines Adjutanten. „Wenn es bei Barklay nur schmale Bissen, eine sparta¬
nische Feldsuppe gab. führte der Fürst eine schwelgerische Tafel. Von der
stündlichen Lebensgefahr, der man sich in Barklays Umgebung aussetzte, war
vollends in des Fürsten beschwichtigender Wolkenhöhe nicht ein Schatten vor¬
handen." Aus irgend einer jener unerklärlichen Combinationen, die in der
russischen Geschichte so häufig vorkommen, verfiel Löwenstern in die kaiserliche
Ungnade; sein Name, der auf der Beförderungsliste stand, wurde vom Kaiser
eigenhändig gestrichen. Er hatte mitunter schon die Idee, sich eine Kugel
durch den Kopf zu jagen, aber das immer wiederkehrende Liebesglück tröstete
ihn bald und er rief einmal zu sich selbst: „In Wahrheit, Löwenstern, du bist
doch mit Frauen kurios glücklich." So geht es Schwank auf Schwank. Ein¬
mal hat der muntere Kosatenoberst eine gefüllte Feldkasse erobert, man ver¬
langt von ihm, daß er sie der Behörde abliefern soll, aber er weiß dieselbe
mit so viel Humor zu betrügen und den Streich so lustig zu erzählen, daß
man die Frage, ob es mit Fug und Recht geschehn, als völlig gleichgiltig
zurückweist. Das Glück will ihm noch Weiler wohl, er veranlaßt die Kapitu¬
lation von Soissons; über die Ehre derselben hat er mit dem preußischen
Oberst Mariens einen lebhaften Federkrieg zu führen; gleichzeitig gewinnt er
10.000 Rubel im Färö. So begleiten wir ihn nach Paris, wo er ganz in
seinem Element ist. Der muntere Herr ist erst im Februar dieses Jahres,
82 Jahr alt, gestorben. Sein Buch gehört zu den liebenswürdigsten, die über
diesen Feldzug geschrieben sind.
Wie bekannt, sind im transkaukasischen Rußland mehre sehr blühende
deutsche Kolonien, und ebenfalls bekannt möchte sein, daß sich hier in den
zwanziger Jahren eine Sekte entwickelte, deren wunderlicher Chiliasmus im
Jahre 1843 einen Theil der Kolonisten beinahe zur Auswanderung nach Jeru¬
salem getrieben Hütte. In dem neulich von uns angezeigten Buche Professor
Kolenatis*) findet sich eine Darstellung der Geschichte dieser Separatisten,
welche ein recht gutes Bild von der Suche gibt, und welche wir im Folgen¬
den auszugsweise mittheilen. Man wird in den Zügen dieser Spohnianer
große AehnliclMt mit den Tunkern der Hinterwälder Amerikas und in dem weib¬
lichen heiligen Geiste selbst einen Vergleichspunkt mit den Shakern finden — ein
Beweis, daß Ungebildete mit religiösem Bedürfniß, losgerissen aus dem Cultur¬
kreis der Heimath und hinausgeführt in die zur Beschaulichkeit, zum Grübeln
und Träumen anregende Einsamkeit von Niederlassungen in Urwald, Steppe
oder Gebirg, so ziemlich aus dieselben wunderlichen Einbildungen gerathen,
mögen sie im fernen Osten oder im fernen Westen ihr Haus bauen.
Der grusinische Separatismus scheint schon auf dem Zuge jener Kolonisten von
Schwaben nach Südrußland entstanden zu sein. Seine Ausbildung wurde dadurch
begünstigt, daß es anfangs an Predigern mangelte, welche die Gemeinden zu
gemeinschaftlichem Gottesdienst versammeln konnten. So gab es bald Con-
ventikel, und so fanden sich Leute, welche erst bloße Ausleger der Bibel waren,
mit der Zeit aber zu Propheten wurden. Zuerst beschränkte man sich (ganz
wie jene Tumler) in seinem Gegensatz gegen die Kirche darauf, daß man die
Bibel wörtlich nahm.
Im Jahre 1820 wurden einige der Kirche gänzlich untreu und hieltet
Versammlungen, in denen Stellen aus der Bibel vorgelesen wurden, worauf
die Versammelten insgesammt in ein ost stundenlanges Nachdenken versanken.
Dies war in der ersten Zeit ihr Gottesdienst; doch ließen sie nach den Ein¬
richtungen der Kirche taufen, so wie auch trauen. Das Resultat ihres Nach¬
denkens war vorerst eine Auseinandersetzung der Beweggründe, warum die
Kirchlichen sich im Bethause versammelten, nämlich — sagten sie — um der
Hoffart durch Kleiderpracht zu fröhnen und um sich von dem Witz eines gelehrten
Mannes blenden zu lassen, der ein unnützes Glied der Gesellschaft, eine Last
der Gemeinde sei und ihres Gleichen nicht sein wolle. Zur Zeit der Apostel
habe man sich nicht in Kirchen versammelt, sondern es sei unter einem Baume,
im Freien oder auch in den Häusern der Gemeindeglieder der Gottesdienst
gehalten worden. Ein jeder, dem der heilige Geist etwas eingegeben, habe
reden können; ebenso sei auch von den Aposteln ohne alle Gelehrsamkeit und
Witzelei gelehrt worden, dieselben Apostel haben auch einen Ncchrungszwcig
betrieben. Sie sagten serner, es sei Gott ein Greuel, wenn man gelehrt
predige. Wenn sie die Begierde nach etwas trieb, so thaten sie grade das
Gegentheil. Wenn einer z. B. Appetit nach Fleisch hatte, so aß er Milch
oder Mehlspeise und umgekehrt. Oft legten sie sich ein Stück Braten auf den
Mund und sprachen: „Du möchtest ihn wol gern haben?", schlugen sich da¬
rauf auf den Mund und warfen das Fleisch weg. Ost sahen mehre des Nachts
stundenlang mit entblößtem Unterkörper im Schnee. Sie nahmen auch eine
feierliche, mehr singende Sprache an, so daß man sie schon daran erkannte.
Sie bildeten sich ein, das auserwählte Volk Gottes zu sein. Gott, meinten
sie. sei nur ihr Oberhaupt und sie seien nicht verpflichtet, sich den Gesetzen
zu fügen, die Menschen gemacht hätten. Doch fielen bei ihnen nie Excesse
oder öffentliche Unmoralitäten oder Verbrechen vor. Sie lebten still und ein¬
gezogen volle 20 Jahre hindurch ganz nach ihrem Gutdünken. Sie wählten
sich drei Aelteste. Den einen alten Mann. Namens Kciuter. nannten sie Gott
den Vater; den zweiten jüngeren, Namens Grillenborzer. nannten sie Gott den
Sohn; die dritte, ein altes Weib. Namens Leibslerin, nannten,sie Gott den
heiligen Geist. Die Kirche bezeichneten sie als die Versammlung der Gottlosen,
die von einem Manne, der nicht vom guten Geist regiert werde, Belehrung
annehme. Im Jahr 1830, als ihnen die Prediger Einwendungen zumachen
ansingen, trennten sie sich ganz, gingen nicht mehr zum Abendmahl und
ließen ihre Kinder nicht mehr laufen. Sie sagten, die Confirmation sei Un¬
recht, da von ihr nichts in der Bibel stehe; die Taufe sei bloße Ceremonie,
da Christus die Kinder nur gesegnet, aber nicht getauft habe. Andere aber
sagten, man solle zwar laufen. aber erst, wenn der Täufling wisse, warum
dies geschehe. Ferner behaupteten sie. das Abendmahl sei zwar zu billigen,
aber man halte es nicht recht. Erstens halte man es am hellen Mittag und
Christus habe es bei Mitternacht eingesetzt; auch habe er den Jüngern das
Brot nicht in den Mund gegeben, sondern ein jeder von den Jüngern habe
sich nach Willkür genommen.
Im Jahr 1835 verlangten die Prediger energisch, daß die Separatisten
ihre 6—15jährigen Kinder laufen lassen sollten. ..Wir brauchen keine Pre¬
diger." sagten sie, „die uns die Kinder taufen und von nun an betrachten
wir unsere Weiber nur als Schwestern; wir sind der Erbsünde abgestorben."
Sie huldigten nun der Abstinenz, hafteten auch oft volle sechs Tage sehr streng.
Im Jahre 1836. da sich die Prediger an die Obrigkeit wandten, wurden sie
widerspenstig und einer von ihnen wurde auf einen Monat festgesetzt. Dies
gab Veranlassung zu der Idee, daß man sie verfolge und Gott werde sein
Volk schon ausführen. Christus sage: „Lasset die Todten begraben!" aber
vor Ceremonien, Leichenreden, Glockengeläute, Singen und Beten dabeihabe
er Abscheu. Es circulirten unter ihnen Lieder und Gedichte über alles dieses.
Viele arbeiteten nur so viel, als für ihren nothdürftigsten Lebensunterhalt er¬
forderlich war, verschenkten alles, was entbehrlich schien und nur einen Schein
der Eitelkeit verbreiten konnte, reisten von einer Colonie zur andern, bekehrten
zu ihrem Glauben und bettelten. Wohin sie kamen, knieten sie nieder, be¬
teten, daß Gott sein Volk bald ausführen und ihren gefangenen Bruder be¬
freien möge. Ihre Betstunden waren etliche Mal in der Woche von elf bis
zwölf Uhr des Nachts, ebenso die Versammlungsstunden. Dies bedeutete,
sagten sie. daß sie in die Reinigung eingegangen seien. Die Gebete wurden
mit feierlichem Ernst und erhobener Stimm'le verrichtet, ja oft schrieen sie un¬
gemein in ihrem Eifer. Die Worte, welche sie bei jeder Begegnung im
Munde führten, waren:
Der Hceland werd bald komme
Und holt uns, seine Fromme,
Er wird uns führ« naus
Zu ihm ins Himmclshaus.
Ich glab, daß d' Obrigkeit
Uns vieles thut no z' toit
Se jogt uns aus n' Haus
Auf d' freie Felder naus
Doch zur wolle alles leida
Und elle Weltlust meida.
Die Purification der Separatisten erlitt aber einen Rückfall; da sie näm¬
lich schon heiratsfähige Kinder hatten und die Noth auf das höchste getrie¬
ben war, so gab es Debatten, die sehr heftig wurden und endlich einigten
sie sich, daß sie ihre Kinder taufen und confirmiren ließen, damit sie getraut
werden könnten und gingen aus der Reinigung heraus. Auch das Teusel-
cmstrciben hatte nichts geholfen, indem dadurch viele geheime Sünder ent¬
standen und hinsichtlich ihrer körperlichen sowol als geistigen Gesundheit in
Gefahr geriethen, so daß das Amt einschreiten mußte. Besonders waren die
Weiber energisch thätig, es dahin zu bringen, daß der Ehestand gestattet
werde und überschrien gewöhnlich in den Versammlungen die Männer, über
deren Heiligkeit sie oft Glossen machten, oft auch factische Gegenbeweise vor¬
trugen. Auch verschmähten sie, wenn ernsthafte Krankheitsfälle eintraten und
Gefahr drohte, nicht mehr ärztliche Hilfe. Endlich war der Schlüssel zu allem
gefunden. Nach großem nächtlichen Geschrei stand einer unter ihnen auf und
behauptete, jetzt, wo ihre Kinder bereits wissen, warum sie getauft werden,
sei es angezeigt, daß sie taufen und confirmiren lassen dürften, und was die
Weiber anbelange, so können auch Weiber lehren; denn es gebe viele Weiber,
die einen männlichen Geist haben, und ohnehin sei ja der heilige Geist eine
Taube, auch stehe in der Offenbarung Johannis geschrieben von dem Weibe,
das mit der Sonne bekleidet in die Wüste fliehen müsse vor dem Drachen.
Nach dem Tode der Leibsle wurde die Frau eines Wagners, welche immer
als eine ruhige, untadelhafte Person bekannt gewesen war. Namens Barbara
Spohn, sonst unter ihnen Bäbele genannt, die dritte göttliche Person und zu¬
letzt Hauptperson, endlich Jrrlehrerin.
Die erste Offenbarung gab sie im Anfange des Jahres 1842. Sie sagte,
Gott habe ihr geoffenbaret, daß die Obrigkeit die Kinder Gottes verfolgen
aus ihren. Häusern jagen und auf einen andern Platz zur Ansiedelung drän¬
gen werde. Aber die Obrigkeit werde dies nicht mehr vollziehen können;
denn das Ende der Welt sei nahe. Daher müsse man Gott mehr gehorchen
als den Menschen. Darauf circulirte unter den Separatisten:''
ni«:i!.>j»'ilö.-,z>«k,'!?i>
Mr werd verfolgt
Mr werd verjagt
Ums Heilands will wer mer verfolgt
Und vieles müssa leida
Und an alta Glaub« bleibn miar
Und druf und druf sterba miar.
Die zweite Offenbarung lautete: „Die ganze Religion wird in eine zerflie¬
ßen; die griechische wird etwas nachlassen, eine andere etwas annehmen, und
so geschieht die Vereinigung. Doch wir werden bei der apostolischen Lehre
bleiben und sollten wir unsern Glauben auch mit unserem Blute besiegeln."
Sie hielten ihre Versammlungen geheim. Die Bäbele/ nicht erwartend,
daß ihre Offenbarungen einen solchen Eingang finden würden, versank immer
mehr und mehr ins Grübeln und Nachdenken, saß oft bis Mitternacht in den
Versammlungsstunden, schlief nicht viel, zog sich ganz vom anderweitigen
geselligen Verkehr zurück, überließ sich nun ganz der Fülle ihrer Phantasie
und hielt alles für Offenbarungen, was sie träumte. Sie selbst sagte: „Wäre
ich nicht von Gott dazu bestimmt, so würde mir niemand glauben." Zu dem
allen hatte sie immer untadelhaft gelebt und ward daher in der Meinung,
die ihre Anhänger äußerten, bestätigt, Gott habe einen großen Wohlgefallen
an ihr und sie sei schon von Jugend auf zu dieser Mission bestimmt gewesen.
Die dritte Offenbarung lautete: „Des Nachts sind zwei Männer in wei
ßer Kleidern und mit langen weißen Bärten zu mir gekommen und haben
mich angeredet: Ziehe aus nach Jerusalem; denn der Herr, dein Gott, wird
diese Stätte zerstören und die Gottlosen vertilgen; aber euch, Kinder Gottes,
wird er ins tausendjährige Reich einführen, wo ihr Freude und Wonne und
liebliches Wesen mit Christo genießen werdet tausend Jahr. Ziehet in die
Wüste; denn nur in dieser ist Ruhe, und so lange euch die Sonne am Wege
Immer auf den linken Rockärmel scheinen wird, bleibet nicht stehen; wenn
euch aber die Sonne ans Herz scheinen wird, seid ihr an Ort und Stelle,
im gelobten Lande."
Allgemein hieß es nun, Bäbele sei von Gott zur Prophetin ausersehen,
sie thue seinen Kindern nur seinen Willen kund. Die meisten Separatisten
arbeiteten nichts mehr und fingen wieder an, alles zu verschenken, hielten aber
aus langer Weile auch dreimal des Tages und einmal des Nachts Versamm-
lungs- und Betstunden.
Die vierte Offenbarung lautete: „Wer von euch nach dem tausendjähri¬
gen Reiche ein Buch mitzunehmen gedenkt, der gehe zu mir und ich werde zu
Gott gehen, ihn zu fragen, ob es erlaubt sei."
Die fünfte Offenbarung hieß: „Gott hat mir geoffenbaret. wir sollen
noch vor Ostern nach Jerusalem und blos am Stock; nicht einen Kopeken
Geld, noch Brot dürft ihr in dje Tasche stecken; auch sollt ihr nur grobe,
baumwollene Kleider anziehen, die Frauen und Jungfrauen müssen alle blau,
die Männer weiß erscheinen."
Von nun an kleideten sie sich auch so. Die Männer kleideten sich in
grobes weißes Tuch, ließen sich weiße Tuchnüchen mit einem entsetzlich großen
Lederschirm und sehr starke Schuhe machen.
Weiter wurde geoffenbart: „Und von allen diesen Kleidern wird keins
veralten, noch zerreißen, bis ihr im tausendjährigen Reich das Brautkleid an¬
ziehen werdet."
Natürlicherweise mußte die Negierung ihr wachsames Auge auf die
Verirrten haben, da sie sonst ins Verderben gerannt wären; denn schon lau¬
erten die Kurden und sandten ihre Kundschafter aus, um sie als Sklaven ge¬
fangen zu nehmen. Die Frau Spohn wurde nach Tiflis zum Oberbefehls¬
haber citirt und erschien; die Bibel mußte auf den Tisch gelegt werden und
es wurden ihr und den sie begleitenden Häuptern die schvncndsten. gütigsten
Vorstellungen gemacht. Auf die Vorstellung: „Gute Leute, ihr werdet ja in
dem dürren Lande, in das ihr ziehen wollt, verhungern und verdursten,"
antworteten sie: „Der Herr versorgt seine Kinder. Wenn wir am Stock
gehen, dann muß uns Gott erhalten; er hat auch das Volk Israel in das
Land Kanaan ohne Geld gebracht. Wir werden auch Manna bekommen;
denn das Volk Israel war nur ein Vorbild von uns; wir sind erst das wahre
Israel! So lange wir aus dem Wege sind, wird es nicht regnen; auch wird
uns die Sonne nicht stechen, noch wird es kalt sein. Die Alten und Schwa¬
chen werden wieder laufen können, wie die Jünglinge. Es wurde ihnen
weiter eingewendet: „Wenn ihr an ein großes Wasser kommt, wo keine Brücke
ist. wie wollt ihr hinüber?" Da antworteten sie: „Das Volk Israel kam über
das rothe Meer und Gott kann uns noch besser hinüberführen, als das Volk
Israel; mit unserem Gott wollen wir über das rothe Meer springen." —
„Aber wenn ihr einmal über die russische Grenze seid, dann nehmen euch die
Kurden gefangen und verkaufen euch als Sklaven in die Türkei und nach Per-
sien." Sie erwiederten: „Wir sind schon verkauft. Uns kauft niemand, uns
hat der Heiland gekauft mit seinem theuren Blut. Wer wollte oder könnte
uns kaufen?" — „Aber ohne Paß konnt ihr ja nicht über die Grenze." —
„Das hält uns nicht auf; wir brauchen gar keinen Paß, wir haben unsern
Paß von Gott. Der Komet, welcher am Himmel zu sehen war, wird, wenn
wir einmal von hier abziehen, erscheinen und vor uns hingehen,'wie bei dem
Volke Israel die Feuersäule; er wird uns den Weg zeigen." — „Euer Glaube
ist aber religiöser, überspannter Wahn; in der Bibel steht kein Wort von einem
zweiten Israel und ihr betrügt euch selbst." — Darauf antworteten sie: „Ihr
lästert durch diese Worte Gott. Das ist Sünde wider den heiligen-Geist und
solche werden in die unterste Hölle gestoßen werden, wenn sie nicht durch uns
gerettet werden. Die Bäbele und wir haben dies alles von Gott geoffen,
parce bekommen." Hieraus antwortete der humane Oberbefehlshaber General
v. Neidhardt: „Wenn ihrs von Gott habt, so kann ich nicht wider euch
sein" und entließ sie. — Collegienrath v. Kotzebue erhielt jedoch den Auf.
trag, ihr Verderben zu verhüten.
Die sechste Offenbarung der Frau Spohn lautete: „Gott hat mir geoffen-
barer, daß sich viele noch bekehren und mit uns ziehen werden; viele werden
sich noch retten lassen durch Ermahnungen. Thuet ihnen den Willen Gottes kund."
Hieraus wurde unverdrossen geworben und sie bekamen selbst von ihren
Widersachern großen Anhang, so z. B. den Schulzen von Katharinenfeld.
Joseph Almendinger, den Kirchcnältesten von Marienseld. Sie verschenkten
alles an die.Kirchlichen, bildeten unter sich eine Armenkasse, über welche einer
aus ihrer Mitte gesetzt wurde, der ohne Unterschied an Kirchliche, Tataren
und Separatisten austheilte, sogar Schulden sür die Kirchlichen bezahlte. So
bekamen sie einen immer größern Anhang, von .einigen allerdings nur auf
kurze Zeit und aus materiellem Interesse. Ja man machte ihnen den Vor¬
wurf, daß sie die Leute durch Geld anwürben. Von da an gaben sie mit
vollen Händen das Geld blos an die Tataren, ohne zu zählen.
Die siebente Offenbarung hieß: „Gott hat mir geoffenbaret, daß noch
viele Seelen unter unseren ungläubigen Mitbrüdern sich retten lassen (sie gab
auch viele namentlich an, wegen deren sie mit Gott gesprochen); doch wer sich
bekehren will, muß eilen, da die Gnadenthür nicht mehr lange offen ist; denn
schließt sie sich einmal, so wird keiner mehr eingelassen. „Bis zum Psingst.
Sonntage", hat Gott zu mir gesagt, „ist nunmehr die höchste Zeit, abzuziehen,
sonst werdet ihr auch noch vertilgt in dem Sodoma."
Von nun an sind wir der Ansicht, daß sie planmäßig vorging und nicht
an alles glaubte, was sie als Offenbarung vorgab, da mir bekannt war, daß
sie selbst gar nichts verkaufte oder verschleuderte, auch nichts wegschenkte und
von allen Räumen die Schlüssel bei sich hatte, ja sich auch zuweilen im Keller
an bessern Eßwaaren oder etwas Wein labte; denn sie war und ist jetzt noch
gut genährt. Auch ihre nachherigen Offenbarungen deuteten aus Berechnung
und endlich auf Unsicherheit.
Die achte Offenbarung lautete nämlich: „Gott hat mir geoffenbaret, daß
jeder Bekehrte mir seine Sünden beichten soll. Ihr dürfet auch einen Esel
mitnehmen und das für eure Sachen gelöste Geld. Dies erlaubt Gott, weil
ihr ihm so gehorsam seid. Auch ein Felleisen soll ein jeder Mann auf dem
Rücken mitnehmen, mit Proviant und Kleidern versehen. Ein« Woche vor
Pfingsten sollt ihr euch aus allen Kolonien bei meinem Hause in Katharinen-
seld versammeln und die ganze Nacht beten. Am Pfingstdienstage werden wir
abziehen."
Schon am Sonnabende vor den Pfingsten kamen an 300 Separa¬
tisten aus Alexandersdorf, Neutiflis, Marienfeld und Elisabeththal nach Ka-
tharinenfeld, aber auch Collegienrath v. Kotzebue, einige Fremde und 200 Mann
Linienkosaken, welche vor dem Dorfe Katharinenfeld lagerten. Collegien¬
rath v. Kotzebue ließ ankündigen, daß sich die Separatisten nicht aus den
Häusern begeben sollten. Die Betstunden wurden in mehren Häusern gehal¬
ten und die Separatisten erwarteten, daß Gott den heiligen Geist über sie
ausgießen, die Bäbele das Zeichen zum Aufbruch geben und derselbe dennoch
ungehindert vor sich gehen werde. Fest in ihrem Glauben, prahlten sie noch :
„So ist noch nie keine Gschicht vorgfalla. so lang Katherinenfeld flohe. als
wie de unsrige. Was? so lang de Walt flohe. O wie glücklich sind miar,
uns hat Gott allein auersehen von elle vier Winden, ja von der ganzen Erde,
daß wir sollen des tausendjährige Reich gründen, wir sollen sei des Funda¬
ment, wir sollen die Grundpfeiler sei im tausendjährige Reich."
Als die Versammlung und Begrüßung ein Ende hatte, wollten alle die
kommende Nacht noch zum heiligen Abendmahle gehen. Beim Anbruch der
Nacht gingen zuerst die Männer, später die Weiber, dann die Kinder. Ein
stämmiger Separatist, Namens Kreuzinger aus Elisabeththal, sprach: „Und ich
sage euch meine Meinung, ich ginge lieber mit den Lämmern als mit den
alten Schafen, und ehe Pharao nicht Ja sagt, wird aus unserm Abzüge
nichts." Da erscholl der allgemeine Ruf: „Stoßt ihn hinaus, den Un¬
gläubigen."
Als der Psingstdienstag kam, sagte Bäbele Spohn, der Ruf sei von
Gott gekommen, sie sollen erst um 11 Uhr aufbrechen. Da ließ ihnen aber
der Collegienrath v. Kotzebue den Gegenruf bringen, sie sollen nicht aufbrechen.
Sie gehorchten und warteten um so mehr, als die Spohn abermals einen
Ruf von Gott gehört habe, daß erst des Nachts zwischen 2 und 3 Uhr ein
Zeichen am Himmel erscheinen werde; dann sollen sie abziehen; dann könne
sie 'die ganze russische Armee nicht aufhalten. Sie beteten die ganze Nacht;
allein das Zeichen blieb aus. „Und ich sage euch noch einmal," sagte Kreu-
zinger aus Elisabeththal, „so lange nicht Pharao Ja sagt, dürfen wir nicht
weg." Er wurde abermals als Ungläubiger ausgescholten. So verging auch
die Mittwoch. Da sagte Bäbele Spohn: „Morgen, am 2, Juni, werden
wir ganz gewiß abziehen." Es wurde abermals den ganzen Abend bis in
die Nacht hinein gebetet und gesungen. Vor Tagesanbruch versammelten sich
alle, unterredeten sich und packten auf. Um 8 Uhr Morgens erschienen sie
mitten auf dem Platz beim Thore in folgender Ordnung: „Voran die Braut
Christi, Bübele Spohn, ihr zur Seite die Gehilfinnen, die Kanker, die Braut¬
führerinnen der Braut Christi. Darnach kamen die Aeltesten, darunter
Palmer, die heiligsten neun Männer; darauf die andern Männer, endlich die
Weiber und kleinen Kinder, alle, selbst die Kinder, mit einem Tornister auf
dem Rücken; zuletzt folgten die Jünglinge, dann die Jungfrauen, welche beide
vor sich schwerbepackte Esel, jeder einen, trieben und auch Tornister auf dem
Rücken trugen. Endlich kam ein vierspänniger Wagen, auf dem die Gebrech¬
lichen und diejenigen saßen, die ihren Verstand im Separatismus vergrübelt
hatten. Nach einer Weile bewegte sich der Zug langsam dem Thore
zu. Die vor dem Thore aufgestellten Kosaken bekreuzigten sich: man
hatte ihnen durch einen Separatisten sagen lassen, sie brauchen keine Waffen,
ihr Widerstand werde gelähmt werden; denn die Separatisten werden un¬
sichtbar für sie aus dem Thore kommen oder die Kosaken werden, wenn sie
Gewalt brauchen sollten, todt zur Erde niederstürzen. Als sie so einige Schritte
gegangen, kam Collegienrath v. Kotzebue zur Spohn und fragte sie, wohin
sie wolle; dreimal fragte er sie und erhielt keine Antwort. Da gab er zwei
Kosaken den Befehl, sie aus dem Zuge zu heben und zu bewachen. Sie
wurde weggeführt, konnte aber vor Bangigkeit kein Wort mehr sprechen.
Endlich sollten sie die Kosaken binden, denn alle waren mit mehren Stricken ver¬
sehen. Da faltete sie ihre Hände über den Schmecrbauch und stieß einen
heftigen Seufzer aus> richtete die Augen starr gen Himmel und wurde leichen¬
blaß. Doch Herr v. Kotzebue ließ sie nicht binden, sondern sammt ihren Ge¬
hilfinnen unter Bedeckung in sein Quartier führen. Auch befahl er, dasselbe
mit den neun Männern zu thun. Dann sagte er ihnen, daß es unmöglich
sei, sie von hier abziehen zu lassen, bis Se. Majestät der Kaiser entschieden
habe, ob sie fort dürfen oder nicht; sie möchten sich daher so lange gedulden.
So wie aber die neun Männer in das Zimmer des Herrn v. Kotzebue traten,
siel die Spohn mit ihren Gehilfinnen auf ihr Angesicht zur Erde. Das tha-
ten sogleich auch die neun Männer und nach erhaltener Nachricht auch der
ganze Zug. selbst die schwerbeladener Esel legten sich nieder. Alles lag eine
ganze Stunde im Sonnenbrande wie eingeschlafen im Staube. Nach fünf
Minuten singen die Kinder an. um Wasser und Brot zu rufen. Die Mütter
hörten sie um sich schluchzen und wimmern und beachteten dies nicht. Eine
gab dem Kinde einen Stein und sagte, dies solle zu Brot werden. Da wur¬
den die umstehenden kirchlichen Zuschauer erweicht, schleppten Wasser und
Brot herbei und gaben dies den Kindern. Der stämmige Kreuzinger stand
endlich auf und sagte, er könne nicht so lange aushalten, er habe Durst,
worauf er von den wachhabenden Kosaken zum Herrn v. Kotzebue gebracht
wurde. Er trug seine Bitte vor, ihn nach Hause gehen zu lassen, und zwar
ohne Kosaken. Da er vorher von Durst gesprochen, so ließ ihm Herr v. Kotze-
bue Wein einschenken; er aber nippte nicht etwa blos, sondern trank den
Wein aus. Hierauf erhielt er seine Freiheit und ging in Katharinenseld von
Haus zu Haus, wo ihm überall zugetrunken wurde, so daß zuletzt doch wenig¬
stens ein Begleiter nothwendig war. Nachdem die neun Männer auch mit
dem Versprechen, nichts mehr zu unternehmen, abgefertigt waren, wurden alle
katharinensclder Separatisten in ihre Häuser zurückzukehren angewiesen; die
von den andern Colonien Ausgeschiedenen aber wurden von den Kirchlichen
verpflegt und mit Kosaken in ihre Colonien escortirt. Die katharinenfelder
Separatisten hatten am wenigsten Verlust; denn sie ließen das Vieh und alle
Geräthschaften im Hause, sperrten zu und gaben die Schlüssel ihren Nachbarn
mit der Weisung, erst nach ihrem Abzüge damit zu thun, was man wolle.
Die andern aber hatten alles Vieh, alle Hausgeräthe, sogar ihre Häuser ver¬
kauft. Vielen wurde nun zwar das Verkaufte von den Käufern zurückgegeben,
von andern aber nicht alles, und mancher erhielt nichts zurück, sondern mußte
sich von neuem einrichten. Die Spohn hatte gar nichts verkauft und nie¬
mandem die Schlüssel übergeben, sondern hatte sie in der Tasche.
Hierauf schickten die Separatisten mit Bewilligung des Gouverneurs von
Grusien drei Männer ab, zwei nach Jerusalem und einen nach Konstantinopel,
um anzufragen, ob sie angenommen würden und einen Ansiedlungsplatz bei
Jerusalem auszuforschen. Sie kamen zu Ende des Jahres 1843 mit der
Nachricht zurück, daß es ihnen dort nicht gefallen könne. Darauf wurden fast
alle, sogar die Spohn, kirchlich und viele bereuten ihren Irrthum aufrichtig,
und achteten die Spohn wenig, da sie sie getäuscht und irre geführt habe;
manche jedoch sollen immer noch geheime Separatisten sein.
Wer vor anderthalb Jahren vorausgesagt, daß Preußen im November 1858
ein liberales Ministerium haben würde, den hätte man wahrscheinlich einer ärztlichen
Untersuchung unterzogen. Wir machen auf diesen Umstand aus zwei Gründen auf¬
merksam. Einmal um auf die unerhörte Wichtigkeit des Ereignisses hinzudeuten.
Es ist kein anderes denkbar, von dem man sich für ganz Deutschland so durchgrei¬
fende und so segensreiche Wirkungen versprechen dürfte. Sodann aber muß das
Publicum daran erinnert werden, daß es an diesem Ereigniß unschuldig ist, seine
Wünsche haben nichts dazu beigetragen, es herbeizuführen oder zu beschleunigen.
Freilich gibt es Federn, die eine andere Ansicht hegen. Wir lasen in den letz¬
ten Tagen, die Presse habe die Regentschaft, die Presse habe das Ministerium Hohen-
zollern geschaffen. Es scheint freilich ein unschuldiges Vergnügen, sich selber mit den
großen Thaten zu schmeicheln, die man im Traum gethan, aber das Vergnügen ist
schädlich, denn es stumpft den Sinn für Realität ab, und gewöhnt das Publicum
aufs neue daran, die Weltgeschichte durch Wünsche und Träume zu redigiren. Es
muß daher gesagt und wiederholt gesagt werden: die Presse ist unschuldig an den
neuen Begebenheiten; ihre stillen Stoßseufzer, die grade so laut ertönten, als Herr
von Westphalen erlaubte, hätten ebenso wenig an der Politik der Regierung geän¬
dert, als es ihr im Jahr 1853, wo man sehr viel lauter rufen durfte, gelungen
war, auf die Haltung in der orientalischen Frage zu influiren. Was heute geschehn,
ist ganz und ausschließlich das Werk eines einzigen Mannes, des mächtigsten Mannes
im Staat, der aber doch das Werk der Wiedergeburt allein nicht vollbringen kann.
Soll diese Umwandlung Preußens, deren erstes Symptom das gegenwärtige Mini¬
sterium ist, Bestand haben, so muß das Volk nachträglich das Seinige dazu thun.
Der Weg dazu ist ihm vorgezeichnet, und die erste und unerläßliche Bedingung, das
Ziel wirklich zu erreichen, ist die, sich nicht wieder Illusionen zu machen. Es wäre
aber die schlimmste Illusion, wenn es glaubte, jetzt schon feine Schuldigkeit gethan
zu haben, und das Weitere dem lieben Gott und dem Regenten überlassen zu können.
Es widerstrebt unsern Gefühlen, dem abgetretenen Ministerium, das sich wäh¬
rend seines Bestehens gegen die Angriffe der Presse zu schützen wußte, jetzt bittere
Worte nachzurufen. Es ist auch unnöthig, denn im Grunde ist alle Welt darüber
einig. Vielleicht werden sich selbst die Schriftsteller der „Zeit", die vor acht Tagen ver¬
sicherten, Preußens Wohl hänge an der Fortdauer dieses Ministeriums, mittlerweile
eines Bessern überführt haben. Die Seele des Ministeriums war nicht der Präsident
des Cabinets, sondern der Minister des Innern, der mit einer seltensten Erfindungs¬
gabe ausgestattet war, die schlimmen Eigenschaften des Feudalsystems, des Absolu¬
tismus und der constitutionellen Regierung, die sonst einander auszuschließen pfle¬
gen, harmonisch miteinander zu verbinden. Das Junkerthum als Zweck des Staats,
der ganze Staat bis in die Details durch die Polizei regiert und dazu noch die
Wahlintrigue des Constitutionalismus! Man wird inskünftige über die Geschick-
lichkeit der Combination erstaunen. — Die officiellen Agenten des Herrn von
Manteuffel pflegten über dies Benehmen des Herrn Kollegen den Kopf zu schütteln,
und in der That hatte ihr Gebieter wieder eine andere Virtuosität, Wenn der Mi¬
nister des Innern und der geheime Regierungsrath Hahn mit alten Worten neue
Begriffe verbanden, wenn sie z. B, Wcchlfrciheit nannten, was andere Leute Wahl-
corruption nennen, so erfreuten sich dagegen die Vertreter des Herrn von Manteuffel
einer liebenswürdigen Unbefangenheit in Beziehung auf den Zusammenhang ihrer
Ideen und ihres Lebens. Herr v. Manteuffel pflegte auf alle Angriffe in der Kammer
zu erwiedern, er sei nur dem König verantwortlich und werde nur gehen, wenn
dieser ihn entließe: es ist das der einzige Grundsatz, dem er treu geblie¬
ben ist. ' v>. - " - i!//- , us./ii,
Die Resultate dieser Negicrungsperiode sind um so betrübender, da sie verhält¬
nißmäßig unter günstigen Auspicien begonnen wurde. Nach der Unterdrückung der
Demokratie durch den Grafen Brandenburg fand Preußen in Deutschland zwar einen
starken Haß, aber es war auch der einzige Staat, den man fürchtete und auf den
man Hoffnungen baute. Was man auch von der Kaiscrwcchl und von dem Drei-
königsbündniß denken mag, es waren jedenfalls sehr starke, ja staunenswerthe Symp¬
tome von der Geltung Preußens. Als man nicht mehr die Energie hatte, diese
Stellung zu behaupten, und um sich mit den alten Gegnern zu versöhnen, mit der
Revolution d. h. mit dem Liberalismus brach, wäre es ein Glück für Preußens
Ehre gewesen, wenn die offnen Gegner dieser Politik d. h. die Männer der Kreuz-
zeitung die Regierung übernommen hätten. Statt dessen erkannte Herr v. Man¬
teuffel, das Wohl des Staats sei an sein Bleiben geknüpft, er blieb daher und
strafte feine eigne Vergangenheit Lügen. Was wir dadurch für einen Ruf im Aus¬
land erlangt haben, das zu wiederholen möge man uns erlassen. Viel schlimmer
war, daß Herr v. Manteuffel den Reformen seines College» in der innern Verwal¬
tung keinen Widerstand leistete; daß er es geschehn ließ, daß die altprcußische ziem¬
lich selbstständige, von der Amtsehrc und der Amtsbildung getragene Verwaltung
mehr und mehr in eine Partcircgicrung im schlechtesten Sinn umgewandelt wurde.
Wie tief die Achtung Preußens gesunken war, und mit wie richtigem Jnstinct das
Ausland den Grund dieses Gefühls erkannte, zeigt die Haltung der ausländischen,
namentlich der östreichischen Presse in den letzten Monaten. Noch war blos von der
Möglichkeit eines Ministcrwechscls die Rede, und schon war man unermüdlich, die
große Bedeutung und die hoffnungsreiche Zukunft Preußens hervorzuheben: wir
Preußen mußten förmlich erstaunen, was wir über Nacht für ein anderes Volk ge¬
worden waren! Wir setzen voraus, daß in den nächsten Wochen unsere Wichtigkeit
ganz unergründlich sein wird. Das Beste ist, daß wir ungesühr das nämliche Ge¬
fühl haben; um so mehr ist es jetzt unsere Pflicht, durch die That zu zeigen, daß
dieses Gefühl keine hohle Renommage ist.
Das neue Ministerium ist mit zwei Ausnahmen, so weit die Persönlichkeiten
desselben durch früheres Wirken bekannt sind, theils aus alten Beamten, die dem System
Westphalen geopfert waren, theils aus Mitgliedern der ehemaligen parlamentarischen
Opposition zusammengesetzt. Noch mehr: die ganze Art seiner Ernennung zeigt, '
daß der Regent nicht einzelne Fachministcricn zusammenstellen, sondern ein einheit¬
liches, von einem leitenden Gedanken getragenes Cabinet hat bilden wollen. Es ist,
wie man in England sagen würde, ein Ministerium der Linken, ein Whigministc-
rinm, und wir, die Whigs, wären jetzt die ministerielle Partei; da wir aber nicht in
England sind, sondern in Preußen, so können wir diese Ausfassung nur mit ge¬
wissen Ncstrictionen gelten lassen.
Wir haben schon in der vorigen Woche erklärt, daß wir jeder Regierung, aus
welchen Personen sie auch zusammengesetzt sei, gegenüber eine loyale Haltung be¬
wahren, daß wir sie nicht nach ihrer Vergangenheit, sondern nach ihren neuen
Werken beurtheilen werden. Zwar freuen wir uns herzlich, daß unsre alten Führer
das Vertrauen des Prinzen gewonnen haben, und hegen die feste Zuversicht, daß
ihre neuen Thaten ihren früheren Worten entsprechen werden, allein die Ausgabe
der preußischen Regierung ist eine sehr schwierige; sie erfordert nicht blos guten
Willen und gute Gesinnung, sondern eiserne Energie und klare Einsicht in das,
was Noth thut. Schon zweimal im Jahr 1848 haben die liberalen Ministerien die
Erwartungen des Landes nicht ganz erfüllt; es scheint uns also zweckmäßig, daß
bei der bevorstehenden Landtagswahl die liberalen Wähler nicht aus eine ministerielle
Majorität bedacht seien, nicht aus eine Kammer, die alles gut heißt, was das Mini¬
sterium thut, sondern aus unabhängige Deputirte, die nur die Sache, nicht die
Personen im Auge haben. Das Ministerium Westphalen hat in der Verwaltung
zahlreiche Ueberreste zurückgelassen, die weder mit dem altpreußischen Geist, noch mit
der neuen Verfassung in Einklang zu bringen sind; wir wünschen und hoffen, daß
diese Reste, wenn auch nicht auf einen Schlag, doch allmälig beseitigt werden. Nun
liegt es nahe und ist ganz in der Ordnung, daß zum Ersatz zahlreiche Männer,
die sich das Talent zutrauen, dem Staat zu nützen, der neuen Regierung ihre
Dienste zur Verfügung stellen; allein wir würden im Allgemeinen es für nützlich
halten, daß in den Landtag nicht diese Kandidaten sür künftige Aemter, sondern
Männer gewählt werden, die sür ihre Person von der Regierung nichts zu hoffen
und nichts zu fürchten haben. Um nur einen Punkt hervorzuheben: Preußens
bisherige Zollvercinspolitik ließ ebenso viel zu wünschen übrig, als die sonstige Verwal¬
tung. Da nun der Träger derselben im Amt geblieben ist, so wird eine wachsame
Kritik der Fortsetzung derselben von Seiten des Landtags nicht zu vermeiden sein.
So weit sind wir mit den Wünschen und Anforderungen der demokratischen
Blätter ganz einverstanden. Wir halten es aber für zweckmäßig, uns auch im Uebri-
gen mit den Demokraten ins Klare zu setzen. Wir bekennen, daß uns jedesmal un¬
heimlich zu Muthe wird, wenn in der Politik die Gemüthlichkeit überHand nimmt.
Und das ist jetzt bei einem Theil der Presse der Fall: aller Unterschied, scheint es,
zwischen Demokraten und Konstitutionellen soll aufhören, und in vereinter Bruder¬
liebe sollen wir dem gemeinschaftlichen Ziel zusteuern. Wäre das möglich, so wäre
es das härteste Verdammungsurtheil gegen den gesunden Menschenverstand der ge-
sammten Wählerschaft von 1848; denn dann ist es nur im Fieber gewesen, daß
die beiden Parteien so leidenschaftlich miteinander haderten. Zwar sind wir ganz der
Ansicht, daß man die alten antiquirten Streitigkeiten ruhen lassen solle; aber gleiche Ur¬
sachen bringen doch inne^r gleiche Wirkungen hervor. Die damals schwebenden Fragen
sind noch heute nicht gelöst, und wenn auch Individuen im Lauf von zehn Jahren
ihre Ueberzeugungen ändern mögen, von ganzen Volksclassen ist es nicht denkbar.
Der Gegensatz der beiden Parteien wird wieder hervortreten, das ist eine Wahrheit,
die wir um der bloßen Gemüthlichkeit willen nicht zu verhehlen gedenken.
Wol aber ist uns daran gelegen, daß der spätere Kampf in anständigen For-
man geführt werde, daß man den Gegner achten könne; es ist uns namentlich
daran gelegen, daß wir dem Gegner keine Veranlassung geben, uns seine Achtung
zu entziehn. Der Grund dieser Mißachtung liegt meistens in der Unklarheit: man
nahm vor 1848 an, daß die Liberalen im Grund dasselbe wollten, als die Demo¬
kraten, und nannte es Verrath, als sich in der Krisis ergab, daß sie etwas Anderes
wollten. Hüten wir uns, daß derselbe Fall nicht wieder eintritt. Seien wir offen'
gegen die andern, offen gegen uns selbst: wir wollen vieles, was die Demokraten
wollen — in dem schlesischen Programm sind die ungefähren Umrisse dieses gemein¬
samen Wollen« gegeben — wir wollen aber vieles nicht, was die Demokraten wollen.
Es ist eine Thorheit, wenn man die Nationalzeitung tadelt, daß sie in der elften
Stunde auf den Unterschied wieder hinweist; mit der bloßen Friedensliebe macht
man keine Politik, und wir sollen die Gelegenheit benutzen, uns mit gleicher Offen¬
heit zu erklären. Natürlich kann das nur der Einzelne thun.
Der Gegensatz zwischen der constitutionellen Partei und der gemäßigten
Demokratie (die sonstige Demokratie lassen wir hier ganz aus dem Spiel) beruht
auf dem Begriff des allgemeinen Wahlrechts.
Ganz offen hat sich darüber, so viel wir wissen, nur das königsberger „Conn^
für unabhängige Wahlen" (darunter Dr. Johann Jacoby und Dr. Rupp)
ausgesprochen. Indem es im Uebrigen das schlesische Programm zu Grunde legt,
verlangt es außerdem von dem Abgeordneten, sich auf folgende Punkte zu verpflich¬
ten: „Wiedereinführung des gleichmäßigen Wahlrechts (d. h. Aushebung der drei
Classen, während der Umfang der Stimmberechtigten derselbe bleibt) und der Stimm-
zettclwahl."
Gelinder drückt sich die Nationalzcitung aus: „Wir warten ab, ob man den
Muth haben wird, sich den heutigen Wählern als Candidaten vorzustellen mit der
eingestandenen Absicht, bis zum nächsten Mal einen guten Theil von ihnen
von den Listen zu streichen. Sollte darüber Schweigen beobachtet werden, so
wird es heilsam sein, sich über diesen Punkt Gewißheit zu verschaffen. Die Frage,
ob Census oder geheime Abstimmung, kann bald eine so hervorragende Wichtigkeit
erhalten, daß die Wähler die dringendste Veranlassung haben, sie den diesmaligen
Bewerbern nicht zu erlassen."
Die Anforderung erscheint insofern unverfänglich, als wol alle Welt darin einig
ist, daß für die gegenwärtige Legislatur eine Umgestaltung des Wahlgesetzes nicht in
Aussicht steht. Aber daß der Gegensatz ein tieferer ist, zeigt eben das königsberger
Programm. Mögen die Kandidaten daher sehr reiflich überlegen, wozu sie sich ver¬
pflichten. Bei dem jetzigen Classensystcm, hoffentlich auch bei dem ganz zweckwidrigen,
unlebendigen indirecten Wahlmodus, bei dem der Urwähler nie weiß, wem er eigent¬
lich seine Stimme gibt, kann es sür die Dauer nicht bleiben; und dann handelt es
sich um die Alternative: gleiches Wahlrecht für jedermann oder eingeschränktes
Wahlrecht — gleichviel ob nach Census oder nach bcstimrßtcn Kategorien wie' in
England eingeschränkt.
Will sich die constitutionelle Partei in der That für das Erste — nach der
glänzenden Erfahrung in Frankreich von 1848 bis 1852! - verpflichten? Wir
würden das sür einen Leichtsinn halten, der, bei späterem etwaigen Wechsel der
Ansicht, einen gerechten Verlust an Achtung nach sich ziehn würde. Fern von der
Doctrin, daß das uneingeschränkte Wahlrecht unter allen Umständen verwerflich sei,
glauben wir doch nicht, daß in seiner gegenwärtigen Lage der preußische Staat die
Gefahren desselben ertragen kann. Wer aber diesen Glauben mit uns theilt, scheint
uns, wenn er befragt wird, zu einem offnen Aussprechen desselben verpflichtet
zu sein.
Die Kreuzzeitung verheißt uns das wunderbare Schauspiel, daß ihre Partei
„gegen Liberalismus, Demokratie und Bureaukratie" die Fahne der Freiheit erheben
wird. Wir sehen dieser Wendung mit stillem Behagen entgegen, fürchten aber, wie
früher, im entscheidenden Augenblick darüber belehrt zu werden, daß „Freiheit" so
viel heißt als „Knechtschaft". Immerhin wird der Reiz der Neuheit nicht ausbleiben;
nur täuscht sich die „kleine aber mächtige" Partei, wenn sie ihre parlamentarischen
Größen, etwa Stahl, Wagner und Herrn v. Gerlach (den in der Kammer)
für ihre Führer hält; ihre Führer waren der andere Herr v. Gerlach und etwa
Herr v. Westphalen. Nicht die Doctrin, nicht der Witz hat die „kleine aber mäch¬
Geschichte der Stadt und Universität Freiburg im Breisgau von
Heinrich Schreiber. Freiburg, Wangler. — Mit der sechsten Lieferung, welche
die Periode vom ryswvker Frieden bis zum Uebergang der Stadt an das großher¬
zogliche Haus Baden behandelt, ist nun die Geschichte der Stadt abgeschlossen; zur
Vollendung des Werks sehlt noch die Geschichte der Universität seit der Reformation.
Unter den zahlreichen Stadtgeschichten, die in den letzten Jahren erschienen sind und
einen sehr wichtigen Beitrag für die Entwicklung der deutschen Cultur enthalten,
zeichnet sich dies Werk durch gründliche Studien und eine geschickte Form der Er¬
zählung aus. — Als einen interessante« Nachtrag dazu erwähnen wir: Freiburgs
gesellschaftliche, theatralische und musikalische Institute und Unterhaltungen und deren
Entwicklung von 1770 bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zur Culturgeschichte Süd¬
deutschlands von I. B. Trenklc. Freiburg, Wangler. Die culturhistorisch inter¬
essanteste Partie des Buchs ist der Kampf zwischen den Jesuiten und Illuminaten
auf dem Theater. —
Selbsterlebtes während der Belagerung von Lucknow von Ruutz Rech.
Leipzig, Lorck. (Deutsche Originalausgabe). — Eine der wichtigsten Episoden des
furchtbaren indischen Aufstandes wird von einem verständigen Augenzeugen sachgemäß
und ergreifend dargestellt. —
Männer der Zeit. Biographisches Lexicon der Gegenwart. Leipzig, Lorck.
— Die Sammlung, zum großen Theil aus Originalmitthcilungen der charakte-
risirten Personen basirt, aber von verständigen Bearbeitern kritisch gesichtet, ent¬
spricht einem wesentlichen Bedürfniß. —
„Ursprung und Entwicklung des christlichen Kirchengebäudes" von Wilhelm
Weingärtner. Leipzig, T. O. Weigel. — Der Verfasser stellt die Resultate
seiner Forschungen in Folgendem zusammen. — Die römische Baukunst nimmt von
den Griechen den reinen korinthischen Stil auf, erhöht im Sinn des Kolossalen und
Pompösen seine Verhältnisse und steigert seine Pracht. Eigen ist ihr die Wölbung:
ein fruchtbares Princip, das auch nach verschiedenen Seiten insbesondere als kuppel-
bedcckter Rundbau ausgebildet wird, ohne daß doch die wahren Ergebnisse desselben
zur Entwicklung gelangen; vielmehr wird die Wölbung unorganisch mit den griechi¬
schen Formen zusammengestellt. — Hier nun beginnt das ästhetische Princip der
christlichen Baukunst zur Geltung zu gelangen. Das Kolossale und Pompöse der
Verhältnisse wächst fort und fort durch die Erhöhung des Mittelschiffs und die damit
zusammenhängende des Giebelfelds. Durch reichen musivischen Schmuck prangt und
leuchtet das Innere, während eine glückliche Perspective die Längenrichtung ins Un¬
endliche zu dehnen scheint. Das Aeußere dagegen ist noch kahl und ungegliedert.
Bald aber gliedert und belebt sich auch dieses in den ravennatischen Bauten, steigert
sich in der romanischen Periode durch Blenden, Liscnen, Vogenfriesc, Zwergsäulen in den
Fensteröffnungen und nach außen geöffnete Galerien in anmuthiger Weise und erreicht
endlich in der gothischen Baukunst durch Strebepfeiler, Strebebogen, reichliche und
scharf vrofilirte Gesimse, kunstreich durchbrochene Steinmetzarbeit, welche den Kern
filigranartig einspannt, ohne seine Formen zu umhüllen, durch Spitzsäulen, Fialen,
Kreuzblumen, verschlungenes Maßwerk in den Fenstern, den höchsten Grad zauber¬
hafter Pracht. Die Wölbung und der kuppclbedcckte Rundbau gestaltet sich in der
christlichen Baukunst allmälig zur organischen Verbindung durch die Ausbildung der
reichgegliederten Pfeiler, durch den byzantinischen Kämpfer, durch Gurt- und Ge-
wölbbogen. Der Bautheil, welcher zu der innern und äußern Gliederung und Be¬
lebung das Meiste beitrug, war das Querschiff, welches den Triumphbogen im Lang¬
schiff, da wo dieses in das Kreuzschiff überging, veranlaßt. Eine Wiederholung
desselben auf jeder Seite der Vierung rief die Kuppel über dieser und den Kuppel-
thürm in den romanischen Bauten hervor. Eine Wiederholung im Langschiff führte
die allmälige Beseitigung der Säulen und die Einführung der Pfeiler herbei. Die
Einspannung der Kreuzgewölbe beim Beginn der gothischen Periode zwischen die
einzelnen Bogen des Langschiffs endlich erforderte die mächtigen himmclaufstrebenden
Strebepfeiler und Strebebogen als Widerlage gegen den Schub der Gewölbe von
Innen nach Außen. Das Kirchengebäude war aus den cngendcn Schranken der
umgrenzenden Mauer herausgetreten. Nachdem so das markige Gerippe der gothi¬
schen Dome gebildet war, konnte man alle Sorgfalt auf die Schönheit und Zier¬
lichkeit der Dctailbildungcn verwenden. —
In neuester Zeit häufen sich die Symptome, daß der Ultramontamsmus
keinen seiner alten Ansprüche aufzugeben gedenkt, daß er vielmehr jeden Augen¬
blick geneigt ist, sich Uebergriffe in das Gebiet des Staats- und Gemeindc-
lebens zu erlauben, auf eine sehr bedenkliche Weise. Da nun auch innerhalb
der protestantischen Kirche eine Partei vorhanden ist, die im Haß gegen die
Aufklärung auch dann die Ansprüche Roms unterstützt, wenn sie der Sitten¬
lehre der Reformation auf das härteste widersprechen, so müssen wir mit ^
ernster Theilnahme diejenigen Versuche verfolgen, die innerhalb der katho¬
lischen Kirche gegen das Uebermaß der geistlichen Ansprüche gerichtet sind.
Es darf uns auch nicht irren,, wenn diese Versuche zunächst die richtige Form
verfehlen, und wir müssen schon zufrieden sein, wenn auch in unklaren An¬
sprüchen ein richtiger Jnstinct sich geltend macht.
Diejenigen katholischen Staaten, die im gegenwärtigen Augenblick am
meisten dazu berufen scheinen, innerhalb der katholischen Bildung die Sache
der Freiheit zu vertreten, sind Frankreich, Belgien und Sardinien. In Frank-
reich hat zwar der Staat mit der Kirche ein enges Bündniß geschlossen, aber
es bleibt doch immer das Vaterland der gallicanischen Versuche gegen die Ober¬
herrschaft des Papstes, es bleibt das Vaterland der Aufklärung. In Belgien
hat sich der Liberalismus dem Ultramontanismus gegenüber zu einer geschlos¬
senen Partei abgerundet, die den Gegner aus parlamentarischem Boden be¬
kämpft. Sardinien endlich hat seine Stütze gegen Oestreich und gegen die
klerikale Partei hauptsächlich im politischen und religiösen Liberalismus zu
suchen. In allen diesen Ländern fehlt es nicht an talentvollen Schriftstellern,
die gute Sache durch Logik und Beredtsamkeit zu vertreten. Es gereicht uns
aber zur besondern Genugthuung, daß sie, ihre Waffen hauptsächlich der
deutschen Philosophie entlehnen. In den Schriften, die wir heute zu bespre¬
chen haben, erkennen wir fast auf jeder Seite Kant und Schleiermacher, He¬
gel und Feuerbach heraus."
Daß Proudhon, der niemals im Stande ist, einem Witz oder einer
rhetorischen Phrase Widerstand zu leisten, bei dem die Dialektik fast jedesmal
in Dithyramben übergeht, und der das unglückliche Talent besitzt, für seine
Invectiven die beschimpfendste Form zu finden, in allen seinen Schriften durch
'einzelne Wendungen der öffentlichen Meinung wie dem Gesetz den gerechte¬
sten Anstoß gibt, ist allgemein bekannt, und wir wundern uns nicht, daß
auch das gegenwärtige Buch von einem pariser Gerichtshof verurtheilt ist.
Aber die Extravaganz liegt bei ihm fast immer nur in den Beweisgründen;
das, was er verlangt, ist gar nicht so übertrieben, als man nach dem ersten
Anschein vermuthen sollte. Wir lassen uns diesmal auf die Schale gar nicht
ein, wir halten uns an den Kern seiner Ideen.
Die Verfassung, mit welcher der Kaiser Frankreich beglückt hat, verspricht
in der Einleitung die Principien von 1789 durchzuführen. Auf diese Ein¬
leitung stützt Proudhon seine Ansprüche. Er weist nach, und er wird darin
im Ganzen nur wenig Widerspruch finden, daß die sittliche Weltanschauung
von 1789 der Dogmatik und den Institutionen der Kirche in vielen Punkten
aus das entschiedenste widerspricht, und errichtet demnach an den Senat, dem
die Verfassung wenigstens theilweise die Initiative in den organischen Ein¬
richtungen überträgt, die Bittschrift, den Widerspruch zwischen diesen beiden
Weltanschauungen durch Reform des Concordats aufzuheben. Daß seine Bitt¬
schrift an diesem Ort Anklang finden würde, hat er wol selber nicht geglaubt;
die schneidende Form, in der er seine Ansprüche vorträgt, war auch nicht
dazu geeignet: es kam ihm lediglich darauf an, die öffentliche Meinung zu
bearbeiten. Wir lassen seine Motive, in denen er meist über das Ziel hin¬
ausschießt, bei Seite, und prüfen nur den Inhalt der Anträge, durch welche
er das Mißverhältnis) zwischen Staat und Kirche auszugleichen sucht. Er hat
sie in neun Paragraphen formulirt, die sowol durch ihre handgreiflichen Irr-
thümer, als durch das Positive, was sie enthalten, für die französische Bil¬
dung charakteristisch sind. Sie zeigen, daß die Idee der Centralisation auch
bei den leidenschaftlichsten Feinden der bestehenden Zustände so in Fleisch und
Blut übergegangen ist, daß sie alle ihre Anschauungen verwirrt.
1) Bereinigung der geistlichen und weltlichen Gewalt in der französischen
Souveränetät. — Das heißt freilich den Knoten zerhauen, es wäre aber nur
möglich durch einen Despotismus wie zur Zeit des Nationalconvents. In¬
dessen ist der Satz zu allgemein gehalten, um an ihn die Widerlegung zu
knüpfen. Die Folgerungen zeigen sich bei den einzelnen praktischen Vor¬
schlägen.
2) Verpflichtung des Klerus, in allen Lehranstalten die Moral nach der
Doctrin von 1739 vorzutragen. — In diesem Punkt tritt der Despotismus
des Princips, der die Beamten der Kirche und des Staats zu reinen Ma¬
schinen erniedrigt, schon deutlich hervor. Was Proudhon mit dieser Forde¬
rung bezweckt, wird einerseits durch Concurrenzschulen des Staats und der
Privaten, andererseits durch die den geistlichen Lehrern aufgelegte Verpflich¬
tung, sich denselben Bedingungen zu unterwerfen, denen die andern Lehrer
unterworfen sind, vollständig erreicht. Nicht Lehrzwang, sondern Lehrfreiheit.
3) Verpflichtung der Geistlichen, ihre Functionen bei Geburten, Heirathen,
Sterbefällen u. s. w. ohne Rücksicht aus das Glaubensbekenntniß der Bethei¬
ligten auszuüben. — Auch dies Ziel wird einfacher dadurch erreicht, daß der
Staat den Geistlichen Concurrenz macht d. h. daß die Civilbehörden verpflich¬
tet werden, auf die Anforderung der Betheiligten diese sonst den Geistlichen
zustehenden Functionen auszuüben.
4) Aufhebung der Klöster. — Wir dürfen kaum hinzusetzen, daß dieser
Wunsch unsere herzliche Beistimmung hat.
5) Aufhebung der ewigen Gelübde. Jeder Priester soll das Recht haben,
nach sechsjährigem Dienst seinen Stand zu verlassen und sich zu verheirathen.
— Wir glauben, daß der Staat weiter gehen kann, indem er jede Verfol¬
gung gegen einen Priester, der seinen Stand aufgibt, untersagt. Dieser
Punkt ist bei uns glücklich erreicht.
K) Wiedergabe aller geistlichen Güter an die Gemeinden und Verbot gegen
die Kirche, ein Geschenk anzunehmen. — Die Forderung ist hart, kaum ohne
Gewaltthat durchzuführen und es ist sehr fraglich, ob sie ihren Zweck erreicht.
So ist z. B. in den katholischen Provinzen Preußens, seit die Bischöfe ihre
Besoldung vom Staat empfangen, die Abhängigkeit derselben vom Staat
keineswegs vermehrt. Daß übrigens, um sehr naheliegenden Mißbräuchen
vorzubeugen, alle Schenkungen an die Kirche einer strengen Controle unter¬
worfen werden müssen, versteht sich von selbst.
7) Dem Priester soll verboten werden, sich an irgend einem finanziellen
Unternehmen zu betheiligen. — Wir erkennen nicht den geringsten Grund, der
den Staat veranlassen könnte, auf diese Weise in die Functionen der Kirche
einzugreifen.
8) Feststellung strengerer Strafen gegen die Geistlichen bei allen Verbre¬
chen, namentlich den Verbrechen gegen die Scham. — Im Allgemeinen ist
dieser Grundsah wol verwerflich, nur den Fall ausgenommen, wo die Geist¬
lichen ihre Amtsbcsugniß zu einem Verbrechen mißbrauchen.
9) Aufhebung der päpstlichen und bischöflichen Autorität und Aufhebung
der dem Geistlichen verstatteten Exemption vor Gericht. — Der letzte Punkt
ist der Kern des Ganzen. Das Recht soll ein allgemeines sein für die Geist¬
lichen wie für die Laien; es muß sich also auch aus einer gemeinschaftlichen
Quelle herschreiben. Dieser Punkt kann uns daran erinnern, daß auch in
unserm Concordat noch vieles zu revidiren übrigbleibt.
Wenn schon bei Proudhon in vielen Punkten die Uebereinstimmung mit
dem Protestantismus deutlich hervortritt, so ist diese Uebereinstimmung noch
mehr in dem Buch von Hymans hervorgehoben. Freilich ist es nicht ein
streng historisches Werk und man darf nicht mit den Anforderungen einer hi¬
storischen Monographie daran gehen, aber es ist geistvoll und lebendig ge¬
schrieben und die positiven Angaben, deren sich der Verfasser bedient, um seine
Ansprüche zu unterstützen, beruhen durchweg auf geschichtlich beglaubigten
Thatsachen. Wir machen hauptsächlich auf einen Punkt aufmerksam, den man
ost irrig auffaßt und dessen wahre Bedeutung in den belgischen Händeln am
besten zu Tage tritt. Das Symbol, welches die ultramontane Partei 1830
in Belgien auf ihre Fahne schrieb, war Freiheit der Kirche. „Wenn aus der
vollständigen Trennung dieser Gewalten," entgegnet Hymans, „eine vollständige
Entfernung des Klerus aus den Swapgeschäften hervorgehn könnte, so wären
wir die ersten, dieselbe als ein unfehlbares Mittel des Fortschritts zu be¬
trachten. Aber was wird aus der bürgerlichen Freiheit einer Kirche gegenüber,
die auf alle Functionen des staatlichen und bürgerlichen Lebens einen entschei¬
denden Einfluß beansprucht?" Dies ist der Umstand, aus den alles ankommt.
Die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat ist eine gerechtfertigte Forderung,
aber nur unter der Bedingung, daß zugleich die Unabhängigkeit des, Staats
und der bürgerlichen Gesellschaft von der Kirche garantirt wird. Der Ver¬
fasser hat sich ein großes Verdienst erworben, indem er von diesem Gesichts¬
punkt aus die Entwicklung Belgiens beleuchtet hat.
Die Aufsätze von Eduard Laboulaye sind aus dem ssouin^l ach
V6bg.t,8 von 1856. Bereits durch seine erste gekrönte Preisschrift: Die Ge¬
schichte des Eigenthums im Abendland, hat er sich eine ausgezeichnete Stellung
auf dem Gebiet der Rechtsgeschichte erworben; seine Ausgabe von Loiscts
„Institutes eoutuiMrss" und seine Verfassungsgeschichte der Nordamerika-
nischen Freistaaten, deren erster Band 1855 erschien, haben diese Stellung be¬
festigt. Er redigirt seit 1855 eine Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissen¬
schaft. Was in dieser Schrift am meisten Beachtung verdient, ist die Aner¬
kennung, daß der Protestantismus, ganz abgesehn von allen dogmatischen
Unterschieden, seinem Wesen nach die Religionsfreiheit fördert, während die ka¬
tholische Kirche sie ausschließt. Der Charakter der religiösen Wahrheit ist der
katholischen Kirche ein von dem der menschlichen Wahrheiten verschiedener.
Diese sind Wahrheiten, inwieweit wir sie als solche anerkennen. Im gewöhn¬
lichen Leben verlangt man von uns nicht, zu glauben, was unsere Intelligenz
verwirft. Anders ist es mit der Wahrheit, welche die katholische Kirche als
eine ewige und untrügliche darstellt. „Die Bereitwilligkeit, zu glauben, was
die Kirche glaubt," sagt Bossuet, „besteht in der Entsagung auf die eigne
Denkweise, wenn diese den Satzungen der Kirche entgegenläuft. Wer sein
individuelles Urtheil für richtiger als das der Kirche hält, ist ein Hochmüthiger,
ein Verdammungswürdiger, der, indem er die Einheit des Glaubens zerreißt,
sich auflehnt gegen das Gesetz der heiligen Kirchengemeinschaft: es ist ein
öffentlicher Feind, der die Seele verdirbt und gestraft werden muß. Die
Kirche bedient sich gegen die Empörung derselben Waffen wie der Staat; die
Anarchie zulassen, hieße sich selbst ausgeben." Diese Verfassung der Kirche,
diese ihre Art und Weise, die Wahrheit wie ein gebietendes Gesetz aufzu¬
fassen, ist die eigentliche Ursache ihrer Intoleranz, und diese Intoleranz hat
alle Umwälzungen in der Kirche, allen Wechsel der Zeit und der Ansichten
überlebt. Jede Toleranz ist ihr ein Preisgeben ihrer- Herde, und An solches
Opfer von der Kirche zu fordern/ ist man nicht berechtigt; sie brachte es nie
und wird es nie bringen. — Die Art und Weise, wie in neuesten Zeiten die
italienischen Bischöfe das östreichische Concordat verstanden, läßt uns in die
Tiefe ihrer Seele blicken. Vielleicht, will Oestreich durch diesen Act der Kirche
nur die Freiheit geben, allein nimmt man die Freiheit ausschließlich für sich
in Anspruch und gegen andere, so wird sie Tyrannei. Nur die echte Freiheit
löst dieses Problem, d. h. nicht ein Vorrecht, sondern die Rechtsgleichheit
aller. Die Intoleranz der Kirche bezüglich ihrer Glaubenslehre, ihres Cultus,
ihrer Disciplin ist durch ihre Verfassung geboten. Sie würde aufhören, die
katholische Kirche zu sein, stände ihr die unbeschränkte Macht in kirchlichen
Dingen nicht zu. Auch wenn die Kirche auf die Hilfe des weltlichen Arms
verzichtet, gibt sie ihre doctrinelle Unbeugsamkeit nicht aus, im Gegentheil,
grade wenn sie vom Staat sich trennt, findet sie im eignen Schoß die von
ihr gewünschte Hilfe, und hat die Hoffnung, durch ihre Jsolirung die eigne
Gerichtsbarkeit zu verstärken. — Im Gegentheil konnte die Reformation sich
nicht verwirklichen, ohne die Freiheit in ihrem Gefolge. Es gibt keine Kirche
in dem mystischen Sinn des Worts; die Religion ist Sache des Einzelnen.
keine höhere Autorität schreibt ein einförmiges Giaubensgcsctz vor. Das Kir¬
chenamt gibt dem Geistlichen nicht den geheiligten Charakter eines Richters;
es gibt nur Laien, aber jeder derselben ist Priester. De Maistre nennt den
evangelischen Geistlichen un Nonsiour Irg.biUö on loir yui an. ach elioses
Koimötes. Er ist ein Gläubiger, der keine andern Vorrechte hat als die seiner
Glaubensbrüder, und schon die Einfachheit seiner Kleidung belehrt ihn, daß
er sich von den übrigen Christen nicht unterscheide. „Die Grundlage unserer
protestantischen Religion," schreibt Milton an das Parlament, „ist die. daß
wir keine andern göttlichen Vorschriften, keine andere äußere Autorität, keinen
andern gemeinsamen Boden kennen als die h. Schrift. Und da diese nicht
anders begriffen werden kann als durch die Erleuchtung, so ist niemand sicher,
sie für alle Zeiten zu besitzen, und noch weniger, daß sie in einem andern
immer vorhanden sei. Hieraus folgt, daß kein Mensch, daß keine Corpora¬
tion ein unfehlbarer Richter in Religionssachen sein und daß jeder nur sich
selbst eine Entscheidung geben kann. Wenn die. welche das Kirchenrcgiment
führen, keine Zwangsgewalt üben können, einfach deshalb, weil sie nicht un¬
fehlbar sind und dem Gewissen nichts aufnöthigen können, ohne es zu über¬
zeugen, so'hat die bürgerliche Obrigkeit, welche in solchen Fällen nicht ein¬
mal berechtigt ist, ein Urtheil auszusprechen, noch weniger Gewalt dazu." —
Es ist eine eigne Ironie, daß diese altprotestantischcn Wahrheiten von einem
Katholiken unsern Hypcr-Orthodoxen ins Gewissen gerufen werden müssen!
Mit einer gründlichen Kenntniß der deutschen Philosophie ausgerüstet,
versucht Ausonio Franchi den Supranaturalismus in allen seinen Schlupf¬
winkeln zu verfolgen. Indem er sich hauptsächlich auf die Kritik der reinen
Vernunft stützt, zeigt er, daß die Fragen, welche jede Religion zu lösen ver¬
sucht, aus der Natur des menschlichen Empfindens und Denkens hervorgehn,
daß aber ihre Anstrengung an den ^Grenzen des menschlichen Erkenntnißver-
mögens erlahmt. Der Mensch hat den angebornen Trieb nach dem Uebersinn¬
lichen. Er hat ebenso den angebornen Trieb, sich das, was er nicht weiß,
nach den Analogien dessen, was er weiß, zurechtzulegen. Jede Religion be¬
antwortet diese Fragen zunächst in der Weise der Vorstellung, der Mytho¬
logie, des Bildes, wenn sie aber in ihrer weitern Entwicklung als Theologie
die Form der Reflexion anwendet, verfällt sie regelmäßig in falsche Schlüsse.
Das menschliche Erkenntnißvermögen steckt in Antinomien, die es durch keine
Anstrengung los wird. Es ist ihm z. B. ebenso unmöglich, sich die Zeit als
begrenzt zu denken, wie sie als unbegrenzt zu denken. Indem nun die Theo¬
logie, zwischen diese beiden Gegensätze das Mittelglied der Schöpfung ein¬
schiebt, gelingt es ihr doch nicht, jene Widersprüche des Denkens zu lösen,
denn der willkürlich gesetzte Zeitabschnitt gibt der Frage nach dem, was vor
diesem Act gewesen, neuen Spielraum, und so ist es mit allen Dogmen der
Theologie In der Regel nimmt sie dann auch die Wendung, eine doppelte
Vernunft vorauszusetzen, eine überirdische und eine irdische, von welchen die
eine die Gesetze der andern aufheben soll. Im Grund verfällt die Meta¬
physik in denselben Fehler. Auch der Pantheismus wie der Materialismus
gehn von Ideen aus, welche jene dem Erkenntnißvermögen immanente Anti¬
nomie außer Acht lassen, und verfallen daher ebenso der logischen Kritik. Es
hilft der Theologie nichts, wenn sie sich mit ihren Lehren auf eine höhere
Offenbarung beruft, denn auch bei der Offenbarung ist die menschliche Ver¬
nunft genöthigt, ihre ewigen Gesetze in Anwendung zu bringen: sie kann
überhaupt nicht denken, wenn sie nicht nach diesen Gesetzen denkt. „Wenn es
euch," ruft der Verfasser seinen Gegnern zu. „genügt, um diesem unvermeid-
lichen Schluß zu entgehn, euch eine Welt zu träumen, die außer und über der
Natur steht, wo das Fabelhafte wahr, das Chimärische wirklich, das Absurde
vernünftig wird, so thut es immerhin, wir werden euern Frieden nicht stören.
Schlaft und träumt nach Belieben; wenn ihr aber mit uns disputiren wollt,
so wartet ab, bis ihr erwacht seid, bis ihr den Gebrauch der Sprache, die
von den Wachenden gesprochen wird, wiedererlangt habt, denn nur dann
können wir euch versteh»." Weit gefährlicher für das praktische Leben aber
als die Idee eines doppelten Denkgesetzes ist die Idee eines doppelten Rechts,
denn sie würde allen Rechtsbegriff überhaupt aufheben; und hier weist der
Verfasser sehr glücklich nach, daß die Theologie mit ihrer Behauptung eines
offenbarten Rechts sich stets in Illusionen verliert, daß sie doch regelmäßig
ihr übernatürliches Recht vor dem angebornen Gewissen zu rechtfertigen sucht,
und er setzt hinzu, daß es unter diesen Umständen einfacher ist , es bei dem
letztern bewenden zu lassen.
Histor^ qf I'risÄrieb II. ok I^ussis., ealleä ?röäeriol: tuo Ki-cat. 1'Iioing,8
'Okrl^is. vox^riZIit Däitior>. I>sixiiig, L. TÄuodnit-i (volleetion ok
Lritisb ^.utbors, laue-Knit-s Däition). Vol. 1—5.
Erst seit kurzer Zeit ist Macaul aus Abhandlung über Friedrich den
Großen bei uns bekannt geworden, die man. obgleich sie schon 1842 geschrieben
war, bis dahin dem deutschen Publicum vorenthalten hatte. Wäre der Ruf
des berühmten Geschichtschreibers nicht über alle Anfechtung sicher gestellt, so
würde sich wahrscheinlich ein allgemeiner Schrei der Entrüstung dagegen er-
hoben haben, denn Friedrich gehört zu den wenigen deutschen Helden, deren
Andenken sich das Volt nicht gern verkümmern läßt. Aber auch auf den¬
jenigen, der sich in seinem Urtheil nicht durch volksthümliche Sympathien be¬
stimmen läßt, mußte das Verfahren Macaulays einen sonderbaren Eindruck
machen. Jeder Biograph bemüht sich zunächst, bei seinem Helden den Kern
seines Wesens zu entdecken, und bei der künstlichen Gruppirung der Thatsachen
diesen Kern so scharf hervortreten zu lassen, daß alle andern Eigenschaften
im Hintergrund bleiben. Bei Friedrich waren Bewunderer und Gegner darüber
einig gewesen, daß man hauptsächlich seine Kriegsthaten ins Auge zu fassen
habe, an die sich dann seine staatsmännischen Talente und alles Uebrige an¬
reihe. Macaulay hat dagegen einen Gesichtspunkt entdeckt, der durch seine
Neuheit überrascht: er legt bei seinem Urtheil Friedrichs Gedichte zu Grunde
und bringt durch den seltsamen Contrast der in ihnen ausgesprochenen Ge¬
sinnungen gegen das, was Friedrich wirklich gethan, ein komisch verzerrtes Bild
hervor, das freilich sehr unterhält, das aber der geschichtlichen Wirklichkeit nicht
entspricht. Die Fratze liegt blos in dem sonderbaren Gesichtspunkt des Ge¬
schichtschreibers. Denn es gibt keine auch noch so classisch vollendete Natur,
für die man nicht eine Perspective ausfinden könnte, in der sie einen possen¬
haften Eindruck macht. Freilich ist es auf der andern Seite ein Verdienst,
eine Figur, die man bis dahin nur im Profil zu sehn gewohnt war, von
einem andern Punkt aus abzubilden. Bei einem geistvollen Künstler, wie es
Macaulay unzweifelhaft ist, wird man immer viel daraus lernen.
Wir haben schon früher darauf aufmerksam gemacht, daß man dieses
absprechende Urtheil über Friedrich bei den neuern englischen Schriftstellern
nicht selten findet: es ist eine natürliche Reaction gegen die übertriebene Ver¬
götterung, mit welcher früher das englische Publicum dem Sieger bei Ro߬
bach entgegenkam. . Carlyle bemüht sich nun in dem vorliegenden Werk,
diesen Urtheilen seiner Landsleute entgegenzutreten und dem deutschen Volk
gewissermaßen eine Ehrenerklärung zu geben. Indem er nach dem gründ¬
lichsten Quellenstudium alle Details, die man überhaupt, wissen kann, auch
die possenhaften und widerwärtigen nicht ausgeschlossen, auf das umständlichste
zusammenstellt, findet er in der jugendlich warmen Empfänglichkeit seines Ge¬
müths für alles Große die Beleuchtung, welche die einzelnen Züge des Ge¬
mäldes in ihrem richtigen künstlerischen Verhältniß klar und entschieden hervor¬
treten läßt.
Wie ausführlich die Darstellung ist, geht schon daraus hervor, daß die
fünf ersten Bände nur den Zeitraum bis zur Thronbesteigung des Königs
umfassen. Freilich enthält der erste Band efne allgemeine Einleitung, die
Geschichte des preußischen Staats, die für das englische Publicum sehr noth¬
wendig war, weil es sich von den natürlichen Voraussetzungen dieser Geschichte
noch immer sehr falsche Vorstellungen macht: eine Einleitung, in der Carlyle,
der so sehr verschriene Romantiker, einen scharfen staatsmännischen Blick ver¬
räth. Aber die andern vier Bände behandeln nur die Regierungszeit Fried¬
rich Wilhelms I., die doch an Thatsachen nicht sehr ausgiebig war. Wie die
Breite der Darstellung zu Stande kommt, wird man aus einem einzelnen
Beispiel ersehn. Bei der berühmten Reise, auf welcher der unglückliche Flucht¬
versuch des Kronprinzen stattfand, findet Carlyle in seinen Quellen über die
Umstände wenig Data; er ergänzt sie aber dadurch, daß er die Karte zur
Hand nimmt, sich unterrichtet, wer auf allen Stationen wohnte, was sich für
historische Erinnerungen daran knüpfen und nun sich in die Seele der einzel¬
nen Reisenden versetzt und sich ihre Betrachtungen darüber zu versinnlichen
sucht. Für den streng historischen Stil ist ein solches .an die Novelle erinnern¬
des Verfahren freilich nicht geeignet, aber es thut doch seine Wirkung. Mau
wird dadurch nicht blos im Allgemeinen angenehm unterhalten und belehrt,
sondern der Verfasser hat auch so viel künstlerischen Instinct, daß durch dies
episodische Beiwerk die dramatische Spannung des Ereignisses bedeutend er¬
höht wird. Wenn der pragmatische Geschichtschreiber seinem Ziel aus dem
geradesten Wege entgegeneile, so hat Carlyle ein Auge für alles. Ihm ent¬
geht aus dem ganzen Wege keine ausfallende Erscheinung, und doch kann
man nicht sagen, daß ihn diese allseitige Aufmerksamkeit zerstreut; denn in
seiner Seele lebt zugleich mächtig die Idee, die das charakteristische Bild des
Ganzen immer von neuem wieder auffrischt.
Wir Deutsche haben eigentlich Carlyle viel zu' danken. Wir haben im
-Ausland keinen wärmeren Freund, keinen unermüdlicheren Vertreter, und was
noch mehr sagen will, seine Liebe zu uns wird zugleich durch eine scharfe
und zuweilen tiefe Einsicht in unser Wesen getragen, und doch sind wir nicht
selten undankbar gewesen, ja wir wollen gestehn, es ist schwer, sich ihm gegen¬
über einer gewissen Undankbarkeit zu erwehren. Von der Unordnung und
Verwilderung unseres Stils, die sich von unsern Philosophen, unsern Roman¬
tikern, unsern Germanisten herschreibt, und der jeder einzelne Schriftsteller sich
erst mit schwerer Anstrengung entwinden muß, pflegen wir Trost bei den Eng¬
ländern zu suchen, die bis aus das letzte Jahrzehnt hin im Durchschnitt einen
gesunden Mutterwitz und ein natürliches, durch die Reflexion noch nicht zerfresse¬
nes Gefühl zeigen, das uns die Empfindung der Gesundheit einflößt. In
Carlyles Sprache dagegen finden wir unsre eignen Unarten im verstärkten
Maß wieder, und das wirkt um so unangenehmer, da wir uns des beschä¬
menden Gefühls nicht erwehren können, daß er sie uns abgelernt hat. Viele
seiner Wendungen kann nur ein Deutscher verstehn, so entschieden widerspricht
seine Satzbildung, ja seine Wortbildung dem Genius der englischen Sprache.
Die Gewaltthätigkeiten, die wir uns, namentlich seit dem Vorgang Jean
Pauls und Hegels gegen die Syntax und Grammatik im Allgemeinen erlau¬
ben, erscheinen uns gar nicht gewagt, wenn wir Carlyle damit vergleichen.
Den Uebersetzer beneiden wir nicht, der sich bemühn muß, die offenbaren
Jnconectheiten des Originals durch entsprechende Fehler unsrer eignen Sprache
wiederzugeben. In dieser Beziehung ist das neue Werk ebenso reich an Sün¬
den als die frühere Geschichte der französischen Revolution. Aber wir lassen
uns diesmal nicht darauf ein, da wir schon bei einer frühern Gelegenheit
unsere Mißbilligung so scharf als möglich ausgesprochen haben.
Wie eine so bedeutende, durch und durch wahre Natur zu dieser seltsamen
Verirrung kommt, ist leicht zu begreifen. Die Engländer und auch die Fran¬
zosen verdanken die Durchsichtigkeit ihres Stils wenigstens zum Theil einer
Einseitigkeit ihrer Bildung. Seit vielen Jahrhunderten an Parlamente und
an Geschworene, kurz an eine Redekunst gewöhnt, in welcher der Einzelne,
um die Menge zu überreden, sich ihren Voraussetzungen und Vorurtheilen an¬
bequemen muß, haben sie sich allmälig eine Redeweise angeeignet, die
nicht individuell hervorgegangen, sondern traditionell überliefert ist und die
nicht selten in das Uebermaß übergeht, welches die Engländer selbst als Carl
bezeichnen, eine Sprechweise, in welcher der Einzelne der überlieferten Sprache
überläßt, für sich zu denken. Bei kräftigen, ursprünglichen Naturen ist eine
heftige Abneigung gegen diese Trivialität des Denkens und Empfindens eben¬
so begreiflich, wie der Versuch, diesem Zwang der öffentlichen Meinung gegen¬
über recht originell und selbstständig zu denken, d. h. anders zu denken als
alle Welt denkt. Die beiden naheliegenden Abwege dieses Versuchs sind, daß
man entweder wirklich in eine verkehrte Logik verfällt, oder sich wenigstens
eine Manier des Stils aneignet, die das Gemeingefühl vor den Kopf stößt.
Das Letzte ist bei Carlyle der Fall, und man muß nicht selten alle Kunst¬
griffe der Philologie zu Hilfe nehmen, um hinter den wahren Kern seine
Meinung zu kommen, wobei man gewöhnlich entdeckt, daß er dasselbe vie
einfacher hätte ausdrücken können.
! In Carlyles Natur ist die Wahrheit zur Leidenschaft geworden, und der
Haß gegen die Lüge, gegen die Heuchelei, gegen den Phansäismus in allen
Formen ist der Leitton seiner Schriften. Es ist ihm ein inneres Bedürfniß,
alle die scheinbaren Motive aufzulösen, womit die Menschen sich selbst betrü¬
gen. Die natürliche Kunstform dieses Empfindens ist die Ironie, und man
kann nicht leugnen, daß er diese Ironie zuweilen blutig zu handhaben weiß.
Bekanntlich hat sich eine ganze Schule von Schriftstellern nach ihm gebildet,
worunter Thackeray, Kingsley, Currer Bell und Lewes die nam¬
haftesten sind. Sie haben auch in Deutschland um so mehr Anklang gefun¬
den, da sie sich von den grammatischen Jncorrecthciten ihres Vorbildes im
Ganzen stet gehalten haben. Geht man aber auf den Kern der Sache ein,
so steht Carlyle auf einer viel höhern Stufe der Bildung. Bei dem gewöhn¬
lichen Ironiker findet man fast durchweg Schadenfreude, nicht grade Freude
am Schlechten selbst, aber Freude an der Darstellung des Schlechten. Von
diesem Fehler ist Carlyle ebenso frei wie seine Schule. Im Gegentheil zeigt
sich bei ihnen durchweg eine überquellende Menschenliebe und ein Sinn für
das Gute, der sich nicht verdrießen läßt, auch die unscheinbarsten Gegenstände
zu durchwühlen, um die Spuren desselben mit Freude aus dem Schutt her-
vorzuziehn. Aber eins geht den andern ab. was Carlyle im hohen Maß
besitzt: der Sinn für das Große. Thackeray geht in der Virtuosität seiner
Analyse so weit, er findet die guten und bösen Eigenschaften der Menschen so
unauflösbar ineinander verstrickt, daß die .feste individuelle Gestalt verloren
geht, daß er mit einem beständigen wehmüthigen Lächeln das Große herab¬
drückt und das Kleine erhöht. Anders bei Carlyle. Sein Gefühl fürs Große
geht nicht selten in Leidenschaft über, und wenn er den Cultus des Genius
predigt, so ist das bei ihm nicht Dogma, sondern Jnstinct. Er läßt sich
durch die Widersprüche einer mächtigen Natur nicht irren, er weiß sehr wohl
die Reflexion, aus der geniale Menschen ihre Handlungsweise vor ihrer an¬
gelernten Moral zu rechtfertigen suchen, von ihrem genialen Jnstinct zu unter¬
scheiden. Es irrt ihn nicht, wenn sie mit einer gewissen Heftigkeit Maximen
vertreten, die ihren Handlungsweisen entgegengesetzt sind; wenn z. B. Crom-
well den einen Tag in seinen Reden sich ganz in den Willen Gottes ergibt,
den andern Tag mit schärfster Weltklugheit und ohne alle Rücksicht auf den
Codex der Moral seine Handlungsweise einrichtet, es irrt ihn nickt, wenn
Friedrich in seinen Elegien das Glück des Friedens preist, und sich mit wil¬
der Kampflust in den Krieg stürzt, wenn er den Macchiavell widerlegt und
in seiner Politik Grundsätze befolgt, die denen des Florentiners wenigstens
nicht widersprechen. Er findet den Kern der Wahrheit nach beiden Seiten
heraus, denn er weiß, daß seine Helden nicht systematische Philosophen, son¬
dern concrete Naturen sind, die hinter den anscheinenden Widersprüchen einen
sehr festen energischen Charakter verbergen.
Von diesem Standpunkt aufgefaßt, ist auch das vorliegende Buch eine
sehr erhebende Lectüre. Wenn Macaulay schon aus Friedrich dem Großen
ein Zerrbild macht, so erscheint bei ihm Friedrich Wilhelm I. grcidezu als
Monstrum, als ein Ungeheuer, sür welches sich in der menschlichen Natur
gar keine Analogien vorfinden. Für den Augenblick hat er ganz vergessen, daß
sich die Zeiten mit den'Sitten ändern, daß man in der Periode Friedrich
Wilhelms I. rascher mit dem Stock bei der Hand war, als 150 Jahre später,
und daß es an willkürlichen Todesurtheilen damals auch anderwärts in Deutsch¬
land nicht gefehlt hat. Carlyle erzählt von dem König dieselben Geschichten
wie Macaulay, er erzählt sie noch vollständiger und eindringender, und doch
sehen wir bei ihm alles aus der menschlichen Seele hervorgehn, wir erkennen
hinter dem jähzornigen Tyrannen ein echtes, der Wahrheit zugethanes Ge¬
müth, hinter dem possenhaften Corpora! mit seiner Manie für große Sol¬
daten einen sehr energischen gesunden Menschenverstand, der, wo ihn die
Leidenschaft und das Vorurtheil nicht verblendete, sehr entschieden das Wesent¬
liche zu treffen wußte. Und es ist richtig so. Wir Deutschen sind freilich
über diesen Charakter niemals im Unklaren gewesen, unsere Geschichtschreiber
haben ihn in derselben Weise dargestellt, aber es freut uns, bei einem geist¬
vollen, tiefsinnigen und welterfahrenen Fremden dasselbe Bild in schärferen
Schlaglichtern wiederzufinden.
Noch in einer Beziehung möchten wir das Buch unsern preußischen Lands¬
leuten empfehlen. Es ist jetzt immer viel die Rede von alter guter Zeit, von
altpreußischen Adel u. s. w. Im General Grumkow gibt uns nun Car-
lyle ein Bild dieser alten guten Zeit, einen märkischen Junker des t8. Jahr¬
hunderts; er schildert ihn nicht als ein Ungeheuer, er zeigt auch hier, , wie
alles zusammenhängt; er verschweigt auch seine guten Seiten nicht, aber er
unterläßt doch nie, wenn auf ihn die Rede kommt, den Stoßseufzer: warum
fand sich nicht ein Strang für den Nacken dieses selten Verrüthcrs!
Bon allen Ländern Europas hat ohne Zweifel dasjenige, dessen Bewoh¬
ner am wenigsten reisen, Italien, von jeher aus die Reisenden andrer Länder
am meisten Anziehungskraft geübt. II» xssM al ciel es-auto in terrg,! mit
diesem Ausdruck des Enthusiasmus, dessen der Italiener nur die Küste des
Golfs von Neapel würdig findet, begrüßt der Nordländer schon die lachende
Natur, die sich am Fuß der Alpen seinem Blick öffnet. Je weiter er vor¬
schreitet, desto mehr sieht er sich überall von den Trümmern einer versunkenen
Welt umgeben, die bedeutungsvoll und anregend in die Gegenwart hineinra¬
gen. Eine mehr als zweitausendjührige Vergangenheit hat jedem Zollbreit
des Bodens ihre Stempel aufgedrückt. Wie die Schichten der Gebirge sind
die Neste der aufeinanderfolgenden Culturperioden übereinandergclagert. Das
Größte und Schönste, was die Kunst des Alterthums und der neuern Zeit
hervorgebracht hat. ist hier in einer verwirrenden Fülle zusammengedrängt.
Das Leben des Südens gestaltet sich hier in den edelsten und anmuthigsten
Formen. Doch wie ließen sich all die Eigenschaften einzeln aufzählen, die in
ihrer Vereinigung dem wundervollen Lande seinen unwiderstehlichen Zauber
leihen!
Von allen Nationen hat die unsre sich immer am mächtigsten nach Ita¬
lien gezogen gefühlt. Für unsre edelsten Kräfte hat sich seine Atmosphäre,
sonst eine berauschende und erschlaffende, von jeher als belebend erwiesen.
Winckelmann hat sich hier zu einer Höhe der Ltnnstanschauung aufgeschwungen,
aus die sein Zeitalter ihm kaum zu folgen vermochte. Goethe hat hier eine
Wiedergeburt erlebt. Für unsre bildende Kunst ist hier eine neue Epoche an¬
gebrochen, so schön und reich, wie sie noch keine aufzuweisen hatte.
Eine Uebersicht der wichtigsten Reisebeschreibungen Italiens, die in den
legten hundert Jahren von Deutschland erschienen sind, ist darum wol den
Lesern dieser Blätter nicht unwillkommen, da wir mit Recht gewohnt sind, das
schöne Land als ein unserm Vaterlande geistig verschwistertes zu betrachten.
In sofern als sich daraus die während dieses Zeitraums eingetretenen Verän¬
derungen italienischer Zustände ergeben, hat sie nur ein secundäres Interesse:
denn Italien ist in der neuern Zeit eins der stabilsten Länder von Europa
gewesen und man ist erstaunt, wie vieles heute noch gilt, was vor hundert
Jahren geschrieben ist. Ein höheres Interesse gewinnt eine solche Uebersicht
-dadurch, daß die einzelnen Werke herrschende Richtungen der betreffenden Perio¬
den Ins auf einen gewissen Grad widerspiegeln: in jedem Menschenalter ist
Italien mit andern Augen gesehn, die Aufmerksamkeit der Betrachter vorzugs¬
weise aus einen andern Punkt gerichtet gewesen. Hier sollen nur solche Rei¬
sen erwähnt werden, die in irgend einer Hinsicht bedeutend oder charakteristisch
sind: eine Art von Literatur wird durchaus nicht beabsichtigt. Die älteste be¬
deutendere deutsche Beschreibung Italiens in der neuern Zeit ist von Johann
Georg Keyßler (geb. 1690, geht. 1743), ein zu seiner Zeit hochbcrühmtes und
auch jetzt noch nicht ganz vergessenes Buch. Der Verfasser, ein vielseitiger
und gründlicher Gelehrter, in Naturwissenschaften, Alterthümern und Literatur
wohl erfahren, unternahm sie 1729—17-31 in Begleitung zweier jungen Gra¬
fen Vernstors; die dritte Ausgabe in zwei sehr starken Quartbänden erschien
1776. . Das Buch hatte auch im Ausland Erfolg, und wurde nach Volkmann
in einer Uebersetzung von reisenden Engländern als Handbuch benutzt. Als
solches (freilich in einem für unsre Begriffe kolossalen Maßstab) ist es anch
angelegt. Von der Person des Reisenden erfährt man so gut wie gar nichts,
geschweige daß sie den Mittelpunkt der Darstellung bildete. Es ist eine um¬
fassende und gründliche Beschreibung der einzelnen Staaten, ihrer Lage. Bevöl,
kerung und Verfassung, die Sehenswürdigkeiten der Städte, Kirchen, Museen,
Bibliotheken, Sammlungen, Naturmerkwürdigkeiten werden ausführlich behan¬
delt und eine große Menge lateinischer Inschriften dem Wortlaut nach mitge¬
theilt (bekanntlich ist kein Land in der Welt so reich an Inschriften wie Ita-
lien). Am Schlüsse jeder Stadtbcschreibung folgt eine Schilderung der Lebens¬
art, Sitten und gesellschaftlichen Zustände, wobei es auch an Anekdoten nicht fehlt.
Im Ganzen aber ist die Absicht keineswegs auf Unterhaltung, sondern auf
Belehrung des Lesers gerichtet. Keyßler ist ein guter Beobachter und gewissen¬
hafter Erzähler: seine gelegentlichen Scherze über Reliquienverehrung und andre
katholische Dinge, die Volkmann rügt, sind höchst harmlos und unschuldig.
Seine persönliche Empfindung tritt nur ausnahmsweise hervor, es fehlt ihm
keineswegs an lebhaftem und warmem Gefühl für die Schönheiten der Na¬
tur und Kunst, er äußert es aber stets in der bedächtigen, gemessenen und
steifen Weise, die damals für anständig galt.
Winckelmanns Aufenthalt in Rom (1755—1768) regte in Deutschland
die Sehnsucht nach Italien für die nächsten Jahrzehnte mächtig auf. - Schon
seine ersten kleinern Schriften zündeten in weiten Kreisen, man vernahm die
Kunde von seinem „hohen Kunstleben" in Rom aus den Briefen an seine
Freunde, wie Goethe in seinem Leben erzählt, vor allem weckte seine Geschichte
der Kunst (1763) einen neuen Enthusiasmus für die Heimath der schönen
Künste. Ein Hamburger, der das Glück gehabt hatte, Winckelmanns Bekannt¬
schaft zu machen und in seiner Gesellschaft die Tempel von Pästum zu besuchen,
Dr. Volkmann gab 1770 ein neues Werk über Italien heraus: Historisch¬
kritische Nachrichten von Italien u. s. w., drei sehr starke Octavbände.
Das Buch wurde an der Stelle des Keyßlerschen das gangbarste Reisehand¬
buch über Italien und blieb es bis zum Ende des Jahrhunderts, auch Goethe
hat sich seiner bedient. Form und Anordnung sind ganz wie bei Keyßler:
man erfährt kaum, daß der Verfasser Italien selbst gesehen hat, obwol er
nicht weniger als anderthalb Jahre dort war. Heutzutage wird der dritte
Theil dieser Zeit sür genügend erachtet, um die Welt mit einem neuen Buch
über Italien zu beglücken, ohne daß man sich viel darum kümmert, was an¬
dere vorher geschrieben haben. Volkmann hat daher alle frühern Reisebeschrei-
bungen sorgfältig studirt und benutzt, ja er ist bescheiden genug gewesen, ein
französisches Werk von la Lande dem seinigen zu Grunde zu legen. „Da die
Behebung der Kunst und vorzüglich der Gemälde." sagt er, „bei den meisten eine
Hauptursache der Reise nach Italien ist, so haben wir uns auch am ausführlich¬
sten dabei aufgehalten." Bei den bedeutenderen Antiken werden die betreffen¬
den Stellen aus Winckelmann citirt. In Bezug auf die Kunst ist der Ver¬
fasser natürlich ganz im Geschmack jener Zeit befangen, welche gothisch und
barbarisch für identisch hielt, das Mittelalter verachtete oder ignorirte und die
Wiedergeburt der Künste von Rafael datirte. Vom Mailänder Dom sagt er
(I. 242): „Inwendig ist die Kirche ganz im gothischen Geschmack wie die
Kathedralkirchen in Paris, Straßburg, Pavia und andern Städten. Diese
großen Gebäude haben wegen der spitzig zulaufenden Bogen nicht so viel Festig'
keit, als wenn sie mit zirkelförmigen Gewölben und nach den reinen Verhält¬
nissen der Griechen aufgeführt wären. Es fehlt ihnen das gefällige und zu¬
gleich feste Ansehen, sie verdienen nur wegen ihrer Große, wegen der weiten
Bogen, der dreisten Baukunst, der Verhältnisse einiger besonderer Theile und
des erstaunlichen Fleißes in den Zierrathen die Aufmerksamkeit der Kenner."
Den Maler, der gegenwärtig unter den Italienern der vorrafaelischen Zeit der
populärste ist, Benozzo Gozzoli, kennt er nicht einmal dem Namen nach. Er
spricht nur von den ältern Fresken des Campo Santo zu Pisa ausführlich, und
zwar wegen ihrer seltsamen Gegenstände: die ganze herrliche Reihe von Ge¬
schichten des alten Testaments von Benozzo, die allein mehr werth sind als
alle übrigen Bilder in Pisa zusammen, scheint er ganz unbeachtet gelassen
zu haben, er erwähnt nur ihr Vorhandensein und nennt den Maler Benelzo
(I. 579). Auf der andern Seite Hannibal Carcicicci mit Rafael gleichgesetzt.
„Den von ihm gemalten Plaford im Palast Farne," heißt es, „kann man den
großen Malereien Rafaels an die Seite sehen,welche weder so schön colorire
und erhalten sind, noch so angenehme Gegenstände vorstellen. Freilich hat
der Maler Gegenstände aus der Fabel genommen, und die Figuren meistens
sehr nackend vorgestellt. Man muß sie von der Seite der Kunst betrachten,
und nicht nach der strengsten Moral" (II. 413).
Rom war damals für alle Reisende von so überwiegender Wichtigkeit,
daß die übrige Reise in Italien nur als Einleitung oder Anfang zu dem dor¬
tigen Aufenthalt erschien: in dem Werk Volkmanns ist ihm der ganze zweite
Band gewidmet. Abbaten trieben das Handwerk, Fremde als sogenannte
arti^uarii zu führen, sie waren meist sehr oberflächlich unterrichtet und ließen
sich theuer bezahlen. Bekanntlich war auch Winckelmann lange Zeit zu die¬
sem Erwerb gezwungen, wobei er namentlich oft Gelegenheit hatte, sich über
die Empfindungslosigkeit der Engländer zu ärgern. Drei Monate erklärt Volk¬
mann sür die kürzeste Zeit, die ein Reisender auf Rom verwenden könne, obwol
viele nur sechs Wochen da blieben (was gegenwärtig bei der Mehrzahl der
Touristen sür sehr lange gilt). Wie unsere Urgroßväter die Ueberreste des
Alterthums betrachteten, mag folgende Stelle über das Forum zeigen: „Dem
Liebhaber des Alterthums ist die einsame Promenade auf diesem Platz die
wichtigste; er kann sich die Lage der alten Gebäude nach unsrer Beschreibung
genau vorstellen und zugleich Betrachtungen über die großen Revolutionen in
Rom, und über die Vergänglichkeit der irdischen Dinge anstellen. Wer feine
Empfindungen hat, wird diese Oerter gewiß nie betreten, ohne von einer Art
sanfter Traurigkeit hingerissen zu werden, und einen heftigen Schauer zu em¬
pfinden" (I. 522).
Ueberhaupt sah man von Italien damals in der Regel nur die größern
Städte und deren nächste Umgebungen, alle ferner gelegenen, durch Alterthü-
mer oder Natur merkwürdigen Punkte waren theils unerreichbar, theils un-
entdeckt, nicht einmal die Eingebornen kannten sie. Selbst die nächsten Um¬
gegenden der Hauptstädte waren noch unvollkommen bekannt. Kein Reisender
besuchte z.B. von Florenz aus das wenig entfernte Fiesole, und noch weniger
wußte man damals etwas von dem Maler, dem dieser Ort seinen Nuhm
verdankt. Von Rom aus wurden allerdings Ausflüge in die Albaner- und
Sabinerberge gemacht, auch beschreibt Volkmann Cori und Palestrina, aber
noch spannte kein Landschaftsmaler in Olevano oder Subiaco seinen Schirm
auf, noch untersuchte kein Antiquar die cyklopischen Mauern der alten Volsker-
städte. Um Neapel wurden allerdings die Orte, die Ruinen enthielten, ge¬
wissenhaft durchwandert: aber von Pompeji, wo die Grabungen 1755 begon¬
nen hatten, war nur ein Theil der Gräberstrecke nebst dem Stadtthor und
ein geringer Theil der Stadt aufgedeckt (II. 318). Die Tempel von Pästum
wurden erst 1752 von einem neapolitanischen Maler entdeckt, dessen Skizzen
einige Engländer sahen und dadurch veranlaßt wurden den Ort zu besuchen.
„Von der Zeit an wurden die Neapolitaner, welche bisher nicht wußten, daß
die Ueberbleibsel einer ganzen Stadt in ihrer Nachbarschaft standen, aufmerk¬
sam" (II. 332). Noch unvollkommener waren die Naturschönheiten dieser
wundervollen Küste bekannt. Von Sorrent spricht Volkmann gar nicht, von
Capri^) weiß er weiter nichts, als daß Tiber dort abscheuliche Ausschweifun¬
gen begangen, von Ischia, daß es herrliche Schwitzbäder hat und von Procida,
daß dort die Fasanen des Königs von Neapel gehalten wurden. „Vor fünf¬
zehn Jahren war den Einwohnern deshalb verboten worden Katzen zu halten;
in Folge dessen vermehrten sich die Ratten so, daß nichts mehr sicher war,
nicht einmal neugeborne Kinder. Sie bestreuten deshalb bei einer Anwesen¬
heit des Königs den Weg mit vielen hundert erschlagenen Ratten, und stellten
ihm ihre Noth fußfällig vor, worauf die Katzen wieder erlaubt wurden" (III.
26»). Gewesen ist Volkmann, wie es scheint, auf keiner von all diesen In¬
seln. Uebrigens dürften im zwanzigsten Jahrhundert die heutigen Reisen in
Italien in dieser Beziehung ebenso unvollständig gefunden werden, als wir
die des achtzehnten finden. -
Italien ist das einzige Land, in dem man noch heute vielsültig so reist
wie vor hundert Jahren, nämlich mit Vetturinen; nur waren die zweirädrigen
Sedien, in denen sich auch Goethe noch fortschleppen ließ, unbequem genug
und die Fahrt eine leidige, während sie jetzt, in bequemen Wagen meist eine
sehr angenehme ist. Wesentlich verändert hat sich die Communication nur
in Oberitalien durch die Eisenbahn (die wenigen Strecken auf der eigentlichen
Halbinsel wollen noch nicht viel bedeuten); sodann die Uebergänge über die
Alpen (im vorigen Jahrhundert passirte man gewöhnlich entweder den Mont
Cenis oder den Brenner); am meisten die Verbindungen zur See, die auf der
Westküste durch die schönen und prächtig eingerichteten englischen und franzö¬
sischen Postdampfer, auf der Ostküste durch die weniger eleganten, aber viel billi¬
gern Schiffe des östreichischen Lloyd unterhalten werden, von den verschiedenen
italienischen nicht zu reden, die meist nur bei gutem Wetter fahren und selten
zuverlässig sind. Keyßler machte die Fahrt von Genua nach Livorno in so¬
genannten Felukken oder Brigantium, kleinen Ruderschiffen ohne Verdeck zu
zehn bis zwölf Personen, die sich aber nicht auf die hohe See wagen konnten,
erstens wegen ihrer leichten Bauart und dann weil man vor den Corsaren
aus den Barbareskenstaaten auf der Hut sein mußte. In den Briefen über
Sicilien und Malta vom Grafen Borch 1777 glaubt man sich in die Zustände
der Schiffahrt zurückverseht, wie sie etwa die Odyssee schildert. Die Reisen¬
den bedienten sich einer maltesischen Speranara, eines kleinen Fahrzeugs von
sechs Rudern, von der Größe einer halben Felutke, ohne Bodenverdeck; ihr
Schiff, das 36 Schuh Länge maß, war eins der längsten dieser Art. „Die
Schiffleute sind so bewandert in diesem Element, daß sie den Tag über bevor¬
stehende Veränderungen der Luft vorherzusagen wissen, .und sobald sie Gefahr
wittern, wagen sie sich nie auf das hohe Meer, sondern vestreichcn immer die
Küsten. Da diese Schiffe sehr klein, leicht und platt sind, so suchen sie bei"
dem kleinsten Sturm Sicherheit und werden mit Hilfe einer doppelten Zug¬
rolle ans Land gezogen" (I. 5). Ein Sirocco bannte den Reisenden oft
wochenlang an die unwirthbare Küste von Calabrien (I. 13). Auf der Ueber-
fahrt von Syrnkus nach Malta schreibt der Verfasser an seinen Freund:
„Wenn uns die Türken unterwegs nicht wegnehmen, zso werden Sie sicher
bald etwas von mir erfahren, sollten Sie aber aus meinem Stillschweigen,
ein Unglück ahnden, so denken sie aus meine Erlösung, wenn ich inzwischen
mit dem Grabscheit in der Hand in dem Garten des Serails von irgend ei¬
nem afrikanischen Fürsten arbeiten werde" (I. 12'7). Bei diesen Schnecken¬
fahrten brauchte man von Palermo bis Neapel zwölf Tage! (II. 103.)
Der erste namhafte deutsche Reisende, der sich über Pästum hinauswagte,
war der Baron von Riedesel, an den Winckelmann von Rom aus zahlreiche
Briefe gerichtet hat; er nennt ihn den einzigen Reisenden, mit dem er einen
beständigen Briefwechsel unterhalte, rechnet ihn unter seine besten Freunde
(ein anderer war Mengs) und schreibt aufs zärtlichste an thu. Wie
man von einem Mann erwarten muß, den Winckelmann so schätzte,
wird seine kleine Schrift (Reise durch Sicilien und Großgriechenland 1771)
von allen Spätern aufs höchste gelobt. Goethe trug sie wie ein Brevier oder
Talisman bei sich; der treffliche Mann war ihm ein Mentor, auf den er von
Zeit zu Zeit hinblickte und hinhorchte. Das Buch ist fast ausschließlich den
Alterthümern der Insel gewidmet, für deren Herrlichkeit der Verfasser von
hoher Begeisterung erfüllt war. Das angeführte Buch des Grafen Borch (ur¬
sprünglich französisch geschrieben) liest sich zwar angenehmer als die meisten
damaligen Reisebeschreibungen, ist aber etwas kavaliermäßig und oberflächlich
geschrieben. Goethe (23, 311) lobt seine Abhandlung über die sicilischen
Mineralien, wenn er auch seine Thätigkeit größer findet als seine Kenntnisse
und bescheidenen Ernst bei ihm vermißt. Desto gründlicher und gewissenhaf¬
ter ist der nächste Reisende verfahren, der Sicilien beschrieb, Johann Heinrich
Barrels, dessen Briefe über Calnbrien und Sicilien 1787 erschienen. Er durchwan¬
derte ganz Calabrien bis Reggio, das noch überall von den Verwüstungen des
furchtbaren Erdbebens von 1783 erfüllt war. Durch sein ganzes Buch geht das
Bestreben, den gewöhnlichen Vorurtheilen über diesen vielgeschmähten Volks¬
stamm entgegenzutreten und die guten Eigenschaften hervorzuheben, die er auch
unter dem Druck einer scheußlichen Mißregierung bewahrte. Ihm siel die un¬
erschütterliche Treue auf, mit der sie trotzdem an dem Königshause hingen,
die sich bald auf eine so außerordentliche Weise bewähren sollte. Durchgängig
fand ich die Bemerkung wahr, daß selbst bei dem tiefsten Gefühl des Drucks
und bei dem freien Geständnis! desselben keiner von den Unterthanen auch nur
eine Silbe gegen den König ausstieß. Der Calabrese gleicht hierin völlig dem
Franzosen, auch selbst in dem Augenblick, da man ihm die Kehle zuschnürt,
ruft er sein Vive 1s roi! Man suchte unablässig Gründe, den König zu ent¬
schuldigen, und wenn gleich, sagten sie, es immer heißt, it lo vuolo (der
König wills), moll ö cosi (so ists doch nicht so) (I. 354). Auch in Sicilien
ist der Verfasser eifrig und vorzugsweise bemüht, den Nationalcharakter der
Einwohner, die Zustände des Landes, Verfassung. Gerichtsverfahren u. s. w.
zu studiren. Den Mittelpunkt seiner Inselreihe bildet eine Besteigung des
Aetna, von dessen Gipfel er so glücklich war der ungetrübtesten Aussicht zu
genießen. Uebrigens war er bei einer gründlichen Bildung von dem lebhaf¬
testen Interesse für das classische Alterthum erfüllt. Zu seinen glücklichsten
Augenblicken rechnet er die. in denen er am Quell Blandusia Horazens treff¬
liche Ode, oder am trasimcnischcn See in Gesellschaft seines Freundes Heeren
den Polybius und Livius las (I. 253).
Alle bisher erwähnten Beschreibungen Italiens versetzen uns in eine Zeit,
die weit hinter uns liegt. Ein neuer Geist weht uns zuerst aus Goethes Ita¬
lienischer Reise (1786—83) entgegen: ein Geist, den wir unsrer eignen Em-
psindungs- und Auffassungsweise wesentlich verwandt fühlen, und zwar des¬
halb, weil unsre ganze Bildung nicht zum geringsten Theil durch ihn bestimmt
worden ist. Ueber dies Kleinod unsrer Literatur wollen wir hier nicht wieder¬
holen, was hundertmal gesagt worden ist und was jedermann weiß. Wir
betrachten sie hier weder insofern sie uns die Entwicklung dieser wunderba-
ren Natur in ihrem höchsten Stadium von Stufe zu Stufe verfolgen läßt,
noch insofern sie uns einen unschätzbaren Einblick in die Werkstatt eines weit¬
umfassenden, rastlos schaffenden Geistes gewährt. Wer hätte nicht die allsei¬
tige Kraft bewundert, mit welcher der Dichter zu neuem Leben geboren, Natur
und Kunst erfaßte und durchdrang und während der Aufnahme und Verar¬
beitung der zuströmenden Eindrücke eine Reihe seiner größten Werke zu schas¬
sen und zu vollenden vermochte. Wen hätte nicht die köstliche Frische dieser
unmittelbaren Herzensergießungen entzückt, wen nicht mit Liebe und Verehrung
sür die Tiefe und Reinheit dieses Gemüths erfüllt, das alles Angeschaute,
verklärt und gleich einem Zauberspiegel jedes Bild verschönert zurückstrahlt?
Hier beschäftigen wir uns nur mit den Zwecken seiner italienischen Reise, wir
fragen nur, was Goethe in Italien suchte und sand, erstrebte und erreichte,
und was er verschmähte oder unbeachtet ließ. Auch hier erscheint er nicht außer¬
ordentlich durch seine eigne Natur, sondern mehrfach durch die Einflüsse seiner Zeit
bestimmt, denen kein Lebender sich entziehen kann. Diese Richtungen haben sich
zum Theil überlebt und vieles erscheint uns heute als werthlos, was damals
eifrig erstrebt wurde, vieles als wichtig und bedeutend, was damals als nichtig
galt> Aber auch wo wir Goethe auf Irrwegen zu sehen glauben, bleibt uns
der heilige Ernst, mit dem er überall nach Wahrheit strebte, verehrungswürdig.
Was von den ältern Reisen in Italien gesagt worden ist. daß Rom ihr
eigentliches Ziel war, gilt noch mehr von der Göthes. Sein Aufenthalt in
Rom dauerte vom 1. November 1786 bis zum 22. April 178S. unterbrochen
durch die Reise nach Neapel und Sicilien. auf der er vierthalb Monate ab¬
wesend war. Rom war der einzige Ort in der Welt, der ihm die Begriffe geben
konnte, die ihm als die höchsten galten. Bei seiner Reise bis dahin denkt
man an die Sage vom Magnetberg, der die Schiffe unaufhaltsam an sich
reißt, sobald sie in den Bereich seiner Anziehungskraft gerathen, so daß die
Geschwindigkeit ihres Laufs mit der zunehmenden Nähe des Ziels immer
wächst. In Oberitalien reiste er nicht nur ohne Uebereilung. sondern auch
mit der ganzen Gewissenhaftigkeit eines sorgfältigen Reisenden , theils weil
seine heiße Sehnsucht nach dem Süden hier eine vorläufige Befriedigung fand,
theils weil ihn die Fülle der antiken Reste und neuern Kunstwerke in den
Städten Oberitaliens fesselte. In Venedig war er vom 23. September bis
14. October. Kaum hatte er es aber verlassen, so war auch seine Ruhe ver¬
loren und er fühlte sich mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärts gezogen. In
Bologna verweilte er drei Tage, dann aber eilte er unaufhaltsam weiter;
weder Naturschönheiten ersten Ranges, noch historisch bedeutende Punkte, noch
merkwürdige Denkmäler vermochten ihn auszuhalten. Er war in Temi, ohne
den weltberühmten Wasserfall zu sehn, kaum begreift man, daß er Florenz in
wenigen Stunden durchlief. Endlich in Rom wagte er dem Vollgefühl des
Entzückens, daß der Wunsch seines Lebens nun endlich erfüllt war, Worte zu
leihen. Die nähere Umgegend von Rom sah er oft und gründlich, die ent¬
ferntere gar nicht, er kam weder in die abgelegenem Gebirgsstädte, noch an
das latinische Ufer; ebenso' sah er um Neapel mit Ausnahme von Pnstum
nur das Nächste. Desto ausgedehnter war seine Reise in Sicilien, wo er mit
Ausnahme von Syrakus alle bedeutendem Punkte berührte, Italien ohne
Sicilien machte ihm kein Bild in der Seele. „Für meine Sinnesart", sagte er,
(23,275) „ist diese Reise heilsam, ja nothwendig. Sicilien deutet mir nach
Asien und Afrika, und auf dem wundersamen Punkt, wohin so viele Stadien
der Weltgeschichte gerichtet sind, zu stehen ist keine Kleinigkeit." Doch in der
That haben ihn historische Erinnerungen dort so wenig als sonst beschäftigt,
es war vielmehr der exotische Charakter der Vegetation, die Wunder des Aetna,
die insularische Abgeschlossenheit und die griechischen Bautrümmer, die seine
ganze Aufmerksamkeit dort in Anspruch nahmen, und der Wunsch, durch diese
Eindrücke die Reihe der geschauten Bilder zu vervollständigen und abzuschlie¬
ßen war es, der ihn nach Sicilien zog. Mit der Abreise von Rom schließt
sein Bericht, und er hat offenbar nach dieser Trennung ebenso wenig Samm¬
lung gesunden, die Lücken seiner Reise auszufüllen, als bevor er Rom betrat.
Es ist bekannt, wie wenig Sinn Goethe für alles Geschichtliche hatte, aber
dieser Mangel an Interesse tritt nirgend so hervor, wie in Italien, wo man sich
auf Schritt und Tritt auf die Vergangenheit hingewiesen fühlt und grade
die historischen Erinnerungen überall belebt und aufgefrischt werden, die uns
unsre Erziehung am tiefsten eingeprägt hat. Aber das Alterthum beschäftigte
ihn nur als die Zeit, die das Höchste in den Künsten hervorgebracht hatte,
das Mittelalter und die neuere Zeit gar nicht. Ihm war es durchaus zu¬
wider, das Gegenwärtige mit dem Vergangenen zu vermischen, und das Her¬
vorrufen abgeschiedener Gespenster fatal. Als ihm sein Führer bei Palermo
von Schlachten erzählen wollte, die an dieser Stelle geschlagen worden, ver¬
wies er es ihm: „Es sei schlimm genug, daß von Zeit zu Zeit die Saaten,
wo nicht immer von Elephanten, doch von Pferden und Menschen zerstampft
werden müßten. Man solle wenigstens die Einbildungskraft nicht mit solchem
Nachgctümmel aus ihrem friedlichen Traume schrecken" (23, 288). Er, der überall
bemüht war, sich von den geologischen Processen Rechenschaft zu geben, die
den Gegenden ihre Gestalt gegeben, fragte nie nach der Entwicklung und Folge
der Culturpcrioden, die eine nach der andern dem Boden ihr Gepräge auf¬
gedrückt haben. In Sicilien, wo Griechen. Römer, Mauren und Normannen
bedeutende Neste ihres Daseins zurückgelassen haben, die den Wanderer drin¬
gend auffordern, sich die verschiedenen Weltalter herauszurufen, hat Goethe
eine solche Nöthigung nicht empfunden; es findet sich nicht einmal ein Wort
über die so höchst merkwürdigen Bauten der Normannen und Sarazenen in
seinem Tagebuch, so ausschließlich beschränkte er sich aus das Alterthum. Aber
auch in diesem, wie gesagt, zog ihn nur die Kunst an. Erst auf der Rück¬
reise nach Neapel fand er Muße, die Vergangenheit Siciliens zu überdenken,
und im Seekräuter Zustand erschien sie ihm wie ein trostloses Einerlei eitler
Bemühungen. „Die Karthager. Griechen und Römer und so viele nachfol¬
gende Völkerschaften haben gebaut' und zerstört. Selinunt liegt methodisch
umgeworfen, die Tempel von Girgenti niederzulegen waren zwei Jahrtausende
nicht hinreichend. Catania und Messina zu verdecken, wenige Stunden, wo
nicht gar Augenblicke" (23, 396). Mitunter hatte er eine Anwandlung von
historischem Interesse, aber sie ging schnell vorüber. '„Mit dem, was man
classischen Boden nennt, schrieb er in Temi (23, 143), hat es eine eigne Be-
wandtniß. Wenn man hier nicht phantastisch verfährt, sondern die Gegend
real nimmt, wie sie daliegt, so ist sie doch immer der entscheidende Schauplatz,
der die größten Thaten bedingt, und so habe ich immer bisher den geologi¬
schen und landschaftlichen Blick benutzt, um Einbildungskraft und Empfindung
zu unterdrücken, und mir ein freies, klares Anschauen der Localitcit zu er¬
halten. Dn schließt sich denn auf eine wundersame Weise die.Geschichte le¬
bendig an und man begreift nicht, wie einem geschieht, und ich fühle die
größte Sehnsucht, den Tacitus in Rom zu lesen." Aber diese Sehnsucht muß
sich nachher gelegt haben, wenigstens findet sich keine Andeutung, daß er in
Rom sich mit römischer Geschichte beschäftigt hat. Er war zufrieden, sich von
einem Dilettanten wie Moritz des Abends beim Spaziergange erzählen zu
lassen, was er in den Autoren gelesen, „und so füllt sich auch diese Lücke aus,
die ich bei meinen übrigen Beschäftigungen lassen müßte und nur spät und
mit Mühe nachholen könnte" (24, 85).
Ebenso wenig Theilnahme als für die Geschichte Italiens zeigt sich in
Goethes Tagebuch für die Zustände des Volks, in dessen Mitte er lebte. Daß
dies nicht Gleichgiltigkeit gegen Menschenwohl war, braucht wol nicht erst
gesagt zu werden; man weiß, wie er zu Hause sich bis zur Selbstaufopferung
thätig erwies, um gemeinnützige Zwecke zu fördern; in Italien wies er con-
sequent alles ab, was ihn von seiner Concentration hätte abziehen können und
deshalb ist er anders Empfindenden so oft als ein kaltherziger Egoist erschie¬
nen, der das Treiben der Menschen nur als bunte Staffage einer malerischen
Scene betrachtete und dem der allgemeine Verfall willkommen war, weil er
harmonisch zu den Ruinen des Alterthums stimmte. Am meisten hat wol
diesen Eindruck der scherzhafte Beifall unterstützt, den er (in Winckelmann und
sein Jahrhundert) dem berufenen Ausspruch A. v. Humboldts gab, daß es
nur zwei gleich schreckliche Dinge geben könnte, nämlich Rom zu einer polizirten
Stadt zu machen, in der niemand von Messerstichen wüßte und die Campagna
anzubauen, wodurch der Raum für die Schatten verloren gehen würde, deren
einer mehr werth sei als dies ganze Geschlecht. Immerhin mag man
erstaunen, daß ihm der Carneval zuwider war und blieb, in dem sich die
Festfreude der Südländer auf eine so harmlose, liebenswürdige und graciöse
Art äußert. Trotz aller künstlerischen Ansicht machte die verkappte Menge ihm
oft einen widerwärtigen, unheimlichen Eindruck. „Der Geist, an die würdigen
Gegenstände gewöhnt, mit denen man das ganze Jahr in Rom sich beschäf¬
tigte, schien immer einmal gewahr zu werden, daß er nicht recht an seinem
Platze sei" (24, 253).
In seinem Verhältniß zur bildenden Kunst war Goethe am meisten von
den herrschenden Ansichten jener Zeit bestimmt, die uns größtentheils fremd
geworden sind. Er empfand auf der Reise mehrfach, daß seine Augen auf
diese Gegenstände nicht geübt, daß er in diesen Kenntnissen weit zurück war,
daß Wissen und Urtheil ihm abging. Um so williger scheint er sich den Be¬
lehrungen hingegeben zu haben, die ihm die in Rom und Neapel lebenden
deutschen Künstler und Kunstfreunde zu bieten wetteiferten, und dies waren
leider ohne Ausnahme impotente Mittelmäßigkeiten, Tischbein, Heinrich Meier,
Philipp Hackert. Angelika Kaufmann, Hirt, Reiffenstcin. Das aus der An¬
tike abstrahirte Princip der Formvollendung als oberstes Gesetz aller Kunst,
verleitete ihn nur zu oft zur Bewunderung eines äußerlichen, geiht- und cha¬
rakterlosen Schematismus. Sein Enthusiasmus für Palladio ist bekannt;
wenn er diesen und die bologneser Maler über Gebühr preist, so waren es
wenigstens bedeutende Talente, wenn er sich aber freut, einen der schalsten
und abgestandensten Manieristen Karl Maraldi „schätzen und lieben" zu lernen
(23, 151), so ist man doch befremdet von diesem ungeheuern Abstand zwischen
der damaligen und heutigen Art zu sehen. Es ist thöricht, wie hin und
wieder geschehn ist, Goethe wegen solcher Aussprüche des Kunstsinnes baar
zu erklären, wenn man auch von einer gewissen Einseitigkeit seinen Idealis¬
mus nicht frei sprechen kann. Heute ist es nicht schwer, sich zu einer unbe¬
fangenen Würdigung der neuen Kunst zu erheben, damals aber war das
Mittelalter, man kann sagen, noch völlig unentdeckt, und seine Erscheinungen
konnten einzeln betrachtet dem Schüler Winckelmanns und seiner Nachfolger
kaum anders als seltsam roh und widerwärtig erscheinen. Wäre es ihm ver¬
gönnt gewesen, sie in ihrem Zusammenhang zu übersehn, so würde er ihren
Werth ebenso gut erkannt haben, als den Unwerth der von ihm bewunderten
Afterkunst.
Zur Musik hatte Goethe bekanntlich gar kein Verhältniß. .Er ließ es sich
zwar in Italien und daheim sauer werden, zum Verständniß auch dieser Kunst
zu gelangen. Mit Hilfe Kaysers hoffte er den Ostermustken in der sixtinischen
Kapelle etwas abzugewinnen, aber ohne Erfolg, und er äußerte später gegen
Eckermann, der seine Bewunderung über die Menge und Vielartigkeit seiner
Zwecke auf dieser Reise aussprach, die Musik habe außerhalb des Kreises seiner
Beschäftigungen gelegen.
Charakteristisch ist, welche Gegenstände er Rh zu seiner Abreise von Rom
zu sehn verschoben hatte, die cloaca maxima, und die Katakomben! sowol der
Riesenbau aus der römischen Königszeit als die unermeßlichen Grüfte aus der
Zeit des Urchristenthums werden heute (und wir denken mit vollem Recht)
zu den merkwürdigsten Monumenten nicht blos Roms, sondern der ganzen
Welt gerechnet, aber freilich war das eine älter, das andere jünger als die
Periode, die Goethe ausschließlich interessirte. Die Cloake fand er allerdings
noch über dem kolossalen Begriff, auf den ihn Pirvnesi vorbereitet hatte.
„Der Besuch des zweiten Lvcals gerieth jedoch nicht zum Besten, denn die
ersten Schritte in diese dumpfigen Räume erregten mir alsobald ein solches
Mißbehagen, daß ich sogleich wieder ans Tageslicht hervorstieg und dort im
Freien in einer ohnehin unbekannten fernen Gegend der Stadt die Rückkunft
der übrigen Gesellschaft abwartete, welche gefaßter als ich die übrigen Zu¬
stände getrost beschauen mochte" (24, 290). Auch bei einer starken Antipathie
gegen den düstern Charakter des ältesten Christenthums muß man über diese
Indifferenz erstaunen.
Die „Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786—1788, in
Briefen von Karl Philipp Moritz" (1792, drei Bände) können gegenwärtig
kaum ein anderes Interesse beanspruchen, als daß der Verfasser mit Goethe
in Verbindung stand. „Dieser Geist," sagt er, „ist ein Spiegel, in welchem
sich mir alle Gegenstände in ihrem lebhaftesten Glänze und in ihren frische¬
sten Farben darstellen. Der Umgang mit ihm bringt die schönsten Traume
meiner Jugend in Erfüllung, und seine Erscheinung gleich einem wohlthä¬
tigen Genius in dieser Sphäre der Kunst ist mir. so wie mehren, ein unver¬
hofftes Glück" (2, 148). Uebrigens erfährt man über Goethes Aufenthalt in
Italien so gut wie nichts aus diesem Buch. Es ist angefüllt mit Reminis¬
cenzen aus der alten Geschichte und Literatur, die einen ziemlich dillettan¬
tischen Anstrich haben. Hier eine Probe. „Mit meinen: Livius in der Hand
sitze ich unter den Bäumen der alten Via sacra; und dicht vor mir liegt das
enge Thal zwischen dem capitolinischen und palatinischen Berge. — Vor dritt-
halbtausend Jahren ereignete sich in diesem Thal die Scene, die mein Ge¬
schichtschreiber so rührend schildert, daß bei dem Anblick dieser Gegend das
Auge sich der Thränen kaum enthält" u. s. w. (1, 219). Eine Anekdote ist
der Mittheilung nicht unwerth, als Seitenstück zu der Erzählung Goethes,
daß er in Caltanisetta in Sicilien die Honoratioren aus dem Markt von den
Thaten Friedrichs des Großen habe unterhalten müssen. Bei Philipp Hackert
meldete sich, als er in einem sicilianischen Städtchen anhielt, eine Deputation
des Magistrats, „welche, um ihre Ehrfurcht für den großen König an den
Tag zu legen, dessen Unterthan gern mit einigen Körben Wein und Früchten
beschenken wollte, die sie ihn als einen kleinen Zoll ihrer Ehrfurcht anzuneh¬
men dringend baten" (2, 21).
Hoch und steil erhebt sich aus den Fluten der blauen caraibischen See
der Theil der Nordküste des südamerikanischen Kontinents, der sich von Puerto
Cabello östlich bis zum Cap Codera hin erstreckt. Zwar erreichen ihre Gipfel,
dieSella de Caracas (8100 F.) und der Naiguata (8500 F.). nicht die Schneegrenze,
aber doch schauen sie. stolz und mächtig, weit hinaus dem Schiffer entgegen,
fest gegründet in ihrem Fundament, das die andringenden Meereswogen um-
branden, und in der Klarheit tropischer Atmosphäre scheint dem Auge fernhin
nach links und rechts der imposante Gebirgszug ins Unendliche sich zu ver¬
lieren. Sanfte Winde bestreichen diese Küste; wenn nicht mehrtägige lästige
Windstille den Lauf der Schiffe aufhält, werden sie sicher und mäßig schnell
ihrem Ziel entgegengeführt. Stürme sind eine große Seltenheit, wol aber
tobt und wüthet die Brandung, wenn als Nachwirkung eines Antillensturmes
die aufgeregten Wogen ihren Laus Hunderte von Meilen fortsetzen, bis sie an
den unbeugsamen Bergen trotzigen Widerstand finden. Dann spricht man in
La Guaira von hoher See und manches Schiff dieser Rhede, dessen Anker-
setten brachen, ist vom empörten Element gegen die Felsen geschleudert wor¬
den. Doch selbst bei sanfter Brise ist die Brandung immer stark genug, daß
sie überwältigend aus die Sinne wirkt. Fast übertäubt ihr Brausen und
Toben die menschliche Stimme und weckt den nächtlichen Schläfer; staunend
horcht selbst auf Höhen von mehr denn 4000 F. der Bergbewohner ihrem dum¬
pfen Gebrüll und auf den höchsten Gipfeln kündet der schaumige Rand dem
weit umherschauenden Auge ihre unbesiegete Gewalt. In stetem Kampf mit
dem festen Lande hat sie sich im Lauf der Jahrhunderte die Küste entlang
liebliche Buchten ausgespült, die mit gering hervortretenden Landspitzen ab¬
wechseln und oft bleibt zwischen Felsen und Meer nur ein schmaler Steig für
den Fußtritt des Menschen.
Für volkreiche umfassende Städte bietet diese Küste keinen Raum. An
einzelnen zwischen Gebirg und See mäßig sich erhebenden Stellen trifft man
Städtchen und Dörfer, über deren Hütten hoch und luftig die Cocospalme
rauscht, oder ganze Palmenwälder heben sich aus dem sandigen Boden, lieb¬
lich abwechselnd mit der melancholischen Cacaopflanzung; an andern Orten,
wo der Boden allmälig steigt oder eine Bergvertiefung Anbau ermöglicht, ist
terrassenartig eine Stadt erstanden. Dahin gehört La Guaira, der wegen
Nähe der^ Hauptstadt bedeutendste Hafen der Küste und Venezuelas überhaupt.
Indeß ist er nur eine offne Rhede. In ziemlicher Entfernung vom Strande
müssen die Schiffe ankern und bleiben ein Spielball der schwankenden Wogen,
daher das Löschen sowol wie das Befrachter viel Ptühe und Zeitverlust
bereitet. »
La Guaira ist ein Städtchen von —500» Einwohnern. Von der
See aus bietet es einen freundlichen Anblick. Die niedrigen Häuser sind
hellgetüncht, zum Theil an die Felsenrücken angebaut und erscheinen mit dem
Hintergrund der majestätischen Bergkette ganz winzig. Die Mitte der lang,
gestreckten Stadt bildet eine wenig vorspringende Landspitze, deren aufsteigender
Boden mit unregelmäßigen Häusermassen besäet ist. Zwei Flügel erstrecken
sich vom schattigen Marktplatz rechts und links in krummer Linie die Buchten
entlang; ein dritter aufwärts in die Bergvertiefung hin. wo in enger Schlucht
zwischen schroffen Felswänden ein Gebirgsbach sein tiefes Bett gegraben.
steinerne Geländer fassen es ein und die nach hinten allmälig sich zusammen¬
schließenden beiden Häuserreihen verbinden massive Brücken. Eine Hafen-
maucr mit wenigen Geschützen zieht sich bogenförmig um die Landspitze herum
bis in die Nähe des geräumigen Zollhauses. Hoch und schmuck zeigt dieses
freundlich mahnend dem Schiffer seine hellgetünchte Vorderseite und öffnet das
weite Thor nach der Straße, welche von der nahen Landungsbrücke aufwärts
führt. Letztere, auf eingerammten Pfählen ruhend, geht ein Stück in die
See. Ein künstlicher Steinwall davor, an dem die Wogen schäumend sich
brechen, schützen sie vor der drohenden Brandung.
Hier betritt der Ankömmling mit kühnem Sprung aus dem heftig schau¬
kelnden Schiffsboot den langvermißten festen Boden. Noch unter den Ein¬
drücken des unsteten Elementes, dem er sich nur durch eine immerhin beschwer¬
liche und fast riskante Ausschiffung entwunden hat, entbehrt er der innern
Nuhe, um sofort das mannigfaltige neue Leben, das ihn umgibt, zu erfassen.
Unter dem Tosen der Brandung und der Glut der tropischen Sonne sind kräf¬
tige Negergestalten, halb nackt, beschäftigt, die auf dem Land liegenden Kaffee-
säcke in das Boot zu befördern; gemüthlich fluchend und schwanke reißend
langen sie sich gegenseitig die Lasten zu; zwei andere nehmen wir herkulischer
Kraft eine 4—5 Centner schwere Kiste auf ihre Schultern und tragen sie
schweißtriefend nach dem Zollhaus. Beamte und Commis reden und laufen
dazwischen; braune Jungen springen nackt im Wasser herum, andre schieben
mit einer rüÄlanfcnden Welle ihr Canoe vom Sande ins Wasser, in einem
Nu sitzen sie drin, lassen sich von der Welle fort- und wieder zurücktreiben
und wiederholen dasselbe in unermüdlicher Heiterkeit. Links in dem Schatten
niedriger Palmen verzehrt ein andrer in Ruhe eine Ananas, die er von der
Hökerin unter dem Zelte erhandelt, nahebei kühlen sich Leute aller Farben
unter einem bedeckten Gange, und rings umher füllen unangenehme Düfte
von getrockneten Fischen und Rindshäuten die ohnedies schwüle Atmosphäre.
Weiterhin liegt ein langes Fischerboot auf dem Sand, eine Beute herrlicher
Seefische bringen mehre Mulattcnjungen in Gesäße, ein Alter mit breitkräm-
pigem Hut, furzen weiten Unterhose-n und Hemd darüber trägt mehre Fische
an einem Stäbe über die Schulter gehängt hinweg, neben ihm trabt im
bloßen Hemd, einen Kübel auf dem Kopf, ein kleiner Zambo, dessen schmu-
zig dunkle Farbe und kurzes krauses Haar den in der Kreuzung dem India¬
ner überlegenen Neger verräth, und die Uebrigen richten die Netze wieder ins
Zeug. — Das fortwährende Tosen der Brandung bildet gewissermaßen den
Grundton des durcheinanderklingenden vielstimmigen Lärmes; das reiche Ge-
berdenspiel des Negers und die gemächliche Geschäftigkeit der Arbeitenden
erhöhen das Eigenthümliche des Eindrucks. Es bleibt selbst dein Eingebür¬
gerten von Interesse, unter dem Schatten des Brctcrgangcs diesem Treiben
zuzusehen.
So anmuthig das an die Felsen angelehnte kleine La Guaira von der
See sich ausnimmt, so verschwindet doch jede Illusion in der Stadt selbst.,
Die meisten Straßen sind krumm, eng und bergig, das Pflaster schlecht. Die
meisten Häuser haben blos Parterres, sonst sind sie einstöckig, mitBalcon; die
hohen Gitterfenster reichen bis unter das Dach. Die untern Straßen bestehen
fast nur aus Kaufläden, Werkstätten. Lagerhäusern, Comptoirs. Hier drängt
sich das geschäftliche Leben auf einen engen Raum zusammen — eine große
Annehmlichkeit bei der furchtbaren Hitze. Durch die offne hohe Thür sieht man
Kisten und Waaren bis in die Tiefe hinter aufgeschichtet, dazwischen oder ^vorn
steht das Schre>bpult; in Hemdärmeln arbeitet man und geht auch so über
die Straße. Das Leben ist sehr ungenirt. Die Weißen sind größtentheils
Fremde, meist Deutsche, dann Engländer, Franzosen :c.; die Farbigen theils
Eingeborne, theils Eingewanderte von den benachbarten Inseln. Das Ge-
schäftsleben beginnt 6 Uhr; »'/-Uhr folgt Gabelfrühstück bis gegen 11 Uhr.
Schluß des Comptoirs 4 Uhr; Bad. Toilette; zur Tafel 5 Uhr; darauf Spa¬
zierritt oder — Gang am Meeresgestade. Die Langweile des Abends sucht
man durch geselliges Zusammensein. Musik, Kartenspiel zu vertreiben. Wer
nicht eignen Hausstand hat. frühstückt und ißt in der Posada; in einem langen
lustigen Saal eine Treppe hoch sind Gerichte im Ueberfluß aufgetischt, nach
Belieben langt man zu-, nach Tisch geht man gern auf den der See zu¬
gekehrten Balcon. und späht durch ein gutes Fernrohr nach ankommenden
Schiffen. Der Opulenz der Speisen entsprechend zahlt mau für Kaffee, Früh¬
stück und Mittag nicht weniger als 3» Thaler monatlich. Die fremden Hand¬
lungsdiener miethen sich meist zu dritt oder viere ein Häuschen mit drei bis vier
Gemächern. Im Salon werden Hängematten ausgespannt, Schaukelstühle stehen
umher, jeder hat seine kleine Bibliothek. Piano oder Guitarre fehlt selten.
Verschiedene artige Landsleute sprechen englisch. Abends oder Sonntags be¬
sucht man sich gegenseitig; das Erste, was dem Eintretenden angeboten wird,
ist ein Glas Brandy und Wasser, crstrer fehlt in keiner Haushaltung. Die
Meisten sind Theilhaber des Clubs. Dieser besteht für alle Nationen, hat ein
geräumiges Local und Büffet, Billard, Lesezimmer mit Bibliothek und aller¬
hand europäischen Zeitungen, die die allvierzehntägige Post bringt.
Die Deutschen und Engländer bilden weitaus die Mehrzahl der Kauf¬
leute. Die bedeutendsten Häuser gehören ihnen. Sie unterhalten die Post-
verbindung mit Europa, welche durch einen eleganten Schnellsegler von Se.
Thomas aus, wo die englisch-westindischen Dampfboote landen, bewerkstelligt
wird. Auch haben mehre Häuser, da die Nationalschiffahrt höchst unbedeutend
ist. eine Dampfschiffahrt zwischen den drei Haupthafen dieser Küste ins Leben
gerufen, zwischen La Guaira, Puerto Cabello und Maracaibo. Puerto-Cnbello
ist ein ausgezeichneter Hafen. Es liegt 12—15 Meilen weiter westlich ganz
flach auf einem Landvorsprung; sein Name „Haarhafen" soll von der Stille
des Gewässers kommen, welche die Schiffe ganz ans Land heranläßt und sie an
einem Haar zu befestigen verstattet. Der Verkehr ist hier nicht viel geringer,
als in La Guaira, nur in andrer Weise. Das größte Importgeschäft hat
La Guaira, hier sind die ersten merkantilischen Häuser, Capitalien und Lager¬
stätten, häufig mit Zweiggeschäften in Puerto Cabello. Im Exportgeschäft
dagegen ist es nur Speditionsplatz, denn die Producte des Innern werden
schon in Caracas sortirt, verpackt und verkauft. Umgekehrt Puerto Cabello.
Es ist Stapelplatz der zu exportirenden Producte. Die reichsten Provinzen
des Landes, die Thäler von Aragua mit ihrem Mittelpunkt Valencia versen¬
den dahin ihre Erzeugnisse, zumal seitdem die Spedition durch Dampfschiffahrt
auf dem See von Valencia bedeutend erleichtert ist. Hier sind die Lager¬
häuser für die Producte, hier wird der Kaffee erst sortirt, ti-e Ballen
Indigo oder Baumwolle geöffnet und nach der zweiten Verpackung erst das
Geschäft abgeschlossen. Jeder von den zwei Häfen hat bestimmte Provinzen,
die er mit Importen versorgt; gewöhnlich legen die Schiffe erst in La Guaira
an und gehen dann nach Puerto Cabello. Endlich Maracaibo liegt ganz isolirt.
Sein Handel, gleichfalls meist nur von fremden Häusern unterhalten, hat
bedeutend zugenommen; es dient außer den Provinzen Trujillo und Merida
auch den zumal an Cacao reichen Thälern von Cucuta im östlichen Theil
Neugranadas als Ausfuhrplatz und führt eben dahin nordamerikanische und
europäische Kunstproducte ein.
La Guaira und Puerto Cabello sind aber nicht die einzigen Häfen des
kurzen Küstenstriches, wo die Cordilleren in der Ausdehnung der Provinzen
Carabobo und Caracas hart am Meere aufsteigen. Diese reich gesegnete
Küste zählt außerdem gegen zehn Häfen, zwölf Buchten und eine Anzahl treff¬
licher Untergrunde, mit dem schönsten Schiffsbauholz in unmittelbarer Nähe.
Nur die zwei erstgenannten Häfen dienen der Aus- und Einfuhr, die übrigen
sind deshalb von großer Wichtigkeit, weil sie in der Nähe, der Gebirgsthäler, der
Sitze des tropischen Ackerbaus gelegen, den Productentransport dahin abkür¬
zen und die Weiterbeförderung nach den Haupthüsen erleichtern. Die Milde
der Gewässer, die ohne Stürme zu kennen das ganze Jahr hindurch von dem
immer gleichen sanft wehenden Nord-Ostpassate bestrichen werden; der dichte
Urwald, der, das immergrüne Kleid der schroffen Bergesrücken, stumm und
schweigsam auf das bewegliche Spiel der Meereswogen niederschaut; die in
der Hitze des Sandbodens am Gestade gedeihenden Palmenwälder mit den
nährenden Cocosfrüchten; die dichtbuschigen Cacaopflanzungen in den Thal¬
gründen und Bcrgspalten, über welchen in lieblichen Cascaden schäumende
Gebirgsbäche herabstürzen, drücken dieser imposanten Küstenkette mit all diesen
unversieglichen Segensquellen den Stempel strotzenden Lebens, üppiger Fülle,
jugendlicher Vollkraft auf, und die tiefe Bläue des Himmels, die Heiterkeit der
Atmosphäre, der Strahlenglanz der Berge in der festlich geschmückten Landschaft
vereinigen das alles zu einem Gesammtbild, das in würdiger, erhabener Weise
die Stimmung des staunenden Fremdlings von Norden her vorbereitet zu dem
Eintritt in den großen weiten Continent des Südens, welchen die gigantischen
Formen der Gebirge sowol als der Vegetation ankündigen. Verlassen wir
das enge schwüle La Guaira, wo bei ausbleibender Seebrise alles nach Küh¬
lung lechzt, welche die Nacht selbst versagt, wo in gleichförmigem Wechsel der
Geschäfte und Einförmigkeit des Lebens der Geist stumpf wird, und der er¬
schlaffende Körper alle Sorge für sich in Anspruch nimmt, besteigen wir ein
rüstiges Saumthier und suchen den Pfad nach den Bergen! Wir vermeiden
aber den sogenannten „neuen Weg", die weniger anziehende, seit 1842 an¬
gelegte Fahrstraße. Noch bleiben uns drei Reitwege: zunächst der sogenannte
„alte Weg", den die Spanier gebaut haben. In zahlreichen Windungen
schlängelt er sich bald zwischen Felsen, bald am Saume jäher Abgründe nach
den Höhen hinan und das aufgerissene Pflaster, auf dem die Hufe der Pferde
und Esel viel leiden/gibt Zeugniß, wie die trefflichen Arbeiten der Spanier
unter den Händen der jungen Republik in Verfall gerathen sind. In der
That, schon im Vorhofe des Landes kündigt sich mit betrübender Wahrheit
der Schlendrian einer schlaffen Verwaltung an. Eine öde Ruine seit dreißig
Jahren schaut das Fare von La Guaira, einige hundert Fuß über der Stadt,
nach der weiten See hinaus und wahrt nur noch die Signalstangc,
welche ankommende Schiffe anzeigt. Im Zollhaus herrscht polnische Wirth«
schaft. Selbst energische Klagen der Kaufleute vermögen beim Gouvernement
nicht einen geordneten Geschäftsgang und prompter Dienst durchzusetzen. Und
wer sich überzeugen will, wie bei Mangel an Pflege das Beste verwildert,
reite nur auf dem alten Wege nach Caracas. In breiten tiefen Wasserrinnen
querüber zeichnen Regengüsse ihre Spur; ganz weggespült sind hier und da
die Pflastersteine. Aengstlich das Ausrutschen auf dem schlüpfrigen Boden
vermeidend, tragt das schweißtriefende Roß seinen Reiter, vorsichtig meidet
das herabkommende Lastthier einzelne umherliegende spitzige Steine. Schritt
vor Schritt bemißt es genau, um sicher aufzutreten, die Weite des Ganges
und trippelt bei steileren Stellen mit eingezogenen Hinterbeinen langsam herun¬
ter, bald links sich wendend, bald rechts sich bessere Fährte suchend und er¬
müdet weit schneller in dem Gefühl beengter Scheu vor einem Fehltritt auf
dem unebnen Wege, als unter dem Drucke der schwankenden Last. Und da¬
bei fühlt es noch häufig genug den harten Stab des Maultiertreibers, der in
munterem Gespräche mit seinen Kameraden hinterdrein trollt und sich seiner Esel
nur erinnert, um auf zurückbleibende zu schlagen und auf alle zu fluchen.
Die Steigung des Weges beginnt erst in Maiquetia. einem Dorfe eine
Viertelstunde westlich von La Guaira. Fast netzt der Schaum der Brandung den
Wanderer, zu dessen Linker Hütten mit einfacher Thüröffnung, ohne Fenster, dem
Meere zugekehrt stehen. Kinder treiben sich mit Kugeln spielend herum, nackt
wie sie der Herr erschaffen, farbige Frauen mit schlecht verhüllter Brust tragen
ihre Kleinen rittlings auf der Hüfte, so daß die Beinchen sich spreitzen, und
gruppiren sich auf ebner Erde vor dem Hause zu traulichem Schwatzen. Der
Ort selbst ist nett und anständig, zählt recht ansehnliche Häuser nebst einer
neuen schmucken Kirche und genießt wegen freierer Lage mehr von der kühlen¬
den Seebrise. Rechts auf dem Landvorsprunge, der sich bis zu dem nahen
weißgrauen Felsen des Cap Blanco ausdehnt, wiegen sich die Wipfel schlanker
Cocospnlmen. die urwüchsig schief aus dem Boden entsprossen sich zu einem
Wäldchen gruppiren und der Landschaft echt tropischen Anstrich geben. Links
versteckt sich nach hinten zwischen den Hitze ausstrahlenden dürren Felsen eine
liebliche Thalschlucht; eine üppige Vegetation, kräftige Bäume und dichtes
Gebüsch verrathen dort einen Gebirgsbach. der unter ihrem Schatten bald
wild rauschend, bald anmuthig plätschernd sich dahin schlängelt. In diesem
klaren kühlen Wasser und zwischen glatt gespülter Felsstücken im Schatten
der ineinanderverschlungenen Laubkronen unter heimlicher Stille dieser großen
Natur sich einsam zu baden, ist in diesem Klima wahre Götterlust.
Die Region des Cactus ist es zuerst, die uns empfängt, wenn wir auf
einem der drei Wege von Caracas reiten, von denen nächst dem eben ge¬
nannten- breiteren der eine nur ein schmaler steiler Pfad ist. der Jndianersteg
genannt, der andere und längste in gleicher Steile über den 6000 F. hohen
Galipan führt. Die Glut der Sonne lastet mit aller Macht auf diesen un¬
tersten Felsrücken und gibt der Vegetation einen kahlen trocknen Anstrich.
Hoch aufstrebende Cactussäulen stehen gruppenweise umher in eintöniger
Stimmung und Farbe, untermengt mit andern Gewächsen, die einen'dürren
Boden lieben. Wir befinden uns in dem heißen Strich der tierra, oalients
der heißen Zone. Die Temperatur am Meeresufer beträgt im Durchschnitt
20" R. Sehr allmälig vermindert sie sich nach den Höhen hin. Doch wech¬
selt sie nach örtlichen Einflüssen, und mit ihr auch die Vegetativ». Fast und
eintönig, selbst durstig stellt sie sich dar, wo wegen offner und freier Lage die
Glut der Sonne von früh bis spät thätig ist und die von den Felsen aus¬
strahlende Hitze die Feuchtigkeit der, Wolken schnell absorbirt. Da schützt kein
Laubdach den Reiter und der steinige trockne Boden glüht unter den Huf¬
tritten des Thieres. Wo aber die allezeit erfrischende Seebrise Zugang hat,
da ist das Klima frischer, die Pflanzenwelt belebter, und in Klüften und
Schluchten, wo Gebirgswasser sprudeln und die Sonne nur wenige Stunden
eindringt, da ziehen sich in Schlangenlinien aufsteigend grüne Laubgewölbe
längs des verborgenen Baches hin und kräftige Stämme entwachsen dem
feuchten Boden.
Mit Lust fühlt sich der Wandrer nach einer Steigung von weniger denn
2000 F. von milderen Lüsten umfächelt, doch ist derUebergang nicht so fühlbar,
als wenn er aus den kühlen Gebirgsregioncn nach dem Meere herabsteigt.
Die Vegetation wird mannigfaltiger, die Farben frischer, der Wuchs gro߬
artiger, reicher und üppiger. Aus der Tiefe deS Abhanges, an dem er hin¬
reitet, ragen mächtige Bäume mit dichten Laubkronen herauf, welche ihn be¬
schatten und die Aussicht sperren. In fröhlichem Grün umschwanken ihn leichte
schlanke Halme zarter Gräser und den Saum des Weges zieren in der Luft
schwebende saftstrotzende Lauben — das neckische Kinderspiel lieblicher Schma¬
rotzerpflanzen, die in flüchtigem Wuchs sich geschwisterlich umwinden und von
Baum zu Baum dicht sich verweben, ihren Schmuck zu erhöhen und zu ver¬
dunkeln denjenigen der ihnen als Träger dienenden Bäume. Kostbare Blu¬
men mit allem Farbenschmelz, dessen die Natur fähig ist, prangen mitten im
grünen Laube, und gleich Strängen und Schnuren schaukeln die Endfäden im
Winde einher. Aber noch mehr betrifft den Wanderer der Anblick hoher kräftiger
Riesenstämme, um deren Peripherie sich schwächere Stämme förmlich hinanwin¬
den — wie es scheint, ein Baum umschlungen vom Baume. Aber in Wahrheit
sind es Lianen, mit baumähnlicher Rinde und Stärke, von jenem gefährlichen
Parasitengeschlecht, das ohne eigne selbstständige Triebkraft aus Kosten andrer
sein Leben fristet. In verrätherischer Umarmung winden sie sich um den un¬
teren Theil des Stammes, erreichen gieng die Zweige und streben von Ast zu
Ast schief in die Höhe, also daß sie sich dem Blicke entziehen, und senden
schwächere Triebe wieder nach unten, die steif und starr quer durcheinander¬
hängen. Der Kampf würde gar nicht so ernsthaft scheinen, starrten nicht an
einzelnen Stellen Baumstümpfe mit entblätterten Besten, Gespenstern gleich,
kahl in die Wildnis; hinaus. — Nur langsam setzt hier der Fremdling seinen
Weg fort, seine Aufmerksamkeit wird allenthalben gefesselt, er fühlt sich in
einer neuen schönen Welt, und seine Stimmung erhöht der Zauber,
welchen der tiefblaue Himmel, durch das in der Sonne goldblitzende Laub
hindurch sichtbar, hervorbringt. Und nähert er sich erst in der Tiefe der
Schlucht einer Cascade, deren oberste Wasserschicht von der Frühsonne beschie-
nen, „gleich Diamantenfunken blitzt" (Worte der Bewunderung von einem
einfachen treuherzigen Bergbewohner, der uns auf einem Ausfluge als Führer
diente), so erschließen sich auf einmal alle die geheimsten Reize einer tropischen
Halbwildniß. Unter dem Zusammenwirken aller Bedingungen größtmöglicher
Fruchtbarkeit entfaltet sich dort das Kleid der Natur in allen Farben und
Tinten, in allen Formen von der zarten Mimose bis zum seidenartigen Riesen-
blatt des segensreichen Pisang. Hier ruht er im Schatten eines immer noch
jugcndkrüftigen Beteranen, gestützt auf einen Felsen am Rande des Wassers,
in dessen Klarheit die Farbenpracht der Pflanzen sich spiegelt, und horcht dem
Rauschen des Sturzes und lauscht dem Geschwirr der lebensfroher Insekten,
indeß sein ermattetes Thier' sich an der frischen Quelle labt. Wunderbar
schöne und große Schmetterlinge, flattern von Blume zu Blume, und fremd¬
artige Küfer mit tausendfach schillernden Flügeldecken nähren sich mit Be¬
hagen an saftreichen Blättern. Nichts stört die Harmonie seiner Empfindung,
eine tiefe lautlose Stille umgibt ihn, und in stummem Entzücken weilt sein
Auge auf der engen und doch so unerschöpflich reichen Naturscene.
Voll von diesen Eindrücken, setzt er den Fuß wieder in den Steig¬
bügel, unmerklich hat er schon mehr denn 300V F. Höhe erreicht, der beschattete
Pfad führt ihn immer in Windungen weiter hinan, kühlende Nebelwolken,
die flüchtig vorüberziehn. umfangen ihn auf kurze Momente — da aus ein¬
mal sieht er sich aus dem Waldesdunkel in den hellen Schein des Tages ver¬
setzt, und dein erstaunten Blicke öffnet sich das weite, weite Meer, dessen
Wellenschlag ihm die schäumende Brandung verräth; geblähte Segel sichren
seinen Geist wieder hinaus in die Ferne, von wannen er gekommen, und in
stolzem Bewußtsein sagt er sich: Du bist in der That auf dem festen
Boden der neuen Welt. Sein Blick verfolgt die Buchrenkrümmungen
des Meeres, als kleine Häusergruppen erscheinen ihm La Gnaira uno
Maiqnetia. aus der flimmernden Atmosphäre der Küste ahnt er die Schwüle
des Gestades, der er sich glücklich enthoben weiß, und zu seinen Füßen zie¬
hen Wolken, die in fortwährend sich wandelnder Gestalt bald plötzlich ver¬
schwinden in schnellem Zersetzungsproceß, bald zu dichten Ballen sich zusammen-
ziehn. Zu beiden Seiten erheben sich jenseit schroffer Abgründe wellenförmig
grüne Bergrücken und lenken seinen Blick wieder zu den waldigen Höhen, die
er noch vor sich hat. An einzelnen Stellen ist die Waldung ziemlich gelich¬
tet, die Bäume sind gefällt, und der Boden trägt hie und da Spuren von
Feuer an sich, das man zur Urbarmachung angewendet hat. Aus dem „alten
Wege", dem gewöhnlichen Reitwege und der immer noch benutzten Commu-
mcationsstraße für Waaren, kann der Reisende sich und sein Thier erquicken in
einer Hütte unterhalb der von Humboldt besuchten Venta. Aber auf dem
Jndiancrsteig erfrischt ihn höchstens der Trunk, den ihm einer von jenen ge¬
fälligen Bergbewohnern reicht, die mit geringen Bedürfnissen zufrieden und
harmlos unter ihren Familien leben. Eine einfache Hütte mit Pisangblättern
gedeckt ist ihre Wohnung. Zerstreut umher liegend zeigen sich mehre solcher
Ranchos. ost auf steilen Abhängen. Das vorgestreckte Dach, auf Holzpfosten
ruhend, spendet Schatten; einige große Steine dienen als Herd, und eine
bescheidene Pflanzung von Gemüsen und Pisang umgibt das Hänschen. Dies
und ein paar Esel nebst Federvieh sind der ganze Reichthum dieser Glücklichen,
und doch spenden sie gern dem Fremdling von ihrer geringen Habe.
Schon empfangen den Reisenden kleine Kaffeepflanzungen, die in Gebirgshöhe
von mehr denn 4000 F. an freier Sonne gedeihen, ohne des schirmenden Schat¬
tens des hohen Bucare zu bedürfen; und selbst mehr denn 5000 F. hoch bewun¬
dert er Palmenwälder, die mit andern Bäumen untermischt diese überragen
und frei und luftig ihre stolzen Kronen zur Schau tragen. So ist der Wan¬
derer aus der heißen Zone in die gemäßigte eingetreten, die schon unter 2000 F.
beginnt, und hat sie beinahe bis zu ihrer oberen Grenze durchschritten. Die
Milde der Mittagswärme läßt ihn auf nicht zu kühle Nächte schließen, euro¬
päische Gemüse und ein einzelnes Nadelholz, das er zu seiner Überraschung
hier entdeckt, lassen ihn ahnen, daß so gesunde Lust, so gleichförmige Atmo¬
sphäre und so ergiebiger Boden die wahre Segensstätte für den nordischen
Ansiedler ist.
Und so hat er, auf der Höhe angelangt, schon im Borhof dieses großen
Landes, gleichsam compendiarisch die Ob»rfläche desselben, bis ans die süd¬
lich jenseit des Gebirges gelegenen Ebenen des Orinoco mit ihren reichen
Viehweiden, überschaut, seinen Charakter in großen allgemeinen Zügen er¬
kannt, und rüstet sich, seinen Schritt abwärts zu lenken. Aber auf günstige"'
freigelegenen Punkte macht er noch einmal Halt: da steht er und erblickt sich
aus freiem Gebirgsscheitel, von reinen, ätherklaren Lüften umweht, die seine
Brust heben und seine Seele erquicken, mitten in tropischerZone, unter einem blauen
südlichen Himmel, wo die Sonne hoch steht im Zenith; die Fesseln irdischer Klein¬
lichkeit entfallen ihm, er empfindet groß und tief. In gehobener Stimmung schaut
er noch einmal zurück: unter ihm breitet sich das weite Antillenmeer , das Meer
des Columbus aus. Große geschichtliche Erinnerungen tauchen im Grunde seiner
Seele auf — und im Gesammtgefühl dessen, was seine mehrstündige Wan¬
derung ihm erschlossen, mehr noch dessen, was sie ihm von diesem reichen
Lande hat vorahnen lassen, wendet er seinen Blick nach vorn — und welch
ein Anblick öffnet sich ihm da: zu seinen Füßen tief unten quervor ein lachen¬
des Thal, am westlichen Ende von großen Häusermassen besetzt, es ist die
Hauptstadt Venezuelas, Caracas und jenseits hintereinander sich aufthürmende
Bergketten, theils kahl, theils mit Vegetation, in massenhaften Formen, mit
wellenförmigen Fronten und rundlichen Granitkuppeln. Der erstaunte Blick
schweift nach allen Seiten weithin über einen beträchtlichen Theil des Binnen¬
landes, ein Lichtmeer ergießt sich über die Landschaft, die erhobenen Stellen
glühen im Schein der sich neigenden Sonne, kühle blaue Schatten unterbre¬
chen sie in den Vertiefungen, und unsagbar schön umfängt die majestätischen
Berggipfel ringsumher die feuchte Klarheit des blauen Horizontes, in dessen
Tiefen das trunkene Auge sich nimmer satt zu sehen vermag.
Dies ist der Gruß, mit dem die Natur den europäischen Ankömmling
bewillkommt. Glücklich der Sohn des Nordens, der, nach den Paradiesen
des Südens einen empfänglichen Sinn, ein offenes Herz mitbringt. Unge-
kannte Reize weihen ihn zum Genuß einer höhern, schönern, jungfräulichen
Natur, die in ewig neuem Gewand lebenathmend in tausend Sprachen zu
ihm redet und ihn im Geiste das Jugendalter der Menschheit nachfühlen läßt,
zu dessen Ahnung die blos traditionelle Idee ihn nie aufzuschwingen ver¬
mocht hat.
Das Benehmen der französischen Regierung in dem Streit mit Portugal über
die Aufbringung des Charles Georges hat die allgemeinste Entrüstung hervorgerufen;
man sieht in dem Zwang, den die Großmacht einem kleinen Staat anthut, einen
Act brutaler Gewalt, wo das stat xro rMouo voluntas seine volle Anwendung
findet. Wir sind nicht geneigt, das Verfahren der kaiserlichen Regierung in Schutz
zu nehmen. Wie auch die Streitsrage liegen mag, die Behandlung derselben ist un-
verantwortlich und die hastige Entschiedenheit, mit der jede Vermittlung einer dritten,
unbetheiligten Macht abgelehnt wurde, zeugt nicht für reines Gewissen. Man wird nach
diesem Beleg ungefähr wissen, was man von dem Amphiktyonengericht zu halten
hat, das Graf Walewski auf dem pariser Kongreß angeblich im Interesse des Frie¬
dens und der Humanität vorschlug; der Einwand, daß die Ehre Frankreichs im
Spiele sei und deshalb kein Schiedsgericht angenommen werden könne, ist offenbar
windig; denn bei welcher internationalen Differenz ist die Ehre der Staaten nicht
mehr oder weniger im Spiel? Ist dies also nur ein Vorwand, höchstens für das
Publicum der französischen Soldpressc gut genug, so muß ein anderer Grund da
sein, weshalb die kaiserliche Regierung sich scheute, die Frage vor das Licht eines
Schiedsgerichtes ziehen zu lassen, und dieser Grund ist, daß die sogenannte Anwer¬
bung freier Schwarzen für die Kolonien ganz einfach der Wiederanfang des Skla¬
venhandels ist. Der Fall des Charles Georges ist dem der Regina Coeli vollkommen
analog, man bedeckt die Sache mit einem euphemistischen Namen, grade so wie die
südlichen Plantagcnbcsihcr der Vereinigten, Staaten von einer afrikanischen Einwan¬
derung sprechen, während Jeder weiß, daß damit Kauf und Verkauf der Schwarzen
gemeint ist. Wir wollen diese Verhältnisse weiter unten etwas näher beleuchten und
zuerst suchen uns über den speciellen Fall des Charles Georges klar zu werden.
Sehen wir von der gewaltthätigen Art, womit die französische Regierung die Sache
behandelte, ab, geben wir ihr schlechtes Gewissen zu und nehmen an, das Schiff sei
ein Sklavenfahrer gewesen, war die portugiesische Regierung berechtigt, dasselbe weg¬
zunehmen? Zu unserm Bedauern können wir vom völkerrechtlichen Standpunkt die
Frage nicht so unbedingt bejahen, wie es in der englischen und deutschen Presse
geschieht. Die Aufbringung eines fremden Privatschiffcs und die Verurtheilung durch
einheimische Gerichte ist in Friedenszeiten nur in einem Fall erlaubt, wenn näm¬
lich das Schiff sich im Frieden eines Actes schuldig gemacht hat, der nur im Kriegs-
zustand gerechtfertigt ist, solche Acte, die im Kriege für Kaper nicht völkerrechts¬
widrig gelten, sind im Frieden Seeraub. Daß dieser Fall nicht beim Charles
Georges vorlag, ist klar. Nun hat man aber durch Verträge gewisse völker¬
rechtliche Contraventionen dem Seeraub gleichgestellt, es war dies eine unglückliche
Idee, da die Assimilirung zweier verschiedenartiger Sachen immer Verwirrung her¬
vorbringt. Jedenfalls sind solche Acte nur kraft specieller Verträge in dieser Weise
zu bestrafen, nicht kraft allgemein völkerrechtlicher Satzung, und also die Strafan¬
drohung nur von den Staaten und gegen die Unterthanen derjenigen Staaten,
welche jene Verträge geschlossen haben, in Anwendung zu bringen. Zu diesen Ac¬
ten, welche durch gewisse Verträge dem Seeraub gleichgestellt sind, gehört der Skla¬
venhandel, aber eben nur in speciellen Fällen. Der bedeutendste ist der Quadrupel-
Vertrag zwischen Oestreich, England, Preußen, Nußland vom 20. Decbr. 1841, der
in seinem ersten Artikel sagt: „Ihre Majestäten machen sich verbindlich, allen Skla¬
venhandel zu verbieten und solchen Handel als Seeraub zu erklären." Ver deutsche
Bund trat dem durch Beschluß vom 13. Juni 1845 bei. Aber ein solcher Vertrag '
besteht nicht zwischen Frankreich und Portugal, der französische Gesandte hatte jenen
Quadrupclvertrag gleichfalls unterzeichnet, aber seine Regierung ratificirtc denselben
nicht. Portugal aber lehnte diese ausdrückliche Gleichstellung des Sklavenhandels mit
dem Seeraub in den Verhandlungen ab, welche zum Vertrag mit England zur
Unterdrückung jenes Handels führten (3. Juli 1842); Lord Palmerston brachte dar¬
auf einseitig eine Bill ein, welche die englische Regierung ermächtigen sollte, portu¬
giesische Schiffe, die verdächtig, auf hoher See anzuhalten, zu durchsuchen und durch
englische Gerichte abzuurtheilen. Sie ging durch das Unterhaus, ward aber von
den Lords verworfen, gegen Brasilien dagegen setzte Lord Aberdeen ein derartiges
Gesetz durch, das überall verdammt wurde. Nach allen Vertrügen, die Portugal
über den Sklavenhandel geschlossen, ist derselbe ein verbotnes und höchst strafbares
Verbrechen, der Vertrag mit England geht einen Schritt weiter «ut erklärt, daß
die abscheuliche und secräuberische Praxis ^us^gs inka-ins ot xroprs d. ig, xir».dei'is)
die Eingebornen Afrikas über See zu führen, um sie der Sklaverei zu überliefern,
immer ein streng verbotenes Verbrechen sein solle, aber jene einfache und ausdrück¬
liche Gleichstellung mit dem Seeraub, wie sie der Quadrupelvcrtrag enthält,
findet sich nicht. Woraus es aber hier vor allem ankommt, zwischen Frank¬
reich und Portugal besteht kein Vertrag, der die respectiven Sklavenschiffe
als Seeräuber durch Kreuzer aufzubringen erlaubte. Die Times verwirrt
daher ihre Leser, wenn sie sagt: „Wir hatten immer gedacht, daß der Skla-
vcnsahrer dem Seeräuber gleich sei — gute Prise, wo immer man ihn aufbringen
kann." Nicht das allgemeine Völkerrecht, sondern die Verträge gestatten dies, welche
namentlich auch erst gegenseitig das Recht der Durchsuchung feststellen müssen. Mag
man daher über das Treiben des Charles Georges denken, wie man will, mochte
die portugiesische Behörde in Mvzcunbique vollkommen Recht haben, das Schiff für
einen Sklavcnsahrer anzusehen, die sofortige Confiscation war uicht gerechtfertigt.
Wenn keine vertragsmäßigen speciellen Bestimmungen mit Frankreich vorlagen, so
mußte sie nach Analogie des englischen Vertrages Handeln, der sür solchen Fall das
Richteramt einer gemischten Commission und nicht den eignen Gerichten zuweist. Freilich
gibt die würdig und anständig gehaltene portugiesische Erklärung im Diario de Go-
berno (24. Octbr.) als ersten Grund der Aufbringung an, daß das Schiff an der
Insel Quitcngonia in der den ausländischen Kauffahrern untersagten Bai von Con-
ducia, vor Anker gefunden wurde. Aber das Schiff, welches sür den Eintritt in
verbotene Gewässer strafbar sein mag, wird deshalb doch noch nicht grade einfach
confiscire werden können, zumal der Grund jenes Verbotes offenbar ist, daß an der
Küste von Conducia leicht Sklavenhandel getrieben werden kann. Auch gibt der
Artikel des Diario als zweiten Grund an, daß der Charles Georges 110 Neger an
Bord hatte, welche erklärten, mit Gewalt eingeschifft zu sein, und da es Gegenstände
bei sich führte, die als Anzeichen des in den Gesetzen untersagten Sklavenhandels zu
betrachten sind. Das Schiff ward demnächst wegen Übertretung der Zollvcrord-
nung und wegen Ankaufs von Sklaven verurtheilt. Nach diesem Sachverhalt konnte
bei den bestehenden Verträgen/das Schiff nur angehalten und den französischen
Behörden übergeben werden, damit es von französischen Gerichten abgeurtheilt
werde. Wir bedauern, daß Portugal dies übersehen und dadurch seine im Grunde
so gute Sache geschwächt hat. Der Artikel des Moniteur, welcher die französische
Regierung rechtfertigt, ist darum freilich nicht weniger sophistisch. Der Moniteur
kann diesen Unterschied von Seeraub und Sklaverei natürlich nicht betonen, weil
er damit zugäbe, daß der Charles Georges, der einen Delegirten der Regierung an
Bord hatte, ein Skiavenfcchrer gewesen. Er beschränkt sich aus den Versuch, zu be-
weisen, daß dies nicht der Fall gewesen, was wir dennoch glauben müssen, und ver¬
theidigt das spätere diplomatische Auftreten gegen Portugal, das wir unverantwort¬
lich nennen müssen. Abgesehen von jenem ersten Fehler ist das Benehmen des lissa¬
boner Cabinets durchaus würdig gewesen, es schlug, als England zögerte, ihm Un¬
terstützung zu gewähren, das einzige Verfahren ein, das für einen kleinen aber un¬
abhängigen Staat möglich war. Es wandte sich, eingedenk des Protokolls vom 14.
April, wo Frankreich selbst die Vermittelung durch dritte Staaten vorgeschlagen, an
die britische Negierung und bat sie, eine solche Vermittelung bei Frankreich zu be¬
fürworten. Dies geschah, das pariser Cabinet aber lehnte ab und drohte, die di¬
plomatischen und consularischcn Beziehungen sofort abzubrechen und den Tajo zu
blockiren. Der Uebermacht gegenüber mußte Portugal weichen und erklärte 1) da
die portugiesische Regierung sich außer Stand sieht, der Gewalt Frankreichs Wider¬
stand zu leisten, so gibt sie das Schiff heraus; 2) nachdem die französische Regie¬
rung die schiedsgerichtliche Entscheidung einer dritten Macht über die Rechtsfrage
verwirft, lehnt die portugiesische auch das Schiedsgericht über die Entschädigung ab;
3) die französische Regierung möge nun ihre Rechnung einreichen, sie wird sofort
bezahlt werden. Das ist es, was die französische officielle Presse nennt, Portugal
habe sein Unrecht eingesehen. Grade das Gegentheil ist der Fall. Portugal läßt der
Sache den rein thatsächlichen gewaltthätigen Charakter durch diese Erklärung und
mag Frankreich auch freiwillig seine Forderung von 400,»00 auf 40,000 Fr.
Herabsetzen, es gilt vor der Welt doch als erpreßtes Geld. — Zum Schluß wollen wir
noch bemerken, daß es ungeschickt war, diesen Fall mit dem des Cagliari zu ver¬
gleichen, bei letzierem lag das vom König von Neapel behauptete Unrecht nicht vor;
hätte es aber vorgelegen, so wäre das Schiff mit Recht confiscire. beim Charles
Georges lag das Unrecht des Sklavenhandels so gut wie offen vor, aber dies Un¬
recht ermächtigte nicht zur Wegnahme.
Daß aber jene Operationen, welchen sich jetzt französische Schiffe mit Unter¬
stützung der Regierung widmen, und jene Einwanderung freier Neger in die west¬
indisch-französischen Kolonien nur verdeckter Sklavenhandel sind, ist uns unzweifel¬
haft. Die französische Regierung hat in diesem Fall wie bei der Regina Coeli die
größte Entrüstung gezeigt, daß man ihr eine Begünstigung derartiger Verdrehung
der Verträge zutraut; wenn ihr Gewissen aber so rein war, weshalb hat sie die
Karten nicht auf den Tisch gelegt und durch das Licht der Oeffentlichkeit die Tadel¬
losigkeit der von ihr begünstigten Operationen bewiesen? Die Engländer, früher die
größten Sklavenhändler, später die eifrigsten Verfolger des Handels, haben zuerst eine
Einführung freier Schwarzen in ihre westindischen Kolonien versucht, wir wollen
es dahin gestellt sein lassen, ob sie erst dann abgestanden, als sie sahen, daß die
Franzosen erfolgreicher in ihren Anwerbungen waren. Betrachten wir nur, wie
letztere zu Werke gehen. Die Regierung schließt mit gewissen großen Handlungs¬
häusern einen Contract ab, wonach sie pro Kopf eine bestimmte Prämie zahlt,
danach ist die Sache also ein Geschäft, wobei der, dem die Prämie in Aussicht ge¬
stellt ist, suchen muß, den höchstmöglichen Gewinn zu machen. Wie findet nun
aber die freie Anwerbung statt? Dadurch, daß die Schiffe jener Handlungshäuser
einen Vertrag mit afrikanischen Stammhäuptlingen schließen, ihnen eine bestimmte
Zahl Neger zu liefern. Diese Häuptlinge sind also ihrerseits wieder interessirt, mög-
lichst viele liefern zu können, glaubt man etwa, daß sie die Neger fragen werden,
ob sie wollen oder nicht? Die Erfahrung hat gezeigt, daß jene schauderhaften Men-
schenjagden, welche, als der Sklavenhandel blühte, an der Tagesordnung waren,
Wieder angefangen haben — wer will die Freiwilligkeit der Anwerbung controliren?
wird man dem Delegirten glauben, der Interesse vor allen daran hat, daß das Ge¬
schäft zu Stande kommt? Beim Charles Georges erklärten alle Neger, mit Gewalt
auf das Schiff geschleppt zu sein. In den französischen Vorschriften mag auf dem
Papier alles fehr in der Ordnung sein, in der Wirklichkeit ist es anders, die
Schwarzen mögen, wenn sie erst in den Kolonien angekommen sind, besser als
Sklaven behandelt werden; die Art/wie sie dorthin gebracht werden, ist nicht besser
als offener Sklavenhandel.
'
Die Wahlen in den größeren Städten, die einzigen, die wir bis jetzt über¬
setzn können, sind, wie man voraussehn konnte, überwiegend liberal ausgefal¬
len ; gelang es doch schon vor drei Jahren dem vorigen Ministerium mir durch das
Aufgebot aller erdenklichen Mittel, hier seinen Kandidaten einige Geltung zu verschaf¬
fen. Das Resultat auf dem Platten Lande bleibt zweifelhafter, da sich bei der Ver¬
einzelung der Gemeinden die veränderte Luftströmung nicht so schnell mittheilen
läßt, und da es für die Landleute und Bewohner der kleineren Städte schwieriger
sein wird, auszumitteln, wer die Regierung ist und was sie will. Die reactionären
Beamten haben alles aufgeboten, die Sache so darzustellen, als habe man es noch
mit der alten Verwaltung zu thun und als bestehe die wahre Loyalität der Preu¬
ßen noch immer darin, den Herrn v. Westphalen und den geheimen Regierungsrath
Hahn für die besten Staatsmänner der Monarchie zu halten. Das merkwürdigste
Aktenstück in dieser Beziehung ist das Circular des Grafen Krassow in Stral-
sund; es wird ein ewig denkwürdiges Zeugniß dafür bleiben, daß mit der Verände¬
rung des Ministeriums noch lange nicht alles gethan ist, um die Verwaltung wirk¬
lich zu ändern.'
Dieser Umstand muß bei den eigentlichenWahlen, die in der nächsten Woche
bcvorstehn, die Wahlmänner darauf aufmerksam machen, daß ihr Geschäft noch
immer kein leichtes ist, daß, wenn sie wirklich dem Ministerium zu Hilfe kommen
Wollen, sie sich nicht mit bloßen „ministeriellen" d. h. gutgesinnten Wahlen begnü¬
gen dürfen. Wir halten das Stichwort „ministeriell" für ein recht unglückliches.
Das Ministerium ist bis jetzt nur ein Ministerium des Wunsches und der Hoffnung.
Die Namen seiner Mitglieder lassen voraussetzen, daß es die Verwaltung besser füh¬
ren wird als seine Vorgänger, aber eine bestimmte Physiognomie hat es noch nicht.
Ueber seine Maximen und Entwürfe hat es sich noch nicht ausgesprochen und für
seine Energie ist es vorläufig kein schlagendes Zeugniß, daß hohe Staatsbeamte es
wagen dürfen, angeblich im Namen der Regierung die Wähler gegen die voraus¬
sichtlichen Ideen des neuen Ministeriums aufzuregen. Die Wähler haben hier keinen
festen Halt, es ist daher besser sich auf eigne Füße zu stellen; und statt den De-
putiricn die Verpflichtung aufzulegen, immer mit dem Ministerium zu gehn, von
welchem man doch noch nicht weiß, wohin es geht, ist es zweckmäßiger, von ihnen
eine positive Erklärung zu begehren über den Inhalt und Umfang der Reformen,
die sie für nöthig halten.
Wahrscheinlich waltet bei diesem Stichwort „ministeriell" ein Mißverständniß
ob- man meint damit nicht Anhänglichkeit an das Ministerium, das sich erst zu be¬
währen hat, sondern Anhänglichkeit an den Regenten, dessen edle, ebenso besonnen
als entschieden durchgeführte Beschlüsse den allgemeinen Jubel des Volks hervor¬
gerufen haben. Aber diese Anhänglichkeit und diese Verehrung bewährt man nicht
dadurch, daß man in echt französischer Weise eine Herde zusammentreibt, die ent¬
schlossen ist, im voraus alles gut zu heißen, was seine Rathgeber für gut finden,
fondern dadurch, daß man selbstständige, einsichtsvolle und charakterfeste Männer
wählt, welche die Einsicht seiner Räthe heilsam ergänzen.
Es ist ein häusig mißverstandener Spruch, den aber jeder echt monarchisch ge¬
sinnte Bürger sich immer vor Augen halten muß: 1s roi i-eZno mais it us
gouverns xss. Der Servilismus hat darin ein Attentat gegen das Königthum von
Gottes Gnaden finden wollen, aber der Abscheu wird gelinder werden, wenn man
den Satz etwa so ins Deutsche übersetzt: der König regiert, aber er, administrirt
nicht, d. h. er gibt die allgemeinen Grundsätze an und wählt diejenigen Männer,
denen er die beste Einsicht und den besten Willen zutraut, zu den Leitern der Ver¬
waltung, er sorgt auch sür eine Controle derselben, aber er mischt sich nicht in die
Details der Verwaltung ein, weil es nicht möglich ist, es folgerichtig zu thun.
Friedrich der Große, eine Kraft, wie sie in Jahrhunderten kaum einmal auftaucht,
hat es unter viel einfachern Verhältnissen wirklich versucht, aber es wird unter allen
Parteien wol nur eine Stimme darüber sein, daß es sür den unmittelbaren Vor¬
theil des Staats und namentlich für feine Zukunft segensreicher gewesen wäre, wenn
er sich darin mehr beschränkt hätte. Die früher von ihm ausschließlich geleitete ko¬
lossale Maschine ging dann ihren eignen Gang fort, und in späterer Zeit erlebte
man das wunderliche Schauspiel, daß in der Regel alles nach der bloßen Routine
ging, daß aber dann durch ein persönliches Eingreifen, bald in diesem bald > in
jenem Fach die Geschäfte aufgehalten oder gar verwirrt wurden. Die Maschine ist
nach allen Seiten hin unpopulär geworden, aber man konnte sie nicht entbehren,
und fo hat man denn in den letzten Jahren das Mittel angewandt, die Routine
durch die Tendenz zu ersetzen, und indem man die alten Hebel beibehielt, sie den
Händen der Partei anzuvertrauen. Wir hatten zuletzt eine Parteircgierung im „con-
stitutioncllstcn" Sinn des Worts, und diese Regierung wußte auch einen Landtag
ihrer Farbe zu Stande zu bringen.
Nun denke man sich in die Lage des Prinzen, der klar durchschaut, daß in
dieser Weise der Verwaltung vieles nicht in Ordnung ist, und der nun zunächst das
richtigste Mittel ergreift, dem Geist und dem Wortlaut der Verfassung gemäß, die
er beschworen hat, zunächst dem Lande Lust zu machen, daß es seine Bedürfnisse
klar an den Tag legen kann. Dazu wär vorher nöthig, die Spitzen der Verwal¬
tung zu verändern, weil man sonst Gefahr lief, daß das Schauspiel von 1855 sich
erneuen würde. Das Ministerium mußte schnell zusammengesetzt werden, weil
die Zeit der Wahlen drängte, aber nichts sagt uns, daß die Besetzung in allen Stel¬
len eine definitive sein soll; ja es scheint, als ob die Beibehaltung des alten Han-
delsministcrs neben dem neuen Finanzminister entschieden dagegen spricht; denn es
ist bekannt, daß beide in allen Cardinalfragcn ausgesprochene Gegner sind.
Was soll der Regent nun dazu denken, wenn das Land als Antwort auf sein
Vertrauen durch seine Wahlen Folgendes ausspricht: wir sind ministeriell gesinnt
d> h. wir wollen dasselbe, was Herr v. d. Heydt und Herr v. Patow wollen, ob¬
gleich beide das Entgegengesetzte wollen, und wir sind auch gern bereit, alles mög¬
liche.'Andere gut zu heißen, falls man uns nur mit den Leuten der Kreuzzeitung
verschont.
Der Regent würde denken: ein Land, welches diese Antwort gibt, ist weder
würdig noch sähig, frei zu sein; ich werde mich zwar an die Verfassung halten,
die ich beschworen habe, aber ich werde mir auf eine Unterstützung meiner Regie¬
rung von jener Seite keine Rechnung machen, weil die Kraft, die keinen Widerstand
leisten kann, auch nicht das Gewicht einer Feder in die Wagschale wirft.
Eine solche Stimmung würde für das Gedeihen unseres politischen Lebens sehr
gefährlich sein. Mit den Ermahnungen zur Mäßigkeit und Besonnenheit ist es noch
nicht gethan. Auch wir sind der festen Ueberzeugung, daß ein gedeihliches Zusam¬
menwirken der verschiedenen legislativen Gewalten nur denkbar ist, wenn das Haus
der Abgeordneten ebenso entschieden der Demokratie als der Aristokratie Widerstand
leistet, beide Worte in der ursprünglichen Bedeutung gebraucht: aber noch einmal,
es kann nur dann Widerstand leisten, wenn es selbst etwas will.
Die Wähler sollen also den Kandidaten ein bestimmtes politisches Glau-
bensbekenntniß abfordern, wobei das schlesische Programm zu Grunde gelegt
werden mag. Aber damit ist es noch nicht genug: sie müssen zugleich eine
ausführliche Erklärung über die zunächst vorliegenden wichtigeren Gcsetzvorschläge
verlangen, um zu sehn, ob sie auch eine wirkliche Einsicht in die Sache ha¬
ben. Die Abneigung gegen parlamentarisches Wesen rührt zum großen Theil da¬
von her, daß man häufig in den Kammern mehr declamirt, als erwägt und ur¬
theilt. Man glaube nicht etwa, daß durch das selbstständige Urtheil jedes einzelnen
Abgeordneten das schließliche EinVerständniß erschwert wird; im Gegentheil wird eine
'wahre Verständigung nur unter Einsichtsvollen möglich sein, während die bloße
gute Gesinnung alles dem Zufall in die Hand spielt. Das Haus der Abgeordneten
wird die wohlthätigen Absichten des Regenten und seiner Rathgeber gegen die Ten¬
denzen des Feudalismus und der Anarchie am besten dadurch unterstützen, wenn es
durch eigene Kraft ihm in geordneter und zugleich entschiedener Weise das durchführen
hilft/ was die rechtliche Ordnung des Staats kräftigt und den Egoismus der Clas¬
sen ebenso in ihre Schranken zurückweist als die Unruhe der Menge. Ein Haus
der Abgeordneten, welches sich selbst im Lande und bei dem Regenten Achtung zu
verschaffen weiß, ist die sicherste Schutzwehr nach beiden Seiten hin. Diese Achtung
wird es sich aber nur dann erwerben, wenn es den Schwerpunkt seines Willens in
si
Geschichte der Architektur. Von Wilhelm Lübke. 2. stark vermehrte
Auflage. Köln, Seemann. — Das Buch verdient die allgemeine Anerkennung,
die es gefunden hat, in reichstem Maß. Aus der Fülle gründlichster und umfassendster
Kenntniß heraus hat der Verfasser sein Material geschöpft, aber mit umsichtiger
Auswahl nur dasjenige zusammengestellt, was dem größeren kunstliebenden Publicum
einen deutlichen Umriß zu geben geeignet ist. Durch die Vermehrung der Illustrationen,
deren technische Ausführung alle Anerkennung verdient, hat die neue Ausgabe außer¬
ordentlich gewonnen. —
Deutsches Kunstblatt redigirt von Fr. Eggers in Berlin. Stuttgart,
Ebner seubert. — Diesmal wollen wir von dieser allgemein anerkannten Zeitschrift
nur die Zugabe erwähnen, das von Paul Heyse in München redigirte Literatur¬
blatt, das in seinen letzten Nummern eine Reihe vortrefflicher Abhandlungen ent¬
hält. Darunter eine Charakteristik Dav. Straußs von Bischer, eine Recension der
Gedichte von Hebbel und Dingelstedt, des Columbus von Meute, und, was uns
besonders angezogen hat: „Die Gefahren für die wahre Sittlichkeit durch die falsche
Sittlichkeit in der Poesie" von Löbell. —Wir wünschen den beiden Zeitschriften —
denn daß sie zusammengeheftet sind, ist doch nur ein Zufall — ein recht fröhliches
Gedeihn.
W. Hcinscs sämmtliche Schriften, Originalausgabe, zweite Auflage.
Leipzig, Graul (Volksbivliothck deutscher Klassiker). Von dieser Ausgabe haben wir
bis jetzt sieben Lieferungen Erhalten; wir behalten uns vor, bei Vollendung derselben
auf den Charakter des Dichters und seinen Einfluß auf unsere Zeit zurückzu¬
kommen. —
Der Chevalier Sarti oder musikalische Zustände Venedigs im 18. Jahr¬
hundert. Ein Roman von P. sendo. Aus dem Französischen übersetzt und mit
musikalischen Anmerkungen begleitet vom Cantor O. Kate in Dresden. Dresden,
Kuntze. — Eine Reihe von Fcuillctonartikeln aus der Rövuö as äsux monäss im
Stil Heinscs und Hoffmanns, geistvoll geschrieben, mit sehr reichhaltigen musika¬
lischen Notizen und Urtheilen und Phantasiestücken verwandter Art ausgestattet.
Ob die Verbindung des Belehrenden und des Unterhaltenden einen correcten Ge¬
schmack befriedigt, wollen wir dahingestellt sein lassen. Die Zusätze des Uebersetzers
sind wahre Bereicherungen; es ist schade, daß er nicht noch mehr gegeben hat-
Dem Verfasser könnten wir für die warme, ja begeisterte Vertretung der deutschen
Musik dankbar sein, wenn ihm nicht Meyerbeer so ziemlich neben Mozart stände.-^
Staatengeschichte der neuesten Zeit. Geschichte Frankreichs von 1814—1852 von
August L. von Nvchau. In 2 Theilen. 1 Theil. Leipzig, S. Hirzel 1858. —
Das angezeigte Werk ist der Anfang eines großen Unternehmens, dessen
Haltung und Tendenz durch die geachteten Namen des Herausgebers und Ver¬
legers empfohlen wird. Es ist Plan, in einzelnen selbstständigen Lander-
geschichten darzustellen, wie sich das Staatenleben insbesondere seit dem wiener
Congreß entwickelt hat. Für die einzelnen Staaten sind tüchtige Persönlich¬
keiten gewonnen, vorzugsweise solche, welche aus eigner Anschauung und
durch nähern Verkehr mit den politischen Leitern der zu behandelnden Staa¬
ten befähigt sind, nach unmittelbaren Eindrücken oder nach dem Urtheil der
Besten zu schildern und zu charakterisiren. So hat nach dem Prospect des
Herausgebers und Verlegers Professor Arendt in Löwen die Geschichte Bel¬
giens, Doctor A. D. Mordtmann die Geschichte der Türkei, Professor
Wurm in Hamburg die Geschichte Englands übernommen. Ebenso soll die
Geschichte Oestreichs und Preußens einen gebornen Schriftsteller der beiden
Länder zum Verfasser haben. Das Unternehmen wird alle Culturstaaten Eu¬
ropas, außerdem die vereinigten Staaten von Nordamerika und Südamerika
umfassen. Die einzelnen Geschichten sollen den Vorzug haben, compendiös,
übersichtlich und lebendig erzählt zu sein. Kein Zweifel, daß dieser Plan einem
wirklichen Bedürfniß der Gebildeten entgegenkommt. Denn die neuere Zeit
ist von unsern Historikern besonders stiefmütterlich behandelt, und der Deutsche
lebt immer noch in der Nothwendigkeit, seine Kenntniß neuer politischer Zu¬
stände in dem Conversationslexikon u. s. w. suchen zu müssen.
Nun versteht sich, daß eine Geschichte der neuesten Zeit nicht selten in
der Lage sein wird, Charaktere, Verhandlungen, selbst Thatsachen nach un¬
vollkommenem Material zu beurtheilen. Auch dem besonnensten 'Mann drängt
die Parteistimmung seiner Zeit sich mächtig in die Schilderung der nächsten
Vergangenheit; der beste Beurtheiler der Menschennatur kann in der bedenk-
lichen Lage sein, die höchstgestellten Führer einer politischen Action mehr nach
der unsichern öffentlichen Meinung, als nach eigner Kenntniß ihres Charakters
zu richten; der genaueste Forscher wird den innern Verlauf eines politischen
Dramas bei noch mangelndem oder noch nicht gesichtetem Material vielleicht
unvollständig übersehn und wichtige Zwischenfälle, stille Motive, charakteri¬
stische Schwankungen werden seinem Blick ganz entgehn, weil die Documente
noch nicht veröffentlicht, die Eingeweihten zur Discretion verpflichtet sind. So
wird eine Geschichtschreibung der neuesten Zeit manches nicht haben, was dem
gelehrten Historiker leicht als das Werthvollste erscheint, nicht die souveräne
Uebersicht über das gerettete Material, nicht die parteilose Unbefangenheit,
und gar nicht den Vorzug, daß der Erzähler wenigstens relativ am besten
unterrichtet ist. Dagegen findet der Geschichtschreiber seiner Zeit in der Fülle
eines fast unübersehbaren Stoffes und in der Nähe seines Standpunktes auch
einige Vortheile. Wenn es ihm schwer wird, das richtige Urtheil über ein¬
zelne Menschen und Ereignisse zu finden, so kann er um so besser unterrichtet
sein über den gestimmten geistigen Inhalt der nahen Zeit, über die Cultur-
Verhältnisse, Neigungen und Stimmungen des Volkes, über das Zusammen¬
wirken der zahllosen kleinen Ereignisse, welche in vielen Fällen die Hand¬
lungsweise der Politiker und den Ausgang großer Affairen beeinflussen. Wenn
es ihm schwer wird, die letzten Resultate politischer Wandlungen, Segen und
Fluch, Fortschritt und Rückfall unbefangen zu würdigen, so hat er dafür das
Glück, daß sein Urtheil geregelt und controlirt wird, durch die starken Ueber¬
zeugungen seiner eignen politischen Partei, d. h. der Besten und Weise¬
sten, mit denen er lebt; und ferner, daß sein Volk in der eignen Vergangen¬
heit, wie in der anderer Culturvölker sich selbst mit Wärme und innigem
Antheil wiederfindet und verstehn lernt. Bei jedem Historiker legen wir mit
Recht auf seinen politischen Charakter hohen Werth, aber bei einem Ge¬
schichtschreiber der nächsten Vergangenheit sind die eignen politischen Ueber¬
zeugungen so wichtig, daß sie uns, den Mitlebenden, eher als jede andere
seiner Eigenschaften zum Maßstab für die Beurtheilung seines Werkes werden.
Auch von ihm fordern wir Gerechtigkeit für die Gegner, Ruhe in der Er¬
zählung, Würde im Charakterisiren, auch bei ihm verurtheilen wir Animo¬
sität, Gereiztheit und alle die subjectiven Stimmungen, welche dem Lesenden
den Glauben an die Wahrheit des Erzählten beeinträchtigen, aber wir suchen
in seinem Werk auch vorzugsweise unser eignes Urtheil, unsere Bildung,
unsere Methode, das Walten des Göttlichen zu verstehn. Die Geschichte Frank¬
reichs von August von Rochau reicht in dem ersten Bande von der Restau¬
ration Ludwigs 1814 über die hundert Tage, die Ministerien Richelieu,
Decazes, Villöle, den Congreß von Verona und den spanischen Krieg, den Re¬
gierungsantritt Karl X., die Ministerien Martigncic und Polignac und die
Eroberung von Algier bis zu der Julirevolution, der Thronbesteigung Louis
Philipps, den Unruhen und Kämpfen seiner ersten Regierungsjahre und dem
Attentat Fieschis. Der zweite Band wird noch Napoleon III. als Kaiser be¬
grüßen. Keine Staatengeschichte umfaßt in diesem kurzen Zeitraum so viel
weltcrschütternde Begebenheiten, gewaltsame Wandlungen, furchtbare Kata¬
strophen, aber bei keiner ist es so schwer, hinter den imponirenden Thatsachen
die Continuiät der politischen Entwicklungen zu erkennen und das, was wir
rationalistisch Fortschritt zum Bessern nennen. Wir mögen vertrauen, daß in
entfernter Zukunft alle Kreuz- und Quersprünge französischer Metamorphosen
als nothwendige Uebergänge und Vorbedingungen eines glücklicheren Zustan¬
des gelten werden, aber unser Auge vermag in der gewundenen Linie noch
kaum den Weg zu erkennen, auf welchem Frankreich zu einer sichern und fried¬
lichen Gestaltung seiner Freiheitsideale und seines sittlichen Lebens kommen
soll. Denn die Nation, in deren neuester Geschichte das celtische Volkselement
viel deutlicher zu Tage getreten ist als das germanische, lebt gegenwärtig noch
mitten in den Krisen einer großen Revolution. Seit der ersten Ausstoßung
des Königthums trat es in eine Periode unfertiger und haltloser Bildungen,
deren Folge zur Zeit noch unabsehbar ist. Bei der gewaltsamen Auslösung
des alten Feudalstaatcs verlor das Volk nicht nur seine Dynastie, sondern in
vielen wichtigen Lebensbeziehungen den Zusammenhang mit der Vergangen¬
heit, welcher dazu hilft, dem Einzelnen das Leben im gesetzlichen Gleise zu
erhalten, und schwer beeinträchtigt wurde ihm die Achtung vor fremden Rechten
und fremdem Eigenthum. Wüste Begehrlichkeit und rücksichtsloser Egoismus,
früher vorzugsweise die Fehler der privilegirten Stände, ergriffen die Masse auf
dem Lande nicht weniger, als in den Städten. Auf ein unbehilfliches Regi¬
ment, das die vernünftige Entwicklung der Volkskraft zurückgehalten hatte,
folgte die schncllwechselnde Herrschaft socialer Theorien, welche nicht weniger
vernunftwidrig, gewaltthätig und tyrannisch waren. So verschieden auch
die Phasen sind, welche Socialismus und Communismus in Frankreich seit
den Jahren 1789 durchgemacht haben, bis heut haben sie ihren mächtigen
Einfluß aus die untern Volksschichten nicht verloren. Es war — für unser
Auge — nur ein scheinbarer Fortschritt, als aus dem Staate des sechzehnten
Ludwig der Polizeistaat Napoleons und die Charten der Bourbonen und
Louis Philipps herauswuchsen; denn die letzte Bedingung der Dauer fehlte
jeder dieser Bildungen. Trotz aller wirklichen oder fingirten Volkssympathien
existirten die wechselnden Regierungen, wie auch ihre Form war, unter Mi߬
trauen und Intriguen gegen das Volk, und wenige kurze Zeiten ausgenommen
betrachteten sie sämmtlich die Nation als einen stillen Gegner ihres Bestandes.
Ursache dieses größten nationalen Unglücks war nicht die mangelhafte Legiti¬
mität oder die unpopuläre Persönlichkeit der Herrscher, sondern der Umstand,
daß jede Regierung seit 1789, um sich zu behaupten, das höchste Interesse des
Landes dem der Hauptstadt nachzusetzen genöthigt war. Jede hat die Cen¬
tralisation Frankreichs verstärkt und das politische Aufblühen der Provinzen,
Districte, Gemeinden niedergehalten. Der Mangel an communaler Freiheit
und dem daraus hervorgehenden Selbstgefühl verhinderte nicht nur die Pro¬
vinzen, eine zuverlässige Stütze der populären Regierungen zu werden, sondern
er gab auch der Hauptstadt Paris eine gesellschaftliche und politische Wichtig¬
keit, welche das Verhängniß von Frankreich geworden ist. Alle Begehrlichkeit,
alle Kraft, aller Ehrgeiz der Einzelnen verfiel dem unruhigen Treiben der
Hauptstadt, wo sie fern von ihrer Familie, fern von der Stütze und Controle
ihres heimathlichen Kreises von dem abenteuerlichen Streben ergriffen wurden, ihr
„Glück zu machen". Der Erwerb hörte auf eine Pflicht zu sein, welche das
Leben befestigt und weiht, er wurde ein Mittel, Einfluß oder Genuß zu'ge¬
winnen. Die Zielpunkte des Ehrgeizes wuchsen nicht langsam, zugleich mit
Tüchtigkeit und Kraft in wohlbeschränktem Kreise, durch plötzlichen Glücks¬
wechsel, durch schnelle Carriere, durch die flüchtige Ausbildung einzelner Vir¬
tuositäten wurden die größten Erfolge erreicht. Zwar entfaltete sich unter
solchen Verhältnissen schnell die materielle Kraft der Nation, immer größer
wurde die Anzahl der Wohlhabenden, und Reichthum ward von Einzelnen
massenhaft aufgehäuft, aber es war in der Industrie selbst kein durchaus ge¬
sundes Verhältniß. Neuen, vielverheißcnden Unternehmungen strömten die
Capitalien im Uebermaß zu, und die Fabrikindustrie, welche sich zudringlich
geltend machte, wurde durch hohe Schutzzölle groß gezogen, vorzugsweise in den
Richtungen, welche von der Mode und den wechselnden Bedürfnissen des Luxus am
meisten abhängen, aber die conservative Kraft des Ackerbaues kam den Regierungen
wenig zu gute. Die größern Grundeigenthümer waren bei dem schnellen und
gewaltsamen Wechsel der Eigenthumsrechte ihrer Scholle fremd geworden. In
Paris zu leben wurde sowol den Geldmännern als der restaurirten Aristokratie
übermäßig lockend. Wer aus dem Lande vegetirte, fühlte sich isolirt, ver¬
gessen, einflußlos. Er galt dem Staate weniger als jeder Journalist, der
von Paris aus die öffentliche Meinung beherrschen half. Zwar war schon
unter Napoleon I. das quantitative Verhältniß des großen Grundbesitzes zu
dem bäuerlichen nicht grade nachtheilig für das Aufblühen der Landwirth-
schaft, aber in den meisten Departements waren die großen Güter in den
Händen abhängiger Pächter und die Güter mittler Größe, welche in Deutsch¬
land die höchste politische Wichtigkeit haben, weil sie einer gebildeten Fami¬
lie bei intelligenter Arbeit Wohlstand und kräftiges Selbstgefühl erhalten,
waren in Frankreich weniger zahlreich, jedenfalls weniger einflußreich. Der
alte Adel war nach der Restauration in der großen Mehrheit seiner Mitglieder
ein unnützes, ja schädliches Element des Staatskörpers geworden. Durch die
Emigration dem Vaterland entfremdet, kalt und feindselig gegen alles, was
seit der ersten Revolution im Lande Geltung gewonnen hatte, zum großen
Theil verarmt und in der Fremde verwildert, bildete er eine lärmende, gesetz¬
lose, an Kapacitäten arme, aber fcstgeschlossene Opposition gegen alles, was
seinen vermeinten Standesinteressen nachtheilig erschien. So kam es, daß
schon unter den Bourbons und noch mehr unter Louis Philipp neben weni¬
gen Aristokraten mit hohem Titel und neben einigen alten Generalen Napo¬
leons vorzugsweise pariser Berühmtheiten, Gelehrte, Journalisten, Geldleute,
Leiter der Negierung und der Opposition wurden. Der unruhige, rücksichts¬
lose Egoismus des pariser Lebens zerfraß deshalb auch die Negierung des
Staates und die größten Interessen wurden in einem Spiel persönlicher In¬
triguen verdorben.
Dazu kamen eigenthümliche moralische Schäden, welche keine Negierung zu
Heilen vermochte. Die Schreckensherrschaft und ein fast fünfundzwanzigjähriger
Krieg, der die Blüte der männlichen Jugend unter den Fahnen hielt, hatten das
Familienleben noch ärger verdorben, als die Frechheit des höfischen Adels
unter den alten Bourbonen. Die Hetärenwirthschaft zu Paris wurde unter
jeder der folgenden Regierungen noch schamloser, von dem Wirbel der genu߬
süchtigen Hauptstadt aus verbreitete sich die geschlechtliche Unsitte tief in das
Land. Die sogenannte schöne Literatur füllte sich an mit einer widerwärtigen
und schlüpfrigen Darstellung dieser socialen Schäden, und verdarb noch mehr
als das schlechte Beispiel der Hauptstadt. Luxus und Genußsucht erzeugten
Käuflichkeit der Beamten und niedrige Speculationen selbst in den höchsten
Kreisen. Der Volksunterricht kam zu keinem Gedeihen, mit den Bourbonen
restaurirte sich auch das Pfaffenregiment, und die sehr weltliche Regierung
Philipps hat den Vorwurf verschuldet, daß sie für den Elementarunterricht
weit weniger gethan hat wie ihre Pflicht war. Dagegen gewann die Tages¬
presse, welche Napoleon mit eiserner Hand niedergehalten hatte, gleich nach
der Restauration den wichtigsten Einfluß; aber die souveräne Herrschaft der
Hauptstadt veranlaßte schnelle Entwicklung eines eigenthümlichen Journalis¬
mus, der den Franzosen ebenso viel schadete als nützte. Denn es waren nur
selten die wesentlichen und realen Interessen der Menschen und Landschaften,
sondern vorzugsweise die leidenschaftlichen Parteihändeldebatten, Klang der
Phrasen, Gezänk der Ehrgeizigen, an welches die Leser sich gewöhnten, wie
an einen berauschenden Trank. Der sittliche Ernst und die Wahrhaftigkeit
der Schreibenden wurden bei solcher Behandlung der Tagesfragen immer ge¬
ringer, große Einnahmen, plötzlicher Einfluß verzogen den Tagesschrift¬
steller, Redacteure und Abbonnenten corrumpirten einander gegenseitig. Wol
durste man Paris das Herz von Frankreich nennen, aber die Nation wurde
herzkrank, und lange und heftig arbeitete das Leiden, bevor nur wenige den
Grund desselben erkannten. Zu helfen aber hat bis jetzt kein Staatsmann
versucht, nach zahlreichen Verschwörungen, Mordversuchen und Hinrichtungen,
nach den furchtbarsten Straßcnkämpfen und Emeuten, nach einem Revolutions¬
leiden von sechzig Jahren ist Frankreich in seiner Staatsbildung kaum um
einen Schritt weiter gekommen. Ein Polizeistaat in der raffinirtesten Form,
eine argwöhnische, das Volk belauernde Regierung, die größte Unselbststän-
digkeit und Unfreiheit der einzelnen Volkskreise, das sind, so scheint es, die
Resultate alles vergossenen Blutes, aller leidenschaftlichen Kämpfe auf der Tri¬
büne, aller Concentration des Talentes einer geistvollen Nation. Nicht als
wenn grade die gegenwärtige Form des napoleonischen Regimentes für Frank¬
reich nothwendig wäre, es mag über kurz oder lang eine Zeit kommen,, wo
das grade herrschende System humaner mit dem Volke verkehrt, wo nach
französischer Ausdrucksweise irgend eine Charte wieder zur Wahrheit wird. Aber
mit oder ohne Charte und Kammern ist nach menschlichem Ermessen noch für
lange Zeit das Schicksal Frankreichs, durch Paris und dessen Abenteurer, G-cld-
männer, Beamte, Generale, Journalisten, Priester und geheime Gesellschaften
souverän regiert zu werden. Und dabei fehlt dem Volk die nothwendigste
Bedingung eines monarchischen Staates, die Gewöhnung und Neigung zu
einer regierenden Familie, und ebenso sehr fehlt ihm die nothwendigste Grund¬
lage jeder republikanischen Staatsform: Gewöhnung und Fähigkeit zum Selbst¬
regiment.
Und doch wird es eine Aufgabe des Geschichtschreibers, zu erforschen, daß
auch für Frankreich die politischen Kampfe von mehr als einem halben Jahr-
hundert nicht vergeblich waren, und er wird versuchen, aus wenig betretenen
Wegen zu erkennen, ob schon jetzt die Anfänge solcher Bildungen vorhanden
sind, welche diesem Staate Genesung und eine kräftige Entwicklung in bes¬
serer Zukunft verheißen. Dazu gehört freilich eine genaue Kenntniß des De¬
tails, welche aus Büchern nicht zu entnehmen und selbst in Frankreich weni¬
ger zugänglich sein dürfte. Wir in der Ferne vermögen nur Unsicheres zu er¬
kennen. Daß Wohlstand und praktische Intelligenz in Frankreich, trotz aller
politischen Leiden in schnellem Fortschritt begriffen sind, vermag man leicht
zu erkennen. Die Forderung der Decentralisation ist wenigstens von Ein¬
zelnen: Tocqueville, Raudot u. a. laut ausgesprochen worden. Die sogenannte
romantische Schule Frankreichs, die große Verderberin des Geschmacks und
der Bildung, ist im Untergange, und eine starke Ernüchterung ist ihr gefolgt,
freilich noch nicht mehr. Sodann wird der Zusammenhang der Culturvölker
mit jedem Jahr inniger und die Wandlungen des einen üben immer größere
Wirkungen auf die andern aus. Noch steht Frankreich und das System Na¬
poleon III.,' grade wie Deutschland bis zu den letzten Wochen, unter dem
Einfluß einer leidenschaftlichen Reaction gegen das Jahr 1348. Es ist un-
zweifelhaft, daß die Aenderung der innern und äußern Politik Preußens eine
unwiderstehliche Wirkung auf die kleineren Staaten Deutschlands ausüben
muß, und es ist wahrscheinlich, daß die neue Entwicklung deutscher Verhält¬
nisse, wie unsicher und schwankend sie auch in den nächsten Jahren sein mag,
auch in Frankreich entsprechende Erscheinungen unterstützen wird. Das System
des Kaisers wird den Franzosen niemals die Freiheit der Bewegung geben,
welche die gegenwärtige Opposition für sich fordert, aber es ist nicht unmög¬
lich, daß dasselbe wenigstens so weit den unabweisbaren Forderungen der Zeit
nachgibt, um der Opposition neue Kräfte zu erwecken und auf einem gesetz¬
lichen Kampfplatz zu üben.
Wie Rochau diese letzte Bedeutung der politischen Wandlungen Frank¬
reichs darstellt, ist aus dem vorliegenden ersten Band noch nicht zu erkennen;
was er aber gibt, verdient lebhafte Anerkennung. Einfache und doch inter¬
essante Erzählung, besonnenes und gerechtes Urtheil, feines Verständniß der
wechselnden Situationen. Ueberall erfreut ein richtiges Maß, von den Wand¬
lungen der Gesetzgebung, den Verhandlungen der Kammern, der Politik der
Ministerien ist grade genug gegeben, um den Leser zu orientiren, ohne ihn
zu ermüden. Die Staatsactionen und wichtigsten Tagesereignisse sind unbe¬
fangen erzählt und so viel Detail zugefügt, um den Bericht anschaulich zu
machen. Sehr hübsch macht der Verfasser verstehn, wie die Restauration der
Bombonen auch bei gutem Willen und bei zuweilen nicht gemeiner Geschick-
lichkeit der Regierenden doch nur Unhaltbares ins Leben rufen konnte, weil
mit ihr ein unversöhnbarer Gegensatz in das Leben des Staats eingepflanzt
war. Durch ihre Zurückberufung wurde Frankreich in zwei Lager getheilt,
von denen das kleinere, legitime alles verabscheute und angriff, was dem an¬
dern Ehre, Stolz und Bestimmung Frankreichs war. Und durch diese
Gegensätze, von denen jeder relative und keiner unbedingte Berechtigung hatte,
mußte die innere und äußere Politik dotz der patriotischen Einsicht Einzelner
vergiftet werden. Darnach erscheint die Julirevolution als eine nothwen¬
dige Krise, durch welche die große Majorität des Volkes sich von der herr¬
schenden Minorität zu befreien suchte. Die Darstellung der Julirevolution
selbst bietet zwar nichts Neues, aber grade hier verdient der Verfasser Dank
für manches, was er im Gegensatz zu französischen Erzählern nicht berichtet
hat- Die Kopflosigkeit der liberalen parlamentarischen Opposition in dieser
Krisis ist dagegen in gutes Licht gestellt, und mit Recht wird hervorgehoben,
daß der auffallende Unwille der Straßen von Paris viel mehr als irgend eine
Planvolle Leitung die Katastrophe herbeigeführt hat. Und wieder ist gut
nachgewiesen, wie die Negierung Louis Philipps gegenüber den egoistischen
Und maßlosen Parteimanövern des herrschenden Liberalismus und der launi¬
schen öffentlichen Meinung vereinsamte und zu derselben politischen Unreo-
lichkeit gedrängt wurde, welche die ministeriellen Gegner so häusig charakteri-
sirte. Es ist eine Eigenthümlichkeit des Verfassers, daß er sein eignes Urtheil
eher zurückhält als aufdrängt. Man vermißt nicht Gesinnung und nicht Herr¬
schaft über den Stoff, aber er liebt es, in kurzen Bemerkungen am Ende seiner
Absähe den Leser mehr zu leiten als zu bestimmen. Wenn bei solcher ver¬
ständigen und bescheidenen Erzählung etwas zu wünschen übrig bleibt, so ist
es eine größere Fülle im Charakterisiren der wichtigeren Persönlichkeiten. Zu¬
mal Louis Philipp hätte da, wo er Leiter der Geschicke Frankreichs wird,
eingehende Besprechung wol verdient. Im Ganzen aber macht das Werk den
günstigsten Eindruck, es ist zu hoffen, daß dasselbe ein richtiges Urtheil über
Frankreich bei den Deutschen fördem wird, und mit warmem Antheil begrüßt
d. Bl. ein großes deutsches Unternehmen, welches unter so günstigen Auspi¬
Hieronymus Savonarola. Nach Originalurkunden und größtentheils unge-
druckten Schriften von F. T. Perrcns. Eine von der französischen Academie
gekrönte Preisschrift. Nach der zweiten Auflage des französischen Originals über¬
setzt von I. F. Schröder. Braunschweig, Schulbuchhandlung.—
31 Jahr vor Luther, den 21. Sept. 1452, wurde Savonarola zu Ferrara
geboren. Sein Vater, ein angesehener Arzt, bestimmte ihn zum medicinischen
Beruf, aber er entfloh am 23. April 1466 dem elterlichen Hause und trat zu
Bologna in das Dominicanerkloster ein. Seinen Entschluß motivirte er spä¬
ter folgendermaßen: „ich liebte über alles zwei Dinge, Freiheit und Ruhe;
sie sind es, welche mich in den Hasen geführt haben. Um frei zu sein, wollte
ich keine Frau haben, und um Ruhe zu erlangen, habe ich die Welt geflohen
und bin in den Hafen des geistlichen Standes eingelaufen." Wahrer drückt
das Schreiben, welches er zugleich mit einem Manuscript über die Verachtung
der Welt seinem Vater zurückließ, seine Beweggründe aus. Er schildert den
entsetzlichen Eindruck, den die allgemeine Schlechtigkeit der Menschen auf ihn
gemacht habe, ein Eindruck, der im Zeitalter der Borgia wol verständlich
ist. „Darum flehte ich tagtäglich zu meinem Heiland Jesus Christus, er möge
mich aus diesem Sündcnkothe ziehn." Ich bereue wahrhaftig nicht, was
ich gethan habe; ich würde nicht in die Welt zurückkehren, wenn ich selbst
glaubte größer werden zu können als Cäsar Augustus, indessen ich habe
Fleisch und Blut wie ihr, und meine Sinnlichkeit streitet wider die Vernunft.
So muß ich grausame Kämpfe bestehen, um zu verhindern, daß der Teufel
mir nicht über die Schultern wachse, vorzüglich in solchen Augenblicken, wo
ich von euch reden höre. Bald jedoch wird diese erste so schmerzliche Zeit
vorüber sein."
Savonarola war ins Kloster getreten, um ungestört über Gott nachzu¬
denken, aber die Dominicaner waren ein lehrhafter Orden, und der junge sem
gebildete Mann wurde wieder auf philosophische Studien hingewiesen, und
da er als Kanzelredner kein besonderes Glück machte, zum Jugendunterricht
benutzt. In dieser Eigenschaft wurde er 1482 an das Kloster San Marco in
Florenz deputirt. Bescheiden und zurückgezogen erfüllte er die Pflichten seines
Amtes. Andere seiner Kollegen wuchsen ihm über den Kops, da sie schöne
Phrasen anzuwenden wußten. Savonarola konnte nicht reden, wenn ihm nicht
etwas aus dem Herzen lag. Bald sollte sein Herz ihn drängen. Er hatte
sich von der Welt zurückgezogen, um der allgemeinen Sündhaftigkeit zu ent¬
fliehen; er fand die Sünde im Kloster wieder. „Er sah, wie die Prälaten sich
nicht mehr um ihre Herden bekümmerten, sondern sie durch ihr böses Beispiel
verdarben, wie die Priester die Kirchengüter verschleuderten, wie die Prediger
nichtiges Geschwätz trieben und die Geistlichen sich allen Ausschweifungen Hin¬
gaben." Statt also das Christenthum den Ungläubigen zu verkündigen, war
der Klerus der Mittelpunkt dieser von Gott verlassenen Welt. „Sünden und
Missethaten," sagt ein Zeitgenosse, „hatten sich in Italien vervielfältigt, weil
dieses Land den Glauben an Christus verloren hatte. Man glaubte allge¬
mein, daß alles in der Welt ein Werk des Zufalls wäre. Gewisse Männer
meinten, daß die menschlichen Dinge von dem Einfluß der Gestirne regiert
würden. Man leugnete das zukünftige Leben und verhöhnte den religiösen
Glauben. Die Weltweisen hielten ihn für gar zu einfach, und höchstens für
Weiber und Unwissende gut genug. Einige sahen in ihm nnr eine Lüge von
Menschen erfunden, kurz ganz Italien und vor allem die Stadt Florenz war
in Unglauben versunken. Sogar die Weiber leugneten Christus und alle
Männer und Weiber kehrten zum Heidenthum zurück und beschäftigten sich eif¬
rig mit den Dichtern, Astrologen und allem möglichen Aberglauben."
Für ein wahrhaftes Gemüth war es ein entsetzliches Gefühl, im Dienst
der Lüge zu stehn. Daß einer allgemeinen Weltverbesserung die Wiedergeburt
des Klerus vorangehen müsse, war ihm klar, aber wie mochte ein schwacher
Mönch so große Dinge unternehmen? Er wandte sich im inbrünstigen Ge¬
bet zu Gott, und endlich wurde ihm ein Zeichen: er hörte eine Stimme des Herrn,
die ihm verkündete, daß in kürzester Frist Italien von einem furchtbaren Straf¬
gericht heimgesucht werden würde. Dieses Gesicht erstickte alle Zweifel. Er betrach¬
tete sich uun als einen Propheten, an welchen ein ähnlicher Ruf ergangen war
wie einst an Amos und Ezechiel: „denn es ist die Pflicht desjenigen, welcher
das Wort Gottes vernimmt, dasselbe den Menschen zu überbringen", und Sa-
vonarola gab sich ohne Rückhalt seinen Inspirationen hin. Schon seit 1486
verkündigte er seine Offenbarung in verschiedenen Städten; in Florenz zuerst
am 1. August 1490. Nun hatte er etwas zu sagen und nun fand er dafür
das mächtige Wort. Die Kirche von San Marco zeigte sich bald zu klein
für die Tausende von Zuhörern; bei der Unsträflichkeit seines Lebenswandels
verbreitete sich der Ruf der Heiligkeit, und sein Leben wird seitdem von einer
Legende umschleiert, deren Spuren man nur mit Mühe von den beglaubigten
Thatsachen zu sondern vermag.
Aber wenn in Savonarvlcis Gemüth der Keim der Mystik lag, so trieb
ihn sein energischer Charakter, was er als Wahrheit schaute, zu Wahrheit zu
machen. Es genügte ihm nicht, die Wiedergeburt zu verkündigen, er mußte
unmittelbar dafür arbeiten. Das Kloster wählte ihn 1491 zum Prior, der
Beschützer desselben, Lorenzo de Medici, suchte ihn zu gewinnen, aber
Savonarola sagte dem Boten: „gehe und melde Lorenzo, daß er für seine
Sünden Buße thue; denn Gott will ihn züchtigen, ihn und die Seinigen."
Lorenzo hatte Gefühl für das Große und Starke, er achtete den kühnen Mönch
und ließ sich von ihm die Sterbesacramente ertheilen, April 1492. Gleich
darauf starb der Papst; Alexander VI. Borgia. der Bater Cäsars und Lukre-
zias wurde das Oberhaupt der Kirche, Lorenzos Sohn Pietro, ein wüster
haltloser Mensch, regierte in Florenz. Bald bedrohte man den Prior wegen
seiner Predigten, und er hatte jetzt in der That ein anderes Geschäft: er setzte
seine Reformen zunächst in seinem Kloster unmittelbar ins Werk. Mit
eiserner Hand, trotz des Widerspruchs der Mönche. Das Wohlleben und
die Trägheit hörten auf. jeder wurde zur Arbeit angewiesen, die Ordens¬
regel auf das strengste durchgeführt. Aber er ging noch darüber hinaus.
Er gebot Einsamkeit und Schweigen, er befahl, daß die Betten nur aus einem
Strohsack, mit einem einzigen Tuch bedeckt, bestehen sollten; er schaffte die
Bücher mit Bildern und die reichen Buchzeichen ab, und endlich, damit seine
Mönche ihr Herz nicht an irdische Güter hängen möchten, ließ er sie oft ihre
Kleider. Bücher und Zellen wechseln. Er gründete drei Lehrstühle für Predi¬
ger und eine Schule für die orientalischen Sprachen, damit die Mönche mit
desto größerem Nutzen die heilige Schrift in den Originalsprachen studiren und
die Wahrheit in entfernten Ländern ausbreiten könnten. In seiner Sitten¬
strenge ein leuchtendes Vorbild, verlangte er viel von seinen Untergebenen und
setzte sein Verlangen durch. „Die Ordensleute müssen Gehorsam üben," sagte
er, „man muß wie der Esel sein, welcher sich rechts und links führen, hinter
sich herschreicn, sich schimpfen und Stockschläge geben läßt, ohne zu murren."
Das Kloster war reformirt; nun drängte es ihn nach einer größeren Wirt-
sanken. Es gelang ihm, durch seine Verbindungen beim Papst durchzusetzen,
daß die Dominicanerklöster in Toscana, die bisher unter dem Pater Provincial
der Lombardei standen, selbstständig organisirt wurden. Gleich daraus wurde
er einstimmig zum Generalvicar derselben erwählt, und konnte nun seine
Reformen in größerem Maßstabe durchsehen. Der Papst, von allen Seiten
auf den talentvollen Mann aufmerksam gemacht, suchte ihn unter der Hand
durch das Versprechen des Cardinalhuts zu gewinnen. Savonarola antwortete
in einer öffentlichen Predigt: „ich will keinen anderen Hut als den des Mär¬
tyrers, roth gefärbt mit meinem eigenen Blut."
Unablässig hatte Savonarola das kommende Strafgericht über Italien
verkündigt, und es kam wirklich. Karl VIII. von Frankreich begann 1494 seinen
abenteuerlichen Zug. und Pietro Medici, der ihn erst durch trotziges Verhalten
gereizt, schloß eigenmächtig einen schimpflichen Vertrag mit ihm ab. Die er¬
zürnten Florentiner vertrieben in einem echt italienischen plötzlichen Entschluß
ihn und seinen Anhang, und Savonarola wurde von dem Volk berufen, an
der neuen Ordnung der Dinge thätigen Antheil zu nehmen.
Höchst wahrscheinlich war er durch dieses Ereignis; außer Fassung gesetzt
und wußte anfangs nicht, wie er es dem Cyklus seiner Prophezeiungen ein¬
reihen sollte. Seine ersten Predigten waren schwächer als gewöhnlich; in
seiner Gesandtschaft an den König benahm er sich sehr ungeschickt. Aber bald
hatte er sich gefaßt und seine Inspirationen mit der Wirklichkeit in Uebereinstim¬
mung gebracht. Seine Vorschläge, als der König endlich abzog und die Stadt in
großer Noth zurückließ, waren Fasten und Gebet, Sammlungen sür die Armen
allenfalls mit Aufopferung der Kirchengeräthe, Verringerung der Steuern, die
auf den untern Classen lasteten, Herstellung einer guten Rechtspflege für
alle. Savonarola war nicht im Princip Republikaner, er glaubte mit
den Theologen des Mittelalters, daß die vollkommenste Negierung die
Monarchie wäre, weil sie mehr als jede andere der Regierung Gottes
gleiche; vorausgesetzt jedoch, daß der Eine, welcher berufen würde, über
seines Gleichen zu herrschen, der Beste unter den übrigen wäre. Aber
als praktischer Mann erkannte er bald, wie schwer es sei, den Besten zu fin¬
den, und warf sich nun mit dem ganzen Eifer seiner Natur in die Demo¬
kratie. Die Staatsreform mußte sich nach seiner Ueberzeugung auf eine vor¬
hergehende Sittenreform gründen. Die Wiederherstellung der Religion sei
das Erste, dann die Verbesserung der Finanz- und Gerichtsverwaltung, eine
allgemeine Amnestie und schließlich eine Verfassung, nach welcher die höchsten
Aemter durch Wahl, die weniger wichtigen durchs Loos verliehen werden.
„Wenn ihr dies alles ohne Widerstreben thut, so verspreche ich euch im Na¬
men Gottes ^die Vergebung eurer Sünden und einen großen Preis im Pa¬
radiese."
Wenn auch die Verfassung einen demokratischen Zuschnitt hatte, so war
sie in der Form doch keineswegs eine reine Demokratie; im Gegentheil waren
die Rechts befugnisse der verschiedenen Classen auf eine ziemlich verwickelte
Weise geordnet. Indessen auf diese Formen kam wenig an, da in allen ernst¬
haften Fragen der Wille der Volksmasse den Ausschlag gab, und diese unbe¬
dingt von ihrem Propheten geleitet wurde. Was mit Revolutionen gewöhn¬
lich verbunden zu sein pflegt. Schuldenerlaß, Einkommensteuer, selbst ein Maxi-
mum für die Lebensmittel, fand auch diesmal statt. Weit entfernt, dem
individuellen Belieben Freiheit zu geben, spannte Savonarola die Zügel sehr
straff an: da Christus selbst an der Spitze der Republik stehe, so werde jede
weitere Kritik der Regierung zu einer Gotteslästerung. — Man sieht, es ge¬
schieht nichts Neues unter der Sonne.
Ganz anders als Luther, der nach seiner Lossagung von Rom in den
Schoß des Volks zurücktrat, blieb Savonarola als Reformator der alte
Mönch. Aller Luxus und alle Festlichkeiten wurden VM Polizei wegen unter¬
sagt, sast die Hälfte des Jahres wurden Fasten gehalten, in den Straßen
hörte man nur geistliche Gesänge erschallen. Der Unterricht in den alten Spra¬
chen wurde nicht mehr aus den Schriften des Horaz, Cicero und Virgil, sondern
aus dem heiligen Leo. dem heiligen Hieronymus und dem heiligen Ambrosius
geschöpft. Man sah die Frauen und öfters auch die Männer auf den Straßen
in ihren Gebetbüchern lesen. Während der ganzen Dauer der Predigt blieben
die Schulen und die Verkaufsladen geschlossen. Wollten diese neuen Christen
einmal eine Ergötzlichkeit haben, so vereinigten sich etwa ihrer dreißig Männer
und Weiber an einem angenehmen Ort, in der Stadt oder auf dem Lande;
nachdem sie zuvor communicirt. brachten sie den Tag unter Lobpreisungen
Gottes und dein Absingen von Psalmen hin. Bisweilen nahmen sie das
Jesuskindlein in ihre Mitte und richteten an dasselbe unter Thränen Gebete.
Sie hielten fromme Reden und trugen in Procession das Bild der Madonna
herum. Savonarola billigte es, wenn Frauen, die von ihren Gatten nicht
die Bewilligung erhalten konnten, ins Kloster zu treten, den Entschluß faßten
ihre Lebenstage fortan so zu verleben, als wenn sie nicht verheirathet wären,
ja er mischte sich in das innere Leben des Hauses in einer Weise, wie es
noch nie ein Despot gethan. Noch unerhörter war das Mittel, welches er
dazu anwendete. Er warb die Kinder für seine Predigten und übertrug ihnen
die Sittenpolizei, sie mußten überall in der Stadt umherwandern. um die
Gotteslästerer und Spieler zu verfolgen, und den letztern ihre Karten, Würfel
und selbst Geld wegzunehmen, welches sie dann den Armen gaben. Wenn
sie junge Mädchen zu prächtig geschmückt antrafen, so richteten sie an dieselben
wie ein Anhänger des Propheten erzählt, „mit einer Sanftmuth und Ein¬
fachheit, daß man Thränen dabei vergoß," Worte wie etwa: „im Namen
Gottes, des Königs unsrer Stadt, und der heiligen Jungfrau Maria, unsrer
Königin, ernähren wir dich, all diesen eiteln Schmuck abzulegen; thust du es
nicht, so wirst du von Krankheit heimgesucht werden." Sie begnügten sich
nicht, ihr Amt auf den Straßen zu verwalten, sondern ließen sich die Häuser
öffnen, nahmen daselbst Karten. Schachbretcr, Harfen, Lauten, die wohl¬
riechenden Essenzen, Spiegel, Masten, Dichterwerke und andere zum Verder¬
ben gereichende Dinge weg. In allen Häusern war Zwiespalt ausgebrochen.
Mann und Frau, Vater und Kinder, kurz alle lagen miteinander in Streit,
die Schwiegermutter jagte ihre Schwiegertochter aus dem Hause, der Mann
seine Frau, und die Frauen schrieben heimlich an Savonarola, ihm die An¬
schläge ihrer Männer zu verrathen.
Schon zu Anfang 1496 hatte der Reformator eine Leihanstalt errichtet,
in welcher den Bedürftigen zu unerhört billigen Zinsen Geld ausgeliehen
wurde. Also auch Proudhon hat nichts Neues erfunden. Natürlich konnte
die Leihanstalt nur durch Zwnngssteuern erhalten werden, die man den Reichen
auflegte.
ES versteht sich von selbst, daß gegen dies Treiben in der Stadt eine
starke Opposition bestand, die aber nicht laut zu werden wagte. Sie wandte
sich unter der Hand an den Papst, der auch einige Schritte that, aber nicht
darauf bestand, da ihm vorläufig die Sache nicht nahe zu liegen schien. Erst
als der Herzog von Mailand, damals der Vormund der conservativen Sache,
ihn drängte, ließ er sich im September und October 1495 zu strengern Ver¬
boten herbei, aber auch diese hatten keine Wirkung, da die Zeitströmung noch
entschieden für den Propheten war. Bald geschah etwas, was in solchen
Fällen fast nie ausbleibt: man fürchtete für das Leben des guten Volksfreun¬
des und gab ihm eine Leibwache. Schon wurde seine Sprache gegen den
Papst dreister. „Wenn der Papst sich von den Pharisäern fälschlich bereden
liebe und mir beföhle, nicht mehr zu predigen, so würde ich. da ein solcher
Befehl dem Anbau des Weinbergs des Herrn zuwider wäre, nicht in Worten
aber in Absichten gehorchen. So lautet die Meinung des heiligen Thomas.
Wenn er mir beföhle, während der Fasten Fleisch zu essen, während ich
doch gesund bin, so würde ich nicht gehalten sein, ihm zu folgen, weil ein
solcher Befehl M) mit unsrer Ordensregel und Verfassung nicht verein¬
baren ließe."
Der Papst berief darauf April 1496 ein Capitel von den Dominicanern,
die einstimmig den Bruder Hieronymus für einen Ketzer erklärten, doch dauerte
es noch bis zum 12. Mai 1497 , ehe sich der Papst entschloß, den Bannfluch
auszusprechen.
In der Zeit hatte Savonarola mehrfachen Anstoß gegeben. Bei einer
Procession, bei welcher 8000 Kinder die Hauptrolle spielten, tanzten die Do-
minicnner, das Haupt mit Kränzen geschmückt, auf dem freien Platz eine Runde,
indem sie dabei Hymnen und Psalmen sangen. In einem feierlichen Autodafö
wurden die von den Kindern confiscirten Luxusgegenstünde verbrannt, da¬
runter mehre berühmte Gemälde und Dichtungen. Schon fing man an, gegen
den Reformator zu predigen und was schlimmer ist, Spottgedichte zu machen.
Die Medici hatten einen Handstreich versucht, infolge dessen ein Proceß ein¬
geleitet wurde: fünf der angesehensten Edelleute wurden hingerichtet und ihre
Güter confiscire August 1497. Die Erbitterung stieg, aber noch immer war
sein Anhang zu mächtig, als daß der Bannspruch des Papstes hätte durch¬
geführt werden können.
Seit dem Februar 1498 sing er wieder an öffentlich zu predigen und
zwar diesmal in offnem Widerspruch gegen den Papst.
„Als Grundsatz nehme ich an, daß jeder Mensch sich täuschen kann; der
Papst selbst ist nicht untrüglich. Es wäre Unsinn, das Gegentheil zu behaup¬
ten. Wie viele schlechte Päpste hat es gegeben, welche sich geirrt haben!
Wenn es wahr wäre, daß der Papst von allem Irrthum frei ist, so würden
wir, wenn wir das thäten, was die Päpste thun, sicher sein, selig zu werden.
Ein Papst, werdet ihr sagen, kann irren, inwiefern er ein Mensch ist, aber
nicht als Papst. Gleichwol sind die Entscheidungen, welche sie treffen, voller
Irrthümer. Leset alle Verordnungen eines Papstes, ein andrer hat sie wieder
vernichtet. Die Meinungen der Päpste stehen untereinander im Widerspruch.
Es gibt für sie eine doppelte Art sich zu irren, erstens wissen sie nur, da sie
in Rom sind, vom Hörensagen, was außerhalb vorgeht, und man belügt sie
oft; zweitens können sie boshaft und gegen ihr Gewissen handeln. Nichts¬
destoweniger dürfen wir ihnen aber niemals eine böse Absicht unterschieben.
Gott allein kann die Herzen erforschen; die Menschen aber müssen annehmen,
daß der Wille des Papstes gut, daß er aber hintergangen worden ist."
„Man sagt, daß der Papst als Papst untrüglich ist, und glaubt etwas
recht Schönes gesagt zu haben. Allein das ist nur so eine hergebrachte
Redensart. An und für sich jedoch ist es wahr; allein was nicht recht ist,
ist das, daß man den Satz gegen mich anwendet. Es ist auch wahr, daß
ein Christ, inwiefern er Christ ist, nicht sündigen kann, und dennoch sündigen
so viele Christen, insofern sie Menschen sind, und jeder Mensch kann irren.
Ich selbst kann, insofern ich Christ bin, nicht irren, und als Geistlicher kann
ich nicht gegen meine Ordensregel handeln. Fraget die Philosophen! Der
schwächste Logiker wird euch sagen, daß dieser Satz wahr ist. Also ist der
Papst, inwiefern er Papst ist, untrüglich , denn dann geht er den Weg der
Pflicht. Wenn er irrt, ist er nicht mehr Papst, und wenn er Böses befiehlt,
so ist es nicht der Papst, welcher es befiehlt."
Der Krieg war jetzt offen erklärt, und der letzte Ausgang konnte nicht
zweifelhaft sein. Der Papst erließ an die Behörde die strengsten Befehle,
den Ketzer auszuliefern, März 1493, und wenn diese im Anfang noch zögerte,
so gab ihr bald ein sonderbarer Zwischenfall Gelegenheit, sich des lustigen
Neuerers zu entledigen.
Savonarolas Ansehn beruhte zum großen Theil darauf, daß man ihn für
einen Propheten und Wunderthäter hielt. In solchen Fällen wird man zuletzt, sobald
der fantatische Enthusiasmus verraucht ist, nach wirklichen Zeichen verlangen.
Ein leidenschaftlicher Anhänger Savonarolas hatte sich erboten, für die Wahr¬
heit seiner Lehre die Feuerprobe zu bestehn. Ein Franziskaner wollte das
Gegentheil aus demselben Wege beweisen. Das Volk freute sich auf das neue
Schauspiel, die Schranken waren überfüllt, der Holzstoß angeschürt, aber bald
merkte man, daß es den beiden Parteien unheimlich wurde; die unsinnigsten
Vorwände wurden herbeigesucht, die Probe zu beseitigen, bis es endlich zu
regnen anfing und Savonarola feierlich erklärte, daß Gott die Prüfung nicht
wolle. Das Volk, das ein Wunder erwartet, war im höchsten Grade auf¬
gebracht, auf die Sache des Propheten siel das Gepräge des Lächerlichen, er
war verloren. Wenige Tage darauf brach ein Volksaufstand aus, man
stürmte das Kloster San Marco, Savonarola lieferte sich aus, und dieselbe
Pöbelmasfe, die ihn früher vergöttert, war nahe daran, ihn in Stücke zu
zerreißen. Den 9. April wurde der Proceß gegen ihn eingeleitet, er gestand
aus der Folter alles, was man wollte, erklärte aber gleich darauf, nur durch
den Schmerz bestimmt worden zu sein. Den 23. Mai 1493 wurde er gehängt,
seine Anhänger verbannt oder zu starken Geldstrafen verurtheilt, unter den
letztern war ein damals noch unbekannter Mann Nicolo Macchiavelli.
Seit dem Jahr 1789 kam auch in die deutschen Beschreibungen Italiens
ein neues Element. Von der gewaltigen Gährung, welche die französische Re¬
volution in dem geistigen Leben von ganz Europa hervorbrachte, ist fortan
auch hier etwas zu spüren. Bisher hatte man sich entweder in das friedliche
Studium der Natur und der Vergangenheit, der Kunst und des Alterthums
versenkt, ohne sich die daraus erwachsenden Genüsse durch einen Blick auf die
Gegenwart Italiens zu stören, oder wenn man sich doch um die sittlichen,
religiösen und politischen Zustände des Landes kümmerte, so wurden sie in
der Regel mit der objectiven Ruhe betrachtet, mit der der Antiquar oder der
Naturforscher seinen Gegenstand zergliedert. Höchstens machte sich hin und
wieder das protestantische Bewußtsein gegenüber den Mißbräuchen des Katho¬
licismus geltend. Aus diesem behaglichen Zustand wurden die Gemüther
durch die welterschütternden Umwälzungen in Frankreich aufgeschreckt. Ein
grelles Licht war nun plötzlich aus Gebiete gefallen, auf die man früher die
Augen zu richten theils verschmäht, theils nicht gewagt hatte. Die Bedeu¬
tung der Vorgänge im politischen und religiösen Leben der Völker drängte
sich nun mit Gewalt auch dem widerwilligen Blick auf, und wenn die Auffas¬
sung je nach dem Standpunkt des Betrachters verschieden, ja entgegengesetzt
war, so traten nun die Gegensätze, die früher kaum bemerkbar waren, um so
schroffer und schärfer hervor. Die früher mit Gleichgiltigkeit betrachteten oder
geflissentlich übersehenen Zustände wurden nun Gegenstände des lebhaftesten
sittlichen Antheils, man suchte und fand ihre Gründe, nahm für und wider
Partei, entschuldigte oder verdammte. Seitdem auch Italien von der allge¬
meinen Weltbewegung ergriffen war, der classische Boden von französischen
Waffen wiederhallte, war es vollends nicht mehr möglich, sich gegen die Ge¬
genwart abzuschließen. Bald wurde auch Neapel der Schauplatz von Greueln,
die die furchtbarsten Scenen der Septembertage an Scheußlichkeit unendlich
übertrafen.
Die Reise Friedrich Leopolds von Stolberg (in Deutschland, der Schweiz,
Italien und Sicilien 1791 und 1792, erschienen 1794) ist die erste, die in
diese Periode fallt. Es ist bekannt, wie sein edles aber schwaches Gemüth,
von den Stürmen der Revolution aufs tiefste erschüttert, nach einem Halt
suchte, den es endlich in dem Dogma der alleinseligmachenden Kirche fand.
I. H. Voß hat diese Bekehrung ohne Nachsicht, aber wahr in der Schrift
„Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier" geschildert. In den italienischen
Reisen des Grafen fehlt es nicht an Aeußerungen, die den Zustand seiner
Seele verrathen. Er betont zwar mehrmals seinen Protestantismus, aber
wenn er sich mißbilligend über einen katholischen Aberglauben äußert, so ge¬
schieht es nie ohne eine noch stärkere Verdammung des Voltairischen „Köhler¬
unglaubens" (ein Lieblingsausdruck) hinzuzufügen. Auf der Hinreise sah er
dle Gebeine des heiligen Apollinaris zweimal, zuerst in Düsseldorf, dann in
Rheinmagen (Remagen). „Mögen doch wol die beiden Gemeinen sich besser
um die Ehre den Heiligen zu besitzen vertragen, als neulich zwei Municipa¬
litäten in Frankreich, welche blutigen Krieg um Voltaires Ueberbleibsel wür¬
den geführt haben, wenn nicht die eine seinen Leib, die andere sein Herz
— Voltaires Herz! — davon getragen Hütte. O ihr, die ihr hohnlachen
würdet über die Einfalt der rheinischen Landleute, wenn sie mit geselliger
Andacht Lieder zum Andenken eines frommen Mannes singen, ihr verstehet
es Mücken zu saigen und Kameele zu verschlucken, wenn ihr nur der mißleiteten
Andacht spottet, und keine Hohnlache sür den Fanatismus des Köhlerunglau¬
bens habt, keine für die Versammlung von Gesetzgebern, welche den Mann
durch ein Decret, durch eine Stelle im neuen Tempel aller Götter apo-
theosiret, den, als er lebte, ein Land nach dein andern ausspie, dem weder
Religion noch Sitte heilig war, der im Candide die Vorsehung Gottes lä¬
sterte, dem jede Tugend ein Gespött war!" (I. 27) Bei der Beschreibung des
Reliefs auf der Säule Marc Aurels, wo das verschmachtende Heer durch einen
Regenguß gerettet wird, erklärt er die Legende, daß dieses Wunder durch das Gebet
christlicher Soldaten bewirkt sei, sür ebenso glaubwürdig, als eine andre Legende,
daß Kaiser Julian an dem Wiederbau des Tempels zu Jerusalem durch ein
übernatürliches Ereigniß verhindert worden. Diese Geschichten zu bezweifeln
oder natürlich auszulegen, scheint ihm ein ziemliches Maß von Köhlerunglau-
bcn unsrer Zeit zu erfordern (II. 240). Bei einem Sommeraufenthalt zu
Sorrent auf der Rückreise besingt Stolberg bereits selbst ein Wunder, wie
nämlich die Richtung eines Lavastroms durch eine Procession abgeleitet wird
(IV. 299). Auch in Bezug auf die Klöster wird der Modegefinnung eines
leichtsinnige^ kurzsichtigen, hochfahrenden Jahrhunderts entgegengetreten.
„Wer um sich zu veredeln, wer um Gottes willen Selbstverleugnung«übet;
wer um das Unsichtbare zu ergreifen den heißesten Freuden des Lebens ent¬
sagt, wer bei Beobachtung strenger Vorschriften und Uebungen demüthig vor
Gott und freundlich gegen Nebenmenschen bleibt, der verdient unsre Hoch¬
achtung, unsre Ehrerbietung" (IV. 255). Mit dieser katholisirenden Richtung
geht sehr natürlich eine schiese und ungerechte Auffassung der griechischen Re¬
ligion Hand in Hand, „die durch der Götter Beispiel jedes Laster empfahl"
(III. 268) — was ungefähr ebenso richtig ist, als wenn Seume von der Un-
sittlichkeit der Helden. Erzväter und Könige des alten Testaments die Demo¬
ralisation der Völker herleitete, die an die göttliche Inspiration des Bibeltextes
glauben. Trotz seiner überchristlichen und antirevolutionären Gesinnung schwärmte
Stolberg übrigens für die Schönheit des antiken Lebens, seine Kunst und Poesie,
und die republikanischen Tugenden der Griechen. Sein Buch ist mit enthu¬
siastischen Beschreibungen der Ueberreste des Alterthums und mit weitläufigen
Auszügen aus der alten Literatur angefüllt. Dies waren die Ansichten, die
er aus der damaligen Bildung und ganz besonders aus der Richtung der
ihm Nahestehenden sich angeeignet hatte; jenes angeborne, mit der Muttermilch
eingesogene Empfindungen, die scheinbar unterdrückt, nun durch den Eindruck
der Revolution mit neuer Stärke erwachten und in den Vordergrund seiner
Seele traten. Dasselbe hat sich 1848 bei Aristokraten, die bis dahin zu den
Führern des Liberalismus gehört hatten, wiederholt. Außerdem, daß Stol¬
bergs Reise die erste ist, die mit Vorliebe für den Katholicismus geschrieben
ist, unterscheidet sie sich von den frühern auch durch ihre Ausdehnung; sie um¬
faßte Calabrien und Apulien.
Ein ganz entgegengesetzter Ton geht durch Seumes „Spaziergang nach
Syrakus im Jahr 1802". Die brutale Gewalt, deren Opfer der wackere
Mann gewesen war, die harten Schicksale, die er erduldet, hatten seinen männ¬
lichen Geist weder gebeugt noch abgestumpft, noch verbittert, aber allerdings
sein Gefühl für menschliches Elend, seinen Abscheu gegen Unterdrückung ge¬
schärft. Den an „Milchspeise", wie es Seume genannt hat, gewöhnten Aesthe-
tikern und Literaturfreunden konnte die derbe Kost, die hier geboten wird, nicht
zusagen. Man erinnert sich der überschwenglichen Phantasicgc-malte Italiens
von Jean Paul (der nie dort war) im Titan (1797—1802): ein größerer Contrast
gegen Seumes Buch ist nicht denkbar. Tieck hat das Buch (im Däumling)
so ledern genannt, als die berühmten Stiefel, die den ganzen neunmonatlichen
Spaziergang aushielten, ohne vorgeschuht zu werden; heutzutage werden we¬
nige dies schnöde Urtheil unterschreiben wollen. Seume war der erste deutsche
Reisende, dem die Kunst und das Alterthum in Italien Nebensache war, er
wanderte, um das Land und die Leute kennen zu lernen. Es ist wol kein
Zufall, daß er Goethes Ausenthalt in Italien gar nicht erwähnt; auf dem
Rückweg in Weimar besuchte er ihn nicht, aber Wieland und die Herzogin
Mutter. Er nennt sich selbst in gelehrten Dingen und Sachen der Kunst saum¬
selig und sorglos, einen Laien im Heiligthum. In Dresden sah er die Galerie
nicht, weil er dazu noch einmal hätte Schuhe anziehen müssen, und den An¬
tikensaal nicht, weil er den Inspector das erste Mal nicht traf. Uebrigens
fehlte es ihm nicht an Sinn für Kunstschönheit, aber dieser Sinn war unge¬
bildet. Canovas Hebe ging ihm über alle Antiken und begeisterte ihn sogar
zu Versen (S. 101). Im Louvre, wo damals die Juwelen der italienischen
Museen vereint waren, interessirten ihn die Portrütköpfe am meisten und sie
waren ihm überhaupt lieber als Ideale (S. 450). Was also den nordischen
Wanderer am meisten fesselt und entzückt, das hatte sür ihn zum Theil gar
keinen Reiz; dagegen häuften sich die abstoßenden und empörenden Eindrücke
in dem ohnehin unglücklichen, nun von Aufruhr, Krieg, Plünderung völlig er¬
schöpften Lande mehr zusammen, als in irgend einer andern Zeit. Noch war
die Erinnerung an die neapolitanischen Greuel lebendig. „Was die Demo¬
kraten in Paris einfach thaten, haben die royalistischen Lazaronen und Cala-
brcscn in Neapel zehnfach abscheulich sublimirt. Man hat im eigentlichsten Sinn
die Menschen lebendig gebraten, Stücke abgeschnitten und ihre Freunde gezwun¬
gen, davon zu essen; der andern schändlichen Abscheulichkeiten nicht zu erwähnen.
Ein wahrhafter, durchaus rechtlicher Mann sagte mir, man sei mit einer Tasche
voll abgeschnittener eingesalzener Nasen und Ohren zu ihm gekommen, habe
aufgezählt, wer die Eigenthümer derselben gewesen, und er habe seine ganze
Standhaftigkeit und Klugheit nöthig gehabt, nicht zu "viel Mißbilligung zu
zeigen, damit er nicht selbst unter die Opfer geriethe. Das ist unter Nuffo
geschehen, dessen Menschlichkeit sogar noch hierund da gerühmt wird. — Die
rechtlichsten Leute wurden gezwungen der Revolution beizutreten, um sich zu
retten, und wurden nachher wegen dieses Zwanges hingerichtet. Vorzüglich
traf dies Schicksal die Aerzte. Es wurden Beispiele mit Umständen erzählt,
die Schauder erregen. Filangieri war zu seinem Glück vorher gestorben.
Die Regierung nimmt bei ihrer gänzlichen Vernachlässigung noch alle Mittel,
die Gemüther noch mehr zu erbittern; ist saumselig, wo.rechtliche Strenge
nöthig wäre, und grausam, wo weise Mäßigung frommen würde. In Sici-
lien treibt das Feudalsystem in den gräßlichsten Gestalten das Unheil sort;
und obgleich mehr als die Hälfte der Insel wüste liegt, so würde doch kein
Baron einen Fuß lang anders als nach den strengsten Lehnsgesetzen bearbei¬
ten lassen" (S. 428 ze.). „Nie habe ich solch eine Armuth gesehen und nie
habe ich mir sie so entsetzlich denken können. Die Insel (Sicilien) sieht im
Innern furchtbar aus. Hier und da sind einige Stellen bebaut; aber das
Ganze ist eine Wüste, die ich in Amerika kaum so schrecklich gesehen habe.
Zu Mittag war im Wirthshause durchaus kein Stückchen Brot zu haben.
Die Bettler kommen in den jämmerlichsten Erscheinungen, gegen welche die
römischen auf der Treppe des spanischen Platzes noch Wohlhabenheit sind;
sie bettelten nicht, sondern standen mit der ganzen Schau ihres Elends nur
mit Blicken flehend in stummer Erwartung an der Thüre. Erst küßte man
das Brot, das ich gab, und dann meine Hand. Ich blickte fluchend rund um
mich her über den reichen Boden, und hätte in diesem Augenblick alle sici-
lianischen Barone und Aebte mit den Ministern an ihrer Spitze vor die Kar¬
tätschen stellen können" (S. 211), „Die Amnestie des Königs hat die Armeen
und die Provinzen mit rechtlichen Räubern angefüllt. Er nahm die Banditen
auf, sie waren brav, wie ihr Name sagt, er belohnte sie königlich, gab Aem¬
ter und Ehrenstellen, und jetzt treiben sie ihr Handwerk als Hauptleute der
Provinzen gesetzlicher. Dieses wird in der Residenz erzählt, auf den Straßen
und in den Provinzialstädten, und es werden mit Abscheu Personen und
Ort und Umstände dabei genannt (S. 350). Nicht besser als in Neapel war
es im Kirchenstaat. „Die Hierarchie wird wieder in ihrer größten Ausdeh¬
nung eingeführt, und was das Volk eben jetzt darunter leiden müsse, kannst
du berechnen. Die Klöster nehmen alle ihre Güter mit Strenge wieder in
Besitz, die eingezogenen Kirchen werden wieder geheiligt, und alle Prälaten
behaupten fürs allererste wieder ihren alten Glanz. Da mästen sich wieder
die Mönche, und wer bekümmert sich darum, daß das Volk hungert? Die
Straßen sind nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Menschen sterben
wirklich daselbst vor Hunger und Elend. Ich weiß, daß bei meinem Hiersein
in einem Tage fünf bis sechs Personen vor Hunger gestorben sind. Ich selbst
habe einige niederfallen und sterben sehen. Rührt dieses das geistliche Mast¬
heer? Der Ausdruck ist empörend aber nicht mehr als die Wahrheit. Jedes
Wort ist an seiner Stelle gut, denke und sage ich mit den Alten. Als die
Leiche Plus VI. prächtig eingebracht wurde, damit die Exequicn noch präch¬
tiger gehalten werden konnten, erhob sich selbst aus dem gläubigen Ge¬
dränge ein Fünkchen Vernunft in dem dumpfen Gemurmel, daß man so vie
Lärm und Kosten mit einem Todten mache und die Lebenden verhungern lasse.
Rom ist oft die Kloake der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als
jetzt. Es ist keine Ordnung, keine Justiz, keine Polizei; aus dem Lande noch
weniger als in der Stadt, und wenn die Menschheit nicht noch tieser gesun¬
ken ist, als sie wirklich liegt, ;so kommt es blos daher, weil man das Gött¬
liche in der Natur durch die größte Unvernunft nicht ausrotten kann. Tu
kannst denken, mit welcher Stimmung ein vernünftiger Philanthrop sich hier
umsieht" (S. 365). Auch im übrigen Italien fehlte es nicht an Scheußlichkei¬
ten aller Art. In Siena hatte der Pöbel dreizehn Juden nach dem Abzug
der Franzosen lebendig verbrannt, und der Erzbischof. den man bat sich ihrer
anzunehmen, hatte sich dessen geweigert (S. 387). Im Dom zu Mailand
sagte ein Italiener vor der berühmten Statue des geschundenen heiligen Bor-
romäus von Marco Agrate: das sind wir, die Augen hat man uns gelassen,
damit wir unser Elend sehen können (S. 404). Trotz seines gerechten Zorns
über die heillosen Zustände des Landes war Seume übrigens weit entfernt,
gegen die Nation ungerecht zu sein. „Man sagt wol, Italien sei ein Para¬
dies von Teufeln bewohnt: das heißt der menschlichen Natur Hohn gesprochen.
Der Italiener ist ein edler, herrlicher Mensch; aber seine Regenten sind Mönche
oder Mönchsknechte; die meisten sind Väter ohne Kinder; das ist Erklärung
genug. Ueberdies ist es der Sitz der Vergebung der Sünde" (S. 367).
Einen interessanten Contrast zu Seumes Spaziergang nach Surakus bil¬
den Kotzebues Erinnerungen von einer Reise aus Liefland nach Rom und
Neapel 1805, drei Bände. Statt des männlichen Zorns über das Schlechte,
haben wir hier jenes Schwelgen in Mitgefühl mit dem Unglück, das der Ver¬
sasser von Menschenhaß und Reue ebenso sehr zur Schau trügt, als seine
Helden und ersten Liebhaber. Der Hungertod einer Frau in Neapel aus
offner Straße (ein leider damals alltägliches Ereignis;) wird zu folgendem
Theateresfcct verwerthet. „Und ich denuncire nunmehr diese Greuel vor ganz
Europa. Ich sage laut: Am 4. December 1804 ist zu Neapel in der Straße
Giacomo, einer der volkreichsten der Stadt, ein Mensch Hungers gestorben!!!
— Der König fuhr heute aus die Jagd. Ich sah zwanzig bis dreißig seiner
Hunde vorbeiführen — sie waren alle wohlgenährt" (II. 117). Gelegentlich
wird dem Leser auch mitgetheilt, wie der Verfasser, nachdem er sich in der
Stille der Nacht über die beleuchteten Bergzacken hinüber mit seinen Lieben
unterhalten, mit nassen Augen das Fenster verläßt (I. 145). Wahrhaft ekel¬
erregend ist die cynische Art, in der Ehren-Kotzebue mit seiner aufgeklärten
Verachtung des Christenthums bei passenden und unpassenden Gelegenheiten
renommirt; wo ein antikes Monument einen christlichen Zusatz erhalten hat,
da ist es verunreinigt, wie die Trajanssäule durch die Statue des heiligen
Petrus, die Marc Aurelssäule durch die des heiligen Paul (III. 22). „Die
herrliche Pinakothek (in den Bädern'des Diocletian) ist durch eine Marien¬
kirche entweiht worden, die Michel Angelo erbaut hat" (III. 204). Eine Säule
aus dem Friedenstcmpel trägt eine Madonna vor Maria Maggiore: „selt¬
sam, daß eine Säule des Friedenstempcls vom eigensinnigen Schicksal be¬
stimmt wurde, die Mutter des Mannes zu tragen, dessen Lehre einen endlosen
blutigen Krieg veranlaßte" (I. 196). Daß die ersten Christen — die damals
schon begannen, was sie Jahrtausende hindurch fortgesetzt haben, nämlich Staaten
verwirren und überall die Fackel der Zwietracht schütteln — daß sie im Coios.
heuen bisweilen mit wilden Thieren kämpfen mußten, wird eine gerechte Strafe
genannt (I. 181). Konstantin heißt der Abtrünnige, in seiner Zeit ist die
Kunst „wie alles Uebrige" in Verfall gerathen (I. 193). Zuletzt wird man durch
die Entdeckung überrascht, daß Christus eigentlich nur eine Nachahmung von
Wischnu ist (III. 17).
Doch diese Reisebeschreibung hat noch ein andres Interesse, als daß sie
uns die Auffassung und Terminologie der damaligen Ausklärung vom reinsten
Wasser in Erinnerung bringt. Es ist die erste dreiste Opposition gegen den
traditionellen Enthusiasmus für Kunst und Alterthum, gegen den Idealismus
und das Princip der Formvollendung in der Kunst. Seume hatte sich um
diese Dinge wenig gekümmert, er bekennt seine Indifferenz, aber er sucht keinen
Ruhm darin; Kotzebue pocht aus seine natürliche ungebildete Empfindung ge¬
genüber dem gebildeten Sinn der Kenner. Mit der ganzen Dreistigkeit, die
Leuten dieses Schlages eigenthümlich ist, lobt und tadelt er, ohne zu ahnen,
daß ihm irgend etwas unfaßlich sein konnte, und seine Urtheile zeigen eine
seltene Vereinigung von Oberflächlichkeit, Stumpfheit und Ignoranz. Statt
der Vorrede gibt er ein Verzeichnis) aller derer, die sein Buch nicht lesen müssen.
Dazu gehören vor allem „alle Künstler und sogenannte Kunstkenner; es wäre
denn, daß es ihnen Vergnügen machte, alle Augenblicke mitleidig die Achseln
zu zucken. Denn weil sie die Kunst als etwas Fertiges betrachten, ich als
etwas täglich Neues — sie als die Schöpfung einer Form, ich aber als den
Aufbaues eines Geistes — sie als eine Prüfung geübter Augen, ich als eine
Beschäftigung der Seele — weil ihnen die Form das Erste und mir das Letzte
ist, so können wir nie zusammentreffen; ich werde sie nicht belehren und sie
mich nicht; wir bleiben ewig weit auseinander." — „Ich reise weder als Ge¬
lehrter noch als Kunstkenner, ich reise blos als Mensch, überlasse mich mei¬
nem Gefühl. — Wem das so recht ist, der schlendre sorglos neben mir her,
und lasse sich den Strauß von Wiesenblumen gefallen, den ich ihm wandelnd
zu pflücken gedenke. Wem das nicht genügt, der bleibe zurück und gehe meinetwe¬
gen spazieren im nächsten Treibhause" (I. K). Gelegentlich stichelt er auch auf die
Weimarer Kunstfreunde: in der Akademie von Se. Luca in Rom.kommt es Einem
so vor als ob man zu Weimar in den Saal der Preisausstellung von Goethe träte,
so sehr schlecht sind sie alle" (III. 32). «Sein Selbstbewußtsein wurde gewiß
nicht wenig dadurch gesteigert, daß er auf den italienischen Bühnen mehrmals
seine Stücke ausführen sah. In Neapel spielte man seinen Opfertod, hatte
aber die Scene weggelassen, wo der hungernde Vater die Semmel in seines
Kindes Hand gewahr wird, und vom Hunger überwältigt einigemale im
Begriff steht, sie ihm zu entreißen, allein sein Bedürfniß bekämpft, als er
hört, daß sein guter Knabe selber halb verschmachtet ist. — „Ich rechne die
Scene doch immer unter die besten, die ich jemals geschrieben, oder vielmehr
empfunden habe, und wer weiß, was man davon sagen würde, wenn sie in
einem Stück von Shakspeare vorkäme, dessen Lear übrigens weit gräßlicher
ist" (III. 80). Hier einige Proben von seinen Kunsturtheilen. Beim Anblick
der Niobe war er sehr enttäuscht. „Es ist doch eine vermaledeite Sache um
das Nachbeten. Warum muß denn immer alles dem Winckelmann nachgebetet
werden?" u. s. w. (I. 162) An dem Moses von Michel Angelo fand er nichts
Großes als die Größe. „Man denke sich die Figur einmal verkleinert, so wird
sie sehr unbedeutend sein. So schmal geschultert und so breitbäuchig bildeten
die Griechen keinen starken kräftigen Mann. Der abscheulich bis auf den
Gürtel herabreichende Marmorbart ist vollends unausstehlich" (III. 581).
Sasso Ferrato war sein Lieblingsmaler (III. 67). — Das Buch schließt mit
einer Vergleichung Rußlands und Italiens, die natürlich sehr zum Vortheil
des erstem ausfällt Nach Goethes Reise erscheint die Kotzebues wie die
Grimassen des Satyrs nach der erhabenen Erscheinung des Heroen in der grie¬
chischen Tragödie.
Auch das Tagebuch einer Reise durch einen Theil Deutschlands und Ita¬
liens in den Jahren 1804—1806 von Elise von der Recke, 4 Bände (heraus¬
gegeben 1815—1817 von Böttiger) enthält im vierten Bande ausführliche
Abschnitte über Regierungsverfassung. Volkscharakter und Religionszustand der
Römer. Von der Sentimentalität, die man vielleicht bei der Freundin Tiedges
(der auch auf dieser Reise ihr Begleiter war) erwartet, ist das Buch frei. Die
Verfasserin ist von derselben hohen Begeisterung für Italiens Natur, Kunst
und Alterthum erfüllt, die man in den Reisebeschreibungen des achtzehnten
Jahrhunderts zu finden gewohnt ist, aber sie bringt zugleich einen warmen
Antheil an den sittlichen, religiösen und politischen Zuständen des Landes
mit, den man dort vermißt und ihre Auffassung ist durchaus gesund und ver¬
nünftig und ohne Leidenschaft. Auch hier wie bei Seume wird der italie¬
nische Nationalcharakter lebhaft in Schutz genommen und die Entartung des
Volks von seiner Lage abgeleitet; wie bei jeder unbefangenen Begleichung
der Römer und Neapolitaner fällt das Urtheil zum Vortheil der erstem aus.
Es ist beiläufig gesagt charakteristisch, daß Goethe grade die letztern gegen
einige herrschende Vorurtheile in Schutz nimmt; das lustige, bunte Treiben
dieser halbwilden Bevölkerung ergötzte ihn, die auch in ihrer Gesunkenheit
noch unendlich edlere Nationalität scheint ihn nicht angezogen zu haben. Daß
und wie Frau von der Recke Rom und Berlin miteinander vergleicht, zeigt
schon allein, daß die Betrachtung Italiens in eine neue Phase getreten war.
„Was Regierungsverfassung bewirkt, läßt sich bei der flüchtigen Begleichung
zwischen Rom und Berlin wahrnehmen; die Regsamkeit der erstem Stadt ver¬
hielt sich zur Thätigkeit der letztern, wie das schleichende Dasein des Greises
zu der lebhaften Behendigkeit des frischen Jünglings, der muthig und rasch
dahinschreitet durch das rnzende Leben; und gleichwol liegt in dem Zahlen-
Verhältniß der Volksmenge beider Städte höchstens ein Unterschied von zehn-
bis funfzehntausend Menschen, die Berlin mehr haben kann. Man lasse den
Fremden durch die Straßen gehn und er wird kein reiches Waarengewölbe
voll thätiger Menschen bemerken. Anstatt der Betriebsamkeit, an die sein
Auge gewöhnt ist, sieht er das müssige Volk am Wege stehn; keine rührige
Bewegung eiliger geschäftiger Menschen erblickt er, aber Reihen von Proces¬
sionen ziehn langsam an ihm vorbei, überall zerstreutes, verzetteltes Dasein,
Industrie und Betriebsamkeit nirgend. Einige Antiken- und Bilderhändler,
einige Mosaikarbeiter und andre Künstler fristen von einem Tage zum andern
zum Theil sehr kümmerlich ihr Leben. Die Handwerker sind Ausländer, die
Bäcker besonders sind Schwaben. Der Handelsverkehr ist unbedeutend, von
Buchhandel ist gar nicht die Rede. Die Regierung scheint vor allen diesen
Mängeln die Augen zu schließen; sie muntert nichts auf, sie begünstigt nichts,
mit einem Worte, sie thut nichts, was eine nützliche Thätigkeit herbeiführen
könnte. Die Erziehung der Jugend und der öffentliche Unterricht sollen, wie
mir Kenner versichern, auf die alte herkömmliche unfruchtbare Weise betrie¬
ben werden. So ist es im Innern der Stadt; der Beobachter gehe zum
Thore hinaus, und er tritt in eine menschenleere todte Wüste, von fruchtlosen,
unbewohnten Hügeln umgeben; aus den schönen Landstraßen wird ihm hin
und wieder ein Karren mit Oel- oder Weinfässern beladen begegnen. Genisten-
staudcn blühen, wo Kornähren sich drängen könnten, und sehr selten wird er ein
wohlvcstclltes Getreidefeld antreffen. Auch über dieses Hauptgebrechen ist
wiederum, nicht sowol die gegenwärtige Regierung, als das auf sie vererbte
System anzuklagen. Seit 160 Jahren besteht ein Gesetz, welches den Allein¬
handel mit Getreide der päpstlichen Kammer zuspricht. Jeder Einwohner ist
diesem Gesetz zufolge gezwungen, das Korn, welches er erzeugt, an die päpst¬
liche Kammer gegen einen von ihr willkürlich bestimmten Preis abzuliefern,
und die Kaminer versorgt die Bäcker, von denen das Publicum das Brot
kaufen muß. Dieselbe Bewandtnis) hat es auch mit dem Oel. wobei überdies
noch, wie mir von glaubwürdigen Personen gesagt wurde, Vermischungen des
guten Oels mit schlechtem gewöhnlich sein sollen" (IV. 63 ff.). Ebenso ver¬
nünftig spricht die Verfasserin über den Volkscharakter und die religiösen Uebel¬
stände; auch hier treffen ihre Bemerkungen fast durchweg noch buchstäblich zu.
Sie war ebenso weit von dem Indifferentismus Seumes als von dem Krypto-
katholicismus Stolbergs entfernt; sie wurde dem Papst vorgestellt und nahm
warmen Antheil an seiner edlen Persönlichkeit und an seinen Schicksalen.
Wir sassen nochmals die Hauptmomente kurz zusammen, durch welche sich
die italienischen Reisebeschreibungen dieser Periode von denen der frühern
unterscheiden. Zunächst ist es die Theilnahme für das Volk, das Mitgefühl mit
seinen Leiden, die Indignation über die Mißregicrung und den Verfall des
Landes, die hier nach der Individualität der Versasser sich verschieden aus¬
spricht. Während die meisten sich dem Katholicismus gegenüber negirend
verhalten oder seine Ausartungen verhöhnen, erscheint in Stolberg bereits
ein Vorläufer der Richtung, die bald der alleinseligmachenden Kirche so
zahlreiche Gläubige zuführen sollte. Auf der andern Seite fängt der un¬
bedingte Idealismus die etwas unterschiedslose Verehrung der Antike und der
(man erlaube uns den Ausdruck) doctrinäre Enthusiasmus für Kunstschönheit
an weniger allgemein zu werden. Auch in der Kunstbetrachtung macht sich
das gegenständliche Interesse neben dein formalen geltend, das ungeschulte
Gefühl des Laien wird für untrüglicher erklärt als die in traditionellen Vor¬
urteilen befangene Anschauung des Kenners. Auch die bornirte philisterhafte
Gemeinheit hat bereits in Kotzebue einen würdigen Repräsentanten gefunden,
und dies Geschlecht von Reisenden ist später am zahlreichsten geworden.
Das Gebirgsthal von Caracas, welches, etwa 2800 F. hoch, parallel dem
Lauf der Cordilleren östliche Richtung hat, liegt, obgleich nur zwei gute Stun¬
den in gerader Linie vom Meere entfernt, doch wie vereinsamt und abgeschlos¬
sen von allem Weltverkehr. Nur von Nordwesten her, wo die Berge eine
offne Flucht gewähren, sendet zuweilen die See ihre rauhen Nordwinde her¬
auf, um den ewigen Frühling zu necken. Von derselben Seite kommt auch
die sechs Stunden lange, in vielfachen Krümmungen auf- und absteigende
Fahrstraße von La Guaira, und eben de^ wo die sich ausweitende Schlucht
in das Thalbecken verläuft, liegt die Hauptstadt.
Um die Physiognomie von Caracas zu gewinnen, schauen wir uns erst
die Umgebung an und besteigen den westlich gelegenen Calvarienberg, an
den sich ein Theil der Stadt anlehnt. Wir gehen zwischen ärmlichen Hütten
am kahlen Rücken hinan etwa 300 F. hoch bis an die Kapelle, hinter
welcher die allmülig steigenden Höhen erst in ziemlicher Ferne am westlichen
Horizont ihren Abschluß und zugleich ihre Vereinigung mit den südwestlichen
Bergketten finden. Die einsame dürftige Kapelle zur Seite, wenden wir den
Blick nach Osten. Ein mehr denn drei Stunden weithin gedehntes und ge¬
gen Dreiviertelstunden breites Gebirgsthal öffnet sich, ein tiefes Becken, rundum
mit hohen aber ungleichen Kanten. Vor allem links die mächtig emporra¬
gende, alles beherrschende Küstenbergkctte, die aus ihrem Scheitel meist mit
dunklem Urwald gekrönt für das Auge ihren^ Höhepunkt in der gastlich nahen
Felsenkuppe der Silla de Caracas (8,100 F. hoch) erreicht. Eine riesige Vor¬
mauer des Landes fällt sie wie aus der Meeres-, so auf der südlichen Seite
schroff ab und engt in großen, kühn gewundenen Linien den aufwärts gerich¬
teten Blick in schmale Grenzen ein. Wellenförmig zieht sich der Abhang
hin gen Osten, meist mit kahler dürrer Oberfläche, indeß wenigstens mit
einem hohen Grase bewachsen, das im Schein der Sonne gleich Sammet
und Purpur glänzt. Dagegen in den vielfachen Vertiefungen winden sich
saftig grüne Waldgruppen hinaus, die dunkle Einfassung silberhell glitzernder
Cascaden. Das ferne östliche Querjoch schließt sich nur mit einer kleinen
Lücke an die Berge der Meeresküste an und verbindet sich rechts hin unmit¬
telbar mit den in vierfach hintereinander terrassenförmig aufsteigenden Berg-
Leihen, welche nach Süden hin das Thal von Caracas einschließen und jen¬
seits nach dem Thale des Tam abfallen, um auf dessen rechtem Ufer nochmals
aufsteigend sich ganz in die unabsehbaren Ebenen (Llanos) des Orinoco zu
verlieren. Das vom freieren rechten Horizont zurückkehrende Auge gewahrt
auch hier wellenförmige kahle Rucken und ruht endlich nach unten gesenkt am
Fuße derselben, dicht an der Stadt, wo sich dieselbe südwestlich in das enge
Thal von Antimo.no verläuft, welches unsern Calvarienberg von der ersten
niedrigen Bergkette trennt. *
So wäre denn der Nahmen des Bildes geschlossen: die Verzierung des'
selben bilden die Wolken, welche sich mit Vorliebe selbst in trockner Som¬
merszeit um die Küstenberge lagern, bald den Kamm bedeckend, bald auf der
Breite des Abhanges sich hindehnend, so daß die kahle Kuppe der Silla
einer Luftinsel gleich in die tiefe Bläue des Himmels hinausragt —, in ste¬
tem Wechsel bald auf- bald nieder ziehend, bald dicht sich ballend, bald flüch¬
tig zerstiebend: das gaukelnde Widerspiel der alten ewigen Berge. — Unge¬
stört weilt nun das Auge auf dem reizenden Thal. Gegen 2.600 F. hoch
über dem Meere fällt es von der Nordseite her allmälig nach dem südlichen
Goaireflüßchen ab, um welches herum 'die ganze Länge des Thales eine üp¬
pige Vegetation in allen Farben wuchert, während dit kahle Nordhälfte meist
einen eintönigen Charakter hat. Desto freundlicher lachen von fernher die weich
verfließenden Farben der Landschaft dem Blick entgegen. Dunkle Kaffeepflan-
zungen, hellgrüne schlanke Weiden und Bananen, dichtes Rohr und Schilf
am Rande des Baches, dazwischen verstreut friedliche Dörfer mit weißgetünch¬
ten Häusern ziehen sich in immer schärfer sich trennenden Conturen bis hart
an die Stadt heran, die unmittelbar zu unsren Mßen, im Umkreis etwa
1V2 Stunde einnimmt; und rechts unten im verengten Thale nach Antimano
hin prangt das zarte Smaragdgrün des Zuckerrohres neben dem wenig dunk¬
leren Grün der eg.üg. s-margs,, des Venezuelanischen Bambus. Dieses har¬
monisch geschlossene Rundgemälde, von dem hellblauen Morgenhimmel überwölbt,
oder in der ernsteren Abendbeleuchtung mit ihren warmen Farben, ihren dunk¬
len Reflexen, ihren gesättigten Tinten übt einen überaus befriedigenden Eindruck
auf den empfänglichen Beschauer und zwingt ihm geheime Zustimmung zu
der oft gehörten Behauptung ab, daß das hoch umfriedete Gebirgsthal von
Caracas ein Paradies sei. In einfacher primitiver Größe redet auch jetzt
noch hier die Mutter Natur zum Menschenkind, mit der Milde, die der in
sich sicheren gesammelten Kraft entstammt; in der Großheit eines Herrschers,
der das Füllhorn seiner Schätze öffnet und aus dem Vollen austheilt, ohne
fürchten zu müssen, daß er arm werde: mit tiefem Schweigen umhüllt redet
sie doch die lauteste Sprache, nach der Art ihres ewigen Schöpfers, aus des¬
sen Hand sie -jeden Tag neu und ursprünglich und immer groß hervorgeht:
wollte nur das Menschengemüth in Sabbathstille dieser Sprache lauschen!
Und nun einen Blick auf die Stadt. Das Nechtwinkelsystem derselben
ist das Generalgesetz für das spanische wie englische Amerika. Wie die
Felder eines Schachbretts kreuzen und theilen sich die Straßen, lange schnur¬
gerade Streifen, ohne Schatten, ohne Baum und gleichmäßige Gevierte
(Cuadras) von niedrigen Häusern, die Quadratfelder zwischen den vielen Lang-
und Querstreifen. Genau nach den vier Weltgegenden ziehen sich letztere hin,
so daß die Stadt von Ost nach West fast ebenso ausgedehnt ist, wie von
Nord nach Süd. Aber anziehend ist der Anblick doch; zwar heben sich nur zwei
Thürme von Bedeutung heraus, der hohe dickleibige Thurm der niedrigen
Kathedrale und etwas nördlicher der von Alta Gracia, aber weit stolzer
ragen mitten aus den Hofräumen in jugendlicher Schöne einzelne Königs¬
palmen, mit geradem blattlosen Schaft, der sich nach oben verjüngt bis zu
der eleganten Blätterkrone, die wie ein Federbusch den kolbigen Fruchtbüschel
überschattet; und Bananen, Dattelpalmen nebst andern Fruchtbüumen, selbst
dunkle Cypressen, deren hoher Wuchs ihren Ernst erhöht, reizen nach allen
Seiten hin das Auge und beleben die sonst so einförmige Physiognomie der
Stadt.
Doch steigen wir herab, um sie näher kennen zu lernen, und lassen nach
alledem unsre Ansprüche auf Kunst bei Seite, sie sind hier nicht am Ort. Desto
frischer und eigenthümlicher wird uns die anspruchslose Natürlichkeit, die un¬
gezwungene Einfachkeit und der gemüthliche Schlendrian ansprechen. Unebene
Straßen nehmen uns auf. Das durchgängig schlechte Pflaster macht uns nach
dem Innern der Stadt die hohen Trottoirs sehr willkommen, selbst wenn die¬
selben durch Regengüsse ausgespülte Löcher zeigen. Diese innern Straßen
gewähren einen anmuthigen Anblick. Sonnig und heiter zeigt jede Seite des
Quadrats zwei bis drei hellgetünchte Parterres —, wenige einstöckige Woh¬
nungen, mit breiten, hohen, bis hart unter das Dach reichenden Fenster¬
öffnungen, die durch Eisengitter verpallisadirt sind. In diesen saubern, netten
Häusern wohnt die fashionable Welt. Aber schweigsam kehren sie ihre Fron¬
ten heraus. Denn anstatt der Glasfenster dienen Laden oder Jalousien, die
ganz geschlossen sind oder höchstens durch schmalen Spalt in flüchtiger Begegnung
das dunkle Auge einer neugierigen Creolin durchblicken lassen. Der Sitte
gemäß lebt die Familie abgeschlossen von der Straße im Innern des Hauses,
bis nach der Mahlzeit gegen Abend die hohen Flügelthüren und Fenster des
Salons sich öffnen, um die Damen auf die bequemen Sitze im Fenster zur
ersehnten wenn auch nur passiven Theilnahme am öffentlichen Verkehr einzu¬
laden, der durch die nach außen vorhängenden Gitter weithin bequem zu
beobachten ist.
Ueber den freien Platz von San Pueblo hinweg gelangen wir um die
Börsenecke in der nakte ne comereio (Handelsstraße) nach der Ecke von San
Franzisco, wo vor nahe 300 Jahren mit einem Kloster der Grund zur Stadt
gelegt worden ist, und eine Cuadra weiter aufsteigend haben wir den Markt¬
platz mit der Kathedrale östlich, das Universitätsgebäude nebst crzbischöflichcr
Wohnung südlich und das schmucke Regierungsgebäude westlich vor uns.
Nördlich und östlich mit einer Freitreppe und eisernem Geländer ausgestattet,
wird der Platz an den andern Seiten durch Verkaufsboutiken verunziert.
Dieses Centrum der Stadt mit den nahe anliegenden Straßen ist auch das
Centrum des Verkehrslebens, welches wir uns nun flüchtig anschauen wollen.
Ein buntes Gemisch von Menschen aller Farben, von beladenen Eseln
und Maulthieren, von zweirädrigen Karren und stattlichen Reitern wogt hier
in den Vormittagsstunden durcheinander. Fleischbuden füllen die südliche
Seite des Marktes, weiter herauf gruppiren sich die farbigen Hökerinnen
und breiten vor sich eine reiche Fülle tropischer Gemüse. Garten- und Feld¬
früchte und trefflichen Obstes aus. Da liegt die feine Ananas neben den groben
Nuamesknollen, Welschkohl, Apio. süße und gemeine Kartoffel, Hülsenfrüchte
aller Art, Oliven und Quitten. Mispeln und nährende Camburcs — ein Bild
des Reichthums südlichen Bodens. Rings umher stehen Esel, beladen mit
Kübeln voll frischer Seefische; Hühner. Calicuten, Fasanen und andres Geflü¬
gel fehlen nicht; rechts in der Nähe der Kathedrale dampft und brodelt
es aus irdenen Gefäßen. Breitschultrige Negerinnen sitzen davor und schöpfen
daraus in rundliche Totemas, das echt nationale Trinkgefäß, aus der dicken
Rinde einer kolossalen Frucht bereitet, ein dunkelbraunes Gebräu: es ist der
berühmte Montongo, wer kennte ihn nicht im spanischen Amerika? Thierein¬
geweide, Knochenmark, Muskeln, zerstampfte Nindspfoten, Gewürz, Kartoffeln
und allerhand Zuthaten sind seine Elemente. Dem hungernden Aethiopier
daneben gilt es gleich, ob die Hökerin ihre dunklen Specksinger mit in die
Kraftbrühe taucht, mit Wohlbehagen verzehrt er stehend sein Frühstück. Junge
Zambas. hübsche Mulattinnen drängen sich durch mit Körben oder Gefäßen
auf dem Kopf, um dem Frühstückstisch ihrer Herrschaft Proviant zu liefern,
nur hier und da zeigt sich in diesem Markttreiben ein weißes Gesicht:
die Neger und Farbigen beherrschen das Volksleben. Es geht munter und
lustig her: da wird gehandelt, wie anderwärts, geneckt und geschraubt,
geschäkert und gelacht, geflucht und geschimpft. Geschwätzig und beweglich
winden sich die Leute durcheinander, mitten in den Tumult schreien Esel
jammervoll hinein, dazu noch die Disharmonien der verstimmten Orgel,
welche aus den offenen Thüren der Kathedrale herüberklingen, und schlimmer
als alles, das fortwährende Gebimmel der Glocken, die in unrytbmischen
Intervallen mit Stäben geschlagen werden, erzeugen einen sinnebetäubenden
Wirrwarr. — Und doch breitet sich über das Ganze, dem heitern Himmel
entsprechend, ein gescilliger anmuthiger Ton. Helle Farben der Hunnen leich¬
ten Kleidung, natürlicher Anstand in den Formen, Grazie in den Bewegun-
gen, gemüthliches Sichgehenlassen, Lebhaftigkeit im Ausdruck, Biegsamkeit
und muntrer, aufgeweckter Sinn kennzeichnen die Südländer und beleben den
Verkehr. Hier schreitet gravitätisch eine dicke Mulattin die Straße entlang,
in sauberem Hemd, buntem Rock, kattunenen Tuch über die Brust, das im
Genick zu einem Knoten geschürzt ist, und langem weißen Schleiertuch, das
über Kopf und Schulter gebreitet lang durch den innern Ellenbogen herab¬
hängt. Dort geht langsam auf dem Trottoir ein Mädchen mit einem Korb
oder Kübel aus dem Kopf. Hellbraune Farbe, langes glattes Haar, breites
Gesicht und matte Augen lassen die Indianerin erkennen. Hier hält an die
Mauer gelehnt ein echter Aethiopier Maulaffen feil. Seine Kleidung — die
Hosen über dem Hemd und Sandalen — zeigt den dienenden Stadtbewohner.
Am zahlreichsten vertreten sind aber zur Marktzcit Farbige mit ealsvireillos
und CÄinisa,, d. h. deren Kleidung sich nächst dem breitkrämdigen Strohhut
nur auf Hemd und Hosen reducirt. und zwar so. daß letztere unter dem
Hemd befestigt sind. Kurz und weit flattern sie um die dürre Wade und
lose hängt das Hemd am Leibe bis oberhalb des Knies. Hieran erkennt
man den Landbewohner, der auf seinem Esel Gemüse und Früchte zu Markte
bringt. Aber kurios präsentirt sich der höhere, feinere Neger, welcher den
Gentleman spielen will. In reinem Hemd mit gesteppter Brust, feinen Drell-
hosen, reichgestickten bunten Hosenträgern, weißem Röckchen, seidenem Hals¬
tuch und Schuhen geht er, die Cigarre im Mund und in der Hand ein
Stöckchen, selbstgefällig einher. Weiterhin balgen sich zwei Negerjungen, ein
kleiner Zambo daneben saugt an einem Stück Zuckerrohr oder thut sich mit
braunem Cocosconfect gütlich. Unweit ist die Passage auf Minuten gehemmt.
Eine Caravane von Eseln, durch Stricke aneinander gebunden, mit Kaffee¬
säcken beladen, die Treiber zur Seite mit halb zerschlagenem Stab, stehen
vor einem Magazin quer über die Straße, und harren der Abladung. —
Doch fehlt es in den unteren Straßen auch nicht an Kaufleuten aller Natio¬
nen. Deutschen zumal und Engländern. Bis zur Frühstückszeit, zehn Uhr,
ist überhaupt der Verkehr am lebendigsten, und die Mode- und Putzläden
füllen sich mit schönen Creolinnen. Aber bei aller Geschäftigkeit und Reg¬
samkeit waltet doch in allem ein friedlicher freierer Geist. Da herrscht in
der Kleidung kein Zwang der Etikette, auch in den Ernst der Geschäfte
mischt sich in jenem gütigen Klima heitre Laune. Der im Norden Mienen
verzerrende, hastig eilende Speculationsgeist des Kaufmanns fügt sich unter
den Strahlen der tropischen Sonne 'allgemach einer behaglichen Weise, einer
gefälligen Form, eingedenk des Wortes: Eile mit Weile. Und wie im Ganzen
das übrige Leben in Caracas zwischen den hohen Bergen still und geräusch¬
los dahingeht, so auch der Straßenverkehr und das öffentliche Leben.. Dazu
gesellt sich große Leichtigkeit des Anschlusses, die vom heißblütigen Creolen schnell
auch auf den kühleren Nordländer übergeht, milde Sitten und offnes, aufge¬
schlossenes, nach außen gehendes Wesen. Daher kennt man sich gegenseitig,
begrüßt sich in flüchtiger Begegnung, die einen gehen, die andern reiten in
Geschäften durch die Stadt, man bleibt stehen, man plaudert viel und lange
über Tagesgeschichten und findet dabei immer noch Zeit, das Seine abzu¬
machen. Die hohen Thüren der Kaufladen stehen immer offen, und ungehindert
reitet man hinein, kauft hoch zu Roß ein, man geht wol auch in Hemdärmeln
quer über ti'e Straße, der Schuster nimmt Maß halb im Freien, der bewegliche
Ellenbogen des Schneiders streift fast an den Vorübergehenden, und sollte
etwa eine Naht am Rock geplatzt sein, so wartet man in der Thür ungenirt,
bis der Künstler ihn ausgebessert. Werden erst gegen Abend die Fenster der
Privathäuser geöffnet, so kann man. ohne deshalb neugierig zu sein, im
flüchtigen Vorbeigehen einen ganzen Familienkreis und durch die offnen
Jnnenthüren weit hinten das Innere der Gemächer übersehen. Oeffentlich-
keit ist dort in allem die Losung.
Nach zehn Uhr fängt der Markt an sich zu leeren. Die Sonne beginnt
schon drückend zu werden und jeder sucht Stärkung am reichbesetzten Früh¬
stückstisch. Da packt der Landbewohner seine zwei leeren Tröge wieder auf
den Esel, setzt sich noch selbst dahinter und klammert sich, um nicht herunter¬
zurutschen, mit gebeugtem Nacken nach vorn fest. Ist er lang und schmächtig,
so erreichen seine dürren Beine beinahe den Erdboden und machen den Aus¬
zug um so possirlicher. Lieblich dagegen nimmt sich das Landmädchen aus,
welches in Strohhut mit bunter Schleife seitwärts auf dem Esel sitzend ge¬
mächlich nach ihrem friedlichen Dorfe reitet — dieses, wie so vieles andre,
eine herrliche Ausbeute für den Genremaler. Die glühende Mittagssonne hat
den Markt ganz geleert und auch von den Straßen die meisten Menschen
verscheucht.
Wählen wir zu unsrer ferneren Wanderung durch die Stadt die späteren
Nachmittagsstunden. Eine laulich-milde Lust umfächelt uns, die Sonne
sinkt, es neigt sich der Tag, ein Lichtmeer gießt sich über Stadt und Land¬
schaft, aber die warmen Tinten wechseln mit tiefblauen melancholischen Schat¬
ten und die Klarheit des Horizontes ringsum auf den Gipfeln der Berge
leuchtet hehr und mild hernieder. Wir überlassen die Fensterschau in den
fashionablen Straßen, wo in tändelnden Zwiegespräch mit vorübergehenden
Freunden die weiß gekleideten Creolinnen ihre zweifelhaften Triumphe feiern,
den geputzten jungen Söhnen des Landes, und durchschreiten die ärmeren
peripherischen Siraßen der Stadt: auch hier begegnet uns Liebenswürdigkeit,
Natur, Leben, Poesie. Wir kreuzen mehre Ecken nach unten hin, dem
Gomre zu; das Terrain.senkt sich zuweilen erheblich, und tieft Löcher mit¬
ten in der Straße bekunden, wie hier, wo die Verwaltung der Stadt alles
gehn läßt,.wie es geht, ungezügelt die Regenstrome Hausen. Rechts reiht sich
Häuschen an Häuschen, links zieht sich eine Mauer hin, die einen Garten
umschließt. Dattelpalmen, dunkelbclaubte Mangos mit großen gelben Früch¬
ten, Bananen ragen darüber hervor und treten wir durck das Gitter, so
empfangen uns die Wohlgerüche der Orangenblüte. Citronen und süße Simonen
prangen zwischen saftigen Blättern, aus hellgrünem Laube schaut am Spa¬
lier die wunderbare Passionsblume hernieder, und der Cambure entrollt über
den gurkenühnlichen langen Früchten, deren Gewicht und Fülle den schwachen
krautartigen Stamm zur Seite neigt, seine riesenhaften Blätter. Aber wir
suchen vergebens die ordnende Hand des Menschen, die rührig und einsichts¬
voll mit der allzu freigebigen Natur im Bunde ginge. Die halbverwilder¬
ten Gemüsebeete und dichten Sträucher verrathen eben, daß sie einmahl da
gewesen. Das Haus im Hintergrund mit säulengetragenem Dach verkündet
die Wohnung des säumigen Besitzers.
Verarmte weiße, zumeist aber farbige Familien bewohnen diese Stadt¬
theile. In engem Raume zusammengedrängt empfinden sie das milde Klima als
doppelte Wohlthat. Bei offenen Fenstern und Thüren leben sie mehr draußen
als drinnen, bei geringen Bedürfnissen gibt ihnen gemächliche Arbeit das
Allernöthigste, und die Jugend bis zu sechs, acht Jahren führt Natur am
leichten Gängelband: fasernackt treiben sich die kleinen dunklen Weltbürger
auf der Straße umher, selten beschränkt ein Hemd die freie Bewegung der
Gliedmaßen. — Ganz unten trennen üppige Maisfelder die Stadt von der
nahen Hügelkette, an deren Fuß der geschwätzig murmelnde Bach zwischen
haushohen Schilf und 'schlanken hellgrünen Weiden sich hinschlüngelt. Nach
Osten grenzt hart an die letzten Lehmhütten, nur durch den mit dem
Goaire sich verbindenden Arauco von Norden her getrennt, eine Kaffepflan-
zung. Das dichte dunkle Laubdach des hohen Bukare schützt die Schatten
suchende Kaffeestaude vor den glühenden Strahlen der Sonne und gibt der
Plantage ein ernstes, ruhevolles Gepräge. Dieselbe jenseits zur Rechten schlen¬
dern wir bald zwischen Häusern, bald zwischen Sträuchern und Hecken, bald
an grünem Wiesengrund hin.
Den Zaun dazu bilden unzählige Rindsh inner, aus der nahen Stadt¬
schlächterei nutzlos dort aufgehäuft; denn die rindernährenden Ebenen des
Orinoco senden ja Tausende von Rindern nach der Hauptstadt, ein Ochs kostet
in Benezuela nur so viel als seine Haut in Hamburg, wenige Thaler in sei¬
ner Heimath, im Gebirge wegen der beschwerlichen Führung etwas mehr;
da braucht man also nicht zu sparen und auch noch aus den Hörnern Nutzen
zu ziehn, denkt der sorglose, wenig haushälterische Sinn.
Wohin wir blicken, zeigt sich gemüthlicher Schlendrian, harmloses Sich-
gehenlassen; der gemessene Gang der Leute, die anmuthig und still, den
braunen Wasserkübel auf dem Kopf, dcchinwallende Mädchen mit ihren vol¬
len, dunklen Augen und dem mildbeschaulichen ruhigen Blick, haben etwas
Orientalisches und erinnern an die Frauen des alten Testamentes, an Rebecca
und Rahel.
Bald gelangen wir, immer nördlich gewandt, an die steinerne Brücke
ins Arauco, welche im östlichsten Theil die Stadt mit der erwähnten Kaffee¬
pflanzung des Herrn Mosquera und den nahen Dorfschaften verbindet. Ma¬
chen wir in unsrer Wanderung einen Augenblick Halt und setzen uns auf die
bequeme Brüstung der Brücke. Dieselbe stammt aus der spanischen Zeit und
ist, wie alle Bauten jener Periode, solid und massiv.
Der Bach unter uns hat an dieser Stelle ein breites flaches Bett, in
dessen klaren Gewässern eine lange Reihe farbiger Frauen wäscht. Auch hier
gewahren wir das Land der Blößen. Im Wasser stehend haben sie ihre Röcke
hoch aufgeschürzt und das weiße Hemd hebt sich scharf vom dunklen Nacken
ab. Neben den mit Wäsche gefüllten Mulden sitzen ihre Kinder plätschernd im
Wasser oder tummeln sich umher, den Saft des Zuckerrohres begierig saugend.
Eben reitet eine schöne Creolin mit ihrem Cavalier an uns vorüber, in dunk¬
lem Reitkleid und graziöser Haltung. Ein wenig weiter vom Dorfe her kom¬
men wandelnde Büsche ihnen entgegen — es sind Esel mit malo^o beladen,
dem langen Maishalme, welcher das Thier so über und über bedeckt, daß man
nicht einmal Kops und Beine sieht. Die Treiber in „Unterhosen und Hemd"
mit Strohhut und Stab bringen eben ihre Ladung Pferdefutter nach der
Stadt zum Verkauf.
Aus der nahen xulxorig, an der Ecke, einem Kramladen für die untere
Classe des Volks, deren wir schon vielen, immer an der Ecke der Straßen,
begegnet sind, dringen verworrene Stimmen heftig gesticulirender Neger und
Zambos, die ein Spielball ihrer Leidenschaft, in vollen Zügen dem Brannt¬
wein huldigen.
Unterdessen sind die Schatten der Bäume länger und länger geworden
und gern weilten wir noch hier auf der Bank von Stein, um das erhabne
Schauspiel eines tropischen Sonnenunterganges zu genießen; aber eilen wir
lieber hinauf nordwestlich nach dem hochgelegenen freien Platz der stattlichen
Kirche San Trinidad. Nur können wir jetzt nicht mehr unsern Weg nach
Belieben wählen. Zwei Flüsse, gleich dem östlichen Arauco, durchziehen
von Norden her die Stadt. Steile, selbstdurchbrochene Wände, barocke
Windungen und kräftige Ausbicgungen zeichnen ihren gewaltsamen Pfad
— wilde Söhne des Küstengebirgs, die bei den fast täglichen Regengüssen
des Winters zwischen April und October ganz plötzlich anschwellen und
die aus dem abschüssigen Boden in furchtbarem Brausen sich überstürzen¬
den Gewässer nach dem südlichen Goaire entladen. Kleinere und größere
Brücken verbinden die getrennten, vom Rechtwinkelsystem jetzt nothgedrungen
abweichenden Straßen. Was im Ganzen die Kunst der Stadt versagt hat,
ersetzt hier die Natur reichlich durch pittoreske Scenen, welche der Blick von
den Brücken eröffnet. Hier ragen gefahrdrohend über das hohe steile Ufer
kühne Wohnungen der Menschen, spottend des Abgrundes; dort weitet sich
das Bett aus und die schiefen Wände überwuchert ein junges Geschlecht von
feingefiederten Mimosen, deren Zweige sich oben schirmartig abrunden, und
von üppigen Schlingpflanzen, die sich neckisch um eine kahle Ruine ranken.
In trauter Nachbarschaft gesellen sich dazu die weit verstreuten Trümmer des
Erdbebens von 1812. Halb verfallene blinde Mauern, hinter denen die gold¬
gelben Blumen der Baumwollenstaude neugierig hervorgucken, hohe Stein-
und Schutthaufen um ein verödetes Gitterfenster, über denen der stachlichte
Cactus seine Blüten entfaltet — zum Zeichen des Lebens, welches der Tod
gebiert — und zahlreiche Ruinen, zwischen denen ein nachgeborncs Geschlecht
wieder seine Wohnungen, ja ganze Straßen gebaut hat, kennzeichnen den
oberen Theil der Stadt von der Kathedrale an bis hinauf zu den langen
einsamen Mauern der alten, jetzt im Wiederaufbau begriffenen Kaserne nahe
den Bergen.
Unweit letzterer erhebt sich die kleine neue Kirche von San Trinidad.
Sie ist schmuck und nett, aber wie die niedrige Kathedrale und alle übrigen
Kirchen, ohne Stil erbaut. Aus erhöhtem freien Platz gelegen beherrscht sie
die Stadt. Dorthin strebt unser Fuß. Schon haben wir die alte Brücke von
San Trinidad erreicht. Sie ist allabendlich der Sammelplatz von Jung und
Alt und bis spät stummer Zeuge der Possen und Schwänke, in denen ein
muntres, lebenslustiges Volk von Negern, Mulatten, Mestizen und Zambos
sich ergeht.
Noch wenige Schritte hinauf an den Häusern hin, und wir stehen vor
der Kirche. Ein glutrother Schein lagert sich bereits auf Stadt und Thal.
Goldne Wolkenberge thürmen sich über dem westlichen Horizont. Beflügel¬
ten Schrittes eilt die Sonne hinab dem Meere zu. Noch ist Heller Tag, ein
Feuermeer in allen Mischungen der Farben entzündet der Wolken bizarre Ge¬
bilde. Noch wenig Minuten, der Held hat den Lauf durch seine Lieblingszone
von Pol zu Pol vollendet, und Stadt und Thal umfängt mit Riesenarm der
kühle Schatten. Aber noch stammen die Berge in Tagesschein. Mit dem
uralten Recht, nach welchem sie der erste Strahl der Morgenröthe küßt, ban¬
nen sie auch den scheidenden Tag länger und gestatten der Nacht nur allmälig
ihre Schwingen über das Schutzbefohlene Thal zu breiten. Von himmlischer
Klarheit umflossen leuchten ti« urwaldgekröntcn Scheitel der Küstenbergkette
hoch oben vor uns, keine Wolke verhüllt die kühn geschwungenen Linien;
aber höher und höher steigt die scharfe Schattenlinie, sonder Rast und unauf-
sattsam. Endlich sieht sich auch die Felsenkuppe der Silla vereinsamt, einer
sonnigen Insel gleich, mitten im dunkeln Luftocean.
Einsam stehen auch wir, kühle Schauer in der Brust, aufwärts gerichtet
den Blick nach dem leuchtenden Berge. Noch ein schmaler Streifen Licht
umstrahlt sein ehernes Haupt. Noch einmal wie auf Nimmerwiedersehn,
sendet uns der Freund seinen Scheidegruß. Aber bald schwindet auch der
letzte Schimmer, und allmälig bricht die Nacht über die Hauptstadt herein.
Unter den Freunden der freien Entwicklung Preußens hat sich in der letzten
Woche eine große Verstimmung ausgedrückt; ein desto größeres Behagen im Lager
der Kreuzzeitungspartci. Wenn das Organ der letzteren noch vor wenig Tagen den
Ton einer Kassandra anschlug und den Untergang der Welt als ein Ereigniß be¬
zeichnete, welches wenigstens nicht ganz außerhalb der Grenzen der Wahrscheinlichkeit
liege, so reibt es sich jetzt vergnügt die Hände und hat sogar seinen alten Humor
wiedergefunden. Die Gründe dieser Umstimmung sind leicht zu begreifen. Der
bekannte Erlaß aus dem Ministerium des Innern, der höchst sonderbare Artikel, mit
welchem das ministerielle Organ aus der „Zeit" in die preußische Zeitung überging,
die Veröffentlichung der Ansprache, welche der Prinzregent an das Gesammtmini-
stcrium gehalten haben soll, die Antwort desselben auf eine Trcubundsaddresse, end¬
lich das wieder ausbrechende Gezänk zwischen Constitutionellen und Demokraten:
— das alles mußte das Publicum in Verwirrung setzen, welches schon von einem
Frieden zwischen allen Parteien, von einem neuen Völkerfrühling träumte. In der
That sehn jene Umstände, wenn man sie im Zusammenhang sieht, verhängnißvoll
genug aus; betrachtet man aber mit Ruhe jeden einzelnen, so findet man nichts,
was mit dem bisherigen Gang der Politik in entschiedenem Widerspruch stände.
Was aber die constitutionelle Partei betrifft, so kann und soll sie aus dem Wechsel
dieser Stimmung folgendes lernen.
Es ist den neuen Ministern im höchsten Grade daran gelegen, den
Namen eines constitutionellen, eines liberalen Ministeriums, eines
Ministeriums der Linken zu vermeiden. Es kann ihm kein größeres Mi߬
geschick widerfahren, als wenn die bisherige Opposition, die liberale, die constitu¬
tionelle Partei sich jetzt ministeriell nennt. In der gerechten Scheu, mit dieser
Partei verwechselt zu werden, vernimmt die neue Regierung durch ihr Organ die extrem¬
sten, ungerechtfertigtsten Forderungen, Forderungen, die kein anderer Mensch vernimmt.
Der gewöhnliche Menschenverstand findet vielmehr die Haltung des gesammten preu¬
ßischen Volkes sehr mäßig, nüchtern, gesetzt, busiess like, wie der Engländer sagt.
Wenn man aber die officiellen Kundgebungen ansieht, so sollte man meinen, hier
und da in einem verborgenen Winkel sei wieder die blutrothe Fahne der Republik
aufgesteckt worden.
Und woher diese seltsame Gespensterschcu? — Mögen unsere Freunde, die Con-
stitutionellen, nicht etwa glauben, es gelte nur den Demokraten, mögen sie sich nicht
beeilen, mit einem Eifer, der doch immer etwas Unschönes hat, sich von der Demo¬
kratie loszusagen, die sich in ihren augenblicklich hervortretenden Repräsentanten,
einiges unnütze Geleise abgerechnet, sehr rücksichtsvoll betragen hat.
Die Gespensterscheu gilt vielmehr uns, den Konstitutionellen. Wir sind es, deren
extreme Wünsche dem Ministerium zur Last fallen. Die officiösen Organe, deren Stil
sich noch nicht geklärt hat, drücken sich ungeschickt aus; eigentlich wollen sie uns
nicht wegen unserer Wünsche tadeln, sondern nur deswegen, daß wir uns
so ausdrücken, als seien diese Wünsche auch das Programm des Mini¬
steriums.
Woher kommt auch dieser plötzliche Eifer, uns als ministeriell zu ^ geberden, da
die Thatsachen entschieden dagegen sprechen? Freilich stehn wir zu der neuen Re¬
gierung ganz anders als zu der alten, wir hoffen von ihr, den Mitgliedern des
Ministeriums Hohenzollern, das Beste, wir schenken ihnen auch da ein großes Ver¬
trauen, wo wir sie nicht verstehn; wir glauben, daß sie überall nach Pflicht und
Gewissen der Krone Rath ertheilen werden.
Wenn aber berliner Blätter daraus die Folgerung ziehn, ^die konstitutionelle
Partei solle, um dem Ministerium keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten, mäuschenstill
sein, nichts für zweckmäßig halten, als was das Ministerium sür zweckmäßig hält,
und bei jedem Wunsch genau vorher überlegen, ob «r auch diesem oder jenem Herrn
aus dem Ministerium bequem sein werde, so ist dieser Rath nicht blos unwürdig,
sondern absurd; ja es wäre ein vollständiger Selbstmord der Partei.
Statt dessen gibt es ein viel einfacheres Mittel, dem Ministerium jede Unan¬
nehmlichkeit zu ersparen: wir dürfen nur nicht Anspruch daraus machen, in seinem
Namen zu reden. Was die Rathgeber der Krone zu thun gedenken, wollen wir ab¬
warten und danach unser Verhalten einrichten; gegen die feudale Partei und auch
gegen die Anarchisten, wenn sie wieder austreten sollten, werden wir sie natürlich
aus allen Kräften unterstützen ; aber wir wollen nicht bei ihnen in die Schule gehn.
Was sür den Staat für nützlich zu halten sei, haben wir schon früher gewußt und
wenn die ehemalige Zeit wieder von beschränktem Unterthanenverstand murmelt,
so soll uns das nicht abhalten, auch ferner unsre Principien innerhalb des Kreises
unsrer Befugniß in den Kammern und in der Presse ungescheut auszusprechen.
Der preußischen Zeitung aber gegenüber, die nicht blos officiös. sondern auch
Zeitung ist, haben wir den Wunsch auszusprechen, daß sie mit ihren Neuigkeiten
etwas zeitiger käme. Es ist z. B. gar nicht gleichgiltig, ob der Wähler zur rech¬
ten Zeit erfährt, daß die Regierung in ihrem Wahlerlaß sich nicht blos gegen die
Extreme der Linken, sondern' auch gegen'die Extreme der Rechten ausgesprochen
hat, denn wenn nur die erste Seite veröffentlicht wird, während die andere sich auf
eine unverständliche Andeutung beschränkt, so kommt das den Herren Landräthen
ZU gute, die sür die Partei des Herrn v. Gerlach gegen die Mitglieder des neuen
Ministeriums agitiren.
Vielleicht wäre es die richtigste Taktik des neuen Ministeriums gewesen, die
officiösen Blätter ganz abzuschaffen und sich mit den officiellen zu begnü¬
gen d. h. mit dem Staatsanzeiger und mit der Preußischen Korrespondenz; auf
keinen Fall wird die Gründung der preußischen Zeitung die unabhängige liberale
Partei der Verpflichtung überheben, in Berlin ein eignes Organ zu- gründen,
denn sie ist bis jetzt in der unbequemen Lage, an die bestehenden Blätter Wünsche
und Zumuthungen zu richten, die diese einfach zurückweisen könnten, da sie kein
Wir haben im vorigen Jahrgang (1857. 2. Q. S. 3) über die Gedichte von
Prutz (4. Aufl., Leipzig. I. I. Weber) berichtet, wir sagten u. a.: „In einzelnen
Strophen der letzten Lieder vernehmen wir einen Schrei des Herzens, dessen Realität
sich nicht bezweifeln läßt, und der daher einen poetischen Eindruck macht. Aber
freilich ist dieser Eindruck kein erfreulicher. Während in den politischen Liedern von
1840 die Hoffnung und der Glaube überströmt, herrscht in den Gedichten von 1854
eine Hoffnungslosigkeit, deren niederschlagender Eindruck nur selten durch ein künstliches
Aufraffen unterbrochen wird. Dort spottet der gläubige jugendliche Dichter der Weis¬
heit des Alters, die sich dem Enthusiasmus entzieht und alle Illusionen durch Vernunft¬
gründe auflöst; hier ist er selten in diesem Stadium des Alters, nur daß an Stelle
der Lebensweisheit eine unheimliche Verstimmung sich seiner bemächtigt hat."—In
der Sammlung, die uns jetzt vorliegt: „Aus der Heimath. Neue Gedichte von
Robert Prutz" (Leipzig, Brockhaus), finden wir zwar noch einige Lieder, in denen
die alte Stimmung fortklingt; namentlich wird man durch den Cyklus „Magdalene"
aus eine sehr peinliche Art an den Ernst des Lebens erinnert; dagegen herrscht in
den übrigen, vor allem in dem Cyklus „Zweite Liebe", ein Feuer, das weit über
alles hinausgeht, was Prutz in seiner Jugend gedichtet hat. Es ist nicht blos das
Beste, was Prutz geschrieben, es ist überhaupt das Beste, was in den letzten Jahren
in der Lyrik geleistet ist. In einem dieser Gedichte sagt Prutz:
Ach ihr zuckersüßen Jungen,
Frommgcscheitelt zarte Seelen,
Deren Herz in Aergste» bebt.
Hält ihr Arm ein Weib umschlungen!
Ja, ich darf es nicht verhehlen:
Wahrheit ist, was ich gesungen,
Diese Lieder sind gelebt.
Prutz hätte nicht nöthig gehabt, das zu sagen; in jeder Strophe empfindet
man, daß sie aus dem Herzen kommt.
O Stern der Liebe, längst versunken,
Verlöschen hatt' ich dich geglaubt;
Was wirfst du heute deine Funken
Noch einmal auf mein alternd Haupt?
Aus Wetterwolken mitternächtig
Rasse du voll finstrer Majestät,
Wie ein Komet, verderbenträchtig,
Sein flammend Haupt zur Erde dreht.Ich aber steh' und fühl' erschrocken
Und selig dennoch deinen Strahl:
O nicht auf mich, auf braune Locken
Gieß deiner Gluten süße Qual!
Hab Mitleid mit dem müden Herzen,
So viel geprüft von Gram und Noth,
Es hat verlernt, wie lang! zu scherzen,
Und wenn es liebt, so liebt's zum Tod.Umsonst, umsonst! Schon nah' und näher
Wälzt sich das gier'ge Element,
Und höher steigt und immer höher
Die holde Glut, die mich verbrennt.
Ich will entfliehen, kann nicht wenden
Den Fuß, gebannt von Qual und Lust,
Und drücke selbst mit beiden Händen
Den Flammenpfeil mir in die Brust!
Aber einen Fehler haben diese Gedichte - sie drängen dem Leser die Realität zu
handgreiflich auf. Man wird, von dieser Seite wenigstens, an Bürger erinnert, und
an Schillers viclgeschmähtc Kritik, die, wenn auch in ungeschickten Ausdrücken, sehr
richtig daraus hinwies, daß die Dichtung, die ganz in der subjectiven Wahrheit stehn
bleibt, den Leser peinigt, statt ihn zu erheben. Der Zauber der Poesie liegt darin,
daß wir uns an die nächste Noth nicht erinnern; das Meer ist ein erhabener An¬
blick, aber nicht für den, der darin umhertreibt, im Begriff zu ertrinken. Auch die
Lyrik wirkt nur dann wohlthuend, wenn sie uns die Stimmung; wie wird das
enden? fern hält. Hier werden aber über alle betheiligten Personen so viel Details
erzählt, daß der Eindruck fast noch beklommener ist, als in den frühern Liedern.—
In einem polemischen Sonett sagt Prutz:
Wir leben im Zeitalter des Realen,
Das, sagt ihr, muß sür manches uns entschuld'gen;
Es will die Welt aus einmal sich entled'gen
Von allen unfruchtbaren Idealen.Nicht länger wolln wir nur auf Wolken malen;
Wir sind der Götter müd', davon sie pret'gen.
Der zürnenden sowol als auch der grad'gen;
Wer Schulden macht, der soll sie auch bezahlen.
Es ist doch nicht ganz so. Wer uns eine wirkliche Welt des Ideals auszu¬
malen versteht, die uns dem Staub dieser verworrenen Erde ganz enthebt, den
wollen wir freudig als Propheten begrüßen; die Welt ist nicht der Götter müde,
fie harrt ihrer mit größerer Sehnsucht als je, nur die Erscheinungen bleiben aus.
Der Dichter dagegen, der uns in den Staub dieser Erde vertieft, uns an alle die
kleinen ängstlichen Sorgen und Nöthe erinnert, denen wir im Ideal entflieh», von
diesem verlangen wir, daß er des einzigen Compasses mächtig sei, der in diesen
Wirren leitet: des Gewissens; dem rufen wir zu: „Wer Schulden macht, der soll
sie auch bezahlen!" Denn sonst büßt man nicht blos den äußern Frieden ein, man
ist auch in Gefahr, die innere Würde zu verlieren. Und es gibt auch geistige
Schulden, d. h. Pflichten, die den Dichter ebenso binden, wie jeden andern Sterb¬
lichen. Am strengsten muß man sein, sobald, nicht die Unmittelbarkeit, sondern die
Reflexion uns entgegentritt, sobald man aus dem einzelnen Fall, der vielleicht so
arg nicht ist, eine Regel macht, z. B.
Dichterfrauen müssen manches dulden,
Manchen Irrthum, manch Verschulden,
Wenn die stürmischen Gedanken
Niederwerfen fromme Schranken.
Soll der Aar das Fliegen nicht verlernen,
Muß er aufwärts zu den Sternen
Seinen Fittig lenken dürfen.
Reinen Thau des Himmels schlürfen u. s. w.
Was das heißt, hat Dickens sehr richtig in der Figur des Harald Skimpole
geschildert.
Wenn Prutz die Mysterien der Liebe in feurigen Dithyramben besingt, so faßt
Karl Heinzen, der berühmte Demagog (Gesammelte Schriften, erster Band; New-
yorck, Selbstverlag), die Sache kühler auf:
Ein Narr ist, wer sich quält zu lieben,
Wird er nicht gleich dafür geliebt.
Mich ziehst du nicht vor deine Füße,
Ich gebe dir nur, was du mir —
Zum Teufel, sind denn meine Küsse
So gut nicht wie ein Kuß von dir?
Seine Phantasie erhitzt sich nur, wenn der Haß gegen die Tyrannen ins Spiel
kommt; die „loyalen Phantasien" 1840 und 1846 sind das scheußlichste, was uns
in der Ausmalung blutdürstiger Visionen vorgekommen ist. Auch seine Ansicht von
der Zukunft tröstet uns nicht über diese Hallucinationen:
ES ist ein zweck- und solgeloses Streben,
Für deutsche Freiheit dich zu mühen,
Und in dir selbst verglühen,
Das wird dein Loos sein — ein verfehltes Leben!
Drum laß dies faule Stroh sich gährend blähen!
Es wird, wenn nicht entflammt zum Lichte,
Zum Miste der Geschichte —
Und kannst du zünden nicht, so kannst du säen.
Uebrigens hat ihn seine demokratische Gesinnung nicht bestimmt, in Amerika
die Freiheit zu finden; er spricht sich vielmehr über dies Land folgendermaßen aus:
Das Urtheil der Erfahrung spricht:
Hier ist die beste Probeschul' auf Erden,
Wer hier nicht kann zum Vieh und Schwindler werden,
Der wirds in seinem Leben nicht. —
Die Freiheit verdeutlicht durch „menschliche« Vieh;"
Durch Menschenjäger die Republik,
Durch Kneipenregenten die Demokratie —
DaS ist die herrschende Politik. —
Zwei Gedichtsammlungen: „Blüthen meiner Mußestunden, gewidmet dem deut¬
schen Volk von Heinrich Lenz" (Jena, Hochhausen, und „Gedichte von Wilhelm
Schuster" (Schüßburg, Habersang), übrigens beide wohlgesinnt und nicht ohne
Talent, wollen wir hier einfach erwähnen; ebenso eine modernisiren Uebersetzung des
Catull von Theodor Strom der g (Leipzig, Brockhaus). Ein wirklicher, nicht
unbedeutender Werth dagegen ist in den „Zeitlosen, Gedichte von Moritz Hart¬
mann" (Braunschweig, Vieweg); meistens poetische Erzählungen in sinnigen Melo¬
dien und von guten Gedanken durchflochten. Möchte es dem Dichter noch mehr
gelingen, durch größere Reife der Kunst die Kunst zu verstecken. Das Schwächste in
der Sammlung sind die „Symphonien". Fast noch angenehmer ist die Prosa, die
derselbe Dichter in den „Mährchen und Geschichten aus Osten und Westen" (Braun¬
schweig, Westermann) entwickelt; die Auswahl der Volkssagen ist ebenso geschickt als
die Bearbeitung. — Eine dankenswerthe Gabe sind auch die „alten Bcrgmannslieder",
herausgegeben von Reinhold Köhler (Weimar, Bostan), eine Ergänzung der
Sammlungen von Moses und Moritz Döring. — In der „Nordlandsharfe" (Elber-
feld, Bädeker) hat P. I. Will ätzen die besten lyrischen Dichtungen der moder¬
nen skandinavischen Poesie sehr geschickt ins Deutsche übertragen.
Christian III. König von Dänemark. Ein historischer Beitrag zur Geschichte
des 16. Jahrhunderts, insbesondere der Kirchenreformation. Vom Pastor C. H. Clauß.
Zum Säcularandenkcn an den 1. Jan. 1559, den Todestag Christians. Dessau,
Baumgarten. — Neues, sagt der Verfasser, bringe ich nicht; dagegen habe ich ver¬
sucht, den benutzten Stoff pragmatisch neu zu ordnen und nichts wegzulassen, was
zur richtigen Würdigung des Charakters und der Handlungen Christians III. bei¬
tragen könnte. Die Aufgabe, die ich im Auge hatte, war, ein möglichst vollstän¬
diges und klares, dabei historisch wahrhaftes Lebensbild von ihm herzustellen. —
Die Anfänge der Restauration der Kirche im elften Jahrhundert. Nach
den Quellen kritisch untersucht von Cornelius Will. Marburg, Elwert. Erste Ab¬
theilung. — Nach dem vorliegenden Heft, welches die Jahre 1046—1054 umsaßt,
darf man eine sehr bedeutende Leistung erwarten; wir behalten uns vor, nach Voll¬
endung des Werks darauf zurückzukommen. —
Aufzeichnungen eines Amsterdamer Bürgers (Joh. Christ. Cuno) über Swe¬
denborg, nebst Nachrichten über den Verfasser, vom Bibliothekar Scheler. Han¬
nover, Rümpler. — Es sind Auszüge aus der sehr inhaltreichen Selbstbiographie
Cunos, der 1708 zu Berlin geboren, seit 1722 Hofmeister, 1724 in die preußische
Soldatenjacke gesteckt wurde, und 1733—1740 in verschiedenen Gegenden, auch in
Italien, als Werbcoffizicr fungirte, bis er endlich entlief und durch eine reiche Hei¬
rath an die Spitze eines Handelshauses in Amsterdam gestellt wurde. Die Bemer¬
kungen über die seltsame Mischung in Swedenborgs Charakter, halb Tollheit, halb
feinster Menschenverstand, sind sehr interessant und ergänzen Kants Träume eines
Geistersehers (1766) aufs glücklichste. —
Die Nichten Mazarins. Studien der Sitten und Charaktere im 17. Jahr¬
hundert, von Am. Ramee, nach der dritten Auflage übersetzt von Fr. Szarvady.
Dresden, Kuntze. — Es ist hauptsächlich Cousin, der eklektische Philosoph, der in
Frankreich das Interesse für die berühmten Frauen des 17. Jahrhunderts geweckt
hat; unter den zahlreichen Arbeiten, die durch fein Vorbild hervorgerufen sind, ge¬
hört die vorliegende zu den am besten ausgeführten und zu den interessantesten.
Wenn auch der Verfasser weder in der Auswahl der Thatsachen noch in der Form
der Darstellung seinen Hauptzweck verleugnet, das Publicum zu unterhalten, so geht
er doch von sehr tüchtigen Vorarbeiten aus und gibt für das Verständniß Maza¬
rins nicht unwichtige Beitrüge. Auch lernen wir aus diesen Erzählungen sehr gründ¬
lich den Begriff der Fronde kennen, der sich keineswegs auf das 17. Jahrhundert
beschränkt! jener Opposition, der es im Grund aus nichts Anderes ankommt, als
in das einförmige Leben durch unerhörten Scandal einige Abwechselung zu bringen.
— Einige Proben von der Spiclwuth jener Tage. — Gourville erleichtert die
Börse von Fouquet in einer halben Stunde um 55,000 Fr.; Herr v. Crequi ver¬
liert an einem Abend 300,000 Fr,; der Marschall von Estrves 100,000; Monsieur
300,000: um zu bezahlen, verkaufte er sein goldenes Geschirr und seine Edelsteine.
Ein Abbe de Gordes ist nur dadurch bekannt geworden, daß er 150,000 Fr. an
den König verlor. Die Herzogin de la Ferts ließ ihre Lieferanten, Schlächter,
Bäcker u. f. w. zusammenkommen, hieß sie sich uni einen Tisch setzen und spielte
mit ihnen eine Art Landsknecht. Sie sagte Fr. v. Staat ins Ohr: ich betrüge sie,
aber nur darum, weil sie mich bestehlen. Die vornehmsten Leute nahmen keinen
Anstand, im Spiel zu betrügen. In allen Schriften jener Zeit ist von des Kardi¬
nals Leidenschaft fürs Spiel bis zu seinem Tode die Rede; so erzählt man, er habe
während seiner Krankheit die Pistolen gewogen, die er gewonnen, um die leichtesten
davon wieder beim Spiel zu verwenden. Ein Spottlied sagt zu ihm:
(jus si tu vsux guf dös ps,rsntss
Dvousent Iss »Ki-vues du, ro^,
?u Iss xsux bien rsnärs eontsntes;
<nar wssiuv dem8 ton 6sgsrrox
lieg roz^Z <1s eari'SÄu se <Zs xiqus,
Hui sont dös amis ilorusstiHuss,
Ooousrout Ä ees dvllss sosurs
Dos valsts <Is trstls et dö oosur. —
Zur neuesten Kulturgeschichte Deutschlands. Zerstreute Blätter, wiederum gesammelt
von A. F. C. Vilmar. 2. Bde. Frankfurt a, M., Heyder und Zimmer. —
Wie in der junghcgelianischen Bewegung der Jahre 1835—1845 der Eine
immer den Andern in der sogenannten Ueberwindung der Vorurtheile zu über¬
steigern suchte, so geschah es auch in der gleichzeitigen theologischen Reaction.
Seitdem Hengstenberg die evangelische Kirchenzeitung gründete, hat immer ein
Standpunkt den andern abgelöst, viele Rechtgläubige von damals sind bereits
in die Reihe der Ketzer geworfen, und Hengstenberg selbst gilt bei den am
weitesten vorgeschrittenen Kennern der alleinseligmachenden Religion als lau¬
warm. Unter diesen Kennern ist nur eine Stimme darüber, daß Vilmar die
höchste Staffel des Glaubens erstiegen hat, und wir freuen uns daher, in
diesen Schriften seine nähere Bekanntschaft zu machen. Vilmar hat vor der
Mehrzahl seiner geistlichen Amtsbruder den großen Vorzug, im Ganzen ein
gutes Deutsch zu schreiben und zugleich verständlich und unterhaltend zu sein.
Vilmar ist 1800 in Kur Hessen geboren, wurde als Gymnasiallehrer 1830
Mitglied der kurhessischen Ständeversammlung, 1833 Gymnasialdirector in
Marburg, wo er 1843 bis 1844 die bekannten Vorlesungen über deutsche
Literaturgeschichte hielt, und redigirte 1848—1851 den hessischen Volksfreund,
dessen Hauptartikel hier wieder abgedruckt sind. Seit 1850 ist er Consistorialrath.
In den vorliegenden Blättern ist auch viel von Politik die Rede, aber
man kann beim besten Willen nicht viel daraus lernen. Ganz abgesehn von
seinem theologischen Standpunkt, begeht er den Fehler, Fragen entscheiden
zu wollen, über deren Material er sich vorher gar nicht unterrichtet hat, und
über Männer zu urtheilen, die er nur dem Namen nach kennt. Es macht
einen ganz wunderlichen Eindruck, wenn er einmal Gelegenheit hat, die Dinge
mit eignen Augen zu sehn und dann entdeckt, daß sie doch ganz anders sind,
als er sie sich vorgestellt hatte. Wenn man aber seine politischen Ideen als
ein leeres Gerede bezeichnen kann, so ersetzt er die mangelnde Einsicht durch
die Kraft der Ausdrücke. So schildert er einmal den Zustand der Paulskirche
nach den bekannten Septemberunruhen (2. B. S. 94). und meint, daß
„kaum das roheste Heidenthum einzelne schwache Beispiele von ähnlichen
Scheußlichkeiten ausweist, wie sie unsre gebildete Zeit in reichlicher Zahl aus¬
gewiesen hat." Den christlichen König Clodwig, die christliche Bartholomäus¬
nacht und andres hat er wahrscheinlich vergessen. Er fährt dann folgender¬
maßen fort.,
„Mit hündischen Gebelfer wurden die Mordthaten in Frankfurt als Acte
der Gerechtigkeit, und mit gleich hündischen Gebelfer der an Robert Blum
vollzogne Act des Gesetzes und der Gerechtigknt als Mordthat ausgeschrieen;
mit den wuthschnaubenden Stimmen höllischer Geister riefen schmutzige Rebellen
die rechtmäßigen Herrscher als Rebellen, sich als die rechtmäßigen Landesherren
aus, und aus der heiser brüllenden Kehle eines Teufels (freilich eines dummen,
aber doch eines sehr boshaften) kam das Wort des Abgrunds: wir wollen kein
Gesetz, sondern wir wollen volle, blanke Anarchie. Denn Ludwig Simon hat
dies nicht aus sich gesprochen; ein ganz Anderer sprach es aus ihm: er war
nur die Zunge, der Mund, das Werkzeug dieses Andern."
Es ist also der leibhaftige Teufel, der in der Paulskirche gesessen hat.
Man halte das nicht etwa für einen vereinzelten Zornausbruch, ähnliche Kraft-
sprüche finden sich auf jeder dritten Seite. Wir heben nur noch den einen
hervor, der sich durch seine bündige Logik auszeichnet (1. Bd. S. 319, ge¬
schrieben t850).
„Haben wir gelernt, daß die Demokratie, mit allem, was darum und
daran hängt, nichts anders ist, als Dummheit, Schande, Lüderlichkeit, Raub
Diebstahl und Mord? — Hier gilt kein „Ja. aber—" kein „doch", kein „in¬
deß", kein "freilich" und dergleichen elende Ausflüchte der Schwachköpse. Wer
mit solchen Ausflüchten jetzt noch kommen kann, der ist nicht allein ein ver¬
ächtlicher Schwachkopf und ein Narr, sondern auch selbst ein Diebsgeselle
und Schandengenosse. Wer aus den Jahren 1848 und 1849 wirklich etwas
gelernt hat. der antwortet aus diese Frage mit einem einfachen und tüchtigen
Ja. Wer an das Ja irgend etwas anzuhängen Lust hat. der antwortet eben
damit Nein. Halb-Ja ist ein Nein in der Sprache der Träumer, der entmann¬
ten Schwächlinge und der verächtlichsten Feiglinge. Und wer jetzt noch auf
diese Frage mit Nein oder mit dem halben Ja der Jämmerlinge antworten
kann, der wird in seinem ganzen Leben nichts weiter lernen, denn solche Jahre
der Erkenntniß, der Augenöffnung und Verständigung auch für den Unver¬
ständigsten, Kurzsichtigsten, Blindesten, kommen in einem Menschenalter nicht
zum zweiten Mal."
Das ist handgreiflich gesprochen, und für das Publicum. welches der
Consistorialrath Bilmar im Auge hat. vollkommen geeignet. Aber er verliert
sich zuweilen auch in die Mysterien der Metaphysik, und gibt über die geheim-
sten Motive der menschlichen Sünde Aufschlüsse, die selbst sein Publicum in
Erstaunen setzen werden. Eine der interessantesten Auseinandersetzungen finden
wir 2. B. S. 278.
„Wer entwickelt einmal aus den dunkelsten Tiefen des Menschenbewußt¬
seins heraus die Bedeutung der mosaischen Speisegesetze? Abgesehen von den
seltsamen Appetiten der Spinnenverzehrer und Maikäferfresser, von denen die
ersteren, so viel ich beobachtet habe, meistens in geistiger Verzerrung, die an¬
dern in Trunksucht endigen, gibt es immer manche, welche Füchse und Ratten
gern essen; nach meiner Erfahrung zugleich Menschen, welche von den Sitten
und von dem Verkehr der Welt sich auch sonst fast völlig absonderten, zuwei¬
len solche, welche noch dazu leiblich und geistig ganz herabgekommen waren.
Und eine Gesellschaft Pferdefresser, welche vor einigen Jahren zusammentrat,
jetzt aber sammt und sonders nach Amerika ausgewandert ist, zeigte sich — bis¬
her wenigstens leidlich umgänglich und vernünftig — von da an als ganz beson¬
ders unzugänglich gegen jede nur einigermaßen geistige Berührung, die Meisten
als roh, brutal, fast bestialisch. Als ich ein Jahr später einer Versammlung
von Deutschkatholiken und Lichtfreunden beiwohnte, wurde ich alsbald und
unwillkürlich an den Ton der Stimme und an das Gebcchren jener Pferde¬
fleischfresser erinnert, und dieselbe Erinnerung tauchte 1848 bei dem ersten Er¬
scheinen der Demokraten mit ihren rothen, rollenden Branntweinaugcn und
ihren wilden Bierstimmen, wieder auf. Das Eine wie das Andere, das Wesen
der. Pferdefresser und der Demokraten, war ja freilich rohes Gelüste nach dem
Fremden und Unbekannten, zügellose Probiersucht; aber es war wol auch mehr,
und der Verbindungspunkt liegt noch tiefer." «
Das ist ein unerwarteter Aufschluß: um so unerwarteter, da im Wesent¬
lichen die Ansicht des Consistorialrath Vilmar mit der des Philosophen Feuer-
bach zusammenfällt, der in seinen Fragmenten den Satz ausstellt: der Mensch
ist, was er ißt. Nur ein Punkt ist uns nicht ganz verständlich. Warum ist
es grade das Pferdefleisch,'in dem wir d/n Teufel essen? im Mosaischen Ge¬
setz ist doch hauptsächlich das Schweinefleisch verboten, und es steht geschrieben,
daß der Teufel in eine Herde Schweine getrieben wurde. Nun hat aber die
gesammte Christenheit ein Jahrtausend hindurch mit schrecklicher Ausdauer
Schweinefleisch gegessen, und man müßte daher annehmen, daß sie recht vom
Satan besessen gewesen ist, mehr als die Juden, denen das rohe Gelüst nach
dem Fremden und Unbekannten, die zügellose Probiersucht weniger innewohnte,
die noch immer Schinken und Wurst verschmähen. Oder sollte es wirklich
daran liegen? sollte die Bluthochzeit und die französische Revolution daraus
zu erklären sein, daß Katharina v. Medici dem wilden Schweinskopf nicht
abhold war und daß Mirabeau an Saucischen Vergnügen fand? Vielleicht
gibt uns der Herr Consistorialrath Vilmar darüber Auskunft.
Wenn übrigens in diesen Stellen immer nur die Demokraten als die
echten „Sündenlümmel" dargestellt werden, die aus dem „Gnadenhimmel"
verbannt sind, so geht es an andern Stellen den Gothaem nicht besser, und
wenn bei einem Besuch in der Paulskirche (1. B. S. 113 u. ff.) die
Persönlichkeiten Gagerns und anderer Gothaer aus Vilmar gradezu einen
imponirenden Eindruck machen, so spricht das mehr für die Fähigkeit seines
Auges, zu sehn, wenn es aufgemacht wird, als für die Consequenz seiner Ein¬
sicht und seiner Ueberzeugung.
Lassen wir indeß die unerquickliche Politik bei Seite und wenden uns
zur Religion. Eine der interessantesten Predigten ist „der gekreuzigte Christus,
den Juden ein Aergerniß und den Griechen eine Thorheit, 1851." Den Ju¬
den ist Christus ein Aergerniß gewesen, weil seine Weltreligion den jüdischen
Patriotismus zerstörte; den Griechen dagegen „erschien der gekreuzigte Christus
als ein unfertiges und ungeschicktes Religionsexperiment auf einem ganz un¬
tergeordneten Standpunkt. Er erschien ihnen, die schon alles, was ihnen Re¬
ligion war, besaßen oder vielmehr besessen hatten (denn ihre schönen Götter
waren ihnen selbst bereits zum Spott geworden), nichts weniger als gefährlich
(wie er den Juden erschienen war), sondern nur lächerlich: wenn sie über
ihre schönen Götter längst herausgekommen, wie sollte ihnen der häßliche ge¬
kreuzigte Gott irgend etwas anders abgewinnen, als ein mitleidiges Lächeln?"
So wie in der Periode der Apostel, so ist es gewesen und so wird es
sein zu allen Zeiten. „Wie paßt — sagen unsre neumodigen Griechen ganz
grade so, wie die Griechen zu des Apostels Zeiten — der gekreuzigte Christus
mit seinen seltsamen Wundern in unsre fortgeschrittene Bildung? Entweder
er muß sich nach uns bequemen und zu einem gebildeten Griechen werden,
wie wir das sind, oder wir wollen nichts von ihm wissen, und können ihn
in unsre Welt der Wissenschaft und Kunst, in unsre Politik, in unsre geselli¬
gen Freuden und Genüsse hinein nicht brauchen. Solche Leute stellen sich an
und für sich gar nicht feindlich an gegen Christus;- sie bekennen mit dem hei¬
tersten Gesicht: freilich, die Religion fehle ihnen, bedauern auch wol, daß sie
nun einmal nicht christlich werden könnten, und erklären mit scheinbarer großer
Toleranz, jedem seine Ueberzeugung lassen zu wollen. Kunst, Wissenschaft
und in der neuern Zeit Tagespolitik ist ihnen das Höchste im Leben." —
Das sind die Griechen. — „Eine andere, in den letzten 60, besonders aber
in den letzten 10—20 Jahren immer stärker angewachsene Menschenmasse fühlte,
ganz ähnlich den Juden zur apostolischen Zeit, daß der gekreuzigte Christus
ihnen in ihrem rein nationalen Bestreben, in ihrem blos aus das Diesseits
gerichteten Treiben ein unübersteigliches Hinderniß ist. Jene kennen Christum
nicht, und verachten ihn; diese kennen Christum, und fluchen ihm". — „So
steht es jetzt; massenhaft sind die Griechen, denen Christus eine Thorheit
ist, in unsern abgelebten sogenannten gebildeten Ständen, massenhaft sind die
I ud en, denen Christus ein Aergerniß ist, in unsern Demokraten und Kommuni¬
sten auf den Schauplatz getreten. So ist es seit sast 1800 Jahren in der
Welt nicht gewesen/' „Und was soll nun daraus werden?"
„Die Griechenweisheit unsrer Tage wird ein klägliches Ende nehmen,
wahrscheinlich blos durch sich selbst, ein Ende der Zersrümelung und Vermo¬
derung; freilich unter der Mitwirkung großer Weltstürme. Bekehre werden
diese Massen neumodigcr Griechen nicht werden." „Wie damals durch den
Einbruch unsrer Altväter in das römische Reich eine sogenannte, von den grie¬
chischen Schwachköpfen bejammerte, aber in der That wohlthätige Barbarei
um die Stelle der griechischen, kindisch gewordenen Cultur gesetzt wurde, so
wird auch unser Culturzeitalter von dem Zeitalter einer wo sieh allgem Bar¬
barei abgelöst werden, innerhalb deren sich, vielleicht ungesehen, vielleicht
aber auch gerettet in ein sichtbares Zoar, die Kirche des Gekreuzigten bereitet,
um den Herrn zu empfangen, der da kommt." „Die, welchen Christus neuerdings
in alter Judenweise ein Aergerniß ist, diese dagegen werden untergehn durch ein
Gericht, vielleicht erst, nachdem sie den Antichrist ausgeboren haben werden;
durch das Weltgericht, das einzige, dessen wir noch zu warten haben.
Diese werden fort und fort nach ihrem Communisten-Messias rufen und schreien,
und sich am Ende auch unter einem solchen zu allgemeiner Auflehnung gegen
göttliche und menschliche Ordnung scharen. Wir unsrer Seits werden nicht
berufen sein, Hand an sie zu legen; im Gegentheil werden wir, nachdem wir
vorher reichliche Verfolgung von ihnen werden erlitten haben, aus dem ent¬
scheidenden Kampf, welchen Gott heraufführen wird, herausgenommen und
gleichsam in einem zweiten Pella geborgen werden."
Dies sind die Aussichten, welche der Prophet des Herrn unsrer Zukunft
eröffnet. Auch hier hat er im radicalen und ultramontanen Lager Verbündete,
er hat sie wenigstens gehabt. Herr von Lassaulx in München und Bruno
Bauer in Berlin haben Deutschland den Beruf prophezeit, den Dünger für
die Natmkraft der russischen Barbaren zu bilden. Da wir keine Propheten
sind, so halten wir uns an die Gegenwart und versuchen die Anschauungs¬
weise Vilmars in unsrer Sprache verständlich zu machen.
Der Gegensatz zwischen Christen, Juden und Griechen d. h. zwischen
denen, die ihr Ideal im Himmel suchen, denen, die es im öffentlichen Leben,
und denen, die es in Kunst und Wissenschaft finden, ist ein vollkommen rich¬
tiger; er geht mit naturgemäßer Nothwendigkeit aus der Geschichte unsrer
Bildung hervor. Wir haben eine dreifache Schule durchgemacht: unser ger¬
manisches Blut, welches sich doch nie ganz verleugnet hat, wurde erst durch
das christianisirte Römerthum, dann durch die wieder aufgefundene Antike
modificirt. Es ist aber unrichtig, diese Gegensätze äußerlich zu sondern.
Freilich überwiegt bei der einen Classe die christliche, bei der andern die ger¬
manische, bei der dritten die griechische Bildung, aber es gibt keinen Einzigen,
bei dem nicht eine Mischung aus allen drei Elementen nachgewiesen werden
könnte. Auch Vilmar ist nicht blos Christ, er hat die classische Schule durch¬
gemacht und zeigt mitunter sogar nationale Anwandlungen. Derjenige Dich¬
ter, den man den großen Heiden zu nennen Pflegt, der mehr- als irgend ein
anderer auf den Namen eines Griechen Anspruch machen dürste, hat doch in
seinem schönsten griechischen Gedicht, der Iphigenie, die Seele des Weibes
mit den Augen angeschaut, die ihm das Christenthum geöffnet hat. Es ist
eine völlig ungerechtfertigte Gutmüthigkeit, wenn wir dem böswilligen
Vorgeben der sogenannten Rechtgläubigen, die uns vom Christenthum aus¬
schließen möchten, Folge geben. Wir sind keine Griechen, so viel wir auch den
Griechen verdanken, sondern Deutsche und Christen, so wenig wir uns auch
in der Lage befinden, alle Artikel des Athanasianischen Glaubensbekenntnisses
zu beschwören. Die Sorte, die Vilmar Christen nennt, wird freilich voraus¬
sichtlich das Schicksal haben, das ihr Vilmar prophezeit, sie wird sich in ein
Zoar oder Pella flüchten d. h. in einen Conventikel oder in eine Sekte, und
das Weltgericht wird mit ihr nichts zu thun haben; denn vor sein Forum
gehören nur die Lebendigen und Existirenden.
Vilmars Christenthum unterscheidet sich wesentlich von dem Hengstenber-
gischen. Er sucht das Heil der Welt nicht in der Theologie, sondern im Prie-
sterthum. „Die Geltung, welche die theologische Wissenschaft bisher in der
Kirche gehabt hat als letzter Ausläufer der Lehrzeit, muß und wird nicht allein
sinken, sondern gänzlich aufhören. In der Zukunft, der wir entgegengehen,
ja in der Zeit, in die wir bereits eingetreten sind, gilt nur der Wille und die
That, die Kraft der Seele, welche die Kraft des Gebetes ist und die Macht
des Amtes, welches des Herrn ist. Von der alten rationalistischen oder ra¬
tionalisierenden Theologie kann schon jetzt nicht mehr die Rede sein; sie ist be¬
reits der Christenkinder Spott, Aber hüte man sich auch, selbst von der gläu¬
bigen Theologie Erfolge zu erwarten. Wer beten kann, wer auf das Amt
vertraut und auf die Zukunft des Herrn Christi hofft, der hat Muth, vollen
Muth, der hat Thatkraft, Zuversicht, Freudigkeit, — er hat einen unerme߬
lichen Wirkungskreis und eine überreiche Ernte von Erfolgen." „Damit wir aber
nicht mißverstanden werden, so wollen wir ausdrücklich wiederholen, daß die
gesammte Lehre der Kirche, wie sie vom heiligen Geist geleitet in den 1800
Jahren zum Erlebniß der Christenwelt geworden ist, in eines jeden Be¬
wußtsein und Ueberzeugung hell und klar stehen müsse, vom apostolischen
Symbolum herab bis zur augsburger Confession, wenn die Zukunft uns ein
neues Erlebniß gewähren, wenn die Zukunft uns als ihre Kinder anerkennen
soll. Alle diese Lehren sind nicht dazu da, als Antiquitäten und Reliquien
im hintersten Kirchenschrein aufbewahrt und nur zu gewissen Zeiten den Neu¬
gierigen gezeigt zu werden; sie gehören zum innersten Leben und Beruf der Kirche,
und es wird keine Kirche der Zukunft sein ohne eine Kirchenlehre der Ver¬
gangenheit, ohne eine Kirche der Geschichte, in welcher der heilige Geist
ohne Unterlaß regiert und persönlich gewaltet hat. Zum Maße des voll¬
kommenen Alters unsers Herrn Jesu Christi wird nur der gelangen, welcher
mit Seinem Leibe hat wachsen wollen und gewachsen ist durch alle Jahr¬
hunderte."
Wo ist aber für den Suchenden in der protestantischen Kirche der Leit¬
stern, der ihm die „Erlebnisse" des Christenthums deutlich macht?
„In der Welt steht allerdings nichts mehr fest für uns. und der
Greuel der Verwüstung scheint sogar weiter zu schreiten, scheint das Leben
unsrer Kinder und Kindeskinder noch tiefer zerrütten zu wollen, als er das
unsrige zerrüttet hat. Müssen wir aber darum gen Himmel steigen, Christum
herabzuholen? Er wird nicht kommen, wenn wir ungeduldig nach ihm ren¬
nen und lausen. Er braucht auch gar nicht geholt zu werden, er ist noch da.
Er ist noch selbst gegenwärtig in seinem Amte des Worts, des Sacraments
und der Zucht, um seine Gemeindevon neuem zu sammeln. Das geistliche
Amt, dem allein Wort und Sacrament und Zucht und die Kräfte dieser erlö¬
senden und heiligenden Mittel überwiesen sind, das geistliche Amt allein
hat noch göttliches Mandat. Sonst niemand; nicht die Welt, nicht die
gläubigen Individuen in den Gemeinden, nicht die Gemeinde, und wäre sie
auch eine Gemeinde der Heiligen. Sie wäre selbst dies nicht ohne das geist¬
liche Amt, in welchem die Kraft des Gesetzes und des Evangeliums, die Kraft
der Sacramente, die Kraft zu binden und zu lösen liegt." „Der, welcher das
Wort des Herrn zu verkündigen, den Leib des Herrn zu spenden und im Na¬
men des Herrn Sünde zu behalten und zu vergeben hat, der Trüger des geist¬
lichen Amtes, der Geistliche, welcher mehr ist und sich mehr weiß als einen
Prediger, wird nicht zagen noch schwanken, auch als Grundstein und Mittel¬
punkt der äußern Gestaltung der Kirche sich darzustellen." „Wer den gegen¬
wärtigen Herrn noch bekennt, der bekenne sich jetzt zu seinem noch gegen¬
wärtigen Amt." „Es ist nicht die Rede von dem Geschäft eines Religions¬
lehrers, eines bloßen Predigers, eines bloßen Administranten und Vorlesers
von Formeln. Wer sich als bloßen Religionslehrer, Prediger, Verkündiger,
und nicht als einen mit der bindenden und lösenden Kraft Christi ausgestatte¬
ten Diener Christi betrachtet, der ist kein Mann unsers Bedürfnisses. Wir
wollen nicht an den Herrn erinnert sein und nichts von ihm erzählt haben;
wir wollen ihn selbst sehen und als Sündenvergeber mit seiner die Todten
erweckenden Kraft im innersten Mark unsers Lebens fühlen. So aber bringt
ihn uns nur das Amt, welches Er selber eingesetzt hat als Träger seiner
Kraft." „Das geistliche Amt also empfange das Kirch e nregi neue
der evangelischen Kirche; zumal im hessischen Lande, wo es noch unver-
kümmert dasteht wie vor dreihundert, ja wie vor tausend Jahren." „Ist
Nun der lebendige Herr Christus lebendig und gegenwärtig in euch und mit
euch, die ihr Sein Amt durch Handauflegen auf eure Häupter em¬
pfangen habt?" „Die Zeit der Lehre ist abgelaufen; es beginnt die Zeit der
That und des Amts."
Wir denken, das. ist deutlich. Vielleicht der wichtigste Gegensatz der. Re¬
formation gegen den alten Katholicismus ist die Aufhebung der Scheidewand
zwischen Priestern und Laien; die Aufhebung des sacrcnnentalen Charakters
der erstem: diese Scheidewand soll wieder aufgerichtet werden, wir sind im
vollsten Katholicismus.
Es bleibt noch übrig, zu untersuchen, welcher Jnstinct einen Gebildeten
in diese Richtung hineintreiben kann. Einen sehr bedeutenden Fingerzeig fin¬
den wir 1. B. S. 94. „Niemand bilde sich ein, daß er ein Volk blos dadurch
lenken und regieren könne, daß er es belehrt, ihm vernünftig zuredet und es
überzeugt; auf die Dauer wird die Menschheit nur von demjenigen regiert,
der ihren Willen zu bewegen und zu binden versteht. Und das geschieht nur
auf zweierlei Wegen: durch die Leidenschaft, weiche aus der finstern Tiefe
des Herzens aufsteigt auf der einen, und durch Gottes Wort auf der andern
Seite. Zwischen diesen zwei Dingen hat der, welcher die Menschen lenken
will, zu wählen."
Das ist die Lösung des Räthsels: wer die Menschen lenken will und eigne
Leidenschaft nicht besitzt, wendet sich an den Fanatismus; er thut dieselben
Dienste und ist sicherer; denn es ist ein äußerer Halt für einen in sich selbst
nicht sichern Charakter.
Nicht leicht wird man in dem ganzen Gebiet der Weltgeschichte einen
Zeitraum finden, der ärmer an Aufschwung wäre, als die erste Hälfte des
vorigen Jahrhunderts. Nichts von den weltbewegenden Kämpfen der Refor-
mationszeit klingt hier nach, nichts deutet auf die geistige Sturmflut der
folgenden Jahrzehnte, als höchstens die innere Morschheit und Zerrüttung.
Mit Wilhelm von Oranien war der letzte Staatsmann zur Gruft getragen
worden, der noch mit umfassenden Blick ein größeres Ziel erstrebte. Seit¬
dem blieb die Politik, wie die Männer, die sie leiteten, klein; selbst der
furchtbare spanische Erbfolgekrieg wurde bald zum niedrigen Cabinetskrieg.
Andern Staaten Verlegenheiten zu bereiten, sich selbst in undurchdringliches
Dunkel zu hüllen, galt den Cabineten als vollendete Staatskunst, und das
Rüstzeug dazu bestand in den gewöhnlichen Künsten der Hinterlist, Verstellung
und Bestechung. Kein Wunder, daß die politische Wetterfahne so veränder¬
lich war, daß kaum geschlossene Bündnisse im Handumdrehen aufgelöst wurden,
um neue entgegengesetzte zu bilden, die kein besseres Schicksal hatten. In
den Memoiren von Brandenburg wirft Friedrich II. den Ministern seines
Vaters vor, daß sie jenen fünfzig und mehr Verträge in seinem Leben hätten
schließen lassen, von denen kaum einer oder der andre Folgen gehabt Hütte.
Aber freilich, wie die Höfe untereinander und gegeneinander inrnguirtcn, so
waren auch die einzelnen wieder in sich selbst in Parteien zerrisse«?, denen der
eigne Sieg und Vortheil mehr galt als das Vaterland. Dennoch kann man
grade diesen gänzlichen Verfall jeder gesunden Staatspolitik als das Anzeichen
einer neuen Erhebung betrachten. Einem kräftigen und ausdauernden Mann —
erstehe er, wo er wolle — schien das Glück lächeln zu müssen. Ein wohl¬
thätiger Sturm mußte die Stagnation aufrütteln, die schwere Luft wieder
reinigen. Ganz besonders in Preußen zeigten sich die Vorboten einer frische¬
ren Zeit. Ein geregelter Staatshaushalt und Sicherheit der Finanzen sowol,
als eine zur lebendigen Maschine abgedrillte Armee gaben dem aufstrebenden
Staat das Gefühl der Kraft, und mit ihm das Verlangen nach größerem
Einfluß und größerer Wichtigkeit. So mußte eine Vergrößerung um Umfang
ein Hauptaugenmerk der preußischen Staatsmänner werden. Friedrich Wil¬
helms I. Dichten und Trachten war unablässig darauf gerichtet, und wer von
den fremden Mächten ihm eine Erweiterung seiner Grenzen versprach, und
ihn in seinem Streben darnach zu unterstützen verhieß, der konnte sicher auf
ihn rechnen. Fast die ganze damalige Politik Preußens wird hierdurch er¬
klärt, und Friedrichs II. spätere Kriege sind nur die folgerichtigen Ergebnisse
der vorhergehenden Periode.
Die Verbindung dieser Begebenheiten ist enger, als man gewöhnlich an¬
nimmt. War doch der Günstling Friedrich Wilhelms, der General von Grumb¬
kow, lange Zeit auch der Vertraute des Kronprinzen, auf den er bedeutenden
Einfluß besaß. Die Familie derer von Grumbkow ist eines der ältesten Adels¬
geschlechter aus Pommern, wo sie im Besitz großer Güter war, die jetzt frei¬
lich in andre Hände übergegangen sind. Friedrich Wilhelm von Grumbkow
wurde den 4. October lV78 zu Berlin geboren. Sein Großvater war lur-
brandenburgischer Oberst gewesen, während sein Vater, Joachim Ernst von
Grumbkow, obwol als Chef der Leibdragoner auch Militär, doch mehr
sich zur staatsmännischen und Hofcarriere hinneigte, und eine Reihe von Aem¬
tern bekleidete, unter welchen die eines wirklichen Geh. Staatsministers und
Hofmarschalls die ansehnlichsten waren. So siel die Jugend des Knaben in
die Zeit des prunkvollen, verschwenderischen Hofhalts König Friedrichs I., der
1688 als Kurfürst Friedrich III. die Herrschaft antrat. Dem Vater rühmte
man Scharfsinn und unifassenden Ueberblick in den Zweigen seiner Verwaltung
nach, doch tadelte man an ihm die allzugroße Rücksichtsnahme auf seine
Familie. Beides scheint sich, wie wir sehen werden, auf seinen Sohn ver¬
erbt zu haben. Dabei war er ein Lebemann, welcher der Aufgabe und der
Würde seines Hosamtes wohl gewachsen war. Er starb 1690 auf einer
Reise in der Nähe von Wesel an den Folgen eines Trunks, also, wie der
boshafte Pöllnitz sagt, gleich dem Soldaten auf dem Schlachtfeld in Aus¬
übung seiner Pflicht.
Jugendeindrücke sind immer entscheidend für das ganze Leben, und der junge
Grumbkow konnte sich dem Einfluß der Sphäre, in der er lebte, nicht ent¬
ziehen. Der französische Hof galt bekanntlich damals in Berlin für das
Ideal, das man oft bis in das Kleinlichste nachäffte, und nichts fehlte in dieser
kleinen Copie, als der französische Esprit. Ihn zu erlangen, ging mancher
junge Herr nach Frankreich, gleichsam aus die hohe Schule, und so wurde
auch der junge Grumbkow nach dem jähen Tod seines Vaters zur ferneren
Ausbildung nach Frankreich geschickt. Die pommersche Natur war freilich
viel zu zäh und derb, als daß sie dem französischen Einfluß so ganz erlegen
wäre. Nur der leichte Firniß gewandten Benehmens und einer gewissen
Bildung, so wie die leichtfertigen Lehren der französischen Jugend blieben bei
dem Junker haften. Er brachte indessen gute Zeugnisse mit nach Hause, hatte
jedenfalls die Welt gesehen und seinen Witz im Umgang mit den Franzosen
geschärft. Bei seiner Rückkehr ernannte ihn König Friedrich zum Kammer¬
junker und gab ihm eine Compagnie. So trat er wieder in das geräusch¬
volle Leben zurück, das er schon in seiner Jugend hatte kennen lernen. Grumb¬
kow hatte gewiß viele Gönner und stand auch hoch in seines Fürsten Gunst,
denn er rückte rasch bis zum Brigadier vor. Als, solchen finden wir ihn im
Feldzug in den Niederlanden, bei der Belagerung von Tournay und der Schlacht
bei Malplaquet, wo sich überall die preußischen Truppen durch ihre ungestüme
Tapferkeit auszeichneten. Diesen letzten Ruhm hat man Grumbkow ganz
absprechen wollen; doch stammen die betreffenden Angaben hauptsächlich aus
den Erzählungen der Markgräfin von Baireuth, die in ihrem Haß gegen ihn
jede Verleumdung glaubte und noch vergrößerte. Weiß sie doch selbst von
einem Graben zu erzählen, in dem er sich während der Schlacht geborgen
habe. Auch Pöllnitz wirft in seinen Memoiren mehrmals spöttische Seiten¬
blicke auf Grumbkows Muth. Dennoch darf man wol nicht zu viel Gewicht
darauf legen.
Grumbkow war kein militärisches Genie und noch viel weniger ein Hau¬
degen, wie Leopold von Dessau, „der alte Schnurrbart", und seine Feinde
mögen deshalb gern solche Gerüchte verbreitet haben. In dem flandrischen
Feldzug des Jahres 1709 war er häusig in Gesellschaft mit dem Prinzen
Eugen und Marlborough, die gewiß einen Feigling nicht um sich geduldet hät¬
ten. Die Ehre solchen Umgangs hatten dem noch jungen Offizier seine schon
früher bei Hof bewiesene Feinheit und diplomatische Fertigkeit erworben; denn
er war als Militärbevollmächtigter des Königs den beiden Feldherrn bei¬
geordnet, und als solcher oft genug in einer schwierigen Stellung. Wichtiger
für Preußen als die Kriegserfolge, wurden die Bekanntschaften und freund¬
schaftlichen Verhältnisse, die sich hier entspannen. Nicht nur, daß Grumbkow
mit den östreichischen Generalen, dem Prinzen Eugen und dem Grafen
Seckendorff genauer bekannt, mit letzterem, einer verwandten Natur, wol
schon damals vertraut wurde, auch der preußische Kronprinz, Friedrich Wil¬
helm, der an dem Feldzug als Freiwilliger Theil nahm, schloß sich eng an
diesen Kreis an, und Grumbkows späterer Einfluß datirt von dieser Zeit her.
Der Prinz stand in Opposition gegen den Luxus seines Vaters, liebte
aber ein heitres Sichgehenlassen bei der Tafel. Beides konnte der schlaue
Grumbkow benutzen, um sich in die Gunst des zukünftigen Herrschers einzu¬
schmeicheln. Einladungen zu Gastmahlen erfolgten häufig im Lager, und
der Kronprinz und die Feldherren erwiesen Grumbkow mehrmals die Ehre
solchen Besuchs, bei welchen Gelegenheiten dessen Witz und sprudelnde Laune
sich genugsam geltend und angenehm machte.
Grumbkow hatte sich nicht verrechnet. Kaum war Friedrich I. 1713 ge¬
storben, als er von Friedrich Wilhelm zum Generallieutenant und Staats¬
minister ernannt wurde. Bei den großen Reformen und Veränderungen, die
den Thronwechsel begleiteten, war er mit der bedeutendste Rathgeber, und
diese Stelle behauptete er auch bis zu seinem Tod, wobei er alle möglichen
Intriguen und niedrigen Künste anwandte. Von nun an bewegte er sich
in den diplomatischen und Hofkreisen, in denen er sich am meisten heimisch
fühlte. Bald genug wurde er auch in die ärgerlichen Streitigkeiten derselben
verwickelt. Schon zur Zeit Friedrichs I. hatten die Schweden im Krieg ge¬
gen Rußland und Polen, die preußische Neutralität nicht achtend, die bran-
denburger Grenzen offen verletzt. Karl XII. weilte in der Türkei, während
seine Länder immer mehr bedroht wurden. Die eignen Besitzungen vor sol¬
chen Wirren zu schützen, schloß Friedrich Wilhelm 1713 den bekannten Ver¬
trag mit' den Schweden, wonach er im Verein mit dem Administrator von
Holstein-Gottorp Stettin und Vorpommern bis zum Friedensschluß unter
Sequester nehmen und jede Streitigkeit verhindern wollte. Die Kosten über¬
nahmen beide Fürsten, Friedrich Wilhelm legte sie aber ganz vor. Zar
Peter und König August von Polen genehmigten diese Auskunft, ja sie hat¬
ten dieselbe durch Grumbkows Einfluß, wie man erzählte, selbst veranstaltet.
Als aber die Holsteiner spater ihren Theil an der Schuld nicht bezahlen konn¬
ten, ließ Friedrich Wilhelm ihre Truppen in Stettin durch einen Handstreich
entwaffnen, und feste sich in alleinigen Besitz der Stadt. Darüber beschwerte
sich der holsteinsche Gesandte, Baron von Görz, sehr heftig. Er ging so
weit, in seiner Erbitterung dem Grafen Dohna zu erzählen, wie er von
Grumbkow schmählich verrathen worden sei, dem er doch 4000 Thaler gege¬
ben habe, um ihn zu Gunsten Schwedens und Holsteins zu stimmen. Graf
Dohna benutzte die Gelegenheit und theilte dem König diese Entdeckung
mit. Aber Grumbkow stand zu fest. Er betheuerte dem König seine Treue
und Unbestechlichkeit, und sandte sowol an Dohna als an Görz eine Aus¬
forderung. Mit ersterem wurde der Streit auf dein Kampfplatz beigelegt,
hauptsächlich durch Grumbkows Secundärem. Görz aber erklärte höhnisch, es
sei zu hart, Freund und Geld zugleich zu verlieren. Er würde sich also erst
schießen, wenn ihm Herr von Grumbkow sein Geld zurückgegeben hätte. So
zerschlug sich natürlich die Sache, zumal Görz bald darauf nach Schweden
abging. Als dann Karl XII. noch 1?I4 zurückkehrte, und sich der Krieg
entspann, well Friedrich Wilhelm Stettin nur gegen Erstattung seiner Kosten
zurückgeben wollte, mußte auch Grumbkow noch einmal sein Regiment in
das Feld führen. Er nahm mit dein König lebhaften Antheil an der Bela¬
gerung von Stralsund. Bei der kühnen Erstürmung der schwedischen Werte
auf der Insel Rügen war die Brigade Grumbkow mit betheiligt und stand im
ersten Treffen.
Auch Graf Seckendorff fand sich wieder ein. Er hatte vom Kaiser die
Erlaubniß erhalten, einstweilen unter fremden Fahnen zu dienen und führte
ein sächsisches Hilfscorpö dem König vor Stralsund zu. Hatte er schon
früher in lebhaftem Verkehr mit Grumbkow gestanden, so befestigte das enge
Lagerleben dieses Verhältniß der Freundschaft und Vertraulichkeit natürlich noch
mehr. Nach der Eroberung der Festung ging der König nach Berlin zurück
und Grumbkow begleitete ihn. Damit schloß dessen, so wie Friedrich Wil¬
helms, kriegerische Laufbahn. Zwar folgte der General dem letztern immer
auf die Paraden und Revüen und zu den Lagern, aber an eigentlichen Kriegs-
opcrationen haben sie beide keinen Antheil mehr genommen.
Die nun folgenden Jahre des Friedens geben ein sehr unerquickliches
Bild der Ränke und Pfiffe am berliner Hof. in denen sich die feindlichen
Parteien einander überboten, in denen aber dem alten Dessauer und Grund-
low der endliche völlige Sieg verblieb. Friedrich Wilhelm war ein Charakter
von der merkwürdigsten Mischung, der darum die verschiedensten Beurtheilungen
erfahren hat. Ein Autokrat in/vollsten Sinn, aber immer für das Wohl
des Landes thätig, heftig bis zum völligen Bergessen seiner selbst, und doch
den entscheidenden Augenblick schwankend und unentschlossen; gewaltthätig bis
zum eigenmächtigen Umändern der gerichtlichen Urtbeilssprüche, doch nur durch
ein starkes Rechtsgefühl zu solchen Befehlen angetrieben; mißtrauisch und
argwöhnisch und dabei von hingebenden Glauben und offner Gutmüthigkeit
gegen die, die er für seine Freunde hielt; roh, und doch der Bildung die
Wege anbahnend, — so erscheint er als ein schwer verständliches Bild aus der
Uebergangsperiode vom Mittelalter in die neue Zeit. Mit der ganzen An¬
lage seines Willens, und dem ehrenfester, nicht weiter grübelnden christlichen
Glauben gehört er in die frühere, mit seinen Thaten, seiner vortrefflichen
Verwaltung und seiner Vorliebe für die Soldaten in die neue Zeit. Trotz
seines scharfen Blicks in die Einzelheiten war er in der sogenannten großen
Politik doch völlig unbewandert und unsicher. Friedrich Wilhelm glich hierin
einem soliden Bürger, der sür seinen Hausstand trefflich zu sorgen weiß, und
sich für die praktischen, kleinen Interessen gar sehr auf seinen Vortheil versteht,
außerhalb seiner vier Wände aber gänzlich rathlos erscheint. Aufbrausend im
Zorn, ließ er sich in dem ersten Augenblick oft von seiner Laune hinreißen;
wer ihn aber, wie Grumbkow. kannte, und ihn wieder ruhig werden ließ,
setzte dann gewöhnlich seine Absicht durch, wenn er sie mit gefälligen Gründen
vorbrachte. Grade bei einer solchen Natur ist den Intriguen freier Spielraum
gelassen. Um die Herrschaft zu erringen und zu behalten, verbanden sich
zwei Männer, von ganz verschiednen Charakter, aber in ihrem Streben
nach Herrschaft sich gleich, Fürst Leopold von Anhalt-Dessau und Grumbkow.
Leopold war nur Soldat, Grumbkow nur Höfling und Staatsmann, und
ein jeder wollte nur in seiner Sphäre das Scepter führen. So standen sie
sich nicht im Wege, und ihrer vereinten Macht war niemand gewachsen, selbst
nicht die Königin, die sich höchstens durch kleine persönliche Beleidigungen
rächen konnte.
Es ist nicht unsere Absicht in die Details einzugehn, und zu zeigen, auf
welche Art der Kampf geführt wurde, er war schmählich genug. Der alte
Dessauer besonders hatte hochstrebende Gedanken. Er wollte die älteste Prin¬
zessin seinem Neffen, dem Markgrafen von Schwebt, vermählen, und diesem
dadurch den preußischen Thron sichern, im Fall der schwächliche Kronprinz
Friedrich vor der Zeit sterben sollte. Die Geburt späterer königlicher Prinzen
ließ Leopold von diesem Plan absetzn, aber die Königin bewahrte ihm seit
jener Zeit einen tiefen Groll. Das einfältige Gerücht, daß Anhalt und
Grumbkow sich verschworen hätten, den König und den Kronprinzen bei einer
Theatervorstellung ermorden zu lassen, beweist, welche Mittel man damals
zum Sturz der Gegner anwandte. Der König kannte zum Theil diese Ge¬
rüchte, legte aber kein Gewicht darauf, und die beiden Alliirten behielten
ihren vollen Einfluß. Erst als 1717 der Same des Argwohns durch den Be¬
trüger Element in ihm groß gezogen wurde, schien ihre Herrschaft geendigt.
Die Geschichte ist zu bekannt, als daß wir sie hier anders denn andeutend
behandeln dürfen. Von 1717—1720 hielt Element den König umgarnt und
peinigte und quälte ihn durch gefälschte Briefe. Der Monarch verlor allen
Glauben und alle Ruhe, als er von den finstern Plänen las, wie man ihn
in Wusterhausen überfallen und gefangen nehmen wolle, und wie tief Leo¬
pold von Dessau und Grumbkow in dieses Complot verwickelt seien, das in
Wien und in Dresden seinen Ursprung habe. Mitten in diesen Gemüths¬
bewegungen wurde er 1718 auf einer Inspectionsreise in Brandenburg gefähr¬
lich krank, und bestimmte unter dem Eindruck jener Entdeckungen in einem
Testament die Konigin zur alleinigen Regentin mit völligem Ausschluß des
Fürsten von Dessau, der nicht einmal, so wenig wie Grumbkow. an das
Krankenlager vorgelassen wurde. Die Königin gönnte sich den niedern Tri¬
umph, ihre beiden Gegner selbst mit Hohn aus dem Vorzimmer wegzuweisen.
Hinter den Grund der Ungnade zu kommen, war für diese jetzt eine Lebens¬
frage. Der König wurde wieder gesund, und es gelang Leopold, der in dieser
Sache am meisten betheiligt war, und auch den Hauptkampf führte, den Kö¬
nig endlich zur offenen Mittheilung über die Ursache seiner Gemüthsstimmung
zu bringen. Elements Betrügereien zu enthüllen, war schwer, und die Unter¬
suchung, an der der König den lebhaftesten Antheil nahm, zog sich lang hin.
Endlich aber legte Element ein offenes Geständniß ab, und Leopold wie Grumb¬
kow standen nicht blos gerechtfertigt, sondern fester als zuvor da. Die rück¬
sichtslosen Sieger benutzten ihren Erfolg, eine Menge ihrer Gegner mit in
den Proceß zu verwickeln, sie zu stürzen und in Spandau bereuen zu lasse»,
mit ihnen um die Herrschaft gekämpft zu haben. Selbst Frau von Blaspiel,
die Vertraute der Königin, wurde auf die Festung geschickt, und eine Zeit
lang auf das härteste behandelt. Die Freude Leopolds zeigte sich bei dem
Unglück dieser Frau in der gemeinsten Art. Ueberhaupt sieht man hier, wie
viel Leopold von Dessau zum großen Mann fehlte. Er war ein guter Ge¬
neral und ein vorzüglicher Soldat, aber die wahre Größe verlangt mehr.
Sie verträgt wol Rauhheit und Wildheit, nimmermehr aber Gemeinheit.
Solch mächtige Günstlinge zu gewinnen, sparten die fremden Höfe keine Mit¬
tel. Grumbkow erhielt um jene Zeit den russischen Andreas- und den pol¬
nischen weißen Adlerorden, beide Ehrenzeichen wahrscheinlich auch mit klingen¬
deren Beweisen der Huld begleitet. Indessen lag die Stärke der beiden
Männer nicht nur in der Kunst ihrer Intriguen, sondern auch in ihrer Fa-
higkeit. Vor allem galt der Fürst von Dessau als ein Orakel in der Kriegs¬
kunst; seine Verbesserungen in der Bewaffnung, der Taktik, der Manövrir-
sühigkeit sind anerkannt, und es war niemand in Preußen, der ihm in seinem
Fach gleich gekommen wäre. Ebenso geeignet war Grumbkow für die Ver¬
waltung. Er war hierbei des Königs beste Hilfe. Zehn Jahre lang machte
sich Friedrich Wilden erst mit dem Zustand seines Landes bekannt, ehe er es
unternahm, eine neue Ordnung in dem Staatshaushalt einzuführen. In
dem neuen General-Finanz- und Donmncndirectorium nahm Grumbkow die
erste Stelle ein und gab in allen wichtigen Fällen maßgebenden Rath. Für
dieses Colleg wurde, 'zum großen Theil von des Königs eigner Hand, eine
Instruction ausgefertigt, die von dem sorgsamen Sinn des hohen Herrn das
beste Zeugniß ablegt und so sehr in das Einzelne eingeht, daß selbst die
Aufsicht über die nöthige Anlage von Mistpfützen in den Bauerhöfen nicht
vergessen ist; wie denn auch dem Directorium darin vorgeschrieben wird, auf
den Domänen einen tüchtigen Butterhandel anzufangen. Ein Einfluß, der
sich auf solchen Grund stützt, ist immer schwer zu brechen, selbst wenn er sich
sonst schwere Uebergriffe erlaubt. Darum blieben beide selbst dann in Macht
und Ansehn, als sich ihr Bund lockerte und sie endlich sogar in offne Feind¬
schaft geriethen. Grumbkow besaß nicht die Energie des Charakters, einen
Feind bis zum Tod zu verfolgen; seine schlaue Besonnenheit zeigte es ihm
als vortheilhafter, wenn er die einmal Gedemüthigten wieder etwas erheben
und sich so ihren Dank verdienen könnte. Wir werden diesen Charakterzug
noch öfter, besonders in seinem Verhältniß zum Kronprinzen antreffen. So
schloß er sich bald etwas näher an die Königin an. und als die Fragen aus-
Wärtiger Politik um das Jahr 1724 mehr in den Vordergrund traten, war
Grumbkow ganz von der Königin gewonnen und aus englischer Seite. Leo¬
pold von Anhalt blieb seinem Leben und seinen Grundsätzen getreu; er hatte
im Verein mit den kaiserlichen Adlern, im Interesse des kaiserlichen Hauses
und unter dem kaiserlichen Feldherrn, dem Prinzen Eugen, seine schönsten
Siege errungen, war vom kaiserlichen Hos geehrt und geschätzt worden; er
mußte die östreichische Sache vertheidigen und somit war der Zwiespalt zwi¬
schen den beiden Günstlingen offen. Bald genug sollte er sich offenbaren.
Friedrich Wilhelm, von dem kaiserlichen Hof sehr gereizt, und von seiner
Gemahlin dazu angetrieben, schloß zu Herrenhausen mit England und Frank¬
reich eine Allianz, die direct gegen Oestreich gerichtet war, und die, wenn sie
auch ohne praktische Folgen blieb, doch sür das Verhältniß einzelner Fürsten
zum Reich höchst charakteristisch ist. Leopold von Anhalt wüthete und schalt
laut aus Grumbkow, der sich von England habe bestechen lassen. Der letztere
blieb nichts schuldig, sondern erging sich in den beißendsten Stichelreden, die
den Marschall so aufbrachten, daß eine Anforderung auf Leben und Tod die
Folge war. Auf dem bestimmten Kampfplatz zag Grumbkow indessen nur
den Degen, um Seine Durchlaucht um Beilegung des Streits zu bitten. Die
Durchlaucht aber warf ihm einen verächtlichen Blick zu und wandte ihm den
Rücken. Die Sache machte den größten Lärm, und der König, der anfangs
den: Handel seinen Laus lassen wollte, berief endlich ein Ehrengericht von
zweiunozwanzig Generalen. Dieses Tribunal erklärte das Benehmen des Ge¬
nerals von Grumbkow sür völlig ehrenhaft, und nach langem Sträuben
mußte sich der Fürst von Dessau zu einer Abbitte versiebn. Dennoch konnte
ihm Grumbkow die Beleidigung nie vergessen. In Herrenhnusen hatte man
auch eine Doppelheirath zwischen der preußischen und englischen Familie in
Aussicht genommen. Beide Verabredungen, der Bertrag und die Heirath,
sollten aber geheim gehalten werden. Dennoch war der erstere kaum geschlos¬
sen, als der wiener Hof schon Nachricht davon hatte, — so gut war er be¬
dient. Der Graf Seckendorff hatte schon früher als Spion gedient, stand
noch immer mit Friedrich Wilhelm in Briefwechsel, kam öfters nach Berlin
zum Besuch und lieferte stets genaue Berichte nach Wien. Auf ihn, der die
sächsischen Dienste verlassen hatte, und auf seinein Gut Meuselwitz in Thü¬
ringen wohnte, siel daher der Blick des Prinzen Eugen als den richtigen
Mann, das Nähere zu erkunden.
Seckendorff war ein stolzer Diplomat, kalt und herzlos, der alles seinen
politischen Zwecken nachsetzte; ohne Berständniß einer höhern Regung, besaß
er die tiefste Kenntnis; der schlechten Seiten des menschlichen Charakters, die
er sich auf die feinste Weise dienstbar zu machen wußte. Sehr bald war er
im Stand, den Hauptinhalt des Herrenhäuser Bündnisses nach Wien zu be¬
richten, denn er hatte auch in Hannover seine guten Freunde. Er schrieb, es
drehe sich hauptsächlich um Jülich und Berg, aus das Preußen Anspruch
machte, und wenn diese Frage auch im eigentlichen Bertrag nicht erwähnt
war, so hatte der Graf doch Recht, so weit es Preußen anging. Denn nur
in dieser Hinsicht hatte sich Friedrich Wilhelm gewinnen lassen.
Das Genauere zu erfahren, begab sich Seckendorff selbst nach Hannover,
wo. die Könige aufs neue eine Zusammenkunft hatten. Der schlaue Graf
schützte seine Bewerbung um die Reichsfcldzeugmeisterstclle als Grund seiner
Aufwartung am kurfürstlichen Hofe vor, und erhielt auch die gütigsten Zu-
sicherungen. Insgeheim gelang es ihm, -durch Schmeichelei, Vertraulichkeit
und Bestechung das ganze Gewebe zu durchschauen. In ausführlichen Be¬
richten schrieb er an den Prinzen Eugen, und ging dann mit dem König
Friedrich Wilhelm nach Berlin, wo er, dem Anschein nach als Privatmann
lebend, sogleich die besten Anstalten traf, den König vom ncugeschlosscncn
Bündmß abzuziehn.
Mit dem scharfen Blick eines kalten Politikers sing er seine Operationen
von der richtigen Seite an, er gewann sich Grumbkow, was ihm, der schon
vom Feld mit ihm bekannt war, gewiß nicht schwer siel. Der König selbst
kam ihm entgegen, er fühlte sich von England getauscht, das ihn zum Ein¬
fall in Schlesien hätte bereden, und ihn dadurch nur unheilbar mit dem
Kaiser hätte veruneinigen wollen. Außerdem zögerte es mit der Zustimmung
zu den Heirathen und hatte preußische Wcrbeübergriffe nicht geduldet. Grumb¬
kow schürte und der König erging sich in den feurigsten Betheuerungen seiner
Treue gegen den Kaiser.
Es war das Gefühl der falschen politischen Stellung und der Jsolirung
trotz aller Bündnisse, was ihn so schnell wieder zu Oestreich trieb. Denn der
Standpunkt Friedrich Wilhelms I. war noch durchaus der eines Reichsfürsten
seinem Kaiser gegenüber, und die preußischen Minister und Generale sahen
alle noch mit ehrfurchtsvoller Scheu nach Wien. Wenn Friedrich der Große
später mit kühnem Griff die Größe seines Landes dadurch erreichte, daß er
sich in directe Opposition gegen Oestreich und das angestammte'Kaiserhaus
setzte, so finden wir von Friedrich Wilhelm an bis herab zu seinem nieder¬
sten Beamten die Idee vorwalten, daß nur der innigste Anschluß an Wien
zum dauernden Glück ausschlagen könne. Das Gefühl der Sclbstsiändigkeit
war überhaupt in Preußen noch nicht so rege, und Worte, wie sie Grumb-
kow später einmal dem Baron von Seckendorff gegenüber äußerte, Preußen
müsse sich immer von einem andern Staat leiten lassen, enthielten keine ver¬
einzelte Anschauungsweise. So ward es für Seckendorff nicht schwer, den
König ganz zu gewinnen. Der Entwurf des viel besprochenen Vertrags zu
Wusterhausen war sein Werk. Dem König wurden dann die guten Dienste
des Kaisers zugesichert, um ihm die Erbfolge in Jülich und Berg zu verschaf¬
fen. und dafür ein Schutz- und Trutzbündniß abgeschlossen. Binnen sechs
Monaten sollte die jülich-bergsche Erbfolge regulirt sein, widrigenfalls der
Bertrag keine Giltigkeit bekommen sollte. Das Ausführliche darüber bietet
Försters „Friedrich Wilhelm I.". Für unsern Zweck genügt es. daß der öst¬
reichische Hof nicht im mindesten an die Erfüllung seines Versprechens dachte,
sondern zu gleicher Zeit der pfälzer Linie die nämliche Zusicherung gab. Frei¬
lich schickte Eugen die wärmsten Versprechungen nach Berlin; doch arbeitete
man heimlich gegen den König, und suchte, da man es im Großen nicht
konnte, ihn im Kleinen zu ärgern. Seckendorff kannte den König und war
mit Grumbkow einverstanden, daß man dem Wunsch des Königs diesmal
Genüge leisten müsse. Er schrieb dringend nach Wien, wenn man den König
jetzt täusche, werde man ihn für immer zum Feind haben. Aber man ver¬
stand es dort nicht, durch eine freie Politik den preußischen Fürsten und dessen
Sohn für immer an sich zu fesseln. Man wollte ihn beim Bündniß fest-
halten und ihm doch nichts gewähren. Es war eine harte Aufgabe für
Seckendorff und Grumbkow, den König bei Laune und im Vertrauen zu er¬
halten. Grumbkow bekam von Wien einen jährlichen Gehalt von tausend
Ducaten, und erwies sich dafür als die beste Stütze.
schmählicher ist noch kein Fürst betrogen worden, als Friedrich Wilhelm
in jener Zeit. Um den Entwurf des wusterhauser Vertrags vergessen zu ma¬
chen, schloß Seckendorff 1728 den sogenannten geheimen berliner Vertrag mit
ihm, der in Betreff Jülich-Bergs so gut wie nichts versprach. Aber der Kö¬
nig war doch damit an den Kaiser gebunden und um ihn noch fester zu ge¬
winnen, wollte man sich des königlichen Hauses auch durch Heirath versichern.
Zu dem Ende mußte der Haß Friedrich Wilhelms gegen seinen Schwager
Georg von England verstärkt werden, damit die Heirath mit der braunschwei-
gischen Familie, aus der die Kaiserin stammte, ins Werk gesetzt werden
konnte. So geschah es. Es ist kaum glaublich, und doch unzweifelhaft, er¬
wiesen, daß-der preußische Resident in London, von Reichenbach, Jahrelang
sechshundert Thaler von Wien bezog, um die Feindschaft zwischen seinem
und dem englischen Hof zu vergrößern, so daß 1731 der Prinz Eugen ihm
wegen besonderer Zufriedenheit des Kaisers mit seinen Diensten eine Pension
von zwölfhundert Thalern zusicherte, im Fall die Umstände es erforderten.
Die schmähliche Politik gelang nur zu gut. Zwietracht und Zerstörung zog
in die königliche Familie ein, und grade die Männer, bei denen der König,
der fast bis zum Wahnsinn gereizt war, Trost suchte, waren es, die ihn kal¬
ten Bluts in diese Lage immer tiefer verwickelten. Grumbkow war der Ver¬
traute des Königs, dem er die geheimste Korrespondenz besorgte. Alle seine
Briefe gingen zuerst durch Seckendorffs Hände, und kein Wort des Königs
blieb unverrathen.
Kein Wunder, daß man endlich siegte. Der persönliche Einfluß, den
die beiden Männer übten, triumphirte über alle Gegenanstalten der Königin.
Seckendorff heuchelte Offenherzigkeit und treue Ergebenheit und war mit Rath¬
schlägen bei der Hand. Vergebens legte der englische Gesandte einige Briefe
Grumbkows an Reichenbach vor, in denen auf die unehrerbietigste Weise vom
König selbst die Rede war, — Seckendorff brauchte nur an den Betrug Ele¬
ments zu erinnern, und die Briefe wurden verbrannt. Ueberhaupt sagte, ab¬
gesehn von Grumbkows Geschicklichkeit in der Verwaltung, dessen ganze Per¬
sönlichkeit dem derben Sinn des Königs sehr zu. Sein Witz, sein kecker
Humor, sein Freimuth gaben ihm solch festen Boden. In dem Tabakscolle-
gium war er einer der Landesteil, der Unterhaltendsten, der auch Gemein¬
heiten nicht scheute, se inen König zu vergnügen.
Zur Zeit, da der König mit am heftigsten erregt war, und eine seiner
wildesten Schimpfreden imTabakscolleg loslassen wollte, unterbrach ihn Grund-
low, indem er plötzlich einen Brummkreisel auf dem Tisch losließ, der schnur¬
rend umherfuhr und die Gläser umwarf und zerbrach. Der König ließ sich
diese derbe Zurechtweisung gefallen. Es ist hierbei schwer, die Grenze zwi¬
schen vertrautem Günstling und frechem Spaßmacher zu ziehen. Fand doch
auch Seckendorff für nöthig, vom Kaiser eine Ehrenbezeugung für den ge¬
lehrten Hofnarren Gundling zu erbitten.
Noch höher stieg der östreichische Einfluß, als der Kronprinz durch seinen
unseligen Fluchtversuch den König noch mehr gegen England anreizte, und
die englische Partei am berliner Hof ganz darniederlag. Jetzt wqr es Zeit,
den Haupttrumpf auszuspielen. Bisher hatte Grumbkow den Prinzen ge¬
drückt und verfolgt, denn er hatte ihm im Wege gestanden. Nun mußte er
nach unserer obigen Andeutung seines Charakters, dem Gestürzten aufhelfen.
Nur höchst ungern war er Mitglied der Untersuchungscommission, und gegen
die Folgen in der späteren Zukunft suchte er sich durch eine Verwahrung zu
schützen, die er zu Protokoll gab. Er ertrug bei der Untersuchung geduldig
den anfänglichen Hohn Friedrichs, zeigte sich streng, rieth aber dem König
zur Gnade und dem Prinzen zur Unterwerfung. Seckendorff ließ den Kaiser
auf das angelegentlichste sich verwenden und theilte dem König in einem aus¬
führlichen Brief seine Meinung über die Maßregeln art, die man gegen den
Kronprinzen ergreifen müsse. Friedrich Wilhelm befolgte genau Seckendorffs
Rath; er schrieb dem Prinzen, daß er ihn aus Rücksicht für den Kaiser be¬
gnadige, und befahl ihm, einen demüthigen Danksagebrief nach Wien zu
schreiben. Das geschah, und als Friedrich wieder freier wurde, bekam er
jährliche Summen durch Seckendorff vom Kaiser, um durch Tilgung seiner heim¬
lichen Schulden das gute Einvernehmen mit dem König zu erhalten, wie man
sagte, — genauer, um den künftigen König ebenso lenken zu können, wie den
jetzigen. Fordert doch Prinz Eugen den Grafen Seckendorff auf, in des Kron¬
prinzen „Passiones" einzugehn, damit er ihn um so sicherer fessele. Aber
fast war die Politik zu fein; Friedrich durchschaute sie und die aufgedrungne
Dankbarkeit mußte ihn grade mit den entgegengesetzten Empfindungen er¬
füllen.
Der Fürst Leopold von Dessau hielt sich von allen diesen Umtrieben ziem¬
lich fern. Obgleich im Herzen kaiserlich, mochte er mit Grumbkow nicht zu¬
sammenarbeiten, zumal er doch bei mehren Gelegenheiten von dem Kaiser
empfindlich gekränkt worden war. Um so inniger hielten die beiden Verbün¬
deten zusammen, und das Zugeständnis) Englands, es wolle in die Heirath
willigen, wenn man Grumbkow entlasse, stellte diesen nur um so fester. Die
Verlobung des Kronprinzen mit der Prinzessin Elisabeth von Braunschweig-
Bevern ward den 10. März 1732 officiell verkündigt. Grumbkow, der seit
den Tasten von Küstrin in geheimem Briefwechsel mit Friedrich stand, suchte
diesem die Aussicht auf die zukünftige Heirath so angenehm wie möglich zu
machen; nicht durch übertriebene Lobpreisungen, sondern durch prosaische Dar¬
stellung ihrer Annehmlichkeiten, ihrer Fehler und der noch zu hoffenden Ent¬
wicklung. In seiner Ergebenheit und Dankbarkeit wünschte Friedrich Wilhelm
eine persönliche Zusammenkunft mit dem Kaiser. Aber mit allen möglichen
Gründen suchte mau diesen Plan von Wien aus zu hintertreiben. Die dor¬
tigen Herren des Hofamts befürchteten eine Verletzung der dem Kaiser schul¬
digen Würde und Etikette, und erachteten besonders einen Händedruck zwischen
beiden Monarchen für höchst unpassend. Dennoch ließ sich Friedrich Wilhelm
nicht abweisen. Grunde'vo begleitete ihn, eilte ihm in Böhmen voraus und
meldete ihn an. Bei der Trennung erhielt er, so wie der General Borel,
ein anderer Günstling des Königs, des Kaisers Bildniß mit Brillianten, im
Werth von sechstausend Thalern, gewiß auch nicht blos für schon geleistete
Dienste. Denn man gedachte sie bald noch mehr als bisher zu benutzen.
War die wiener Politik bisher nur eine kalte und hinterlistige, so stei¬
gerten jetzt die glücklichen Erfolge die Sicherheit der kaiserlichen Minister bis
zu höhnischem Uebermuth. In dem unbeständigen Strom damaliger Politik
hatten sich England und Oestreich wieder genähert, und man hielt nun in
Wien eine Heirath des preußischen Kronprinzen mit einer englischen Prinzessin
für vortheilhafter und den König mehr an das kaiserliche Bündniß fesselnd.
Demnach erhielt Seckendorff gegen Ende 17Z2 vom Prinzen Eugen die Wei¬
sung, dem König eine Aenderung in dieser Art vorzuschlagen. Grumbkow
erschrak über die thörichten Befehle; zum ersten Mal verweigerte er die Mit¬
wirkung, wenn er auch alles thun wolle, den König bei guter Laune zu er¬
halten. Aber er riskire alles, wenn er mit solchem Vorschlag käme. Secken¬
dorff schickte seine Einwände nach Wien, allein > die gemessensten Befehle
nöthigten ihn zum Vorgehen. Wie er vorausgesehen, ward der König wü¬
thend, daß man ihm einen Wortbruch zumuthe und einen Schurken aus ihm
machen wolle. Grumbkow berichtete genau über die heftigen Scenen im
Tabakscolleg und verlor ganz den Muth. Von neuem erhob die Partei der
Königin ihr Haupt, um wenigstens, da an eine englische Heirath nicht zu
deuten war, Grumbkow und Seckendorff zu stürzen. Es war nahe daran,
aber Seckendorff behielt den Kopf oben. Er erlangte durch seinen Freund
eine nochmalige Audienz, in welcher er sich noch glücklich aus der Gefahr
ziehn und dem König vorstellen konnte, wie er ganz unschuldig an jenen
Vorschlägen wäre, die ihm von Wien aus anbefohlen worden seien, und daß
der Kaiser dabei nur das Wohl Seiner preußischen Majestät im Auge gehabt
habe. Der König wurde milder, und Grumbkow that das Uebrige. In
jener Zeit aber war es, daß der letztere von Wien vierzigtausend Gulden als
geheimes Geschenk mit dem Versprechen erhielt, daß er im Fall der Noth eine
sichere Zufluchtsstätte in Oestreich finden solle.
Aber noch war man in Wien nicht zufrieden. Selbst am Tag der Hoch¬
zeit, im Juni 1733, mußte Seckendorff sein Ansinnen wiederholen. Diesmal
entledigte er sich aber seines Auftrags so sein und klug, daß der König wenig¬
stens nicht dergestalt erbost wurde. Aber das Zutrauen und die Freundschaft
zum Kaiser war dahin, zumal er immer klarer erkannte, daß man ihn in Be¬
zug auf Jülich-Berg getäuscht habe.
Grumbkows Stellung war zu jener Zeit höchst schwierig und unbequem.
Er mußte Front nach drei Seiten machen, um sich zu schützen. Er war des
Königs Günstling und Freund, ein Vertrauter des Kronprinzen, und der ge¬
horsame Diener des Kaisers, dem er die beiden ersten verrieth. Besonders
das Verhältniß zu Friedrich ist merkwürdig genug, und für dessen spätere
Entwicklung von Bedeutung geworden. Vor der Flucht hatten sich Grumb-
kow und der Kronprinz feindselig einander gegenübergestanden. Gewiß war
die politische Stellung das Hauptmotiv dazu; denn Friedrich mußte in ihm
und Seckendorff die Unheilstifter erkennen. Doch war auch die Antipathie der
Naturen groß genug, und die französische Bildung beider himmelweit ver¬
schieden, die ohnehin bei Grumbkow nicht viel haften geblieben war. Das
feine Wesen des jungen Prinzen, dessen Vorliebe für die Wissenschaft behagte
dem General gewiß nicht, der derb in seinen Aeußerungen, und auf den Ge¬
horsam sehend, als ein Hauptmitglied des Tabakscollegs sich von der Ver¬
achtung und dem Spott hauptsächlich getroffen fand. Aber die Katastrophe
des Jahres 1730 veränderte viel. Grumbkows Politik zeigte ihm den ver¬
söhnlichen Weg als den besten, durch Zureden und klares Auseinandersetzen
der Verhältnisse bewog er Friedrich zum Nachgeben. Dieser dagegen wurde
fester in seinem Charakter, in seinem Benehmen männlicher, er wurde mehr
Soldat und bekümmerte sich um die Verwaltung. Das waren Anknüpfungs¬
punkte, die Grumbkow zu benutzen wußte. Indem er ihm Rathschläge gab.
wie er sich dem König gegenüber benehmen sollte, meldete er ihm dessen Ge¬
sinnungen, verschaffte ihm heimlich große Rekruten oder das Geld dazu und
unterstützte ihn hinter dem Rücken des Königs in seinen Arbeiten in dem Ver-
waltungs- und Finanzwesen des ihm zugewiesenen Bezirks. Dazu kam noch
die Vorliebe beider für die Freuden des Mahls, für Witz und Satire. so daß
der junge Prinz bald seine Zurückhaltung mehr fahren ließ. Grumbkow wurde
allmälig auch wärmer. Zwar ließ er sich, besonders anfangs aus Küstrin,
von des Prinzen Umgebung noch besondere Berichte erstatten, als dieser aber
geheirathet hatte, bildete sich das gezwungene und unwahre Verhältniß all¬
mälig zu einem angenehmen Briefverkehr aus. Immer jedoch blieb Grumb¬
kows Hauptabsicht auf den künftigen Einfluß gerichtet, und alle Freundschaft
hinderte ihn nicht, den Hofstaat des neuvermählten Paares ganz aus seinen
Creaturen zu bilden, und die einflußreichsten, so die Oberhofmeisterin Frau
von Katsch, dem östreichischen Sold zu empfehlen.
So lange Seckendorff in Berlin war, was bis zum polnischen Successions¬
krieg 1734 währte, zeigte ihm Grumbkow getreulich alle eingegangenen Briefe
des Kronprinzen, so wie seine eignen Antworten, woher es denn kommt, daß
sich in Seckendorffs Papieren dieser erste Theil des interessanten Briefwechsels
gefunden hat. Zu dem Nachfolger und Neffen des Grafen, dem Baron Secken¬
dorff, stand Grumbkow aus naheliegenden Gründen auch zwar sehr freund¬
schaftlich, doch berichtete er nicht mehr so getreulich den Inhalt der Briefe.
Auch war das bei dem hergestellten Einverständniß zwischen Vater und Sohn
nicht mehr nöthig; wichtige Bemerkungen über des Kronprinzen Ideen und
Pläne fielen deshalb doch. Nun sind die uns vorliegenden Briefe nicht in
der Art wichtig, daß sie, wie Preuß in der Geschichte Friedrichs meint, diesen
in der Staatskunst und Verwaltung heimisch gemacht hätten. Auch werden
die späteren Briefe diesen Charakter nicht angenommen haben,*) allein die
ganze Persönlichkeit eines solchen Mannes, wie Grumbkow, war auch ohne
das einflußreich genug. Er trat dem Prinzen mit Freundlichkeit entgegen,
konnte ihm aber auch derb seine Meinung sagen, weil er wußte, daß Friedrich auf
ihn hörte. Sie schickten sich, wie es damals Mode war, Delicatessen für ihre
Tafel, feierten auch bei Zusammenkünften ihre Leckerei, und Friedrich durfte
oft dem Unmuth über seinen Vater, den Hof, das Tabakscolleg und manche
andere Einrichtung freien Lauf lassen. Ja, er schrieb seinem „lieben, werthen
General" von seinen verpöntem Beschäftigungen mit Musik und Wissenschaften,
er erzählte ihm von Theateraussührungen, und Grumbkow — antwortete mit
witzigen Bemerkungen, ließ hier und da sentimentale Redensarten von seinem
Ueberdruß an dem Hofleben und der Schönheit ländlicher Ruhe einfließen,
erzählte von den Übeln Folgen lustiger Abende und schwang sich sogar bis zu
Versen aus.
Aber trotz dieses eifrigen Verkehrs blieb der Argwohn und ein gewisses
Mißbehagen zwischen ihnen deutlich. In den spätern Jahren wurden die
Briefe seltner, und Seckendorffs geheimes Journal bemerkt die Kälte und das
steife Benehmen beider gegeneinander. Grumbkow erkannte, daß trotz aller seiner
Bemühungen sein Einfluß bei einem Thronwechsel sehr schwinden würde, und
sprach sich öfters gegen den Baron Seckendorff dahin aus, daß, so weit Fried¬
rich bei seiner Verstellungskunst zu durchschauen sei, Leopold von Dessau ein¬
mal der Hauptrathgeber sein werde. Wer den Prinzen überhaupt näher kannte,
der wußte zum voraus, daß ein kühner Kriegszug eine seiner ersten Regie-
rungsmaßregcln sein werde. Freilich dachten dabei die Meisten an Iülich-
Berg. Nicht umsonst, meinte Grumbkow. habe der jetzige König eine statte
Armee und einen reichen Schatz gesammelt. Es müsse nun Einer kommen, der
diese beiden Stützen benutze. So wußte man auch, daß der Prinz zu dem Grafen
Schulenburg, der ihm beigegeben war. geäußert hatte, man müsse mit einem
Hauptschlag beginnen, wenn man den Schauplatz betrete — alles Anzeichen
genug, daß der junge König mehr die Krieger als die Verwaltungsmänner
brauchen werde. Solche Gedanken und Aussichten in die Zukunft schienen
völlig gerechtfertigt. Friedrich Wilhelm war sehr kränklich und versprach kein
langes Leben. Dabei wurde er immer schwerer zu behandeln und Grumbkow
fühlte allmälig den Boden unter seinen Füßen schwinden. Zwar ehrte ihn
der König noch 1733 durch seine Ernennung zum General der Infanterie und
verlieh ihm 1737 sogar die Würde eines Feldmarschalls und Erbjägermeisters
des Herzogtums Pommern, doch trafen ihn auch manche Kränkungen. Sein
jüngerer Bruder, der Oberpräsident von Pommern war, erhielt den schwarzen
Adlerorden, er selbst aber trachtete vergebens nach dieser höchsten Auszeichnung.
Den König mochte das richtige Gefühl leiten, daß der beste Gesellschafter und
schlauste Rathgeber nicht immer der größten Ehre würdig sei. Dazu kam,
daß er 1733 von einer heftigen Krankheit in Folge eines Wetttrinkens mit
dem König von Polen befallen wurde, zu dem er geschickt war, um über eine
Theilung dieses Landes zu verhandeln. Jeder wollte dem andern im Rausch
seine Geheimnisse entlocken, doch erreichten sie beide bei gleicher Befähigung
ihre Zwecke nicht. Wol aber starb der König bald darauf an den Folgen
und Grumbkow kränkelte seitdem immer.*)
Vielleicht hätte er sich gern zu jener Zeit zurückgezogen, aber er konnte
nicht mehr. Wenn alle jene Hofintriguen auch stets mehr und mehr in's
Kleinliche sielen, so waren sie doch sein Lebenselement, denn er schöpfte aus
ihnen die Mittel, in seiner ewigen Geldverlegenheit von Zeit zu Zeit aufzu-
athmen. Der Gegenstand der Intriguen war in den letzten Lebensjahren
Friedrich Wilhelms der Kampf des östreichischen und französischen Einflusses.
Seit Seckendorsfs Weggang war Grumbkow zu vereinzelt, um die östreichischen
Interessen noch vollständig wahren zu können. Zwar hatte er sich mit der
Königin und der Prinzessin von Baireuth wieder auf einen erträglichen Fuß
gestellt, allein sowol die steigende Macht seiner Rivalen, als auch der nicht
mehr zu besänftigende Unwille des Königs erschwerten ihm die Aufgabe zu
sehr. Da nun zu gleicher Zeit die kaiserliche Pension bei weitem nicht für
seine Bedürfnisse ausreichte, verschmähte er nicht, sich vom französischen Ge¬
sandten überzeugen und gegen die anständige Summe von 14,000 Thalern
allmälig seinen Widerstand fallen zu lassen. Mit diesem Aufgeben seiner
bisherigen Politik verlor er aber den Nest seines Einflusses. Niederlagen
kamen ihm nun öfters vor, selbst auf dem Verwaltungsgebiet. Eckert, der
berüchtigte und von Friedrich II. bei seiner Thronbesteigung allein von allen
entlassene Beamte, war über die Verwaltung Pommerns mit Grumbkows
Bruder in Streit gerathen. Trotz des Generals Verwendung behielt Eckert
bei dem Konig Recht, bei dem er überhaupt in der letzten Zeit das meiste
Gewicht in den Geschäften der Verwaltung hatte. Auch trat zu jener Zeit
der als außerordentlicher Gesandter Oestreichs nach Berlin geschickte Fürst
Lichtenstein offen gegen Grumbkow auf, drohte mit Enthüllungen und klagte
ihn mit mehren andern um, von den Franzosen bestochen zu sein. Friedrich
Wilhelm fertigte zwar diese Beschuldigung leicht mit den Worten: „Gucke
durch die Finger" ab, allein die Entfremdung wuchs dadurch doch, und Grumb¬
kow, der dies fühlte, zog sich öfters und aus längere Zeit nach Pommern zu¬
rück. So erweiterte sich die Kluft immer mehr. Der König wurde förmlich
gegen seinen früheren Günstling eingenommen, und hätte ihn zuletzt verhaften
lassen, wenn nicht der plötzliche Tod Grumbkows dieses betrübte Ende seiner
Laufbahn verhindert hätte. Er starb in Berlin im März t739 im Ki. Jahre.
Und so tief war sein Ansehn gesunken, daß Pöllnitz, von ihm an sein Sterbe¬
lager gerufen, nur heimlich zu kommen wagte.
Als man dem König den Todesfall meldete, blieb er ernst und nachdenk¬
lich; erst am dritten Abend nachher ließ er sich im Tabakscollegium heftig
gegen den Verstorbenen aus. Wahrscheinlich hatte er aus den hinterlassenen
Papieren genauere Kenntniß von der Unredlichkeit Grumbkows - geschöpft, die
er vorher nur geahnt hatte. Indessen ließ er das Begräbniß mit allen einem
Marschall gehörenden Ehrenzeichen veranstalten. Was die Höflinge zu Leb¬
zeiten Grumbkows nicht gewagt hatten, das gönnten sie sich nun um so mehr,
und ein jeder wußte seinen Stein auf ihn zu werfen. Auch Friedrich mußte
aus Verlangen des Königs eine Grnbschrift auf ihn dichten, welche er — cha¬
rakteristisch für ihn und sein Verhältniß zu Grumbkow — seinem Freund
Jordan mit der Bemerkung mittheilt, daß er sich bestrebt habe, so wenig wie
möglich Bitterkeit hineinzulegen. Diese Grabschrift lautet:
(Ul-Kie un lüll-penal, un mwiströ, et, ac plus,
Hu grs.na um^meler, un cnanoine lalciue.
?5>,88g,ut8, tM (!0IM!U88S2 8a kourve politiaue
I^i88S? alas I'ouvli oonkonäus
De 868 viess et 808 VSI'tU8.
Heftiger, wie hierin, spricht sich Friedrich in den Memoiren von Bran¬
denburg über ihn aus.
Vermähle war Grumbkow mit einem Ehrenfränlein der Königin Sophie
Charlotte, Fräulein de la Chevallerie, mit der er fünfzehn Kinder, vier Söhne
und elf Töchter, erzeugte. Seine Söhne traten wol meist zum Militär, einer
seiner Schwiegersöhne war Herr von Podewils. der durch seinen Einfluß zum
Minister aufstieg. Einen jüngeren Bruder haben wir bereits als Minister
und Oberprnsidenten von Pommern erwähnt, und dessen Sohn war bis 175?
Flügeladjutant Friedrichs II., wo er in Schweidnitz gefangen genommen und
seitdem nicht mehr im Krieg verwandt wurde.
Haben wir das Leben des Generals verfolgt, so weit es uns möglich
war, so wird uns, wenn wir alle Züge zusammenfassen, zwar kein angeneh¬
mes, aber doch ein merkwürdiges Bild entgegentreten. Denn wir sehen in
ihm mehr, als den an und für sich nicht einmal so bedeutenden Mann; wir
erkennen durch ihn die ganze Zeit. So streng wir nun auch urtheilen müssen,
wenn wir den allgemeinen Charakter einer ganzen Periode ins Auge sassen,
so werden wir grade deshalb bei dem Urtheil über einen Einzelnen, der doch
nur das Kind seiner Zeit ist. eine billige Rücksicht auf den Einfluß derselben
nehmen müssen. Grumbkow stand aber mitten in seiner Zeit, die nur auf
das Praktische und Materielle gerichtet war und jeden Gedanken an ein
Höheres verloren hatte. Dieselben Künste der Bestechung, mit denen Wnlpole
die ersten Männer Englands und des Parlaments gewann, wurden auf dem
ganzen Festland als Hauptwerfzeug einer glänzenden Staatskunst benutzt.
Grumbkow dachte nicht anders. Er ergriff mit unbedenklicher Hand die Ge¬
legenheit und beutete sie nur schlauer als andere aus. Wir haben das zur
Genüge hervorgehoben, aber zum richtigen Verständniß muß dabei noch er¬
zählt werden, wie weit sich diese Falschheit und niedere Treulosigkeit damals
erstreckte. Friedrich Wilhelm selbst leitete seine Staatsmänner dazu an. In
der Instruction sür das Generaldirectorium befahl er den einzelnen Vorständen,
Spione in ihren Bezirken zu halten, die ihnen geheime Berichte erstatten soll¬
ten; ja er, führte in seiner eigenen Familie dieses System ein, wie wir aus
Seckendorffs Bericht an den Prinzen Eugen vom 29. März 1732 ersehen.
Der Graf erzählt darin, daß die Diener des Kronprinzen beauftragt seien,
alles Auffallende in dem Betragen und der Umgebung desselben dem König
unverzüglich mitzutheilen. Kein Wunder, wenn die Minister und Beamten auch
für die eignen Zwecke die krummen Wege betraten. Seckendorff konnte den
ganzen Hof bestechen, und seinen Zweck zu erreichen, fehlte es ihm nie an
Geld. Vom Kronprinzen und der Prinzessin von Baireuth, die bedeutende
Zuschüsse erhielten, ging es herab bis zum Kammerdiener des Königs, Evers-
mann, dem man eine jährliche Pension von hundert Ducctten zusicherte, und
dem Kammermohr, der über die Laune und das Befinden des Königs berich¬
tete. Friedrichs Lehrer und Freund Duham bekam nur deshalb vom Kaiser
einen kleinen Gehalt, weil man sich seinen Einfluß sür die Folgezeit sichern
wollte. Vom preußischen Gesandten war schon oben die Rede, aber auch sür
die andern Minister sielen reichliche Geschenke ab, theils offen, wie es damals
Sitte war, theils geheim. Nur der alte Minister Ilgen widerstand dem kai¬
serlichen Gold und den kaiserlichen Plänen mit gleicher Zähigkeit, und wurde
dafür freilich von Seckendorff als im englischen Sold stehend beschuldigt. In
einem einzigen Monat hatte der Herr Graf von seinem Gut in Meuselwitz für über
hundert Thaler Lerchen an seine Freunde nach Berlin geschickt, und wer von
den Generalen und Offizieren nicht grade barres Geld annehmen wollte, dem
schenkte er von Zeit zu Zeit schöne große Rekruten aus Oestreich, für die der
König dann die vermeintlichen Auslagen erstatten durfte. Treue, ja selbst der
Begriff der Treue schien verloren. Grumbkow paßte als vortrefflicher Finanz¬
mann gut in diese Verhältnisse. Alle Berichte, selbst die ihm sonst so feind¬
lichen der Markgräfin von Baireuth stimmen darin überein, daß er für die
Geschäfte eine ungemeine Befähigung bewiesen habe. Er hatte auf die Fi¬
nanzverwaltung wohlthätigen Einfluß, und sehr bald wünschte man ihn nach
seinem Tod zurück, als sein Nachfolger Bode die Accise und die Zölle stark
erhöhte.
Der Grundzug in Grumbkows Charakter war Selbstsucht und Genußsucht.
Er war ein Epikuräer, der alles, was er that, aus sein Wohlsein bezog.
Hätte ihn einfach Herrschsucht gereizt, so hätte er sich in den Tagen des Glücks
weit höher heben können. Aber er war klug genug, sich mit einer weniger
hervortretenden Rolle zu begnügen, wenn sie ihm nur die nämliche Macht
gab, sich und seiner Familie das gewünschte Wohlbefinden zu verschaffen. Darum
war er ein Feind aller durchgreifenden Maßregeln, darum verfolgte er sei¬
nen Sieg nicht bis zum Ende und zeigte gegen niemanden unversöhnlichen
Haß; denn auch der Feindschaft gegen den alten Dessauer gab er wenigstens
keinen besondern Ausdruck. Aber ebenso wenig war er wirklicher Freund¬
schaft fähig; sür solches Gefühl war die Region, in der er lebte, nicht geeignet.
Friedrich Wilhelm hat überhaupt nie wahrhafte Freunde gehabt. Auch
Grumbkow liebte den König nicht, und hat niemals besondere Anhänglich¬
keit an ihn bewiesen. Die Freuden der Tafel waren ihm sein Höchstes. Er
liebte ein gutes Essen und noch mehr einen guten Trunk. Hieraus verwendete
er große Summen, und hier fühlte er sich in seinem Bereich. Sein Spottname
unter den Hofleuten war deshalb Mich „Biberius". Einen französischen Koch
hielt er sich sür vierhundert Thaler. Darum besuchte ihn der König ost und
gern bei den Gastmahlen, die er veranstaltete, umso mehr, als er in seinem
Wirth einen Mann fand, der ihm getreulich Bescheid that, und nicht blos
aushielt, sondern ihn in dieser Fähigkeit noch weit übertraf. Ueberhaupt
war Grumbkow dem König ein sehr angenehmer Gesellschafter und darum
ein nicht so leicht fehlendes Mitglied des Tabakscollegiums. In seinem Speise-
saal hatte er ein eignes Katheder erbauen lassen, von welchem herab Gund-
ling zur Unterhaltung des Königs und der andern Gaste seine Witze vor¬
bringen mußte. Dieser bekannte Hofnarr war von Grumbkow in einer ge¬
meinen Schenke, wo er als Zeitungsvorleser perorirte, gefunden und an den
Hof gebracht worden. Grumbkow verschmähte, wie man sieht, auch Wirths¬
häuser solcher Art nicht. In der damaligen Hauptstraße, der Königsstraße,
hatte er sich ein hübsches, großes Haus gebaut, das zu den schönsten der
Stadt gezählt wurde. Seine ganze Lebensweise kostete ihn viel Geld, dabei
liebte er das Spiel, und so war er trotz seines reichen Einkommens oft in
Verlegenheit. Seine verschiedenen hohen Aemter so wie der Ertrag seiner pom-
merischen Güter Möllen. Liebasch und Loist ließen seine jährliche Einnahme
auf 36,000 Thaler steigen, ungerechnet die vielen Geschenke, die er von frem¬
den Höfen erhielt, und doch hinterließ er kein Vermögen. Seine Neigung
zum Wohlleben, seine Bedürfnisse waren es also zum guten Theil, die ihn
jenes verrätherische Spiel mit Ehre und Treue spielen ließen. Seine Rolle
zu behaupten, bedürfte er oft einer ehernen Stirn und der rücksichtslosesten
Unverschämtheit. Er wußte dies vortrefflich mit der offnen Derbheit zu ver¬
einigen, mit der er jedermann, auch dem König, gegenübertrat und starke
Wahrheiten sagte. Wenn er indessen wollte, konnte er ebenso sein und
liebenswürdig, reg in der Konversation und geistreich sein. Denn er hatte
einen raschen Verstand, der besonders schnell das Lächerliche auffaßte, und rasch
die verschieden Charaktere zu durchschauen und zu behandeln verstand. Da¬
her sein Hang zu den Intriguen, daher sein Glück in denselben. Je nach
den Umständen erschien er als em ganz andrer. In dem Tabakscolleg war
er der derbe, satirische Deutsche, während er im Umgang und im Briefwechsel
mit dem Kronprinzen die französische Erziehung bewies, französisch schrieb,
die Rückberufung Wolfs, des Philosophen (1733), befürwortete, und die
frivolen Aussprüche und Entschuldigungen Friedrichs in Betreff seiner sinn¬
lichen Ausschweifungen ganz ruhig und wohlgefällig entgegennahm. So
war auch wol das oft hervortretende religiöse Gefühl Grumbkows nur eine Nach¬
giebigkeit gegen die damalige Mode, der man am berliner Hof huldigte,
weil der König streng religiös und bibelsche war. Ein solcher Mann war
zu keinem geistigen Aufschwung geschaffen, wozu ihm vor allem die nöthige
Energie abging. So wird ihm auch bei al! seinem Verstand und seiner Geschäfts¬
kenntniß eigentlicher Fleiß abgesprochen. Schwer nur mag er die stren¬
gen, für Friedrich Wilhelm so charakteristischen Anordnungen befolgt haben,
wonach die Sitzungen des Generaldirectoriums zur bestimmten Stunde früh
Morgens anfangen und so lange dauern sollten, bis alle Geschäfte erledigt
seien, wobei der König gastfreundlich ein Mittagessen von vier Schüsseln aus
seiner Küche zu liefern befahl, wenn die Sitzung etwa über zwei Uhr dauern
sollte.
Mit Grumbkow starb ein Hauptvertreter jener morschen Staatskunst, die
ihm bald selbst folgen sollte. Es war nothwendig, daß ein energischer, gei¬
stig regsamer Fürst das Scepter in Preußen ergriff. Niemand, der die Ge¬
schichte vor 1740 genauer kennt, wird bestreiten können, daß Friedrichs II.
rascher Kriegszug eine ebenso nothwendige, wie wohlthätige Unternehmung
war. Mit den Worten des sterbenden Königs an Leopold von Dessau: „Ich
denke zu sterben und habe meinem Sohn alles gesagt," begann für Preußen
und Deutschland eine neue Periode, — eine Periode des Kampfes und der
Verwirrung, aber auch eine Periode des Fortschritts und der Cultur.
Soeben hat Dr. Karl Klüpfel seinem: „Wegweiser durch die Litera¬
tur der Deutschen" einen dritten Nachtrag folgen lassen, welcher die Er¬
scheinungen der Jahre 1856 — 1858 bespricht und in derselben Einrichtung
auftritt wie das erwähnte Buch und die frühern Nachträge. Wenn wir nicht
allen Urtheilen des Verfassers beistimmen können (Otto Ludwigs „Heiterethei"
ist nach ihm „ein vielfach als originell gerühmtes, aber gänzlich verzwicktes
Charakterbild"), so verdient das Buch doch im Allgemeinen «is ein guter
Führer für Laien Empfehlung. Besonders lesenswerth ist die als Einleitung
vorangeschickte Abhandlung über Schriftstellerei und Buchhandel in der Ge¬
genwart, der wir die folgenden Beiträge zur Statistik des deutschen Bücher¬
marktes entnehmen:
Was den literarischen Verkehr in Deutschland betrifft, so gilt es für aus¬
gemacht, daß in Norddeutschland vielmehr Bücher geschrieben und^ gekauft
werden als in Süddeutschland; besonders Sachsen und die Mark sind wol
am schreib- und kauflustigsten. In Deutschland ist das in geistigen Interessen
grade nicht voranstehende Oestreich ein von den Buchhändlern besonders
geschätztes und berücksichtigtes Absatzgebiet, während auffallenderweise das
benachbarte Baiern für den schlechtesten Büchermarkt gilt. Ein Grund dieser
Erscheinung möchte darin zu suchen sein, daß das Interesse für die Literatur
in Oestreich noch neu und frisch ist und weniger Büchervorräthe aus früherer
Zeit dort vorhanden sind, und daß in Baiern nach dem Vorgang der Haupt¬
stadt der Sinn für bildende Kunst mehr entwickelt ist, als der für die Literatur.
Der wohlhabende Bauer oder Gewerbsmann in Altbaiern denkt in der Regel
nicht daran, außer einigen Gebetbüchern und etwa den „Fliegenden Blättern",
weitere Geistesnahrung ins Haus zu schaffen, während der reiche Landwirty
in Norddeutschland seine steine Bibliothek hält und selbst der minder bemittelte
Bürger und Handwerker sich das Geld am Munde abspart, um sich ein
unterhaltendes oder belehrendes Buch zu verschaffen. Schon günstiger als in
Baiern stellt sich die Sache in Würtemberg; Stuttgart ist ein Hauptplatz für
die literarische Production, weniger freilich für den Absatz. Das umgekehrte
Verhältniß findet in Baden und in der Rheinpfalz statt, wo schon der all¬
gemeine Wohlstand des Volkes dem Bücherkaufen günstig ist, während die
Productionslust zurücktritt. Zum Beleg des eben Gesagten fügen wir einige
Notizen aus dem Geschäftsbetrieb einer leipziger Verlagsbuchhandlung bei.
die uns das Verhältniß des Absatzes nach den verschiedenen Ländern folgen¬
dermaßen angibt:
Hierbei ist jedoch zu bemerken, daß der Absatz nach Oestreich grade
bei dieser Buchhandlung unverhältnißmäßig schwach ist, und daß von den
20. Proc. Absatz nach Sachsen 0—8 Proc. auf Bezüge der leipziger Commis¬
sionäre für auswärtige Rechnung fallen dürften.
Eine noch detaillirtere Anschauung gibt die Berechnung vom Jahr 1844,
in welcher die Procente des Absatzes in Beziehung gesetzt sind zu der Zahl
der Buchhandlungen in den einzelnen Ländern und Städten. Es ist dabei
besonders bemerkenswerth, daß bei Oestreich und Preußen das Absatzver-
hältniß ganz dieselben Procentsätze darbot, wie das Verhältniß der Buch¬
handlungen zur Gesammtsumme derselben.
Ebenso wie Sachsen durch das leipziger Commissionsgeschäft eine ver¬
hältnißmäßig zu große Zahl Procente hat, so ist auch bei Hamburg, welches
in dieser Rechnung allein 3V2 Proc. abnimmt, der Bedarf für den Norden
(Skandinavien) und Amerika eingerechnet.
Wie sehr der buchhändlerische Verkehr seit den letzten Jahrzehnten zuge¬
nommen hat, zeigt sich an der steigenden Zahl der Buchhandlungen. Im
Jahre 1831 existirten in Deutschland nur etwa 300 Städte mit 1011 Buch¬
handlungen; besonders auffällig ist die Zunahme
Vom Jahr 1831 an war der Buchhandel im Wachsen, bis zum Jahr
1846. dann trat in Folge der Theuerung und noch mehr der politischen Er¬
eignisse im Jahr 1848 eine Abnahme ein, die sich mit der hergestellten politi¬
schen Ruhe allmälig wieder ausglich. Die Absatzverhältnisse der Vcrlags-
handlungen sind natürlich durch die Art der Bedürfnisse der verschiedenen
Bildungs- und Berufsclassen vielfach modificirt. Die meisten Bücher wissen-
schcifllichcn Gehalts werden (abgesehn von den öffentlichen Bibliotheken) in
den Kreisen getauft, welche den Universitäten angehören oder nahe stehen.
Hauptsächlich sind es die Universitätslehrer selbst, sodann solche, die eine
Universitätsbildung genossen haben und durch ihren Beruf darauf angewiesen
sind, ihre Studien fortzusetzen, besonders Lehrer, Geistliche und Aerzte. Leider
vermindert sich nun in neuerer Zeit diese Classe von Käufern immer, mehr,
da die schmalen Besoldungen nicht mehr zureichen, um neben den gesteigerten
Ausgaben für die täglichen Lebensbedürfnisse einen Bücheretat zu erübrigen.
Dieses unnatürliche Verhältniß ist um so mehr zu bedauern, als mit der
größeren Einnahme in den höheren Kreisen der Gesellschaft keineswegs der
Aufwand für Bücher verhältnißmäßig steigt, indem der Luxus in andern
Dingen das Bücherbudget auf eine miglaublich kleine Summe herabdrückt.
Während in England und theilweise auch in Frankreich auf den Familiensitzen
des Adels eine Bibliothek zur Ausstattung des Hauses gehört, und es auch bei
deutschen Familien der adeligen und bürgerlichen Aristokratie früher Sitte war,
eine Büchersammlung zu halten, ist es jetzt eine große Seltenheit geworden,
daß in einem Hause alljährlich eine bestimmte Summe für Bücher verwendet
wird. Zu dem allgemeinen Gebrauch der Familie wird etwa außer den Schul-
und Kinderbüchern noch eine Ausgabe von Schiller und Goethe, ein Conver-
sationslexikon, eine Zeitschrift zur Unterhaltung und Belehrung und, wenn es
hoch kommt, eine Weltgeschichte angeschafft. In dieser Beschränkung geht die
Literatur wol auch in die Kreise des städtischen Handwerkerstandes herab.
An die Stelle der Familienbibliothek tritt die Theilnahme an einer Lesegesell¬
schaft, das Abonnement bei einer Leihbibliothek, und diese Institute sind es,
auf welche der Verleger von Werken für die Unterhaltung vorzugsweise zu
rechnen hat. Der größere Theil des Etats der Lesegesellschaften wird in der
Regel sür Zeitschriften verwendet, für Bücher bleibt nur ein kleiner Theil
übrig. In den Leihbibliotheken bilden die Romane, welche ein unterhaltendes
Lesefutter darbieten, den Grundstock, an den sich populäre naturwissenschaftliche
Schriften, Reisebeschreibungen und Memoiren anschließen.
Am meisten Erfolg haben seit einigen Jahren die Zeitschriften, welche
allerlei zur Unterhaltung und Belehrung darbieten und durch eingedruckte
Holzschnitte der Anschauung zu Hilfe kommen. Das verbreitetste Journal
dieser Art ist die „Gartenlaube", deren Abonnenten bis über 60,000 gestiegen
sind. Große Mannigfaltigkeit und geschickte Auswahl zeitgemäßer Stoffe in
populärer Zubereitung zeichnen das Blatt aus, dabei ist der Preis von 2 Thlr.
für 80—gg Bogen unterhaltender Lectüre unglaublich niedrig und anlockend.
Die ungeheure Zahl von Abnehmern setzt andererseits den Verleger in den
Stand, durch Anbietung reichlicher Honorare gute Schriftsteller zu gewinnen.
Die Gartenlaube ist in ganz Deutschland verbreitet, am wenigsten im süd-
westlichen; dagegen wird eine eigene Auflage von 14,000 Exemplaren mit
etwas verändertem Inhalt für die Schweiz gedruckt. Ein ähnliches Blatt,
das „Jllustrirte Familienjvurnal". noch billiger im Preise, setzt 70,000 Exem¬
plare ab, steht aber der Gartenlaube darin nach, daß es wenig Original¬
artikel, meistens übersetzte Novellen und Reiseerzählungen, mit Benutzung
alter Holzstöcke, enthält. Zu den verbreitetsten Zeitschriften gehören ferner
die in Stuttgart erscheinende „Musterzeitung" mit 40,000, die „Jllustrirte
Zeitung" mit 12,500, die „Fliegenden Blätter" mit 12,000 Exemplaren.
Noch immer scheint uns die Situation von der Art, daß wir uns vor nichts
so sehr zu hüten haben, als vor einem verfrühten Enthusiasmus; je kühler und
geschäftsmäßiger wir die Dinge auffassen, desto sicherer können wir sein, in keine
neuen Illusionen zu versallen. Freilich sind wir in den letzten Tagen wieder um
einen bedeutenden Schritt vorgerückt. Durch die vollständige Veröffentlichung der
Rede, in welcher der Prinzregent dem Ministerium seine Absichten auseinandergesetzt,
sind wir überführt worden, wie grundlos die Befürchtungen waren, welche die Ver¬
öffentlichung einiger Fragmente daraus von Seiten der reactionären Presse bei allen
Gutgesinnten hervorgerufen hatte. Die Rede enthält nicht blos die besten und edel¬
sten Ideen, die wir bei einem Fürsten voraussetzen dürfen, sondern sie athmet zu¬
gleich jenen Ton ruhiger und klarer Sicherheit, die sich durch keine Widersprüche, von
welcher Seite sie auch kommen mögen, irren läßt. Wie wir schon einmal gesagt!
auf der Persönlichkeit des Prinzen beruht das ganze Vertrauen des Volkes, das sich
seine Rathgeber erst werden verdienen müssen. Für ihre Geschicklichkeit spricht es
keineswegs, daß sie ruhig zusahn, wie die Reaction in einer Zeit, wo jeder Augen¬
blick wichtig war, jene schönen Worte heimtückisch ausbeutete, um die Wähler vor
der neuen Regierung zu warnen.
Nachträglich können wir wol mit dieser Nachlässigkeit zufrieden sein, da sich
um so schlagender gezeigt hat, wie tief die liberalen Sympathien im Volke wurzeln.
Eine kleine Fraction des vorigen Landtags hat sich diesmal in eine starke Majorität
verwandelt. Ja um der Regierung uur keinen Anstoß zu geben, hat man mit ängst¬
licher Scheu jeden Namen vermieden, der irgend unbequeme Erinnerungen hervor¬
rufen könnte. Nicht blos die wirkliche» Demokraten haben auf jede Wahl verzichtet,
sondern auch Männer wie Nodbcrtus und andere, die man nur deshalb Demo¬
kraten nennt, weil sie die Auflösung der constituirenden Versammlung für gesetz¬
widrig hielten. Selbst Grab an durchzusetzen hat einige Mühe gekostet, blos weil
er Präsident jener übel berufenen Versammlung war, obgleich er innerhalb derselben
entschieden der rechten Seite angehörte. Weiter kann man die Rücksichten wirklich
nicht treiben, und wir möchten sogar zweifeln, ob man nicht bereits zu weit ge¬
gangen ist. Wir hätten lebhast gewünscht, einige namhafte Vertreter der gemäßig¬
ten demokratischen Partei in dem neuen Landtag zu sehn, damit auch diese Partei
sich daran gewohnte, ihre Rcformidecn auf ordnungsmäßigen Wege zu verfolgen,
und wir wollen offen bekennen, daß wir jene Erklärung unserer schlesischen Freunde,
es dürfe niemand gewählt werden, der sich bisher der Wahl enthalten, nur mit Be¬
dauern gelesen haben. Zwar wissen wir sehr wohl, daß jenem Schritt sehr erheb¬
liche locale Motive zu Grunde gelegen haben, aber grade deshalb hätte man die
allgemeinen Formeln vermeiden sollen. Es sieht fast so aus^ als ob man von
den Demokraten verlangte, schwimmen zu lernen, bevor sie ins Wasser gegangen.
Wir haben schon mehrfach erwähnt, daß wir uns des Unterschiedes, der noch
immer zwischen beiden Parteien stattfindet, sehr wohl bewußt und fest entschlossen
sind, ihn in allen wichtigen Fällen, z. B. in der Frage über die Ausdehnung des
Wahlrechts, geltend zu machen. Aber wir wünschen ebenso, daß diese vorauszu¬
sehenden Streitigkeiten in schicklicher Form geführt, d. h. auf die Erörterung der
Sache beschränkt werden. Die bisherige Verstimmung der demokratischen Presse, die
mit Verdruß zusah, wie andere sich auf der gesetzlichen Arena tummelten, zu der
sie doch auch ein Recht hatte, war eine selbstverschuldete; sie ist es nicht mehr.
Diese Volksschicht hat sich bei den Wahlen so vortrefflich benommen, sie hat zugleich
so viel Eifer und so viel Müßigung gezeigt, daß es von unserer Seite eine schrei¬
ende Ungerechtigkeit wäre, ihre Haltung nicht anzuerkennen. Wenn daher die Na-
tivnalzcitung theils aus alter Gewohnheit, theils aus begreiflichen Verdruß, daß die
parlamentarische Vertretung ihrer Partei noch einmal vertagt ist, noch immer von
Zeit zu Zeit in Schmollen verfällt, und während sie sonst über alle politische Ma¬
terien so verständig discutirt, wie man nur wünschen kann, sobald das Stichwort
^ „Gothaer" oder „Eigentlicher" erklingt, zu denken aufhört und dem Mühlrad ihrer
Reminiscenzen freies Spiel läßt, so wollen wir darüber nicht ungehalten sein' und
statt dessen vermeiden, in einen ähnlichen Fehler zu verfallen.
Das Resultat, welches sich aus den gegenwärtigen Wahlen im Vergleich mit
den vorhergehenden ergibt, ist folgendes. Das Volk oder das Publicum ist in un¬
geheuerer Majorität (man denke an das verwickelte Classcnsystem!) liberal gesinnt
und wird dieser Gesinnung Raum geben, sobald es nicht durch Willkürmaßrcgcln,
wie vor drei Jahren, gehemmt wird; es ist aber in seiner Ueberzeugung nicht stark
genug, solche Hemmungen zu durchbrechen. In dieser Beziehung können wir von
der äußersten Rechten etwas lernen. Es wurde vorher über die Oeffentlichkeit der
Abstimmungen, über den Einfluß der Vorgesetzten n. s. w. bitter geklagt. Man
verlangte die Straße zur Freiheit nicht blos gepflastert, sondern mit einem Trottoir
belegt; jetzt haben die Landräthe und die Regierungsbeamte der Kreuzzeitung, ob¬
gleich sie sich denn doch auch allerlei Unbequemlichkeiten aussetzen, mit einer Rück¬
sichtslosigkeit gegen ihre augenblicklichen Vorgesetzten agitirt, die Staunen aber auch
..Anerkennung erregt. Wenn es für den Apotheker unbequem ist, daß der gnädige
Herr ihm seine Kundschaft entzieht, wenn er mißliebig wählt, so müssen denn doch
auch die Regierungspräsidenten, Landräthe u. s. w. manche Wünsche aufgeben, um
ihren Principien Geltung zu verschaffen. Vielleicht wird die neue Wendung der
Dinge auf die Partei der Ritterschaft einen sehr heilsamen Einfluß ausüben, sie wird
vielleicht das werden, was sie bis jetzt zu sein nur vorgab! eine Laudpartei in der
Art der Tories. Bis jetzt war sie nicht das, sondern eine Hofpartci; ihre Führer
waren, wie schon bemerkt, General Gerlach und Herr v. Westphalen, und ihr Werk¬
zeug die Polizei. Jetzt wird sie lernen müssen, aus eignen Füßen zu stehn, und
die im preußischen Staat sehr wesentlichen und sehr gerechtferrigtcn Interessen des
großen Grundbesitzes durch die Kraft der Gründe und durch den natürlichen Ein¬
fluß einer hervorragenden Stellung zu vertreten; vielleicht wird sie die Gelegenheit be¬
nutzen, einige Marotten aufzugeben, die gar uicht zu ihrem Wesen gehören, und
die ihr von Jrvingianern und ähnlichen Phantasten aufgeschwatzt sind.
Bis jetzt hat sie freilich eine andere Taktik beobachtet- die Taktik, den Regenten
vor den blutrothen Gelüsten der Volkschicht, welcher er Freiheit schenkt, zu warnen.
Sie führt diese Taktik sehr geschickt, wenn auch nicht immer auf die redlichste Weife
durch. Man muß sie nicht etwa ausschließlich aus der Kreuzzeitung kennen lernen,
die trotz ihres doktrinären Fanatismus sich doch zuweilen daran erinnert, daß der
preußische Adel mit der Ehre Preußens eng verflochten ist, sondern, in denjenigen
deutschen Blättern, denen es daran liegt, daß Preußen den Namen Friedrich des
Großen aus seiner Geschichte ausftrciche. Dieselben Blätter, die noch vor zwei
Jahren nicht müde wurden, mit Hohn und Geringschätzung von der preußischen
Politik zu sprechen, trauern jetzt über den Verlust jener schönen Zeit. Ihnen liegt
gar nichts daran, ob in Preußen das officielle Blatt das Symbol des Kreuzes oder
des Adlers vorzieht, sie haben es an Schmähungen gegen die Kreuzzeitung nicht
fehlen lassen; ihnen liegt nur daran, daß Preußen schwach bleibt. Und sie haben
eine dunkle Idee davon, daß es jetzt mit der olmützer Politik zu Ende geht.
Hüten wir uns indeß, auch nach dieser Seite hin in zu sanguinische Hoffnun¬
gen zu versallen: sowol die Befürchtungen der Bamberger als die ' Hoffnungen der
Gothaer sind übertrieben. Preußen hat vorläufig nicht die Aufgabe, Deutschland,
zu einigen oder sonst etwas Namenloses zu thun, sondern in seinem Innern auf¬
zuräumen und den guten altpreußischen Geist, der durch mehrjährige Mißgriffe ver¬
kümmert ist, wieder herzustellen. Die Fahne Preußens ist nicht die schwarz-roth-
goldnc, sondern die schwarz-weiße;'aber es gilt, sie von den verkehrten Symbolen
zu reinigen, mit denen eine phantastische Reaction sie übermalt hat.
„Wenn in allen Regierungshandlungen sich Wahrheit, Gesetzlichkeit und Conse-
quenz ausspricht, so ist ein Gouvernement stark, weil es ein reines Gewissen hat,
und mit diesem hat man ein Recht, allem Bösen kräftig zu widerstehn."
„In der Handhabung unsrer innern Verhältnisse sind wir seit 184 8 von einem
Extrem zum andern geworfen worden. Von einer Connnunalordnung, die ganz
unvorbereitet Selfgovernment einführen sollte, sind wir zu den alten Verhältnissen
zurückgedrängt worden, ohne den Forderungen der Zeit Rechnung zu tragen."
„In der evangelischen Kirche, wir können es nicht leugnen, ist eine Orthodoxie
eingekehrt, die mit ihrer Grundanschauung nicht verträglich ist, und die sofort in
ihrem Gefolge Heuchler hat. . . Alle Heuchelei, Scheinheiligkeit, kurzum alles
Kirchenwesen als Mittel zu egoistischen Zwecken ist zu entlarven, wo es nur mög¬
lich ist."
„Das Unterrichtswesen muß in dem Bewußtsein geleitet werden, daß Preußen
durch seine höheren Lehranstalten an 'der Spitze geistiger Intelligenz stehn soll und
durch seine Schulen die den verschiedenen Classen der Bevölkerung nöthige Bildung
gewähren, ohne diese Massen über ihre Sphären zu heben. Größere Mittel werden
hierzu nöthig werden."
„Preußen muß mit allen Großmächten im freundschaftlichsten Vernehmen stehn,
ohne sich fremden Einflüssen hinzugeben und ohne sich die Hände frühzeitig durch
Tractate zu binden. In Deutschland muß Preußen moralische Eroberungen machen
durch eine weise Gesetzgebung bei sich, durch Hebung aller sittlichen Elemente und
durch Ergreifung von Einigungsclcmcntcn, wie der Zollvcrband es ist, der indeß
einer Reform wird unterworfen werden müssen. Die Welt muß wissen, daß Preu¬
ßen überall das Recht zu schützen bereit ist." —
Wir haben im Eingang ausgesprochen, daß in der gegenwärtigen Situation
nichts schädlicher sein kann, als ein vorzeitiger Enhusiasmus, und daß namentlich
die Presse jeder derartigen Versuchung widersteh» soll, aber wir wollen offen beken¬
nen, daß es uns bei dieser Rede des Prinzen von Preußen schwer fällt. Denn es
handelt sich hier nicht um allgemeine gute Wünsche, wie sie jeder neue Regent auszuspre-
chen Pflegt, sondern um die Hinweisung nach einem bestimmten Ziel, nach jenem
Ziel, welches Preußens Glück und Ehre in sich schließt.
Die ebenso erhabene als schwierige Aufgabe, welche der Prinzrcgent gegen sehr
dunkele Intriguen, welche feine erwählten Rathgeber gegen Hemmnisse von allen
Seiten durchzuführen haben, wird von unsrer Seite am besten dadurch unterstützt
werden, wenn wir dem Beispiel unseres Fürsten folgen, wenn wir uns in unsrer
Sphäre ebenso vini unserem Gewissen und unserem Pflichtgefühl bestimmen lassen,
als er in der seinigen. Wol haben wir, in der frühern Zeit zu oft die Staats¬
männer und Diplomaten gespielt, wir haben gekünstelt, wo das schlichte Wort am
Platz gewesen wäre. Wir können den Fürsten und das Ministerium nur unter¬
stützen, wenn wir eine eigene unabhängige Ueberzeugung, wenn wir ein eigenes Ge¬
wicht in die Wagschale zu legen haben. Eine sogenannte ministerielle Partei, d. h.
eine Partei, die von den Ministern ihre Stichwörter erwartet, ist keine Partei, sie
hat kein eigenes Gewicht, sie kann die Regierung nicht verstärken, sie kann ihren
Feinden nicht widersteh». Es war im Grunde ein Fortschritt, daß die unglückselige
„ministerielle Partei", welche 1849 —1850 die Majorität bestimmte, einer entschiede¬
nen Rechten Platz machte. Die Partei Geppert-Bodcnschwingh, so wohlgesinnt sie
war, hat das Ministerium Manteuffel auf seiner abschüssigen Bahn nichr aufhalten
können. Die englischen Minister werden darum durch ihre Partei getragen, weil
diese Partei eine selbstständige Ansicht vertritt. Wenn auch in dem neuen Landtag
sich wirklich eine „ministerielle" Partei bilden sollte, so muß das für die entschie¬
deneren Liberalen nur noch ein Antrieb mehr sein, sich unabhängig zu constituiren,
nicht blos innerhalb der Kammern, sondern auch in der Presse. Das Ministerium
hat sich eine osficiöse Presse geschaffen, wir zweifeln daran, daß sie ihm etwas nützen
wird; bis jetzt hat sie ihm nnr geschadet. Und zwar'sind das nicht Fehler ein¬
zelner Schriftsteller, im Gegentheil flößen uns die Persönlichkeiten das beste Zu¬
trauen ein, sondern die Natur einer officiösen Presse bringt es mit sich, daß sie,
wo es nöthig ist, nichts zu sagen wagt, und wo es unnöthig ist, Anstoß gibt. Dem
Ministerium Manteuffel hat die „Zeit" nichts geholfen, das neue Ministerium wird in
der Presse um so besser vertreten sein, je schneller es die „Preußische Zeitung" frei
läßt. Die Politik der Anspielungen, der dunklen Winke, der Bemerkungen über be¬
schränkten Unterthanenverstand u, s, w, ist vorüber, und auf dergleichen Winke ist
die officiöse Presse beschränkt. Will das Ministerium im Volke sprechen, so hat es
die Kammern und die officielle Presse. Es ist nicht blos würdiger und schicklicher,
sondern auch wirksamer und erfolgreicher, wenn man unmittelbar die Negierung
vernimmt und nicht Mittelspersonen, die doch nicht im Brennpunkt der Ereignisse
sitzen. Die Principien aber zu vertreten, das überlasse man demjenigen Theil d'er
Presse, der nicht jeden Augenblick befürchten darf, durch das Aussprechen seiner
nzvmnmirst!!i''»del>>'.n>'Ui-V,nspitt,,litt
Es ist ein erfreuliches Zeichen, daß die deutsche Presse sehr sorgfältig die Rechts.
Widrigkeiten registrirt, die jenseit des Rheins vorfallen, und keinen Anstand nimmt,
sie moralisch zu brandmarken. Indessen wäre es zweckmäßig, dabei von Zeit zu
Zeit in Erinnerung zu bringen, daß es bei uns an verwandten Erscheinungen nicht
gefehlt hat, ja daß man sie hin und wieder noch antreffen kann. Wenn ein deut-
scher Schriftsteller zwischen den politischen Einrichtungen des Landes, dem er ange¬
hört, und denen eines rivalisircndcn Staats eine boshafte Parallele ziclit, wenn er
von seinem Lande behauptet, es sei darin keine Freiheit zu finden, so ist leicht mög¬
lich, daß man ihn auch bei uns vor Gericht stellt, daß man die oxoextio vern^dis
nicht gelten läßt und daß irgend ein dienstwilliger Gerichtshof ihn zu sechsmonat¬
lichen Gefängniß verurtheilt. Das Aufsehn, welches dieser Proceß in Frankreich
gemacht, gilt in der That weniger der Sache als der Person. Die Franzosen sind
ein Volk der Autorität, es gibt bei ihnen eine mit einem bestimmten Gepräge ver¬
sehene Classe berühmter Männer, die ungefähr, wenn auch nicht ganz, mit den vierzig
Unsterblichen der Akademie zusammenfallen, deren Handlungsweise das Publicum
nach einem andern Maßstab mißt als die der übrigen Sterblichen, und bei denen
es erwartet, auch die Staatsgewalt werde ein Einsehen haben. Es macht keinen
Unterschied, welcher Partei diese Männer angehören; sie gehören zum Stammcapital
des Nationalruhms und jeder Franzose verlangt, daß sie in Ehren gehalten werden.
Doppelt werth sind sie ihm, wenn sich mit dem Vorzug eines glänzenden Talents
auch der einer hohen Geburt paart/ In beiden Beziehungen gehört Montalembert
unzweifelhaft zu den ersten Scigncurs Frankreichs, und jeder Franzose empfindet es
als frech und unehrerbietig, wenn man ihn ebenso obenhin behandelt, wie einen
Schriftsteller ohne Namen. — In diesem Umstand liegt das Bedenkliche für das neue
Regiment. Es ist dem Kaiserreich gelungen, das Volk im Großen und Ganzen so
zum Schweigen zu bringen, wie es bei den Franzosen immer geschieht, wenn sie
eine eiserne Hand über sich fühlen. Aber es ist ihm nicht gelungen, die Grands
Seigneurs des Landes für sich zu gewinnen und dadurch den Makel seines Ursprungs
vergessen zu machen. Wie sich auch der Hof Mit goldenen Stickereien überdecken
mag, das Volk empfindet, daß er aus Parvenus zusammengesetzt ist. — Schon sür
Ludwig Philipp war es empfindlich, daß der Faubourg Se. Germain mit ihm
schmollte, und wenn ein Deutscher sich vergebens den Kopf darüber zerbricht, was
dem Bürgerkönig daran gelegen sein konnte, um die Gunst dieser alten verwelkten
Marquisen und Herzoginnen zu buhlen, so liegt die Erklärung in dem angebornen
aristokratischen Sinn der Franzosen. Das Kaiserreich hat sich auf das Militär ge¬
stützt, es hat die Zügel so straff angezogen, daß den Emcutiers kein Spielraum blieb,
aber noch entschiedener als unter dem Julikönigthum zogen sich die Berühmtheiten
aller Classen von ihm zurück, es mußte ganz mit neuen Menschen regieren. Die
einzige Ausnahme machte der Graf Montalembert, und wenn es bei dem eigenthüm¬
lichen Charakter dieses Mannes schwer sein mag, das letzte Motiv seines Schrittes
zu ergründen, so wird man doch kaum fehlgreifen, wenn man eine kleine Dosis
Eitelkeit darin sucht. Montalembert ist ein Redner vom ersten Range, und
wie unbequem es ihm sein mag, hinter halb verschlossenen Thüren zu sprechen, so
zeigt ihm doch sein angeborener Sinn sür Realität, daß es besser ist, als gar nicht
zusprechen. Als er sich dem Kaiserreich unterwarf, geschah es mit dem geheimen Vorbe¬
halt, Opposition zu machen, und man muß sagen, er hat seine Aufgabe glänzend gelöst.
Schon die bekannte Schrift über England war trotz ihrer vornehm höflichen Formen
eine blutige Invective gegen den Imperialismus, der neue Artikel ist es noch in
erhöhtem Grade. — Montalembert trat zuerst unter der Fahne von Lamennais im
„Avenir" als Vorfechter des Ultramontanismus auf, der sich für verfolgt und unter¬
drückt ausgab; der geistreiche junge Weltmann verband sich mit den Kapuzinern.
Man konnte sich keine glücklicher gewählte Rolle denken; denn sie gab den Nimbus
des Vornehmen, des Romantischen, des Weltschmerzlichen und sie gewann zugleich
die Sympathien der Menge, denn sie donnerte gegen die Tyrannei; man denke! gegen
die Tyrannei des armen Bürgcrkönigs. Diesen Thron zu unterwühlen, hat Mon¬
talembert redlich das Seine gethan, vielleicht viel mehr als die Socialisten und De¬
mokraten. Als nun der morsch gewordene Thron wirklich zusammenstürzte, glänzte
er unter den ersten Führern der conservativen Partei. Es zeigte sich, daß er nur
in seiner Symbolik Phantast war, daß er im Uebrigen aber ein sehr gesundes Auge
für die Wirklichkeit besaß. Man erinnert sich noch an die wahrhaft zerschmetternde
Rede, mit der er einen wirklichen Phantasten -— auch einen von den vierzig Un¬
sterblichen — V. Hugo in seiner ganzen Bloße darstellte. Von den Legitimisten
immer mehr geschieden , wurde er allmälig auch kälter gegen die Ultramontanen. Und
wenn er gegenwärtig die Phrasen seiner Vergangenheit nicht ganz verleugnet, so
haben sie eben nur noch die Bedeutung von Phrasen. Die unbedingte Begeisterung,
mit welcher er die constitutionellen Einrichtungen Englands bespricht, ist mit dem
ultramontanen Princip unvereinbar, und Montalembert hat Verstand und Bildung
genug, das vollkommen einzusehn. Er ist in derselben Weise ultramontan, wie
Chateaubriand Legitimist war! dem Wesen nach geht er mit der Menge, das alte
Symbol macht ihn interessant, — Diese Gegner sind für den Kaiser sehr gefährlich,
denn er kann mit ihnen nichts anfangen, Republikaner und Socialisten kann er
zu Tausenden nach Cayenne schicken; mit dem Grafen Montalembert geht es nicht.
Nun hat er ihn gar zum Märtyrer gemacht und ihn dadurch auf ein Piedestal ge¬
setzt, das die Tragweite seiner Geschosse verdoppelt. Der Graf hat noch eine sehr
Geschichte der dem russischen Kaiserthum einverleibten deutschen Ostsee-
Provinzen bis zur Zeit ihrer Vereinigung mit demselben vom Staatsrath Dr.
A. von Richter. Zweite Auflage. Erster Bd., 1158—1347. Riga, Kymmcl. —
Die Colonisirung der Ostseeländer durch deutsche Kaufleute und Bauern unter der
Aegide eines geistlichen Ritterordens ist culturhistorisch eine der interessantesten Er¬
scheinungen, welche die europäische Geschichte kennt. Für die Aufhellung derselben
ist aber noch lange nicht genug gethan. Für Preußen hat Johannes Voigt
durch gewissenhafte Durchforschung der Archive eine sichere Grundlage gelegt; neuer-
dings hat Topper die Glaubwürdigkeit der Ordensbücher und der bekannteren Stadt'
chroniken auf eine musterhafte Weise erörtert. Weniger ist durch die gelehrten For¬
scher für Liefland geschehn, obgleich es mit den Quellen hier im Ganzen besser be¬
schaffen ist; und es wäre sür die Specialgcschichtc beider Länder ersprießlich, wenn
sich die Gelehrten von beiden Seiten mehr in die Hände griffen; die bekannten Zu>
stände der einen Provinz müssen für die unbekannten der andern zur Aufklärung
hinzugezogen werden. — Der Verfasser der vorliegenden Schrift hat sich das große
Verdienst erworben, durch strenge Sichtung des Materials einen sichern Boden g»
Wonnen zu haben, namentlich für die Rechtsgeschichte, die bei den complicirten Ein-
wandcrungöverhältnisscn große Schwierigkeiten bietet. Daß er auf die Darstellung
kein Gewicht legt, daß er selbst die Trockenheit nicht vermeidet, um genau zu sein,
verargen wir ihm nicht: bei einem Zeitabschnitt, wo es sich darum handelt, erst
den Boden zu gewinnen, wird die erste Bedingung des Erfolgs eine ängstliche Um«
ficht und Gewissenhaftigkeit fein. —
Die Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit in deutscher Bearbeitung
unter dem Schutz Sr. Majestät des Königs Friedrich Wilhelm IV. herausgegeben
von Pertz, Grimm, Lachmann, Ranke und Ritter. Berlin, Franz Dunker.
— Diese Sammlung, die am meisten dazu beitragen wird, den Sinn und das
Verständniß für das Mittelalter 'im deutschen Volk zu erwecken, ist in gedeihlichem
Fortgang begriffen. Seit unserm letzten Bericht (1856) ist wieder eine Reihe treff¬
licher Bearbeitungen erschienen. Aus dem achten Jahrhundert! das Leben der Aebte
Gallus und Otmar von Se. Gallen, von Potthast und Anskars Leben des Bi¬
schof Willehad, von Laurent, mit einem Vorwort von Lappenberg; aus dem
neunten: Die Annalen von Se. Berlin und Se. Voast von v. Jasmund; das
Leben der Erzbischöfe Anskar und Neinbert von Laurent, Meginhardts Über¬
tragung des h. Alexander, von B. Richter, Nigellus Lobgedicht auf Kaiser Ludwig
und Elegien an König Pippin von Pfund (für den Zweck der Sammlung hätte
es der Uebersetzer allenfalls bei der Prosa bewenden lassen können); aus dem zehn¬
ten: Die Chronik des Abt Regino, von Dümmler, und die Fortsetzung von
Büdingcr (dem Geschichtschreiber Oestreichs); das Leben der Königin Mathilde von
Jaffö (Mitarbeiter an den Annalen des deutschen Reichs unter dem sächsischen
Hause), das Leben des Bischof Adalbert von Prag und das Leben der Kaiserin
Adelheid, von Hüffcr; aus dem elften: das Leben der Bischöfe Bereword und
Godehard von Hildesheim, von demselben; aus dem zwölften: das Leben Kaiser
Heinrich IV. von Jafsv; endlich aus dem dreizehnten: die Chronik Arnolds von
Lübeck, von Laurent. Von dem Nutzen für das deutsche Publicum abgesehn, ist
das Unternehmen auch eine segensreiche Vorbildung für die jünger» Historiker, die
sich an demselben betheiligen. Hoffen wir, daß die in München angeregte Gesammt.
wirtuug der deutschen Geschichtschreiber der vaterländischen Geschichte einen neuen
James Cook drei Reisen um die Welt. Neu bearbeitet von Friedrich
Steger. Leipzig, C. B. Lorck. 1858. — Ein guter Gedanke, die Erlebnisse und
Beobachtungen des großen Entdeckers auss neue dem Publicum vorzuführen. Die
Bearbeitung ist geschickt gemacht, Unbedeutendes weggelassen, alles Wichtige aus¬
führlich mitgetheilt. —
Reiseskizzen aus Ost- und Westpreußen von Max Rosenheyn. Danzig,
Kafemann, 1858. — Anschauliche Schilderungen der auf dem Titel genannten
Landstriche und ihrer Bewohner, der Stil bisweilen zu schwung- und blumenreich.
Auch möchten wir bezweifeln, daß der Masur, der den Verfasser durch die johannis-
vurger Wildniß fuhr, sich über seine Erlebnisse in der gewühlten Weise ausgedrückt
hat, in der das Buch ihn sprechen läßt. —
Ein Winter in Venedig und Sechs Monate in Rom, beide Bücher von
Friedrich Pacht. Das Riesengebirge, seine Thäler und Vorberge und das Jsar-
gebirgc. Von K. Fr. Moses. — Diese drei Schriften gehören der bei I. I. Weber
in Leipzig erscheinenden illustrirten Reisebibliothek an. Die beiden ersten sind ein
Wiederabdruck der bekannten trefflichen „Südfrüchte", über welche von uns auffuhr-
lich berichtet wurde. Die zahlreichen Holzschnitte, mit denen sie geschmückt sind, ent¬
sprechen durch ihre ungemein zierliche und feine Ausführung dem Text. Sie sind
zum großen Theil kleine Kunstwerke. Das Buch über das Riesengebirge ist ein
etwas trockner, aber treuer und praktischer Führer durch das schöne schlesische Berg¬
land, und die beigegebenen 40 Illustrationen machen es zugleich zu einem anmu¬
thigen Andenken für den
.Mei »i?w,ini,.,'.C'."".^^Aas no.t ,,'.<In-iK ^-n ^»/"b -,,See.ki^7?)
Das Leben des Meeres von Dr. G. Hartwig. Vierte Auflage. Frankfurt
a. M. Meidinger Sohn und Co. 1859. — Diese Auflage des bekannten Compi-
lationswcrks ist eine vermehrte und verbessert«. Namentlich ist über Walfische, Rob¬
ben, Schalthiere und Seesterne Verschiedenes nachgetragen. Was die neue Ausgabe
aber wesentlich von den frühern unterscheidet, ist die reiche Ausstattung mit größer»
und kleinern Illustrationen, die zum Theil recht gut ausgeführt sind. Die Färbung
der größern Holzschnitte ist Modegeschmack. Wir Hütten dieselben lieber schwarz
gesehn. —
Geschichte Friedrich II., Königs von Preußen, genannt Friedrich der Große,
von Thomas Carlyle. Deutsch von I. Neuberg. Erster Band. Berlin, Geheime Ober-
hofbuchdruckcrci (R. Decker). 1358. — Eine Uebersetzung des von uns bereits aus-
^ führlich angezeigten Werkes, welche nicht blos den Gedankengang des Originals,
sondern auch — so weit dies möglich ist — den eigenthümlichen Stil desselben
wiedergibt. —
Aus mexikanischen Gefängnissen. Bruchstück aus Eduard Harkorts hinter¬
lassenen Papieren. Herausgegeben von Gustav Kühne. Leipzig, C. B. Lorck.
1858. — Erlebnisse eines Deutschen, der, ursprünglich Bergmann, sich beim
ersten Auftreten Santa Annas der von diesem vertretenen Sache anschloß, als Offi¬
zier im Heere des damals liberalen Generals anfocht, im Treffen bei Tolomc ver¬
wundet in die Hände der Gegner gerieth und nun einige Monate kennen lernte,
wie übel die Gefängnisse Mejikos eingerichtet sind. Später freigekommen, nahm er
wieder Dienste unter Santa Anna, stieg bis zum General und endete dann seine
an allerlei Abenteuern reiche Laufbahn in Texas. Die Schilderungen von Land und
Leuten sind ungemein lebhaft und anschaulich. —
Regierung und Volksvertretung in Bayern. Leipzig, H. Heisset. 1858.
— Eine Broschüre, die in ruhiger Entwicklung die Blößen der Logik zeigt, welche
So unauslöschlich die Züge sind, mit denen der Name Schiller in die
deutsche Ruhmeshalle eingegraben ist, so hat doch auch er in der öffentlichen
Stimmung manche Schwankungen erfahren. Seit der Vollendung des Wallen¬
stein galt er der Menge als der größte Dichter Deutschlands. Diese Vereh¬
rung steigerte sich durch das Mitgefühl über seinen frühzeitigen Tod, sie wurde
genährt durch die jüngern Theaterdichter, die, so weit sie im Uebrigen vonein¬
ander abwichen, sämmtlich Schillers Schule durchgemacht hatten; sie steigerte
sich zum Enthusiasmus durch die patriotischen Lyriker, die in der Periode der
Freiheitskriege nach dem Vorbild des Wallensteinschen Reitcrliedes die deutsche
Jugend gegen die fremden Eroberer in die Waffen riefen.
Aber schon war im Stillen gegen diese Stimmung eine Reaction vorbe¬
reitet, die, zuerst von der romantischen Schule hervorgerufen, sich im Anfang
auf die ästhetischen Theezirkel der sogenannten seinen Welt beschränkte, dann
aber, als die Restauration alle freieren Regungen des Volksgeistes unterdrückte,
zur Signatur der Zeit wurde. Dieser Richtung war Schiller nicht vornehm,
nicht aristokratisch genug, er ging ihr zu unbesonnen, zu rücksichtslos auf die
Gemeinplätze des Tages ein, und weil seine glühende Beredsamkeit dem Jn-
stinct der Menge huldigte, glaubte sie wol gar, ihm den Namen eines Dich¬
ters absprechen zu dürfen, da der echte Dichter sich nur in höheren, der Welt
unverständlichen Gefühlen bewege. Wenn diese Ansicht während der ganzen
Restaurationszeit die tonangebende blieb, so war auch das neue Geschlecht,
das nach der Julirevolution die Führung der Literatur übernahm, ihr keines¬
wegs abhold; nur wußte es ihr eine andre Wendung zu geben. War man
früher bedenklich gegen den Demagogen Marquis Posa, so zuckte man jetzt
über den moralischen Pedanten Max Piccolomim die Achseln; man fand den
Dichtet zu sehr in den sittlichen Vorurtheilen der Vergangenheit befangen,
man vermißte bei ihm jene liebenswürdige Frivolität, die man in der jungem
Schule Frankreichs so sehr bewunderte, und von der Goethes Schriften so er¬
freuliche Spuren zeigten.
Als nun das Vaterland wieder zu Ehren kam, änderte sich damit die
öffentliche Stimmung über den Dichter. Es wurde wieder viel von Freiheit,
Tugend und Vaterland gesprochen, man machte darauf aufmerksam, daß Goethe
ein Fürstendiener, daß er der Dichter der Philine gewesen sei, und daß er auf
die Erhebung des Volks in den Freiheitskriegen nicht viel gegeben habe. Was
man früher Schiller zum Vorwurf gemacht, wurde jetzt der Grundstein seines
Ruhms. Schriftsteller der verschiedensten Farbe waren darin einig, z. B.
Wolfgang Menzel, Börne, und wie es bei Stichwörtern zu geschehen pflegt,
die man häusig wiederholt, ohne -sie grade näher zu erörtern: zuletzt war
die Masse davon überzeugt, daß Schiller der Dichter der Freiheit, der
Tugend und des Vaterlandes sei, und je nachdem man für diese Begriffe
schwärmte oder nicht, rechnete man sich unter die eifrigen Jünger oder Geg¬
ner des Dichters.
Es ist ganz merkwürdig, wie bei einem Schriftsteller, dessen Balladen jeder
Quartaner, dessen Trauerspiele jeder Tertianer auswendig weiß, ein solches
Vorurtheil sich einem Nebel gleich so weit ausbreiten konnte, daß man seine
wirkliche Physiognomie gar nicht wiedererkennt. Wer unsern Dichter ohne
Brille liest, wird freilich bald gewahr, daß es sich bei ihm nicht blos um
Freiheit, Tugend und Vaterland handelt, daß der Dichter des Marquis Posa
nicht blos über die französische Revolution, sondern über das politische Wesen
überhaupt in einer Zeit, wo seine Kraft am vollsten blühte, sich sehr gering¬
schätzig aussprach, daß Laura nicht blos früher, sondern auch natürlicher bei
ihm auftritt als Thekla, und daß vom Vaterland bei ihm überhaupt keine
Rede ist. Aber es war schwer, die Brillen zu vermeiden, da gefeierte Volks¬
redner, wenn sie die politischen Leidenschaften aufstachelten, unablässig auf
Schillers Vorbild hinwiesen, während die entgegengesetzte Richtung sich über
diesen Dichter sehr bedenklich aussprach.
Schiller war kein abstracter Tugendspiegel, kein einseitiger Patriot, kein
blinder Freiheitsenthusiast; er hat, ehe er das wurde, was er war, mit schwe¬
ren Nennungen zu kämpfen gehabt; er hat in seinen Ansichten über die we¬
sentlichsten Glaubenspunkte häusiger gewechselt als sein großer Freund, und
ihn vom Anfang seines Lebens bis zum Schluß desselben als Vorbild auszu¬
stellen, würde ein gewagtes Unternehmen sein. Aber er war mehr als das,
was seine Partei von ihm aussagt, er war eine echt lebendige, starke und
gewaltige Natur, die gleich den griechischen Heroen sich immer stärkte und läu¬
terte durch die Ungeheuer, die ein scheinbarer Unstern ihr zu bekämpfen gab;
er war nicht blos ein liebenswürdiger Idealist, sondern ein großer Dichter,
dessen Größe freilich nicht da liegt, wo man sie gewohnlich sucht.
An Stelle jener Stichworte, Freiheit, Tugend und Vaterland ist jetzt ein
andres getreten, der Idealismus. Man spricht in unsrer jüngsten Poesie
von einer Schule der Realisten, und stellt dieser, die angeblich die Poesie an
den gemeinen Weltlauf verräth, Schiller als den Dichter des Ideals gegen¬
über. Wenn man auch ganz davon absieht, daß solche abstracte Gegensätze
überhaupt nichts sagen, daß sie sich nach Belieben umkehren lassen, so ist bei
dieser Auffassung merkwürdig, daß sie grade das als Schillers Vorzug her¬
vorhebt, was offenbar sein Fehler ist, und ihm das streitig macht, worin seine
Größe liegt. Der Punkt ist für das Verständniß unsrer heutigen ästhetischen
Streitfragen so wichtig, daß wir näher darauf eingehn müssen.
Bekanntlich haben Goethe und Schiller selbst die Ausdrücke Realismus
und Idealismus auf sich angewandt, aber wie das, was sie darunter dach¬
ten, von der heute gangbaren Meinung abweicht, zeigt am deutlichsten Goethes
Erzählung von ihrem ersten Zusammentreffen.
Goethe trug in Schillers Hause die Metamorphose der Pflanzen lebhaft
vor und ließ mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Ur-
pflanze vor seinen Augen entstehn. „Schiller vernahm und schaute das alles
mit großer Theilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich grade geendet,
schüttelte er den Kopf und sagte: das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.
Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen: denn der Punkt, der uns trennte, war
dadurch aufs strengste bezeichnet. Der alte Groll wollte sich regen, ich nahm
mich aber zusammen und versetzte: das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen
habe, ohne es zu wissen und sie jogar mit Augen sehe." Goethe fügt hinzu, daß
ihn folgender Satz ganz unglücklich gemacht habe: „Wie kann jemals Erfah¬
rung gegeben werden, die einer Idee angemessen sein sollte? denn darin be¬
steht eben das Eigenthümliche der letztern, daß ihr niemals eine Erfahrung
congruiren könne." Goethe kann sich nicht genug darüber verwundern, daß,
was er als Erfahrung aussprach, Schiller nur für eine Idee galt.
Wer diese Erzählung aufmerksam liest, wird mit einiger Verwunderung
entdecken, daß Realismus hier grade das Gegentheil von dem sagen will, was
man heute darunter versteht. Heute nennt man Realisten die verstockten Er-
fahrungsmenschen, die von der Anschauung des wirklichen Lebens ausgehn
und sich nicht daraus treiben lassen; Goethe dagegen nennt sich einen Realisten,
weil ihm seine Ideen Realität haben, ja weil sie ihm als das einzig Leben¬
dige erscheinen. Die UrPflanze hatte er nirgend gesehn, er konnte sie auch
nicht sehn, weil sie nicht existirt, was man so gewöhnlich existiren nennt; aber
das Bild seines Geistes war ihm höhere Gewißheit als das Zeugniß seiner
Sinne.
Bekanntlich entspricht diese Begriffsbestimmung dem Gegensatz in der
mittelalterlichen Philosophie zwischen Realisten und Nominalisten. Realisten
nannten sich diejenigen, denen die Ideen als wirklich vorkamen, Nominalisten
diejenigen, die nur abgezogne Gattungsbegriffe oder Namen darin suchten.
Heutzutage würde man also (wenigstens in dieser Beziehung) die alten
Realisten als Mystiker, die alten Nominalisten als Aufklärer bezeichen. Wir
wollen nur darauf aufmerksam machen, daß mit bloßen Kategorien gar nichts
gesagt ist, wenn man vorher sich nicht darüber verständigt, was sie zu be¬
deuten haben.
Untersuchen wir den Begriff des Realismus seiner Natur nach, so ent¬
decken wir zwei Momente darin, je nachdem man ihn auf die Beobachtung
oder die Darstellung anwendet.
Der wahre Realismus der Beobachtung liegt darin, daß man bei jeder
Individualität in der Natur, der Geschichte und im wirklichen Leben schnell die
charakteristischen Züge herausfindet, mit andern Worten, daß man Sinn für
Realität hat, für den wahren Inhalt der Dinge. Der falsche Realismus der
Beobachtung liegt darin, daß man bei dem schärfsten Auge für die einzelnen
Züge des Lebens nicht zu unterscheiden vermag, welche charakteristisch sind und
welche nicht. In dem bekannten Sprichwort, daß es sür den Bedienten keinen
Helden gibt, ist der Bediente ein falscher Realist. In seiner Abhandlung über
Friedrich den Großen ist Macaulay ein falscher Realist, trotz der glänzenden
Virtuosität seiner Beobachtung. <
Der wahre Realismus in der Darstellung, oder, allgemein gesagt, in der
Kunst, liegt darin, daß man über die nöthige Technik, sei es in Bezug aus
Pinsel und Palette oder auf den Meißel, auf den Ton oder auf das Wort,
so frei disponiren kann, daß man die zur Charakteristik nothwendige» Mittel,
die das Leben nachbilden und das Leben'hervorbringen, augenblicklich bei der
Hand hat. Der falsche Realismus in der Kunst liegt darin, daß man bei
der glänzendsten Virtuosität in der Technik diejenigen Momente, die das Leben
hervorbringen, nicht richtig zu wählen weiß: es ist derselbe Gegensatz wie
zwischen dem Künstler und dem Virtuosen.
Wenn man nun das, was wir als wahren Realismus bezeichnet haben.
Idealismus nennen will, so ist auch nichts dagegen einzuwenden, denn die
Idee der Dinge ist auch ihre Realität. Wenn der wahre Idealist mit seiner
Idee das Wesen der Dinge trifft, so bildet sich der falsche Idealist eine Idee,
die der Wirklichkeit nicht entspricht, weil sie überhaupt keinen Inhalt hat.
Man vergesse nur nicht: der Gegensatz der Realität ist nach der einen
Seite hin freilich das Ideal, nach der andern aber die Chimäre, die Lüge,
der Unsinn.
Untersuchen wir nun Schillers Talent genauer, so finden wir, daß es viel
respectabler nach der realistischen als nach der idealistischen Seite ist; bei
Goethe finden wir das Gegentheil. Man wird sich über diesen Ausspruch
wundern, weil er gegen das hergebrachte Vorurtheil verstößt, aber eine ruhige
Prüfung wird ihn rechtfertigen.
In der bekannten Recension über Egmont hebt Schiller mit großer Um¬
sicht alle realistischen Momente hervor, die Charakterschilderung des nieder¬
ländischen Volks, der Spanier, und er tadelt dagegen dasjenige, was man heut¬
zutage als idealistisch bezeichnen würde: er tadelt die Traumerscheinung der
Freiheit, er tadelt die souveräne Rücksichtslosigkeit, mit welcher der Held die
wirklichen Verhältnisse auffaßt. Freilich geht er in vielen seiner Abhandlungen
auf das Gegentheil aus, freilich idealisnt er in manchen Scenen seiner spätern
Trauerspiele ganz so ins Blaue, wie Goethe in diesem Traumbild, aber dieser
Idealismus war angelernt, der Realismus war ihm angeboren.
Worin liegt denn in den künstlerisch ganz verfehlten drei Erstlingsstückcn
jener Reiz, der sie noch heute einer ganz veränderten Bildung gegenüber lebens¬
fähig macht? etwa in den idealistischen Mondscheinschwürmereien, in den reno-
mistischen Einfällen über Weltverbesserung und ähnliches?
Wir glauben im Gegentheil, daß diese Tiraden jedem Gebildeten lästig
sind. Aber welchen Respect flößt die Naturwahrheit der Genrebilder ein, wie
plastisch treten die einzelnen Räuber, wie plastisch tritt namentlich in Kabale
und Liebe die Musikantcnfmnilie hervor! wie tief dringt Schiller in der furcht¬
baren Scene, wo Franz Moor seinen Traum erzählt, mit seiner Sonde ins
menschliche Herz! — Nun gibt es einzelne schärfer blickende Kritiker, z. B.
Tieck, die diesen Realismus in seinen Jugendstücken herausfühlen, ihn aber in
seinen spätern Dramen vermissen, und deshalb seltsamerweise die ersteren den
letzteren vorziehn. Schiller hat seine realistische Kraft aber nie eingebüßt, ja
sie zeigt sich im Wallenstein, im Tell, in der Jungfrau u. s. w. viel gewal¬
tiger als in den Räubern. Es gelingt ihm nicht, uns die überspannte Em-
pfindungsweise der Jungfrau, uns den moralischen Idealismus Theklas, uns
die Philosophie Teils verständlich zu machen; aber im Lager Wallensteins
werden wir zu Hause, bei den Soldaten wie bei den Generalen; jeder Zug
prägt sich unauslöschlich unsrer Phantasie ein. Der Unterhandlung zwischen
Wallenstein und Wrangel folgen wir mit athcmloscr Spannung. Die Noth
des guten Königs von Frankreich, den Unmuth und die Verzweiflung seiner
Generale erleben wir mit, unser Fleisch und Blut ist bei dem Ausgang be-
theiligt; und was soll man erst von der prachtvollen Schilderung der schwei¬
zerischen Zustände sagen, die in der Poesie nicht ihres Gleichen hat.
Wenn Realismus auf dem Theater so viel heißt, als die Fähigkeit, den
Eingebungen der Phantasie reale Gestalt zu geben, namentlich in Bezug auf
die äußere Erscheinung, so stehen wir nicht an, in dieser Beziehung Schillers
Talent über das Goethes zu stellen. —
Nehmen wir ferner — es kommt uns nur auf einzelne Beispiele an —
die lyrischen Gedichte, so wird man freilich das „Ideal und das Leben", „die
Künstler" und ähnliches mit hoher Achtung nennen. Es sind nicht blos seine,
sondern sehr tiefe Gedanken darin und sie sind so schön ausgedrückt, wie man
so etwas nur ausdrücken kann. Aber im Ganzen haben diese Gedichte wenig
Leser, und Schiller selbst hielt sich nur kurze Zeit in diesem Reich der Schatten
auf. Dagegen sind die Balladen, und unter den didaktischen Gedichten die¬
jenigen, die allgemeine Sentenzen in einer körnigen sprichwörtlichen Sprache
ausdrücken, in aller Munde. In jenen Balladen liegt aber das Hauptinter¬
esse in der Schilderung, und hier ist es ganz erstaunlich, mit welcher Anschau¬
lichkeit Schiller die Brandung des Meeres, den Eisenhammer und ähnliches
wiedergibt, grade wie im Tell den Vierwaldstättersee, was er nie gesehen
hat. In dieser Beziehung haben wir die schlagendsten Zeugnisse von Goethe,
der doch so gut sah wie selten ein Mensch, und der nicht genug Worte finden
konnte, sein Staunen über die Naturtreue dieser Schilderungen auszudrücken.
Dieses Talent wird man doch wol ein realistisches nennen, während man bei
den Idealen im Drama wie im Lied wahrnimmt, daß sie durch Kunst nach¬
träglich hineingetragen sind.
Schiller hat ein Gedicht geschrieben, „die Ideale", das wahrlich nicht für
diejenigen spricht, die ihn einen Idealisten nennen. Er ist verschiedenen
Idealen nachgegangen, dem Ruhm, der Wahrheit, der Liebe; sie haben sich
alle als illusorisch erwiesen, er bleibt bei der Freundschaft stehen und bei der
Beschäftigung, die nie ermattet. Ein wunderliches Ideal! aber hüten wir uns
ihm aufs Wort zu glauben, das Gedicht ist nichts als ein poetischer Klingklang.
Schiller ist dem edlen Trieb des Ruhms stets treu geblieben, er hat der Wahrheit
nachgerungen bis an sein Lebensende; andere Ideale, die er hier gar nicht
nennt, z. B. die künstlerische Schönheit waren die Glut seines Lebens, und
wenn er in den „Idealen" klagt: „allzuschnell nach kurzem Lenze entfloh die
schöne Liebeszeit" — grade vier Jahre, nachdem er aufs glücklichste, verhn-
rathet war —, so wußte die Hofräthin Schiller sehr wohl, wie dergleichen
Declamationen zu nehmen seien; sie ließ sich auch durch das spätere „mit dein
Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei!" nicht irren. Wenn
wir Schillers Briefe vor seiner Hochzeit mit dem vergleichen, was wir über
sein späteres Leben wissen, so finden wir, daß er die wahre Liebe erst in der
Ehe kennen lernte.
Und dies ist der Punkt, der uns aus ein neues seltsames Mißverständnis
führt. Man pflegt Goethe eiuen objectiven, Schiller einen subjectiven Schrift¬
steller zu nennen, während doch das Gegentheil evident ist. Es gibt keinen
subjcctivern Schriftsteller als Goethe — dieses Wort in gutem Sinn ge¬
nommen; und es gibt keinen Dichter, der so wenig subjectiv wäre als Schiller.
Die Subjektivste Form der Dichtkunst ist die Lyrik, das subjectivste Gefühl des
Menschen ist die Liebe, in der eigentlichen Lyrik aber, das Didaktische und
die Ballade bei Seite gesetzt, ist Schiller immer nur ein Dichter dritten Ranges,
und die Liebe hat er nie zu schildern vermocht. Und nun halte man dagegen
den wunderbaren Zauber, mit dem Goethe die süßen Geheimnisse der Liebe
aus der innersten Tiefe des Herzens herauszulocken versteht. Seine Gedichte
von der frühesten Jugend bis zum Greisenalter, bis zur Trilogie der Leiden¬
schaft sind von jenem unnennbaren Liebreiz durchhaucht, der nur aus einer
vollen Seele zu erklären ist. Es ist aber nicht blos die Liebe, alles was ins
Gebiet der Träumerei fällt, findet bei ihm das mächtigste, das hinreißendste
Wort; von den kleinen Mondschein- und Wellenliedern an bis zu dem Herz-
durchbebenden Angstruf des Faust, überall ist es das überströmende Gefühl,
das den Hörer mit sich fortreißt; nicht die Gestaltung, nicht die Charakteristik,
nicht die künstlerische Ordnung, die im Gegentheil in seinen besten Werken
sehr viel zu wünschen übrigläßt. Wo findet sich in Schillers lyrischen Ge¬
dichten auch nur ein Ton, der sich mit diesen seelenvollen Accorden vergleichen
ließe? Aber auch wo wir ins Drama übergehn und eine verwandte Auf¬
gabe vergleichen, haben wir dasselbe Resultat. sowol Iphigenie alsThekla be¬
handeln das Problem, wie ein jungfräuliches reines Gemüth sich in den
Collisionsfällen der Wirklichkeit verhält, die mit heimtückischer Schlinge das
Gewissen wie das Rechtsgefühl umstricken. Aber in der Iphigenie ist alles
innerlichst empfunden, in der Thekla alles ausgeklügelt. Und wenn diese
Zeugnisse noch nicht genügen, so vergleiche man die Jugendbriefe der beiden
Dichter, in denen eine Herzensangelegenheit behandelt wird: man wird er¬
kennen, daß von Subjectivität im guten Sinn nur bei Goethe und nicht
bei Schiller die Rede sein kann.
Darum ist es eine schreiende Ungerechtigkeit gegen Schiller, wenn man
ihn im Gegensatz zu Goethe als. einen subjectiven Dichter bezeichnet. Was
bei ihm blos subjectiv, blos idealistisch ist, ist schlecht oder wenigstens unvoll¬
kommen. 'Man will damit auch immer einen Tadel aussprechen, man ver-
steht darunter so viel wie unreif, unfertig, unschön, und glaubt dann wol gar
den Dichter zu ehren, wenn man hinzusetzt, in den schlechten Versen zeige sich
ein edles Gemüth! Schillers Größe liegt, wie wir gezeigt haben, aus einem
ganz anderen Felde.
Man nehme einen Versuch zur Hand, den er selber als eine bloße Farce
bezeichnet und den man infolge dieser Erklärung viel zu gering anschlägt:
den Geisterseher. Ob die Geschichte eine tiefere Bedeutung hat, wollen
wir dahingestellt sein lassen, wir wollen auch die Spielereien im Geschmack
Eagliostros nicht in Schutz nehmen, obgleich man dabei die veränderte Rich¬
tung der Zeit in Anschlag bringen muß: aber läßt sich eine vortrefflichere
Form der Erzählung denken? Goethe entwickelt in kleinen Bildern eine plastische
Kunst, der nichts an die Seite zu stellen ist; was aber die großen Umrisse der
Erzählung betrifft, so nehmen wir^ keinen Anstand, nach diesem bloßen Torso
des Geistersehers Schiller den Vorzug vor dem Dichter des Wilhelm Meister
zuzuerkennen. Ueber ein solches Urtheil würde niemand so verwundert sein,
als Schiller selbst; aber kein Dichter hat sein Talent so oft verkannt als
Schiller, vielleicht weil er zu sehr über sich selbst reflectirte. Seinen historischen
Schriften ist viel Schlimmes nachgesagt, und die Gründlichkeit seines Quellen-
studiums ist in der That nicht als Vorbild zu empfehlen, aber auch hier zeigt
sich jener wunderbare Sinn für das Wesentliche und Bedeutende in den That¬
sachen, der Schiller in seinen historischen Dramen zu einem so vorwiegend
objectiven und realistischen Dichter macht.
Goethe zeigt bereits in frühester Jugend jene Neigung zur Symbolik, die
sich in den Werken seines Alters, eigentlich schon von der natürlichen Tochter
an, immer rücksichtsloser ausspricht, die, statt die Dinge objectiv und realistisch
zu geben, auf subjectiv - idealistische Ergänzungen rechnet; eine Symbolik, die
nicht selten in Mystification ausläuft. Wo er vorwiegend Gefühlsdichter ist,
wo er nur aus dem Reichthum seiner Seele zu schöpfen hat, wie im Werther,
läßt er der Natur freien Laus; wenn es aber Gestalten gilt (einzelne glänzende
Ausnahmen, wie Hermann und Dorothea abgerechnet) verflüchtigen sich diese
leicht in Träger höherer Ideen. Die Pandora und der zweite Theil des Faust
sind doch für sein Schaffen charakteristisch. Darum war er zuerst ein Dichter
der geistigen Aristokratie, und seine Werke wurden eher mit Commentaren
versehen, ehe sie bei der Menge Eingang fanden. Noch einmal: die Aus¬
nahmen sind uns sehr wohl bekannt, man darf überhaupt eine große concrete
Erscheinung nicht unter ein fertiges Register bringen wollen, aber es kam uns
hier darauf an, eine bestimmte Seite hervorzuheben, die man bisher zu wenig
beachtet hat.
Wie sich bei Goethe ein unendlich größerer Reichthum der Empfindung
zeigt, so scheint uns auch der Schatz seiner Ideen an Umfang und an Tiefe
bedeutend zu überwiegen. Wenn man in Schiller mehr den Philosophen sucht
als in Goethe, so liegt das in der eigenthümlichen Methode wie beide ar¬
beiteten. Schiller war es unerträglich, etwas Dunkles in seinem Geist zu lassen;
sobald ihn der philosophische Zweifel einmal erfaßt hatte, kämpfte er ihn mit
seiner eisernen Willenskraft durch, bis er zum Abschluß kam. Er hat Jahre¬
lang in der kritischen Philosophie gearbeitet, und es sind eine Reihe bedeu¬
tender Schriften daraus hervorgegangen^ die selbst dem Altmeister in Königsberg
Beifall abgewannen; aber vergleichen wir den Gehalt speculativer Ideen, die
sich adh Resultat auswiesen Schriften ergeben, mit dem. was Goethe in seine
sämmtlichen Werke und auch in seine Briefe verstreut hat. so erscheint uns
Goethe als ein speculativerer Kopf. Freilich hat er seine Ansichten nicht mit
der peinlichen Anstrengung seines Freundes, nicht mit dialektischen Scharfsinn
ausgesponnen z sie kamen ihm von selbst, entweder unmittelbar aus dem Ge¬
müth oder aus der ruhigen Betrachtung der Dinge: aber die Zeit ist vorüber,
wo man Philosophie mit Systcmmacherei verwechselte.
Der große Gegensatz zwischen den beiden Dichtern lag vielmehr, wie wir
schon bei einer frühern Gelegenheit ausgeführt haben, darin, daß Goethe bei
seiner glücklicher und gesunder angelegten Natur die Eingebungen von selber
kamen, daß er sie mit der größten Bequemlichkeit gewähren ließ und durch
den Willen so wenig wie irgend möglich hinzuthat; während Schiller einer
widerstrebenden Natur durch gewaltige Willenskraft alles abringen mußte.
Schillers Entwickelung schreitet daher von Stufe zu Stufe regelmäßig zu immer
schönerer Entfaltung fort, nicht blos als Dichter, sondern als Mensch. In
Goethes Leben, wenn wir diesen Gesichtspunkt festhalten, ist keine innere
Nothwendigkeit; viel reicher und blütenvoller als das seines hartgeprüften
Freundes, rankte es sich doch wie ein üppiges Schlinggewächs um jenen selt¬
sam gewundenen Stamm, den er als sein Dämonisches bezeichnete, während
der Baum von Schillers Leben durch hartes, sprödes Erdreich, durch Hinder¬
nisse aller Art grade auf zum Himmel strebt.
Es wird dem deutschen Volk sehr heilsam sein, den Dichter aus unmittel¬
barer Anschauung, nicht durch den Nebel herkömmlicher Reflexionen kennen zu
lernen. Die angeführten Bücher gewähren dazu ein werthvolles Material.
Das Buch von Hoffmeister ist ein Auszug aus seinem größeren Werk,
theils von ihm selbst, theils von seinem Freunde Viehof bearbeitet. Die
ästhetischen Commentare sind auf einen möglichst kleinen Raum eingeschränkt,
daher tritt das Biographische deutlicher hervor und man gewinnt ein freilich
nicht detaillirtes. aber in seinen großen Umrissen vollkommen kenntliches Bild.
Wir stehen nicht an, das Buch mit Rücksicht aus seinen populären Zweck als
ein musterhaftes zu bezeichnen. Die Erzählung ist klar und übersichtlich, das
Urtheil leidenschaftslos und doch warm, man lernt den Dichter lieben und
ehren, ohne seine Schwächen Zu verkennen.
Schillers Briefe zeichnen sich durch eine Aufrichtigkeit aus, der wir nicht
viel in dieser Literatur an die Seite zu setzen hab«n. sie malen uns deutlicher
als irgend eins seiner poetischen Werke diese starke Willenskraft, für die es
keine Unmöglichkeit gibt, dies unablässige Ringen, das auch da Bewunderung
abnöthigt, wo es in entschiedene Fehlgriffe verfällt. Es ist in diesen Briefen
eine ganz andere Wahrheit als in Rousseaus Bekenntnissen, der doch ein
Ideal ausmalt, wenn auch ein verkehrtes. Da diese Briefe. abgesehW von
den großen Massen der Korrespondenz mit Humboldt, Körner und Goethe in
verschiedene Sammlungen verzettelt sind, so lag der Wunsch nahe, sie in einer
einzigen chronologisch geordneten vereinigt zu sehen. Die vorliegende Samm¬
lung gibt nur die Briefe Schillers: eine Beschränkung, die wahrscheinlich durch
juristische Bedenken geboten war. Der Sammler Hütte übrigens die neue
Ausgabe der Goethescher Correspondenz sorgfältiger benutzen sollen.
Das neue Heft von Koberst ein behandelt die wichtige Periode von
1794 bis etwa 1802 mit der umfassenden Gründlichkeit und Objectivität, die
diesen Gelehrten so sehr auszeichnet. Möchte er uns recht bald mit einer
Fortsetzung erfreuen. Die beiden andern kleinen Schriften sind geistvolle Com-
mentare zu einzelnen Phasen in Schillers Entwickelung.
Das gebildete Publicum Deutschlands, welches die geistigen Regungen
im Ausland mit Aufmerksamkeit zu verfolgen gewöhnt ist, hört sicher auch
mit Interesse die Nachrichten, welche hier und da die öffentlichen Blätter über
die Zustände der Protestanten in Oestreich, und speciell in Ungarn bringen,
in welcher Provinz des östreichischen Staates die größere Freiheit, deren sich
die evangelische Kirche daselbst zu erfreuen hatte, und die Beschränkungen, de-
nen dieselbe in der letzten Zeit unterworfen wurde, die allgemeine Theilnahme
im erhöhten Maß in Anspruch nehmen. Seit Jahren wiederholt sich von
Zeit zu Zeit in den officiellen und inspirirter Blättern die Notiz, daß den
nach Wien gesandten Deputationen der ungarischen Protestanten eine baldige
Aufhebung des Provisoriums, in welchem sich die Zustände der Kirche seit
dem Jahr 1850 befinden, und eine definitive Regelung ihrer kirchlichen An-
Gelegenheiten in Aussicht gestellt, ja förmlich versprochen worden sei. Von
Erfüllung dieser Versprechungen haben sie nichts melden tonnen. Der Bela¬
gerungszustand hat in Ungarn längst aufgehört; alle Verhältnisse sind durch
Gesetze, Verordnungen. Patente und Vorschriften mehr oder minder geregelt,
die katholische Kirche selbst ist durch das Concordat von dem Einfluß des
Staates beinahe vollständig emancipirt; nur die protestantische Kirche erhält
den Vollgenuß ihrer gesetzmäßigen, von der Regierung selbst anerkannten Rechte
nicht wieder. Sie wird zwar nicht verfolgt, noch greift die Regierung die
Religionsfreiheit und die Kirchenverfassung der Protestanten im Princip an,
aber sie zögert seit Jahren, ohne es durch einen staatsrechtlichen Grund zu
motiviren, trotz den Versicherungen, die bei mehren Gelegenheiten aus die
entschiedenste Weise gegeben wurden, den gesetzlichen Zustand der Kirche her¬
zustellen und ihr ihre provisorisch beschränkten Rechte wiederzugeben.
Ob diese noch immer fortdauernde Beschränkung der kirchlichen Freiheit
der Evangelischen Ungarns ihre Ursache in dem Einfluß des Geistes habe, der
das Concordat schuf, oder ob der Grund hiervon in der Neigung der gegen¬
wärtigen Politik Oestreichs zu suchen sei, der die freie Bewegung selbst auf
dem kirchlichen Gebiet acht angenehm ist, — müssen wir dahingestellt sein
lassen. Genug, daß die Klagen der Protestanten Ungarns, mit denen sie sich
unermüdet dem Throne nahen, begründet sind.
Ungarns gegenwärtige und noch mehr seine vergangenen religiösen Zu¬
stände sind so wenig bekannt, daß es denen, die an den Verhältnissen der
protestantischen Kirche in Ungarn Antheil nehmen, nicht unerwünscht sein wird,
diese Frage vom historischen und rechtlichen Standpunkt etwas näher kennen
zu lernen.
Die Evangelischen beider Bekenntnisse, die Protestanten augsburger Kon¬
fession und die Reformirten, haben sich in Ungarn des Besitzes einer freien
Kirchenverfassung zu erfreuen gehabt, wie die Kirche keines anderen Landes,
die schottisch-presbyterianische ausgenommen, eine gleiche auszuweisen vermag.
Sie war ganz dem Geist der ersten christlichen Gemeinden entsprechend, und
im Sinn der Municipalverfassung eines rohen, aber dennoch unschätzbaren
Selfgoverttements, in dessen Genuß sich Ungarn Jahrhunderte lang bis zu
dem Jahr 1848 befand, und um das es alle Nationen Europas beneidet
haben würden, wenn sie es dem Wesen nach, nicht blos in seinen Mißbräuchen
gekannt hätten. Die Protestanten hatten diese freie Kirchenverfassung nicht
als freiwilliges Geschenk eines Fürsten erhalten, sie mußten sich Religions¬
duldung erst durch lauge Kämpfe erringen, erhielten nach vielen Leiden und
Drangsalen die Erlaubniß zur Erbauung von Kirchen und Schulen, und unter
diesen Umständen entwickelte sich das freie Gemeindeleben der Protestanten,
aus dessen Grundzüge wir später noch zurückkommen.
Die Reformation fand schon in ihren Anfängen in allen Theilen Ungarns
zahlreiche Anhänger unter allen Ständen, am zahlreichsten im Adel und unter
den magyarischen Bauern. Während der Regierung der ersten Könige des
Habsburgischen Hauses. Ferdinand I. (1527 — 1564) und Maximilian I. (als
deutscher Kaiser der II.) 1564—1576, konnte sich der neue Glaube wenig
angefochten ausbreiten; theilweise dürfen diese Fürsten als duldsamere bezeichnet
werden, theilweise waren sie durch die türkischen Kriege und einheimische
Händel viel zu sehr beschäftigt, um mit Gewalt gegen die Kirche Luthers und
Calvins aufzutreten und friedliche, dein königlichen Hause treue Unterthanen
durch Verfolgung zur Gegenpartei zu treiben. In den den Türken unter¬
worfenen Theilen Ungarns hatten die Protestanten wegen ihrer Religion nie
Unterdrückungen zu erfahren. Unter Rudolph I. (II.) 1577 — 1K08 nahmen
die religiösen Verfolgungen, im Verein mit Eingriffen in die constitutionellen
Rechte des Landes ihren Anfang, machten dieses und das folgende Jahr¬
hundert zu der traurigsten Epoche Ungarns, führten zu zahlreichen Aufständen,
zur Verwüstung des Landes, und diesen Wirren hat es Ungarn zum Theil zu
danken, daß es in jeder Beziehung um mehr als ein Jahrhundert zurückblieb.
Fortwährende Kämpfe verwüsteten das Land und brachten es dem vollständigen
Ruin nahe: die Hälfte desselben befand sich in den Händen der Türken; der
östliche Theil gerieth in den Besitz der Fürsten Siebenbürgens oder in den ein¬
heimischer Großen, die im offenen Aufstand für Gewissensfreiheit und die
Privilegien mit den legitimen Königen Kriege führten, Frieden schlossen und
von ihnen zeitweise selbst in dem unabhängigen Besitz des halben Landes
anerkannt werden mußten. Solche Männer, die in dieser Periode der Ge¬
schichte Ungarns eine hervorragende Rolle spielten, sind Botskay, Gabor
Bethlen, die Rakoczys. Tököli.
Gegen das Ende der unruhigen Regierung Rudolphs wurde zwischen
diesem und dem siebenbürgischen Fürsten Botskay am 23. Juni 16V6 der
wiener Friede geschlossen, der die Abschaffung aller Verfolgungsgesetze,
freie und ungestörte Ausübung der Religion für alle Stande, Gleichberech¬
tigung des protestantischen Bekenntnisses in Verleihung aller Aemter und die
Genehmigung der Kirchenverfassung aussprach, die von den Protestanten an¬
genommen worden war, und welche dieselbe ist, die im Wesentlichen auch
jetzt noch besteht. Die sogenannten Antecoronationalartikel des Landtags von
1608, aus dem Mathias II. (I.) nach Abdankung Rudolphs sich krönen ließ,
enthielten eine klarere Redaction des wiener Friedens, und bilden mit diesem
das erste Fundamentalgesetz sür die Protestanten Ungarns, auf das man sich
in späteren Friedensschlüssen, Landtagsverhandlungen und Verordnungen stets
berief.
Schon unter Mathias nahm der Einfluß der bigotten Partei zu, und
obwol die Protestanten in dieser Zeit nahezu die größere Mehrzahl der Be¬
völkerung ausmachten und unter den Ständen selbst zahlreich vertreten waren,
so stieß die ausgesprochene freie Ausübung der Religion doch überall auf
Hindernisse, und es wurde, was zu den meisten Streitigkeiten Anlaß gab,
dieses durch das Gesetz gewährte Recht von der katholischen Partei so aus¬
gelegt, daß damit eine Religionsübung ohne Kirchen gemeint sei. Aus diesem
Grunde gestatteten katholische Grundherren den Bau protestantischer Gottes¬
häuser nicht, und diese Verdrehung eines klaren Gesetzartikels gab wieder zu
jalirelangen blutigen Kämpfen Veranlassung. Den Beschwerden der Prote¬
stanten gerecht zu werden, weigerte sich Ferdinand II. noch mehr, trotz seiner
Bedrängnisse im Anfang des dreißigjährigen Krieges; dies führte zur Ein¬
mischung Bethlens, Fürsten von Siebenbürgen, der 1620 bis in die Nähe
Wiens rückte, und am 31. Decbr. 1621 mit Ferdinand den Frieden von
Nikölsburg abschloß, der, mehr für die Interessen Bethlens sorgend, blos
eine Bestätigung der Antecoronationalartikel enthielt.
Eine fernere Schilderung der ungarischen Religionswirreu im Einzelnen
würde zu weit führen; Ferdinand II. Haß gegen die Ketzer ist aus der Ge¬
schichte zu bekannt, als daß von ihm eine aufrichtige Befolgung der'Religions¬
gesetze vermuthet werden könnte. Aus jedem Landtag ertönten die bittern
Klagen der Protestanten, die auf gesetzliche Abhilfe drangen, welche aber vom
Hof und den katholischen Ständen verweigert wurde. Nicht minder herrschend
blieben die der Religionsfreiheit feindlichen Einflüsse unter Ferdinand III.,
und gegen diese erhob sich 1644 Nakoczy, Fürst von Siebenbürgen, von den
Ungarn angerufen, die Freiheit der protestantischen Kirche zu schützen. Es ist
hier nicht der Ort zu untersuchen, inwiefern diese häusigen Aufstände des
Landes politisch zu rechtfertigen wären; einen großen Antheil hatte dabei auch
der persönliche Ehrgeiz, der in den anarchischen Zuständen Nahrung fand;
doch muß auch der Freund der Habsburgischen Dynastie zugeben, daß an die¬
sen Aufständen die Regierungsweise eines von Jesuiten beherrschten Hofes, die
zahlreichen Eingriffe in die Constitutwn des Landes, und die offen an den
Tag gelegte Unduldsamkeit in einem Lande, welches damals seinen Thron
durch sreie Wahl vergab, einen sehr großen Theil der Schuld trugen. — Am
16. Sept. 1645 ward zwischen Ferdinand III. und Rakoczy, der vor Brünn
stand, der Religion«friede von Linz abgeschlossen, der in seinem oft ge--
nannten ersten Artikel die freie Religionsübung allen Ständen, Städten. Fle¬
cken, Besatzungen und auch den Bauern auf allen Gütern, mit Kirchen. Glo¬
cken und Begräbnis; zusagte. Die fünfzehn Artikel des Landtags 1647 erhoben
den linzer Frieden zum Landesgesetz, ergänzten ihn in einigen Hinsichten und
ordneten weitere streitige Punkte. Diese Artikel, im Verein mit dem liuzer
Neligionssrieden bilden das zweite Fundnmentalgcsetz der Protestanten.
Unter den unruhevollen Zuständen der damaligen Zeit kam es auch trotz
dieses Friedens zu keiner vollständigen Toleranz; Religionsstörungen fanden
nicht selten statt; die factische Ausübung der durch das Gesetz gewährleisteten
Religionsfreiheit stieß häusig auf Widerstand. Die Negierung Leopolds I.
(1657—1705) war für die Protestanten, wie für Ungarn überhaupt eine trau¬
rige Epoche. Leopold, von jesuitischen Rathgebern geleitet, ließ die Prote¬
stanten offen verfolgen, sie wegen ihrer Religion schon im vorhinein als
Rebellen betrachtend. Es kam aus diesen und aus politischen Ursachen zu
blutigen Bürgerkriegen; die Neichstagsartikel des Jahres 1681 enthielten wol
bezüglich der Herstellung der Nationalfreiheiten und in Religionssachen Zu¬
geständnisse, im Jahr 1687 erfolgte aber das Blutgericht des Carasfa in
Eperies, und ein ähnlicher Geist weht auch durch den Rest der langen Re-
gierungszeit Leopolds. Joseph I. folgte einem milderen System, und wünschte
aufrichtig die Pacisication des Landes; der von seinem Vater übernommene
Krieg mit Rakoczy jedoch dauerte auch in den ersten Jahren seiner Regierung
fort. 1705 nahmen die Seemächte an den Unterhandlungen zwischen Rakoczy
und dem kaiserlichen Hof Theil, denn ihre Garantie wurde von den Insur¬
genten verlangt. Die traurige Periode der Religionsverfolgungen und Auf¬
stände erreichte erst mit dem szathmarer Frieden 1711 ein Ende.
Unter Karl III. (VI.) und Maria Theresia genossen die Protestanten in
Ungarn wol des gesetzlichen Schutzes ihrer Religion, es galt dies jedoch nicht
als Recht, sondern als Ausfluß kaiserlicher Gnade. Ohne groben Verfol¬
gungen ausgesetzt zu sein, die ejn Rescript Karl III. vom Jahr 1723 auf
das strengste verbot, waren sie in der Religionsübung bedrückt, lästigen Be¬
schränkungen unterworfen, höchstens im Bestehen geduldet; an eine Ausbreitung
war nicht zu denken, neue Gotteshäuser zu bauen gestattete der Hof sehr sel¬
ten; nur wenige in den Gesetzen namentlich angeführte Kirchen waren be¬
willigt: in diesem Sinn fand die Auslegung des Wortes Religionsfreiheit
statt. Zweifelhafte Fälle erhielten ihre Entscheidung durch sogenannte Inti¬
mste der ungarischen Hofkammer zu Wien oder Seiner Majestät selbst, die
zuweilen in humanen Sinn abgefaßt, häusiger aber von strengkatholischen
Grundsätzen eingegeben waren.
- Das Tvlercmzcdict Kaiser Joseph II. besserte die Lage der Protestanten
-auch in Ungarn, doch blieb es in seinen Folgen mehr für die deutschen
Provinzen der Monarchie wirksam, für die es Staatsgesetz wurde, während
die Ungarn den Gesetzen Josephs nach seinem Tod als ungesetzmäßig, weil
nicht auf constitutionelle Art, unter Mitwirkung der beiden Häuser des Land¬
tags gegeben, die Anerkennung versagten. Viele seiner Reformen und Ein¬
führungen schaffte das Land wieder ab, die durch das Toleranzedict verlie¬
hene Glaubensfreiheit aber nahm der Landtag von 1790/1 für Ungarn im
Sinn der alten schon mehrmals genannten Gesetze noch vollständiger an,
und im 26. Artikel des Jahres 1791 wurde aus Grundlage des wiener und
linzer Friedens, und unter Bestätigung der in diesen Verträgen enthaltenen
Rechte und Freiheiten, der Grundsatz der vollständigen Freiheit in Ausübung
der Religion und in dem Regiment der protestantischen Kirche zur Gesetzes¬
kraft erhoben.
Da auf diesem Gesetzartikel die Rechte der Protestanten beruhen und
derselbe in neuerer Zeit selbst von Seiten der Negierung häufig angeführt
wird, so dürfte es vielleicht passend sein, hier seine wesentlichsten Bestimmun¬
gen im Auszug wiederzugeben. Diese sind: die Ausübung der protestantischen
Religion soll überall vollständig frei und öffentlich sein, und weder durch Sr.
Majestät, uoch durch deren Räthe, noch durch die Grundherrn beirrt weiden
dürfen. Der Bau neuer Kirchen ist anstandslos gestattet, eine Konfession ist
nicht verpflichtet, beim Bau der Kirchen und Schulen den andern zu helfen,
noch dürfen die Protestanten zu irgend welchen Beiträgen für katholische
Zwecke angehalten werden. Der oft citirte §. 4 stellt fest, daß die Evan¬
gelischen beider Bekenntnisse in Religionssachen nur von ihren verfassungs¬
mäßigen Kirchenbehörden abhängig sein sollen, indem der Krone das Recht
vorbehalten bleibt, jene Ordnungen zu bestätigen, welche bezüglich der Consti-
tuirung dieser Obrigkeiten und der übrigen Theile der Kirchendisciplin in
gemeinschaftlicher Berathung der weltlichen und geistlichen Glieder der Kirche
festgesetzt wurden. Kirchliche Gesetze, die in Religionssachen gegeben worden
sind, oder in der Folge gegeben werden, können weder durch Regierungs¬
erlasse, noch durch königliche Verordnungen eine Aenderung erleiden. Die
Evangelischen A. C. dürfen, nach vorläufiger Bekanntgabe ihrer Absicht und
des Gegenstandes ihrer Berathung, in Gegenwart eines königlichen Commis-
sars, der weder auf das Präsidium, noch auf die Leitung der Versammlung
Anspruch hat, frei eine Synode halten; die auf derselben gegebenen Gesetze
und Kirchenordnungen besitzen nach erhaltener königlicher Bestätigung bindende
Kraft, ohne Beschränkung des höchsten königlichen Ueberwachungsrechtes. —
Andere Paragraphen garantiren das freie Dispositionsrecht der Protestanten
mit ihren Schulen; bei Uebertritten ist die Bewilligung Sr. Majestät einzu¬
holen. Endlich ist noch die Bestimmung zu erwähnen, daß bei gemischten
Ehen, wenn der Vater katholisch wäre, alle Kinder der katholischen Religion,
wenn nur die Mutter katholisch sein sollte, die Söhne der protestantischen, die
Töchter der katholischen Religion angehören sollen.
Unter dem Schutz dieses Gesetzes, welches der Gesetzgebung Ungarns zur
Ehre gereicht, erfreuten sich die Protestanten in einem katholischen Staat einer
nahezu vollkommenen Gleichberechtigung mit den Katholiken. Das Einzige,
worüber sich hier und da Klagen vernehmen ließen, war, daß bei Besetzung
der Stellen, deren Ernennungsrecht den? Hofe zustand, Katholiken vor Prote¬
stanten den Vorzug erhielten, und bei Uebertritten die nöthige königliche Ge¬
nehmigung schwer ertheilt wurde; doch war sonst der Zustand der Protestanten
ein zufriedenstellender sie gründeten zahlreiche Kirchen und Schulen, unter¬
hielten sie aus ihren eignen Mitteln, und es gediehen diese und wurden bald
die vorzüglichsten Lehranstalten des Landes. Die Regierung legte keine Hemm¬
nisse in den Weg. die höhere Bildung durften sich die Protestanten auf den
ausländischen, namentlich deutschen Universitäten aneignen, wo noch jetzt aus
der Zeit des 17. Jahrhunderts zahlreiche Stiftungen existiren. Der Landtag
1843/4 traf im Anhang zum Gesetz des Jahres 1791 noch einige liberale
Bestimmungen, denen zufolge gemischte Ehen auch vor einem protestantischen
Geistlichen geschlossen werden dursten und bei dem Uebertritt zur protestan¬
tischen Religion Erleichterungen in das Leben traten. Die Bewegung aus
kirchlichem Gebiet geschah vollkommen frei; die Kirchenverfassung ward aus
Synoden geregelt, und durch ihre Institutionen gepflegt, nahm das geistige
Leben der Protestanten einen gedeihlichen Fortgang.
Die Grundzüge dieser Kirchenverfassung. so wie sie sich bei der ersten
Ausbreitung des Protestantismus entwickelte, durch mehre hundert Jahre er¬
hielt und endlich durch Gesetze und Bestimmungen der Synoden seit 1791
organisirt wurde, sind in kurzem folgende, wobei wir vorausschicken, daß die
Reformirten eine nahezu ganz gleiche, nur in einigen unbedeutenderen Theilen
von der der Evangelischen A. C. abweichende Kirchenverfassung besitzen, welche
letztere wir hier zu skizziren versuchen.
Mitglied der protestantischen Gemeinde ist jeder in dem Ort ansässige
Protestant, jede Muttergemeinde hat einen Geistlichen, einen Lehrer, je nach
der Größe der Gemeinde und des Grades der Schule auch mehre eine Kirche,
ein Schulhaus, und besitzt meist auch eignes Vermögen. Geistliche und Lehrer
werden von der Gemeinde, aus den Capitalien der Kirche oder Schule und
durch freiwillige Beiträge erhalten, auch von der Gemeinde gewählt, welche
sich in allem selbst regiert. Das Interesse der Gemeinde wahrt der Kirchen-
inspector. das Vermögen verwaltet der ebenfalls weltliche Curator, Angelegen¬
heiten, welche die ganze Gemeinde betreffen, werden in Versammlungen aller
Gemeindemitglieder. Localconvcnten, erledigt. Ein Kirchenrath, aus den an¬
gesehensten Gemeindemitgliedern zusammengesetzt, auch Presbyterium genannt,
vertritt als Ausschuß den Convent in Angelegenheiten von geringerem Be¬
lang. — Mehre Gemeinden bilden ein Seniorat, in welchem der geistliche
Senior und der weltliche Senioratinspector, beide von den Gemeinden des
Seniorats erwählt, Kirche und Schule überwachen. Auf dem Senioratscon-
vent, der in den das ganze Seniorat betreffenden Angelegenheiten entscheidet,
hat nebst dem Geistlichen und Inspector auch jedes Gemeindeglied das Recht
zu erscheinen und zu sprechen; dasselbe gilt auch für die übrigen Convente
und selbst bei den Synoden; bei der Abstimmung haben nur die delegirten
gesetzlichen Vertreter eine Stimme, wahrend die berathende Stimme im Sinn
der Kirchenverfassung jedem Protestanten zusteht. Ein Ausschuß des Seniorat-
convents, das Senioratconsistorium, übt die geistliche Gerichtsbarkeit in erster
Instanz. — Aus mehren Senioraten ist der District oder die Superintcndenz
zusammengesetzt, und es gibt deren in Ungarn vier reformirte und vier prote¬
stantische, und zwar diesseit und jenseit der Theiß, diesseit und jenseit der
Donau. Die nächste und zugleich die höchste geistliche Behörde der Kirche ist
der Superintendent, ihm zur Seite steht der Districtualinspector, beide aus
der Wahl der Gemeinden hervorgegangen; ihre Befugnisse sind die oberste
Aufsicht über Kirchen und Schulen im District, die Ueverwachung der Kirchen-
zucht, die Prüfung der für den geistlichen Stand ausgebildeten Männer
(Candidaten) und deren Einführung in das Amt. Der Districtualconvent, den
die Seniorate mit stimmfähigen Deputaten beschicken, leitet die geistlichen und
Schulangclegenheiten des Districts; die zweite Instanz der geistlichen Gerichts¬
barkeit bildet das Superintendcntialconsistorium. — Für die protestantische
Kirche des ganzen Landes wird ein Generalinspcctor gewählt, der Hüter und
Vertheidiger der Kirche sein soll. Interessen, welche die Landeskirche betreffen,
dann Angelegenheiten der inneren Organisation der Kirche werden auf den
Generalconventen abgehandelt, während auf der Synode endlich, die von den
Districten mit Deputirten beschickt wird, und in der die Superintendenten nebst
den Districtualinspectoren Sitz haben, im Sinn des Gesetzes von 1791 der
Zeit angemessene neue Kirchengesetze gebracht werden können, die Kirchen-
verfassung geändert werden darf, und über Glaubensartikel, die Lithurgie
u. s. f. entschieden wird.
Die Revolution des Jahres 1848 berührte den Zustand der protestanti¬
schen Kirche nicht. stach Unterdrückung des Aufstandes erschien es der östrei¬
chischen Regierung nothwendig, bis zur vollständigen Pacisicirung des Landes
die Kirchenverfassung der Protestanten in Mehrem zu restringiren; die Ver¬
ordnung des damaligen Armeecommandanten F. Z. M. Haynau vom
10. Februar 1850 suspendirte für die Dauer des Belagerungszustandes das Recht
der freien Berathung gänzlich, setzte die Functionen der weltlichen Jnspectoren
außer Wirksamkeit, und ersetzte die aus freier Wahl hervorgegangenen Super¬
intendenten der Evangelischen A. C. durch von der Regierung zu Ad¬
ministratoren ernannte Geistliche, während die Superintendenten der Refor-
mirten sonderbarerweise belassen wurden. Der Grund hiervon mochte gewesen
sein, daß die Reformirten in den unteren magyarischen Comitaten sehr zahl¬
reich vertreten sind, und die Regierung diese unter den damaligen Umständen
noch mehr aufzuregen vermeiden wollte. Nach vier Jahren hörte der Bela-
gerungszustnnd in Ungarn auf, und es erschien die bis nun Giltigkeit besitzende
Verordnung des k. k. Ministeriums für Cultus und Unterricht vom 3. Juli
1854, durch welche der oben erwähnte Haynausche Erlaß außer Kraft gesetzt
wird, und infolge Allerhöchster Entschließung vom 21. Juni 1854, bis zu
der definitiven Regelung der kirchlichen Angelegenheiten der Evangelischen beider
Bekenntnisse, welche nach Maßgabe des §. 4 im 20. Gesetzartikel vom Jahr
1791 zu erfolgen hat, folgende Bestimmungen in Wirksamkeit zu treten haben:
„Presbyterien dürfen sich ohne weiteres versammeln; große Local-, dann Se-
niorats- und Districtualconvente können nur, auf Einschreiten der geistlichen
Behörde bei den politischen, in Gegenwart eines landesfürstlichen Commissärs
abgehalten werden, welch letzterer darüber zu wachen hat, daß die Verhand¬
lung sich cmfdas kirchliche Gebiet beschränke; Gener alconvente sind nicht
bewilligt; der Generalinspcctor und die Districtualinspectoren
bleiben suspendirt; bis zu der definitiven Feststellung der Modalität der
Superintcndentenwahl fungiren die bestehenden Administratoren fort. Bei der
Wahl eines Pfarrers oder Lehrers ist der politischen Behörde von der Ge¬
meinde die Anzeige hierüber zu erstatten, und es hat erstere die politische Un¬
bescholtenheit der gewählten Person zu prüfen." Endlich sollten die Evange¬
lischen, wie K. 11 dieser Verordnung sagte, nach Maßgabe des §. 4 im 20.
Artikel von 1791 zum Zweck der definitiven Allerhöchsten Entscheidung über ihre
kirchlichen Angelegenheiten noch im Laus des Jahres 1854 gehört werden.
Dies ist die gegenwärtig für die protestantische Kirche in Ungarn ma߬
gebende Direction; wie sehr durch das Provisorium, welches ohne sichtliche
Nothwendigkeit Jahre lang aus den Zuständen der Protestanten lastet, die freie
Bewegung im Gebiet der Kirche beschränkt wird, geht aus der Betrachtung
der auszugsweise hier wiedergegebenen Bestimmungen der letzten kaiserlichen
Verfügung klar hervor. Der weltliche Einfluß auf die Leitung der kirchlichen
Angelegenheiten, der stets fördernd und gemeinnützig wirkte, ist nahezu annullirt;
die sreie Discussion ist zwar nicht gänzlich gehemmt, ihr aber eine Fessel an¬
gelegt; die höchste geistliche Würde des Superintendenten ist einem von der
Negierung abhängigen, gleich einem Beamten besoldeten Administrator ver¬
liehen, der von der Kirche als ihr gesetzmäßiges Haupt nicht anerkannt und
von dem deshalb auch die Weihe der protestantischen Geistlichen nicht vollzogen
werden kann.
Von dem beschränkten Recht, das die Verordnung vom Jahr -1854 ver¬
lieh, Gebrauch machend, hielten die Protestanten mehre Districtualconvente
ab — die einzige Regung des öffentlichen Lebens in Ungarn. Regelmäßig
sandten sie Deputationen an die Negierung und an den Kaiser selbst, mit den
wiederholten Bitten um Herstellung der Kirchenverfassung in ihrer frühern
Ausdehnung und um Einberufung einer Synode zur Regelung der tires-
lichen Verhältnisse. Beides wurde mehrmals zugesagt; der Grund, warum
die Erfüllung der Zusage noch immer auf sich warten läßt, ist nicht bekannt
gegeben worden. Im Jahr 1856 gab die Regierung an sämmtliche Seniorate
den Entwurf zu einem Gesetz über die Vertretung und Verwaltung der Kir-
chenangelegcnheiten der Evangelischen heraus, der auf den Districtualconventen
berathen und dem Ministerium begutachtet eingeschickt werden sollte. Sämmt¬
liche Districte jedoch wiesen einstimmig dieses Ansinnen zurück, indem sie sich
im Princip sür incompetent erklärten, ein organisches Gesetz sür die ganze Kirche
zu berathen, um darin zu entscheiden; denn nur einer allgemeinen Synode
steht das Recht zu, die Kirchenverfassung zu ändern und neue Kirchengesetze
zu bringen. An diese Erklärung knüpften sie die erneute Bitte um Abhaltung
einer Synode, auf welche abermals eine unentschiedene Antwort erfolgte. Der
zurückgewiesene Entwurf der Regierung selbst beabsichtigte, den weltlichen Ein¬
fluß auf die Kirchenangelcgenheiten ganz ausschließend, die Kirche bureaukra-
tisch zu regieren, die oberste Leitung in einem vom Staate ernannten Ober-
kirchenrath zu centralisiren, und in den unteren Stufen eine geistliche Hierarchie
zu begründen, welche die Kirche regieren würde. Dadurch verlöre die Kirche ihre
Autonomie, und die ihr so heilsame Theilung der Gewalt zwischen dem geistlichen
und dem weltlichen Element hörte aus. Für jetzt widerstand die protestantische
Geistlichkeit selbst der ihr dargebotenen Lockung; sie möge in diesem echt evan¬
gelischen Geiste beharren, und nie aus übelverstandener Eifersucht gegen die
weltliche Macht Uneinigkeit in die protestantische Kirche bringen.
Mit diesen Bewegungen auf kirchlichem Gebiet in Verbindung muß auch
der Angelegenheit der protestantischen Schulen in Ungarn Erwähnung geschehen.
Diese befanden sich zur Zeit des Ausbruchs der Revolution in einem für die
Verhältnisse Ungarns blühenden Zustand, waren durch Privatstiftungen reich
dotirt und erfreuten sich des allgemeinen Vorzugs vor den katholischen An¬
stalten. Im Jahr 1850 trat das neue Unterrichtssystem in Wirksamkeit;
die meisten der frühern sogenannten Kollegien, auf denen Philosophie, Theo¬
logie und auch das Recht gelehrt worden war, gingen als solche ein und
wurden zu Ober- oder Untergymnasien; die Rechtsfacultäten an den protestan¬
tischen Schulen hörten ganz auf, protestantisch-theologische blieben nur zwei
im Lande. Den schwersten Stand hatten die früheren lateinischen Gymnasien,
die, um den Ansprüchen des neuen Unterrichtssystems zu genügen und das
Recht der Oeffentlichkeit nicht zu verlieren, mit einer bedeutendern Anzahl
Lehrer ausgestattet werden mußten, wozu mehren derselben die nöthigen
Fonds fehlten. Nicht unerhebliche Opfer wurden von Privaten und Korpo¬
rationen gebracht, um diese Schulen zu retten und sie durch eigene Mittel zu
erhalten; der Gustav-Adolph-Verein wirkte hier Ersprießliches. So gelang es
den Protestanten, alle ihre Schulen zu erhalten und allen vom Staat ge-
stellten Anforderungen zu entsprechen, ohne dessen Beihilfe in Anspruch neh¬
men zu müssen, und ohne der Regierung einen Einfluß auf die innere Leitung
ihrer Schulen einzuräumen. Diese Forderungen von Seite des Staates,
welche vielleicht nur die Durchführung eines Systems, vielleicht aber auch be¬
zweckten, die protestantischen Schulen vom Staat abhängiger zu machen, hatten
sonach nur ein kräftigeres Zusammenwirken von Seite der Protestanten, und
einen erneuten Aufschwung ihrer Schulen zur Folge.
Resumiren wir unsere Schilderung des Standes der evangelischen Sache
in Ungarn: die Kirchenverfassung der Protestanten, durch mehre Friedens¬
schlüsse und vor allem durch das Gesetz vom Jahr 1791 garcintirt, welches
letztere von der östreichischen Regierung auch nach der Revolution der Jahre
1848 und 1849 als rechtliche Basis der Wünsche der Protestanten anerkannt
wird, erlitt aus Anlaß der unterdrückten Erhebung provisorische Beschränkungen,
welche nach Aufhebung des Belagerungszustandes — auch wieder provisorisch
— beibehalten blieben. Diesem noch jetzt fortdauernden Zustand ihrer kirch¬
lichen Angelegenheiten eine Abhilfe zu verschaffen, wendeten sich die Protestanten
Ungarns auf gesetzlichem Wege wiederholt an die Negierung: die Versprechungen
einer baldigen Herstellung des gesetzlichen Zustandes der Kirche, und damit
die Hoffnungen einer Bevölkerung von mehr als dritthalb Millionen Men¬
schen blieben bis jetzt unerfüllt. Ohne die Freiheiten der Kirche offen anzu¬
greifen, wird doch die Aenderung der ganzen Kirchenverfassung durch einen
der Berufung aus den §. 4. des 26. Gesetzartikels vom Jahre 1791 entgegenlau¬
fenden Vorschlag versucht, und die Negierung säumt beständig, ihren Zusagen
gemäß entweder die suspendirte Kirchenverfassung wieder in das Leben treten
oder auf gesetzlichem Wege vermittelst einer Synode die Verfassung der Kirche
einer Aenderung unterziehn zu lassen.
Von den Protestanten Ungarns kann nichts Anderes geschehen, als, daß
sie jede unrechtmüßige Zumuthung zurückweisend, ihre Rechte wahren und der
Gewährung iihrer Bitten entgegensehn. Von einer starken und loyalen Re¬
gierung aber sollte man erwarten können, daß sie eine so zahlreiche Classe
ihrer Unterthanen in ihren Rechten, welche anzuerkennen sie nicht umhin kann,
und in ihrem Heiligsten, dem Glauben, nicht länger kränken, sondern ihre Zu¬
In diesen Tagen erscheint in Leipzig, bei F. L. Herbig unter dem Titel
„Aus dem Wanderbuch eines östreichischen Virtuosen" eine Samm¬
lung von Briefen des bekannten Violinspielcrs M. Hauser, in welchen der¬
selbe seine Kunstreise von Neuyork nach Californien, verschiedenen Staaten
Südamerikas, Australien u. s. w. schildert. Wir glauben, daß dieses Buch
Glück machen wird. Der Verfasser sieht gut und weiß das Gesehene bisweilen
recht anmuthig wiederzugeben. Er hat einen glücklichen Humor und trägt
seine Erzählungen mit einer liebenswürdigen Unbefangenheit vor, welche Leuten
seines Berufs nicht häufig eigen ist. Sehr hübsch sind seine Berichte von
dem Treiben der Virtuosen in San Francisco und den Goldminen, ungemein
anziehend seine Schilderung des Lebens in Lima, Valparaiso, San Jago
,ti Chile, wo er als Künstler Gelegenheit fand, auch in die Kreise der vor¬
nehmen Welt Blicke zu thun, besonders interessant endlich die Mittheilungen
von seinen Abenteuern auf Otahaiti, wo er das erste Concert gab, welches
hier gehört wurde. Ein Auszug aus den Briefen, welche seine Abenteuer
und Beobachtungen im Reiche der Königin Pomare schildern, wird am besten
geeignet sein, die Leser mit der Art und Weise des Buches bekannt zu machen.
Er war am 30. Sept. 1854 in Otahaiti oder Tahiti angelangt und hielt
sich zwei Wochen dort auf. Schon bei seinem Eintritt in die Hauptstadt be¬
gegnete ihm ein Abenteuer, welches er nicht wol erwarten konnte:
Börnes Worte, „gebratene Aepfel, den Schnupfen und eine Obrigkeit
findet man überall", bewahrheiten sich auch da, denn man hat keine Idee,
wie man hier von der Polizei gequält wird. Sie besteht aus Eingebornen,
die aus Furcht vor der französischen Herrschaft ihren Diensteifer lieber zu viel
als zu wenig ausüben. Kein Fremder darf auf der Insel ohne Erlaubniß
übernachten, und will er längere Zeit bleiben, so müssen Pässe, Documente
und dergleichen einer hochweisen otahaitischen Polizei übergeben werden, die
dann nach genauen Prüfungen sich entschließt, dem Fremden eine Aufenthalts¬
karte auszuhändigen.
Gleich nach meiner Ankunft verfügte ich mich ins Polizeiamt, das sich
von den Hütten der Eingebornen nur durch eine französische Fahne unterscheidet,
die auf der Dachspitze flattert. Der Beamte, ein Eingeborner, nahm sich in
der weiten blauen Jacke, den französischen Pantalons mit rothen Streifen,
aus denen die nackten gelben Füße hervorguckten, sehr komisch aus. Nachdem
er mich von Kopf bis zu Fuß neugierig betrachtet, begann die Untersuchung
meines Reisepasses.
Ich war überrascht von dem Talente dieses Natursohnes, der seine ur¬
wüchsige Physiognomie so meisterlich in wichtige Polizeiamtsmiencn zu falten
wußte; aber noch mehr wurde ich überrascht, als der gelbe Insulaner ein
Protokoll mit mir aufnahm, wie es in Hochverrathsangelegcnheiten nicht
strenger zu geschehen pflegt. Mein Charakter „ Tonkünstler" gab mir am mei¬
sten zu schaffen, denn der Glückliche wußte noch gar nichts vom „Concert¬
geber"; Tonkünstler und Flibustier schien ihm gleichbedeutend, und das Wort
„Violinspieler" war ihm so unklar und verdächtig, daß er, ängstlich die Achsel
zuckend, eine gefährliche Freibeuterei dahinter witterte. Er sagte, die Sache
sei ihm sehr verdächtig, und klingelte einige halbnackte Büttel herbei, die mich
still in ihre Mitte nahmen. Voran schritt gravitätisch der Beamte, in der
Mitteich, Hintennach die Büttel, und so ging es fort zum Gouverneur. Ich
konnte vor Lachen nicht an mich halten, trotzdem meine Lage nicht sehr lustig
war, und je mehr mich der Natursohn mit wüthenden Geberden zurechtwies,
desto mehr platzte ich heraus.
Man denke sich meine unschuldige Persönlichkeit, in gelben Nankinghosen,
kurzem, lichtem Röckchen, und den Palmenhut mit rothem Bande auf dem
Kopf, in der Mitte dieses imposanten Zuges durch die Straßen Tahitis
hinmarschircnd; die liebe Straßenjugend und andere Eingeborene, die mich
in der Gewalt der Häscher erblickten, liefen jubelnd Hintennach, und so
hielt ich meinen Einzug, aus dem man entnehmen kann, daß einem reisenden
Virtuosen nicht überall Kränze und Lorbeern blühen, obwol letztere hier wild
wachsen.
Der Gouverneur nahm mich mit echt französischer Liebenswürdigkeit auf,
entschuldigte sich des strengen Verfahrens wegen, versprach mir mit allem
Möglichen an die Hand zu gehen, und der braune Polizeicommissär, der sich
um den Nuhm, einen gefährlichen Flibustier entdeckt zu haben, betrogen sah,
nahm weiter keinen Anstand, mir eine Aufenthaltskarte auszuhändigen, ob¬
wol das mystische Dunkel, welches bei, ihm über die Worte Virtuos, Violin
schwebte, noch immer nicht gelüftet schien.
Die Franzosen haben sich nach und nach so zu Herren der Insel gemacht,
und breiten ihren Schutz so weit aus. daß die armen Eingeborenen gewiß
viel lieber wünschten, sie wären weit weggeblieben. Kanonen sind überall
aufgepflanzt, Soldaten liegen überall vertheilt, halten alle festen Plätze besetzt,
oder ziehen schwer bewaffnet durch die Straßen, während die halbnackten
Eingeborenen friedlich und unbewaffnet gegen solche Truppenzüge wunderlich
abstechen. Um acht Uhr Abends ertönt ein Kanonenschuß, und nach diesem darf
kein Eingeborener mehr in den Straßen gefunden werden. Jetzt sieht man
die Indianer scharenweise nach Hause strömen, die mit verdrießlichen Gesich¬
tern die Schenkstuben verlassen, welche großentheils von den Franzosen mit
der Civilisation zugleich aufgeschlagen wurden, aber aus den Charakter dieses
Volkes einen höchst verderblichen Einfluß üben. —
Weiterhin wird das Leben auf der Insel geschildert: Nicht aufzuzählen
find die Erzeugnisse, mit denen eine verschwenderische Natur dieses irdische
Paradies gesegnet hat. Hier wuchert der Feigenstock und schlingt sich um
Lorbeer-, Cocos- und Cypressenbnume, dort in dunkler Laube glühen Orangen,
Citronen, Bananen und Ananas, blüht die Mandel, alles ohne Zucht und Pflege
und von wunderbarer Größe. Schlanke Palmen ragen zum Himmel empor
und brechen fast unter der süßen Last der Datteln, und im Hintergrund er¬
heben sich 4000 Fuß hohe Riesenberge, von Früchten strotzend und von Blu-
menketten umwunden, die einen doppelten Eindruck machen, weil die Pracht
der tropischen Sonne und der zurückstrahlende Spiegel des Meeres einen zwei¬
fachen Effect geben.
Die Hauptstadt Otahaitis liegt reizend in einer Bucht der Westküste am
Abhang eines herrlichen Palmenhaines. Von fern gleicht der Ort mehr
einer ununterbrochenen Reihe von Landhäusern und Gartenmauern, als einer
Stadt, aber im Innern angelangt, machen die meist europäischen Gebäuden
gleichenden Häuser, die mit Gärten und Villas umgeben sind, einen freund¬
lichen Eindruck. In der eigentlichen Hauptstraße, die den ganzen Ort durch¬
schneidet, herrscht reges Leben. Da findet man englische und französische Kauf¬
läden, wo man alle Culturerfordcrnisse befriedigen kann, Hotels, Schenkstuben,
französische Spielbndcn, welche immer von Seefahrern aller Nationen gefüllt sind,
die sich hier die langersehnten Genüsse verschaffen, welche sie auf ihren Fahrten
so lange entbehrten.
Franzosen, Engländer. Neger, Portugiesen und Chinesen durchstreichen
die Straßen; die Häuser der Europäer sind mit wenigen Ausnahmen einstöckig,
mit Gärten und luftigen Verandas umgeben, mit Glasfenstern versehen und
verleihen dem Ort das Aussehen eines der bedeutenderen Plätze Südamerikas
oder Indiens. Die Hütten der Eingeborenen sind nicht alle nebeneinander
gruppirr. viele liegen ganz nahe am Ozean, andere wieder in der Mitte oder
im Hintergrunde der Stadt, welcher sie einen sehr eigenthümlichen Charakter
verleihen. Sie sind aus Bambus oder Holz gezimmert, mit kegelförmigem
Flechtwerk versehen und das Innere wird durch aus Pflanzenstoffen verfertigte
Vorhänge in Zimmer abgetheilt. Alle sind von Palmen und wilden Ba-
nanenbüumen umschattet, die sehr graziös aus dem niedern Laub hervorragen
und die lieblichsten Gärten bilden. . . .
Pomare IV. bewohnt ein vollkommen europäisch eingerichtetes Haus. Sie
ist an einen Eingeborenen verheirathet, der mit den Indianern so populär
ist, daß man ihn oft in ihrer Mitte in den Straßen spazieren sieht.
Das Gouvernementsgebüude, von Stein aufgeführt und mit vielen
Thürmchen und Fahnen geschmückt, ist das schönste Haus der Insel. Fran¬
zösischer Geschmack und Comfort haben sich auch hier so gut als möglich ein¬
gerichtet, und in der Mitte des Platzes erhebt sich ein Palmenhain, der dem
Fremden nicht allein einen sehr anmuthigen Ruhepunkt bietet, sondern ihm
auch die Gelegenheit verschafft, die tahttische Noblesse zu bewundern.
Jeden Sonntag und Donnerstag spielt Militärmusik, und nach dem Takte
derselben promenirt hier die vornehme Welt; besonders stolziren die Stutzer
in einem Putz daher, wie man .seines Gleichen in der ganzen civilisirten Welt
uicht findet. Das Haar ist wohl geordnet und gekämmt, als hätte es ein
französischer Haarkünstler frisirt, und wird von einem schief sitzenden breiten
Palmenhut bedeckt. Ein dickes weißes Tuch, welches die französische Saion-
cravatte ersetzen soll, ist aufs ungeschickteste um den Hals gewunden, und der
Oberkörper in einen schwarzen Frack gehüllt, in einen Frack, dessen Formen
so weit und unbequem sind, daß er ursprünglich gewiß für eine dreimal wohl¬
beleibtere Person geschaffen wurde. Eine weiße Weste ersetzt zugleich die Stelle
des Palmengürtels, aber die Beine!—v Jammer! — verhülle dich, Cultur!^
sind nackt, wie sie von Gott erschaffen wurden, und noch obendrein gelb, grün
oder blau tätowirt. Ich muß gestehn, daß mich schon lange nichts so ent¬
setzt hat, als diese Vereinigung der tahitischen mit der europäischen Mode;
und besonders wenn ich die tätowirten Beine wahrnahm, überfiel mich eine
Furcht, die nur dann wieder beruhigt wurde, wenn ich den civilisirten Ober¬
körper erblickte.
In diesem originellen Anzug stolziren die barfüßen Dandys auf und
ab, hören die Musik und kokettiren mit ihren Damen trotz eines wiener Lions.
Ihr hellbrauner glänzender Teint contrastirt seltsam mit den weißen und ro¬
then Gesichtern der Engländer und Franzosen, die man bald in gestreiften
Matrosenjacken, bald als Gentlemen, oder in glänzenden Uniformen mit spöt¬
tischen Mienen und boshaftem Lächeln um diesen urwüchsigen exotischen Ge¬
stalten vorüberwandeln sieht.
Die Frauen sind wohlgestaltet, haben angenehme Züge, feine Taille, rei¬
zende Fülle und schöne Augen. Ihr feines Haar rst wohlgeordnet, gesalbt
und aus dem Scheitel in seltsame Zöpfe geflochten. Mit der Mode nehmen
sie es weniger genau. Sie kleiden sich oft sehr wenig, oft in die prächtigsten
Seidenstoffe. Das Kleid reicht nicht weit über die Knie, aus dem Kopf
tragen sie gewundene Madwastücher oder einen Strohhut, und die Vor¬
nehmen schmücken Arme, Ohren und Beine mit Perlen. Korallen, Goldspangen.
gehen aber immer barfuß. Ihre Sprache, halb französisch, halb tahitisch, ist
weich, glühend und nachlässig wie ihre Sitten. Tanzen und Reiten sind
ihre Hauptvergnügungen, und nur ein kleiner Theil findet an europäischen
Beschäftigungen Genuß.
In der Liebe sind sie glühend heiß, wie alle Südländerinnen, aber ihre
Sitten sind streng und eheliche Untreue höchst selten. Allein eine Macht und
ein Ansehen genießen diese Frauen, wie es nur bei civilisirten Nationen ge¬
funden wird ....
Dann erzählt der Verfasser von einem Concert, welches er vor der vor¬
nehmen Welt von Otahaiti gab. Wol selten dürste irgend ein Concertgeber
der Welt ein so wunderliches Publicum um sich versammelt haben, als jenes,
welches ihn am 6. Oct. 1854 in Tahiti umgab:
Das Local, jetzt zum Concertsaal improvisirt, diente früher zum Götzen¬
tempel der Eingebornen, später wurden hier, auf Befehl der Königin, die
falschen Götter verbrannt, noch spater verdammte hier ein französisches Kriegs¬
gericht die aufrührerischen Indianer zum Tode, und jetzt steht auf derselben
Stelle ein schwarzbesrackter Virtuos als Herold der Zeit, und sucht mit Geige
und Bogen jenen urwüchsigen Naturkindern einige Begriffe jener modernen,
europäischen Cultur beizubringen, mit deren Bekanntschaft sie von einer gü¬
tigen Vorsehung bis jetzt verschont wurden. Rechts, von tropischen Pflanzen
umgeben, saß der Gouverneur und seine Gemahlin nebst vielen Offizieren in
hellschimmernden. Uniformen. Links war der aus Strohmatten mit buntem
Baumwollenzeuge behangene Platz der barfüßen Königin errichtet, und den
andern Theil des Saales füllten die eigenthümlichen Gestalten der Eingebor¬
nen, deren Gehörsinne bis jetzt noch gesund und unverdorben waren und
noch für keinen andern Gesang als für den der Nachtigall schwärmten.
Ich trat hervor, verneigte mich vor dem barfüßen Auditorium und er¬
öffnete das Concert. Freilich brauchte es einige Zeit, bis man diesem Pu¬
blicum begreiflich machte, daß man im Concert eigentlich nur hören soll, was
jedoch die meisten nicht zu wissen schienen, denn sie schwatzten so laut, daß
ich einige Mal unterbrochen wurde und wieder beginnen mußte.
Ich spielte „Othello", Phantasie von Ernst, aber ein schmetterndes Trom-
Petengedröhn mit obligatem Paukenwirbel hätte diesen gelben Insulanern
gewiß mehr Vergnügen gemacht als mein armseliges Geigenspiel, denn außer
einigen befreundeten europäischen Händen rührte sich kein Fingerchen. Das
Stück ging ohne jedes Zeichen des Wohlgefallens seinem Ende entgegen; so
unbelobt spielte ich noch vor keinem Publicum des Erdenrundes.
Die Königin, einen kleinen Jungen an der Hand führend, erschien jetzt,
begleitet von ihren Hofdamen, die barfuß, wie ihre Herrin, er phantastischer
Toilette in den Saal trippelten und in neugieriger Verwunderung der Dinge
warteten, die da kommen sollten.
Die erste Musikcelebrität Otahaitis. Mr. Ccunieux. Chef der französischen
Militärkapelle, ein breitschultriger Niese, erschien jetzt und spielte ein Stück auf
der Flöte. Man sagte, es wäre eine Cavatine aus „Ernani" gewesen und
man hätte das Stück vielleicht als solche erkannt, wenn dein corpulenter
Bläser, dem vor Anstrengung die Schweißtropfen auf der Stirn standen, nicht
die meisten Töne versagt hätten und malheureuserweise gänzlich ausgeblieben
wären. Dieser Künstler hatte außerdem noch die originelle Manier, beim
Heraustreten der Frau Gouverneurin ehrerbietigst die Hand zu küssen, eine
Huldigung, die, obwol sie eine Zurücksetzung für die barfuße Pomare und
ihre gelben Hofdamen bildete, doch viel verzeihlicher als sein Flötenspiel war,
denn dieses wollte gar kein Ende nehmen, und trotz meiner beredten Zeichen,
endlich einmal aufzuhören, quinquilirte er immer weiter. Schon sah ich zu
meinem Schrecken die gähnende Pomare sich von ihrem Sitz erheben, schon
sah ich die urwüchsigen Kinder der Natur, deren Gehörsinne auf eine so harte
Probe gestellt wurden, den Saal verlassen. Alle lockenden Verheißungen, die
barfuße Monarchin durch mein Spiel zu entzücken, alle Illusionen von Orden,
Ruhm und Unsterblichkeit waren dahin. O unglückseliges Flötenspiel, das
ihm nie hätte einfallen sollen! Pomare verließ, ohne mich gehört zu haben,
den Saal, vertrieben von dem heillosen Flötisten.
Nachdem sich mein emportes Gemüth so gut als möglich beruhigt und
der unselige Franzose zu blasen aufgehört, trat ich abermals hinaus vors
Publicum. Ich nahm alle meine Kraft zusammen, spielte sentimentale Liebes¬
lieder und Paganinische Hexenvariationen, aber vergebens; kein Zeichen des
Wohlgefallens belohnte mich, die gelben Insulaner blieben starr und theil¬
nahmlos wie vorher.
Da faßte ich jm arger Noth, das unvermeidliche Fiasko vor Augen,
einen kühnen Entschluß. Hilf du, Spiegelfechterei, dachte ich, riß er¬
grimmt vor den Augen des gaffenden Publicums die Saiten von der Geige
und spielte auf der G-Saite allein den „Karneval". Das wirkte. Ein Mur¬
meln der Ueberraschung durchflog die Menge und bald war ich von gelben
Naturenthusiasten umringt, die bei jeder Passage, insbesondere aber bei den
Flageolettönen, in ein Beifallsgejohle ausbrachen, wie es ein civilisirtes Pu¬
blicum gar nicht hervorzubringen vermag. Immer spielte ich nur den Kar¬
neval, immer improvisirte ich neue Variationen, und je toller und barocker
diese klangen, desto enthusiastischer jauchzten meine barfüßen Bewunderer, die
nicht eher den Saal verließen, bis mein Arm ermüdet sank und nicht mehr
im Stande war, den Bogen zu führen.
Nach dem Concert war ganz Tahiti in enthusiastischer Aufregung. Alles
erzählte sich von dem fremden Geiger, der über so viele Meere hergeschifft sei
und auf dem Holze so gut wie jeder Vogel zu pfeifen verstehe. Die schön'
sten Blumen und Früchte werden mir ins Hotel geschickt; wenn ich sy^le,
sammelt sich eine Schar Bewunderer unter meinen Fenstern, und wenn ich
ausgehe, grüßt mich Ms und kommt mir freundlichst entgegen kurz ich
bin der Held von Tahiti. Und diese Wunder alle hat nur der „Carneval"
bewirkt. Wahrlich, die Violinspieler wissen gar nicht, wie viel sie diesem
Stück zu danken haben, dessen wunderthütige Wirkung oft wie ein Sirenen¬
lied das starrste Publicum entflammt, und oft ward es mir, wie diesmal,
zur rettenden That.
Einige Tage nach dem Concert wurde ich zum Gouverneur geladen, wo
auch alle Consuln und fremden Agenten Tahitis anwesend waren, denn es
wurde das Geburtsfest des Gouverneurs gefeiert. Auch eine Deputation Ein-
geborner, die den Gouverneur zu beglückwünschen kamen, wurde zur Tasel
gezogen. Sie machten mir wieder sehr viel Spaß. Sie waren aufs sorg¬
fältigste gekleidet, trugen sogar Vatermörder und Glacehandschuhe ,als Sym¬
bole erworbener Cultur, aber die Nacktheit ihrer Füße behielten sie consequent
und ungeschmälert bei. Es war ergötzlich, mit anzusehn, wie die guten Na¬
turkinder sich vergebens abmühten, die feinen Manieren der europäischen Tisch-
genossen nachzuahmen, und wie ungeschickt sie die ihnen sonst ganz über¬
flüssigen Servietten, Messer und Gabeln handhabten. Jede neu aufgetragene
Speise brachte ihnen neue Verlegenheiten, ja, ein famoser Pudding, an dem
sich die ganze Tischgesellschaft delcctirte, spielte einem der gelben Gäste den
boshaftesten Streich, denn er wollte dem Gaumen des Natursohncs so wenig
munden, daß in seinem Magen eine entsetzliche Empörung ausbrach. Wie
sollten aber auch diese französischen Leckereien jenen urwüchsigen Gelbhüuten
munden, bei denen vor noch gar nicht langer Zeit ein Stück Menschenfleisch
gebraten oder gesotten als' großer Leckerbissen galt; denn nicht nur die gefan¬
genen Feinde allein waren es. die sie kochten und verzehrten, sondern auch
junge Mädchen, die durch irgend einen Fehler den Zorn der Götter erweckten,
wurden zur Strafe festlich geschlachtet, in Gruben gebraten und dann — ver¬
zehrt. Seit diesen entsetzlichen Greuelthaten ist noch kaum ein halbes Jahr¬
hundert verflossen, und jetzt geigt hier ein europäischer Violinspieler schon den
„Carneval". Wahrlich die Civilisation ist schnell! Wie froh bin ich, daß
ich nicht früher gekommen, denn dreißig Jahre früher hätte man mir vielleicht
aus lauter Verehrung den Kopf abgeschnitten, oder mich lebendig gebraten,
um den zürnenden Eatu-Rasal (Donnergott) durch meine musikalische Persön¬
lichkeit zu versöhnen.
Sehr originell und merkwürdig sind hier die Tänze. Tahitische Mädchen,
die mit herabwallenden Haaren, mit Blumen geschmückt, sonst aber nur sehr
wenig bekleidet sind, jagen wie im Fluge dahin. Dieses geht so fort, bis
sie athemlos und erschöpft in den Sand sinken, wo sie so lange regungslos
liegen bleiben, bis es der pantomimischen Ueberredungskunst ihres Tänzers
gelingt, die Erschöpfte zu einem neuen Tanze zu bewegen; wie ein Blitz so
rasch schnellt sie empor und unter den phantastischesten Sprüngen rast sie fort,
so lange sie Athem hat. Wehe aber dem Tänzer, der aus Ungeschicklichkeit
fällt. Von neckenden Mädchen umringt, wird er mit Wasser begossen, mit
Cocosschalen beworfen, verlacht und ausgesöhnt, und zum Finale wird ihm
mit Kuhhörnern ein ohrenzerreißendes Charivari gebracht, was er jedoch, da
es Landessitte ist, nicht übelnehmen darf.
Noch merkwürdiger war ein Jndianermädchen, das eine große Riesen¬
schlange um den Körper gewunden gleich einem zahmen Lämmchen mit sich
herumführte. Aber eine Gewalt übte sie auf das Ungeheuer, welches sie seit
ihrer Kindheit wunderbar gezähmt und in allerlei Künsten abgerichtet hatte, die
an das Unglaublichste grenzten. Jedes Wort, jede Geberde der Gebieterin wurde
von der Schlange verstanden und befolgt. Verlangte das Mädchen nach einer
Rose, so kroch das Thier nach der bezeichneten Stelle, pflückte die Blume,
und sich dann liebkosend an ihrer Herrin hinausschlingend, überbrachte sie die
verlangte Blume.
Der Abend lagerte schon seine dunklen Schatten über die Berge und
Blumenebenen Tahitis, als ich das Schloß des Gouverneurs verließ. Der
dunkelblaue Nachthimmel glänzte voller Sterne, balsamische Lüfte säuselten
erfrischend durch ernste Cypressen und schlanke Dattelpalmen, die ihre Kronen
leise im Windeshauche wiegten, und die duftenden Blumen, abgemattet von
der Sonnenglut, erhoben sich jetzt, eine zauberische Pracht entfaltend. Johan¬
niswürmchen leuchteten durch das dunkelgrüne Gebüsch der duftenden Orangen¬
bäume, aber noch mächtiger leuchtete der Mond mit seinem Silberlicht durch
dieses Märchengcbilde einer Sommernacht, dessen erhabene Schönheit sich die
lebhafteste Einbildungskraft nicht vorzustellen vermag.
Von erquickenden Abendlüftcn magisch fortgezogen, wandelte ich, in Ge¬
danken vertieft, zwischen blühenden Cactus und Aloen, unter riesigen Palmen,
zu denen der Mensch sich wie ein Zwerg verhält, auf einem zum Gebirge füh¬
renden Weg. als ich am Abhang eines Palmenwaldes ein hellerleuchtetes
Gebäude erblickte, aus dem Orgelklang und Gesang ertönte. Ich trat ein
und befand mich in der ersten katholischen Kirche Otahaitis, durch welche
Königin Pomare 1828 den Götzendienst verdrängte; 35 mächtige Säulen von
Brotfruchtbäumen tragen das Gebäude, dessen Inneres einfach und prunklos,
aber festlich mit Blumen geschmückt, ein feierliches Aussehn hatte. Vor dem
Hochaltar, den nur ein einfaches Madonnenbild zierte, wurde die Messe ge¬
lesen. Eingeborne Männer und Frauen knieten andächtig auf den Altarstufen,
tahitische Mädchen und Knaben, in weiße Tücher gehüllt, sangen im feier¬
lichen Chor, begleitet von den melancholischen Tönen der Orgel, so andächtig
und erhebend, daß selbst die trivialen französischen und englischen Massenlieder,
die von den fremden Seefahrern auf Tahiti eingeführt, und von den unschul-
tigem Naturkindern in langgetragenen Accorden als Kirchenlieder benutzt wer¬
den, diese Weihe nicht entzauberten. . . .
Zum Schluß lassen wir die Schilderung einer Audienz folgen, welche der
Verfasser bei Pomare hatte: Endlich ging nur ein langersehnter Wunsch in
Erfüllung. Dienstag erhielt ich durch den Gouverneur die Nachricht, daß
mich Pomare zu hören verlangt, und da die Audienz noch am selben Tage
stattfinden sollte, so mußte ich mich über Hals und Kopf hofmäßig in Be¬
reitschaft setzen.
Um drei Uhr Nachmittags, die Sonne brannte grade am heftigsten, schritt
ich in Begleitung des Missionärs, der zugleich Hauspater der Königin ist,
durch die Straßen Tahitis. Ein halbnackter Indianer trug meinen Violin¬
isten hinten nach, und während der Missionär mir mein Verhalten bei der
Königin vorzcichncte und meinem ängstlichen Gemüth Trost zusprach, schifften
wir in einem Kahn nach der Insel Papet6e, der Residenz Ihrer barfüßen
Majestät.
Ein reizenderes Bild kann man sich nicht denken, als dieses hellgrüne
Eiland, das gleich einem Zaubergärten auf stiller Flut schwimmend, auf einer
Seite von lieblichen Häusern und Gärten, auf der andern von schäumenden
Riffen eingefaßt ist. an denen die Wellen des Oceans an stürmischen Tagen
oft 30 Fuß hoch hinaufspritzen.
Durch einen kleinen Palmenwald, an dessen Ende mehre Hütten der Ein-
gebornen zerstreut umherlagen, gelangten wir zu dem Hause der Königin,
welches sehr reizend mitten in der tropischen Pflanzenwelt liegt. Das Haus
gleicht einem europäischen Wohngebäude, ist mit zierlichen Fenstern, sogar
mit einem Balcon versehn, und eine vergoldete Krone, die aus der Dachspitze
in der Sonne glänzt, verkündet den Herrschersitz der gelben Königin. Eine
Schildwache, halb in glänzender Uniform, halb nackt, mit Flinte und Säbel
schwer bewaffnet, ging trotzig auf und nieder, aber nachdem wir ihr ein Geld¬
stück in die Hand gedrückt, wurde sie freundlicher und öffnete uns bereitwillig
die Pforten zum Throne der Monarchin.
Während der Missionär meinen Besuch der Königin meldete, wartete ich
in einem Zimmer des Erdgeschosses, welches nur mit einem langen Tisch
meublirt war, auf dem ein sehr wohlbeleibter Mann in etwas starkem Ne¬
glige zu schlafen schien. Kurz uach meinem Eintreten erhob er sich gähnend,
hüllte sich in einen grünen Frack, schnallte einen schweren, rostigen Degen
um, und schien sehr verwundert, als er mich erblickte. Unter dem Beendigen
seiner Toilette musterte er mich mit allerdings nicht sehr freundlichen Blicken
so durchdringend und machte ein solch diplomatisches Gesicht, daß ich nicht
länger daran zweifeln konnte, entweder einen Kämmerling, oder gar einen
Minister ihrer Majestät vor mir zu haben. Schnell verneigte ich mich gegen
den auf mich zuschreitenden gelben Diplomaten, der sich eben etwas unzart
über meine Anwesenheit erkundigen wollte, als der Missionär eintrat und
mich zur Königin berief. Allerlei Ammenmärchen von Hautabziehen, Kopf¬
abhacken und Lebendiggebratenwerden durchkreuzten düster meine Phantasie,
als ich, die Geige unter dem Arm, durch die mit allerlei mystischen Geräth-
schaften, Waffen, Kriegstrophnen, Schädeln von vielleicht gefressenen Feinden
behangenen Vorgemächer der Jndianerkönigin schritt.
Mein Begleiter führte mich in ein Gemach, wo eben mehre Hofdamen
in nicht sehr reizendem Neglig6 Toilette machten. Hier stimmte ich meine
Geige, waffnete mich mit dem Bogen, und in wenigen Minuten stand ich
vor der barfüßen Potcntatin.
In einem mit buntem Baumwollenzeug drapirten, sonst aber sehr wenig
meublirten Gemache, saß auf Strohmatten, mit untergeschlagenen Füßen, die
Königin Pomare. Ein grell gemaltes Madonnenbild hing über ihrem Sitz,
und zu ihrer rechten und linken Seite kauerten zwei barfuße Hofdamen in
phantastischem Anzug, die mit großen Fächern aus Straußfedern ihrer Her¬
rin Kühlung mochten.
Pomare, ungefähr 36 Jahre alt, ist eine eher große, als kleine Gestalt,
ihr Körperbau edel und wohlgeformt, ihre Haltung nicht ohne Majestät und
Würde, und ihre Gesichtszüge, voll Ausdruck und Lebhaftigkeit, zeigen Spu¬
ren einstiger Schönheit, obwol die etwas aufgeworfenen Lippen und der gelbe
Teint ihrem Gesicht! ein eigenthümliches Aussehn geben. Ihr sehr dunkles
Haar wird durch einen großen Kamm auf dem Wirbel zusammengehalten,
und auf ihrer schön gewölbten Stirn sitzt ein einfacher, goldener Reif. Ein
durchsichtiges Moufselinkleid, von lichtblauer Farbe, umhüllte in weiten For¬
men ihre Schultern und schloß sich eng an die Hüften, wo es durch eine Binde
zusammengehalten wurde, aber es war nur sehr kurz und reichte kaum über
die Knie. Arme und Beine waren mit Glasperlen, Korallen und Muscheln
geziert, und die große Fußzehe sehr sorgfältig mit einer röthlichen Farbe be¬
malt und mit Ringen geschmückt.
Um ja keinen Verstoß gegen die tahitische Hofetikette zu begehn, verneigte
ich mich so tief als möglich, und begann mit einigen einfachen Melodien
dieses seltsame Hofconcert. Aber Pomare hörte nicht und schwatzte zu meinem
großen Verdruß lieber mit ihren barfüßigen Hofdamen, die mit ihrem Ge¬
schnatter mein Spiel übertönten. Schon dachte ich, verdrießlich über diesen
unerwünschten Erfolg, an den Rückzug, als-ich mich entschloß, noch einen
letzten Versuch zu machen, den Bogen in Bewegung setzte und'das „Vög¬
lein" ertönen ließ. Die Königin wurde aufmerksamer, das Aankee Doodle
schien ihr nicht unbekannt, denn als dieses im Flageolet ertönte, nickte sie
mit dem Kopf und schien so entzückt davon, daß sie ihre beiden Kinder her-
beiholen ließ, die mein dankbarstes Publicum bildeten; denn während der
Kronprinz, ein kleiner, vollwangiger Junge, in die Hände klatschte, führte
die Prinzessin, ein etwa dreizehnjähriges Mädchen, nach dein Takt der Musik
einen Tanz auf, wovon Pomare so entzückt wurde, daß sie ihren ganzen Hof¬
staat um sich versammelte.
Der königliche Gemahl, ein junger Indianer von riesenhaften Wuchs,
erschien jetzt und mit ihm ein ganzer Schwarm barsußer Höflinge, die in den
abenteuerlichsten Anzügen sich um meine arg bedrängte Persönlichkeit grup-
pirten, bald mich, bald meine Violine angafften oder in die Saiten griffen,
kurz, mich so umdrängten und umschnatterten, daß ich fast keinen Raum mehr
fand, den Bogen zu führen. Es ist schwer, die grellen Situationen in diesem
phantastischen Zirkel zu schildern, und ein zweites Mal würde ich mir es über¬
legen, der Neugierde dieses Opfer zu bringen.
Pomare verabschiedete bald ihre ganze Umgebung und blieb mit mir
allein. Sie winkte mich näher und wünschte meine Geige zu betrachten. Ich
war in Verwirrung, aber da war keine Weigerung möglich, und nach kurzem
Besinnen übergab ich meine» Schatz den Händen der Jndianerkönigin. Wäh¬
rend sie mit den Fingern an den Saiten zupfte, stand ich wie auf der Fol¬
ter, nur ein Gelüste dieser Herrscherin und die Geige war sür mich verloren.
Pomare gab sie mir unversehrt zurück, ich athmete freier und spielte aus
Dankbarkeit ein tahitisches Volkslied. Sie schien sehr erfreut darüber und
frug mich in gebrochenem Französisch, ob ich auch aus dem Lande der Fran¬
zosen komme? und als ich dieses verneinte, faßte sie meine Hand, drückte sie
und flüsterte geheimnißvoll: „Ich liebe diese Männer nicht." Wol mag sie
Ursache haben, diesen Männern zu grollen, die ihre freie Stellung und Un¬
abhängigkeit untergruben, die ihr Macht, Ansehn und Scepter aus den Hän¬
den wanden und sie zu einer Königin nur dem Namen nach machten. Sie
löste ein kleines goldenes Kreuz von ihrer Korallenkette und reichte es mir mit
den Worten: „Dies als Erinnerung an Pomare." Hierauf verneigte ich mich
tief vor der gelben Majestät und verließ mit dem Missionär das königliche
Haus und die Insel Papet6e.
Die Ueberzeugung, daß der Roman, der die Darstellung des wirklichen
Lebens bezweckt, von der Anschauung des wirklichen Lebens ausgehn muß,
gewinnt auch in Deutschland immer mehr Eingang; in England hat, so
lange es überhaupt eine Romandichtung gibt, noch niemand daran gezweifelt.
Bei mehren Romanen, die uns in den letzten Tagen zugekommen sind, haben
wir erfreuliche Fortschritte nach dieser Seite wahrgenommen. — So zeigt die
Novelle: Abenteuer eines Emporkömmlings. (2 Bde. Frankfurt a. M.,
Sauerländer.) eine vielseitige Kenntniß des Lebens. Der Verfasser ist
mit den verschiedensten Schichten der Gesellschaft in Berührung gekommen,
und hat sie nicht blos auf der Oberfläche beobachtet, sondern sich bemüht, in
ihre Tiefen einzudringen. Seine Figuren, obgleich oft nur in leichten Um¬
rissen gegeben, haben eine bestimmte Physiognomie und prägen sich dem Ge¬
dächtniß ein. Ueberall schimmert eine klare Vorstellung von den Verzwei¬
gungen des Verkehrs, von den Sitten und Vorurtheilen des bürgerlichen
Lebens durch. Am bekanntesten scheint der Verfasser in Oestreich zu sein.
Die Personen bewegen sich trotz ihrer Ueberfülle mit einer gewissen Freiheit,
und wenn sich auch die Scenen etwas gar zu bunt durcheinanderdrängen,
so verliert man doch den Faden nicht aus der Hand. Sehr störend sind da«
gegen die Jncorrectheiten der Sprache, die zuweilen gradezu eine unvoll¬
kommene Schulbildung verrathen. Noch zu einer Bemerkung gibt der Roman
Veranlassung, die sich auf die ganze Gattung bezieht. Seit etwa zwanzig
bis dreißig Jahren hört man vielfach über die Unsittlichkeit unsrer Dichtungen
klagen, und die Dichter verstehn das gewöhnlich so, als ob die kritischen
Moralisten ihnen die Anwendung von Gift, Dolch, Brand und ähnlichen
romantischen Ingredienzen oder die Ausmalung sinnlicher Scenen untersagen
wollten. So ist es aber nicht gemeint. Was uns bei dem neuen deutschen
Roman häusig auf das peinlichste berührt, ist die Unfähigkeit der Dichter,
ihre Helden, und zwar ihre eigentlichen Helden, so handeln zu lassen, wie
eine wohlgeschaffene Seele handeln muß, ohne weiter zu reflectiren. Es sind
nicht die Verstöße gegen den Katechismus, sondern die Verstöße gegen die
Elementargrammatik des sittlichen Empfindens, deren man sich in der Form
der Regel gar nicht mehr bewußt werden darf, sobald man ins handelnde
Leben eintritt. Wir wollen aus dem vorliegenden Roman einen Zug an¬
führen, um uns deutlich zu machen.
Der edelste Held des Romans, ein Graf Dei Ponti. ist durch einen
spitzbübischen Bankier um sein Vermögen betrogen. Infolge dessen schreibt
er ihm von Paris aus einen groben Brief, und der Bankier schickt ihm ge-
Wissermassen zur Entschädigung ein Gnadengeschenk von 5000 Gulden.
Natürlich erwartet man, daß er sie verächtlich zurückschicken wird. Inzwischen
beschließt er doch, zwanzig Franken davon zu nehmen, um bis zu einer ge-,
wissen Frist, wo er Geld erwartet, damit auszukommen. Ein geistvoller, sehr
dürftiger Mann, Namens Strömfeld, hat sich seiner angenommen und ihm
Geld geliehen. Diesen besucht er, um ihn.zu bezahlen. Strömfeld hat
durch einen Zufall die Entdeckung gemacht (in nicht ordnungsmäßiger aber
doch nicht grade unehrenhafter Weise), daß eine Eisenbahnconcession ertheilt
werden soll, er jammert darüber, daß er kein Capital besitzt, um diese Ent¬
deckung zu einem unermeßlichen Gewinn benutzen zu können. Von hier an
lassen wir den Verfasser selber sprechen.
„Bei aller Theilnahme für Stromfelds Schmerz und seine betrübte Lage
mußte ich das Unlogische seiner Denkweise mißbilligen und seinen Schmerz,
daß ihm eine unehrenhafte Handlung nicht denselben Nutzen bringe, den ein
Reicherer. Mächtigerer vielleicht daraus gezogen haben würde; vermied jedoch
jede Bemerkung, die nur seinen gereizten Zustand verschlimmert hätte, und
entfernte mich. Erst vor der Hausthür siel mir ein, daß ich doch gekommen
war, ihm das Darlehn zurückzustellen und ein Gedankenblitz zuckte vor mir:
Wie, wenn ich jetzt mit dem Gelde Buchwalds die Mittheilung Stromfelds
zu seinem und meinem Vortheil benutzte? Schon wollte ich umkehren, um
den Unglücklichen zu trösten, als mich der Gedanke zurückhielt, daß erstens
Strömfeld keine Gelegenheit gegeben werden dürfe, sich einer unrechten That
zu freuen, und daß ich mich auch vor allem vergewissern müsse, daß die Idee,
durch den Ankauf jener Actien einen bedeutenden und sichern Gewinn zu er¬
zielen, keine bloße Chimäre sei, um nicht den Vorsatz der Rücksendung des
Geldes an Buchwald aufgeben zu müssen. Auch war es mein fester Entschluß,
mich nicht in Börsenspicle einzulassen, wie sie Strömfeld eigentlich im Sinn
hatte, sondern das Papier fest zu kaufen und ruhig abzuwarten."
Kurz der Graf Dei Ponti benutzt die ihm von Strömfeld mitgetheilte
Kenntniß, ohne demselben etwas mitzutheilen, um mit den 5000 Gulden des
Bankiers zu speculiren. Nachdem er damit etwas über eine Million gewonnen,
schickt er die 5000 Gulden dem Bankier in einem verächtlichen Schreiben zurück.
Mochte man nicht rücklings überschlagen, wenn man so etwas liest! Das
ist dieselbe Sophistik des sittlichen Denkens und Empfindens, als deren ecla-
tantestes Beispiel wir ihrer Zeit die Ritter vom Geist charakterisirt haben, und
wie tief der zersetzende Einfluß dieser Sophistik gedrungen ist. zeigt eben das
vorliegende Beispiel. Der Verfasser empfindet im Ganzen so, wie ein anstän¬
diger Mensch empfinden soll. Er empfindet, um uns eines fremden aber pas¬
senden Ausdrucks zu bedienen wie ein Gentleman, und doch begegnet ihm
eine so tolle Extravaganz. Das Tolle liegt nämlich nicht darin, daß über¬
haupt so gehandelt wird, sondern daß der Held sehr anständig und sittlich
zu handeln glaubt und daß der Dichter ihm darin beipflichtet. —
Ein zweiter Roman von Adolph Weißer: „Der Tanz um das
goldene Kalb" (2 Bde. Stuttgart, Frnnckh) zeigt ein sehr erhebliches
Talent für realistische Darstellungen, das aber noch nicht zur Reise gediehen
ist und sich namentlich mehr v.om Aeußern auf das Innere wenden muß. Der
Verfasser versteht unterhaltend und selbst pikant zu erzählen, er versteht ferner
über gegebene sittliche Zustünde verständig zu reflectiren, aber diese beiden
Momente haben keine Ausgleichung gefunden und man weiß nicht recht, wel¬
ches von ihnen man als episodisch betrachten soll. Beide Verfasser würdigen
übrigens richtig die Bedeutung der prosaischen Arbeü sür das ideale und
poetische Leben. —
Ein dritter Roman: Schloß und Pfarrhaus von B. von Wiese
(Breslau, Kern), ist wohlgemeint aber nicht grade tief gegriffen.
Mit großem Vergnügen haben wir in den sicilianischen Reisebildern (tue
too Lieilies) einer der begabtesten unter den englischen Dichterinnen, Julia
Kavanagh, gelesen. (Lolleetion ot Lritisd ^utlrors limetuütii Läition.)
Die Schilderungen sind glänzend, wenn auch zuweilen mehr Farbe angewandt
ist, als die Sache erfordert. —
Da wir nun in diesen Romanen hauptsächlich mit Realisten zu thun ge¬
habt, fügen wir noch einen Idealisten hinzu., um einen vielbesprochenen aber
häufig mißverstandenen Gegensatz hervorzuheben. Hugo Oelbermann, der
schon durch frühere Gedichte vielen Beifall gewann, hat eine neue Sammlung
herausgegeben: Herzbilderbuch (Leipzig, Luppe), die sich fast zur Hülste in
Anklagen gegen die Prosa unserer Zeit ergeht. „Es ist der Kampf das Loos
der Poesie, der schwere Kampf mit harter Wirklichkeit." „Es ist die schwerste
Frage dieser Zeit." „In alles Blut, wie auch das Herz sich wehre, dringt ein
die Prosa, dieser Zeit Misere." Ferner ruft der Dichter den Kritikern zu:
„Ihr solltet nicht mit der Verhöhnung Streichen den Dichter treffen, den der
Gram verzehrt!" Und motivirt das noch weiter folgendermaßen:
Ein Dichterherz — ihr dürft es alle glauben! —
Das beut besiegt der Prosa Riesenmacht,
Und drüber schwebt — muß aller Götter Trauben
Gekostet haben in geweihter Nacht >—
Denn das Talent kann seine Kraft nicht schrauben
Zur Feldhcrrnhöh' ob unserer Tage Schlacht,
Wo nur dem Genius noch die Palmen winken,
Kann das Talent nur rettungslos versinken!
Wir wollen einen Dichter, der sich selbst unglücklich nennt, wahrlich nicht
verhöhnen, aber wir mochten ihn auffordern, ein freundliches Wort ruhig zu
erwügen. Wenn die oben angeführten Grundsätze richtig sind, wenn in
unsrer Zeit nur das wahre Genie in der Dichtung sich Bahn bricht, das
bloße Talent aber elend verkümmert: wie soll sich der gewissenhafte Kritiker,
dem es doch mehr um das Wohl der Menschen zu thun ist als um das Ent¬
stehen einiger mittelmäßigen Verse, einem jungen Dichter gegenüber verhalten,
in dem er höchstens Talent sieht? einem Dichter gegenüber, der doch noch
zu warnen ist! Soll er in gewissenlosen Leichtsinn, um ihm ein paar an¬
genehme Stunden zu machen, ihn wol gar noch auffordern, bei seinem
Unternehmen zu bleiben, in der Poesie den Mittelpunkt seiner Existenz zu
suchen, der er doch im höhern Sinn nicht gewachsen ist? Betrachtet sich der
Kritiker als den Freund des Dichters, so wäre es vielmehr seine heilige
Pflicht, ihn zu warnen, ihn vor allen Dingen aufzufordern, die Poesie so zu
betrachten, wie sie vor hundert Jahren betrachtet wurde, als eine erhebende
Beschäftigung der Mußestunden, den Ernst des Lebens aber anderwärts zu
suchen! Diese undankbare Aufgabe in jedem Fall durchzuführen ist freilich
nicht möglich, aber von Zeit zu Zeit muß man doch seinem Gewissen Luft
machen. Wenn freilich der Dichter ausruft „die Garde stirbt, doch sie ergibt
sich nicht!" so ist nichts weiter dagegen zu sagen. Jeder Einzelne muß am
besten wissen, was ihm frommt. Auch in den vorliegenden Gedichten finden
wir mehr Anempsindung als Empfindung, mehr Nachklänge als eigne Melo¬
dien, und am gelungensten sind daher die bewußten Parodien, so z. B. der
Gesang an die kritischen Nachteulen — denn wie bei den meisten der gegen¬
wärtigen Dichter ist auch dem unsrigen die Welt hauptsächlich mit Recensenten
angefüllt.
„Werthe Herren! es gab schönre Zeiten
Als die unsern — das ist nicht zu streiten!
Größere Dichter haben einst gelebt.
Könnten tausend Schwätzer davon schweigen -—
Tausend Steine würden redend zeugen,
Die in Weimar man vom Boden hebt.
Doch es ist dahin, es ist entschwunden
Dieses hoch begünstigte Geschlecht!
Wir, wir leben, unser sind die Stunden —
Und der Lebende hat Recht!" ,
Einem jener Heroen von Weimar, den wir in diesem Sinn schon öfters
angeführt, geben wir auch diesmal für uns das Wort. „Die deutsche Sprache,
sagt Goethe, ist auf einen so hohen Grad der Ausbildung gelangt, daß einem
jeden gegeben ist. sowol in Prosa als in Rhythmen und Reimen, sich dem
Gegenstand wie der Empfindung gemäß, nach seinem Vermögen glücklich aus-
zudrücken. Hieraus folgt nun. daß jeder, welcher durch Hören und Lesen sich
auf einen gewissen Grad gebildet fühlt, seine Gedanken und Urtheile, sein Er¬
kennen und Fühlen mit einer gewissen Leichtigkeit mitzutheilen weiß. Schwer,
vielleicht unmöglich wird es aber dem Jüngern einzusehn, daß damit im
höhern Sinn noch wenig gethan ist." „Leider hat ein wohlwollender Beob¬
achter gar bald zu bemerken, daß ein inneres jugendliches Behagen auf ein¬
mal abnimmt, daß Trauer über verschwundene Freuden, Schmachten nach
dem Verlornen, Sehnsucht nach dem Ungekannten. Unerreichbarem, Mißmuth,
Invectiven gegen Hindernisse jeder Art, Kampf gegen Mißgunst, Neid und
Verfolgung die klare Quelle trübt. Wie schwer ist es daher, dem Talent jeder
Art und jeden Grades begreiflich zu machen, daß die Muse das Leben
zwar gern begleitet, aber es keineswegs zu leiten versteht."
Das neue ministerielle Organ, die Preußische Zeitung, bringt einen Artikel über
die Angelegenheiten der Donaufürstenthümer, dessen Auffassung sehr wesentlich von
der des frühern Ministeriums abweicht. Auch diese veränderte Auffassung der aus¬
wärtigen Politik begrüßen wir mit Befriedigung, nicht blos weil sie der Sache selbst
entsprechender ist, sondern hauptsächlich weil sie die preußischen Interessen besser ver¬
tritt. Denn Preußen kann doch unmöglich feine Haltung in dieser Frage ausschlie߬
lich nach der Rücksicht auf die Walachen oder Rumänen abmessen, eine Rücksicht, die
ohnehin bei keiner der vier Großmächte vorwiegt, welche dabei ein näheres Interesse
haben. Es handelt sich hier um einen europäischen Conflict, in welchem Nußland
und Frankreich auf der einen, Oestreich ans der andern Seite steht, und in diesem
Conflict Partei zu nehmen, muß Preußen durch mächtigere Gründe bestimmt werden,
als durch die Berücksichtigung einer Bevölkerung, die es nichts angeht. Die Frage
verdient um so mehr eine Erörterung, da die Konstellation voraussichtlich noch längere
Zeit dieselbe bleiben wird.
Zwar geben wir aus das Kriegsgeschrei der französischen Journale gegen Oestreich
nicht viel. Im Gegentheil sind wir eher geneigt, wenn in Paris recht nachdrücklich
aus eine bestimmte Eventualität hingewiesen wird, das Entgegengesetzte derselben für
wahrscheinlich zu halten. Allein die Natur der Sache selbst ist bedrohlich genug.
In Italien steht der sardinische Staat und mit ihm der überwiegende Theil der
Gesammtbevölkerung dieser Halbinsel in beständiger Spannung gegen Oestreich. In
der Türkei sind die Interessen Rußlands und Oestreichs diametral entgegengesetzt.
Das französische Volk verlangt eine Beschäftigung für seine Phantasie, es will die
Erinnerung an den älteren Napoleon wieder auffrischen, und da dem Kaiser augen¬
scheinlich daran liegt, einen Punkt zu finden, wo er Ruhm gewinnen kann, ohne
in unmittelbaren Conflict mit England zu gerathen, so laßt sich nicht leicht absehn,
wo er diesen Punkt anders auffinden sollte, als in einem Conflict mit Oestreich,
namentlich in Bezug auf Italien. Bei einer solchen Disposition der Kräfte und
Stimmungen kann man keinen Augenblick sicher fein, daß nicht durch einen unbe¬
rechenbaren Zufall ein Krieg herbeigeführt wird, den ursprünglich keiner der Be¬
theiligten gewollt hat. Nicht anders war es bei der großen orientalischen Ver-
Wickelung, Keine der Großmächte, am wenigsten Nußland und England, wollten
ernstlich den Krieg, aber ein übereilter Schritt führte zum andern, und so war er
endlich nicht zu vermeiden.
Ein Krieg aber, in dem Frankreich auf der einen, Oestreich aus der andern Seite
die Hauptrolle spielten, ließe sich nicht zu einem blos localen herabsetzen, wie es 1854
der Fall war. Der Schauplatz desselben würde der Kontinent sein, hauptsächlich
Deutschland, und eine Macht wie Preußen würde sich nicht neutral halten können.
Ueber die Aufgabe Preußens während einer solchen Krisis gibt es zwei entge¬
gengesetzte Ansichten, die so alt sind wie die preußische Geschichte überhaupt. Nach
der einen Ansicht hat Preußen vor allem seine Stellung als Neichsglicd im Auge
zu behalten, es hat die Aufgabe, gemeinschaftlich mit Oestreich das deutsche Gebiet
vor den Uebergriffen der Russen und Franzosen zu schirmen; nach der andern hat
Preußen vielmehr die Aufgabe, feinen Einfluß oder auch wol seinen Besitzstand in
Deutschland zu erweitern und jede politische Conjunctur zu benutzen, um den ge-
fährlichsten Gegner dieser Pläne, Oestreich, zu schwächen. Beide Ideen sind unter
gewissen Umständen ausführbar, doch wird man leicht begreifen, daß die zweite Auf¬
fassung nur dann mit Glück verfolgt werden kann, wenn ein energischer Wille an
der Spitze steht, für den es physisch keine Schwierigkeiten und moralisch keine Be¬
denken gibt. Friedrich II. ist durch diese Politik groß geworden-, unter Haugwitz
und Lucchesini führte sie den Staat an den Rand des Verderbens. Und wenn das
jetzt abgetretene Ministerium, obgleich sehr bescheiden und dilettantisch, in derselben
Richtung arbeitete, so war das Resultat eine allgemeine Schmälerung des preußi¬
schen Credits nebst dem freilich unbezahlbaren allgemein bekannten Bonmot des
Herrn v. Manteuffel - der Starke geht zurück.
Wenn man also die Politik mit Wünschen und guter Gesinnung allein lenken
könnte, so würde wol jeder aufrichtige Freund des deutschen Vaterlandes den Preu¬
ßischen Staatsmännern die erste Eventualität empfehlen. Diese Politik hat einen
soliden zusammenhängenden Charakter, jede andre Politik ist, gelind ausgedrückt,
ein Hazardspiel. Um mit Verbündeten, wie Nußland und Frankreich, einen realen
Gewinn zu erzielen, muß man nicht blos sehr viel diplomatische Geschicklichkeit be¬
sitzen, fondern auch frei fein von Rücksichten jeglicher Art.
Aber die Anhänger der östreichischen Allianz vergessen immer, daß zu jedem
Bunde zwei gehören. Oestreich ist in den letzten Jahren sehr freigebig mit Anfor¬
derungen gewesen, die es an Preußen machte, es hat aber nicht die geringste Ge¬
genleistung in Aussicht gestellt. Die östreichischen Staatsmänner haben das Verhält¬
niß ganz einfach so aufgefaßt, daß der Staatencomplex des deutschen Bundes ein
organisches Ganze bilden solle, dessen Bewegungen nach außen hin ausschließlich
von dem ersten Staat des Bundes, von Oestreich, zu lenken seien. Der erste Schritt
zu dieser organischen Einheit wäre die Ausdehnung des Zollvereins über Oestreich
d. h. gemeinsame Finanzverwaltung der beiden deutschen Großstaaten.
Es gehört eine verzweifelte Naivetät dazu, von den preußischen Staatsmännern
das Eingehn in solche Pläne zu erwarten. Diese Naivetät finden wir z. B. in einer
neu erschienenen Broschüre: Die Ausgaben deutscher Politik, Oestreich und
Preußen (Frankfurt a. M. Brönner). Der Verfasser, der die Prämissen mit vielem
Scharfsinn entwickelt, und die Schwierigkeiten, die sich einem organischen Bündniß
zwischen Oestreich und Preußen entgegenstellen, ganz richtig durchschaut, endigt mit
der überraschenden Wendung: Preußen möge sich nur unbedingt an Oestreich an¬
schließen, es werde sich schon alles machen. Hrcilich hat er auch'in Bezug auf die
Thatsachen sehr überraschende Visionen; so findet er z. B. in der Regierung, die
das Concordat abgeschlossen, eine besondere Neigung zur religiösen Freisinnigkeit
und zur Duldung gegen den Protestantismus.
In dieser Weise fassen wir das Bündniß mit Oestreich, das im Uebrigen auch
uns wünschenswert!) erscheint, nicht auf. Um eine würdige und nützliche Allianz
einzugehn, muß der preußische Staat vollkommen frei und unabhängig in seinen
Bewegungen sein. Weit entfernt, sich einem deutsch-östreichischen wirthschaftlichen
Verein unterzuordnen, muß er auch noch das Band lösen, mit welchem der Zoll¬
verein in seinen gegenwärtigen Formen seine Bewegungen einengt; die Staaten
von Süd- und Mitteldeutschland müssen erkennen, daß Norddeutschland sich in wirth¬
schaftlicher Beziehung unabhängig zu constituiren vermag, und daß durch eine Tren¬
nung der Süden am meisten leidet. Weit entfernt, sich der östreichischen Politik
in Italien und der Türkei willenlos unterzuordnen, darf Preußen dem stammver¬
wandten Kaiserstaat seine Unterstützung nur unter der Bedingung zusichern, daß
dieser seinerseits für die Interessen Preußens eintritt. Wir halten es aber auch
nicht für unmöglich, mit Oestreich auf diese Bedingungen zu unterhandeln. So
entschieden wir das rücksichtslose Auftreten der östreichischen Staatsmänner gegen
Preußen mißbilligen, so können wir es doch der Haltung des Ministeriums Man-
teuffel gegenüber begreifen und selbst entschuldigen. Wenn man mit jemand zu thun
hat, der nie mit Bestimmtheit weiß, was er will, der den Degen nur aus der
Scheide zieht, um ihn gleich wieder einzustecken, so ist man nur zu leicht in Ver¬
suchung, ihn zu brüskircn oder mit ihm zu spielen. Schon jetzt, ist der Credit
Preußens ein ganz anderer, das liest man selbst aus den östreichischen Blättern
heraus, und wenn man diesen Credit nur aufrecht erhält, so wird das viele un¬
nöthige Ausgaben ersparen.
Wir haben in unserm vorigen Brief auf die leidenschaftliche Sprache aufmerk¬
sam gemacht, mit der sich die bambcrger Blätter über die neue Wendung der Dinge
in Preußen ergehn; wir haben die Kreuzzeitung wesentlich davon unterschieden und
bemerkt, daß dieses Blatt zuweilen fühle, wie die Ehre des preußischen Adels mit
der Ehre Preußens eng verknüpft sei. Die Kreuzzeitung gibt uns in dieser Be¬
ziehung durch Wort und That ein Dementi ; sie erklärt sich mit Bamberg vollkom¬
men einverstanden, was wir bedauern — aber nicht unsertwegen. Freilich konnten
wir schon aus der Haltung hochconservativer Wahlmänner den Polen gegenüber
die bedenklichsten Folgerungen ziehn. Der Haß gegen den Liberalismus geht also
bei unsern Tories so weit, daß sie sich selbst mit denjenigen verbinden, die sie bis¬
her für die gefährlichsten Feinde Preußens ausgaben; warum also nicht auch mit
Bamberg? —
Grund zur Unzufriedenheit haben sie in der That, denn auf Herrn von West-
phalen sind noch manche andere Lieben gefolgt, Herr v. Kleist-Rctzow, vor allem
aber Herr Peters, dessen Andenken wir hiermit eine tiefgefühlte Thräne widmen.
In völlige Vergessenheit darf er nicht Verfallen, denn er vertritt in zu deutlichen
Farben ein erhebliches Stück preußischer Geschichte. Eine Rsvus rötrosxeotivo der
Reaction dürste überhaupt bald am Ort sein. — Von diesem unerfreulichen Gegen¬
stand wenden wir uns an die Wahlrede des Grafen Schwerin, der in seiner
schlichten, klaren und wohlwollenden Weise über die neue Pnrtcibildung genau das
ausgesprochen hat. was wir selber als das Nothwendige bereits mehrfach dargestellt
Chemische Briefe von Justus von Liebig. Vierte umgearbeitete und
vermehrte Auflage. 2 Bände. Leipzig und Heidelberg, C. F. Winterschc Verlags¬
handlung 1859. — Diese neue Auslage ist eine beträchtlich vermehrte, indem außer
verschiedenen Erweiterungen der bekannten Briefe nicht weniger als 19 neue hinzu¬
gekommen sind. Letztere besprechen das Studium der Naturwissenschaften, den Kräfte-
Wechsel in der unorganischen Natur, den Eigenschastswechsel der Körper, den Mate¬
rialismus, die Frage, ob Selbstverbrennung möglich sei und dann in längerer
Reihenfolge die Stellung und Bedeutung der Chemie für die Landwirthschaft. Die Mög¬
lichkeit der sogenannten Selbstverbrennung wird entschieden in Abrede gestellt. Die
Vertheidiger des Materialismus erklärt der Verfasser für Dilettanten. Nur die mangel¬
hafte Kenntniß der anorganischen Kräfte sei der Grund. weshalb von manchen die
Existenz einer besondern in dem organischen Wesen wirkenden Kraft geleugnet und
den unorganischen Kräften Wirkungen zugeschrieben würden, die ihrer Natur ent¬
gegengesetzt seien, Eine jede chemische Verbindung setze drei Ursachen voraus, immer
sei es die formcnbildende Kraft der Cohäsion oder Krystallisation, welche unter Mit¬
wirkung der Wärme die chemische Affinität in ihren Aeußerungen regete, die Ord¬
nungsweise des Krystalls und damit seine Eigenschaften bedinge. Im lebendigen
Körper komme eine vierte Ursache hinzu, durch welche die Cohäsionskraft beherrscht
werde, durch welche die Elemente zu neuen Formen zusammentreten, neue Eigen¬
schaften erlangen, Formen und Eigenschaften, die außerhalb des Organismus nicht
bestehen. „Wenn es wahr ist, daß in der anorganischen Natur eine Cohüsionskrast
formenbildend besteht, so ist eS ebenso wahr, daß in den Organismen eine Kraft
wirkt, eine Ursache der Bewegung und des Widerstandes, welche der Cohäsionskraft
entgegentritt, welche die Wirkungen des Sauerstoffs und die stärksten chemischen An¬
ziehungen aufhebt oder umkehrt." — „Die unorganischen Kräfte schaffen immer
nur Unorganisches, durch eine in dem lebendigen Leib wirkende höhere Kraft, deren
Diener die unorganischen Kräfte sind, entsteht der organische, eigenthümlich geformte,
vom Krystall verschiedene und mit vitalen Eigenschaften begabte Stoff." — „Es haben
manche Philosophen behauptet, das Leben sei wie die Materie von Ewigkeit dage¬
wesen. Die exacte Naturforschung hat bewiesen, daß die Erde in einer gewissen
Periode eine Temperatur befaß, in welcher alles organische Leben unmöglich ist. Sie
hat bewiesen, daß das organische Leben auf Erden einen Anfang hatte." — „Die
Dilettanten behaupten, die Gedanken seien Producte des Stoffwechsels des Gehirns,
so wie die Galle ein Product des Stoffwechsels der Leber. Aber die exacte Physio¬
logie weiß bis jetzt nichts von den Beziehungen, in welchen die Galle, das Secret,
zu dem Stoffwechsel der Leber, des Secretionsorgans, steht, und was die Chemie
darüber erforscht hat, beweist, daß die Elemente der Galle in keiner Beziehung zu
denen der Leber stehen. So wie die Harfe tönt, wenn ihre Saiten der Wind be¬
wegt, so denkt das Gehirn durch den Stoffwechsel, so hört das Ohr, so sieht das
Auge; aber das Gehirn an sich denkt keine Gedanken, das Ohr hört nicht die Musik,
das Auge sieht nicht die leuchtende Sonne, den grünen Baum, es empfindet nicht
die Sprache des Augenpaares, was ihm Liebe zustrahlt; die Nerven fühlen keinen
Schmerz, keinen Wechsel der Temperatur, nichts Hartes oder Weiches, nichts Rundes
oder scharfes, der geistige Mensch ist nicht das Product seiner Sinne, sondern die
Leistungen der Sinne sind Producte des intelligenten Willens im Menschen." In
dieser Weise stellt der berühmte Naturforscher die Behauptungen der Materialisten
als das dar, was sie sind, als „künstlich beleuchtete Nebel", als Ergebnisse von
Spaziergängen um den Grenzen der Gebiete der Naturforschung, als Seitenstücke zu
den wandernden und redenden Tischen.
Ueber den Zweck der 14 neuen agriculturchcmischen Briefe sagt der Verfasser:
„Ich wünsche die gebildeten Männer der Nation mit den Grundsätzen bekannt zu
machen, welche die Chemie in Bezug aus die Ernährung der Pflanzen, auf die Be-
dingungen der Fruchtbarkeit der Felder und die Ursachen ihrer Erschöpfung ermittelt
hat, und wenn ich glücklich genug bin, die Ueberzeugung von ihrer Wichtigkeit und
ihrer hohen nationalökonomischen Bedeutung in einem weiteren Kreise zu verbreiten
und zu befestigen, so scheint mir eine Aufgabe meines Lebens erfüllt." Wie noth¬
wendig eine solche Kenntniß sei, wird in dem Vorwort ausführlich gezeigt. Es er¬
kennt die in den letzten Jahrzehnten in der Landwirthschaft gemachten großen Fort¬
schritte an, sagt aber, daß diese Fortschritte sich im Wesentlichen auf Verbesserungen
in der Praxis, im technischen Betrieb beziehen. Sie bahnten die neue und höhere
Entwickelungsstufe unsrer Tage an, die der wirksamen Anwendung wissenschaftlicher
Kenntnisse. In allen technischen Gewerben und vorzüglich in der Landwirthschaft
geht dieser Anwendung der Wissenschaft naturgesetzlich eine Vervollkommnung der
Technik voraus. Erst wenn die Technik nicht mehr ausreicht, fragt man nach der
Wissenschaft. Wie das aber bei einem Uebergang in ein neues Stadium stets ge¬
schieht, ist in den letzten Jahren ein Widerstreit der Technik mir der Wissenschaft ge¬
führt worden. Erstere konnte mit den ungewohnten Hilfsmitteln, welche die andere
bot. nicht zurechtkommen und so sollten sie werthlos sein. Dieser Streit wird dann
aus dem Charakter der verschiedenen Classen von Landwirthen und der landwirth-
schaftlichen Literatur erklärt, welche letztere vorzugsweise für den großen Gutsbesitzer
geschrieben sei und dessen Meinungen und Bedürfnissen sich anpasse. So biete sie
keine Hilfe für den kleinen Landwirth, für den Bauer, für den, der wenig oder kein
Capital zur Anschaffung künstlicher Düngemittel, kein gutes Ackerland, keine Wiesen,
nur einen unzureichenden Viehstand und darum wenig oder keinen Stalldünger besitze,
und so fänden in ihr die, welche Handelsgcwüchse, Tabak, Hopfen, Flachs und Wein
baute», keine Belehrung über das Wesen ihres Betriebes, sondern nur unzureichende,
für gewisse Oertlichkeiten passende Vorschriften. Die Wissenschaft aber solle Gemein¬
gut aller sein, solle allen Hilfsbedürftigen und Hilfesuchenden helfen und das geistige
Vermögen der Armen und Reichen vermehren, die reinen Sinns die Wahrheit wollen.
Abonnementsaiizeige zum neue» Jahr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den V.'VL.ZK. Jahrgang. Die unterzeichnete Ä^erlagshandlung erlaubt
sich zur Präunmeratwn ans denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December IttüK. Kr. Lato. Herbig.
Die Mortara-Angelegenheit beschäftigt seit einigen Monaten die gesammte
zcitungslesende Welt. Der Fall ist wohl geeignet, den Unterschied zwischen
einst und jetzt bemerkbar zu machen. Die päpstliche Regierung steht als Be¬
schützerin eines ruchlosen Bekehrungseifers in grellem Gegensatz zu der öffent¬
lichen Meinung; Millionen Christen aller Confessionen nehmen Antheil an
dem Eingriff in die Rechte einer einzelnen Familie; zahlreiche Petitionen
werden wie in England und Frankreich, so auch im protestantischen Deutsch¬
land verfaßt; diplomatische Acte und öffentliche Aeußerungen einiger Staats¬
regierungen sind nöthi,g geworden. Solch allgemeiner Antheil an dem Schicksal
eines jüdischen Kindes ist bei uns erst seit kurzem möglich. Humanität und
Sittlichkeit haben erst seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die con-
fessionelle Beschränktheit überwunden und die Tagespreise hat erst in diesem
Jahrhundert ihre gewaltige Ausbildung erhalten, und trägt mit einer früher
ungcahneteu Schnelligkeit die Thatsachen und das Urtheil darüber um den ganzen
Erdkreis. Sie, sowol der Ausdruck, als die Erzeugerin einer öffentlichen
Meinung, die Beschützerin der Schwachen, der mächtigste Anwalt der Unter¬
drückten, hat überall, wo sie zu kräftigem Gedeihen gelangt ist, ähnliche Ge¬
waltthaten unmöglich gemacht.
Was hier mitgetheilt wird, sind kleine Züge aus einer Periode, welche
nur fünf bis sechs Generationen vor uns liegt. Es sind freudenlose Zustände,
klägliche Verirrungen, aber es ist aus ihnen Einiges von allgemeinem In¬
teresse zu lernen.
Am Ende des 17. Jahrhunderts war die Lage der Juden nur wenig
besser als in dem rohesten Mittelalter. Seit sehr alter Zeit war ihre recht¬
liche Stellung ebenso voll von Widersprüchen, wie ihre sociale. Von der
Kirche wurden sie verabscheut und verdammt, im geschäftlichen Verkehr waren
sie unentbehrlich und viel gesucht, ihre staatlichen Rechte waren dem Buch-
Stäben nach durchaus uicht ungünstig für ihr Gedeihen, in der Wirklichkeit
blieben sie den ärgsten Verfolgungen und Erpressungen ausgesetzt. Unter den
deutschen Beamtendespotien, welche sich seit dem dreißigjährigen Kriege ausbil¬
deten, sanden sie kaum größeren Schutz vor der Wuth des fanatischen Pöbels,
und ihre geistlichen Anfechtungen wurden noch ärger. Zwar, der Protestan¬
tismus, damals sckiwach und verkümmert, kränkte sie mehr durch abstoßenden
Hochmuth, als durch seine Bekehrungskünste. Denn noch in seiner orthodoxen
Erstarrung machte er höhere Anforderungen an den sittlichen Ernst seiner Be¬
kehrten, als die Priesterschaft der alten Kirche. Um so eifriger war eine neue
Richtung des Katholicismus, das Jesuitenthum, Ketzer und Ungläubige in
Massen zu taufen. Und in den Landschaften, wo sich die Väter der Gesell¬
schaft Jesu festgesetzt hatten, nahm eine Bekchrungswuth überHand, welche die
gewaltthätigsten Eingriffe in das Familienleben nicht, scheute. Besser gedieh
damals den Juden Handel und Erwerb, ja seit dem westphälischen Frieden
war für sie eine glänzende Zeit gekommen. Die Verminderung des inter¬
nationalen Großhandels, der Ruin alter Handelshäuser zu Nürnberg und
Augsburg, die dauernde Münzverschlechterung, die unaufhörlichen Geldbedürf¬
nisse der großen und kleinen Territorialherren begünstigten eine vielseitige
Thätigkeit des jüdischen Geschäftes, welches durch ganz Deutschland ge¬
wandte Werkzeuge und von Konstantinopel bis Cadix Gastfreunde und Ver¬
wandte fand. Die Bedeutung, welche der innige Zusammenhang der Jude»
für den deutschen Handel in einer Zeit hatte, wo schlechte Wege, schlechte
Zölle und eine sehr unwissende Gesetzgebung dem Verkehr die größten Schranken
auflegten, ist noch lange nicht zur Genüge gewürdigt. In unermüdlicher
Thätigkeit gruben sie wie Ameisen überall ihre' geheimen Wege durch das
morsche Holz des römischen Reichs, lange bevor die Briefpost und Waaren¬
spedition ihr großes Netz über die Landkreise gezogen hatten, bestanden ihre
stillen Verbindungen für Brief- und Waarentransporte. Arme Schacherer und
fahrende Bettler liefen als treue Agenten zwischen Amsterdam und Frankfurt,
Prag und Warschau hin und her, Wechsel und Juwelen unter ihren Lumpen,
ja im eigenen Leibe verbergend; auf Seitenwegen, durch berüchtigte Herbergen,
die jeder christliche Kaufmann fürchtete, schlich der hilflose Jude aus einem
deutschen Gebiet in das andere, dort tauschte er einem Münzmeister altes
Geld gegen neugeprägtes ein, hier kaufte er Spitzen und neue Kirchcngewänder
für seine Gegner, die geistlichen Herren, dort schmuggelte er einem Landes¬
herrn Waffen und Kriegsgeräth durch ein feindliches Territorium, hier ge¬
leitete er einen großen Transport feiner Leder aus dem Innern Rußlands
bis auf die Messe von Frankfurt, er allein befähigt durch Schmeichelei, Be¬
stechung und Branntwein die Habsucht der slavischen Adligen zu überwinden.
So waren die Juden damals im Verhältniß zu den Christen wahrscheinlich
reicher als jetzt, jedenfalls mit den Eigenthümlichkeiten ihres Verkehrs unent¬
behrlicher als jetzt. Sie hatten schützende Freunde am Kaiserhof wie im
Harem des Sultans und im Geheimzimmer des Papstes, sie hatten eine
Aristokratie des Blutes, welche damals von den Glaubensgenossen noch hoch
respectirt wurde und bei Brautsesten mit Stolz die Juwelen trug, welche ein
Ahnherr vielleicht lange vor Marco Paolo unter hundertfacher Lebensgefahr
aus Indien gebracht, oder ein anderer von einem der großen Mauren¬
könige in Granada eingetauscht hatte. Auf der Straße aber trug der Jude
noch die schimpflichen Zeichen des ungechrten Fremdlings, im Reiche eine
gelbe Cocarde an seinem Rocke, in Böhmen die steife blaue Halskrause.
Zwar war er der Gläubiger und Arbeitgeber zahlreicher Christen, aber er lebte
in den meisten größeren Städten noch zusammengedrängt in bestimmten Straßen
oder Stadttheilen, von geistlichemund weltlichem Pöbel gehaßt, verlacht und
geschmäht. Keine deutsche Judengemeinde war damals größer und fester
organisirt als die zu Prag. Sie war vielleicht die älteste in Deutschland;
sagenhafte Traditionen, die immerhin beachtenswert!) sind, führen sie auf eine
Zeit zurück, wo der Glaube des Gekreuzigten an der Moldau noch unbekannt
war. Bis in unsere Tage haben sich dort Erinnerungen an eine mehr als tau¬
sendjährige leidenvolle und emsige Vergangenheit erhalten. Selten versäumt ein
Reisender die engen Gassen der Judenstadt zu besuchen, wo die kleinen Häuser,
wie Bienenzellen aneinander gedrängt, einst den größten Reichthum und das
größte Elend des Landes umschlossen, und wo der Todesengel so lange den
Tropfen Galle in den Mund der Gläubigen träufeln ließ, bis auf dem un¬
heimlichen Kirchhof jeder Zoll Erde zu Menschenasche wurde. Auf engem
Raum hausten dort am Ende des 17. Jahrhunderts nahe an 6000 fleißige
Menschen, der große Geldhändler wie der ärmste Trödler und Lastträger in
fester Genossenschaft und gemeinsamen Interessen eng verbunden, durch ihre
Industrie und unermüdliche Speculationen dem verarmten Lande unentbehrlich
und doch in einem fortwährenden' Krieg gegen die Sitten, die Roheit und
den Fanatismus des neu bekehrten Königreichs. Denn damals lebte die dritte
Generation des neuen Böhmens, welches sich die Habsburger nach der Schlacht
am weißen Berge durch Blutgerichte, massenhafte Vertreibungen und furcht¬
bare Dragonaden zurückgewonnen hatten. Die alten Adelsgeschlechter waren
ausgerottet, ein neuer kaiserlicher Adel fuhr in vergoldeten Carrossen durch
die schwarze Hussitenstadt, die alte biblische Wissenschaft war in die Fremde
gewandert oder im Elend des langen Krieges verkommen, an die Stelle der
Kelchpriester und der böhmischen Prädicanten waren Jesuitenpatres und ihre
Zöglinge getreten, wo einst Huß die Lehre Wiklefs vertheidigt, und Ziska die
Lauheit der Altstädter gescholten hatte, erhob sich jetzt triumphirend das ver¬
goldete Steinbild der Himmelskönigin. Wenig war dem Volke von seiner
Vergangenheit geblieben, als die düstern Steine der Königsstadt, ein roher
Pöbel und eine Neigung zu finsterem Fanatismus, welcher jetzt vor den neuen
Bildern der Heiligen die Ketzer verfluchte.
, Aus solcher Zeit ist uns eine kleine Schrift geblieben*), welche zwei von
den prager Berühmtheiten des Jesuitenordens, die Patres Eder und Christel,
der erste lateinisch verfaßt, der zweite ins Deutsche übertragen haben; beide
Verfasser auch sonst bekannt, der zweite als ein eifriger aber geschmackloser
deutscher Poet. Aus dieser Schrift ist der folgende Bericht entnommen. Bei
der Weitschweifigkeit und Unbehilflichkeit des Jcsuitendeutsch war ein wort¬
getreuer Abdruck unthunlich, doch gibt der Auszug, so treu als hier möglich,
die Worte des Originals und das Charakteristische des Ausdrucks wieder. Die
Erzählung beginnt folgendermaßen:
— So sind in wenigen Jahren von einem einzigen Priester unserer So¬
cietät in der akademischen Salvatorkirche des Collegii der Gesellschaft Jesu
170 Personen jüdischen Standes durch das heilbringende Taufwasser gereinigt
worden.
Nebenbei will ich allhier kürzlich einiger Judenkinder sonderbare Neigung
zum christlichen Glauben erwähnen. Auf der zinkower Herrschaft trug vor
etlichen Jahren eine Jüdin ihr Töchterlein auf dein Arm, damit begegnete sie
zufällig einem katholischen Priester, dem sie antrug ihr Kind anzuschauen, in¬
dem sie den Schleier von dessen Gesichtlein abstreifte, nicht ohne sich zu be-
rühmen, daß sie ein dermaßen wohlgestaltetes Töchterlein zur Welt gebracht
hätte. Der Priester wurde durch dies ebenso ungereimte als unerwartete
Vertrauen angemuthet. das enthüllte Kind mit dem heiligen Kreuzzeichen zu
segnen, mit der beigefügten Ermahnung, daß die Mutter selbiges zur Furcht
und Liebe Gottes auferziehen, im Uebrigen aber der göttlichen Vorsicht über¬
lassen sollte. Und siehe diese kleine Jüdin war kaum auf ihre Füße gekommen,
so hielt sie sich alsbald zu christlichen Mädchen, bog mit ihnen, wenn sie
niederknieten, ihre Knielein, sang mit den Singenden, ging mit ihnen auf
die Auen und Wälder hinaus, graste mit ihnen, pflückte Erdbeeren und klaubte
Holz zusammen, erlernte nebenbei von ihnen das Vaterunser und den engli¬
schen Gruß, wie auch den Glauben aufsagen, mit einem Wort, sie machte
sich in christlicher Lehre bekannt und verlangte eifrig getauft zu werden. Die
hoch und wohlgeborne Gräfin von Zinkow, um dieses Mägdleins Begehren
zu erfüllen, führte die Frohlockende in ihrem Wagen mit sich nach Prag, auf daß
sie allda außerhalb der Eltern Angesicht sicherer zur Taufe befördert werden
möchte. Nachdem die Eltern aber erkannt hatten, daß ihre Tochter durch so
geraume Zeit ihre Anschläge behutsam geheim gehalten hatte, bejammerten
sie schmerzlich, daß ihre Tochter eine Christin war, und waren auf den Priester,
der sie im Arm der Mutter mit dem Kreuzeszeichen gesegnet hatte, herb und
ungehalten, denn ihm schrieben sie die ganze Zuneigung des Kindes zum
Christenthum zu.
Durch welche Ränke aber der Juden Treulosigkeit bemüht war, jede
Bekehrung zu hintertreiben, habe ich selbst unlängst erfahren, als mir zum
ersten Mal ein Glaubenslehrling vom Judengeschlecht, Samuel Metzel. zur
Belehrung überwiesen wurde. Als Vater von vier noch unmündigen Kindern
hat dieser sich eifrig und viel bemüht, selbige alle, ein wahrer Israel, aus
dem Aegypten der Judenstadt mit sich zur Freiheit heraufzuführen. Siehe
aber! ihm wollte Rosina Metzelin, seine Ehegattin, die damals noch großen
Abscheu vor dem christlichen Glauben hatte, nicht Folge leisten; und weil sie
beobachtete, daß ihr vier Kinder zugleich entzogen wurden, war ihr dieser
Kinderraub, wie einer Löwin der Verlust ihrer Jungen, schwer zu ertragen.
Sie. forderte ihren Mann vor das bischöfliche Ehegericht, wo sie wenigstens
um zwei von den vier entrückten Kindern anhielt, weil sie ihr, der Mutter,
vor der Geburt beschwerlich, bei der Geburt schmerzlich und nach der Geburt
mühsam zu erziehen gewesen seien. Das hochweise erzbischöfliche Amt aber
gab das Urtheil von sich, daß dem Mann, der nächstens getauft werden sollte,
alle Kinder zugehörten. Da hat das Weib mehr als sich sagen und glauben
läßt, den Verlust überaus kläglich bejammert und da sie besorgte, daß sie auch
der fünften Leibesfrucht, die noch unter ihrem Herzen verborgen lag, nach
der Geburt beraubt werden möchte, war sie emsig beflissen, die Zeit ihrer
Niederkunft vor den Christen zu bergen. Deshalb beschloß sie vor allem, ihre
bisherige Herberge, die dem Ehemann und den Kindern bekannt war. zu
ändern. Es ist aber kein Rath wider den Herrn!- Der Vater kam durch sein
unschuldiges Töchterlein dahinter, das durch einige Monate beständig in eines
Christen Behausung gehalten worden war und von der Kindbettin in ihre
verborgene Herberge unbehutsam eingelassen wurde. Auf diese Kundschaft
habe ich der Altstadt Prag wohlbestallten Kaiserrichter ersucht, welcher seinen
Amtsschreiber unverweilt in das Geburtshaus abfertigte, um von der Kind¬
bettin, und im Fall diese sich weigern würde, von den Aeltesten des Juden¬
volks, das neugeborene Kind, als dem nunmehr getauften Vater zuständig,
herauszubegehre». Weil aber die arglistigen Judeuköpfe zu des Kindes Aus¬
lieferung sich nicht verstehn wollten, wurde zu der jüdischen Wöchnerin eine
christliche Hebamme beordert, ob diese durch einen weiblichen gottseliger Fund
das Kind der Mutter heimlich entrücken könnte. Diese Hebamme begleiteten
freiwillig etliche kühne christliche Matronen. Als Anführerin die durch männ¬
liche Gottseligkeit allbekannte Ludmilla, Gemahlin des in Wasser und Blut
getauften Wenzeslaus Wymbrsky, Ihr Ehemann Wenzeslaus war mit dieser
Ehefrau und fünf Kindern von Sr. Eminenz dem Cardinal und Erzbischof
von Prag 1464 in unserer Kirche getauft worden. Es war der tobenden
Judenschaft überaus mißfällig, daß dreizehn Mann aus anderen Geschlechtern dem
Beispiel des Wenzeslaus folgend, in demselben Jahre das Judenthum ab¬
geschworen hatten. Endlich kam ihnen unerträglich vor. daß Wenzeslaus in
seinem Kaufladen, bei dem viele Juden täglich auf ihren Tandelmarkt vor¬
beigehen mußten, das Bildniß des gekreuzigten Heilandes öffentlich ausstellte
und jeden Freitag davor eine brennende Ampel unterhielt. Deshalb war er
dem Judengeschmeiß höchst verhaßt und wurde oft mit Schmach und Spott¬
reden angefallen. Als er nun einst seiner täglichen Gewohnheit gemäß eine
Stunde vor Tage in die Tcynkirche ging, wohin ihm sein Bedienter vorleuch-
tete, fielen ihn drei bewaffnete Juden an, von denen er mit zwei vergifteten
Pistolkugeln tödtlich verwundet wurde, so daß er am fünften Tag darauf gott¬
selig sein Ende nahm, nachdem er nicht zu bewegen gewesen war, die Mörder
nahmhast zu machen. Der Rädelsführer derselben wurde später ertappt und
zum Rad verdammt, brachte aber, als sein eigener Henker, sich selbst durch
den Strick um. Des Getödteten Witwe, Ludmilla, war mit dem Häuflein der
gottseliger Frauen, nun nicht im Stande, sich zu der jüdischen Kindbettin unver¬
merkt einzuschleichen, weil die Hebräer mit ihren scharfen Luchsaugen genau
aufpaßten. Im Augenblick rotteten sich viele derselben zusammen und drängten
sich mit in das Zimmer der jüdischen Sechswöchnerin. Es ließ sich aber Lud¬
milla durch ihre Anwesenheit und die mögliche Todesgefahr nicht abschrecken.
Sie überreichte das mitgebrachte Weihwasser der christlichen Hebamme, und
forderte sie mit kräftigen Worten auf. die Mutter zu entbinden und das Kind
zu taufen. Die Sache ging an. Die Hebamme erwischte das Kind und
taufte das Neugeborne. Die Kindbettin aber sprang rasend aus dem Bette
und riß ihr das Kind mit heftigem Geschrei gewaltthätig aus den Händen.
Sofort fand sich der Stadtrichter mit bewaffneten Männern ein. um das nun¬
mehr christliche Söhnlein von der Mutter abzusondern. Da aber diese gleich¬
sam rasend das Kind so fest in ihren Armen umschlossen hielt, daß man zu
besorgen hatte, es möchte eher erdrückt, als ihr entwunden werden , begnügte
sich der verständige Siadtrichter damit, den versammelten ältern Juden streng
zu verbieten, daß sie idas Kind nicht zum Juden machten. Darauf wurde
durch Se. Excellenz, Hrn. Reichsgrafen von Sternberg, Oberst-Burggrafen
des Königreiches Böhmen geboten, daß dieses fünfte Kind dem Vater aus¬
gehändigt werden sollte. Nicht lange darnach ergab sich auch die dem
Judenthum hartnäckig zugethane Mutter, und wurde getauft. Dies zur Ein«
teilung. —
Der jüdische Knabe Simon Abeles hatte zum Vater den Lazarus, zum
Ahnherrn aber Moses Abeles. welcher der Judenschaft viele Jahre als Primas
vorgestanden hatte. Schon in zarten Jahren wurde an diesem Knaben eine
besondere Gemüthsneigung zum Christenthum verspürt. Wo er sonnte, son-
derte er sich von jüdischer Jugend ab und gesellte sich Christenknaben zu.
spielte mit ihnen und beschenkte sie, um ihr Wohlwollen zu erwerben mit
süßen Leckerbissen, die er am väterlichen Tisch zusammengebracht hatte; der
jüdische gekrauste Kragen, welchen die Juden mit blauem Kraftmehl gestärkt,
ringförmig um den Hals tragen und sich dadurch hier in Böhmen von den
Christen unterscheiden, war dem Simon durchaus zuwider. Als das Licht
seiner Vernunft Heller wurde, erkundigte er sich bei jeder Gelegenheit nach den
christlichen Geheimnissen. Es begab sich, daß er von seinem Vater, einem
Handschuh Händler, in Geschäften mehrmals nach dem Haus eines Christen,
des Handschuhmacher Christoph Hoffmann geschickt wurde. Dort verweilte er
in Betrachtung der heiligen, aber nicht der weltlichen Bilder, welche an den
Wänden hingen, obgleich die letzteren kostbarer und wegen künstlicher Malerei
ansehnlicher waren, und forschte begierig die christlichen Inwohner aus, was
unter selbigen Bildern zu verstehen sei. Als ihm geantwortet wurde, daß
durch das eine Christus, durch ein anderes die Mutter Christi, die wunder¬
thätige Gottesgebärerin von Buntzel (Bunzlau), durch jenes der heil. Antonius
von Padua angedeutet werde, rief er von ganzem Herzen seufzend aus: O daß
ich ein Christ werden könnte! Ueberdies bezeugte ein Jude, Rebbe Liebenau
genannt, daß der Knabe zuweilen ganze Nächte unter Christen zugebracht und
sich im väterlichen Hause nicht eingestellt habe. Viele nun hielten dafür, daß
solche Zuneigung zum Christenthum einen übernatürlichen Ursprung habe und
von einem Taufzeichen herrühre, das ihm schon in der Wiege von einem
Christen eingedrückt worden sei. Als man später diesem aufgesprengten Ge¬
rücht emsig nachgrübelte, wurde bezeugt, daß ein Präceptor, Stephan Hiller,
einst zu Lazarus Abeles geschickt worden sei, eine Geldschuld abzuholen, daß
er allda ein allein in der Wiege liegendes Kind gefunden und dasselbe in
innerlicher Herzensregung mit elementarischen in der Nähe befindlichen Wasser
getauft habe. Aus Nachforschung des hochehrwürdigen erzbischöflichen Consisto-
riums sagte dieser Präceptor, welcher jetzt eine Kaplanstelle bekleidete, aus,
daß er nicht wisse, ob das Kind des Lazarus Söhnlein gewesen sei; ja seinem
Dafürhalten nach wäre selbiges vielmehr einem jüdischen Schneider zugehörg
gewesen. Durch solche Aussage blieb dieser wichtige Umstand zweifelhaft.
Nachdem sich durch etliche Jahre in Simons Gemüth die standhafte
Zuneigung zum Christenthum so vergrößert hatte, daß sie von Einheimischen
deutlich bemerkt wurde, und der schlaue Knabe wol voraussah, daß die El¬
tern und Blutsverwandten keine Mühe sparen würden, ihm einen Stein in
den Weg zu rücken, dachte er vorzubauen und dem väterlichen Hause und
seiner jüdischen Freundschaft zu entfliehn, bevor ihm der Paß verhauen würde.
Als nun den 25. des Heumonats 1693 der Vater Lazarus feierlichen Rasttag
in der Judenschule hielt, begab sich der Sohn in ein der Judenstadt nahe
gelegenes Christenhaus, welches von dem neulich getauften Juden Kawka be¬
wohnt war, und ließ am selben Abend den Johannes Tarda zu sich berufen,
einen vor mehren Jahren mit seinem ganzen Geschlecht bekehrten Juden, den
er schon durchs Gerücht als einen eifrigen Mann und emsigen Anführer zum
christlichen Glauben kennen gelernt hatte. Denn dieser Mann, öfter sein
Leben in Gefahr stellend, hatte Juden, die nach dem christlichen Glauben
verlangten und ihre neugetauften Kinder aus der Judenstadt herausgezogen,
in unser Kollegium S. Element zum Unterricht geführt, war ihnen mit Nah¬
rung, Kleidern, Fach und Dach behilflich gewesen, hatte solchen, die nicht
lesen konnten, geistliche Bücher, vornehmlich aber das Leben Christi mit son¬
derlicher Andacht stundenlang vorgelesen, und fand seine beste Freude darin,
' wenn er sah, wie sie durch die h. Taufe abgewaschen wurden. Diesem nun
eröffnete Simon sein Herz treulich und bat, daß Johannes ihn ins Kollegium
der Societät Jesu führen wolle. Es bedürfte nicht viel Bittens, der Mann
borgte bei einem christlichen Jüngling Kleider, überdeckte dein Simon den
nach jüdischer Art geschorenen Kopf mit einer Perücke und führte ihn über
den altstädter Platz ins Kollegium. Mitten auf besagtem Platz steht aus
einem einzigen Steine gehauen das große, reich übergoldete Bildniß der
seligsten Gottesgebärerin. Johannes erklärte seinem christlichen Lehrling, daß
dies mit Goldglanz reich überzogene Bildniß die Himmelskönigin und die be¬
sonders treue Fürbitterin aller Gläubigen bei Gott bedeute. Das hörte Si¬
mon begierig an, zog unverweilt den Hut ab, verneigte tief seinen ganzen
Leib und empfahl sich mit gottseligem Seufzen der seligsten Gottesgebärerin
als Pflegekind. Darauf wandte er sich zu seinem Anleiter und redete ihn so
an: Wenn dies mein Vater sähe, stracks würde er mich umbringen. So er¬
reichten sie unser Kollegium Abends zwischen sieben und acht Uhr. Simon
trug mir, der ich zum Thore berufen war, sein Verlangen mit ungemeiner
Beredsamkeit vor, zugleich begehrte er mit so hitzigem Eifer, im christlichen
Glauben unterwiesen zu werden, daß ich mich verwundern mußte. Ich stellte
den Knaben noch denselben Abend dem ehrwürdigen Pater Rector des Kolle¬
giums vor. Es sah fast so aus, als befände sich der zwölfjährige Knabe,
wie vor Zeiten Jesus, unter den Schriftgelehrten, indem er verschiedene Fra¬
gen wohlberedt, scharfsinnig und mit einem Urtheil, welches sein Alter über¬
stieg, beantwortete. Als ihm vorgerückt wurde, sein später Eintritt errege den
Verdacht ^ daß er in der Judenstadt ein Lasterstücklein begangen hätte und in
dem geistlichen Haus eine Zufluchtstätte suche, antwortete Simon mit heiterm
Angesicht: hat man Argwohn wegen einer Missethat, so forsche man nach der
Wahrheit durch Ausrufen, wie es in der Judenstadt gewöhnlich ist. Wäre
ich mir einer Lasterthat bewußt, so hätte ich mehr Hoffnung unter Juden un¬
gestraft zu bleiben, als unter den Christen, denn ich bin ein Enkel des Moses
Abclcs, ihres Primators. Als man ihm aber wieder zusetzte, daß er gekom¬
men wäre, um unter den Christen eine Perücke, ein Deglein und alamodische
Kleider zu tragen, machte der Knabe ein saures Gesicht und sprach: ich muß
bekennen, daß ich lange Zeit keinen Judenkragcn getragen. Uebrigens ver¬
lange ich unter den Christen in keiner Kleidertracht zu prangen und will mit
alten Lumpen zufrieden sein. Nachdem er solche ernsthafte Antwort von sich
gegeben, fing er an die Handschuh von den Händen abzustreifen, den kleinen
Degen abzugürten, die Perücke vom Kopf zu reißen und das saubere Ober¬
röcklein aufzuhefteln, entschlossen, so es nöthig wäre, dem entblößten Jesus
unbekleidet nachzufolgen. Durch solche unerwartete Antwort und heldenhaften
Entschluß zur Armuth, trieb er den Anwesenden Zähren aus den Augen. Als
ihm aber befohlen wurde, sich wieder anzukleiden, zog ersieh bald wieder an
und bezeugte mit gewichtigen Worten, die er öfter wiederholte, daß er von
den Juden abtrete wegen ihres ärgerlichen Lebenswandels, sich aber den
Christen zugeselle, um sich seines Heils zu versichern, weil ihm wohl bewußt
wäre, daß es unmöglich sei, ohne Glauben selig zu werden. Als er aber
gefragt wurde, wer ihn gelehrt, daß der Glaube nothwendig sei, das ewige
Leben zu erwerben, sprach er sieben oder acht Mal: Gott, Gott, Gott allein,
wobei er ebenso oft seufzte und mit beiden Händen auf seine Brust schlug.
Jetzt trat er bald zu diesem, bald zu jenem Priester, füßle ihnen die Hände,
fiel ihnen um die Knie und rief: Patres verlasset mich nicht, verstoßet mich
nicht, schicket mich nicht wieder unter die Juden, unterweiset mich geschwind,
geschwind, und (als ahnte und schwebte ihm das auslesende Uebel vor) tau¬
fet mich geschwind. Als nun Simon die Versicherung bekam, daß er den
Lehrlingen im christlichen Glauben beigezählt werden sollte, schlug er in beide
Hände und hüpfte vor Freuden auf. Alle seine Rede ging ihm so reif und
bescheiden, hurtig und ohne alles Stammeln vom Munde, als hätte er es
vorher lange erwogen und aus dem Schreibtäflein auswendig gelernt, so daß
sich einer von den vier anwesenden Priestern mit Verwunderung zum andern
wandte und lateinisch fragte: dieser Knabe hat ein Mundwerk und Verstand,
wenn nicht über die Natur, doch wahrlich über sein Alter.
Unterdeß war die finstere Nacht herangekommen, da aber sür dieses neue
Nicodemerlein keine bequeme Nachtstätte vorhanden war, wurde er unter
innerlichem Widerstreben meines Gemüthes in das Christenhaus, aus welchem
er hergeführt worden war. wieder zurückgelassen, um die Nacht in. Ruhe bei
dem neugetauften Georg Kawka zu verbringen. Dieser wurde an die Pforte
des Collegiums gerufen und der Knabe wurde ihm mit dem ausdrücklichen
Befehl anvertraut, daß er ihn am nächsten Morgen in aller Früh wieder in
dem Collegium stellen solle, damit man ihn mit einer sichern Wohnung ver¬
sorge.
Unterdeß nahm Lazarus die Abwesenheit des Sohnes wahr; da er ihn
weder bei Freunden, noch bei andern Juden fand, fällte er bei sich das sichere
Urtheil, daß sein Sohn zu den Christen übergegangen sei. Am Sonntag früh
verfügte sich Lazarus in jenes Christenhaus des Handschuhmachers Hoffmann.
Er fand diesen nicht zu Hause, hielt mit dem Verlust des Sohnes und seinen
Schmerzen hinter dem Berge und bat des Handschuhmachers Ehefrau Anna
inständig, den Georg Kawka herbeizurufen, weil er mit ihm, der sein Schuld¬
ner sei, ein wichtiges Geschäft abzumachen hätte. Nach langer hebräischer
Unterhaltung mit Lazarus kam Georg Kawka eilfertig ins Collegium, aber
was mir am schmerzlichsten fiel, ohne Begleitung des christlichen Lehrlings.
Er schien sehr ängstlich beunruhigt, meldete aber mit keinem Wort die Unter¬
redung mit dem Vater, sondern sprach nur, daß Simon in seiner Herberge
nicht sicher genug sei, man hätte wol zu besorgen, daß er durch arglistige An¬
schläge der Juden herausgespielt werden möchte. Nach scharfem Verweise,
weil er den Knaben grade bei solcher Gefahr nicht nach gestrigen Befehl mit
sich gebracht, befahl ich ihm sofort nach Hause zu gehn und den Simon
herzuführen. Er versprach dies zwar, setzte es aber nicht ins Werk. Als
nun Georg Kawka zu Hause vorgab, daß er in die Kirche gehn wolle, flehte
Simon, als ahnte ihm etwas von bevorstehender Verrätherei mit Worten
und Thränen, daß Georg ihn nicht im Stich lasse und den Juden, welche
ihm heut unfehlbar nachstellen würden, zum Raube im Hause halte, sonder»
mit sich in die Kirche nehme, und so ins Collegium bringe. Da er aber
unter großen Schmerzen seines Gemüths wahrnahm, daß Georg Kawka mit
faulen Fischen handelte, zog er sich nach dessen Abgang wieder in seinen
Schlupfwinkel unter dem Dache zurück. Kaum hatte Georg seinen Fuß über
die Schwelle gesetzt, da kam Katharina Kanderowa, ein Zinsweib, vom Lande
in ihre gemiethete Kammer, bei welcher Simon seinen Schlupfwinkel hatte,
und sah den Knaben im jüdischen Röcklein, das er wieder anzulegen genö¬
thigt worden war. Da nun besagte Katharina soeben von den Juden, welche
um die Hausthür herumstanden, vernommen hatte, daß sie einen Judensohn
suchten, der dem Vater entflohen sei, und da sie nicht wußte, daß Simon
ein Lehrling im christlichen Glauben geworden war, zog sie ihn aus seinem
Winkel hervor und führte ihn gewaltthätig ins untere Vorhaus. Als der Vater
den Sohn erblickte, überreichte er dem ziemlich starken Weibe dreißig weiße
Groschen, damit sie den Knaben, der nicht stark genug war, sich ans ihren
Händen zu winden, aus dem Hause über die Schwelle herausstoßen sollte.
Gegen solche Gewaltthat rief er die Christen um Beistand an, aber vergebens,
denn zwei baumstarke Juden faßten ihn, ein jeder bei einem Arm und trugen
ihn, der gleichsam in der Lust schwebte, mit größter Eilfertigkeit in die Ju¬
denstadt und seines Vaters Haus. Lazarus der Vater aber ging arglistig
Schritt für Schritt langsam hinterher, um den Christen vorzuplaudern, daß
sein Sohn zu den Christen flüchtig geworden sei. um rechtmäßig verdienter
Strafe zu entgehn. Dies schwatzte er dem Pöbel leicht ein.
Georg Kawka aber fand sich bald nach beendeten Trauerspiel bei mir
ein, erzählte mir zuerst die klägliche Entführung des Simon mit nichtswür¬
digen liederlichen Entschuldigungen. Ich aber redete ihm scharf zu, legte ihm
klar vor Augen, weshalb sich abmerken lasse, daß er mit den Juden unter
dem Hütlein gespielt habe, und befahl ihm ernsthaft, wenn er nicht der ver-
rätherischen Auslieferung des Simon vor Gericht schuldig sein wolle, den
Simon ohne Verschub und mit allen Mitteln, auch durch Requisition christ¬
licher Richter wieder aus den Händen der Juden herauszuziehn und ins Colle-
gium zu liefern. Und wahrlich, es hatte das Ansetzn, als folge er treulich
und emsig dem Befehl. Er durchsuchte mehre Tage die ganze Judenstadt und
durchstrich fast alle Häuser, wie die ihm zugesellten Begleiter bezeugten. Da¬
durch wandte er fast allen Argwohn der Verrätherei von sich ab, und da
Simon nirgend zu finden war, befestigte er das allgemeine Gerücht, Simon
sei heimlich nach Polen geschafft worden. Später wurde Georg Kawka selbst
in bösem Gewissen nach Polen flüchtig und ist bis heut unsichtbar geblieben.
Simon aber, gewaltthätig in das väterliche Haus gerissen.^ wurde seit
diesem Tage nicht mehr außerhalb der Hausschwelle gesehn. Nach der An¬
kunft im Hause war der Vater seines Zornes nicht mächtig, und schlug den
Sohn so wild mit einem Stock, daß die anwesenden Juden schon damals be¬
sorgten, er werde ihn entscelcn. Sie sperrten den Simon deshalb in eine
Kammer, in der sich ein späterer Zeuge, die Sara Vresin aufhielt. Der
Vater aber versuchte durch wiederholtes kräftiges Anrennen die Kammerthür
aufzubrechen und entfernte sich endlich entrüstet aus dem Hause. Als sein
Zorn sich ein wenig gelegt hatte, übergaben ihm die Juden den schwarz ge¬
schlagenen Knaben mit dem Rath, ihn durch Fasten zu zähmen. So wurde
Simon in eine andere Kammer gesperrt. Dort verbrachte er sieben Schmerz«
volle Monate in Hunger, Gefangenschaft, täglichen Verfluchungen. in Erwar¬
tung des oft angedrohten Todes. Als aber der Vater sah, daß des Sohnes
Gemüth unbeweglich war, und Simon am Sonnabend vor dem Fastnacht¬
sonntag wieder vor allen Hausgenossen unerschrocken erklärte, daß er getauft
sein wolle, entschloß sich Lazarus zum Aeußersten. Und damit nicht Zunei-
gnug seine Hand hemme, wählte er einen Juden, Levi Kurtzhandl zum Ge¬
hilfen, einen Mann von wildem Gemüth und frischem Alter, der ihm schon
früher den Nath gegeben, den Knaben durch Gift zu todten. Levi Kurtzhandl
lud den Knaben in die Kammer der Stiefmutter desselben, und führte ein Ge¬
spräch mit ihm aus dem Talmud, um ihn zu verkehren. Als aber Simon
auf seinem Vorhaben beharrte, wurde er von den Fäusten des Levi zerschla¬
gen, und von ihm und dem Vater in die nächste Kammer gerissen. Dort
sielen ihn beide grimmig an, brachen ihm das Genick und trieben seinen Kopf
gewaltsam an die Ecke eines hölzernen Kastens, wodurch der glorreiche Käm¬
pfer Christi einen letzten Stoß an der linken Seite des Schlafs erhielt.
Während diese Grausamkeit in der Kammer verübt wurde, war Lia,
Stiefmutter des Simon, nebst einem Gesellen, Rebbe Liebenau, in der Neben¬
stube mit Handschuhmachen beschäftigt. Bei dem Winseln des Knaben und
dem Getös der Todlscklüger eilte sie in die Kammer. Dort sah sie den ent¬
seelten Leib aus dem Boden und beide Mörder um ihn auf den Knien. Da¬
rüber erschrak die Frau so, daß sie in Ohnmacht sank, und von Kurtzhandl
durch eingeflößten Essig zur Besinnung gebracht werden mußte.
Nach der That kam Heimele, die Köchin des Lazarus zurück, welche er
nebst semen kleinen Kindern aus dem Hause geschickt hatte. Diese fragte bei
der Nähe des Abendessens, wo Simon sei. Ihr wurde ein Eid abgefordert,
die Sache geheim zu halten; worauf ihr der Vater selbst sagte, er habe mit
Levi Kurtzhandl den Knaben, als einen Abtrünnigen vom Gesetz Mosis. nach
dem Beispiel des Patriarchen Phineas, ums Leben gebracht.
Darauf berathschlagte Lazarus mit Levi, wie die Unthat geheim zu hal¬
ten, nicht nur vor den Christen, auch vor den Juden, zumal vor dem Ge¬
schlecht der Burianer, welches allen, die zu den Abeles hielten, höchst feindlich
war. Levi erbot sich, den Körper Simons noch während der Nacht in sein
Haus zu tragen und im Keller eigenhändig zu beerdigen. Lazarus aber be¬
sorgte, der Buriansche Anhang möchte dahinter kommen. Deshalb beschlossen
sie. den Leichnam auf dem öffentlichen Judenfriedhof begraben zu lassen.
Und da an dem Leibe zwar der Hals unterlaufen, sonst aber keine aufge¬
schlagene Wunde zu sehn war, mit Ausnahme des Stoßes am linken Sakkas
von der Größe eines Ducatens, so rief Lazarus seine Hausgenossen zusammen,
beschwor sie und lehrte sie, wie sie einhellig sagen sollten, Simon'sei in Tob¬
sucht gefallen, und so an die Ecke des Kastens gestürzt, wodurch er sich am
linken Schlaf tödtlich verletzt habe.
Am nächsten Morgen früh wurde der glorwürdige Kämpfer Christi durch
zwei Juden. Jerochem und Hirsches Kesserlas, die Todtcnschauer, in höchster
Stille unter die Erde gebracht.
Nach Simons Beerdigung kam aus dem Grabe der erste Gerichtsdiener
der GewissenSwurm hervor, des gottlosen Lazarus Herz zu nagen. Die Er¬
innerung folterte sein Gewissen unablässig und immer schwebte ihm die welt¬
liche Strafe vor Augen. Diese Furcht vergrößerte sehr der Handschuhmacher-
gcselle Rebbe Liebenau. Dieser hatte nach der That siraks des Abeles Haus
verlassen und sich aus dem Staube gemacht und erst nach der Beerdigung
wieder bei seiner Arbeit eingefunden. Als ihm Lazarus den Verlauf zu er¬
zählen begann, fiel ihm Nebbe in die Rede mit der Betheuerung, daß er kein
Wort über die Unthat zu hören verlange, da er die Judenkinder schon auf
öffentlicher Gasse das ganze gestrige Trauerspiel hätte erzählen hören. Dies
traf den bestürzten La'zarus wie ein Donnerschlag; ohne Zögern packte er alle
leichteren Sachen zusammen, verkaufte das in der Judenstadt erbaute Haus
und trat den in einem hochadeligen Hause gemietheten Kaufladen einem
andern Juden ab, um sich in Polen niederzusetzen. Er war auch schon fer¬
tig, am folgenden Tag. die Flucht vorzunehmen, aber durch göttliche Schickung
wurde der hochadelige Hausherr, welcher ihm den Kaufladen verpachtet hatte,
grade durch Gicht in der Hand verhindert, die Abtretungsschrift eigenhändig
zu unterzeichnen.
Unterdeß ging am 23. Febr. ein den Christen nicht übel geneigter Jude.
Jodel, in der Judenstadt durch das Sommerthor, wo er spielende Kinder an¬
traf, die einander erzählten, daß Simon Abeles, vor drei Tagen frisch und
gesund, gestern früh ohne alles Leichengepränge begraben worden sei. Jodel
machte sich unverweilt aus den Begräbnißplatz. sah ein frisch aufgeworfenes
Grab, erwog andere Umstände und Gerüchte, und kam zu der verständigen
Muthmaßung/.daß Lazarus Mörder.des Sohnes sei. Dies vertraute er so¬
fort einem Concipisten der königlichen Stadthalterei in größter Heimlichkeit.
Nachdem ich Nachricht davon erhalten, und der jüdische Angeber mehrmals
mit Ernst zu treuem Bericht ermahnt worden war, schrieb er am folgenden
Tag den ganzen kläglichen Verlauf nieder, um ihn der hochadeligen Stadt¬
halterei zu überreichen. Diese befahl den Körper des Simon ausgraben
und durch bestimmte Aerzte genau besichtigen zu lassen, endlich die der That
Verdächtigen, wie auch deren Mitwirker in sichern Verhaft zu nehmen. Dies
alles wurde behutsam ohne Verschub ins Werk gesetzt. « Der Körper wurde
unter dem Schutz bewaffneter Mannschaft ausgegraben, die zusammengelau¬
fenen Juden und der herbeigerufene Judenarzt sagten aus, daß ein bösartiger
Ausschlag am Haupte und zuletzt Tobsucht dem Knaben die Seele ausgetrieben
hätte. Die Herrn Aerzte aber-gaben das Gutachten, daß mehre Jndicien,
Bruch des Genickes und eine kleine runde Wunde im Schlaf anzeigten, daß
der Knabe durch einen gewaltthätigen Schlag umgekommen sei.
Darauf wurde Lazarus Abeles vor den Leib seines Sohnes geführt. Er
erblaßte und zitterte, wurde so verwirrt, daß er verstummte und eine gute
Weile kein Wort richtig aussprechen und nichts deutlich beantworten konnte.
Endlich, da die Herrn Commissarien beständig darauf drangen, ob er des Kna¬
ben Leib kenne, gab er mit geneigtem Kopf und schwacher Stimme zur Ant¬
wort, es sei der Leib seines Sohnes Simon und als man ihm serner zusetzte,
woher die Wunde am linken Schlaf herrühre, gab er verwirrte und wider¬
sprechende Antworten. So wurde er wieder in das Gefängniß geführt, der
Körper des Knaben aber von dem jüdischen Leichenbret in einen christlichen
Sarg gelegt und unterdeß in den tiefen Nathhauskeller gestellt. Die Herrn
Commissarien begannen unermüdlich Christen und Juden auszufragen. Ungeachtet
aller Jndicicn aber blieb Lazarus und die in besonderem Gewahrsam gefan¬
genen Frauen, Lia, sein Eheweib und Heimele, seine Köchin fast einstimmig
auf derselben Aussage: Simon habe nie dieFlucht aus dem väterlichen Hause
genommen, um ein Christ zu wer'den, sondern sei lange Zeit mit der Kops-
krütze behaftet gewesen und deshalb zu Hause gehalten worden, zuletzt habe
er heftigen Widerwillen vor Speise bekommen, sei in gewaltthätiger Tobsucht
gestürzet und habe sich zu Tode gefallen. Alle Mittel die Wahrheit zu erfor¬
schen, halsen nicht, Lazarus Abeles und die beiden einzigen Zeugen, welche
man damals kannte, blieben halsstarrig.
In Gedanken darüber ging der wohlgeborene Franz Maximilian Frci-
her von Klarstein, bestellter Commissarius, eines Mittags heim und schritt die
Treppe in seinem Hause hinauf; da kam ihm plötzlich vor, als würde er hef¬
tig an die Seite gestoßen, er wandte sich verdrießlich um, stehe, da kam ihm
auf dem ebenen Plützlein, welches beide Stiegen voneinander schied, ein ste¬
hender Knabe vor Augen, der den Kopf neigte und mit fröhlichem Angesicht
holdselig lächelte, mit einem jüdischen Todtenleilach überdeckt, am linken Schlaf
verwundet, an Größe und Alter dem Simon gleich, wie ihn dieser Herr bei
Besichtigung des Leibes mit eigenen Augen gesehn und mit lebhafter Einbil¬
dung in sein Gedächtniß gedrückt hatte. Der Herr erstaunte und dachte noch
hin und her, was dies bedeuten möchte, als er mit seiner Gemahlin und et¬
lichen Gästen bei Tische saß. Da hörte er einen Menschensinger etliche Mal
an die Thüre des Speisesaals anklopfen. Der Diener wurde hinausgeschickt
und meldete, ein unbekanntes Mädchen begehre inständig, hereingelassen zu
werden. Eingelassen und gütig angeredet, antwortete das vierzehnjährige Mägd¬
lein, sie heiße Sara Vrefin, wohne jetzt unter den Christen, um in dem christ¬
lichen Glauben unterwiesen zu werden und hätte vor kurzem bei dem Zins¬
mann im Haus des Lazarus Abeles als Mggd gedient, dort hätte sie mit
ihren Augen gesehn, wie grausam Lazarus-seinem Sohne Simon darum zu¬
gesetzt habe, weil dieser, um getauft zu werden, zu den Christen geflüchtet sei.
Auf diese und andere Aussagen wurde Sara dem Lazarus gegenüber¬
gestellt, dem sie mit großer Gemüthsfreiheit und nachdrücklichen Worten alles,
was sie wußte, vorhielt. Lazarus aber leugnete alles rund ab, und rief in
rasenden Verfluchungen alle Teufel auf seinen Kopf. Als er aber in seinen
Kerker zurückkehrte, ergriff Verwirrung und Verzweiflung sein Gemüth, er er¬
kannte, daß ihm sein Leugnen vor Gericht nicht mehr helfen werde, und be¬
schloß, sich dem Rechtsverfahren durch ein letztes Mittel zu entziehn. Obwol
ihm beide Schenkel und eine Hand durch Fesseln gehindert waren, so schlang
er doch, statt eines Stricks die Tephilim benannten Riemen, womit die Juden
beim Gebet den Kops und die Arme umwinden, ans eiserne Fenstergitter, und
erwürgte sich daran. So wurde er am folgenden Morgen erdrosselt gefunden.
Denn die Juden halten aus Irrthum für zulässig, sich selbst zu erwürgen, und
verüben dergleichen öfter. — Sein todter Leib wurde gerichtet.
Nach seinem Tode legten seine Frau Lia und die Dienstmagd Hennele,
der Sara Vresin gegenübergestellt, ein offenes Bekenntniß ab; auch der flüch¬
tige Handschuhmachergesell Rebbe Liebenau wurde eingezogen und bekannte.
Sr. fürstliche erzbischöfliche Gnaden bestimmten, daß Simon in der Teynkirche
in der Kapelle des h. Täufers Johannes, zunächst dem Taufstein in ausgehöhltem
Mauergrab von polirtem Marmelstein begraben würde, in einem sauberen,
eichenen, mit rothem Sammet überzogenen und mit einem Schloß verwahrten
Sarge, mit drei Schlüsseln. Ferner, daß der Sarg von unschuldigen und
adligen, mit Purpur bekleideten Jünglingen zur Begräbnißstätte getragen wer¬
de. Die hochadlige Frau Sylvia Katharina, geb. Gräfin Kinsky, Sr. Ex¬
cellenz des Herren Reichsgrafen Schlick Gemahlin, ließ doppelte kostbare
Kleider zu diesem Tage verfertigen, ein Unterkleid von weißem Atlas und ein
rothes Oberkleid, beide mit Gold unterwirkt, mit goldenen Knöpfen besetzt
und mit goldener Poscnnentirarbeit geziert, schaffte auch Strümpfe von
gleichen Zeuge, um die Füße zu bedecken und einen überaus schönen Kranz
von goldenen und silbernen Lilien und Rosen, um das Haupt des jungfräu¬
lichen Blutzeugen zu krönen. Kaum war sein hochwerlher Leib geschmückt
und in den köstlichen Sarg versetzt, so fand sich der hohe Adel beiderlei Ge
schlechts ein und drang mit gottseligem Ungestüm in die Kapelle, wo alle
erstaunten und den wundersamen Gott priesen, als sie das heilige Pfand
(den Körper des Simon) fünf Wochen nach seiner Entleibung unversehrt sa¬
hen, kein Ausdümpfen eines Geruchs verspürten und wahrnahmen, daß aus
seinen tödtlichen Wunden fortwährend rosafarbnes frisches Blut abtröpfelte.
Weswegen auch hoch angesehene Personen mit ihren Handtüchlein diesen kost¬
baren Saft auffaßten. Andere aber, welche mit keinem saubern Tüchlein
versehn waren, oder wegen des großen Gedränges nicht zukommen konnten,
machten sich über die alte Todtentruhe und rissen die blutigen Hobelspäne darin
weg. Darauf wurde der ehrenwerthe Leib aus dem großen Rathhaussaal
drehen und den nächsten Tag ausgestellt. Es war aber auch allda überaus
schwer zu ihm zu dringen. Endlich am 31. Mürz wurde die Beisetzung ins
Werk gerichtet. Bewaffnete Macht umgab in drei Reihen das Rathhaus, durch
die ganze Stadt begannen in 70 Kirchen'die Glocken zu schallen und läuteten
zwei ganze Stunden fort. Unterdeß verschmachtete die Synagoge und ganze
Judenschaft fast vor Todesangst, weil sie hoch besorgte vom christlichen Pö¬
bel aus Rache angefallen zu werden. Es schien aber einem Wunder nicht
ungleich, daß keine Gewaltthätigkeit vorgenommen wurde, da doch in den ver-
wichenen Jahren die Christen mehr als einmal wegen geringerer Ursachen den
Tandelmarkt und die Judenstadt angefallen und ausgeplündert, auch die Ju¬
den selbst angegriffen, etliche schwer beschädigt und, wie bekannt ist, gar er¬
mordet hatten. Als gegen 10 Uhr die Maler mit einer doppelten Abbildung
des Blutzeugen Simon fertig waren, begannen die Kirchengebräuche. Nach¬
dem der Sarg verschlossen war, schickten sich die Commissarien an, die Schloß-
löcher zu versiegeln. Da aber die papiernen Siegelzettel leicht verletzt wer¬
den konnten, wurde von den Herren Commissarien ein bequemes Seitenhaut
verlangt. Als dies hochadlige Personen wahrgenommen, rissen sie von ihrem
Haupt, Brust und Armen solche Zeuge ab. Sr. Excellenz der Reichsgraf
von Martinitz band ein an seinem Degenhest Hangendes Band ab. Es
wurde aber zu diesem Gebrauche das Band von rothem Atlas gewählt, wel¬
ches die hoch und wohlgeborne Gräfin Kolowrat getragen, dies wurde ent¬
zwei geschnitten und über das Schloßloch herabgezogen und angesiegelt. Darauf
wurde der Sarg des Märtyrers mit einer großen, von rothem Sammet kost¬
bar gefertigten Fahne gedeckt, mitten aus dem Todtcnschrein stand ein zierliches
Bild Unserer Lieben Frauen, an beiden Ecken Engel mit Palmenzweigen.
Sechzehn von gutem Adel herstammende Jünglinge legten ihre unschuldigen
Achseln unter den Leichenschrein, sie trugen rothe, mit goldenen Borten schim¬
mernde Mäntel, Kränze von rother Seide gewunden, mit silbernen Rosen unter¬
setzt. Dabei klang der Glockenklang durch alle drei Städte, die Wolken des
Himmels heiterten sich plötzlich auf, die Volksmenge bedeckte alle Dächer,
nahm alle Fenster ein, sie war nicht nur aus den drei nahen Weingebirgen,
sondern auch aus fernen Flecken und Städten zusammengeströmt. Das Heer
des Leichenzuges führten die ersten Stadtbcamten, darauf folgten die unlängst
getauften Jüdlcin mit rothen Feldzeichen geziert, denen zwei Kirchenfahnen
von gleichem Zeuge vorangetragen wurden. Ferner eine unzählbare Menge
von Schulknaben aus allen Schulen der drei Städte, in acht Purpurfähnlcin
abgetheilt, drittens unter rothen Fahnen alle Studentlein aus den untern
lateinischen Schulen. Viertens über vierhundert Köpfe der lateinischen Bruder¬
schaft aus den Schulen, ihnen wurde Kreuz und Fahne mit einem Sonnen¬
schirm umgeben, mit angezündeten Wachslichtern vorgetragen. Ihnen folgte
fünftens die größere Studentenbruoerschast Unserer Lieben Frauen, darunter
viele Doctoren, Gerichtsbeisitzer und verschiedene vom Neichsadel; vor ihnen
wurde Kreuz und Fahne mit Sonnenschirm getragen, in ihren Händen führten
sie brennende Wachskerzen und flammende, weiße Windlichter. Sechstens kam
das erste Sängerchor, dann die Klerisei in ihren Chorröcken, dann die zweite
Sängerordnuug, darauf die Leviten, Pfarrherrn, Hochwürdigsten Capitelherrn
mit dem Osficianten, welchen Stadtsoldaten in langer Reihe zur Seite gingen.
Siebentens trugen den glorwürdigen Leichnam des Blutzeugen (Simons) die
sechzehn geschmückten Jünglinge. Zu beiden Seiten des Sarges gingen zwölf
Knaben mit rothen brennenden Fackeln, mit holländischem Purpurgewand
ausbündig schön überkleidet. Achtens folgten dem Sarg die hochadligen
Vorsteher und Statthalter des Königreichs, alle in ihren Händen rothe Fackeln
haltend, ihnen folgte der vornehmste Adel beider Geschlechter in großer Menge,
endlich eine unzählbare gottpreisende Volksmenge. —
Der Gehilfe des Mordes, Levi Hüsel Kurtzhandl, von den Juden nicht
so genannt, weil er Kurzhändler war, sondern weil sein Vater überaus kurze
Hände gehabt hatte, war von wohlhabenden Eltern zu Prag geboren, von
hoher Gestalt, zwanzig Jahr alt, stark, von trotzigem Gesicht, zornmüthig.
wacker beredt und witzig, in talmudischen Büchern, die er elf Jahre studirt
hatte, ausbündig erfahren. Er hatte sich neun Meilen von Prag bei seiner
jüdischen Braut geborgen. Nach emsigen Nachforschungen wurde bewaffnete
Mannschaft abgefertigt, welche ihn in Eisen legte und zu Wagen mit unter¬
gelegten Pferden am 22. März in Prag einbrachte. Obwol die Commissarien
nach frühern ähnlichen Fällen zweifelten, daß sich aus diesem harten Kiesel¬
stein ein Tropfen Wahrheit würde auspressen lassen, wurden ihm doch
die Zeugen gegenübergestellt. Er aber gestand trotz der Bekenntnisse dreier
Zeugen gar nichts; man bedrohte ihn mit dem Henker und der Folterbank,
aber das wirkte bei ihm so viel, als wenn man einem Krebs droht, daß
man ihn ersäufen wolle. Denn er traute sich zu, auch die Folterung zu über¬
stehen und so loszukommen. Ja er erkühnte sich, zu sagen, man verfahre
bei dem Gcrichtshandel gegen ihn wider alles Recht und Gesetz. So wurde
er dem Rechte gemäß nach der Aussage von drei Zeugen auch ohne sein
Geständniß zum Rade verdammt.
Er aber unterbrach durch sieben Monate die Vollstreckung des Richter¬
spruchs, indem er durch einen jüdischen Blutsverwandten den Handel vor
Se. kaiserliche Majestät Leopold brachte. Durch jüdische Ränke wurde jetzt
das Verfahren gehemmt und dermaßen saumselig betrieben, daß man klar
bemerken konnte, der Verurtheilte suche nur einen Aufschub aus mehre Jahre,
um endlich Strafmilderung zu erhalten, oder durch freiwilligen Tod vorzu¬
bauen. Endlich erwirkte das Tribunal, daß der Beschuldigte seine Schutz¬
schrift binnen vierzehn Tagen einreichen mußte; ihre eitlen Entschuldigungen
wurden zurückgewiesen und durch kaiserliche Majestät der Richtspruch bestätigt.
Er aber blieb bei seinem Wort: Ich bin unschuldig am Blut des erschlagenen
Knaben. Dies wiederholte er öfter vor Pater Johannes Brandstetter von
der Societät Jesu, einem unermüdlichen apostolischen Arbeiter, der vier Tage
nach Kurtzhandl selig an dem heftigen Gifte starb, das er bei Liebesdiensten
am Krankenlager in sich gezogen. Als er den Verurtheilten frug, ob er den
Tod gutmüthig überstehen könne und ihn zur Annahme des seligmachende
Glaubens ermahnte, antwortete Levi mit fröhlichem Gesicht ohne Verwirrung:
„ich achte den Tod so wenig als diesen Strohhalm — er hielt wirklich einen
in der Hand und warf ihn darauf weg — was aber den Glauben anlangt,
so wollen wir jetzt aus heiliger Schrift verhandeln, wer von uns beiden den
wahren Glauben habe. Der Pater soll aber nicht denken, eine plumpe Ein¬
falt vor sich zu haben, denn ich habe elf Jahre die talmudischen Bücher
siudirt." So begann ein Glaubensstreit, der Priester griff den Talmudisten
mit theologischen Beweisthümern an, und Levi faßte alles wegen der tapfern
Fähigkeit seines Witzes, zuletzt warf er seine jüdische Bibel mit Ungeduld von
sich: dem sei wie ihm wolle, ich bleibe wie ich geboren worden. Da der
verstockte Jüngling am nächsten Tage sein gestriges Liedlein wiederholte, griff
der Priester die Sache wieder anders an, sprach ihm nicht mehr zu, sondern
wandte sich zu andern Mitgefangenen und las diesen aus der h. Schrift ver¬
schiedene Zeugnisse vor, wodurch er bewies, daß der Messias schon da gewesen
sei. Dies hörte Levi sint und bedächtig an und obwol er kein Zeichen gab,
daß er geneigter zum heiligen Glauben sei, so war doch aus seinem Angesicht
zu sehen, daß ihm des Priesters Gegenwart nicht so unangenehm sei, wie
gestern. Am dritten Tage begehrte Levi, so verhärtet er sonst war, doch, daß
der Pater am Nachmittag wiederkomme, da ihm seine Anwesenheit in diesem
elenden Zustand zum besondern Trost diene. Da dies der Priester muthig
versprach, schien das steinharte Herz erweicht, am Nachmittag verließ sich der
Pater in heiliger Einfalt so auf das Zutrauen des Juden, daß er alle an¬
dern entfernte, mit ihm allein blieb und ihn freundlich und inständig bat, er
möchte ihm selbst einen Trost geben und ihm, dem Pater, als höchstes Ge¬
heimniß bei Treu und Glauben, wenn es ihm gefällig sei, erzählen, was er
von dem Tode des Simon wisse. Ueber diese unerwartete Anrede erstaunte
Levi sehr, er schwieg lange still, endlich aber faßte er aus diesem seltenen
Vertrauen eines christlichen Priesters zu einem Juden Hochachtung vor der
Aufrichtigkeit desselben und bekannte, durch die versprochene Verschwiegenheit
des Paters verführt, vor ihm selbst und vor einem Mitgefangenen unter
großen Schmerzenszeichen, mit eingezogenen Achseln und auf die linke Seite
niedergelassenen Kopfe, daß er auf Anstiften des Vaters Lazarus Abeles an
den Simon ^ gewaltthätige Hand gelegt, und ihn aus Eifer für das Gesetz
Mosis umgebracht habe. Ueber dies Geständniß war der Priester überaus
froh und bemühte sich, ihn durch Beweise und inständiges Bitten zu ver¬
mögen, daß er sich hochherzig zu Gott wenden möchte. Levi aber wollte
darauf mit keiner rechten Antwort heraus. Und da der Priester sich bei schon
heranschleichender Abenddämmerung zum Heimgehn rüstete, schlug Levi seine
Augen zum Himmel und sprach mit tiefem Seufzer- Vater, wo werde ich
morgen um diese Zeit sein? worauf der Priester versetzte: „Mein Kind, im
Himmel, so du den christlichen Glauben annimmst, stirbst du aber im Juden-
thum, als ein verstockter Jude in der Hölle." Darauf wünschte er ihm aufs
freundlichste eine gute Nacht und ein seliges Ende und ging davon.
Am andern Tage fand der Priester den Verurtheilten zum bevorstehenden
letzten Trauerspiel ganz weiß in weiße Leinwand gekleidet, gleichsam als
hätte er sich ausgerüstet getauft zu werden. Der Pater frug ihn nach freund¬
lichster Begrüßung, in welchem Glauben zu sterben er sich endlich entschlossen
hätte? Daraus gab Levi diese Worte zurück: In demselben Glauben will ich
sterben, in welchem Abraham, Jsaak und Jacob gestorben sind. Und wie
vor Zeiten Abraham seinen Sohn, so will ich heut mich selbst für meine
Sünden aufopfern." Als ihm der Priester weiter zusetzte, sprach er mit
gütigem Angesicht und unverwirrtem Gemüth: ich bitte zum demüthigsten,
der Pater wolle mir nicht weiter mit der Taufe lästig werden, denn ich will
jetzt die Psalmen beten und mich zum glückseligen Tode vorbereiten. Darauf
begann er die Psalmen zu sprechen, aber ohne die Tephilim genannten
Riemen, obwol die Juden sonst das Gebet ohne Umwinden der Stirn und
Hände für Sünde halten. Er betete aber mit solcher Herzenszerknirschung
und solch heftigem Brustklopsen und Thränen, daß sich die Mitgefangenen
und Anwesenden über diesen büßenden Menschen heftig verwunderten. Nach
einem Gebet, das über zwei Stunden dauerte, übergab er sich hurtig in die
Hände des Henkers und redete ihn mit ganz heiterem Gesicht so an: Mache
mit mir, was dir Gott und mein Richter zu thun befohlen hat. Darauf
wandte er sich zu seinen Mitgefangenen, beurlaubte sich freundlich von ihnen
und bat demüthig, ihm seine begangenen Mängel zu verzeihn. Nach zehn
Uhr führte man ihn unter dem Zuschauen einer unzählbaren Volksmenge aus
dem Gefängniß und band ihn in eine Ocksenhaut ein, wobei er kein Zeichen
von Ungeduld oder Mißfallen von sich gab. Nur die gebundenen Hände
hob er zuweilen betend zum Himmel auf. So wurde er von einem Pferde
zur Wahlstatt geschleppt. Als er wahrnahm, daß der begleitende Priester
mitten auf dem Platz in Gefahr war, von einem Pferde schwer beschädigt
zu werden, und daß er durch das zulaufende Volk gedrängt wurde, bat er
mit mitleidiger Stimme, daß er vorangehen möge, sich der Gefahr zu
entziehen. —'
So weit die Worte des Jesuitenberichts. Auf dem Schaffst legte Levi
allem Volk ein männliches Bekenntniß seiner That ab. mit der Bitte, die
Zeugen, welche nur die Wahrheit gesagt, nicht länger im Gefängniß zu
halten. Die Einzelheiten der Hinrichtung waren besonders grausam, der er¬
fahrene Henker vermochte — so erzählen die Verfasser — den starken Körper
des Verbrechers mit dem Rade nicht zu todten. Zuletzt rief Levi den Priester
an seine Seite und frug ihn mit klarer Stimme, was er ihm verspräche,
wenn er sich taufen ließe? Als ihm der Pater außer der Vergebung aller
Sünden auch noch schnellen Tod versprach, antwortete Levi: ich will getauft
werden. Triumphirend eilte die Kirche mit einer Nothtaufe, sehr geneigt,
die unerhörte Körperkraft und Ruhe des Verbrechers für ein besonderes
Wunder göttlicher Vorsehung auszugeben. Levi sprach die vorgesprochenen
Formeln kräftig nach und empfing ruhig den jetzt wirksamen Todcssireich.
Das ist die traurige Geschichte von Simon Abeles. Wer den Jesuiten-
bericht unbefangen beurtheilt, wird noch manches darin finden, was die Er¬
zähler zu verschweigen wünschten. Und wer mit Abscheu auf die fanatischen
Mörder sieht, der möge sich mit nicht geringerem Abscheu von den fanatischen
Priestern abwenden. Sie reißen das noch ungeborne Kind aus dem Leibe
der Mutter, sie halten für einen gottseliger Fund, den Säugling seiner Mutter
heimlich zu stehlen, sie erschachern durch Spione und Zuträger, durch Verspre¬
chungen. Drohungen, Aufregungen der Phantasie und fütterndes Gepränge ihrem
Gott, der dem Gott des Evangeliums fehr unähnlich ist, Scharen von Pro-
selyten zum „Abwaschen;" sie benutzen einen jammervollen Mord mit der
Geschicklichkeit erfahrener Regisseure, um ein wirksames Trauerspiel in Scene
zu setzen, und den todten Leib eines Judenknaben, um durch Pomp. Flitter
und massenhafte Aufzüge, wo möglich durch Wunder, ihren Glauben bei
Christen und Juden zu empfehlen. Ihr Fanatismus, im Bunde mit der
bürgerlichen Obrigkeit und willfährigen Gefetz. gestützt auf die Sinnlichkeit
des vornehmen und geringen Pöbels, steht gegen den Fanatismus eines ge¬
schmähten, verfolgten, leidenschaftlichen Stammes, List und Gewaltthat, Frevel
und verkümmerte Sittlichkeit hier wie da. Der moderne Staat überwindet
das fanatische Judenthum, seit er die Juden emancipirt. das fanatische Pfaffen-
thum lastet noch wie ein Alp auf dem Glauben und der Sittlichkeit von
Unter den wenigen Ereignissen von Bedeutung, welche die letzten Wochen
in England brachten, schien die Sendung Gladstones nach den jonischen
Inseln das bedeutendste. Anfänglich ein Gegenstand der Vermuthung, klärte
sich der Zweck dieser Sendung plötzlich durch die Veröffentlichung einer Denk¬
schrift auf, welche den gegenwärtigen Lordobercommissär Sir John Doung
zum Verfasser hat und, vom 10. Juni. v. I. datirt, der Negierung den Rath
ertheilt, ihr Verhältniß zur Republik der sieben Inseln umzugestalten, die
Oberschutzherrsclmft über die südlichen unter denselben auszugeben, Korfu aber
sammt dem benachbarten Paxo dem britischen Reich einzuverleiben. Der
Verfasser der Denkschrift hält den jetzigen Augenblick für einen derartigen
Schritt besonders geeignet, da der Parteigeist unter den Eptanifiern gegen¬
wärtig sehr abgenommen habe und nicht mehr über Mißbrauch der Gewalt
von Seiten der Schutzmacht geklagt werde. Er unterstützt sodann seinen Vor¬
schlag durch Gründe, die in Kurzem folgende sind:
Die Inseln liegen zu weit auseinander, und ihre Interessen sind zu ver¬
schiedenartig, als daß sie unter fremden Auspicien ein homogenes Ganze bil¬
den könnten. Die Schwierigkeiten, mit denen das englische Protektorat bis¬
her zu kämpfen gehabt, haben ihren Ursprung hauptsächlich in den südlichen
Inseln Cephalonia. Ithaka, Santa Maura, Zarte und Cerigo, die, weit
abgelegen von Korfu, der Abstammung ihrer Bewohner nach so wie zufolge
ihrer Sympathien mehr zum Königreich Griechenland gehören, als die Inseln
der nördlichen Gruppe, und die andererseits für England von geringer Be¬
deutung, ja mehr eine Last, als ein gewinnbringender Besitz sind. Korfu da¬
gegen muß man behalten; denn wenn es an Griechenland fiele, würde es
Albanien und die türkischen Theile von Epirus in steter Aufregung erhalten.
Es ist sogar wünschenswert^, daß es enger mit England verbunden, daß es
englische Colonie wird. Es zahlt ebenso wieseine Trabanteninsel Paxo mehr
als es kostet, und es würde, dem britischen Staat einverleibt, in seinem
Ackerbau, der jetzt vernachlässigt ist, und seinem Handel einen Aufschwung
nehmen, der es zu einem Garten und seinen Hasen zum Mittelpunkt für den
Verkehr der benachbarten Gewässer machen würde. Dies weiß man auf Korfu,
und so kommt es, daß hier die Abneigung gegen das englische Protektorat
am schwächsten ist. Sodann ist Korfu der Schlüssel des adriatischen Meeres,
es ist für die über Trieft führende Straße von England nach Aegypten und
Indien so wichtig, wie Malta für die Route über Gibraltar und Marseille,
und,es ist endlich von höchster Bedeutung für die sicherten des türkischen
Reiches, dessen westliche Provinzen durch die Hafen- und Festungsbauten Oest¬
reichs in Pola und an andern Punkten der adriatischen Küste ebenso schwer
bedroht sind, wie die östlichen durch Sebastopol bedroht waren. Wenn Eng¬
land Korfu in permanenten Besitz nimmt, so wird dies eine ebenso feste Schranke
gegen die etwaigen Absichten Oestreichs auf die Eroberung türkischer Provin¬
zen sein, wie der Besitz Gibraltars einst ein Hinderniß der Eroberung Spa¬
niens, der Besitz Maltas ein Hinderniß der Eroberung Siciliens durch die
Franzosen war. Napoleon I. hielt den Besitz Korfus für unerläßlich zur För¬
derung seines bekannten Strebens, die französische Herrschaft über die benach¬
barten Gegenden des Morgenlandes auszubreiten, und es ist klar, daß die Insel
ebenso gut gelegen ist, solche Anschläge zu begünstigen, als sie im Zaum zu
halten. Die übrigen Inseln können ohne Gefahr an das Königreich Grie¬
chenland abgetreten werden.
Dies ist im Wesentlichen der Inhalt von Sir I. Aoungs Denkschrift,
nach welcher also für England nur die Wahl zwischen drei Auskunftsmitteln
bliebe: entweder unter der bisherigen Form die Inseln der jonischen Repu¬
blik mit unbeschränkter Gewalt zu regieren, oder sie ganz aufzugeben, oder
aber die werthlosen Theile abzutrennen und die militärische Position Korfu
zu behalten.
Die englische Presse hat zu der Frage eine verschiedene Stellung einge¬
nommen. „Daily News", jetzt der Negierung günstig gesinnt, erklärt sich für
den Vorschlag des Lordobercommissärs. Der „Globe" scheint es für das
Klügste zu halten, daß man das Protectorat über die unbequemen jonischen
Schreier ganz aufgäbe. Die „Times" will zunächst Gladstones Bericht über
die Angelegenheit abwarten, indeß kann sie nicht umhin, Bedenken über den
Noungschen Plan auszusprechen. England habe das Protectorat über die
Siebeninselrepublik als Aequivalent für große Anstrengungen und Opfer er¬
halten und könne somit, ohne den Vorwurf der Unbilligkeit auf sich zu laden,
sein bisheriges Verhältniß zu derselben behaupten. Es sei indeß ein schlechter Kauf
gewesen und so könne es vielleicht klug sein, sich die Jonier mit ihren steten
Klagen und Widersprüchen ganz vom Halse zu schaffen. Aber unbillig und
ungerecht sei es, die Republik in der vorgeschlagenen Weise zu theilen. Wenn
es sich schicke, die Griechen von Cephalonia mit dem stammverwandten König¬
reich Hellas zu vereinigen, so zieme sichs nicht, die Griechen Korfus von der
Brüderschaft auszuschließen. Sodann aber nehme England in dieser Sache
jetzt einen festen Standpunkt ein; es sage: die Inseln stehen kraft des euro¬
päischen Staatsrechts unter unserm Schutz, und die Stammesgleichheit gibt
ihnen nicht mehr Anspruch aus den politischen Verband mit den Staaten König
Ottos, als den Griechen von Thessalien oder Kandia. Aber durch den Ver-
zieht auf die fünf südlichen Inseln würden wir diesen Anspruch nicht nur für
uns selbst, sondern auch für den Sultan anerkennen, wahrend unsere dann
anomal erscheinende Behauptung Korfus sich auf den nackten Grund stützen
würde, daß die Insel einen guten Hafen hat, daß sie stark befestigt ist. und
daß wir eine das adriatische Meer beherrschende Station brauchen.
Das Cabinet Derby hat sich beeilt, zü erklären, daß seine Ansicht der
des Lordobercommisfärs entgegengesetzt sei, daß.es nicht beabsichtige, in dem
durch die Verträge von 1815 festgestellten Verhältnisse Englands zu den jo-
nischen Inseln Aenderungen eintreten zu lassen. Schließlich ist zu bemerken,
daß die zehn Vertreter Korfus im jonischen Parlament gegen die Unterstellung
Sir John Joungs, die Insel wünsche mit England vereinigt zu werden,
protestirt und erklärt haben, man hoffe und erstrebe vielmehr eine Verbindung
mit Griechenland.
Dies wäre der gegenwärtige Stand der Dinge in Betreff dieser Frage.
Die Entscheidung wird erst nach Zusammentritt des Parlaments erfolgen.
Der Protest der Korfioten wird dabei nur in geringem Maße in Betracht
kommen, zumal da man weiß, daß die Wahlen auf dieser Insel das Werk von
Factionen sind. Das Maßgebende wird das Interesse Englands sein. Die
Vertrüge von 1815 würden England nicht hindern, sein Protectorat auszu¬
geben, falls es ihm eine Last wäre. Sie würden es als Papiere, welche (man
denke an die Einverleibung Krakaus in den östreichischen Staat, an die Los-
reißung Belgiens von Holland) von der neuesten Geschichte oft genug durch¬
löchert wurden, kaum abhalten können, dieses Protectorat in Bezug auf Korfu
in eine Besitznahme zu verwandeln, vorausgesetzt, daß die Zeit überhaupt
dazu angethan wäre. Die Bedenken der „Times" sind jedenfalls von Ge¬
wicht. An ihre Aufrichtigkeit aber zu glauben, wenn sie den Erwerb der
Oberschutzherrschaft über die Siebeninselrcpublik einen schlechten Kauf nennt und
es wenigstens für möglich hält, daß dieser Kauf rückgängig zu machen sei, kann
nur einem vollkommen Blinden zugemuthet werden. Sehr möglich ist es, daß
trotz jener Bedenken und trotz der Erklärung des jetzigen Cabinets die eng¬
lische Regierung über kurz oder lang Einleitungen trifft, den Aoungschen Plan
mit oder ohne Modification durchzusetzen, daß es in den südlichen Inseln die
Schale der Muschel wegwirft und die Perle Korfu behält. Vollkommen un¬
möglich aber ist es, daß eine englische Regierung auch Korfu aus den Händen
geben sollte. Es ist dies um so weniger möglich in jetziger Zeit, wo zwischen
Rußland und Frankreich ein EinVerständniß besteht, welches nur deshalb noch
nicht zum Bündniß geworden ist. weil England seemächtiger und den fran¬
zösischen Küsten näher ist als Nußland, wo serner Frankreich fortwährend an
der Verstärkung seiner Flotte arbeitet und (man erinnere sich der Ränke in
Tunis und Acgypten. an den Suezkanal und die Hoffnungen, welche bei
diesem Unternehmen im Hintergrund stehen) fortwährend insgeheim nach Er¬
weiterung seines Einflusses auf der Südküste' des Mittelmeeres strebt, und wo
endlich Rußland mit Lillafranca einen Kriegshafen an diesem Meere-gewonnen
hat. Korfu aufgeben, hieße für England den dritten Theil seiner Macht im
Mittelmeer aufgeben. Und zu wessen Gunsten? Einfach zu Gunsten seiner
Rivalen. Die Insel würde zunächst an Griechenland fallen, welches England
mit gutem Grunde haßt, welches den Franzosen Verpflichtungen schuldet,
weiches durch seinen Glauben und tausend Sympathien sich zu Rußland hin¬
gezogen fühlt. Man hat in den letzten Jahren Millionen darauf verwendet,
die Stadt Korfu zu einer uneinnehmbaren Festung zu machen. Sie jetzt an
Griechenland abtreten, hieße diese Festung sür Rußland, welches nach der
Türkei, oder für Frankreich, weiches nach Aegypten strebt, oder für beide zu¬
gleich erbaut haben. Korfu ist einer der drei mächtigen Anker, welche die
Herrschaft Englands im Mittelmeer halten, wie es einst einer der Hauptanker
der Macht Venedigs war. Die jonischen Inseln besitzen eine cemrale Lage, indem
sie von Ländern umgeben sind, welchen große politische Veränderungen bevor¬
stehen, Ländern, auf welche England, wenn es nicht auf einen beträchtlichen Theil
seiner Bedeutung als Großmacht verzichten will, Einfluß zu behalten streben
muß, mit welchen es einen ausgedehnten Handel treibt, mit welchen es wieder¬
holt Krieg geführt hat und vielleicht wieder Krieg führen wird. Sie liegen
in der Mitte zwischen England und dem persischen Meerbusen, etwa zwei
Tagefahrten eines Dampfers von der Stelle, wo man jetzt einen Eingang
vom mittelländischen Meer in das rothe zu öffnen beabsichtigt. Sie sind aus das
bequemste zum Verkehr mit allen Theilen der Levante gelegen, sind Brückenköpfe
zum Einmarsch eines englischen Heeres in ein mit Nußland verbündetes Griechen¬
land, sind Castelle, welche das adriatische Meer schließen, sind eine Operations¬
basis in einem Kriege Englands mit italienischen Mächten. Alexandrien,
Tripolis. Tunis, Malta, Palermo. Neapel. Livorno. Genua, Ancona, Venedig,
Triest, Smyrna und Konstantinopel bilden einen Gürtel großer Städte um
diese Inselgruppe, von welcher aus Dampfschiffe in fünfzig bis achtzig Stun¬
den jeden dieser Plätze erreichen können. Sie ist ein Centralpunkt für die drei
Continente von Europa, Asien und Afrika, und man kann von ihr, vorzüglich
aber von Korfu. sagen, was Burke einst von Gibraltar sagte: „sie ist ein
Posten der Macht, ein Posten der Ueberlegenheit, der Verbindung, des Ver¬
kehrs — ein solcher, welcher uns unsern Freunden unschätzbar, unsern Feinden
furchtbar macht."
Das Gebiet des Mittelmeeres gehört überhaupt zu den Gliedern des
Meeres, wo die Herrschaft Englands von jeher am meisten bestritten war.
Neue Knotenpunkte außer Gibraltar, Malta, Korfu dort zu erringen, ist für
die britische Macht sehr unwahrscheinlich. Man bedauert jetzt schon, daß
man die breitere Basis, welche Sicilien, Korsika und Minolta boten, auf¬
gegeben hat, obwol diese Positionen auf die Dauer für England nicht zu
halten waren. Und nun sollte man Korfu opfern wollen, wo der Besitz von
Algerien den Franzosen eine so starke Stellung gegeben hat und wo auch
Oestreich mit der Zeit eine nicht zu verachtende maritime Wehrkraft erschaffen
kann? Gelingt es Frankreich, in Algerien eine höhere Culturstufe zu erzielen,
wird (was wir trotz des Lärms der französischen Zeitungen noch immer stark
bezweifeln) der Suezkanal aus einer Börsenspeculation eine Thatsache —
wohlverstanden, wir meinen eine wirklich brauchbare und bleibende — werden
dann Marseille und Trieft die beiden europäischen Hafenorte für den Verkehr
des Welttheils mit Indien und dem tropischen Morgenland überhaupt,
schreitet endlich die Entwicklung Italiens und Griechenlands erfreulicher als
bisher sort, so ist die Herrschaft Englands aus dem Mittelmeer mindestens
sehr stark gefährdet.
Die jonischen Inseln liegen in langgestreckter Reihe an der Küste von Epirus
(Südalbanien), Akarnanien und dem Peloponnes zwischen den Parallelen des
36. und 40. Grades nördlicher Breite und des 19. und 23. Grades östlicher
Länge. Der Gesammtflächenraum derselben beträgt 1041 englische Quadrat¬
meilen, von denen 21 auf die deutsche gehen, und darauf wohnten nach dem
letzten Census 241.493 Menschen, von denen 49,563 Acker- und Weinbau,
7989 Handwerke und 6323 Handel treiben. Die Bevölkerung vertheilt sich
wie folgt: Korfu mit 227 Q.M. (englische) hat 75,532 Einwohner, zu denen 9730
Fremde kommen, Cephalonia mit 511 Q. M. 70, 541 Einwohner und 1993
Fremde, Zarte mit 161 Q.M. 38, 627 Einwohner und 436 Fremde, Santa
Mcmra mit 156 Q.M. 20,043 Einwohner und 104 Fremde, Ithaka mit
44 Q.M. 1 1,343 Einwohner, Cerigo mit 186 Q.M. 13,007 Einwohner,
und Paxo mit 26 Q.M. 5025 Einwohner. Zu diesen sieben Hauptinseln
kommen noch eine Anzahl kleinerer, wie Färö, Merlera, Sälmatraki, Antipcixo,
Meganisi, Petala, Kalanos und Cerigotto, welche von jenen abhängig sind
und mit ihnen die Republik der jonischen Inseln (?o Äpco^cVov I<^«roh r-so
/opt-vo T^ocov) bilden. 625,406 Arres Land sind Aecker und Weingärten,
97,536 Weideland, 279,737 liegen wüst. Die Haupterzeugnisse sind Korinthen
(durchschnittlich 55,000 Centner im Jahre), Wein und Olivenöl. Auch wird
etwas Baumwolle und guter Flachs erbaut. Die Viehzucht besteht meist aus
Schafen (100,730) und Ziegen (68,098); dazu kommen 10,546 Pferde und
13,770 Stück Rindvieh. Die Gesammteinkünfte der Inseln betrugen 1854:
137.978 Pfd. Se., wovon 79,982 auf die Zölle fielen; die Ausgaben: 139,511
Pfd. Se., wovon 25,000 aus das Militär, 13,000 aus die Gehalte des
Lordobercommissärs und einiger anderen hohen Würdenträger, 42,ovo auf
die Verwaltung, 17,046 auf die Justiz und 10,271 auf das Schulwesen
kamen. Der Werth der Einfuhr war 781,121, der Werth der Ausfuhr
374,366 Pfd. Se.
Im Alterthum bildete» die Inseln bekanntlich verschiedene Staaten, die
je nach der Abstammung ihrer Bürger auch verschiedene politische Einrichtungen
hatten. Nachdem letztere auf den Hauptinseln wiederholt gewechselt, siel die
ganze Inselgruppe mit den übrigen Theilen Griechenlands an Rom. In
den ersten Jahrhunderten des Mittelalters geboten lateinische Fürsten über
einzelne von den Inseln. Nach mancherlei Zwischenfällen, und nachdem Korfu
Cephalonia, Ithaka und Zarte mehrmals auf das furchtbarste von den
christlichen und mohammedanischen Seeräuberflotten verwüstet worden, welche
damals die griechischen Meere unsicher machten, stellte sich Korfu im Jahr
1386 unter die Souveränetät Venedigs, und in den nächsten zwei Jahr¬
hunderten sielen auch die übrigen westgriechischen Inseln sämmtlich in die
Hände dieses modernen Karthago, welches dieselben auf unverantwortliche
Weise verwaltete. Man stellte nur Venetianer als Beamte an, und diese ver¬
fuhren in der Weise der alten Proconsuln. Sie sahen ihre Stellen als Mittel
zur Bereicherung an und richteten sich in ihrer Verwaltung nach dem Recept
des bekannten Staatskanzlers Fra Paolo Sarpi. welcher sich über die Grund¬
sätze, nach denen den Griechen gegenüber zu verfahren, folgendermaßen äußert:
„In den Colonien muß man sich erinnern, daß auf nichts weniger Verlaß ist
als auf die Treue der Griechen. Man muß sie behandeln wie wilde Thiere,
ihnen die Zähne und die Krallen ausbrechen, sie häusig demüthigen, vor
allem aber ihnen die Gelegenheit abschneiden, sich an den Krieg zu gewöhnen.
Brot und den Stock, das ists was ihnen zukommt, menschliche Empfindung
hebe man sich für eine passendere Gelegenheit auf."
In Uebereinstimmung mit diesen liebenswürdigen Vorschriften, wurden die
Jonier schwer besteuert und von den Steuern starke Besatzungen unier ihnen
erhalten und mächtige Zwingburgen erbaut. Die Rechtspflege war äußerst
willkürlich, Bestechung gab den Ausschlag bei allen Fragen der Justiz wie
der Verwaltung, der größere Theil der Einnahmen fiel in die Taschen der Be¬
amten, und man führte mit allen Mitteln Krieg gegen die griechische Natio¬
nalität. Die jungen Leute lockte man nach italienischen Universitäten, indem
man ihnen dort Titel zu erwerben gestattete, ohne daß sie zu den Prüfungen
gezogen wurden, denen andere Studenten sich zu unterwerfen hatten. Daheim
wurde nichts für, vieles gegen die Schulen gethan. Die griechische Sprache
wurde aus dem Gerichtssaal, aus allen öffentlichen Urkunden verbannt, und
es gelang, sie selbst aus den Kreisen der vornehmen Welt zu verdrängen.
Nur das Landvolk bewahrte dieses Erbtheil seiner Vater. Der römisch-katho¬
lische Glaube wurde zum herrschenden erklärt, obwol außer den venetiauijchen
Eoloniften nur wenige Bewohner der Insel» ihm anhingen. Endlich Jesus
man aus einigen Geschlechtern eine Art Adel, der sich mit Geld und Verrath
an der nationalen Sache erkaufen ließ, und der. mit Einfluß auf Kreise ver¬
bunden, welche die Fremden nicht als ihre Domäne in Anspruch nahmen,
Factionen im Gefolge hatte, welche noch jetzt nicht völlig aufgehört haben.
Es ist bei diesem System kein Wunder, wenn die jonischen Griechen jetzt in
dem Rufe stehen, an Treulosigkeit, Truglist und Ränkesucht nur von den Fa-
nariotcn übertroffen zu werden.
Bei dem Fall Venedigs im Jahre 1792 übergab der Friede von Campo
Formio die jonischen Inseln an die französische Republik und dieselben wur¬
den von Truppen der letzteren besetzt, die indeß sehr bald von einer russisch-
türkischen Expedition wieder vertrieben wurden. Nach den Bestimmungen eines
Vertrags zwischen dem Zar und dem Sultan wurden die Inseln zu einem Staat
umgeschaffen, der unter der Suzeränetät der Pforte stehen und den Namen
der Siebeninselrepublik führen sollte. Dieser Plan aber scheiterte an den
Factionen. In dem kurzen Zeitraum von zwei Jahren hatten sich alle sieben
Inseln des Aufruhrs gegen die Centralregierung schuldig gemacht, während zu
gleicher Zeit jede einzelne Insel sich wiederholt gegen ihre Lvcalrcgierung empört
hatte. Greuelthaten gleich denen der Corcyräer im peloponnesischen Kriege waren
an der Tagesordnung, in Zarte kamen in einem Jahre nicht weniger als 360
Meuchelmorde aus politischen Gründen vor, eine ungeheure Zahl bei nicht ganz
40,000 Einwohnern. Erschrocken über diesen Stand der Dinge schickten die Russisch¬
gesinnten in Jahre 1802 einen gewissen Naranzi als Gesandtennach Petersburg,
um die Einmischung des russischen Kaisers zu erflehen und der Anarchie ein
Ziel zu setzen. Naranzi erhielt Auftrag, zu erklären, daß die Jonier bereit
wären, sich mit blinder Ergebung jedwede Verfassung gefallen zu lassen, die
man ihnen geben würde, daß sie wünschten, dieselbe möge „das Werk der
anbetungswürdigen Hand" des Autokraten selbst oder wenigstens „eines ein¬
zigen Gesetzgebers" sein, und daß der Kaiser geruhen möge, dieselbe „durch
eine Streitmacht russischer Krieger mit Nachdruck zu stützen." Infolge dieser
Bitte beauftragte der Zar seinen Bevollmächtigten Graf Mocenigo, einen Zan-
tioten. die Verfassung von 1800 umzugestalten, und unter dessen Auspicien
wurde 1803 eine neue Regierung eingerichtet. Aber schon in Jahre 1807
trat Nußland die Inseln an Frankreich ab. und die Siebeninselrepublik „hörte
auf zu existiren" und wurde dem französischen Kniserreich einverleibt. 1809
und 1810 wurden sämmtliche Inseln mit Ausnahme von Paxo und Korfu von
einer britischen Expedition erobert, welche von den Joniern allenthalben mit Jubel
willkommen geheißen wurde. Paxo siel 1814; Korfu. welches seiner starken
Festungswerke wegen nicht angegriffen worden war, wurde bis zum Fall Na¬
poleons strenger Blokade unterworfen. Einer der ersten Acte der Restau¬
ration in Frankreich war die Uebergabe der Insel an England. Endlich wurde
am 5, November 1815 in Paris von den Bevollmächtigten Frankreichs, Eng¬
lands, Rußlands. Preußens'und Oestreichs ein Vertrag unterzeichnet, durch
welchen die jonischen Inseln, von denen England sechs durch das Recht der
Eroberung und eine durch Uebergabe im Besitz hatte, zu einem „freien und
unabhängigen Staate unter dem unmittelbaren und ausschließlichen Schutze Gro߬
britanniens" erklärt wurden. Der militärische Befehl wurde der souveränen
Schutzmacht vorbehalten, die durch einen Lordobercommissär vertreten sein
sollte, welchem das Recht zugesprochen wurde, die Gesetzgebung und die Ver¬
waltung zu regeln, eine constituirende Versammlung zu berufen und die Be¬
rathungen derselben zum Zweck einer Verfassungsurkunde zu leiten.
Sir Thomas Maitland, der erste Lordobercommissär, war ein Mann von
großen Talenten und reicher Erfahrung. Wenn er gewaltthätiger und rück¬
sichtsloser mit den Ioniern verfuhr, als es einer civilisirten Nation gegenüber
sich gebührt (bekannt ist sein Spitzname King Tom) so hat man sich zu erin¬
nern, daß die Jonier damals keinen Anspruch auf das Prädicat einer civili-
sirten Nation hatten, und daß man selbstsüchtigen Factionen gegenüber, welche
die Worte Freiheit und Nationalität nur als Deckmantel ihres Ehrgeizes
brauchten, nicht anders als mit Schärfe verfahren konnte. Unter Maitlands
Leitung kam 1817 eine Verfassung zu Stande-, welche allerdings viele Wünsche
der Bevölkerung unerf-nlle ließ, in welcher aber mit großem Geschick alle Grund¬
sätze ausgedrückt waren, welche die Schutzmacht ermächtigten und verpflichteten,
sobald als das Volk reif war, demselben vollkommenste Selbstregierung zu
verleihen. Was auch die Mängel dieser Verfassung gewesen sein mögen und
welche Fehler man auch den Beamten zur Last legen mag, die unter ihr die
Schutzmacht vertraten, auch die ärgsten Widersacher Englands werden nicht
hinwegleugncn, daß sie den Ioniern einen dreißigjährigen Frieden, materielles
Gedeihen und Sicherheit des Besitzes brachte, wie sie bis dahin hier unerhört
waren. Es wurde Recht gesprochen ohne Einfluß von Bestechung, der öffent¬
liche Schatz war sicher vor diebischen Händen, der von den Venetianern ein¬
geführte Feudalismus wurde in seinen verderblichen Wirkungen auf die ärmere
Classe nach Möglichkeit eingeschränkt, das Volk war nicht mehr eine verach¬
tete Kaste, die eingebornen Beamten wurden mit Achtung und Höflichkeit be¬
handelt, und jedermann, Hoch oder Niedrig, fand in den Vertretern Englands
eine Macht, welche sowol den Willen als auch die Gewalt hatte, das Recht
zur Geltung zu bringen und dem Unrecht abzuhelfen. Zu gleicher Zeit wurde
alles gethan, um das materielle Gedeihen des Landes zu fördern, vortreff¬
liche Straßen, bis jetzt in der ganzen Levante unbekannt und selbst im König¬
reich Griechenland eine Seltenheit, wurden auf allen Inseln angelegt, man
baute Häfen, Wasserleitungen und Quais, man ermuthigte Ackerbau und Han¬
del, man richtete Schulen für alle Classen der Bevölkerung ein. Die Steuern
sind sehr mäßig und bestehen fast ausschließlich in Ein- und Ausfuhrzöllen,
directe und Municipalsteuern aller Art sind beinahe ganz unbekannt.. Endlich
ist auch der griechischen Sprache ihr Recht widerfahren, indem sie seit 1851
bei allen öffentlichen Verhandlungen und in allen Regierungscrlassen so wie
in den Gerichtshöfen gebraucht wird, während bis dahin die italienische im
Gebrauch war.
1848 und 1849 führte LordSeaton, damals Lordobercommissär, bedeu¬
tende Veränderungen in die jonischc Verfassung ein, von denen wir nur
Wahlen durch Ballotirung, Ausdehnung des Wahlrechts und Preßfreiheit
nennen. Die Beziehungen zwischen der Schutzmacht und den Joniern sind nach
diesen Reformen nicht so freundlich gewesen, als vorher. Die alten Factionen reg¬
ten sich wieder lebhaft, und der Jnstinct der Nationalität hat. vorzüglich auf
den südlichen Inseln, den Wunsch nach Vereinigung mit dem Königreich Griechen¬
land wiederholt laut-werden lassen. 1849 kam es auf Cephalonia zu einem
Aufstand, dessen Triebfedern indeß weniger in patriotischen Tendenzen als in
Bestrebungen zu suchen waren, die wider das neunte und zehnte Gebot liefen.
Die Rebellen waren wenig besser als Räuber, und der damalige Lordobercom¬
missär Ward ließ ihren Anführern mit Recht die Strafe von Räubern zu Theil
werden. Seitdem hat man sich auf Geschrei in der Presse und auf Demon¬
strationen in der gesetzgebenden Versammlung beschränkt und nebenher im
Privatleben versucht, den englischen Beamten und Offizieren das Leben zu
erschweren. Die verständigen Jonier aber wissen, daß damit nichts erreicht
wird, daß man mit seinen Wünschen nach Vereinigung mit den Stammes¬
brüdern im Osten zu warten hat, bis die Behauptung Korfus für England
und für das europäische Gleichgewicht überhaupt nicht mehr nothwendig ist,
und daß man in der Zwischenzeit wohlthut, sich der vielen praktischen Vor¬
theile, welche die Verbindung mit England bietet, ohne Rückhalt zu erfreuen.
Wir knüpfen hieran einen Ueberblick über die jonische Verfassung. Die
Gesetzgebung besteht aus dem Lordobercommissär (^Ano«??,^), einem Senat
(^"^o-^«) und einer Abgeordnetenkammer (Fo-^). Der Lordobercommissär
hat das Recht des Einspruchs gegen alle Beschlüsse des Senats und der Ab¬
geordneten, besorgt die auswärtigen Beziehungen des Landes und hat unter
seiner unmittelbaren Leitung die Departements der Polizei und des Sanitäts¬
wesens. Er wird auf jeder der sechs südlichen Inseln durch einen englischen
Beamten vertreten, welcher den Titel Resident (griechisch Eparchos) führt und
der Localregierung seiner Insel in der Weise vorsteht, wie der Obercommissür
der Centralregierung. Der Senat ist das Oberhaus der Gesetzgebung und
zugleich der -ausübende Staatsrath. Alle Aemter mit wenigen Ausnahmen
werden durch ihn vergeben (der Lordobercommissär hat die Ernennungen zu
bestätigen) und alle Verordnungen für die Localregierungen gehen von ihm
aus. Er besteht aus einem von dem Souverciin der Schutzmacht auf fünf
Jahre ernannten Präsidenten und fünf Mitgliedern, von denen Korfu, Cepha-
lonia, Zarte und Santa Maura je eins, die übrigen Inseln abwechselnd eins
stellen. Diese Senatoren werden vom Lordobercommissär ernannt, und zwar
müssen drei von den fünfen stets aus dem Abgeordnetenhauses genommen wer¬
den. Die Dauer des Senats wie des Abgeordnetenhauses ist fünf Jahre.
Der Lordobercommissär hat das Recht, diese Körperschaften zu vertagen, auf¬
lösen aber kann sie nur der Souverän der Schutzmacht. Die Abgeordneten¬
kammer besteht aus 42 Deputaten, von denen Korfu, Cephalonia und Zarte
je 10, Santa Maura 6, Ithaka, Cerigo und Paxo je 2 senden. Die Abge¬
ordneten werden vom Volke erwählt und zwar direct. Sie kommen ein Jahr
um das andere in Korfu zusammen. Die Session beginnt am 1. März.
Die Verwaltung der Finanzen des Staates ist mit Ausnahme von 38,00»
Pfd. Se., die von den Einnahmen abgezogen und auf militärische Zwecke,
so wie auf Besoldung der obersten Beamten verwendet werden, ganz in den
Händen der Volksvertretung.
Die richterliche Gewalt ist durch ein Oberappellationsgericht, welches in
Korfu seinen Sitz hat, und durch Civil-, Criminal- und Polizeigerichte auf
den einzelnen Inseln vertreten. Als Gesetzbuch dient diesen Behörden jetzt
eine Sammlung von Bestimmungen, welche auf den Code Napoleon gegründet
sind, während man früher nach einer wirren und widerspruchsvollen Masse
venetianischer Edicte entschied.
Die griechische Kirche wurde durch die Verfassung von 1817 in ihre den
Verhältnissen entsprechende Stelle eingesetzt. Sie ist die herrrschende auf den
Inseln. Einige der Sprengel sind sehr alt; denn Namen von jonischen Bi¬
schöfen (z. B. der des heiligen Spiridion. des Schutzpatrons von Korfu)
kommen schon in den Urkunden der frühsten Kirchenversammlungen vor. Ge¬
genwärtig hat jede der sieben Inseln ihren eignen Bischof, der von der Geist¬
lichkeit gewählt und von dem Senat und dem Obercvmmissär bestätigt wird.
Als oberstes Haupt der jonischen Kirche gilt der Patriarch von Konstantinopel.
Die Bischöfe der Sprengel Korcyra. Cephalonia, Zakynthos und Leukas
werden Metropoliten genannt und haben den Rang von Erzbischöfen. Sie
bekleiden wechselweise das Amt eines Eparchos, welcher das Medium des
Verkehrs der Kirche mit dem Patriarchen ist. Die römisch-katholische Kirche,
welche auf den Inseln etwa 5000 Bekenner zählt, hat in Korfu einen Bischof.
Von dem durch die Venetianer geschaffenen Adel sind noch einige fünfzig
Familien übrig, welche den Grafentitel führen. Die wichtigsten öffentlichen
Anstalten: ein Krankenhaus, eine Irrenanstalt, ein Findelhaus und ein Zucht¬
haus befinden sich in der Stadt Korfu. Für die Erziehung ist im Vergleich
mit andern südlichen Ländern viel gethan. Man verwendet jährlich mehr als
10,000 Pfd. Se, auf Schulen, jedes Dorf von einiger Bedeutung hat seine
Elementarschule, jede Insel ihr Gymnasium, und 1823 gründete ein begeisterter
Philhellene, der Carl of Guildford in Korfu eine Universität, welche aus den
bekannten vier Facultäten besteht und mit der eine Antikensammlung und eine
ziemlich gute Bibliothek verbunden sind. Im Jahre 1853 zählten diese ver¬
schiedenen öffentlichen Unterrichtsanstalten, außer denen noch mehre Privat¬
schulen vorhanden sind, gegen 600» Zöglinge.
Das Klima der jonischen Inseln hat im Allgemeinen Ähnlichkeit mit dem
auf Madeira, indeß ist es plötzlichen Veränderungen unterworfen. Der Winter
bringt viel Regen, der Sommer Visweilen eine fast tropische Hitze. Ueberaus schön
ist der Frühling und der Herbst. Eis und Schnee kommen fast nur auf den
Bergen vor. Häufig sind furchtbare Stürme, hier Boraskas genannt, und
Santa Mama so wie Zarte werden bisweilen von Erdbeben heimgesucht,
Die Inseln haben sämmtlich sehr zerklüftete unregelmäßige Küsten und
eine unebne Oberfläche. Die Berge, meist waldlos, bestehen wie die des be¬
nachbarten Festlands hauptsächlich aus Kalk, dem sich hin und wieder grauer
Gyps und Lager von Sandstein beimischen. Der Boden ist mehr für den
Anbau von Reben und Olivenbäumen, als für Getreide geeignet. Von letz¬
terem erzeugt keine der Inseln ihren vollen Bedarf, und es wird deshalb viel
Weizen und Gerste von Odessa bezogen. Mehr als drei Viertheile des frucht¬
tragenden Bodens sind mit Korinthenreben und Oelbäumen bepflanzt. Der
Ackerbau wird namentlich in Korfu sehr lässig betrieben. Den Grund davon
sieht man darin, daß das Grundeigenthum hier in sehr kleine Theile getheilt
ist. Das Land ist vorzüglich im Besitz kleiner Eigenthümer, welche dasselbe an die
Bauern nach dem sogenannten Mctauersystem verpachten, bei welchem der Pacht¬
schilling in einem bestimmten Antheil an dem Ertrag der Ernte besteht. Die
Landleute auf den südlichen Inseln sind regsamer als die Korfioten, zum Theil
deshalb, weil sie von dem Adel, der hier auf seinen Gütern wohnt, zum
bessern Betrieb der Landwirthschaft aufgemuntert werden, während auf Korfu
der Geschmack am städtischen Leben, unter der venetianischen Herrschaft allge¬
mein, noch jetzt seinen Einfluß übt. Der Grundeigenthümer Korfus bewohnt
nur selten sein Landgut und sein Besitz ist deshalb vernachlässigt- Er liebt
es, statt seine Aecker zu bauen, seinen Vätern gleich sich in der Nähe des Re¬
gierungssitzes aufzuhalten und Gelegenheiten zu erspähen, wo er aus leichte
Weise sein Glück machen kann- Solche Gelegenheiten bieten sich jetzt seltner,
als unter den Venetianern, aber die Gewohnheit nach Aemtern und Analader
zu schleichen, hat sich vererbt und läßt sich nicht wol ausrotten.
Manufacturen von Bedeutung gibt es auf den jonischen Inseln so wenig
' wie im Königreich Griechenland. Zarte führt etwas Seife aus, die übrigen
Inseln liefern Töpferwaaren, wollene Decken und Ziegcnhaartcppiche.
Wir schließen mit einem Blick auf die einzelnen Inseln. Korfu wurde
früher von uns geschildert. Von Paxo, der nächsten Insel nach Süden hin,
mag nur angeführt werden, daß es außerordentlich wasserarm und daß sich
in seiner Nähe das bekannte von Plutarch erzählte Wunder begab, bei welchem
der Steuermann Thamus, des Nachts von einer übermenschlichen Stimme
bei seinem Namen gerufen, den Befehl erhielt, an der Bucht von Bntrinto
laut auszurufen, der große Gott Pan sei gestorben. Er that dies anfangs
nicht, gehorchte aber, durch Windstille erschreckt, endlich, und nun erhob sich
ringsum ein überaus schauerliches Wehgeschrei.
Cephalonia oder Kephallenia ist die größte unter den jonischen Inseln;
es hat einen Umfang von nahezu siebenundzwanzig deutschen Meilen. Homer
nennt es Same oder Samos und läßt es zum Königreich des Odysseus ge¬
hören. Am Perserkriege nahmen nur die Bewohner von einer seiner Städte
Theil. Im peloponncstschen Kriege traten die Kephallenier gezwungen auf
Athens Seite. 189 gerieth es in die Gewalt Roms. Strabo meldet, daß
die grenze Insel dem C. Antonius als Privateigenthum gehörte. Im Mittel-
alter und in der neuen Zeit theilte dieselbe das Schicksal Korfus. Im Alter¬
thum hatte die Insel vier Städte, von denen allen noch Reste anzutreffen sind:
Pale, eine halbe Stunde nördlich vom heutigen Lixuri gelegen, Kranii, auf
einigen Felsenhügeln aus der andern Seite des Hafens von Argostoli (vie
Mauer ist theilweise noch gut erhalten), Pronj, auf einer der Höhen, welche
das auf der Ostseite der Insel liegende schöne Thal von Ralli überragen,
endlich Samos. Letzteres stand in der Nähe des Ufers einer Bucht im Norden
der Insel und an dem engen Kanal zwischen dieser und Ithaka. Von dieser
Bucht zieht sich ein Thal ins Land hinein. An dessen Nordwestende stehen
auf zwei felsigen, durch eine tiefe Schlucht getrennten Hügeln die Neste der
massiven Polygonenmauern der Akropolis und einer andern Burg, welche
Livius Cyathis nennt. Die Unterstadt nahm wahrscheinlich die Abhänge
zwischen der Akropolis und der See ein. Die Ruinen sind sehr anmuthig
mit Schlinggewächsen und blühendem Gesträuch überwachsen. Am Ufer steht
ein kleines Dorf, wo die Lloydschiffe anlegen. Nicht fern vom Gestade quillt
mitten im Meer ein starker Südwasserquell, der bei ruhiger See sich einen
Fuß hoch über die Wasserfläche erhebt. Cephalonia ist ein Bergland. Es
wird von einer Gebirgskette durchzogen, welche ihre Zweige durch die ganze
Insel entsendet, verschiedene Thäler bildet und sich im Montencro, dem alten
Aenus. 4600 Fuß über das Meer erhebt. Das Haupterzeugniß der ebenfalls
ziemlich wasserarmen Insel sind Korinthen. Die Hauptstadt Argostoli hat
8000 Einwohner. Lixuri, die zweitgrößte Stadt, hat deren S000.
Leukadia oder Santa Maura war ursprünglich eine Halbinsel. Nach¬
dem die Korinther hier eine Colonie 'angelegt, schnitten sie die Insel durch
einen Kanal vom Festlande ab, der indeß allmälig so versandete, daß er für
größere Schiffe unbrauchbar wurde und jetzt bei der Ebbe zuweilen durchwatet
werden kann. Die Leukadier fochten in der Schlacht bei Salamis mit, spater,
im peloponnesischen Krieg standen sie auf Seiten der Spartaner. Gegen Rom
wehrten sie sich tapfer, wurden aber endlich unterworfen. Gegen das Ende
des Mittelalters herrschten hier fränkische Edelleute. 1467 eroberten es die
Türken. Zulegt siel es an Venedig. Dann theilte es das Schicksal der
übrigen jonischen Inseln. Leukadia ist besonders im Norden gebirgig und
bringt etwas Wein und Oel hervor. Der am stärksten bewohnte Theil ist
der. welcher der Küste von Akarnanien gegenüberliegt.- Hier steht auch das
Fort Santa Maura und darunter Amaxichi. die Hauptstadt der Insel. Einige
Dattelpalmen geben dem Fort ein anmuthiges Aussehen. Die Stadt, von
4000 Menschen bewohnt, ist von ärmlicher Physiognomie und liegt sehr un¬
gesund. Auch wird sie, wie die ganze Insel, bisweilen von Erdbeben heim¬
gesucht. Nicht fern von hier, bei dem von den Nüssen erbauten Fort Alexan¬
der, trifft man Neste der alten Stadt Leukas. Den Ruinen gegenüber befindet
sich auf dem akarnanischen Ufer das Castell Paläochali, wo der bekannte
General Grivas 1847 von den Truppen der griechischen Regierung belagert
wurde. In den Eichenwäldern von Karus gibt es noch Wölfe. Ein Ausflug
von acht bis neun Stunden von Amaxichi bringt den Reisenden nach einer
Stelle, welche als „Sapphos Sprung" bezeichnet wird. Es ist eine schroff
ins Meer abfallende Klippe von etwa 200 Fuß Höhe. Von hier stürzte man
im Alterthum am Jahresfeste des Apollo einen Verbrecher hinab. Die Tra¬
dition hat daraus die Sage gemacht, daß Sapphos Selbstmord hier statt¬
gefunden habe.
Ithaka, jetzt Thiaki. das Vaterland des Helden der Odyssee, hatte in der
spätern griechischen Zeit keine Bedeutung. Im Mittelalter ebenso wenig.
1504 war es ganz ohne Bewohner. Der Boden ist nur an einigen Stellen
fruchtbar, und man führt Korinthen so wie etwas Wein und Oel aus. Viele
von den Einwohnern sind Seeleute. Die Hauptstadt Vathy, an einem sehr
guten Hasen gelegen, hat gegen 3000 Einwohner. Aus der Südseite der
großen und tiefen Bucht, an welcher die Stadt liegt, zeigt man (natürlich
ohne Beweise dafür zu haben) in einer kleinen Seidenhunde den Hafen des
Phorkys, der auch Dexia genannt wird. In einer Grotte nicht weit davon
sieht man die Nymphenhöhle, in welcher die Phäaken den schlafenden Odysseus
niederlegten. Ferner zeigt man hier die Burg des Odysseus. die Quelle der
Arethusa. und die sogenannte Schule Homers.
Das Schloß des Odysseus liegt auf einem felsigen Hügel an dem
schmalen Isthmus, welcher die beiden Theile Jthakas verbindet. Zwischen
dem dichten Gesträuch, welches den Berg bedeckt, finden sich Reste uralter
cyklopischer Mauern. Man erkennt Spuren mehrer Thore und eines Thurmes,
sowie zwei große unterirdische Cisternen. Der Hügel heißt Aötos d. h. Adler.
Die Aussicht ist sehr großartig. Auf der einen Seite schaut man hinab aus
die gewundene Meeresstrnße zwischen Ithaka und Cephalonia, und auf die
Ruinen von Samos, von wo vierundzwanzig der Freier Penelopes kamen.
Auf der andern breitet sich die große Bucht von Ithaka mit ihren Felsen
und Seitenbuchten aus. Im Osten ziehen sich die akarnanischen Berge hin,
im Süden ragen, den größten Theil des Jahres mit Schnee bedeckt, die
Gipfel des Peloponnes, im Norden zeigt sich der weiße Fels von Sapphos
Sprung. Am Fuße des Aötos hat man eine Anzahl von Grüften entdeckt,
in denen Vasen, Thräncnkrüge, Bronzesiguren u. a. gesunden wurden. Eben
solche Grüfte trifft man westlich von Vathy. Eine davon bezeichnet das Volk
als das Grab der Penelope.
In der Nähe der Südostspitze von Ithaka. erhebt sich über der See eine
weiße Klippe, welche Korax d. i. Rabenklippe genannt wird. Es ist die
Klippe, von der Odysseus hinabgestürzt sein will . von Eumüos, wofern er
nicht die Wahrheit sage. Eine kleine Ebene dabei ist, wie man meint, die
Stelle, wo der „göttliche Sauhirt" sich aushielt. In einer Vertiefung darunter
quillt, von Gesträuch umgeben, Homers „Quelle der Arethusa".
Die Schule Homers liegt in der Nähe des Dorfes Exoge im Norden
der Insel. Sie besteht aus den Grundmauern eines alten Gebäudes, vielleicht
eines Tempels, und einigen in den Fels gehauenen Nischen und Stufen. Die
ganze Stelle ist mit Gewinden von Epheu und andern Schlingpflanzen an¬
muthig bewachsen. Nicht fern davon, an dem Abhang des Neritos, liegt
das Dörfchen Leute, wo der Garten des Laertes gelegen haben mag.
Zarte, bei Homer und allen andern alten Schriftstellern Zakynthos
genannt, ist eine der fruchtbarsten und schönsten Inseln der Levante.
Es führt vortrefflichen Wein, Oel und sehr viele Korinthen aus und
ist weniger bergig als die andern jonischen Inseln. Seine Geschichte
bietet wenig Bemerkenswerthes. Sieben Meilen südlich von hier pas-
sirt man die Strophaden, niedrige öde Eilande,, wo die Sage die
Harpyen wohnen ließ. Die Hauptstadt von Zarte liegt, halbmondförmig
an einer schonen Bucht neben dem Berge Skopos, dem Elatus des
Alterthums, und hat gegen 20,000 Einwohner. Die Säulengänge mancher
Straßen erinnern an Bologna. Einige ältere Häuser sind in venetianischen
Stil erbaut. Ueber der Stadt ragt ein Fort, am Abhang des Skopos liegt
ein großes Kloster mit schöner Aussicht. Alterthümer finden sich auf Zarte
nicht. Dagegen verlohnt sich ein Ausflug nach den Erdpechquellen, welche
2V2 Meilen von der Hauptstadt, an der Bucht por Chieri entspringen. Die¬
selben erinnern an die vulkanischen Kräfte, welche unter Zarte thätig sind
und noch in den Jahren 1820 und 1840 durch Erdbeben beträchtliche Ver¬
heerungen anrichteten.
Cerigo, einst Cythera, die Insel, bei der Aphrodite dem Schaume des
Meeres entstieg, und auf welcher sie später am liebsten weilte, ist großentheils
ein oder Felsen, hat indeß mehre fruchtbare Thalkessel und wird von etwa
10,000 Menschen bewohnt. Im Alterthum war es meist von Sparta ab¬
hängig, doch wurde es im peloponnesischen Kriege von Niklas besetzt und erst
mehre Jahre später herausgegeben. Die alte Hauptstadt lag auf der Kap
Malea zugekehrten Seite, der Haupthafen hieß Skandea und ist wahrscheinlich
identisch mit dem von San Nikolo, wo jetzt der beste Ankerplatz sich findet.
Der jetzige Hauptort ist Kapsali, welches an der Südküste hoch über dem eben
genannten Hafen liegt. Daneben ragt auf steilem Kegelberg eine mittelalter¬
liche Burg, welche jetzt eine kleine britische Besatzung hat. Die Hauptmerk¬
würdigkeiten Cerigos sind zwei Stalaktitenhohlen, von denen die eine in der
Schlucht von Mylopotamos, die andere, an welcher sich eine Kapelle der
heiligen Sophia befindet, in einem Thale zwei Stunden von Kapsali liegt.
Die Kreuzzeitung und ihre Partei ist seit der neuen Wendung in der selt¬
samsten Lage von der Welt. Wie Richard III. ausrief, ein Königreich für ein
Pferd! so möchte sie setzt sagen: ein Königreich für .einen Wühler! Ihre ganze
Speculation war darauf berechnet, daß die vermeintlichen Sklaven, denen man die
Kette löste, in aller Eile einen Unfug begehn würden, der sofort energische Repressiv¬
maßregeln hervorrufen müßte; statt dessen bewahrt das Land die ruhigste Haltung;
Gothaer und Demokraten wetteifern in dem Feldgeschrei: nur nicht drängen! Um
dem Ministerium nur ja keine Verlegenheit zu bereiten, sind sie sogar nicht abge¬
neigt, die gerechtfertigtsten Ansprüche ruhen zu lassen. Der Grund liegt nicht in
irgend einem weit hergeholten Plan; es ist vielmehr die aus bitterer Erfahrung
hervorgegangene Erkenntniß, daß man vor zehn Jahren sich zu viel vermessen hat;
daß man mehr verlangte, als das preußische Volk tragen kann, und der feste Ent¬
schluß, in schrittweiser Arbeit allmälig die Güter zu verdienen, die man sich weder
schenken lassen noch rauben kann. Die Haltung des preußischen Volks in den letzten
Monaten ist ein günstigeres Zeichen für seine Reife, als alles, was seit zehn Jahren
geschehen.
Aber die Kreuzzeitung braucht Jakobiner; sie erfindet sie daher. In demselben
Augenblick, wo sie mit hämischen Seitenblicken den Regenten verfolgt, verklagt sie
das gesammte preußische Volk, das nicht zu der Fahne der Engel und Viceengel
schwört, Haß und Verachtung gegen das Königthum zu erregen. Die Formen,
in denen sie diese Anklage wiederholt, sind von der Art, daß eine Entgegnung
schwer wird; wir adoptiren daher gern die Antwort der Nationalzeitung, die freilich
lebhaft, aber nicht um ein Haar zu stark ist. „Heilige haben andre Geschäfte, als
sich unter den großen Haufen zu mischen. Mag der Pöbel, Nation geheißen, drin¬
nen im Hofe um sein goldnes Kalb tanzen; sie, die Reinen, fahren unterdessen
zahllose Mistmagen voll Verwünschungen und Schiinpfmorten heran, zu düngen den
Acker der Zukunft, werfen gelegentlich eine Gabel voll über den Zaun, ihre Psalmen
ertönen dabei desto lauter. Wir haben die Kreuzzeitung 1848 u. s. w. keifen und
lästern hören, aber rüpelhafter als gegenwärtig hat sie nie geschimpft, jesuitischer
nie gelogen."
Es gibt einen Punkt, den man diesen Rittern des Kreuzes nie genug in Erin¬
nerung bringen kaun: sie haben gegen die Regierung einen Compromiß mit den
Polen geschlossen! Dieselben Männer, die vor drei Jahren Herrn von Mvrawsky
durch Schreien und Stampfen zum Schweigen zu bringen suchten, haben seinen
Glaubensgenossen, den erklärten Feinden Preußens, die Stimme gegeben! sie haben
gegen die Deutschen und für die Polen gestimmt! gegen die schwarzweiße Fahne für
die weißrothblaue!
Abseits der feudalistischen Partei tritt jetzt eine neue, nicht ungefährliche auf,
wenn auch bis jetzt nur in vereinzelten Stimmen, mit der Behauptung, Preußen
sei ein Militärstaat. Es ist gut, solchen Phrasen schnell entgegenzutreten, sie bür¬
gern sich um so leichter ein, je sinnloser sie sind. Unser Heer ist das Volk in
Waffen; es ist Mittel zur Erziehung des Volks, zur Haltung nach Außen, aber es
ist nicht Zweck. Das Heer ist der Arm des Staats, aber nicht sein Herr; kein
Staat in der Welt ist entfernter vom Prätorianerthum als Preußen. Wie monarchisch
die Gesinnung des Volks ist, hat sich jetzt gezeigt; wie populär das Heer, das
sieht man aus jeder Landwchnibung. Aber man möge nicht vergessen, daß diese
Popularität erst, besteht, seit das Heer das bewaffnete Volk ist; nie war ein Militär
verhaßter beim Volk, als das preußische Militär von 180k. Jetzt wissen wir, daß
die Ehre der preußischen Armee die Ehre des preußischen Volks ist, damals konnte
man es nicht wissen, weil es nicht der Fall war.
Der Prinzregent hat sehr schön gesagt, daß Preußen in Deutschland Eroberung
machen solle durch weise Einrichtungen im Innern. Dazu ist vor allem nöthig,
daß Preußen das Polizeigesicht, das es seit zehn Jahren nur zu sehr gezeigt, einiger¬
maßen mildert. Die größten politischen Fehler der vorigen Regierung haben Preu¬
ßen in Deutschland nicht so geschadet, als die Miene des Polizeibeamten, der in
Berlin von jedem aufsteigenden Fremden mit mißtrauischer Miene den Nachweis
verlangte, daß er kein Spitzbube sei. Auch wir siud der Ansicht, daß man die Regierung in
Bezug aus die organische Gesetzgebung nicht drängen dürfe, aber auf die Abschaffung
der schreienden Mißbräuche in der Ausübung der Polizeigewalt hinzuarbeiten, wird
eine der ersten Pflichten der Landesvertrcter sein. Der preußische Unterthan genoß
das traurige Vorrecht — ein Vorrecht, von dem man selbst in dem viclverschrienen
Oestreich nichts weiß! — aus jeder Stadt seines Vaterlands ausgewiesen zu werden,
sobald es der Polizei beliebte! Die jetzige Regierung wird das nicht mißbrauchen,
wir wissen es wohl; aber es ist ihre Pflicht, den Bürger vor etwaigen Attentaten
ihrer Nachfolger sicher zu stellen, und wenn sie das vergißt, so ist es Pflicht der
Voer de Gocrn. Kindcrreime alt und neu von Klaus Grotb. Mit 52 Holz¬
schnitten nach Originalzeichnungen von Ludwig Richter. Leipzig, Georg Wigcmds
Verlag. Fol, — Billig steht dies elegante sehr schön ausgestattete Buch obenan. Die
niederdeutschen Kindcrreime sind zum Theil aus dem Mund des Volkes gesammelt,
zum größten Theil mit der liebenswürdigen Laune und Schalkhaftigkeit, welche den
Dichter auszeichnet, erfunden, unter den Holzschnitten Richters sind mehre, welche
den besten Zeichnungen des Meisters an die Seite zu stellen sind. Den neuesten
niederdeutschen Versen ist eine Uebersetzung im Schriftdeutsch zugefügt. Wieder gibt
dies Werk Gelegenheit, an kleinster, scheinbar kunst- und formloser Poesie Klang¬
fülle, Wort- und Bildcrrcichthum, und Kraft im epigrammatischen Ausdruck zu be¬
wundern, die schönen Vorzüge des Niederdeutschen. Und wer aus andern deutschen
Stimmen und aus unserer Kunstpoesie an die Gedichte von Klaus Grvth tritt, der
wird, wenn ihm erst die Empfindung für das fremdartige Schöne der Brudersprache
gekommen ist. mit Erstaunen sehn, daß das Verhältniß des niederdeutschen Dichters
zu seiner Sprache ein sehr anderes ist, als bei den Dichtern des Culturdcutsch. Aehn-
lich wie bei den Romanen wirkt der sinnliche Reiz der Sprache viel mächtiger auf
die Seele des Schaffenden und des Hörers, viel feiner hört das Ohr den Wohlklang
eines poetischen Satzes, Wechsel der Vocale, und charakterisirende Consonanten. Im
Gegensatz aber zu den romanischen Sprachen und darin dem Englischen ebenbürtig,
hat das niederdeutsche einen großartigen Reichthum an solchen Wörtern, Haupt-
und Zeitwörtern, welche charakteristische Schattirungen einer Vorstellung, oft mit
besonders komischer oder gemüthlicher Farbe ausdrücken. Unserer Schriftsprache fehlt
die Fülle solcher Ausdrücke sehr, sie sind bei uns in den einzelnen Dialecten stecken
geblieben, haben deshalb dem verwöhnten Sinn häufig einen ungehörigen Beige¬
schmack und sind für den Dichter wenig und nur mit größter Vorsicht zu gebrau¬
chen. Der Leipziger, Franke, Rheinländer, Schlesier, erinnere sich z. B. an die zahl¬
reichen Verba seines Dialects, welche das Fortbewegen eines Körpers, oder welche
ein Geräusch specialisiren, wie groß ist die Zahl derselben, wie wenige sind in den
Codex der Schrift- und Dichtersprache aufgenommen, und wie bedenklich erscheint
ihm selbst die Aufnahme derselben. Im Niederdeutschen ist diesen sehr zahlreichen
Wörtern ursprünglicher Adel und Schönheit unverkümmert, und grade sie geben
dem poetischen Ausdruck eine Lebendigkeit, Kraft und Energie, die der hochdeutsche
Dichter oft peinlich vermißt. Die Bedeutung von Klaus Groth liegt nun unter
anderen darin, daß in ihm der rccipirendc und schöpferische Sprachsinn ganz vor¬
züglich entwickelt ist. Niemand schreibt im Niederdeutschen so schön, und macht so
wohlklingende Verse, als er. Und die Sprache seiner Heimath mit ihren eigenthüm¬
lichen Schönheiten ist durch ihn seinen Landsleuten, wie den übrigen Deutschen, in
eine neue Beleuchtung gesetzt, die man wol Verklärung nennen darf. Das setzt
allerdings voraus, daß er auch sonst ein wahrer Dichter ist. Den Umfang seines
Talentes zu kritisiren, haben wir kaum Veranlassung, bescheiden hielt er sich in einem
Kreise, indem er souverän gebietet; wenn seine hochdeutschen Gedichte nicht immer
denselben Eindruck machen, wie die niederdeutschen, so kommt das zumeist daher,
daß er die Schriftsprache selbst durch das Medium seines heimischen Idioms ansieht,
er kommt in die Gefahr, mehr zu empfinden, als er dem Hörer ausdrückt, und
die Intention wird zuweilen größer als die Wirkung. Wer ihn nach seinem vollen
Werth schätzen will, muß erst niederdeutsch empfinden lernen. Und es lohnt, das
zu.-lernen. — . >! .?'.indi.v ,,«'->."-»') -mljNiinckmzlmiiMO Om, »»tljnch?
Das Buch der Reisen. 1. Bd. Kaue, der Nvrdpolfcchrer, 2. Bd. Dr. Da-
vid Livingstones Erforschungsreisen im Innern Afrikas. Beide mit sehr vielen Illu¬
strationen, Tondrucktaftlu, einer Karte. Leipzig, Otto Spamer. 1859. 8. — Die
Werke sind Jugendschriften verdienstlicher Art (besonders für Knaben von etwa zehn
Jahren ab), reichlich ausgestattet mit allem, was den Leser anzieht, in der wohlbe¬
kannten Art des regsamen Verlegers. Die Texte sind verständig bearbeitet. Der erste
Band enthält als Einleitung eine Geschichte der Entdeckungsreisen nach dem Norden,
Schilderungen der Natur und des Menschen in den Polarkreisen, Biographie Ka¬
ries; der zweite eine übersichtliche Geschichte der Bekanntschaft mit Afrika, des Skla¬
venhandels, der Natur und der Eingebornen; darauf die Reisen. Die Werte sind
zu Weihnachtsgeschenken- durchaus zu empfehlen. —
Canada. Eine Darstellung der natürlichen, socialen und Verkehrsverhältnisse
dieses Landes. Mit besonderer Rücksicht auf die Ansiedlung. Nebst e,mer Karte. Ber¬
lin, Nicolai. 1853. — Die Vereinigten Staaten nehmen die Aufmerksamkeit der
Colonisten so ausschließlich in Anspruch, daß man meist ganz ein großes und schö¬
nes Land vergißt, das sich nördlich an sie schließt und im gewaltigsten Ausschwung
begriffen ist. Die Wenigsten wissen z. B,, daß die große Menge des Pelzwerkes,
welches Europa verbraucht, nicht etwa aus Sibirien, sondern aus Canada kommt
und erst die pariser Ausstellung von 1855 zeigte 'den Reichthum dieses Landes an
Rohproducten dem großen Publicum. In der Mitte des LangschiffcS erhob sich eine
hohe Pyramide von allen Holzarten, welche Canada liefert, man staunte ebenso
über die Schönheit des Materials wie über seine Wohlfeilheit, man sah eine niedre
Thür mit Gebälk- und Spangwerk, die fünf Thaler kostete. Man erfuhr, daß Ca¬
nada allein an Holz für 12 Mill. Thlr. ausführte und fand, daß man sich doch
zu wenig mit einem so wichtigen Lande beschäftigt habe. Da kommt obiges Büch¬
lein grade recht, um uns einen faßlichen Ueberblick zu geben, kurz zusammen¬
gedrängt, aber doch genug, um den Ausruf des Grafen Joubcrt zu rechtfertigen:
„Jetzt vermögen wir den Werth jener weniger Acker Schnee zu ermessen, die wir
mit sträflichen Leichtsinn unter der Regierung Ludwigs XV. an England abtraten."
Canada ward wie bekannt 1761 von Frankreich verloren, das es über 200 Jahre
besessen. Seitdem ist eS ungestört im englischen Besitz geblieben. Früher die Pro-
vinz Quebec genannt, ward eS später in Ober- und Untercanada getheilt, und
'beide Provinzen erst 184t ju einer Verwaltung wieder vereinigt. Die Spuren der
französischen Herrschaft haben sich, wie dies nicht anders zu erwarten, noch man-
nigfach erhalten, auch ist die französische Sprache neben der englischen im öffent¬
lichen Gebrauch anerkannt. Seit der Abtretung hat allerdings eine weitere Be¬
siedlung durch Nachzug aus Frankreich nur in sehr geringem Maße stattgefunden,
aber die Menge der dort lebenden Franzosen war doch zu beträchtlich, um rasch
von dem angelsächsischen Element absorbirt zu werden, und herrscht in Untcrcanada
noch vor. Die englische Bevölkerung dagegen wurde sehr start durch fortwährende
Einwanderung von den britischen Inseln gehoben, nachdem beim amerikanischen
Unabhängigkeitskrieg viele Legitimisten nach Canada übersiedelten. Die Grundzüge des
altfranzösischen Charakters finden sich daher am meisten in der Bevölkerung von
Untcrcanada wieder; unberührt von dem nivcllirenden Geiste des 18. Jahrhunderts
und der Revolution, fand Ampere in ihnen Ideen und Sitten, die längst in Frank¬
reich verklungen. Altfrnnzösisch ist auch ihre Anhänglichkeit an die feudalen Insti¬
tutionen; während der ersten Ansiedlung wurden von der Krone vielfach Lände¬
reien für ausgezeichnete Dienste verliehen und zwar unter denselben Bedingungen,
welche bei adligen Lehen in Europa bestanden. Der Seigneur leistete den Eid seinem
Suzercnn und konnte seinen Besitz wieder als bäuerliches Lehen (cemsives) aufthun.
Noch bestehn die alten Gebräuche bei den 168 Seigneuricn von Untercanada, und
beide Theile sind so zufrieden mit dem Verhältniß, daß eine Acte, welche die Lösung
desselben möglich macht, fast noch gar nicht angewandt ist.
Die angelsächsische Bevölkerung hat viel Aehnlichkeit mit ihren amerikanischen
Nachbarn, zeichnet sich aber durch Anhänglichkeit an England und das Regenten-
haus aus; diese Loyalität hatte allerdings einen Stoß durch die Fehler früherer
Gouverneure erlitten, bis die glänzende Verwaltung von Lord Elgin aus den Un¬
zufriedenen wieder treuergebene Unterthanen machte. An eine Einverleibung in die
Vereinigten Staaten ist nicht zu denken, die Canadier haben alle Segnungen der
Freiheit ohne die stürmischen Parteikämpfe der Union, die Sklavereifragc, welche
praktisch für sie keinen Werth hat, würde sie in den Streit hineinziehn. dem sie
jetzt glücklicherweise zusehn können. Die Grundlagen der englischen'Verfassung sind
in Canada geblieben, die Stelle des Souveräns vertritt der Gouverneur, das legis¬
lative Council, eine Art Senat, das Oberhaus. Das Gerichtsverfahren ist angel¬
sächsisch-deutsch, die Selbstregierung vollkommen durchgeführt, die Grafschaften sind
in Stadtbezirke (tovnsliixs) getheilt, Orte unter 1000 Einwohner werden durch
einen Board of Police regiert und heißen deshalb Police-Villagcs. Die Finanzen
find in blühendem Zustand, die Ausgaben werden fast ganz aus den Eingangs-
zöllcn bestritten, außerdem nur spirituösen und Licenzen besteuert. Hinsichtlich der
geistigen Cultur ist Canada in manchen Beziehungen dem Mutterland voran, so
namentlich durch die Volksschulen; jede Township ist in Schulscctioncn getheilt, wel¬
chen unter Leitung ihrer durch Wahl gebildeten Syndicate die Sorge für das all¬
gemeine Unterrichtswesen obliegt. Ein mäßiges Schulgeld und eine Schulstcucr
bringen die Unterhaltungskosten auf, die Lehrer auf dem Lande erhalten 40—130 Pfd.,
75—250 Pfd. in den Städten, also sehr viel mehr als in Preußen. Für ihre An«-
. bildung bietet Toronto eine Normalschule und eine reich dotirte Universität. Die
englische Kirche, die vorherrscht, hat nicht die Vorrechte wie in England, die Sekten
sind stark vertreten. Nicht nur die bedeutenden, sondern auch kleine Städte haben
treffliche Bildungsanstalten, Lesezimmer, Bibliotheken u. s, w, Montreal hat deren
zehn, in Ober- und Untercanada erscheinen zusammen über 100 Zeitungen. Die
Verkehrsanstalten sind in rascher Ausbildung begriffen, 1851 bestanden 600 Post¬
ämter, 1857! 1300; 800 Meilen Tclegraphcnlinien sind ausgeführt, die großen wie
kleinen Straßen gut unterhalten, die Eisenbahnen im Ausbau begriffen, die Dampf¬
schiffahrt auf den Seen sehr ansehnlich. Canadas Gewerbfleiß ist noch wesentlich auf
Gewinnung von Nvhprvducten für den Export gerichtet, Getreide, Bauholz, Metalle,
Pelzwerk bilden die Hauptartikcl, der canadischc Weizen ist überall geschätzt, im süd¬
lichen Theil wird auch viel Mais gebaut; der russische Krieg hat der Cultur der
Faserstoffe, namentlich Hanf und Flachs, einen neuen Anstoß gegeben; Erbsen und
Hülsenfrüchte sind für die nördlichen Districte Hauptartikel. Von 1841—51 stieg
die Weizcncrnte in den Vereinigten Staaten um 48°/o und die Maisernte um 55°/»,
dagegen in Canada um 100 und 163°/<>.
Sehr interessant ist das verhältnismäßig ausführliche Capitel über die An-
siedlung behandelt, die Bedingungen sind vortheilhaft, und durch zweckmäßige Ein¬
richtungen ist den Landspcculationen. wie die Uankees sie treiben, vorgebeugt. Die
Hauptgesellschaft, die Canada-Land-Company, verlangt nur Anzahlung von V» des
Kaufpreises und gestattet die Entrichtung des Restes in fünf gleichen jährlichen Ter¬
minen nebst Zinsen. Die Landpreise werden von Zeit zu Zeit durch den Gouverneur
festgestellt. Für tüchtige intelligente Ansiedler bietet Canada die vortheilhaftesten Um¬
stände, freilich können sie noch weniger als in den Vereinigten Staaten hoffen, ihre
Nationalität zu wahren, zumal eine sehr starke englische Einwanderung fortdauert.
Die Fabriken beschränken sich, von denen, die für die ersten Bedürfnisse des Landes
arbeiten, abgesehn, hauptsächlich auf Zurichtung der Nvhprodncte zum Export,
daher sind die Mahl- und Sägemühlen z. B. sehr zahlreich, alle Schncidcinstrumente,
Ackerbauwerkzeuge werten vorzüglich angefertigt. Das Bauholz aber findet, von der
Ausfuhr abgesehn, seine ausgedehnteste Verwendung durch den Schiffbau, die cana-
dischen Schiffe haben durch Ebenmaß, Dauer und Schnelligkeit großen Ruhm er¬
worben, die Dampf- und Segelschiffe der Binnengewässer zählen nach Tausenden. —
Wir empfehlen das Büchlein, dessen Brauchbarkeit noch durch eine saubere
Karte erhöht wird, allen, die sich von canadischen Verhältnissen unterrichten wollen.
Abonnementsanzeige zum neuen Jahr.
Mit dem Anfange des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den A^KSS. Jahrgang. Die unterzeichnete Verlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeration auf denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December 18ö8. Fr« Ludw. Herbig.
Binnen wenigen Tagen — nächsten 3, Januar — werden die Stände
Holsteins zusammentreten, um über die Vorlagen, welche die Regierung in
Kopenhagen ihnen zufolge des Einspruchs der Bundesversammlung gegen die
jetzige Stellung des Herzogthums im dünischen Gesammtstaate zu machen ver¬
sprochen hat, ihre Stimme abzugeben, und es erhebt sich die Frage, wie ihr
Urtheil über die Gesammtverfassung, die ihnen jetzt zum ersten Mal zu be¬
sprechen gestattet ist, lauten wird, wie es im wohlverstandenen Interesse des
Landes lauten muß. Es ist die Stunde der Entscheidung, so weit die Ent¬
scheidung in den Händen der Holstciner liegt. Ein Mißgriff in der Stände¬
versammlung könnte vielen und großen Schaden im Gefolge haben, und es
ist die höchste Zeit, davor zu warnen. Die Stände sind vor fünf Jahren in
der traurigsten Zeit gewählt und zählen wol mehr als ein Mitglied unter sich,
welches die jetzt fast allgemeine klarere Einsicht in die Verhältnisse und die
gehobene Stimmung des Landes nicht vertritt. Der Adel könnte es mit den
jetzt regierenden Gewalten nicht verderben wollen, die übrigen Abgeordneten
werden von allen möglichen Verführungskünsten umwoben sein, und es steht
zu befürchten, daß die Versammlung sich zu unklaren Erklärungen verleiten
lassen wird.
In dieser Befürchtung hat Wilhelm Beseler unter dem Titel „Zur
Schleswig-holsteinischen Sache im November 1858. — Braunschweig,
C. A. Schwetschke und Sohn" eine Schrift veröffentlicht, in der er aus¬
einandersetzt, was ihm als die Pflicht der holsteinischen Stände in dieser Kri¬
sis erscheint, und deren Gedankengang wir im Nachstehenden mit dem Be¬
merkenmittheilen, daß, während wir dem reinen und hochsinnigen Patriotis¬
mus des Verfassers unsre wärmste Anerkennung zollen, das Ergebniß seiner
Betrachtung mit unserer Ueberzeugung nicht zusammentrifft. Ein Mann von
Beselers Bedeutung kann indeß beanspruchen, daß man seine Grüude aus-
führlich hört, und so lassen wir ihn im Folgenden zunächst ohne Widerlegung
des Punktes sprechen, welchen wir anfechten müssen. Beseler hält es,
um das Resultat seiner Betrachtungen an die Spitze zu stellen, für
den einzig richtigen Weg, wenn die Stände „an der Hand der stets
aufs Neue gemachten Ersahrungen die ihnen dargebotene Gelegenheit
ergreifen, um es gegen ihren Landeshcrm in ehrerbietiger, aber ge¬
messener Weise auszusprechen, daß auf der Basis der Bekanntmachung vom
28. Januar 1852 für Holstein keine Verfassung und Verwaltung gebaut wer¬
den können, die dem Lande auch nur eine erträgliche Zukunft sicherten, daß
vielmehr auf den Zustand vor 1 848, aus die reine Personalunion
zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark zurückgegangen
werden müsse.
Der Weg, aus dem er zu diesem Schlüsse gelangt, ist folgender: Die
Bekanntmachung vom 28. Januar 1352 verwandelte den bisherigen Complex
der durch Personalunion verbundenen Staaten Dänemark, Schleswig-Holstein
und Lauenburg in einen Staat; denn niemand kann leugnen, daß ein Terri-
torium^mit gemeinschaftlicher Regierung und repräsentativer Verfassung, mit
gemeinschaftlicher Gesetzgebung und Verwaltung ein Staat ist. Vollkommen
gleichgiltig ist es. ob man eine solche politische Schöpfung Staat oder Ge-
sammtstaat nennt. Ein Gesammtstaat ist eben ein Staat mit eigenthümlichen
provinziellen Einrichtungen. Jene Bekanntmachung trennt sodann Holstein
und Schleswig in Verfassung völlig voneinander und läßt ihnen in Gesetz-,
gebung und Verwaltung nur unbedeutende Neste ihrer frühern Gemeinschaft;
nur sofern beide Herzogthümer zum dänischen Staate gehören, haben sie mit
dem Königreich Dänemark und Lauenburg in den allgemeinen Angelegenheiten,
die in dieser Gesammtmonarch'? vorzugsweise zu den Staatsangelegenheiten
gezählt werden, gemeinschaftliche Verfassung, Verwaltung und Gesetzgebung.
In der Bekanntmachung werden endlich die gemeinschaftlichen und die beson¬
dern Angelegenheiten genau voneinander geschieden und demgemäß die Res¬
sortverhältnisse der Staats- und Provinzialminister und die Befugnisse der
Stände der beiden Herzogthümer abgegrenzt, so wie schließlich transitorische
Verfügungen getroffen. Fragt man nun, ob man sich, abgesehn von der
Domänenfrage und der bisher unterlassener Befragung der Stände über die
Gesammtverfassung, auf den Buchstaben oder auch nur den Geist jener Be¬
kanntmachung berufen könne, um eine Besserung der jetzigen Zustände zu for¬
dern, so ist zu antworten, daß die Bekanntmachung zu einer solchen Forderung
keinen Anhalt bietet. Selbst da« Verfassungsgesetz vom 2. Oct. 1852, die
entsprechenden Paragraphen der holsteinischen Sonderverfassung und das Ge¬
setz, nach welchem zum Reichsrath gewählt wird, widersprechen der Bekannt¬
machung von 1852 nicht, und sie sind, nachdem der Paragraph 5 der hol-
steirischen Verfassung in-Wegfall gekommen ist, auch nicht gegen das Bundes-
recht. Wäre es aber auch möglich, in diesem oder jenem unbedeutenden
Punkte im Vergleich mit der Bekanntmachung von 1852 und dem Bundes¬
rechte Grund zur Beschwerde zu finden, in den Hauptsachen kann man sich
weder auf dieses noch auf jene berufen. Wollte man sich daher im Stände¬
saal zu Itzehoe der Täuschung hingeben, durch wissenschaftliche Erörterung
oder diplomatische Feinheit aus gewissen Wendungen der Bekanntmachung,
aus denen z. B,, wo sie von selbstständigen und gleichberechtigten Landes-
theilen in der Monarchie spricht, die Verpflichtung der Regierung zu wesent¬
lichen Aenderungen in der bisherigen Stellung Holsteins abzuleiten, so würde
es den Dänen nicht schwer fallen, nachzuweisen, daß man den ganzen und
vollen Antheil an Selbststündigkeit und Gleichberechtigung bekommen habe,
den man in der so geschaffenen dänischen Monarchie beanspruchen könne.
In zweifelhaften Fällen aber würde die dänische Regierung für eine Deutung
zu Gunsten der Staatsraison, des nothwendigen Maßes von Centralisation
und der monarchischen Gewalt die Zustimmung der deutschen Mächte — von
den nichtdeutschen zu schweigen — erwarten dürfen.
Nachdem die Schrift in dieser Weise nachzuweisen versucht hat, daß die
Holsteiner, auch wenn sie ihre Wünsche nach einer Veränderung in ihren Ver-
sassungs- und Verwaltungsverhältnissen auf das bescheidenste Maß beschränk¬
ten, von den Dänen auf allen Punkten geschlagen werden würden, sährt sie
fort: Aber die Ständeversammlung wird nicht meinen, daß es ihre Aufgabe
sei, den Ruhm der Bescheidenheit zu ernten, sondern die Bedeutung des
Augenblicks ermessend, furchtlos die Wahrheit aussprechen: daß. wenn noch
ein Versuch gemacht werden soll, die Verhältnisse im Süden der cimbrischen
Halbinsel friedlich und dauernd, zu ordnen, dies nur durch Rückkehr zur
Personalunion zwischen Schleswig-Holstein einerseits und dem Königreich
Dänemark andererseits unter Fortentwicklung des bis 1 848 in Gel¬
tung gewesenen Verhältnisses auf Grundlage des Verfassungs¬
rechts der Herzogthümer und der neuerdings im Königreich ein¬
getretenen Verfassungsänderung geschehen kann. Von dem rechtlichen,
sittlichen und finanziellen Inhalt der Frage als bekannten Dingen absehend,
führt die Schrift für diese Behauptung vornehmlich drei Gründe der Zweck¬
mäßigkeit an:
1) Wie man sich auch einen dänischen Gesammtstaat vorstellen mag, kein
Unbefangener wird jetzt noch leugnen, daß dänische und deutsche Elemente,
Interessen und Bestrebungen in einem und demselben Staatswesen unver¬
träglich sind. Wer etwas Dauerndes in diesen Landen schaffen will, muß
vor allen Dingen die beiden Volksindividualitäten in demselben voneinander
fern halten,'jeder ihre freie nationale Entwicklung gewähren und es dem
Einfluß der Zeit überlassen, in welchem Umfang sich zwischen den nebenein¬
ander gestellten Völkern durch Verträge engere Beziehungen knüpfen werden.
Beide in einen und denselben Staat hineinzwängen heißt, den Krieg zwischen
ihnen verewigen, indem keine in dem Grade die stärkere ist, daß sie die an¬
dere unterjochen könnte.
2) Holstein allein ist nicht im Stande, der dänischen Macht auf den In¬
seln und in Jütland die Spitze zu bieten.. Die Vereinigung Schleswigs mit
Holstein zu einem Staat wurde daher zwei Jahrhunderte hindurch von den
Bewohnern der Herzogthümer erstrebt und endlich 1460 erreicht/ Fast alle
seitdem zwischen beiden Theilen geführten diplomatischen Kämpfe beziehen sich
auf Schleswig, welches die Dänen vergeblich von Holstein zu trennen und
an das Königreich zu fesseln suchten. Als seit dem Beginn des vorigen Jahr¬
hunderts die Verfassung in Schleswig-Holstein thatsächlich außer Wirksamkeit
getreten war, blieben Gesetzgebung und Verwaltung der Herzogthümer gemein¬
schaftlich und beinahe gänzlich von Dänemark getrennt, und als 1830 der
alte Kampf zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark von neuem entbrannte,
wurde Schleswig sofort wieder der Gegenstand des Streits. Dann folgte
der dreijährige Krieg gegen die Dänen zum Zweck der Verhütung einer Ein¬
verleibung Schleswigs in Dänemark und sein durch die deutsche Diplomatie
herbeigeführtes beklagenswerthes Ende. Den Holsteinern zu sagen, was An¬
gesichts des von dänischer Willkürherrschaft gemißhandelten Schleswigs Mensch¬
lichkeit und Ehre ihnen zu thun gebieten, wäre überflüssig und unangemessen.
Es ist aber ein Glück, daß beide mit der Politik Hand in Hand gehen. Dä¬
nemark hat sich 1843 aus einer unbeschränkten Monarchie in eine beschränkte
verwandelt, das dänische Volk hat eine Verfassung, die ihm einen entschei¬
denden Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten sichert. Nun leuchtet ein,
daß. wenn die Personalunion zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark
wiederhergestellt würde, der gemeinschaftliche Landesherr nicht hier als con-
stitutioneller König und dort als absoluter Herzog regieren könnte, ohne daß
die Abhängigkeit des unbeschränkt regierten Landes von dem Volke des be¬
schränkt regierten die Folge wäre. Schleswig-Holstein müßte somit, eine der
dänischen ähnliche Verfassung erhalten, und zwar müßten die beiden getrenn¬
ten, nunmehr gleich dem dänischen Reichstag mit beschließender Befugniß aus¬
zustattenden Ständeversammlungen für Schleswig und für Holstein zu einer
gemeinschaftlich lagerten Versammlung umgeschaffen werden. Vor 1848 konn¬
ten bei gemeinschaftlicher Gesetzgebung und Verwaltung zwei berathende
Versammlungen nebeneinander sein; stimmten die Gutachten derselben über
die ihnen vorgelegten Gesetzentwürfe nicht überein, so konnte der Landesherr
das eine oder das andere oder auch beide unberücksichtigt lassen. Zwei gesetz¬
gebende und steuerbewilligende örtlich getrennte Versammlungen stehen
aber mit gemeinsamer Gesetzgebung und Verwaltung im Widerspruch, So ist
die reine Wiederherstellung des Ltlrtus <zuo arts durch die Dänen selbst un¬
möglich gemacht, aber zum Vortheil der Schleswig-Holsteiner; denn die dä¬
nische Verfassung führt mit Nothwendigkeit zu einer Schleswig-holsteinischen,
zu der Form des Staatslebens, welche zugleich die beste Gewähr für die Auf¬
rechthaltung der reinen Personalunion gegen etwaige Uebergriffe des dänischen
Volks und seines Königs ist.
3) Das Herzogthum Holstein ist mit dänischen Beamten überschwemmt,
das Holstein-lauenburgische Contingent wird fast nur von Dänen befehligt.
Schleswig ist noch übler daran. Es muß beiden Ländern ihr verfassungs¬
mäßiges Jndigenat gewährt werden, und dazu ist keine Aussicht, wofern -
nicht die reine Personalunion wiederhergestellt und in den Herzogthümern durch
eine gemeinsame Verfassung geschützt wird, welche dann selbstverständlich die
Bestimmung enthalten müßte, daß in Schleswig-Holstein nur Schleswig-
Holstciner zum Staatsdienst berechtigt seien. Auf Grund der wiederholt er¬
wähnten Bekanntmachung von 18S2 ist in dieser Beziehung nichts zu errei¬
chen. Verspräche man aber auch in Kopenhagen, die Dänen bei der Ver¬
wendung im Staatsdienst nicht zu bevorzugen, so würden sich solche Versprechungen
leicht illusorisch machen lassen.
Gegen eine solche Anlegung des Streites, führt die Schrift fort, könnten
sich die Dänen auf das londoner Protokoll nicht berufen, da der dispositive
Theil dieses Vertrags sich nur auf die Regelung der Erbfolge im Hause
Oldenburg bezieht. Der Vertrag hatte einfach den Zweck, zu verhüten,
daß nach dem Ableben des jetzigen dänischen Königs und seines Oheims,
des Erbprinzen Ferdinand, die verschiedene Erbfolge in Dänemark und Schles¬
wig-Holstein die zwischen beiden Ländern bestehende Personalunion aufheben
würde. Wie im Uebrigen die Verhältnisse der Herzogtümer und Dänemarks
zueinander völkerrechtlich und staatsrechtlich zu ordnen seien, sagt das Pro¬
tokoll nicht; damit sich zu beschäftigen, fanden die Mächte kein Interesse.
Der dänisch-deutsche Siaatencomvlex sollte in seinem bisherigen Gebicts-
umfange als nothwendig für das europäische Gleichgewicht erhalten bleiben;
die Form, unter der dies geschah, war gleichgiltig").
Wenn die Dänen, um den jetzigen Zustand auf der cimbrischen Halb¬
insel als wenigstens von den deutschen Mächten geschaffen darzustellen, sich
aus die östreichischen und preußischen Noten und Depeschen von 185t und
1852 berufen wollten, so würde ihnen entgegenzuhalten sein, daß es Friedens¬
schlüsse und Verträge gibt, welche deshalb unhaltbar sind, weil sie dem einen
Theil mehr zumuten, als er halten kann. Das preußische Ministerium han¬
delte 1852 in Abhängigreit von Oestreich, welches die Schleswig-holsteinische
Sache im EinVerständniß mit dem ihm damals befreundeten Rußland nach
Analogie der östreichischen Staatsverhältnisse und im Geiste der deutschen
Reaction ordnete, die in den Herzogtümern nicht einmal den ses-tus puo
:rude anzuerkennen geneigt war. Wie diese Reaction über Schleswig-Holstein
dachte, zeigt Beseler an den Worten eines ihrer bekannteren Vertreter, die
wir — ihre Genauigkeit, an der wir zweifeln möchten, vorausgesetzt — als
charakteristisch mittheilen.
»Im Jahr 1853 bemühten sich zwei Schleswig-Holsteiner bei den deut¬
schen Regierungen, für viele ihrer Berufsgenossen eine Verbesserung der trau¬
rigen Lage derselben zu bewirken. Am 23. Mai empfing sie der königlich
baierische Ministerpräsident Freiherr von der Pfordten und erwiderte auf ihre
Anträge: die deutschen Regierungen haben die Sache der Herzogtümer nicht
richtig aufgefaßt, und durch ihre Unterstützung ist ihre Lage verschlimmert
worden. Sie sind verleitet und aufgeregt durch Advocaten und Professoren.
Als ihm hierauf das Erforderliche gesagt war, sprach er weiter: Einerlei, die
Herzogtümer sind dänische Provinzen, und wenn ich holsteinischer Minister
wäre, würde ich das Land danisiren, selbst wenn eine Völkerwanderung dar¬
aus entstände. Es ist die Politik der Nothwendigkeit, welche hier befolgt
werden muß. Rußland will es, und so muß es geschehen."
Die frühern Ansichten und Thaten des Freiherrn von der Pfordten stim¬
men damit nicht überein. Wir kommen auf sie und anderes im Lebensgange
des Betreffenden vielleicht später einmal zu sprechen. Hier kam es nicht auf
die Person, sondern nur darauf an, die Reaction über Schleswig-Holstein
sich äußern zu hören; denn wenn wir auch mit Beseler glauben dürfen,
daß die wunderbare Unbefangenheit in den angeführten Aeußerungen nach
Form wie nach Inhalt das Eigenthum des Herrn von der Pfordten sein
konnte, so wird man nicht irren, wenn man annimmt, daß sie nur ein potenzirter
Ausdruck der Stimmung der damals in Deutschland maßgebenden Kreise war.
So wurde es möglich, daß Dänemark seinen Willen durchsetzte. Ihm
wurden die Herzogtümer zu Füßen gelegt, und fast ein Wunder war es,
daß es sich zu dem Versprechen herbeiließ, das Herzogtum Schleswig nicht
dem Königreich einzuverleiben. Seitdem hat sich aber in immer weiter»
Kreisen die Ansicht Geltung verschafft, daß man damals in Schleswig-Holstein
nicht blos wichtige Interessen ohne Noth geopfert, sondern auch die Ehre
Deutschlands aus den Augen verloren habe. Dieses drückende Bewußtsein
Wird das, deutsche Volk nur so lange nicht zu Wandel schaffender That werden
lassen, als dasselbe sich noch nicht in der Lage befindet, sein Interesse zu ver¬
treten und sich Genugthuung zu verschaffen. „Kein Unbefangener wird es
bezweifeln, daß, wenn Deutschland einmal zu Kräften gekommen sein wird, sich
mit Unwiderstehlichkeit die.Ueberzeugung Bahn brechen muß, daß es für die
Ehre einer großen Nation vollkommen unerträglich sei, die Stipulationen für
die Zukunft anzuerkennen, durch welche die transalbingischen Lande mit-allen
deutschen Interessen, welche sich an ihre Küsten und Häfen knüpfen, an die
Dänen abgetreten wurden, ohne daß auch nur eine einzige Feldschlackst ver-
!«iWMr«^-t- ,!' '!,(!,;,',.'-im? ?1Ü7.e
Zunächst — so lesen wir bei Beseler zwischen den Zeilen — kommt alles
darauf an, daß Preußen innerlich erstarke, dadurch in Deutschland moralisch
erobere, Deutschland mit sich emporhebe, und die Stellung und. Geltung wieder
erlange, die ihm unter den europäischen Machten gebührt. Dazu bedarf es
aber Zeit, und so werden sich die Holste-mer noch eine Weile gedulden müssen.
Sie werden, wenn sie ihre Lage begreifen und mit uns fröhlich in Hoffnung sind,
die Dänen und ihre etwaigen Vorschläge, die sicher auf keine wirkliche Ent¬
lassung anch nur Holsteins aus dem Gesammtstaat hinauslaufen werden, mit
der oben angedeuteten Forderung zurückweisen und für jetzt nichts erlan¬
gen, sich aber die Zukunft gerettet haben, die sie mit ihrer robusten
moralischen Constitution recht wohl erwarten können. Die Schrift selbst führt
dann fort: An Veranlassungen, die Sache Schleswig-Holsteins aufs Neue vor¬
zunehmen, wird es nicht fehlen, und die europäische Konstellation, die jetzt schon
eine sehr andere als 1852 ist. so wie die Stimmung der fünf Großmächte kann
dann leicht eine günstigere für uns sein. Die Dänen können dann die Wahrheit zu
hören bekommen. Es kann ihnen von verschiedenen Seiten gesagt werden, der
Bogen sei zu stark gespannt worden, man dürfe dem gesunden Deutschland nicht
zumuthen. was man dem kranken abgedrungen, und zudem habe die Erfahrung
gelehrt, daß man sich in den Mitteln vergriffen, daß die damalige Erledigung des
dänisch-deutschen Streits keine Erledigung, sondern eine Verewigung gewesen,
daß statt Ruhe und Frieden vielmehr Unruhe, Unfrieden und die starke Gefahr
schwerer europäischer Verwickelungen auf die engere Verbindung Schleswig-
Holsteins und Dänemark gefolgt sei, daß die dänische Monarchie statt auf
diesem Wege im Interesse des europäischen Gleichgewichts zu erstarken, nur
hilfloser geworden, nur mehr aus fremden Beistand angewiesen sei. und daß
man. seinen Irrthum einsehend, nach andern Grundsätzen verfahren müsse.
So dürfte namentlich England einmal sich äußern, welches durch kein wirk¬
liches Interesse, sondern lediglich, weil Deutschland sich schwächer zeigte, als
man in London erwartet, das londoner Protokoll herbeiführen half.
Beseler kommt sodann auf Oestreich zu sprechen. Als im verflossenen
Herbst deutsche Bundesgenerale bei Rendsburg das Holstein-lauenburgische
Contingent inspicirten, soll ein östreichischer General den Dänen erklärt
haben, nichts hindere den König Friedrich VII., zu geruhen, daß vier-
tausend Grönländer als das holstein-lauenburgsche Contingent aufmarschirten.
Das ist im Hinblick auf die östreichischen Heereseinrichtungen folgerichtig; wie
es vom östreichischen Standpunkt im Allgemeinen folgerichtig schien, wenn
man bisher den dänischen Gesammtstaat für lebensfähig ansah und sich
der dänischen Regierung gegenüber darauf beschränkte, daß man sie warnte,
ihre Uebergriffe nicht auf die Spitze zu treiben, und ihr rieth, durch kluge
Milde die Geister politischer und nationaler Erregtheit zu beschwichtigen,
im ganzen Bereich der Monarchie die fürstliche Gewalt als den Hort aller
berechtigten Interessen zu befestigen, in Dänemark die Demokratie zu zügeln
und dem deutschen Bunde gegenüber die diplomatische Schicklichkeit zu be¬
wahren. Mehr konnte Oestreich, sagte man, nicht thun. Denn abgesehen
von seiner Eifersucht gegen Preußen, fand es in der dänischen Monarchie nur
das verkleinerte Spiegelbild des Ländercomplexes, der durch das viribus uni-
tis zu einem nur noch provinziell gegliederten Einheitsstaate geworden ist.
Wir glauben mit Beseler, daß in dieser Ansicht Wahres sich mit Falschen
mischt. Zunächst verpflichtet die Aehnlichkeit politischer Einrichtungen einen Staat
nicht immer zur Unterstützung des ähnlich geordneten; es ist sogar, wie jetzt
unter anderen das Verhältniß Rußlands zu Sardinien zeigt, bisweilen das
Gegentheil der Fall. Sodnnn aber ist. wie Beseler nachweist, die Aehnlich¬
keit zwischen Neuöstreich und der dänischen Monarchie geringer als die
Verschiedenheit beider. Der Kaiser von Oestreich steht an der Spitze des
Staats, mit unbeschränkter Gewalt, die allen Nationalitäten, abgesehn davon,
daß dem deutschen Culturelement eine bestimmte ausgezeichnete Stelle ein¬
geräumt ist, die Bürgschaft gibt, daß keine unter ihnen zur Herrschaft gelange,
daß jeder ihr Recht werde. Anders im dänischen Gesammtstaat (den die Post-
zeichen aus Kiel und Altona als „Königreich Dänemark" bezeichnen). Dieser
ist, wie gezeigt, ein halb beschränkt, halb unbeschränkt regiertes Gebiet/ dessen
vortheilhafter gestelltes Volk die andere Hälfte zu beherrschen strebt und sie
finanziell ausbeutet. Während ferner in Oestreich der deutschen Sprache in
bestimmten Beziehungen eine besondere Stellung eingeräumt ist, weil sie zu
den großen Völkersprachen gehört, und (wie der Slavencongreß in Prag be¬
wies) unter den zahlreichen Idiomen eine Sprache sein muß, deren Verständ¬
niß man bei allen voraussetzt, wird das Deutsche in der dänischen Monarchie
vielfach gemißhandelt und dem Dänischen, welches außerhalb seines eigensten
Gebiets unbekannt ist, das Uebergewicht verliehen, ja man sucht es den Deut¬
schen durch die Polizei aufzudrängen. Während die östreichische Armee keine
deutsche, ungarische oder italienische, sondern die Armee des Kaisers von Oest¬
reich ist, in der alle Nationalitäten in der Erlangung militärischer Grade
gleichgestellt sind, wird die Armee des Königs von Dänemark und Herzogs
von Schleswig-Holstein und Lauenburg als eine national-dünische behandelt.
Während in Oestreich zur Rechtspflege und Verwaltung Männer eins allen
Kronländern herangezogen werden, stellt man in der dänischen Hälfte des dä¬
nischen Gesammtstaats fast nur, in der deutschen, besonders in Schleswig,
vorzugsweise Dänen an. Wie stark sodann auch der Antagonismus zwischen
einigen der unter Oestreichs Scepter vereinigten Nationalitäten sein mag, so
nimmt die Mannigfaltigkeit des Bildes, welches der Kaiserstaat in nationaler
Beziehung darbietet, dem Haß der einzelnen Volksindividualitäten gegeneinander
einen großen Theil seiner aggressiven Schärfe. Niemand wird es bezweifeln,
daß. wenn die östreichische Monarchie nur von zwei Volksstämmen und zwar
zu gleichen Theilen bewohnt wäre, die jetzige Centralisation unmöglich sein
würde. In der dänischen aber wohnen nur Deutsche und Dünen und zwar
ungefähr zu gleichen Theilen; denn was den'erstern an Zahl fehlt, ersetzen sie
reichlich durch höhere Bildung und durch den Zusammenhang mit den Ver¬
wandten im Süden.
Während endlich Oestreich eine Großmacht ist, deren Angehörige mora¬
lisch und materiell die Vortheile eines in seinen Machtmitteln und Zielen ge¬
waltigen Staates genießen, während hier viele sich über den Verlust natio¬
naler Selbstständigkeit in dem Gedanken trösten mögen, Glieder eines Gemein¬
wesens zu sein, welches Europa gegen Asien zu schützen berufen ist, andere
sich an den mittelalterlich-politischen Traditionen des Regentenhauses berau¬
schen, wieder andere in Oestreich den Hort des Katholicismus erblicken, noch
andere (und das möchten die meisten sein) sich aller Gedanken an Nationa¬
lität, Freiheit und Kirche entschlagen mögen, weil sie bei dauerndem Frieden
eine gewaltige Entwicklung der materiellen Interessen auf einem Gebiet sich
entfalten sehr, welches unerschöpfliche Hilfsquellen besitzt, gehört der Deutsche
in der dänischen Monarchie nur einer Macht dritten, wenn man will, vierten
Ranges an, in der sich kein großer Gedanke ausprägt, an die sich keine große
Hoffnung knüpft, die im Gegentheil schon alle Zeichen der baldigen Auflösung
an sich trägt, und auf deren Ableben bereits die Erben warten.
So fiele wenigstens eins der Momente weg. welche das wiener Cabinet
zu der bisher innegehaltenen Behandlung der Schleswig-holsteinischen Sache
veranlaßten. Das andere Moment — hätte Beseler fortfahren können — die Eiser¬
sucht auf Preußen wird man der heilenden, neue Combinationen der Mächte
bildenden Zeit überlassen müssen. Die letzten Jahre, die letzten Monate haben
gezeigt, daß die Mißgunst noch stark genug ist. Unheilbar aber ist der R4ß
nicht. Die letzten Jahre, die letzten Monate haben auch gezeigt, daß Oest¬
reich einen zuverlässigen Bundesgenossen bedarf, und es werden, nach den
Zeichen am politischen Himmel zu urtheilen, Tage kommen, wo man sich in
Wien die Frage vorlegen wird, ob die Freundschaft der nordischen Macht
nicht endlich durch wirkliche, ganze, des Dankes werthe Zugeständnisse zu ge-
Il-i-olluA-tsi,^';ul'-i
wirren sei. Oestreich ist durch seine Politik in der orientalischen Frage iso-
lirt. Im Osten grollt ihm Rußland. Im Westen ist der Neffe des Siegers
von Marengo sicher nur durch Englands Einspruch abgehalten, sich auf Ober-
italien zu stürzen und dort die „Dotation" für Frankreich zu erobern, die nach
seiner Meinung die Familie Vonaparte der französischen Nation schuldet. Eng¬
land ist für Oestreich nur gegen Nußland ein Bundesgenosse, auf den zu zäh¬
len ist, Preußen unter den jetzigen Umständen vielleicht nur gegen Frankreich,
der deutsche Bund aber ohne Preußen fast eine Null, sein buntes Heer wenig
mehr werth (wir denken dabei nicht an die militärischen Eigenschaften der ein¬
zelnen Truppen, sondern an die vielen Stimmen, welche trotz der Einheit des
Oberbefehls hineinzusprechen hätten) als das weiland Reichsheer von 1757.
Conjecturen hieraus.aufzustellen und Fälle zu finden, die es für Oestreich noth¬
wendig machen, den alten Groll aufzugeben, und das alte Streben nach der
Hegemonie in Deutschland bei Seite setzend, sich einem Erstarken Norddeutschlands
nicht mehr entgegenzustemmen, überlassen wir der Phantasie der Leser. Wir haben
es nur mit der Gegenwart zu thun, und diese weist uns wieder auf die Er¬
wartung der Dinge zurück, die sich im Ständesaal von Itzehoe begeben werden.
„Die Mitglieder der Ständeversammlung werden sich gegenwärtig halten"
— schießt Beseler seine Erörterung — „daß es in den meisten Fällen nicht
allein ehrenhaft, sondern auch klug ist, die Wahrheit zu sagen; sie werden
kein Gewicht darauf legen, daß ein schwächliches Kompromiß mit der Unwahr¬
heit ihnen vielleicht augenblicklich eine kleine Erleichterung gewähren möchte,
während sie sich der Betrachtung nicht entziehen können, daß sie durch klein-
müthige Begehrlichkeit dem lebendigen Geist ihrer an guten und rühmlichen
Thaten reichen Geschichte, der lauten Mahnung einer unerbittlichen Gegenwart,
dem unbeugsamen Geist des alten Sachsenstammes den Rücken wenden, daß
sie die Ruhe ihrer Todten stören würden, über denen auf den Schlachtfeldern
vor Schleswig kaum der Nasen grün geworden."
Wir haben Beseler ausführlich sprechen lassen, nicht blos, weil sein red¬
licher Patriotismus das Wort haben sollte, nicht blos, weil er die Meinung
einer achtungswerthen Partei in Schleswig-Holstein und im innern Deutsch¬
land vertritt, sondern auch, weil sehr vieles in seiner Beweisführung voll¬
kommen richtig ist. Zu dem Ergebniß seiner Erörterung aber, zu dem Rathe,
den er den Holsteinern ertheilt, können wir uns nicht bekennen. Er kann
nicht meinen, daß Deutschland, daß die norddeutsche Großmacht einer Befol¬
gung dieses Rathes durch die holsteinischen Stände jetzt ihre Unterstützung
leihen würde. Er verlangt zu viel von den Holsteinern, damit sie nicht zu wenig
thun, oder er denkt, wie wir bereits hervorgehoben, an eine bessere Zukunft. Wir
haben uns aber an die Gegenwart zu halten, und die Dinge vorläufig zu nehmen,
wie sie gegeben sind. Auf diesem Standpunkt sind dann folgende Sätze maßgebend:
1. Das staatsrechtliche Verhältniß der Herzogthümer Holstein und Schles¬
wig zu Dänemark, wie dasselbe vor und im Jahre 1843 bestand, kann nicht
die Basis werden, auf welcher die Holstciner und -mit ihnen die Vertreter
Deutschlands jetzt operiren. Dieses Verhältniß hat die Stadien eines großen
politischen Processes durchgemacht, es ist vom Gegner angefochten, es ist
Krieg darum geführt, es ist ein Friede geschlossen worden. Wie auch deut¬
scher Rechtssinn und deutsche Vaterlandsliebe den Gang des damaligen Strei¬
tes, die Führung des Krieges und das Ergebniß des Friedensschlusses ansehen
möge, es ist unzweifelhaft, daß von dem gesammten Europa die Contrahenten
des Friedens: Preußen und Oestreich, resp, der deutsche Bund einerseits, Däne¬
mark andrerseits als vollberechtigt zum Abschluß des Friedens angesehen
worden sind, und daß dieser Friede die Grundlage der gegenwärtig bestehen¬
den rechtlichen Verhältnisse bilden sollte.
2. Auf das londoner Protokoll dagen haben die Holsteiner durchaus
keine Rücksicht zu nehmen.
3. Sie haben vielmehr als Basis ihrer Forderungen lediglich die
Bestimmungen des letzten Friedensschlusses festzuhalten. Diese
Stellung ist sicher und unangreifbar für Dänemark und, was wichtiger ist,
unangreifbar sür alle Cabinete Europas. Ein Zurückgchn aus die Forderun¬
gen von 1848 würde als revolutionär verurtheilt werden und könnte den
Holsten und ihren Freunden jetzt den größten Schaden thun. Ein Beharren
auf voller, gewissenhafter, hinterhaltsloscr Erfüllung der Stipulationen des
Friedens dagegen muß von ganz Europa geduldet und kann ohne irgendwelche
Gefahr von Preußen zur eignen Sache gemacht werden.
4. Der Friede hebt allerdings die politische Einheit der Herzogthümer
Holstein und Schleswig auf, aber er setzt sür die Schleswiger im Allgemeinen
gleiche Rechte fest wie für die Holsteiner. Er gibt also dem deutschen
Bunde, also Preußen, die Befugnis,, die Lage Schleswigs zum
Gegenstand seiner Fürsorge zu machen. Er ist endlich merkwürdig
kurz und übergeht so viele Fragen mit Schweigen, daß eine kluge und feste
Benutzung der Rechte, welche er noch läßt, und der Folgerungen, welche er
zu ziehen gestattet, den Herzogthümer« zum Heil werden und Dänemark in
unabsehbare Verlegenheiten stürzen muß. Von dem, was sich aus diesen
Annahmen weiter entwickeln läßt, ein ander Mal. Hier handelte es sich nur
darum, auszusprechen, daß der Friedensvertrag unter den gegebenen Verhält¬
nissen die einzig anwendbare und die einzig glückverheißende Grundlage sür
die jetzt beginnenden Verhandlungen in Itzehoe ist.
.del'?»'.'! ,»,!?> , V.-Ki'M-''- »' . ?l>!-1.<Mk.'! i->- '«^'i >/M»i!! n.'.' >"»»«i5l.i
Jene Richtung auf ausschließlich ästhetischen Genuß Italiens hat ihren
letzten und reinsten Ausdruck durch einen der edelsten Vertreter des classischen
Idealismus, durch Wilhelm von Humboldt (preußischer Gesandter in Rom
1802—1808) gefunden. Sein Verhältniß zu der ewigen Stadt, die auch ihm
eine zweite Heimath wurde, in der er sein Leben zu beschließen wünschte, wo
auch seine Bildung sich vollendete und ihre schönsten Früchte zeitigte, hat er
besonders in dem bekannten Gedicht „Rom" und in einem Aufsatz „über
Goethes zweiten Aufenthalt in Rom" ausgesprochen.' Sein Biograph hat
auch diese Periode seines Lebens so klar zur Anschauung gebracht, daß wir
Humboldts Auffassung von Italien und Rom nicht besser als mit seinen
Worten charakterisieren zu können glauben. „Auf Humboldt," sagt Haym
(H. Leben S. 215) „wirkte Rom in allen Stücken so beruhigend und^
reinigend, so erhebend und befreiend, wie sonst nur Werke der Poesie und der
Kunst wirken. Es war eine stimmende, eine ästhetische, eine gleichsam musi¬
kalische Wirkung. — Er sah und empfand Rom nicht wie der Maler, der
Dichter oder der Bildner; aber er faßte es auf wie diese alle zusammen; er
besaß ein universelles ästhetisches Sensorium; der Eindruck Roms auf ihn
war ein schlechthin ästhetischer." Sein ästhetischer Idealismus, der ihn der
Weltlichkeit feind, ungerecht gegen die Gegenwart und doch wieder durch die
Vermittelung der Phantasie empfänglich für alle Schönheit machte, spricht
sich am schroffsten in dem berufenen Wunsche aus, daß die Campagna nicht
angebaut und Rom selbst nicht in eine polizirte Stadt verwandelt werden möchte,
in der kein Mensch Messer trüge. „Denn — so schreibt er an Goethe — nur
wenn in Rom eine so göttliche Anarchie, und um Rom eine so himm¬
lische Wüstenei ist. bleibt für die Schatten Platz, deren einer mehr ist als dies
ganze Geschlecht." — „Dieser Wunsch war freilich poetisch grausam. Das
Anstößige und Charakteristische besteht nur darin, daß diese poetische Ansicht
der römischen Dinge die prosaische, die natürlich-menschliche und praktische
gar nicht auskommen ließ. Es ging ihm wie dem Maler, den an dem zer¬
lumpten Bettler einzig das malerische Motiv erfreut. Aber er hatte zu dieser
ästhetischen Licenz der Anschauungsweise ein geringeres Recht als der Maler.
Er bezahlte dieselbe nicht wie dieser mit gelungenen Werken, welche die Freude
der?Welt werden: er bezahlte sie lediglich mit sich selbst. Nicht auf dem Wege
eines fruchtbaren Kunststudiums, sondern auf dem Wege des egoistischen Ge-
nusses und der Selbstbildung kam er zu jenen romantischen Reflexionen. Um
uns moralisch mit diesen auszusöhnen, werden wir auf alles dasjenige ange¬
wiesen, was Humboldt später, sei es trotz sei es durch seine ästhetische Cultur
der Welt und dem Vaterland genutzt hat. Er schwelgte für jetzt blos um
seiner selbst und seiner eigenen Phantasie willen in den Bildern und Wünschen
der Phantasie. Grade die subjective und idealistische Beziehung seiner Auf¬
fassung Roms, grade dies, daß er die ganze Erscheinung Roms lediglich auf
sein eignes Innere als auf den alleinigen Mittelpunkt bezog, gab seinen ästhe¬
tischen wie seinen geschichtsphilosophischen Betrachtungen eine so durchaus eigen¬
thümliche Farbe. Obgleich er daher so vielfach mit Winckelmann und Goethe
sympathisirte. sah er dennoch Rom ganz anders als sowol Winckelmann wie
Goethe. Er sah es, wie mit Recht gesagt worden ist, noch am meisten wie
es Gibbon gesehen hatte. Nicht im Mittagslichte, sondern wie in melancho¬
lischer Abendbeleuchtung betrachtete er „die Stadt der Trümmer". Die langen
Linien der römischen Stadt und Gegend, auf denen Goethe den Blick verwei¬
len ließ, um seinen Gesichtskreis auszuweiden und zu vereinfachen, werden für
Humboldt zum Anhalt jener elegisch-lyrischen Stimmung. Immer wieder fällt
sein Gedicht „Rom" in dieselbe Tonart und in das eine Thema zurück.
„Wie durch zarten Trauerflor" blicken ihn Roms Gefilde an, und „einsam
klagend strebet Trümmer dicht an Trümmer nur empor." Und zugleich fühlt
man sich doch unwiderstehlich gefesselt, fühlt sich durch den Zaubergruß dieser
Fluren in „sehnsuchtsvoll Erstarren" eingewiegt. — Der ästhetische Genuß,
offenbar, so subjectiv bezogen, so ernst und so innerlich gewendet, ist mehr
als blos ästhetischer Genuß. Rom ist sür den Dichter dieser Elegie eine
Andachts- und Cultusstättc. Gegenüber der frivolen Aeußerlichkeit des Katho¬
licismus (Humboldt fand mit Recht die Ceremonien der heiligen Woche we¬
der rührend noch feierlich, sondern einfach langweilig) erwachte in ihm, was
von echter Religion in ihm schlummerte. Von der Betrachtung Roms erhebt
er sich zu seinen höchsten philosophischen Gesichtspunkten. Er erblickt die Gott¬
heit in dem großen Gang der Weltgeschichte. Er erblickt sie in der eignen
Brust. Er erblickt sie in der Harmonie des Menschlichen und des Natürlichen.
Rom ist der Tempel dieser ästhetisch-philosophischen Religion; denn „durch der
Gottheit Segen" erwuchsen diese Hügel; was je die Brust Großes bewegen
kann, „hängt an ihrer Gipfel heiterm Glanz" (S. 222—227).
Kaum ist ein größerer Gegensatz denkbar als zwischen Humboldts und
Niebuhrs Auffassung von Italien. Jener war einer der genußsähigsten Men¬
schen, diesem, den die Natur so verschwenderisch mit einer Fülle der seltensten
Gaben ausgestattet, hatte sie nicht nur die Fähigkeit des Genießens, nament¬
lich des rein ästhetischen, sondern auch die Lust am Dasein nur in sehr ge¬
ringem Maße verliehn. Seine Hypochondrie und der unglückliche Hang, auf
die schwärzesten Seiten der Dinge den Blick unverwandt zu heften, verbitter¬
ten ihm den Aufenthalt in Rom (als preußischer Gesamter I8l6—1823) um
so mehr, als gar manche Gründe zur Verstimmung von außen dazu kamen.
Humboldt wurde Rom eine schönere Heimath, für Niebuhr war es ein Tomi
(Lebcnsnachrichten 2. Bd. S. 479). Die Italiener waren ihm eine Nation von
wandelnden Todten, und er hat alles Schlimme von ihnen gesagt, was sich
von ihnen sagen läßt, für ihre guten und liebenswürdigen Seiten hatte er
keinen Sinn. Rom machte ihm keineswegs einen erhebenden oder erfreulichen
Eindruck (S. 24g); wahrhaft schön fand er außerordentlich wenig, die Ruinen
blieben ihm fremd (S. 262), da sie durchaus aus der Kaiserzeit stammen, und
es ihm unmöglich war, Werke der Baukunst isolirt zu betrachten; in Verbin-'
dung mit den Vorstellungen, von denen er sie nicht trennen konnte, stießen sie
ihn zurück (S. 243). „Oft gehe ich aufs Capitol und trete vor Marcus Au-
relius und sein Roß, und die Löwen von Basalt habe ich mir nicht versagen
können zu liebkosen. Auf dem Aventinus steht man nicht ohne schwere Ge¬
danken, und auch nicht auf dem Palatin, aber sehr wenig näher bringt mich
die Anwesenheit auf dem Fleck zum Bilde des . vergangenen Alten (S. 263).
Die Kunstwerke konnten ihm nicht nützen, „da ich unglücklicherweise ebenso
wenig als meine alten Römer ein Enthusiast sür die Kunst in der Art wenig¬
stens bin, daß ich in ihr leben und durch sie mich schadlos für das gehalten fin¬
den kann, was eigentlich meiner Natur angemessen ist. Wo das Lebende
anekelt, wie kann der. welcher nur an Menschengeist und Menschenherz sich selbst
gehoben und glücklich zu fühlen vermag, an Bildsäulen, Gemälden und Ge¬
bäuden Ersatz finden? Wer kann blos von Gewürz und Wohlgerüchen leben?"
(S. 268) Da für ihn die echte Kunst nur bis auf Raphaels Tod existirte
und er grade mit besonderer Vorliebe an der vorraphaelischcn Zeit hing, konnten
ihn auch die Werke der modernen Malerei und Sculptur in Rom nicht anziehn.
Bei dieser totalen Umwandlung der Kunstansichten, nach der nun was dreißig
Jahr vorher als das Höchste bewundert worden war, geringgeschätzt wurde
und umgekehrt, machten Goethes Kunsturtheile in seiner italienischen Reise
einen sehr ungünstigen Eindruck auf ihn. „Es ist sehr schlimm, daß er sie
bekannt gemacht hat, da gegenwärtig ein weit gesunderer Sinn über die Kunst
herrscht, der sich schon an Goethes früher ausgesprochenen Kunsturtheilen
ärgert und ihm nicht nur die als unfehlbar aufgetragene Entscheidung ab¬
erkennt, sondern ihm vielmehr ein auch nur besonders befugtes Urtheil abspricht.
— Ich wollte, er hätte seinen Hackert und Winckelmann nicht geschrieben.
Derselben Art aber sind die Kunsturtheile in der Reise" (S. 283). Ja er ging
so weit, daß er meinte, Goethe sei der Sinn für die bildlich darstellenden
Künste überhaupt versagt gewesen (S. 289). Ueberhaupt hat er in der Be¬
urtheilung dieser Reisebeschreibung zugleich seinen eignen Standpunkt bezeichnet.
„Sie hätten uns nichts Interessanteres senden -können; aber möchte man nicht
darüber weinen? Wenn man so eine ganze Nation und ein ganzes Land
blos als eine Ergötzung für sich betrachtet, in der ganzen Welt und Natur
nichts sieht, als was zu einer unendlichen Decoration des erbärmlichen Lebens
gehört, alles geistig und menschlich Große, alles was zum Herzen spricht, wenn
es da ist, vornehm beschaut, wenn es vom Entgegengesetzten verdrängt und
überwältigt worden, sich an der komischen Seite des Letztern ergötzt. — Mir
ist das eigentlich gräßlich; vielleicht persönlich mehr als ich es andern zumu-
then möchte, aber dem Wesen nach erlasse ich es keinem. Ich weiß sehr wohl,
daß ich in das andre Extrem gehe, daß mein politisch-historischer Sinn sich
schon ganz mit dem befriedigt fühlt, wofür Goethe keinen Sinn hatte, und
daß ich nicht allein im göttlichen Tirol, sondern in Moor und Haide unter
freien Bauern, die eine Geschichte haben, vergnügt lebe und keine Kunst ver¬
misse. Aber die Wahrheit liegt nicht immer in der Mitte, obgleich allemal
zwischen zwei Extremen." — Hätte Niebuhr die Städte Latinas durchwandern
und mit seinem Adlerauge nach den Trümmern der alten Welt nicht blos nach
denen, die in Monumenten, sondern auch nach denen, die in Sitten, Gebräuchen
und Zuständen erhalten sind, spähen können: so würde er sich in Italien glücklicher
gefühlt haben. Nur einmal wird ihm wahrhaft wohl, in Temi, wo er an fünfzig
unversehrte altrömische Häuser fand und die alte Grenzscheidekunst und Weinbenn-
tung noch in praktischer Anwendung, wo er den Kanal des Curius in seiner ganzen
Ausdehnung verfolgte (S. 244 — 247). Aber Latium .war jenseit Frascati
und Albano für ihn ganz unzugänglich: „und dies wäre eigentlich das, warum
der Aufenthalt hier mir für die Geschichte viel hätte werth sein können"
(S. 281). Selbst die herrliche Aussicht auf die latinische Ebene und die Ge¬
birge konnte ihn nicht erfreun. „Wenn man hinderte auf das Gebirge, wo
Hunderte vor Hunger sterben, und wo auch die kindische Fröhlichkeit, welche
sonst den Fremden anzog, wie hier ganz erloschen ist, wo man lebt, weil man >
das Unglück hat geboren zu sein — da muß man ganz anders gestimmt sein
als ich es bin, um sich des Schauspiels freuen zu können" (S. 230).
Seit der Mitte des zweiten Jahrzehntes dieses Jahrhunderts begann der
Strom der Reisenden mit erneuter Stärke nach Italien zu finden, nachdem
er in den Kriegsjahren spärlicher geflossen war. Von nun an ist es nicht
mehr möglich, auch nur die wichtigern Berichte und Beschreibungen, mit denen
der Büchermarkt in jeder Messe überschwemmt wurde, hervorzuheben. Wenn
man eine Anzahl dieser Bücher durchblättert, die Jahr für Jahr die schon
tausendmal beschriebenen Gegenstände aufs neue schildern, so staunt man über
den Umfang und die Intensität des Interesses für Italien im deutschen Publi-
cum, das nie müde geworden ist, sich immer dasselbe wiederholen zu lassen.
Von den Büchern über Italien, die vor einem Menschenalter viel gelesen our-
den und auch jetzt zum Theil noch nicht vergessen sind, nennen wir beispiels¬
weise: Hermann Friedländer, Ansichten von Italien 1320, 2 Bände; Kepha-
lides Reise durch Italien und SicUien 1818, 2 Bände; Christian Müllers
Briefe an deutsche Freunde von einer Reise durch Italien 1824. 2 Bände;
(worin man, beiläufig gesagt, 2. B. S. 730, einen sehr guten sachverständigen
Bericht über die Ostermusiken in der Sixtinischen Kapelle findet). Die durch¬
gehende Stimmung in diesen und andern Büchern ist Enthusiasmus für das
schöne Land, dessen Uebelstünde meist mit Humor ertragen, dessen Verfall zu¬
weilen mit Wehmuth betrauert wird. Je nach der Richtung und dem Bil¬
dungsgrad der Reisenden sind die Natur, die Kunst, die Alterthümer, auch (wie
namentlich bei Kephalides) die nationalen Eigenthümlichkeiten vorzugsweise
der Gegenstand ihres Interesses, die letztern finden fast überall wohlwollende
und nachsichtige Beurtheilung. In der Kunstbetrachtung herrscht wie bei
Niebuhr unbedingte Bewunderung der vorraphaelischen und zuweilen ent¬
sprechende Verachtung der nachraphaelischen Perioden; von diesem Standpunkt
aus werden auch die Bestrebungen der neuen deutschen Künstlerschule in Rom
gewürdigt (besonders bei Friedlünder). Die Einflüsse der Romantik zeigen
sich am meisten in der andächtigen Schwärmerei für die Ostcrmusiken der
päpstlichen Kapelle.
Aber auch sür die Masse der Spießbürger und Philister, die nach Italien
reisten, weil es Mode war und das gerühmte Land weit unter ihrer Erwartung
fanden, denen weder der Golf von Neapel noch das Pantheon ihr heimisches
Weißbier und die gemüthliche Abendpfeife ersetzen konnte, wurde ein Buch
geschrieben, das vollkommen ihre Empfindungen ausdrückte. Wir meinen:
Italien wie es wirklich ist. Bericht über eine merkwürdige Reise in den
hesperischen Gefilden, als Warnungsstimme für alle, welche sich dahin sehnen,
von Gustav Nicolai, königl. preuß. Divisionsauditeur. Die zweite (1835
erschienene) Auslage enthält als Beigabe außer dem Portrait des Verfassers,
alle günstigen und ungünstigen Recensionen des Buchs, mit Bemerkungen be¬
gleitet. Der königl. preußische Divisionsauditeur hatte Italien als Milordo
mit Extrapost durchreist, weil er sich einbildete, daß wer mit Vetturinen reise,
in Italien für einen „Lump" gehalten werde; er war dem ungewöhnlichen Zu¬
schnitt seiner Reise gemäß geprellt worden, um so mehr als er auch die plumpsten
Zumuthungen erfüllen zu müssen glaubte, wenn man ihm andeutete, daß es
für Seinesgleichen nicht -anders schicklich sei. Wie er überall verhöhnt und
zum Narren gehalten wurde, erzählt er selbst mit großer Naivetät. Bei seiner
eiligen Fahrt (in nicht vollen zwei Monaten durcheilte er ganz Italien hin
und zurück) lernte er nur Gastwirthe. Postbeamte. Douaniers. Lohnbediente
und Bettler kennen; da er in den heißesten Sommermonaten reiste, wurde
er von Flöhen aufs äußerste geplagt. Mit komischer Gewissenhaftigkeit ver-
zeichnet er in jedem Capitel aufs neue alle ausgestandenen Flohbisse, Paß-
chikanen, ungenießbare Nationalgerichte, übermäßige Rechnungen u. s. w.,
um durch diesen wahrhaften Bericht seiner Leiden seine Mitbürger von ihrer
Mignonsehnsucht zu heilen und sich den Dank des Vaterlandes zu verdienen;
das Bewußtsein als Mensch und preußischer Beamter seine Pflicht gegen das
Publicum zu erfüllen verläßt ihn nie. „Nein, nein," sagt er, „ein edles Ge¬
müth kann Italien nicht schön finden! Daß die Natur schöner wäre als bei
uns, kann ich nicht zugeben; sie wirkt, wie ich auch im tiefern Süden wieder¬
holen muß, nur durch den Reiz des Fremdartigen; wäre sie aber wirklich
unendlich schöner, dennoch vermöchte sie nicht zu entschädigen für die Qualen,
denen Körper und Seele in diesem Jammerlaute ausgesetzt sind. Nur -ein
schmuziger Cyniker kann sich in Italien gefallen." (1 B. S. 133). „Wie könnte ein
edler, gemüthvoller, gebildeter und — reinlicher Mensch in diesem Lande sich wohl
fühlen? (2 B. S. 3.) Ja Italien, du hast in dem stillen, friedlichen Reiche meiner
Phantasie mit rauher Hand gestört! f2 B. S. 54.) Er glaubt sich das Zeugniß
nicht versagen zu dürfen, daß er ausgestattet sei „mit der innigsten Empfäng¬
lichkeit für das Schöne, mit glühender Einbildungskraft und lebhaftem Gefühl/'
Man fragt sich bei der Durchlesung dieses Buchs vergebens, wofür der Verfas¬
ser sich eingebildet haben könnte Empfänglichkeit zu besitzen. Die Denkmäler
des Alterthums waren ihm so gleichgiltig, daß er nicht nach Pästum reiste,
weil da nichts zu sehen ist „als die Ruinen des Tempels des Neptun, eines
Tempels der Ceres, eines Theaters, Amphitheaters, und eines Porticus. Wir
kennen diese Ruinen aus hiesigen Bildern sehr genau, indem wir uns die
Hülste des Dargestellten als gelogen denken, und da wir überdies nur zu
viele Ruinen schon gesehen haben, so muß ich zugeben, daß es Thorheit sein
würde, an den Anblick dieser Steinklumpen nur noch einen Kreuzer zu setzen."
(2 B. S. 52.) Ueberdies war Nicolai zu der Ueberzeugung gekommen, daß die
meisten Ruinen in Italien in neuerer Zeit fabricirt, worden sind. Dieselbe
Stumpfheit, dieselbe krasse Ignoranz und dieselbe Dreistigkeit der Be¬
hauptungen zeigt er den Werken der alten und modernen Sculptur und Ma¬
lerei gegenüber. Viele der besten Sachen sah er überhaupt uicht, weil er
nicht Zeit hatte, oder es uicht der Mühe werth fand. Von den Raphaelischen
Stanzen bemerkt er, daß das Durcheinander und die Ueberhüufung der ver¬
schiedenartigen Darstellungen in denselben keinen erfreulichen Eindruck machen"
(2 B. S. 167). Der Anblick italienischer Städte war ihm ein Greuel, weil von
allen Seiten Contraventionen gegen die vaterländische Straßenpolizei sein ästhe¬
tisches Gefühl beleidigten. Daß Handwerker in Italien auf der Straße ar¬
beiten, fand er höchst unerlaubt (1 B. S. 125). Venedig nahm sich in seinen Augen
in der Ferne etwa wie Leipzig oder Breslau aus, in der Nähe aber als eine
große, wüste, schmuzige Ruine, ein Gewinde stinkender Cloaken (i B. S. 61).
Ueberall vermißte er schmerzlich die wohlabgepntzten, mit hellen Fensterscheiben,
hinter denen man wohlgekleidete Manschen erblickt, versehenen Häuser der
märkischen Fluren, und er dachte mehr als einmal mit Wehmuth an Strah-
lvw und Treptow. Am wenigsten befriedigte ihn. wie schon bemerkt, die
landschaftliche Natur Italiens. „Es ist recht schön in Neapel, allein selbst
hier nicht schöner als in vielen Gegenden unseres Vaterlandes." Man er¬
zählt als charakteristische Anekdote für das Non plus ultra des Berlinerthums,
daß ein Berliner die Aussicht auf die Jungfrau fast so schön als im Diorama
bei Gropius gefunden habe, aber Nicolai!fand, daß Neapel „lange nicht so
schön ist, als es uns vor einigen Jahren im Diorama der Gebrüder Gro¬
pius, idealisirt durch den Zauber der Farben, vors Auge geführt wurde"
(2 B.S. 307). Die Schlußbetrnchtung des Buchs ist. daß (mit Ausnahme Genuas)
„in Italien nur die vulkanischen Merkwürdigkeiten, die Peterskirche und ein¬
zelne Kunstgegenstände den davon verbreiteten Borstellungen entsprechen, und
daß im Uclnigen alles, was man zur Vergötterung Italiens geschrieben und
gesungen habe, steche Lüge und lächerliche Uebertreibung sei" (2 B. S. 201). Es
versteht? sich von selbst, daß Deutschland für ein in jeder Beziehung schöneres
und sehcnswertheres Land erklärt wird.
Die Behauptung dürfte paradox erscheinen, daß ein großer Theil der
heutigen Besucher Italiens im Wesentlichen mit Nicolai übereinstimmt, und
doch glauben wir, wird sie jeder bestätigen, der Gelegenheit gehabt hat, die
Schwärme von deutschen Reisenden in der Nahe zu betrachten, die sich gegen-
wärtig Jahr für Jahr einige Wochen oder Monate lang in den hesperischen
Gefilden tummeln. Schon vor fünfundzwanzig Jahren erlebte jenes viel ge¬
schmähte Buch eine zweite Auflage. Seitdem ist die Zahl der „Nicolaiten"
unter den Touristen sehr gewachsen, je mehr das Reisen aus Langeweile
überHand genommen hat, und je mehr der Comfort des Reifens in allen Län¬
dern sich täglich steigert, während Italien in dieser wie in allen übrigen Be¬
ziehungen bei den alten primitiven Zuständen verharrt. Wer an sausende
Bahnzüge, fürstlich eingerichtete Hotels mit ihrem ganzen Luxus, an gute
Polizei u. f. w. gewöhnt nach Italien kommt, und für die Entbehrung aller
dieser Äußerlichkeiten weder in der Natur noch in der Kunst, weder in den
Denkmälern der Vergangenheit, noch im Leben der Gegenwart Entschädigung
findet — der kann in Italien nichts als Schmuz. Verfall, Flöhe. Bettelei
und Prellerei finden. Der Grund, weshalb keine Nicvlaitische Literatur über
Italien entstanden ist, ist einfach der> weil diese Classe von Reisenden mei-
stentheils mit der Literatur überhaupt auf gespanntem Fuß lebt, doch würde
uns eine neue Version von „Italien, wie es wirklich ist", nicht überraschen.
Seit jener Nothruf des indignirten Philisterthums verhallt ist, ist die
Flut der Reiseliteratur über Italien zu einer Besorgniß erregenden Höhe ein-
geschwollen. Aber auch in den meisten dieser Bücher begegnet man nicht nur
den bekannten Anschauungen und Erlebnissen, auch den bekannten Stimmun¬
gen wieder durch die ganze Stufenleiter, deren äußerste Extreme auf der einen
Seite Goethe und W. v. Humboldt, auf der andern Seume und Niebuhr
bezeichnen. Nur daß die Zeitströmung der dreißiger und vierziger Jahre
bewirkt hat, daß das ästhetische Wohlgefallen hinter der menschlichen Sym¬
pathie und dem politischen Interesse für die unglückliche Nation mehr in den
Hintergrund tM. Diese Veränderung der Auffassung hat Adolph Stahr ge¬
legentlich bei Erwähnung von Wilhelm Müller „Rom. Römer und Römerinnen"
angedeutet. (Ein Jahr in Italien 2 B. S.217): „Freilich ist in der enthusiastischen
Darstellung dieses vortrefflichen Mannes noch ein gewisses arkadisches, schäfer-
hastes Etwas, ein gewisser rothbebänderter Stil mit Blumenstrauß im Knopf¬
loch, was alles jener Zeit angehört, aber uns nicht mehr zusagt. Wir sind
nicht mehr so glücklich unbefangen wie diese glückseligen Besucher Italiens,
diese schwärmende» Hesperiensahrcr aus den ersten zwei bis dritthalb Jahr¬
zehnten unseres Jahrhunderts. Wir sehn nicht mehr was sie sahn, weil wir
uns dem romantischen Eindruck nicht mehr so mit ganzer Seele, mit aller
Energie eines nur auf das Kunstschöne gerichteten Interesses hinzugeben ver¬
mögen. Wir sehn nicht mehr mit ihren Augen. Damals, nach der ungeheuer»
Blutarbeit des Wettkampfes, in den Jahren, wo Müller sein „Rom, Römer
und Römerinnen" lebte und schrieb, sehnte sich die ermattete Welt nach ge¬
nießenden Ausruhen. Die Gegensätze lagen friedlich nebeneinander, die
Lümmer spielten bei den Wölfen, und ein deutscher Römer sah z. B. in
Mönchen und Pfaffen nur künstlerische Staffagen, oder wenn er langhaariger,
altdeutsch christlicher Frömmigkeit beflissen war — und wie viele waren das
nicht? — romantisch ehrwürdige Träger des christlichen Geistes. Wie hat sich
das jetzt alles geändert!" Das angeführte Werk Stahrs. das sich schnell in
weiten Kreisen verdiente Anerkennung erworben hat, ist sehr wohl geeignet,
diese Veränderung anschaulich zu machen.
Es dürfte nicht nur im Ganzen das Beste sein, was in der neuesten Zeit
über Italien geschrieben ist, sondern auch den Standpunkt, von dem aus die
große Majorität der gebildeten deutschen Reisenden Italien gegenwärtig be¬
trachtet, noch immer am besten repräsentiren. Die Empfänglichkeit des Ver¬
fassers für alles Schöne, was Italien in Kunst. Natur und den Erscheinungen
des Lebens bietet, ist nicht nur eine höchst lebhafte, sondern vielfach bis zum
Nervösen gesteigert. Aber das ästhetische Behagen ist bei ihm keineswegs die
einzige oder auch nur vorwiegende Stimmung. Trotz seiner Begeisterung für
die wunderbare landschaftliche Schönheit der Campagna in ihrer jetzigen Oede
wünscht er doch, daß neben den Wasserleitungen und Grabdenkmälern Fabri¬
ken entstehen und Schiödte rauchen möchten, wenn auch zur Verzweiflung der
Romantiker, der Albumsreisenden, der Kunstenthusiasten (2 B, S. 351). Ja er
verspürt bei sich Anwandlungen, in denen er eine lustige Findet in einer deut¬
schen Sonntagsschenke, oder eine Gartenmusik inmitten fröhlicher, behaglich
sonntagstrinkender Menschen dem Wege nach der Pyramide des Cestius und
seinen melancholischen Rohrpflanzungen an den Seiten unbedingt vorzuziehn
sich geneigt findet. „Mögen die Romantiker Ah xur saug- diese Anwand¬
lungen Nicolaitisch finden — immerhin" (2 B. S. 253). Wir hoffen, daß das
Geschlecht dieser Romantiker nachgrade aussterben dürfte. Mit einer warmen
Sympathie für den italienischen Nationnlcharaktcr und einer fast zärtlichen
Theilnahme für das Schicksal des unglücklichen Volks verbindet sich bei Stahr
ein leidenschaftlicher Haß gegen seine Unterdrücker, gegen den Despotismus
und das Priesterregiment. Zu seiner Stimmung paßten Silvio Pelileo und
Byron, wie zu der des classischen Idealismus Horaz, Properz und Ovid,
zu der der romantischen Periode die Dichter des Cinquecento. Jeder¬
mann, der die verfaulten Zustände des Kirchenstaats, die asiatische Wirthschaft
im Königreich Neapel kennt, wird mit dein Verfasser im Ganzen überein¬
stimmen, und selbst wenn die Gegenwart leidlich wäre, so käme man nicht
zum ungetrübten Genuß dieser bunten Bilder, weil eine noch nicht fern lie¬
gende furchtbare Vergangenheit ihre schwarzen Schatten darein wirft. Doch
läßt sich Stahr zuweilen etwas zu sehr von seiner unbedingten Antipathie
gegen den Katholicismus hinreißen, dem es auch im gegenwärtigen Italien
nicht blos an guten Intentionen, sondern auch an guten Wirkungen keines¬
wegs fehlt, und ist zu geneigt, Uebelstände auf die Rechnung des Pfaffen-
thums zu setzen, an denen es unseres Erachtens unschuldig ist. Z. B. „Es
hat etwas Niederschlagendes, wenn alles um uns her bei dem unbedeutendsten
Dienste, nach jeder Frage, die man an sie richtet, mit der Antwort zugleich
schon die Hand entgegenstreckt. Ich finde die Hauptquelle dieses traurigen
Charakterzuges in der Religion des Volks. Da ihr Gott, ihre Madonnen,
ihre Heiligen sie durch ihre Pfaffen und Mönche täglich in Kontribution setzen,
sich jede Hilfe und jeden Dienst schon vor der Leistung direct und indirect be¬
zahlen lassen, warum sollten die Menschen es nicht ebenso machen?" (1 B. S. 306).
Die einfache Erwägung, daß diese Habsucht sich einerseits in den unbesuchten
Theilen Italiens so gut wie gar nicht, andererseits aber in allen vielbesuchten
Ländern kundgibt, wo es kein Psaffenthum gibt, wie in Aegypten, zeigt, wie
unrichtig diese Herleitung ist.
Eine Uebersicht, wie die hier versuchte, hinterläßt einen trüben Eindruck:
denn als Gesnmmteindruck ergibt sich aus diesen seit einem Jahrhundert fort¬
gesetzten Beschreibungen, daß sich die trostlosen Zustände des Landes in dieser
Zeit wenig verbessert, in mancher Hinsicht verschlechtert haben, im Wesent¬
lichen aber unverändert geblieben sind. Die Hoffnungen auf eine Wicderaus-
richtung Italiens, die noch vor zehn Jahren gehegt werden konnten, sind
schnell zu Grabe getragen worden und wer möchte ihre Wiederkehr prophe-
zeihen? Aber insofern sich auch in diesen Ansichten die Phasen unserer geisti¬
gen Entwicklung wiederspiegeln, dürfen wir sie. wie es uns scheint, nicht
ohne Genugthuung betrachten. Denn auch hier haben wir manche einseitige
und verkehrte Richtung glücklich überwunden und uns im Ganzen zu einer
Inmitten der großen Bildungs- und Zeitströmung gab es von jeher be¬
stimmte Vermächtnisse früherer Zustände, die nicht von der Stelle rückten und
auf deren Stützung grobe Anstrengungen verwendet wurden. Der Katholicis¬
mus zählt zu diesen Vermächtnissen. Es ist nicht ohne Interesse zu beobach¬
ten, wie von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die vorwärtsdrängendes Wissenschaft
die Kluft erweitert, welche protestantische und katholische Bildung voneinan¬
der trennt. Jenseit des Rheins äußert sich das Bewußtwerden dieses Ab-
standes in einer wachsenden Gleichgiltigkeit gegen die Beobachtung kirchlicher
Gebräuche und in einem rathsuchcndcn Einkehren bei den großen Philosophen
unsrer Vergangenheit. Während Louis Napoleon Kirchen über Kirchen baut,
den Papst zur Creirung neuer Erzbisthümer veranlaßt, Wallfahrten nach
Se. Anna d'Auray macht und in Nennes 1500 Priester die Revue passiren
läßt, während dessen muß der Seinepräfect für den verschuldeten pariser Kle¬
rus, welcher auf eignen Credit eine Menge untauglicher Kirchen baute, inter-
vcniren, in Städten von 70,000 Seelen empfangen nur 3000 das Abendmahl.
Der Pfarrer zu Paiczi-le-Chapt (Poitiers) sammelt für eine Gemeinde, deren
Kinder zum großen Theil nicht getauft sind und die Gebildeten der Nation
versuchen sich in Auslegungen der Schriften Kants und Fichtes. In Oestreich
haben bekanntlich vor einigen Jahren denkende Köpfe Anstrengungen gemacht,
um der katholischen Theologie in einer Art katholischen Philosophie neue
Blutverjüngung zu verschaffen. Rom hat mit gutem Grunde dieser Ueber-
tünchung eines alten Gebäudes keinen Beifall gezollt. Dennoch will man
wenigstens den Namen retten und so sind denn hier und da Anstalten getroffen
worden, die eine Wissenschaft der andern näher zu bringen. Ohnlängst erst
hat der Fürstbischof Ottokar Maria das Motto aufgestellt: gründliche philo¬
sophische Bildung sei zum tieferen Verständniß der Theologie unentbehrlich,
und demgemäß werden in Gratz von Dr. Eduard Trümmer in dortiger theo¬
logischer Lehranstalt Vorträge über Mcthaphysik gehalten. Man weiß bei
alledem, daß die von der Naturwissenschaft revidirte Geschichte von Erschaf¬
fung der Welt bestimmte Lehren in Frage stellt, von welchen nun und nimmer
abgewichen werden kann, daß nach dieser Seite hin erst ganz kürzlich ableh¬
nende Verfügungen getroffen sind, und daß somit an eine Annäherung zwi¬
schen Dogma und Forschung nicht zu denken ist. Je mehr daher die Wissen¬
schaft in die Massen dringt, um so mehr tritt die Versteinerung auf der
andern Seite zu Tage.
Es kann nicht fehlen, daß bei so bewandten Umständen die Entwickelung
des Volksgeistes in den verschiedenen Kronlündcrn eine sehr verschiedene sein
muß. Ungarn mit seinen 2,500,000 Protestanten, Siebenbürgen mit nahe an
600,000 Evangelischen werden eine andere Straße gehen als z. B. Salzburg,
das erst im vorigen Jahrhundert Wohlstand und Fleiß in der Emigration
der 70,000 Protestanten über die Grenze trieb, oder Steiermark, das schon im
16. Jahrhundert alles nichtkatholische aus dem Lande jagte.
Das letztre Land ist für uns im Norden nach dieser Beziehung hin
von besonderem Interesse. Ganz Steiermark stand einmal auf dem Punkte,
dem Protestantismus gewonnen zu werden. Ueber die Hälfte des Bürger¬
standes, ein großer Theil der Bauern und so ziemlich der ganze angesehenere
Adel war protestantisch gesinnt. Auf dem augsburger Reichstage im Jahr
1547 forderte der Landeshauptmann, Freiherr Johann Ungnad selbst freie
Religionsübung. und unter dem Druck der türkischen Grenzcinfälle-in den Jah¬
ren 1575 und 1578 wurde das Zugeständnis; wirklich erreicht. Schon früher,
etwa seit 1530, hatte die Reformation in Steiermark ihren Anfang genommen.
Allmälig waren 73 ländliche Gemeinden dem Latein abtrünnig geworden und
celebrirteu das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Auf allen Schlössern der
Landstände gab es protestantische Schulen und Seelsorgcstationen. Es ist be¬
kannt genug, wie bald dieser neue Geist gebändigt wurde. Der jugendliche
Ferdinand, durch Jesuiten dazu angefeuert, nahm den Toleranzbrief seines
Vaters zurück; am 23. September 1598 beraubte man die Gemeinden
ihrer Prediger, bald darauf verbrannte man 40,000 Bücher protestan¬
tischen Inhalts, und nicht viel später zwang man 30,000 Steirer. welche
nicht wieder dem Papst huldigen wollten, Hab und Gut zu verkaufen, den
zehnten Theil daheim zu lassen und mit dem Nest sich eine neue Heimath
zu suchen.
Im Ganzen hat solcher Art der Protestantismus in Steiermark etwa
hundert Jahre lang bestanden, und da ein weit größrer Theil, als die Zahl
der Ausgewanderten beträgt, zum Katholicismus zurückkehrte, so ist eine be¬
trächtliche Menge ketzerischer Samenkörner am Wege liegen geblieben.
Dennoch hat er bisher nur in kleinen, versprengten Gemeinden aufgehen kön¬
nen. Es mögen etliche 6—7000 Evangelische nach und nach ihr katholisches Kreuz
und ihr Knien wieder verlernt haben. Sie sind über das ganze Land in kleinen
Häuflein verstreut. und es ist nach Möglichkeit dafür gesorgt, daß sie uicht
durch ihr Beispiel zu verführerisch wirken. Hier und da freilich hat man nicht
verhindern können, daß alte protestantische Bethäuser von ihnen angekauft
und ihrem Zwecke wieder zurückgegeben wurden. Dieser Bethäuser gibt es
in Steiermark eine hübsche Anzahl; einige sind förmliche Kirchen gewesen, und
man hat ihre ursprüngliche Bestimmung unter der Verklebung und Ueber¬
mauerung nie ganz verbergen können. So z. B. die zum Wohnhaus um¬
gewandelte Kirche zwischen Brück und Bärncck, an welcher noch die gothischen
Fenster und Strebepfeiler deutlich kenntlich sind. Andere benutzt man heutigen
Tages noch als Heumagazine, Futterscheuern und wie eben die Räumlichkeit
sich verwenden läßt. Fast allen ist ein evangelischer Spruch gemeinsam, dessen
Eigenthümlichkeit meistens darin besteht, daß keines Heiligen Erwähnung
gethan wird. Es lassen sich diese Sprüche theilweise bis auf die Zeit
der Hussiten zurückführen; sie finden sich auch an manchen Wohnhäusern und
zwar nicht in Steiermark allein, sondern selbst in Gegenden, wo alles Ke¬
tzerische mit Stumpf und Stiel ausgerottet worden ist. Nicht selten gesellt
sich ihnen ein seuerlöschender Florian neuern Ursprungs oder eine „Mutter Maria,
bitte für uns!" zu. Einer dieser Sprüche und zwar ein sehr alter, sei wegen
seiner puritanischen Herbheit hierher gesetzt, da er den ernsten Geist seiner Zeit
trefflich charakterisirt:
In Brück, dem frühern Brennpunkt der Bewegung, ist erst vor Kurzem
eine protestantische Kirche wieder entstanden. Die Prediger kommen vor der
Hand noch aus den Nachbargemeinden herüber, doch scheint Aussicht, daß die
vruSer Gemeinde hinreichende Anziehungskraft ausüben wird, um eine selbst¬
ständige Stellung zu gewinnen. In Gratz hat sich schon früher der Protestan¬
tismus aufeigene Füße gestellt. Ohnlängst ist ihm, indem man einen gebildeten
Gönner katholischer Confession vorschob, der Ankauf eines alten Bethauses
gelungen, welches eine strenggläubige Frau besaß und um keinen Preis an
die Protestanten zurückgelangen lassen wollte. An der salzburger Grenze,
in dem überwiegend protestantischen Städtchen Schladming, hat es die Ge-
meinte erst in neuester Zeit «zu der Erlaubniß gebracht, einen Thurm bauen
zu dürfen. Sie ist sofort an den Bau gegangen und jetzt überragt ein schlan¬
ker Spitzthurm die birnenförmige Thurmkuppel, welche so lange als Zeugniß
der bevorzugten katholischen Minorität dem protestantischen Kirchlein Legen¬
überstand.
Alle diese Kennzeichen auflebenden protestantischen Geistes stehen mit dem
zunehmenden Eiser auf der entgegengesetzten Seite in nahe liegendem Zusam¬
menhang und mögen zum Theil als Früchte des unbeliebtesten Dinges gelten,
welches es innerhalb der schwarzgelben Grenzpfähle gibt: des Cvncordats.
Weit rühriger aber doch ist man katholischer Seits; mau wird nicht
müde im Abhalten von Missionen, im Stiften von Vereinen, im Wallfahrten-
anordnen, im Errichten von Marienstatuen, in kleinen Preßscharmntzeln.
Große gelbe Kreuze mit goldener Inschrift: Misjion von 1856 oder
1857 oder 1858 begrüßen auf Weg und Steg den Wanderer, der nach stei¬
nscher Alpenluft verlangt, und verkünden, daß Jesuitenmissionen dort abgehal¬
ten wurden. Armenvereine der Frauen, Aloysiusvereine der Männer sollen der
einreihenden Lauheit im Gebet und dem Geschmack für einen kräftigen Trunk
nach oder gar statt des Kirchgangs entgegenarbeiten. Die Frauen „vom guten
Hirten" wirken in ihrer Weise gegen den unkirchlichen Sinn junger oder schon
gefallner Mädchen. In Anger gibt es eine ihrer Anstalten, deren Seelenzahl
schon auf 800 gestiegen ist. Mit den Gefallnen verkehrt in Bezug auf ihre
begangenen Fehltritte nur ein Mann, ein unverheiratheter. der Beichtvater.
Der Paulus-, der Bonifaciusverein gebieten über ansehnliche Mittel und rüh¬
rige Kräfte.
Was die Wallfahrten betrifft, so ist Steiermark bekanntlich in dieser Rich¬
tung besonders reichlich bedacht. Im Jahre 1857 war es Mariazell, welches
eine ganze Legion Pilger in Bewegung setzte. 1858 ist Maria Straßengel
wegen seines 700jährigen Jubiläums und des damit verbundenen vollständi¬
gen Ablasses vorzugsweise besucht worden. Der „Oestreichische Volksfreund"
zählt nicht weniger als 200,000 Wallfahrer. Dieses Kirchlein zu Maria
Straßengel, dem ein naturwüchsiges Tannencrueifix seine Hauptbedeutung gab,
wurde unter Josephs Negierung im Jahr 1788 abgebrochen, „wegen Wall-
sahrtaberglauben", wie es damals hieß. Mariazell wurde im Jahr 1858
trotz jener nach Straßenget gewanderter 200,000, noch von etwa 60,000
Pilgern besucht.
Im Allgemeinen thun die mitziehenden Geistlichen, von denen die Wall¬
fahrten angeregt werden, das Mögliche, um Zucht und Ordnung zu halten,
und man muß es ihrem Einflüsse namentlrch danken, daß trotz der sonst weit¬
verbreiteten Sonntagsräusche sogar die Heimkehrenden nnr in wenigen Aus-
nahmsfällen ihrem Durste zu viel nachgeben. Dies ist immer ein beachtens-
werthes Zeichen, das man erwähnen muß, wenn man im nebligen dem
Wallfahrer sein richtiges Maß zukommen läßt. Wie weit die Aufrechthaltung
sonstiger Zucht möglich ist. läßt sich freilich leichter errathen, als nachweisen.
Es handelt sich meistens um mehre Tagreisen, und die wenigsten Wallfahrer
nach Mariazell kommen heim, ohne vier bis fünf Nachtlager in Scheuern,
Wirthshausgängen und sonstigen Rastplätzen gehalten zu haben, wo die Auf¬
sicht während der Dunkelheit schon durch die Ueberfüllung erschwert wird.
Ohnehin steht ja doch der Ablaßgewinn in naher Aussicht. Manche dieser
Wallfahrten haben übrigens das Ansehn einer Sommervergnügungspartie.
Es gibt wohlhabende Gemeinden, welche auf härter- und blumenverzierten
Wagen durchs Land fahren, reichlich mit Gebetbüchern, noch reichlicher mit
Mundvorrath ausgerüstet. Solche Erholungsreisen nach beendigter Aussaat
oder Ernte'setzen eine Menge Leute, in Bewegung, denen ihre Schuhe sonst
zum Wandern zu lieb sind, und wenn diese Karavanen, ihre Jesus-Marialieder
nach fröhlichen Weisen singend, durch die malerische Gebirgsgegend dahin¬
ziehen, da bedauert man, daß sich ihre volksthümlich festliche Erscheinung
nicht auf andre Zwecke übertragen läßt.
Die Jesuitenmissionen währen meistens eine oder zwei Wochen, oft auch
noch kürzere Zeit. Da die rüstigsten und gewandtesten Redner zu diesen
Reisen verwendet werden und dieselben fast ohne Unterlaß in Bewegung und
Uebung bleiben, so üben ihre Vortrage aller Orten einen mächtigen Reiz,
zumal wo die Beschränktheit der Kirchenräume sie ins Freie hinausweist und
ihnen eine sonst den Zuhörern nicht alltägliche Bühne gibt. Einige dieser
Jesuiten besitzen wirkliche Beredsamkeit und nicht selten Begeisterung für ihr
Thema. Da glaubt man sich denn bei dem Anblick dieser im Freien grup-
pirten Menge und ihres fanatisch entzündeten Redners in die Zeiten eines
Peter von Amiens zurückversetzt. Freilich verfällt nach ihrem Scheiden alles
wieder in den alten Leierton, und der Abstand zwischen dem Alltagspfarrer
und diesen Wanderpredigern wird, nicht zum Vortheil des erstem, fühlbarer
als je. Hin und wieder verrückt diese plötzliche Feuertaufe den Leuten auch
die Köpfe. Uns ist eine junge Dame bekannt, welche schon nach der zweiten
oder dritten Missionspredigt dieser Art in solch einem Grade geistverwirrt
wurde, daß sie in einer Prozession sich plötzlich ihrer sämmtlichen Kleider ent¬
ledigte und dem Irrsinn verfiel. In andrer Gegend ist uns ein Mann be¬
gegnet, der eine Jesuitenpredigt so sehr wörtlich verstanden hatte, daß er seine
Hand ins Feuer halten zu müssen glaubte, und diese Selbstkasteiung fortsetzte,
bis zwei Finger der Hand nicht mehr zu retten waren. Im Ganzen darf
man annehmen, daß je nach dem Grade der größern oder geringern Geistes¬
verwahrlosung dies plötzliche Schleußennusziehen in jedem der Zuhörer eine
innere Verwirrung hervorbringt, die nicht so leicht den Verstand wieder zu
seinem Rechte kommen läßt. Nur tritt sie nicht allenthalben in gleich thät¬
licher Weise aus.
Die Stellung der Pfarrer ist in den meisten steirischen Gemeinden eine
behäbige. In Flecken und Dörfern haben sie eignes Feld und entsprechenden
Viehstand, halten .Knechte und Mügde, und es wird ihnen wie einer Art
Obrigkeit ohne viel Gegenrede Folge geleistet. Ob ihre Köchinnen immer
das kanonische Alter haben, mag ununtersucht bleiben. Das Priestercvlibat
ist eine so arge Sünde wider die Natur, daß man diesem Thema und seinen
begreiflichen Folgen gern aus dem Wege geht. Daß der Pfarrer seinen
Haushalt durch eine jüngere Schwester besorgen läßt, scheint auch dann nicht
Anstoß zu erregen, wo ein noch lebensfrischer Hilfspriester mit im Hause
wohnt. Wenn wir den letztern sich zuweilen bei der Heuernte ausarbeiten
und dem jungen Mädchen bei der ländlichen Hantirung helfen' sahen, hat
uns der Anblick allemal ein gemischtes Gefühl hinterlassen, theils Verwun¬
derung, was aus solchen Bezügen wol hier und da hervorwachse, theils und
überwiegend Bedauern, daß ein unnatürlicher Brauch überhaupt zu Fragen
dieser Art zwinge. Erwägt man, wie die durch den Beichtstuhl unaus¬
gesetzt fortgeführte Beschäftigung des Geistlichen mit Fehltritten aller Art
auf seine Einbildungskraft zurückwirken muß, und sieht man ihn dabei doch
meistens in strotzender Gesundheit und Leibesfülle ein hohes Alter erreichen,
so stellen sich allerhand Wahrscheinlichkeitsantworten ein, über die man am
besten schweigt.
Der Bildungsgrad der steirischen Landgeistlichen mag demjenigen der
Landgeistlichen in den übrigen Kronländern ziemlich gleich sein; er braucht
kein hervorragender zu sein und so sind auch die Predigten selten von bedeu¬
tendem Gehalt. Italienische Kanzelberedsamkeit sucht man natürlich vergebens,
dennoch ist der Abstand gegen früher natürlich groß. Wie sich zur Zeit des
steirischen Protestantismus die Bildung der katholischen Geistlichkeit zur Volks¬
bildung verhielt, zeigt u. a. noch der §. 35 der steirischen Landgerichtsord¬
nung von 1574, worin auf Beichtväter, welche nicht lesen können, besonders
Bedacht genommen wurde. Ein oder zwei Priester sollten den Verurtheilten
auf seinem letzten Gang begleiten und ihm aus der Bibel vorlesen. „Wenn
die Beichtväter" heißt es dort „nicht dazu geschickt sind, so sollen es andere
Verständige thun."
Fünfzig Jahre nach Ausrottung der evangelischen Prediger mußte die Ge¬
setzgebung auch in anderer Beziehung auf die katholischen „Pfarrer, Kaplüne
und Vicarigesellpriester" maßregelnd Rücksicht nehmen. In der Zapfenma߬
verordnung von 1650 wird ihnen vorgehalten, daß Unregelmäßigkeiten „unter
dem Vorwand von Bauernhochzeiten und andern schimpflichen Tractationcn"
vorkamen, „welches nicht minder von Geistlichen beschicht." Besonders wird
solcher Schmäuse gedacht, welche unter „dem Schein von Kindelbetten, item
Kindmahlen, Aderlaß :c." vor sich gingen. Sie werden belehrt, daß es
ihnen nicht erlaubt sei, bei „Kindcrtcmfen, Kirchtagcn. Begängnissen, Bruder¬
schaften und Kirchweihen" Wein nach dem Zapfenmaße auszuschenken, ohne
Taxe zu zahlen.
Diese weltliche Seite der Geistlichkeit hat erst durch Ablösung des Zehn¬
ten ihr lebendiges Colorit verloren, ohne Zweifel zum Vortheil ihres Standes,
so viel Widerspruch auch dagegen erhoben wurde. Noch vor wenigen Jahren
galt die alte Zehentordnung, wonach sogenannte Zahlschvber gemacht werden
mußten, damit der Zehentherr sogleich nach der Ernte seine Garben holen
könne. Vor drei Tagen durfte kein Getreide eingefahren werden und weitere
zwei Tage , mußten die dann zurückgelassenen Zehentgarbcn aus dem Felde
gehütet werden. Bei nicht geleisteten Zehent wurde die nächste Aussaat ge¬
pfändet oder Vieh weggenommen. Man begreift, welche Reibungen zwischen
Pfarrer und Bauer vorkommen mußten.
Dies und anderes hat der Strom der Zeit fortgerissen, so lange man
sich auch sperrte und mit der Behauptung zur Wehr setzte, der Klerus dürfe
nie und nimmer ein Jota nachlassen. Aber es ist doch nur Aeußerliches. Der
Kern ist derselbe geblieben.
Noch heute wird in öffentlichen Reden und katholischen Kirchcnzeitungen
von „Protestanten geredet, welche schon Christus in seinem Gespräche mit
der Samariterin verdammt habe". Noch heute wird über die Berechtigung
ein Iudenkind zu rauben, öffentlich gepredigt. — z. B. vom Spiritual Ad.
Schmidt in Gratz. Noch heute preist ein kirchliches. Blatt aus Steiermark,
der Wahrheitsfreund, den Kronprinzen Rudolph wegen des Mürtyrcrthums
seines heiligen Namensvetters von Bern, den die Juden ums Jahr 1287 in
Stücke geschnitten haben sollen und dessen Tod Veranlassung war, daß eine
Menge Juden auf dem Rade starben, der Rest aber aus Bern verjagt wurde.
Ganz der nämliche blutdürstige Geist, welcher im Jahre 14W die Juden aus
den steirischen Bergen und Thälern hinaushetzte und ihnen noch jetzt das
Niederlassungsrecht dort verkümmert! Und wie weit liegt doch in nicht kirch¬
licher Beziehung jene ungeschlachte Zeit hinter dem mildem Geiste der
Gegenwart, jene nämliche Zeit, die so trefflich durch die Sportcltaxe des stei¬
rischen Freimanns von 1574 charakterisirt wird: vier Schilling für Martern,
zwei Schilling für Ohrabschnciden, ein Schilling für Vertheilen, sechs Schil¬
ling sür Ertränken, vier Schilling für Zwicken, und wie sie alle der Reihe
nach aufmarschiren, diese uns bis zur UnVerständlichkeit abhanden gekommenen
Denkzeichen einer verschollenen Zeit. Um aber den Geist, den wir hier im
Auge haben, mit seinen eignen Worten reden zu lassen und einen Beleg sür
die Stabilität selbst der Auslegungen gewisser Dinge zu liefern, an denen
Zeit und Bildung spurlos vorüberströmte, sei hier mit einer steirischen Auf¬
fassung des Fegefeuers geschlossen, wie sie ohnlängst ein kirchliches Blatt seinen
Lesern zum Besten gab, und wie Man sie ebenso gut nach einer steirischen
Predigt hätte niederschreiben können:
Die armen Seelen im Fegfeuer.
Die armen Seelen im Orte der Reinigung leiden unsägliche Peinen:
— — Außer dem Verlust der Anschauung Gottes erdulden sie das Feuer,
die Finsterniß und die Qual durch den Satan.---Dies Feuer (natür¬
lich von unsern irdischen Flammen verschieden) kommt, was seine Heftigkeit
betrifft, der höllischen Glut gleich; „denn — sagt der heilige Thomas
von Aquino — „das gleiche Feuer peinigt die Verdammten in der Hölle und
die Gerechten imFegseuer."--Dies Feuer hat das Eigne, daß es nicht
leuchtet, sondern seine Wirkung ist schwarze Finsterniß.--Der Ewig¬
gerechte übergibt ohne Zweifel einige Seelen auch den Dienern seiner Rache —
dem Teufel.--' Viele Beweggründe drängen uns, den armen Seelen zu
helfen.--Ein Mensch liegt mit zehn eisernen Klammern an ein Bret
gefesselt, so unbeweglich, daß er kaum Athem schöpfen, sonst aber sich durch-"
aus nicht rühren kann. Knapp über seinem Rücken hängt eine Walze, hier
und da mit scharfen Stacheln besetzt; sie wird durch ein Räderwerk, ähnlich
einer Uhr, in Bewegung gebracht und drückt, ihm bei jeder Umdrehung die
Spitzen ins Fleisch :c. (welche Raffinerie im Erdeulen dieses Folterbildes aus
der „guten alten Zeit!") Empfohlen wird dann das Bezahlen von Todten-
messen, „das schnellste und vollkommenste Läuterungsmittel," die Gewinnung
solcher Ablässe, welche auch den Hingeschiedenen zu Gute kommen; Anru¬
fungen, Gebete, gute Werke, Wallfahrten, Uebernahme ihrer Schulden,
pflichtmäßige Restitutionen u. f. w.
S'ist eben noch immer der alte Spruch Tezels:
Sobald das Geld im Kasten klingt,
Die Seele aus dem Fegfeuer springt.
Wenn man die Tanzkunst der Griechen und Römer im Allgemeinen mit
der modernen vergleicht, so zeigt sich auf den ersten Blick eine principielle
Differenz, welche die Aehnlichkeit bedeutend verringert, ja beinahe aushebt.
Bei uns ist der Tanz vorherrschend geselliger Genuß; die Tanzenden kümmern
sich fast um um ihr eigenes Vergnügen, wenig um ihre Beziehung zu den
Zuschauenden, und wenn, wie in Deutschland, zu der Armuth an schönen For¬
men noch der Mangel an Grazie beim Tanz kommt, so muß man vom ge¬
wöhnlichen Tanz als besonderer Kunstform ganz absehn. Anders gestaltete
sich die Orchestik bei den Alten, in deren Anschauung geistige und körperliche
Schönheit untrennbar waren, bei denen alles Innere plastisch in die Gestalt
heraustrat. Sie tanzten eben mit dem ganzen Körper; besonders das selbst
von den Kunsttänzern jetzt arg vernachlässigte Spiel der Arme und Hände
richtete sich streng nach der Stimmung der Musik, gleichsam durch die Harmonie
der'Bewegungen die fehlenden musikalischen Ausdrucksmittel ersetzend. Frei¬
lich knüpft sich an den Umstand, daß damals die Tänze fast blos für den Zu¬
schauer berechnet waren, der weitere Unterschied, daß bald der gesellige Tanz
größtentheils im Kunsttanz unterging und dann bei Mahlzeiten und andern
Belustigungen Tänzer und Tänzerinnen von Profession auftraten. Die bei
Homer noch nicht vorhandenen Vorurtheile gegen die Kunst treten in der histo¬
rischen Zeit deutlich hervor und das Beispiel des Atheners Hippokleidcs,
der sich vor seinem ernsten Schwiegervater Kleisthenes in Sicyon die Braut
durch zu leidenschaftliche Liebe zum Tanz verscherzte, wird manchem griechi¬
schen Dandy warnend vorgeschwebt haben. Auch war bei der halborientali-
schen Abgeschlossenheit der Frauen an ein Zusammentanzen beider Geschlechter
unter Erwachsenen gnr nicht zu denken, und es wäre dasselbe für ein hoher
Grad unmännlicher Haltungslosigkeit angesehen worden. Noch strenger, als
die Griechen, urtheilten natürlich die Römer in dieser Beziehung, weil ihnen
mit der gravitätischen Würde des Mannes eine tänzelnde Beweglichkeit un¬
vereinbar erschien. Ciceros berühmt gewordenes Wort: „Niemand fast tanzt
in nüchternem Zustand, wenn er nicht vielleicht den Verstand verloren hat",
trifft deshalb zufällig mit der Ansicht vieler Sittenrichter unsrer Tage überein,
„die," wie Bischer sagt, „nur eine häßliche Sinnlichkeit kennen." So bliebe
denn eigentlich blos ein Vergleich zwischen den höheren Kunstformen alter und
neuer Zeit möglich, wie sie besonders in der theatralischen Orchestik austreten
und hier ist es besonders die römische Kaiserzeit. die bis jetzt unerreicht dasteht.
Die überaus große Beweglichkeit der Südländer, ihre lebhafte Gesticula-
tion und die Mannigfaltigkeit des Lebens erzeugte bei den Griechen früh eine
Reihe von Geberden, welche auch außerhalb des Theaters im täglichen Leben
ihre Anwendung fanden und allen sogleich verständlich waren. Einige Gesten
dieser Art. namentlich solche, die sich auf Liebesverhältnisse bezogen, kommen
noch in den Malereien antiker Thongefäße vor. Man wundert sich deshalb nicht
über die Neigung der Griechen, auch durch den Tanz wirkliche Handlungen
darzustellen. Bald überwog das mimische Element das rhythmische, und es gab
endlich keinen Charakter, kein Gewerbe, nichts Auffallendes im Getriebe des
Lebens, was diese Art der Pcmtomimik nicht durch die stumme Sprache der
Glieder wiedergegeben hätte. Als solche Charaktertänze werden z. B. aus
der ältern Zeit erwähnt: Angelike, Gypones, Brydalliche, Mimetikc.
Die Angelike stellte einen Boten vor, der eine überraschende Nachricht hastig
und bezeichnend mittheilte; im Gypones veranschaulichte man das Einher¬
schleichen bejahrter, vom Alter gebeugter Männer; die Brydalliche bezeichnete
das Treiben ausgelassener Weiber, die Mimetike einen aus dem Diebstahl
von Eßwaaren Ertappten. Einer noch niedrigern Art der Komik gehörten
die Nachahmungen besonders hervorstechender Thiere, z. B. des Löwen, des
Fuchses, der Eule, an. Ein bedeutender Fortschritt war es, daß sich>dieOr-
chcsten, unter denen die lakonischer und sicilischen die ausgezeichnetsten waren,
ihre Stoffe aus der Mythologie wählten und nun die Thaten und Schicksale
ihrer Götter und Heroen in mimischen Tänzen und Tableaux ausdrückten.
Die anschaulichste Schilderung einer Darstellung dieser Art liefert uns Xeno-
phon in seiner Beschreibung des Gastmahls, welches Kallias seinem Freund
Sokrates gibt. Hier erscheint zur Erheiterung der Gäste ein Syrakusauer
nebst einer Tänzerin, einer Flötenspielerin und einem der Orchestik kundigen,
schönen Knaben; nachdem die Gesellschaft mancherlei Gauklerkünste zum Besten
gegeben hat, erbittet sich Sokrates selbst einen dramatischen Tanz. Ein Lehn¬
stuhl reichte hin, um das Gemach anzudeuten; der Syrakusauer gab mit we¬
nigen Worten das Programm der Darstellung: Die Heimführung der Ari-
adne durch Dionysos. „Hieraus kam zuerst Ariadne herein, bräutlich ge¬
schmückt, und setzte sich auf den Sessel. Da ertönte auf der Flöte die Me¬
lodie eines bacchischen Tanzes. Sogleich zeigte Ariadne durch ihr Benehmen,
wie freudig sie die Töne durch schauerten; zwar stand sie nicht auf, um dem
Gott entgegenzugehen, aber sie konnte ihre Unruhe nicht verbergen. Endlich
erschien Dionysos, halbberauscht, setzte sich zu ihr und umarmte sie. Ver¬
schämt erwiderte sie seine Liebkosungen. Als aber Dionysos aufstand, Ariadne
mit sich emporzog und beide sich vermittelst der Geberdensprache ihre Liebe
gestanden, da ergriff die Zuschauer Staunen über die Wahrheit der Darstel¬
lung; denn sie glaubten zu hören, daß der Gott das Mädchen fragte, ob sie
ihn liebte und daß sie es mit einem Eide bejahte, ja sie wollten alle darauf
schwören, daß die beiden Pantomimen einander wirklich liebten." — Auch
außer dem Theater und den Lustbarkeiten des Hauses zeigte sich diese Fort¬
bildung des mimischen Tanzes in den Volkstänzen bei ländlichen Festen. Her¬
vorzuheben ist hier besonders der Winzertanz, in welchem verschiedene
Gruppen von Personen alle bei der Weinlese und dem Mostkcltem vor¬
kommende Handlungen, vom Lesen der Trauben bis zum Trinken des
Weines, vorstellten. Die antike Musik leistete als Begleiterin des Tanzes
den Griechen mehr Unterstützung als wir gewöhnlich anzunehmen ge-
neigt sind. Sie entbehrte zwar die Harmonie der Accorde und überhaupt des
freieren Aufschwungs der modernen; allein sie war eben dadurch durchsichtiger,
von unmittelbarerer Wirkung, und da sich an bestimmte Tonarten und Takt¬
bewegungen im Bewußtsein des Hörers sogleich eine bestimmte Gemüthsstim¬
mung knüpfte, so wirkte sie bei der mimischen Darstellung als ein direct mit
das Verständniß vermittelndes! Element. Dennoch fehlte aber der Panto-
mimik noch so lange die höchste Fähigkeit, den ganzen Reichthum eines geschicht¬
lichen sujets in der Darstellung zu entwickeln, als sie sich noch nicht vom
Gesänge, dessen Text den Inhalt der Handlung bestimmt aussprach, begleiten
ließ. Dieses dritte nothwendige Vehikel der Kunst kam auf italischen
Boden hinzu, ohne daß die dadurch vervollkommnete Pantomimik eigentlich
eine römische Erfindung genannt werden kann. Das römische Drama bestand
bereits seit dem Jahr 240 vor Chr. aus dem Dialog (der stets gesprochen
wurde), dem Gesang und den Pantomimen. In den lyrischen Monologen
ging die Recitation in Gesang, die Gesticulation in Tanz über. Der eigent¬
liche Schauspieler stellte schon den Inhalt des Monologs pantomimisch dar,
während ein Sänger oder ein Chor den Text nach besonders dazu componir-
ter Melodien mit Flötenbegleitung absang. Von dieser Einrichtung zu rein
pantomimischen Stücken war nur noch ein Schritt. Man brauchte eben blos
den Dialog auszuschließen und die Hauptsituationen in eine Reihe von Mo¬
nologen zusammenzufassen, die vielleicht den erzählenden Recitativen unserer
Oratorien glichen. Die Bekanntschaft des Publicums mit dem gcscunmten mytho¬
logischen Material konnte dann die etwa bleibenden Lücken leicht ausfüllen.
. Griechische Balletmeister waren es, die unter der Negierung des Kaisers Augustus
diesen glücklichen Einfall hatten, so wie überhaupt Griechen aus Hellas oder
den gräcisirtcn Provinzen, besonders Syrien und Aegypten, den Ruhm der
Meisterschaft behaupteten, den Italienern die eigentlichen Mimen (Harlckina-
den mit übertriebenen Grimassen und obscönen Geberden) überlassend. Und
es sind nicht blos die Namen fast aller Virtuosen in dieser Kunst griechisch,
sondern auch die Texte scheinen den Andeutungen der alten Schriftsteller zu¬
folge in griechischer Sprache versaßt gewesen zu sein. Die Erfinder waren
Pylades aus Cilizien und Bathyllos aus Alexandria. Bathyllos zeich¬
nete sich besonders in der Darstellung des Zarten, Weichen, Weibischen und
Komischen aus, Pylades mehr in den tragischen Rollen. Bathyllos war des¬
halb ein Favorit des weichlichen Mäcenas und Liebling der römischen Damen,
die von namenlosem Entzücken hingerissen wurden, wenn er ihnen sein Mei¬
sterstück, die von Zeus geliebte Leda, vorzauberte. Die energischere Natur
seines Rivalen Pylades spricht aus mehreren, über ihn aufbewahrten Anek¬
doten. Als er zum ersten Mal im „rasenden Herkules" auftrat, deu er spä¬
ter privatim vor dem Kaiser wiederholen mußte, und das Publicum Zeichen
des Mißfallens über das ungewöhnliche Geberdenspiel gab, nahm er die Maske
ab und rief: „Ihr Thoren, mein Tanz stellt ja einen Rasenden vor!" Ein
anderes Mal zeigte er mit dem Finger höhnend auf einen Zuschauer, der ihn
auszischte. Dies war für Augustus genug, ihn aus Rom und Italien auf
einige Zeit zu verbannen. - Die Zurückberufung des geliebten Pantomimen
söhnte das Volk mit mancher strengen Maßregel der kaiserlichen Regierung
wieder aus. und als ihm Augustus drohend die Feindschaft mit dem prvtegirten
Bathyllos vorwarf, antwortete er keck und treffend: „Es ist Dir blos von
Nutzen, o Kaiser, wenn sich das Volk im Streite über uns^ die Zeit vertreibt!"
— In der Wahl der Stoffe blieben die Erfinder und ihre Nachfolger bis in
die späteste Zeit bei demselben abgeschlossenen Kreise der Mythologie und der
ältesten Sagengeschichte stehen. Ferner war das > Spiel in den ersten zwei
Jahrhunderten auf eine einzige Person beschränkt, die so schnell als möglich
ihr Costüm wechselte und durch ein rasches Nacheinander gleichen Schritt mit
dem Nebeneinander der Handlung zu halten suchte. .In Bezug darauf erzählt
Luci an, es sei einst ein Ausländer ins Theater gekommen und habe bemerkt,
daß fünferlei verschiedene Masken für den Tänzer in Bereitschaft waren. - Da
er nun blos einen Tänzer sah, habe er gefragt, wo denn die übrigen vier
wären, die mit demselben agiren sollten. Man sagte ihm, dieser Einzige
würde alle fünf Rollen spielen. „Um Verzeihung," sprach der Fremde zum
Pantomimen, „Du hast also in einem Leibe fünf Seelen? Das konnte ich
nicht wissen." Ja derselbe Lucian erklärt sich den vielgestaltigen Proteus
schon auf echt rationalistische Weise als eiyen recht geschickten ägyptischen Tän¬
zer! — Die Masken waren immer schön und dem Sujet angemessen, nicht
mit offenem, sondern mit geschlossenem Munde. Natürlich hinderten sie das
uns so nöthig dünkende Mienenspiel ganz; allein erstlich lag in der alten pan¬
tomimischen Kunst der Hauptaccent aus der Cheironomie, der Gesticulation,
und dann konnten in den ersten Jahrhunderten, wo keine weiblichen Panto¬
mimen öffentlich auftraten, die Tänzer bei weiblichen Rollen der Larven nicht
entbehren. Die Flbtcnmusik verstärkte man bald durch audere Instrumente
und besondere Taktschläger regelten durch das sogenannte Skabillum, eine
eiserne Schuhsohle, den Rhythmus des Gesanges. Allein der stärkere Effect,
der durch das Zusammenklingen mehrerer Instrumente erreicht wurde und die
größere Biegsamkeit in der Modulation sanden bald strenge Tadler. Es wär
dies nach unserer Ansicht ein naturgemäßes Bedürfniß nach concreterer Bele¬
bung der Musik durch Harmonie; aber dieses Schmelzen und Flüssigwerden
des kalten Einklangs erschien den alten Kunstkennern als Verweichlichung,
Entnervung der edlen Tonkunst, und die Klagen über ihre schlechte Theatermusik
erinnern uns lebhaft an die vielleicht gerechteren Stoßseufzer über leichtfertige
Ballet- und Opcrncompositioncn in der Neuzeit.
Die Pantomimen accommodirtcn ihre Geberden so streng dem gesungenen
Texte, daß sie ihr Spiel bis aus einzelne Worte nüancirten. So wird erzählt,
daß einst Hylas. der ausgezeichnetste Schüler des Pylades, einen Chor tanzte,
dessen Schlußworte waren: „den großen Agamemnon", und dabei seine Gestalt
hoch aufrichtete. Da rief ihm fein Lehrer von den Zuschauersitzen aus zu:
„Du machst ja aus dem Großen einen Langen!" und als er hieraus auf die
Bitte des Volkes denselben Chor sogleich selbst tanzte, nahm er an derselben
Stelle des Textes eine tiefnachsinnende Stellung an. Ein anderes Mal tanzte
Hylas den blinden Oedipus mit zu sicherer Haltung und Pylades tadelte ihn
wieder laut mit den Worten: „Du siehst ja!" Mit dem Grade der Kunst¬
ausbildung steigerte sich auch die Kennerschaft des Publicums, von dem man
überhaupt dreist behaupten kann, daß es weniger aus Neugierde, als aus
Liebe zur Darstellung das Theater besucht, da ihm ja alle Stoffe bekannt
waren und ihm also die moderne Spannung aus die Erfindung und Kompo¬
sition der Stücke gänzlich abging. Wehe auch dem Actcur, an welchem man
das geringste Unschickliche bemerkte! Lucian erzählt aus Antiochia, einer Haupt¬
bildungsstätte aller Gaukler und Tänzer: „Einst trat ein sehr kleiner Tänzer aus.
um den Hektor zu tanzen, sogleich schrien alle Zuschauer wie aus einem Munde:
„„Da kommt Astyanax (Hektors Sohn), aber wo bleibt Hektor?"" Ein an¬
deres Mal stellte ein recht langer Bursche den Kapaneus (einen der Sieben
gegen Theben) vor, und da er sich eben anschickte die Mauern von Theben zu
bestürmen, riefen sie ihm zu: Steige doch hinüber, du «brauchst keine Sturm¬
leiter! Einen überaus dicken Tänzer, der gewaltige Sprünge machte, baten
sie. zu bedenken, daß man die Bühne noch länger brauchte; einem außer¬
ordentlich schmächtigen dagegen rief man zu: Gute Besserung!" So ist es
denn erklärlich, daß die pantomimische Kunst eine Höhe erreicht, wogegen
alles, was bei uns Mimik heißt, in den Hintergrund tritt, daß wirklich
endlich bei manchen Meistern „jeder Gedanke eine Geberde, jede Geberde ein
Gedanke" wurde. Zwei Triumphe der Kunst berichten uns die Alten aus
Neros Zeit. Der cynische Philosoph Demetrius zog damals gegen die.
Tanzkunst los und that es auch einst in Gegenwart eines Orchester. Da er
dem musikalischen Ohrenkitzel die Hauptwirkung der Pantomimik zugeschrieben
hatte, so bat der Tänzer, ihn erst tanzen zu sehen, bevor er über ihn urtheilte.
Demetrius willigte ein; der Tänzer hieß die Flöten und Sänger schweigen
und tanzte ohne alle Begleitung die in den Armen des Kriegsgottes über¬
raschte Venus, wie Helios sie dem Vulkan verräth, dieser sie belauscht und
beide im Netze sängt, wie er die gesammten Götter herbeiruft und jeder
derselben sich auf besondere Weise benimmt — alles mit so viel Geschicklichkeit,
daß Demetrius, vor Vergnügen außer sich, dem Tänzer zugerufen haben soll:
„Was für ein Mann bist du? Ich sehe nicht nur, ich höre alles, was du
machst, und da du so gut mit den Händen reden kannst, ist dir eine andere
Sprache leicht entbehrlich." Die zweite Anekdote betrifft einen Fürsten aus einem
barbarischen Lande, der an Neros Hof gekommen war. Er sah denselben
Tänzer einige Pantomimen so deutlich ausführen, daß er alles verstand, wie-
wol ihm die Worte des Gesanges verloren gingen. Als er sich nun vom
Kaiser beurlaubte und ihm dieser sagte, er möchte sich von ihm ausbilde»,
was er wollte, es solle ihm mit Vergnügen gewährt werden, erwiderte er:
„Du würdest mich sehr glücklich machen, wenn du mir den Pantomimen
schenken wolltest." Und was willst du in deinem Lande mit ihm anfangen?
fragte Nero. „Ich habe." antwortete der Fremde, „verschiedene Nachbarn,
die eine andere Sprache reden, und es findet sich nicht immer sogleich ein
Dolmetscher; so oft ich nun einen brauche, sollte er diesen Leuten durch Ge-
berden meinen Willen erklären." — Kaum läßt sich aber auch der ungemessene
Beifall, den dieses Spiel fand, der ausschweifende Eiser aller Classen sür
dasselbe schildern. Hohe und Niedere, Alt und Jung, Männer wie Weiber
glühten von Leidenschaft für diese Darstellung, und zuweilen artete die Be¬
geisterung des Publicums in Raserei aus. So geschah es, daß einst zu Lu-
cians Zeit ein Tänzer den „rasenden Ajax" gab und sich dabei ganz wie ein
Rasender geberdete, einem Taktschläger die Kleider vom Leibe riß. einem
Flötenspieler die Flöte aus dem Munde nahm und damit dem sich seines
Sieges freuenden Ulysses ein Loch in den Kops schlug. Die Zuschauer ließen
sich aber auch anstecken, sprangen auf. schrien wie die Unsinnigen und warfen
ihre Kleider von sich! — Zu Hause ahmte man Stellungen und Gesten nach,
trällerte die Melodien der Chöre, und die Gefährlichkeit der Pantomimen für
das schöne Geschlecht übersteigt noch die unserer Ballettänzerinnen Männern
von Distinction gegenüber. Aergerlich sagt.der Philosoph Seneca: „Wie
ängstlich ist man bemüht, daß ja nicht der Name irgend eines Pantomimen
untergehe! Fest begründet durch viele Nachfolger steht das Haus des Pylades
und Bathyllos; groß ist die Zahl der Schüler, groß die der Lehrer dieser
Künste. In allen Häusern der Stadt erdröhnen die Breter der Bühne; auf
ihnen drehen sich stampfend Männer und Weiber. Beide Geschlechter wett¬
eifern in der Ehre, die Pantomimen auf der Straße zu begleiten." Besonders
die letzten Worte deuteln auf den Umschlag hin, den die öffentliche Meinung
hinsichtlich des Makels, der von Alters her an den Schauspielern haftete,
bald erfuhr. Augustus ließ zwar die entehrende Strafe der Peitschung sogar
an dem Liebling des Volkes, Hylas, noch vollziehen, und Tiberius erneuerte
die alten Verbote: daß kein Senator die Häuser der Pantomimen betreten,
daß kein römischer Ritter in Begleitung derselben sich blicken lassen oder
anderswo als im Theater ihren Vorstellungen beiwohnen sollte, und daß die
Prätoren die Excesse der Claque und der Factionen mit dem Exil bestrafen
durften; ja er verbannte acht Jahre später, als die Klagen sich mehrten
alle Schauspieler aus Italien. Allein Caligula führte die lange entbehrten
Belustigungen wieder ein, veranstaltete dieselben sogar des Nachts, was bis
dahinmoch unerhört war, bei voller Erleuchtung der Stadt, grollte lästernd
mit Jupiter, als einst Regengüsse die Vorstellungen der Pantomimen verzögerten.'
und küßte den vortrefflichen Pantomimen Mnestor vor den Augen des ganzen
Volkes. Nero begünstigte natürlich in seiner Kunstmanie auch die Pantomimen,
hatte seine große Freude an den Raufereien des Volkes und warf selbst vom
Proscenium herab mit Steinen und Stuhlbeinen unter die Kämpfenden! als
aber sein Versuch, die Orchestik beim Tänzer Paris zu- erlernen mißlang,
ließ er denselben hinrichten und verbannte alle derartigen Künstler aus Italien.
Seine Ermordung brachte die Hauptstadt um einen großen Genuß; denn er
hatte bei der herannahenden Gefahr das Gelübde gethan, bei den Spielen zu
Ehren seiner Erhaltung als Wasserorgelspieler, Chorflötist und Dudelsacks¬
pfeifer aufzutreten und den König Turnus nach Virgil zu tanzen! Wenn
man bedenkt, daß damals jeder Anführer von einer Abtheilung der kaiserlichen
Claque eine Besoldung von 2500 Thlr. erhielt , so kann man sich eine schwache
Vorstellung von den Kosten des Theaters.machen (der gewöhnliche Preis einer
Vorstellung für den Schauspieler schwankte übrigens in der Kaiserzeit gesetzlich
zwischen 25 und 50 Thlr.). Unter Domitian entzückte ein zweiter Paris
das Volk. Er war so sehr Liebling der Damen, daß Juvenal es unter
den Opfern aufzählt, die sich eine Frau auferlegte, wenn sie die Hauptstadt
verließ: daß sie das Spiel dieses Künstlers missen mußte. So war es
kein Wunder, daß selbst die Kaiserin Domitia sich sterblich in ihn ver¬
liebte. Endlich merkte aber der Tyrann die Untreue seiner Gemahlin, ver¬
stieß dieselbe und ließ den Pantomimen auf offener Straße niederstoßen.
Seiner Wuth siel sogar ein unschuldiger, kränklicher, aber seinem .Lehrer
an Gestalt und Kunst ähnelnder Schüler des Paris zum Opfer, so wie die
Todesstrafe an allen vollzogen wurde, welche den Ort. wo der Tänzer ermor¬
det worden war. mit Blumen schmückten. Außerdem gestattete Domitian von
nun an nur noch das Spiel der Pantomimen innerhalb der Privatwoh¬
nungen. Vom edlen Trajan verlangte das Volk mit derselben Uebereinstimmung
die Abschaffung der Pantomimen, wie von Nerva die Wiedereinführung der¬
selben. Unter den folgenden Kaisern wagte es höchstens Commodus, dem
Volk diese Darstellungen zu entziehn, und sie erhielten sich in Gunst bis zum
Untergang des weströmischen Reiches und fanden in der neuen Hauptstadt
des oströmischen denselben ausschweifenden Beifall. Noch der ostgothische Ge¬
heimschreiber Cassiodor lobt „die geschwätzigen Hände, die zungenfertigen
Finger, das schreiende Stillschweigen, die stumme Erzählung" der Panto¬
mimen und zugleich ersieht man aus ihm. daß weder die Art der Action,
noch die sujets der Darstellungen sich bis dahin geändert haben. Justinian
endlich, dessen schamlose Gattin selbst früher Tänzerin gewesen war, hat unter
anderm auch die Bestimmung des Kaisers Theodosius in seine Gesetzsamm¬
lung aufgenommen: daß die Bildnisse der Pantomimen nicht neben den Por¬
träts der Kaiser an öffentlichen Orten figuriren sollten, sondern blos am Cir-"
aus und im Theater. Wenn nun aber auch die Kunst sich ziemlich gleich
blieb, so artete doch der sinnliche Reiz der pantomimischen Stücke in Scham¬
losigkeit aus, als im vierten Jahrhundert die ausschweifendste Lüsternheit das
Spiel weiblicher Pantomimen auf die Bühne brachte. Bevor je.doch dies ge¬
schah, kam noch neben der hergebrachten eine Gattung des dramatischen Bal-
lets auf, welche insofern größere Aehnlichkeit mit dem unsrigen hat, als hier
dramatische Gegenstände von mehren Personen dargestellt wurden und der
Chorgesang wegblieb. Der altdorische Waffentanz, Pyrrhiche genannt, war
schon zu Cäsars Zeit nach Rom verpflanzt und dort von Asiaten getanzt wor¬
den. Nach und nach wurde er aber mehr theatralisch als kriegerisch-mimisch
und stellte theils mythologische Stoffe, die Thaten des Dionysos, des Ikarus
u. a. dramatisch vor, theils blos künstliche Chortänze. Im „goldenen Esel"
des Appulejus findet sich noch die interessante Schilderung einer theatra¬
lischen Aufführung beider Arten der Pyrrhiche hintereinander. Sie lautet:
„Zuerst tanzten Jünglinge und Mädchen von jugendlicher Frische und schöner
Gestalt, in glänzendem Costüm, mit graziöser Haltung, die griechische Pyrr¬
hiche. Reihenweise geordnet schwebten sie in zierlichen Windungen einher, bald
im Kreise sich drehend, bald in Kreuzungen sich verschlingend, und jetzt zum
hohlen Viereck geschart, jetzt wieder sich trennend in einzelne Haufen. Endlich
gab das Schmettern der Trompete das Zeichen zur Auflösung der labyrin¬
thischen Drehungen, der Vorhang hob sich und die Bühne wurde anders
arrangirt. Als sie sich wieder öffnete, stand vor unsern Augen ein hoher,
künstlich aus Holz gebildeter Berg, der Homerische Jda, mit Gesträuch und
lebendigen Bäumen bepflanzt. Vom höchsten Gipfel desselben rieselte Quell¬
wasser herab, einige Jungen pflückten sich Gras und ein Jüngling in phry-
gischer Tracht spielte den Hirten Paris, durch eine goldene Tiara seine könig¬
liche Abkunft verrathend. Da erschien ein anderer netter Jüngling, blondgelockt,
nur mit einem kurzen, von der linken Schulter herabwallenden Mantel be¬
kleidet. Der Heroldsstab und die goldenen Flügelchen zu beiden Seiten des
Hauptes kennzeichneten ihn als den Götterboten Mercur. Leichtfüßig herbei¬
tanzend reichte er Paris einen goldenen Apfel dar, richtete ihm durch Geberden
den Austrag Jupiters aus und verschwand ebenso schnell, wie er gekommen
war. Hierauf traten drei Tänzerinnen auf. Die eine, würdigen Antlitzes,
mit Diadem und Scepter geschmückt, stellte Juno vor, die zweite erkannte
man als Minerva am funkelnden Helm, den eine Krone von Olivenzweigen
bekränzte, am Schild und an der geschwungenen Lanze; die Göttin der Liebe
endlich, an Liebreiz, Schönheit und Grazie den andern überlegen, war nur
zum Theil in einen durchsichtigen Stoff von blauer Farbe gehüllt. Jede Göt¬
tin hatte außerdem die ihr zukommende Begleitung. Juno zur Seite gingen
Kastor und Pollux. durch die Sterne ihrer Helmspitzen kenntlich; sie selbst
schritt nach dem Rhythmus des Flötenspiels vor und machte mit ruhiger, würde¬
voller Gliederbewegung dem Hirten verständlich, daß sie ihm die Herrschaft
über ganz Asien verspräche, wenn er ihr den Preis der Schönheit zuerkennen
würde. Zwei Jünglinge mit bloßen Schwertern und ganz gewappnet, der
Schrecken und der Schauder, beschützten Minerva und hinter ihr spielte die
Flöte einen aufregenden, kriegerischen Marsch. Sie selbst in unruhiger
Haltung, mit drohenden Augen und heftigen Gesten, versprach Paris Helden¬
ruhm und kriegerische Ehren, wenn er ihrer Schönheit den Sieg gewinnen
ließe. Venus endlich «stand hold lächelnd in der Mitte der Bühne, um¬
ringt von einem ganzen Volke kleiner Liebesgötter, die beflügelt und mit
Köcher und Pfeilen bewaffnet, der Herrin hochzeitliche Fackeln vortrugen;
schöne Grazien und Hören huldigten ihr außerdem, mit den herrlichsten
Blumengewinden sie umschwebend. Anmuthiger noch, als die liebliche Musik,
welche sie begleitete, bewegte sie sich zögernden Schrittes vorwärts. Mit
Augen, welche bald drohend blitzten, bald sanft schmachteten, deutete sie
durch die reizenden Winke ihrer Arme dem Jüngling an, daß sie ihn für
den Vorzug mit dem schönsten Weibe beglücken wollte. Da reichte ihr freudig
der Phrygier den goldenen Apfel. Traurig entfernten sich Juno und Minerva,
die Indignation über ihre Zurücksetzung pantomimisch ausdrückend. Venus
dagegen bezeugte mit ihrem Chor im Tanze ihre Freude. Zum Schluß
cntsprudelte der Quelle wohlriechender Safran, der die Zicklein gelb färbte
und das ganze Theater durchduftete, bis endlich der ganze Berg vor den
Augen der Zuschauer versank.
Bei der großen Ähnlichkeit, die diese Tableaux mit dem modernen Ballet
haben, muß man doch immer dem alten theatralischen Kunsttanz den Vorzug
geben. Die Handlung ist bei uns nicht mehr wirklicher Tanz, die Chortänze
sind zwar oft schön, aber „die Solotänze der heraustretenden Tänzer und
Tänzerinnen," sagt Bischer treffend, „sind, wo nicht Nationaltänze von ihnen
ausgeführt werden, ausdruckslos und zum widerlichen Kunststück herabgesun¬
ken, welches das Schwere mit dem Schönen verwechselt; das führt nothwendig
zum schweren aus Kosten des Schönen, zur häßlichen Verrenkung, und für
die Beleidigung der Anmuth entschädigt der Kitzel der Entblößungen, den der
Reiz des Verbotenen in einer Welt strenger Decenzbegriffe verdoppelt." So
ist es denn unter diesen Verhältnissen ein gutes Zeichen, daß es mit uns noch
nicht so weit gekommen ist, wie mit unseren westlichen Nachbarn, bei denen
sein gesundes Drama ohne die Zuthat dieses sinnlichen Reizmittels mehr auf.
kommen zu können scheint. Auch in Rom unterlagen Tragödie und Komödie
schon zu Anfang der Kaiserzeit den Pantomimen, nachdem sie kaum angefangen
hatten, sich selbstständig zu entwickeln. Bei Festen von religiöser Bedeutung,
wo die Pantomimen fehlten, erwähnt schon Tacitus zu Neros Zeit die geringe
Betheiligung des Publicums an dramatischen Stücken, und nach Juvenal ver¬
kauften die besten Dichter ihre Stücke an Pantomimen, um dem Hungertod
zu entgehen. Wenn es einst auch in Deutschland so weit kommen sollte, dann
fteilich deutete auch dieses Zeichen-der Zeit, wie in der späteren Kaiserzeit, hin
Sämmtliche Parteien Preußens, mit Ausnahme der Kreuzzeitung, sind darin
einig, daß der Kernpunkt des neuen Staatslebens, welches das gesammte Volk mit
freudigem Jubel begrüßt, in den goldenen Worten des Prinzrcgenten zu suchen ist:
„Wenn in allen Regierungshandlungen sich Wahrheit, Gesetzlichkeit und Konsequenz
ausspricht, so ist ein Gouvernement stark, weil es ein reines Gewissen hat." Freilich
hofft man zugleich auf ein kräftigeres Auftreten nach Außen, aus eine gleichmäßigere
Berücksichtigung der Interessen der verschiedenen Lolksclnssen im Innern, aber die
Hauptsache bleibt, daß die Periode der rettenden Thaten aufhört, und die Herrschaft
des Gesetzes ohne alle Nebenrücksichten auf politische Convenienz beginnt. Eine
strengere Scheidung zwischen der discretionären Potizeiverwaltung und der Justiz
und eine Unterordnung der ersteren unter die letztere ist die gerechte Forderung des
preußischen Volks, ist der Hauptpunkt im Programm des neuen Ministeriums. Die
Handlungen desselben entsprechen bis jetzt diesem Programm auf eine erfreuliche
Weise, und unter die bedeutendsten derselben rechnen wir den neuesten Erlaß aus
dem Ministerium des Innern über die Anwendung des Gewerbegesetzes aus die Presse.
Man sollte an der Form dieses Erlasses nicht mäkeln. Ein rücksichtsloses Auftreten
der neuen Regierung "gegen ihre Vorgänger ist um so weniger nöthig, je fester sie
Schritt vor Schritt, wenn auch langsam, die Fundamente des Rechtsstaates wieder
herstellt.
Die Presse hat diese Rücksicht nicht zu beobachten, und es ist für sie ein trau¬
riges aber unvermeidliches Geschäft, die Nothwendigkeit einer Reform aus dem, was
bisher geschehn ist, nachzuweisen. Die Kreuzzeitung wird nicht müde, zu versichern,
daß keine Reform nöthig sei, daß von Uebergriffen der Polizeigewalt überall keine
Rede gewesen ist, und es ist um so wichtiger, sie durch Thatsachen zu widerlegen,
da der volle Umfang des Uebels auch in den Kreisen des preußischen Beamtenthums
wol nur sehr wenig bekannt sein mag. Freilich ist es ein sehr undankbares Ge-
schast, den alten Schmuz aufzuwühlen, aber es ist doch nicht zu umgehn, wenn
man die Lust wirklich reinigen will.
Einen kleinen Beitrag zur Kenntniß des Treibens in den letzten Jahren gibt
eine soeben erschienene Broschüre: „Eine politische Todtenschau. Zur Ge¬
schichte der staatsrettenden Anarchie von Preußen." (Kiel, akademische Buchhand¬
lung). Wir hätten gewünscht, daß sie in der Form leidenschastlvser, in Beziehung
auf die Thatsachen vollständiger wäre, denn es ist darin noch nicht der zehnte Theil
von dem gesagt, was man aus der Provinz Preußen zu erzählen hat, und die ein¬
fache Darlegung der urkundlich beglaubigten Thatsachen ist viel geeigneter, in dem
Leser die angemessene Stimmung hervorzurufen als die heftigste Declamation. !—
Wir wollen einige kleine Züge hervorheben.
Schon im Jahr 1840 war in Königsberg ein Schmuzblatt gegründet, „Der
Freimüthige", welches durch die gemeinsten Injurien und Verleumdungen gegen
Bürger aus den verschiedensten Ständen, durchweg persönlicher Natur, wie man es
sonst nur von der amerikanischen Presse zu berichten Pflegt, jenes Aussehn erregte,
welches in einer gewissen Classe von Lesern grade den ekelhaftesten Producten zu
Theil wird. Dieses Blatt, welches von Gewürzkrämern und kleinen Kaufleuten
Tribut erpreßte, ungefähr wie „der Eisenfresser" in „Martin Chuzzlewit", bekam
dadurch seine Farbe, daß es sich als Vorkämpfer gegen den Liberalismus geberdete.
Daß der Redacteur sein nächtliches Hauptquartier in sämmtlichen Gassen Königs¬
bergs suchte, erhöhte nur noch den Reiz seiner Gemüthlichkeit.
Die Bevölkerung von Königsberg war daher nicht wenig überrascht, als nach
dem Jahr 1848 der Freimüthige einen Ton anschlug, mit dem verglichen der
Ton des alten Freimüthigen elegant, salonfähig und sittlich erhaben erschien. Der
Mensch, dem dies Wunder gelang, war ein weggeschickter Bombardier, der dann
wegen gewerbmäßig betriebener Quacksalberei zum Zuchthaus verurtheilt wurde und
nach Abbüßung seiner Strafe als Obscrvat existirte. Nachdem dieser Mensch Haupt-
mitarbeiter des Freimüthigen geworden, setzte er das Erprcssungsshstem der Firma fort
und hatte einmal die Unbesonnenheit, vor Zeugen einem geachteten Bürger ein
Manuscript zum Kauf anzubieten, worin dessen Braut insultirt wurde. Die Folge
war eine Anzeige vor der Behörde und eine abermalige Verurtheilung zum Zucht¬
haus und zum Verlust der Nationalcocarde d. h. der bürgerlichen Ehre und Ehren¬
rechte. Der entlassene Züchtling wurde dann Denunciant im großartigen Stil,
d. h. er ließ es nicht blos bei Denunciationen gegen alle des Liberalismus Ver¬
dächtigen bewenden, sondern er griff mit Ren gemeinsten Zoten in die Heiligkeit des
Familienlebens ein. E« gehörte die Ueberwindung eines großen Ekels dazu, gegen
,^ein solches Individuum die Hilfe des Gesetzes in Anspruch zu nehmen, aber zuletzt
entschloß man sich doch dazu, es wurden ungefähr 15 Klagen wegen Injurien und
Verleumdungen gegen ihn erhoben, er wurde überall verurtheilt und hätte daher
eine namhafte Geld« und Gefängnißstrafe abzubüßen gehabt.
Bis dahin hätte die Sache wenig Interesse, es ist eben nur ein einzelner Fall
unter unzähligen, die nicht blos in Preußen, nicht blos in der Reaction zu suchen sind.
Aber dieser Mensch wurde von den Rathgebern der Krone als der Begnadigung
würdig dargestellt und durch eine von dem noch gegenwärtigen Justizminister Simons
contrasignirte Cabinetsordre wirklich begnadigt.
Aber dieser Mensch war das anerkannte Organ der ostpreußischen Reaction, der
Vertraute des General von Plehve, der Vertraute des Polizeipräsidenten Peters, und
eine Denunciation von ihm genügte, daß die Polizei ins Schlafgemach von Frauen
und Mädchen eindrang, um nach verborgenen Waffen zu suchen, daß sie alte Män¬
ner halb bekleidet durch Wind und Regen fortschleppte.
Wie gesagt, in der vorliegenden Broschüre ist noch nicht der zehnte Theil von
dem erzählt, was zu erzählen war, und wir hoffen nicht blos in der Presse, sondern
namentlich im Landtag' auf eine angemessene Vervollständigung. Es handelt sich
hier nicht um einen Act der Wiedervergeltung; die betreffenden Personen sind zu
klüglich; es handelt sich um den thatsächlichen Nachweis, daß wir kräftiger, bestimmt
ausgesprochener Gesetze bedürfen, um die Wiederkehr von Zuständen unmöglich zu
machen, die der künftige Geschichtschreiber Preußens mit Ekel berichten wird. Herr¬
lich ist eine Regierung, die ein reines Gewissen hat; aber dem Staat kommt es
darauf an, den Unterthan auch gegen eine Regierung zu schützen, die sich eines
solchen Gewissens nicht erfreut.
Als Rückkehr zu den geordneten Zuständen wird gewiß die neue Regierung in
allen Kreisen des deutschen Vaterlandes mit Freude begrüßt werden, und in dieser
Beziehung hätten wir gewünscht, daß das Dresdner Journal ausführlicher in der
Mittheilung der Depesche gewesen wäre, welche die sächsische Regierung an ihren
Gesandten in Preußen erlassen hat. Wenn diese Depesche sagt: „daß es ein Irr¬
thum sein würde, vorauszusetzen, als sei der neue Wechsel in Preußen geeignet,
bei der diesseitigen Regierung Unruhe oder Besorgniß zu erzeugen," so wird das
preußische Ministerium einer solchen Versicherung nicht erst bedürfen. Dagegen wäre
es für das Publicum, welches die bekannten Artikel der Leipziger Zeitung gelesen
hat und sich nicht immer daran erinnert, daß dieses Blatt keineswegs ein officielles
ist, gewiß von Interesse, auf diesen Unterschied wieder aufmerksam gemacht zu wer¬
den. Ebenso hoffen wir von der baierischen Regierung, daß ihr das Einlenken in
eine Bahn, welche die neuen Wahlen als einen so lebhaften Wunsch des Landes
darstellen, durch den Umschwung der Dinge in Preußen erleichtert, und daß sie
ihrerseits nicht verfehlen wird, ihre Befriedigung darüber auszusprechen. Mit dieser
herzlichen Hoffnung auf die erleichterte Einigkeit Deutschlands, begrüßen wir das
Abonnementsanzeige zum neuen Jahr.
Mit dem Anfänge des neuen Jahres beginnen die Grenzboten
den XVRIi. Jahrgang. Die unterzeichnete Nerlagshandlung erlaubt
sich zur Pränumeration aus denselben einzuladen, und bemerkt, daß alle
Buchhandlungen und Postämter Bestellungen annehmen.
Leipzig, im December 1858. Fr. Ludw. Herbig.